Namensmythologie: Studien zu den Aufzeichnungen und poetischen Werken Elias Canettis [Annotated] 3110500620, 9783110500622

Elias Canetti hat sich beinahe sein ganzes Leben lang von Namen faszinieren lassen und sich immer wieder von Neuem gefra

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Namensmythologie: Studien zu den Aufzeichnungen und poetischen Werken Elias Canettis [Annotated]
 3110500620, 9783110500622

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung
1. Der Namensverzückte
1.1 Ziel der Untersuchung
1.2 Terminologische Klärung
1.3 Aufbau und Propädeutik
2. Forschungsstand
3. Methode
3.1 Zur Begründung der Methode
3.2 Zur Rolle von Masse und Macht
3.3 Zur Rolle des Nachlasses
Teil A: Name und Rätsel: Namen in den Aufzeichnungen
1. Das Meer der Namen
1.1 Ein Leben voller Namen
1.2 Namen in den Aufzeichnungen – drei Befunde
2. Die beiden Dimensionen der Aufzeichnungen
2.1 Vereinzelung oder Zusammenhang?
2.2 Wiederholungen
3. Was ist in einem Namen?
3.1 Das größte Rätsel in der Sprache
3.2 Ein Seitenblick auf die Namenstheorie
4. Der Zauber des Namens
4.1 Namensorgien
4.2 Der Name als Gott
5. Der Sinn des Namens
5.1 Namen als Zugänge
5.2 Name und Verwandlung
6. Das Schicksal im Namen
7. Name und Schicksal im mythischen Denken
8. Der Name als Wurzel und Gefäß
8.1 Namen als Substanz der Welt
8.2 Einen einzigen Namen verstehen
Teil B: Name und Maske: Namen in den poetischen Werken
1. Die Befristeten
1.1 Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall
1.2 Die Namens-Hierarchie der Befristeten
1.3 Freund und Fünfzig – Zwei Rebellen und ihre Namen
2. Hochzeit
2.1 Paradoxe Namen
2.2 Namenmasken
2.3 Horch – Verführer, Verderber, Überlebenssüchtiger
3. Der Ohrenzeuge
3.1 Namengebung und Namenänderung
3.2 Vergleich mit Theophrast
3.3 Namen als Distanzlasten
4. Namen und Figuren
4.1 Vor- und Nachteile redender Namen
4.2 Name, akustische Maske, Privatmythos
4.3 Zur Vertiefung – Peter Hell und Anita
5. Komödie der Eitelkeit
5.1 Name und Masse
5.2 Formen der Figurenverknüpfung
5.3 Zwei Prinzipien – Annäherung und Abstoßung
5.4 Machthaber und Massenbildung
6. Die Blendung
6.1 Von Brand zu Kant
6.1.1 Die Bedeutung der Namen für die Genese des Romans
6.1.2 Canettis Kant und die Transzendentalphilosophie
6.1.3 »Der Spaziergang«
6.1.4 Warum nicht mehr Kant?
6.2 Peter Kien
6.2.1 Eine gepanzerte Figur
6.2.2 Versteinerung – Peter als paranoischer Machthaber
6.2.3 Der Büchermensch als Petrus
6.2.4 Kien – Schöpfer, Hund, Entflammter
6.3 Georg(es) Kien
6.3.1 Kien
6.3.2 Epigone des Gorillas
6.3.3 Georg(es)
6.4 Siegfried Fischerle
6.4.1 Von Fischerle zu Fischer
6.4.2 Der Zwerg als paralytischer Machthaber
6.4.3 Das Affix als Symbol des Buckels
6.4.4 Siegfried
6.5 Therese Krumbholz
6.5.1 Figur der Inversion
6.5.2 Therese
6.5.3 Krumbholz
6.6 Benedikt Pfaff
6.6.1 Der Gesegnete
6.6.2 Parallelen zu Benedikt von Nursia
6.6.3 Pfaff und Anna
6.7 Nebenfiguren
Schlussreflexion
Canetti und Wien
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Alexander Schüller Namensmythologie

Conditio Judaica

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch In Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Band 91

Alexander Schüller

Namensmythologie

Studien zu den Aufzeichnungen und poetischen Werken Elias Canettis

Diese Arbeit wurde 2016 von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen als Dissertation angenommen: D 82 (Diss. RWTH Aachen University [2016])

ISBN 978-3-11-050062-2 ISBN (PDF) 978-3-11-050163-6 ISBN (EPUB) 978-3-11-049810-3 ISSN 0941-5866 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegenden Studien zur Namensmythologie in den Aufzeichnungen und poetischen Werken Elias Canettis stellen die geringfügig überarbeitete und erweiterte Fassung einer Abhandlung dar, die im Wintersemester 2015/16 von der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen University als Dissertation angenommen wurde. Ohne die Unterstützung Johanna Canettis, die seit Jahren den Züricher Nachlass systematisch erfassen und die stenografierten Texte transkribieren lässt, hätte ich diese Dissertation niemals in der vorliegenden Form schreiben und publizieren können. Sehr zu danken habe ich Frau Canetti dafür, dass sie meine Forschungen von Beginn an gefördert, mir auf alle Fragen gerne geantwortet und einen beachtlichen Teil der Transkriptionen zur Verfügung gestellt hat; dass sie schließlich das Manuskript gelesen und die Druckgenehmigung erteilt hat. Ebenso herzlich danken möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans Otto Horch (Aachen), für die wunderbare Betreuung und die Freiheit, die er mir bei der Bearbeitung des Themas gelassen hat. Nicht zuletzt schulde ich ihm Dank dafür, dass er meine Studien in die Reihe »Conditio Judaica« aufgenommen hat. Zu großem Dank verpflichtet bin auch Herrn Prof. Dr. Ulrich Lüke (Aachen), der nach dem plötzlichen Tod von Herrn Prof. Dr. Axel Gellhaus so freundlich war, das Koreferat zu übernehmen, und mir – nicht nur aus der Perspektive des Theologen – einige wichtige Denkanstöße gegeben hat. Danken möchte ich Herrn PD Dr. Joachim Bromand (Aachen/Bonn), der den Vorsitz der Promotionskommission übernommen hat, sowie insbesondere meinem Lehrer in der Alten Geschichte, Herrn Prof. Dr. Raban von Haehling (Aachen), der die Entstehung meiner Arbeit mit nie nachlassendem Interesse verfolgt hat. Danken möchte ich auch Herrn Dr. Hauke Stroszeck (Aachen), der mich in seinem Hauptseminar mit dem Werk Elias Canettis bekannt gemacht hat, sowie Herrn Prof. Dr. Jakob Hessing (Jerusalem), der mir während seiner Gastdozentur in Aachen erfrischende Einblicke in seine literarhistorischen Forschungen gegeben hat. Der RWTH Aachen University gebührt ein Dank dafür, dass sie meine Arbeit durch ein Graduiertenstipendium überhaupt erst ermöglicht hat. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Prof. Dr. Christoph Eggenberger, seiner Stellvertreterin Marlis Stähli M.A. und allen Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich dafür, dass sie meine Forschungen am Nachlass tatkräftig unterstützt haben. Ein zweites Zuhause fand ich während dieser Zeit bei Wulla, Karl, Alexandra und Carlo Schüller, denen ich nicht genug danken kann.

VI | Danksagung

Zu danken habe ich Herrn Dipl.-Bibl. Helmut Gottfried und den Mitarbeitern der Aachener Institutsbibliothek für die fruchtbare Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren sowie meinen ehemaligen Kollegen am Germanistischen Institut der RWTH Aachen University, mit denen ich einzelne Thesen meiner Dissertation erörtern konnte. Stellvertretend nenne ich Dr. Dominic Bitzer, Dr. Jens Burkert sowie vor allem Dr. Hans Kruschwitz und Dr. Dominik Loogen. Frau PD Dr. Stephanie Jordans stellte mir für den Abschluss meiner Dissertation großzügig den Ernst-Meister-Arbeitsraum zur Verfügung. Sehr viel zu verdanken habe ich Doris Vogel, die mir nicht nur bei der Erstellung der Druckvorlage geholfen, sondern die mich durch ihre rege Anteilnahme am Fortgang meiner Arbeit oft neu motiviert hat. Als kompetente Ansprechpartnerinnen im de Gruyter-Verlag erwiesen sich Dr. Julia Brauch, Claudia Bräuer und Antje-Kristin Mayr. Für die notwendige Ablenkung sorgten von Zeit zu Zeit die Mitglieder meiner Lesekreise, Martin Hungenbach, Thomas Gelnar sowie Irmgard und Heribert Körlings, der mir kenntnisreich die deutsche Gegenwartsliteratur nahe gebracht hat. Wertvolle Hinweise kamen von Angela Frizen-Horch und Dr. Jörg Fündling, die das Manuskript ganz bzw. in Teilen gelesen, korrigiert und kommentiert haben, und besonders von Dr. Stephan Frings, auf dessen freundschaftlichen Rat ich stets vertrauen konnte. Herrn Prof. Dr. David Engels (Brüssel) danke ich sehr für etliche spannende, engagierte und anregende Diskussionen – nicht nur über Canetti. Zum Gelingen meines Dissertationsvorhabens haben schließlich in ganz außerordentlichem Maße vier Menschen beigetragen, denen ich dieses Buch widmen möchte: meine Eltern Sigrid und Guido Schüller, die mich von Kindheit an für Kunst und Kultur begeistert haben und ohne deren ideelle und finanzielle Unterstützung ich meine Dissertation niemals hätte vollenden können; mein Bruder Marco Schüller, mit dem ich unzählige Stunden über Canetti gesprochen habe, der das Manuskript als erster gelesen und dessen Anmerkungen mir während des Schreibprozesses eine stetige Inspirationsquelle gewesen sind; und nicht zuletzt meine Lebensgefährtin Nadine Krings, die es geduldig ertragen hat, dass ich jahrelang an vielen Abenden und Wochenenden mit meinen Gedanken woanders war. Durch ihren liebevollen Zuspruch hat sie mir über einige Durststrecken hinweggeholfen und mich immer wieder zum Weitermachen ermutigt. Aachen, den 25. Juli 2016

Alexander Schüller

Inhalt Danksagung Einleitung  1 1.1 1.2 1.3

Der Namensverzückte | 3 Ziel der Untersuchung | 3 Terminologische Klärung | 7 Aufbau und Propädeutik | 13

2

Forschungsstand | 21

3 3.1 3.2 3.3

Methode | 29 Zur Begründung der Methode | 29 Zur Rolle von Masse und Macht | 36 Zur Rolle des Nachlasses | 39

Teil A: Name und Rätsel: Namen in den Aufzeichnungen  1 1.1 1.2

Das Meer der Namen | 47 Ein Leben voller Namen | 47 Namen in den Aufzeichnungen – drei Befunde | 54

2 2.1 2.2

Die beiden Dimensionen der Aufzeichnungen | 66 Vereinzelung oder Zusammenhang? | 66 Wiederholungen | 75

3 3.1 3.2

Was ist in einem Namen? | 79 Das größte Rätsel in der Sprache | 79 Ein Seitenblick auf die Namenstheorie | 90

4 4.1 4.2

Der Zauber des Namens | 95 Namensorgien | 95 Der Name als Gott | 106

5

Der Sinn des Namens | 118

VIII | Inhalt

5.1 5.2

Namen als Zugänge | 118 Name und Verwandlung | 122

6

Das Schicksal im Namen | 133

7

Name und Schicksal im mythischen Denken | 143

8 8.1 8.2

Der Name als Wurzel und Gefäß | 154 Namen als Substanz der Welt | 154 Einen einzigen Namen verstehen | 164

Teil B: Name und Maske: Namen in den poetischen Werken  1 1.1 1.2 1.3

Die Befristeten | 179 Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall | 179 Die Namens-Hierarchie der Befristeten | 188 Freund und Fünfzig – Zwei Rebellen und ihre Namen | 203

2 2.1 2.2 2.3

Hochzeit | 214 Paradoxe Namen | 214 Namenmasken | 228 Horch – Verführer, Verderber, Überlebenssüchtiger | 253

3 3.1 3.2 3.3

Der Ohrenzeuge | 260 Namengebung und Namenänderung | 260 Vergleich mit Theophrast | 269 Namen als Distanzlasten | 274

4 4.1 4.2 4.3

Namen und Figuren | 283 Vor- und Nachteile redender Namen | 283 Name, akustische Maske, Privatmythos | 293 Zur Vertiefung – Peter Hell und Anita | 305

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Komödie der Eitelkeit | 313 Name und Masse | 313 Formen der Figurenverknüpfung | 325 Zwei Prinzipien – Annäherung und Abstoßung | 332 Machthaber und Massenbildung | 348

Inhalt | IX

6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.6 6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.7

Die Blendung | 365 Von Brand zu Kant | 365 Die Bedeutung der Namen für die Genese des Romans | 365 Canettis Kant und die Transzendentalphilosophie | 378 »Der Spaziergang« | 407 Warum nicht mehr Kant? | 419 Peter Kien | 425 Eine gepanzerte Figur | 425 Versteinerung – Peter als paranoischer Machthaber | 429 Der Büchermensch als Petrus | 443 Kien – Schöpfer, Hund, Entflammter | 451 Georg(es) Kien | 468 Kien | 468 Epigone des Gorillas | 476 Georg(es) | 481 Siegfried Fischerle | 490 Von Fischerle zu Fischer | 490 Der Zwerg als paralytischer Machthaber | 497 Das Affix als Symbol des Buckels | 511 Siegfried | 514 Therese Krumbholz | 527 Figur der Inversion | 527 Therese | 534 Krumbholz | 548 Benedikt Pfaff | 557 Der Gesegnete | 557 Parallelen zu Benedikt von Nursia | 567 Pfaff und Anna | 572 Nebenfiguren | 576

Schlussreflexion  Canetti und Wien | 595 Literaturverzeichnis | 609 Personenregister | 639

| Einleitung

1 Der Namensverzückte 1.1 Ziel der Untersuchung In den 89 Jahren seines Lebens, das fast das gesamte 20. Jahrhundert umfasste, schrieb Elias Canetti eine naturwissenschaftliche Dissertation, einen Roman mit dem Titel Die Blendung und den kulturanthropologischen Essay Masse und Macht, angesiedelt an der Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft.1 Allein an diesem monumentalen Buch, mit dem er sein Jahrhundert »an der Gurgel« gepackt zu haben meinte (IV, S. 245)2, arbeitete er – wenn auch mit Unterbrechungen – mehr als drei Jahrzehnte. Gleich nach der Publikation plante er einen zweiten Band, der aber nie erschien. Daneben schrieb er einige weitere deutlich kürzere Aufsätze und Essays, darunter den Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch und einen Essay über Kafkas Briefe an Felice, sowie drei Dramen (plus das erhaltene Jugenddrama Junius Brutus) und eine unveröffentlichte »Ballett-Komödie« (LoA, S. 68) mit dem Titel Affen-Oper. Bereits während des Studiums brachte er einige satirische Erzählungen zu Papier, die bis auf eine heute verloren sind.3 Später, als arrivierter Dichter, schrieb er eine literarische Charakterologie in der Nachfolge Theophrasts und drei autobiografische Bü-

|| 1 Dagmar Barnouw spricht von einer poetischen Anthropologie. Vgl. ihren Aufsatz: Elias Canettis poetische Anthropologie. In: Herbert G. Göpfert (Hg.): Canetti lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern. München, Wien: Hanser 1975 (Reihe Hanser; 188), S. 11–31. Siehe auch Anne Peiter: Exil, Judentum und Sprache in ausgewählten Nachlass-Aufzeichnungen von Elias Canetti. In: Charmian Brinson, Richard Dove und Jennifer Taylor (Hg.): »Immortal Austria«? Austrians in Exile in Britain. Amsterdam, New York: Rodopi 2007 (The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies; 8), S. 49–60, hier S. 49; Petra Kuhnau: Masse und Macht in der Geschichte. Zur Konzeption anthropologischer Kategorien in Elias Canettis Werk Masse und Macht. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 195) [zugl. Bochum, Univ.-Diss. 1995], S. 1: Masse und Macht als »ein Werk ohne eindeutigen Standort zwischen Dichtung und Wissenschaft«. 2 Alle Zitate aus Canettis Werken und Briefen weise ich direkt im Haupttext nach. Ich verwende dabei die Siglen aus dem Abkürzungsverzeichnis und zitiere die zu Lebzeiten freigegebenen Texte nach der folgenden Ausgabe: Elias Canetti: Werke in zehn Bänden. München, Wien: Hanser 2005. Zitate aus dem Canetti-Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich weise ich unter Angabe der Sigle ZB, der Schachtelnummer und – wenn möglich – des Entstehungsdatums nach. 3 Vgl. X, S. 164 (Gespräch mit Horst Bienek). Die erhaltene Erzählung trägt den Titel »Wolf« und wird im Canetti-Nachlass der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt (ZB 1, ohne Datum). Eine Zusammenfassung dieser Erzählung findet sich in Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie: München, Wien: Hanser 2005, S. 118f.

4 | Der Namensverzückte

cher, die seinen Lebensweg bis zum Tod der Mutter am 15. Juni 1937 in Form eines Bildungsromans darstellen4. Ihnen folgte postum ein vierter, nicht durchgearbeiteter Band über die Zeit im englischen Exil. Auch verfasste Canetti eine ganze Reihe Gedichte, die er nicht für publikationswürdig erachtete, und führte viele Jahrzehnte lang Tagebuch; keines dieser Tagebücher darf bis zum Ende der von ihm selbst gesetzten Sperrfrist 2024 publiziert werden. Darüber hinaus schrieb er Reden, Laudationes, einige Vorworte und sehr viele Briefe an Verwandte, Freunde, Förderer, Kollegen. Nicht zuletzt beschrieb er unzählige Blätter mit Exzerpten aus historischen, anthropologischen und ethnologischen Büchern. Und er verfasste immer wieder Aufzeichnungen. Die Inhalte, mit denen sich Canetti im Laufe dieses Schreib-Lebens beschäftigte, sind bei weitem nicht so vielfältig wie die Formen, in denen er sich zum Teil gleichzeitig erprobte.5 Die »Obsession durch beständig wiederkehrende Themen«, konstatiert Uwe Schweikert im Hinblick auf die Aufzeichnungen, sei der maßgebliche Unterschied zwischen Canetti und dessen Vorbild Lichtenberg.6 Gemessen an der Fülle der Ideen, die Canetti in mehr als sechzig Jahren zu Papier brachte, erscheinen seine Lebensthemen in der Tat recht übersichtlich. Die Forschung hat vor allem die Aufzeichnungen, Canettis »Zentralmassiv«7, zu einer Bestandsaufnahme genutzt. In seiner Besprechung der Provinz des Menschen macht Jürgen P. Wallmann 1974 zwei miteinander zusammenhängende Themenblöcke aus, die er Macht und Tod nennt.8 Dreißig Jahre spä|| 4 Vgl. Penka Angelova: Canettis autobiographische Trilogie als Bildungsroman. In: Dies. und Emilia Staitscheva (Hg.): Autobiographie zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Internationales Symposium Russe, Oktober 1992. St. Ingbert: Röhrig 1997 (Schriftenreihe der Elias-CanettiGesellschaft; 1), S. 47–62. Vgl. auch dies.: Topoi der Heimat in den Autobiographien von Elias Canetti. In: Kurt Bartsch und Gerhard Melzer: Elias Canetti. Graz, Wien: Droschl 2005 (Dossier; 25), S. 94–109, hier S. 103. 5 Vgl. Susanna Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek. Canettis Aphorismen zur Sprache. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 191) [zugl. Freiburg i.Br., Univ.-Diss. 1996], S. 13, Anm. 1. Vgl. auch Konrad Kirsch: Die Masse der Bücher. Eine hypertextuelle Lektüre von Elias Canettis Poetik und seines Romans Die Blendung. Sulzbach: Konrad Kirsch-Verlag 2006 [zugl. Univ. des Saarlandes, Univ.-Diss. 2006], S. 12: Konzentration auf wenige Werke bei einer Ausdehnung auf fast sämtliche literarische Gattungen. 6 Vgl. Uwe Schweikert: »Schöne Nester ausgeflogener Wahrheiten«. Elias Canetti und die aphoristische Tradition. In: Göpfert (Hg.): Canetti lesen (wie Anm. 1), S. 77–86, hier S. 81. Vgl. auch Peter Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis Masse und Macht. München: Fink 1999 [zugl. Essen, Univ.-Diss. 1995], S. 50. 7 Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 172. 8 Vgl. Jürgen P. Wallmann: Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. In: Literatur und Kritik 9 (1974), H. 81, S. 55f., hier S. 56. In der Zurückweisung des Todes sieht auch Hugo Dittberner:

Ziel der Untersuchung | 5

ter, nach der Publikation weiterer aphoristischer Bücher, erkennt auch Canettis Biograf Sven Hanuschek in den Aufzeichnungen zwei Hauptthemen, nämlich Tod und Verwandlung.9 Gerald Stieg und Jean-Marie Valentin erklären in ihrem Sammelband über Elias Canetti und die europäische Tradition die »tragische Feindschaft gegen den Tod und das unendliche Drama, das sich zwischen Individuum und Masse abspielt«, zum »vitale[n] Zentrum« des Gesamtwerks.10 Am umfangreichsten, aber zugleich am wenigsten prägnant (auch sprachlich) ist die Themenliste, die Ingo Seidler nach seiner Lektüre der Provinz des Menschen zusammenstellt. Sie umfasst zehn Punkte, darunter neben der Todfeindschaft »Überlegungen zur Identität des Autors, besonders in seiner Rolle als Jude im Exil, aber untrennbar verbunden mit der deutschen Sprache« und »Gedanken zum Handwerk des Schreibens, seinen Möglichkeiten und Grenzen«.11 Wenn man diese Vorschläge bündelt, kristallisieren sich fünf »Grundkategorien«12 heraus: Masse, Macht, Tod, Verwandlung und Sprache (bzw. Schreiben/Literatur). Die weitgehende thematische Konstanz in der Bewegung des Schreibens ist typisch für Canetti, der eine Vorliebe für das Unvereinbare hatte.

|| Das Buch gegen den Tod. Elias Canettis Aufzeichnungen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik 28: Elias Canetti. Vierte Auflage: Neufassung, München: Edition Text + Kritik 2005, S. 3–17, hier S. 15 ein »Leitmotiv« des Werks und vor allem der Aufzeichnungen. 9 Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 636. Vgl. dazu auch Canettis Äußerung im Gespräch mit Victor Suchy: »Ich möchte hier auf zwei Problemkreise hinweisen: der eine ist die Haltung zum Tode. Ich glaube, sie könnte zum Zentrum einer neuen Weltlehre werden. Der zweite umfaßt alle Probleme der Verwandlung.« Zitiert nach Victor Suchy: Exil in Permanenz. Elias Canetti und der unbedingte Primat des Lebens. In: Manfred Durzak (Hg.): Die deutsche Exilliteratur 1933–1945. Stuttgart: Reclam 1973, S. 282–290, hier S. 287. 10 Gerald Stieg und Jean-Marie Valentin: Vorwort. In: Dies. (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen«. Elias Canetti und die europäische Tradition. Akten des Pariser Symposiums/Actes du Colloque de Paris 16.–18. November 1995. Bern u.a.: Lang 1997 (Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte; 44), S. 5–7, hier S. 7. 11 Ingo Seidler: Bruchstücke einer großen Konfession. Zur Bedeutung von Canettis »Sudelbüchern«. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), H. 3/4: Special Elias Canetti Issue, S. 1–21, hier S. 3f. 12 Heike Knoll: Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfs. Stuttgart: M & P 1993 [zugl. Frankfurt a.M., Univ.-Diss. 1992], S. 3. Martin Bollacher spricht ebenfalls von fünf »Grundthemen«: »Haß auf den Tod, Gegensatz von Masse und Vereinzelung, Macht und Ohnmacht, Triebbesessenheit und Verwandlungsfähigkeit des Menschen, aber auch Faszination Canettis durch Sprache, Schrift und Literatur«. Zitat nach Martin Bollacher: »ich verneige mich vor der Erinnerung«. Elias Canettis autobiographische Schriften. In: Michael Krüger (Hg.): Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht. München, Wien: Hanser 1995, S. 245–259, hier S. 253.

6 | Der Namensverzückte

Die vorliegende Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, eine weitere Grundkategorie in der Canetti-Forschung zu etablieren. Sie lässt sich zwar dem übergeordneten Bereich »Sprache« zuordnen, aber sie ist für Canettis Anthropologie, Poetik und dichterische Praxis von einer so immensen Bedeutung, dass man sie gesondert betrachten sollte. Diese Grundkategorie ist der Name.13 Dass Namen in Canettis Werk eine wichtige Rolle spielen, mögen einige Beispiele belegen. Das erste Beispiel stammt aus Masse und Macht, Canettis ›Lebenswerk‹ (LoA, S. 231). Nach der dort entfalteten Theorie unterscheidet sich eine Masse von einer Meute dadurch, dass die Mitglieder der letzteren Gruppe sich kennen und mit Namen ansprechen können. Wegen ihrer viel größeren Mitgliederzahl setzt die moderne Masse demgegenüber die Anonymität voraus.14 Dieses Beispiel macht deutlich, dass die neue Grundkategorie nicht isoliert von den anderen Kategorien betrachtet werden kann. Das gilt für alle Grundkategorien in Canettis Werk: Masse und Sprache verweisen auf Macht, Tod, Verwandlung und umkehrt. Das zweite Beispiel ist den Nachträgen aus Hampstead entnommen: »Manchmal in dieser furchtbaren Wüste fällt ein Name, und jedes Sandkorn blüht.« (V, S. 127) Diese Aufzeichnung aus den späten 1950er Jahren macht deutlich, dass Namen weitaus mehr sind als ein bloßes Unterscheidungskriterium zwischen Masse und Meute. Canetti attestiert dem einzelnen Namen sogar eine belebende Kraft. Sie wirkt sich in schwierigen Zeiten positiv auf die Welt und den Menschen aus. So schreibt Canetti am 21. Juli 1942, mitten im Krieg, als Exilant in England, verfremdend über sich selbst: »Er kann sich an nichts mehr freuen; nur die Namen der alten Strassen und Tramhaltestellen erhalten ihn noch am Leben.«15 Und weniger als drei Jahre später, am 25. Mai 1945, kurz nach dem Ende des Krieges: »Das eigentliche seines Lebens sind die Strassennamen der Städte.«16 Offen bleibt, wie Canetti zu dieser Auffassung gekommen ist. Worauf beruhte seine »Namens-Verzücktheit« (V, S. 386)? Das

|| 13 Josef Quack konstatiert in seinem Aufsatz: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus. Ein kritischer Vergleich. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23 (1998), H. 2, S. 118–141, hier S. 133: »Über kein Sprachthema hat Canetti so häufig nachgedacht wie über das Phänomen der Namen.« 14 Vgl. dazu das Gespräch zwischen Canetti, René König und Alexander Mitscherlich, nachzuhören in Elias Canetti: Das Hörwerk. Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche. Hg. von Robert Galitz, Kurt Kreiler und Katharina Theml. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2005, Nr. 39–42. 15 ZB 6. 16 ZB 8.

Terminologische Klärung | 7

ist die Leitfrage dieser Untersuchung, die die bisherigen Erkenntnisse der Forschung zu Canettis Sprachauffassung ergänzt, vertieft und präzisiert.17

1.2 Terminologische Klärung Bevor diese Untersuchung in Angriff genommen werden kann, ist es notwendig zu klären, was Canetti unter einem Namen verstanden hat. Wie wichtig diese Klärung ist, verdeutlichen die bisher zitierten Aufzeichnungen, in denen Canetti sowohl konkret von Personen- und Straßennamen als auch ganz allgemein von Namen spricht. Diese unspezifische Verwendung ist ein Problem: Welche Namen lassen die Wüste erblühen? Sind es Tier- oder Pflanzen- oder Personennamen? Sind es die Namen von Flüssen oder sogar phantastische Namen, die kein Referenzobjekt in der Wirklichkeit besitzen? Kurzum: Was bedeutet hier »Name«? Wir wissen es nicht, die Aufzeichnung lässt es im Ungefähren. Auch anderswo hat Canetti den Begriff »Name« nicht definiert, ja mehr noch: Er lehnte das Definieren ab, hielt es für eine Form der Bemächtigung, die mehr über den Begriffsgeber als über das (vermeintlich) Begriffene verrät. »Definitionen sind Abgrenzungen; über das Abgegrenzte selbst sagen sie nichts aus. [...] In den Definitionen und im Definieren steckt ein gutes Stück Individualismus.«18 Wie

|| 17 Canettis Verhältnis zur Sprache ist in vielen Arbeiten analysiert worden. Genannt seien Erich Burgstaller: Zur Behandlung der Sprache in Elias Canettis frühen Dramen. In: Institut für Österreichkunde (Hg.): Sprachthematik in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien: Hirt 1974 (Schriften des Instituts für Österreichkunde), S. 101–117; Karla Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung in seinen Aufzeichnungen und in ausgewählten Essays. Innsbruck, Univ.-Diss. 1982 [Masch.]; Sigurd Paul Scheichl: Sprachreflexion in Canettis autobiographischen Büchern. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), H. 3/4: Special Elias Canetti Issue, S. 23–46; Alfred Doppler: Sprache: Kommunikations- oder Herrschaftsinstrument? Bemerkungen zur Sprachauffassung Elias Canettis. In: Walter Weiss und Eduard Beutner (Hg.): Literatur und Sprache im Österreich der Zwischenkriegszeit. Polnischösterreichisches Germanisten-Symposion 1983 in Salzburg. Stuttgart: Heinz 1985 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 163/Unterreihe: Salzburger Beiträge; 11), S. 77–86; Heide Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti. Salzburg, Univ.-Diss. 1988 [Masch.]; Waltraud Wiethölter: Sprechen – Lesen – Schreiben. Zur Funktion von Sprache und Schrift in Canettis Autobiographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), H. 1, S. 149–171; Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Anm. 5); Karoline Naab: Elias Canettis akustische Poetik. Mit einem Verzeichnis von Tondokumenten und einer Bibliographie der akustischen Literatur. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2003 (Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft; 7) [zugl. Frankfurt a.M., Dipl.-Arb. 2003]. 18 ZB 5a, Über das Drama [undatiert]. Alle in meiner Arbeit fett gedruckten Wörter sind im Original unterstrichen. Vgl. auch ZB 16, 4. August 1969: »Wissenschaftliche Namen sind etwas

8 | Der Namensverzückte

den Begriff »Verwandlung« hat Canetti deshalb auch den Begriff »Name« einfach benutzt – und immer wieder benutzt, ohne sich Rechenschaft über die Art oder Kohärenz dieser Benutzung zu geben. Während er sich in Masse und Macht gegen den (reinen) Individualismus der Definitionen wandte und seine Begriffe daher von den beobachteten Phänomenen her entwickelte19, ließ er dem Begriff »Name« durch den Verzicht selbst auf den Versuch einer semantischen Eingrenzung eine ebenso große Möglichkeit zum Bedeutungsumschlag wie dem Begriff »Verwandlung«.20 Dieser Verzicht macht das Besondere der neuen Grundkategorie aus und wird im Hauptteil zu erklären sein. Zugleich erschwert er jedoch die Konstituierung einer Textbasis für die anvisierte Untersuchung. Es erscheint insofern ratsam, sich zunächst den Gebrauch des allgemeinen Begriffs »Name« bei Canetti noch etwas näher anzuschauen. Vier weitere Aufzeichnungen vermitteln

|| Entsetzliches, man nimmt sie nicht ernst, es sind Zwecknamen, Zahlen täten denselben Dienst.« 19 Vgl. dazu sein Gespräch mit Rupprecht Slavko Baur: »Ich halte es also für äußerst wichtig, daß man Dinge nicht nur neu betrachtet, sondern auch neu benennt.« (X, S. 272) Siehe auch das Gespräch mit Joachim Schickel: »Ich hatte das Gefühl, daß jeder Begriff, den ich von außen an diese Dinge setze, sie irgendwie färbt und verändert und daß sie dann nicht mehr so betrachtet werden, wie ich sie selbst erlebt und bedacht habe.« (X, S. 254) Petra Kuhnau hat dennoch versucht, die Masse auf chemisch-physikalische, die Macht auf physiologische Modelle und die Verwandlung auf mythische Vorstellungen zurückzuführen. Am Ende des Kapitels zur Masse kommt sie zu dieser Schlussfolgerung: »Die darauf aufbauende Entwicklung eigener Modelle und Theorien kann in Verbindung mit Canettis empirischer und induktiver Methode als genuin naturwissenschaftliches Verfahren gekennzeichnet werden.« Vgl. Masse und Macht in der Geschichte (wie Anm. 1), S. 19 und 102. Es ist zu fragen, inwieweit solche Kategorisierungen hilfreich sind: Genügen das Vertrauen auf empirische Beobachtung und der (übertragene) Gebrauch bestimmter Termini (Masse, Kristall, Quant) bzw. die Übertragung von Gesetzen der Thermodynamik auf psychische Vorgänge, um Canettis Verfahren als »genuin naturwissenschaftlich« zu charakterisieren? Für die nationalen Massensymbole kommt Kuhnau ohnehin zu einem diametral anderen Ergebnis: Die Verwandlung »als ein dem Dichter Canetti eigener Wahrnehmungs- und Erkenntnismodus« ermögliche die Erkenntnis nationaler Massensymbole nur ihm selbst; der grundlegende Nachvollzug dieser Erkenntnis sei nicht intendiert (Ebd., S. 138). Später, im Kapitel über die Macht, moniert Kuhnau schließlich das »Fehlen eines distanzierenden Erzählerstandpunkts«, sodass Canetti nirgends eines »Metaebene der Darstellung« erreiche (Ebd., S. 224). 20 Wie Heinz-Klaus Metzger in seinem Gespräch mit Canetti feststellt, besitzen auch die in Masse und Macht entwickelten Begriffe ein »dialektische[s] Potential«: »Ganz grundsätzlich ist zu sagen, daß die das gesamte Buch durchziehende Scheu vor definitorischer Starre die Funktion hat, den Begriffen den Umschlag zu ermöglichen.« (X, S. 174) Dieses Potential ist bei den im Ungefähren belassenen Begriffen »Verwandlung« und »Name« größer als bei den Begriffen für die verschiedenen Arten der Masse.

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einen Eindruck von diesem Gebrauch. Sie sind zeitlich sehr nah beieinander, auch nah an den bisher zitierten Beispielen, stammen alle aus dem Jahr 1942. Zwischen der ersten und der letzten Aufzeichnung liegen auf den Tag genau drei Monate: Die älteste Hierarchie ist die der Namen. Sie steigen im Rang je nach dem Mass ihrer Verbreitung. ›Vogel‹ hat mehr Orte als ›Rabe‹. Gott als der höchste Name musste allgegenwärtig sein.21 Die griechischen Namen: Plato, Herodot, Aristoteles haben einen Klang wie in dreitausend Jahren. Diese Sicherheit ist beunruhigend, es wird nie mächtigere Namen geben, weil keine älter sein können, von allen [,] die solange am Leben waren.22 Die Worte und Namen aus der Bibel sind immer noch die schönsten, in jeder Sprache, und vielleicht wird man darin einmal den einzigen Segen erblicken, den die Missionare den Völkern gebracht haben.23 Er hatte mehr Gegenstände als Worte, mehr Menschen als Namen.24

Die beiden ersten Aufzeichnungen widersprechen sich terminologisch und stammen doch vom selben Tag. Während in der zweiten Aufzeichnung von Personennamen die Rede ist, wird der Begriff »Name« in der ersten Aufzeichnung im weitesten Sinn verwendet: als Synonym für »Wort«.25 Das ist kein wissenschaftlich präziser, aber ein vertrauter Sprachgebrauch. Während die Linguisten zwischen Eigennamen und Appellativen unterscheiden26, legen die || 21 ZB 6, 12. Mai 1942. 22 Ebd. 23 ZB 6, 14. Juni 1942. 24 ZB 6, 12. August 1942. 25 Josef Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Anm. 13), S. 133 unterscheidet drei Bedeutungen. Canetti meine mit »Name« häufig den Eigennamen oder, allgemeiner, die sprachlichen Bezeichnungen für Dinge. Schließlich verwende er den Begriff als Synonym für »berühmte Persönlichkeit«. Dieser dritte Gebrauch spielt in der vorliegenden Arbeit keine Rolle, er wird erst bei der Analyse der Autobiografien wichtig werden. Zum Vergleich sei gesagt, dass auch z.B. bei Goethe der Anteil der appellativischen Verwendung des Wortes »Name« sehr hoch ist. Vgl. Martina Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe. Computergestützte Studien zu epischen Werken. Heidelberg: Winter 1992 (Beiträge zur Namenforschung, N.F., Beihefte; 38) [zugl. Kiel, Univ.-Diss. 1992], S. 157. 26 Vgl. z.B. Heinz Vater: Eigennamen und Gattungsbezeichnungen. Versuch einer Abgrenzung. In: Muttersprache 75 (1965), S. 207–213; Hartwig Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 27. Eine gute Definition des Eigennamens findet sich bei Klaus Hilgemann: Eigennamen und semantische Strukturen. In: Friedhelm Debus und Wilfried Seibicke (Hg.): Namentheorie. Hildesheim, Zürich und New York: Olms 1989 (Reader zur Na-

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meisten Menschen in ihrem Alltag auf eine derartige Unterscheidung keinen Wert.27 Dieser grenzverwischende Sprachgebrauch ist entwicklungspsychologisch der ursprüngliche. Für das Kind ist »Name« ein viel klarerer Begriff als »Wort«. Beim Anblick eines unbekannten Gegenstandes fragt es deshalb nach dem Namen und nicht nach dem Wort.28 Erst später wird es zu unterscheiden lernen. Diese Unterscheidung macht die erste Aufzeichnung rückgängig. Deutet das auf eine Begeisterung für die Naivität des Kindes hin, dessen Umgang mit Namen Canetti einige Jahrzehnte später bei seiner eigenen Tochter beobachtet und in den Aufzeichnungen festgehalten hat?29 Ein ähnlicher Befund wie für die psychische Entwicklung des Einzelnen lässt sich, zumindest im Groben, für die Menschheitsgeschichte insgesamt machen. Auch hier ist, wie Adams Namengebung im zweiten Kapitel der Genesis beispielhaft zeigt, die terminologische Grenzverwischung zwischen Name und Wort ursprünglicher als die Differenzierung. In der griechischen Antike, der Zeit Platons, Herodots und Aristoteles', unterschieden die Philosophen zwar bereits zwischen Eigenname und Appellativum30, aber noch nicht so konsequent wie im sechsten nachchristlichen Jahrhundert der römische Grammatiker Priscian31. Es dauerte lange, bis sich diese Differenzierung endgültig durchsetzte. Noch bis

|| menkunde; 1/Germanistische Linguistik 98–100), S. 21–40, hier S. 34: »Ein Eigenname ist ein konkretes Substantiv, das aus einem Appellativum entstanden ist, nun aber absichtlich ohne Rücksicht auf die Etymologie benutzt wird, und das sich nur durch und in Situationen mit Bedeutung füllt, diese Bedeutung aber nicht wie Appellative auf einen lexikalischen Inhalt abstrahieren kann.« 27 Vgl. Wilfried Seibicke: Die Personennamen im Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter 1982 (Sammlung Göschen; 2218), S. 7. 28 Vgl. Christopher Robert Hallpike: Die Grundlagen primitiven Denkens. Aus dem Englischen übersetzt von Luc Bernard. Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 449. 29 Vgl. IV, S. 404: »Herausbildung des Rituellen beim Kind: Es muß alles genauso wiedergeschehen, wie es ihr bekannt ist, im selben Raum, mit denselben Menschen, auf dieselbe Weise. [...] Seit längerer Zeit schon reagiert sie sehr empfindlich auf Namen. Eine neue, scherzhafte Benennung fühlt sie als Schimpf. Sie schlägt um sich und fängt an zu weinen. Sie wiederholt den Namen, den sie kennt und mag, und fordert, daß man ihn ausspricht. Sie beruhigt sich nicht, bevor man ihn sagt. Am vertrauten Namen besänftigt sie sich und ist dann gleich wieder so ruhig, als wäre nichts geschehen.« 30 Vgl. Reclams Namenbuch. Deutsche und fremde Vornamen nach Herkunft und Bedeutung erklärt von Friedhelm Debus. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB; 18458), S. 16. 31 Vgl. Gerhard Koss: Namenforschung. Eine Einführung in die Onomastik. 3., aktualisierte Auflage, Tübingen: Niemeyer 2002 (Germanistische Arbeitshefte; 34), S. 55.

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ins 19. Jahrhundert, so Wolfgang Laur, haben die Sprachphilosophen nicht sonderlich präzise zwischen Name und Wort getrennt.32 Diese Trennung, die oft nicht beachtet, aber wohl kaum ernsthaft in Frage gestellt werden wird, fehlt nicht nur in der Sprache des Kindes, sondern ebenso sehr in den Sprachen der Naturvölker: Auch sie verwenden »Wort« und »Name« synonym.33 Dass dieser synonyme Gebrauch bei Canetti zu beobachten ist, wirft einige Fragen auf: Hat er, der von den Naturvölkern fasziniert war (vgl. z.B. IV, S. 206), vielleicht ganz bewusst, gleichsam als Verbeugung vor ihrer mythischmagischen Vorstellungswelt, auf eine ausdrückliche Differenzierung zwischen Name und Wort verzichtet? War dieser Verzicht einer jener Widersprüche gegen die eigene Zeit, die Canetti in seiner Geburtstagsrede für Hermann Broch vom Dichter verlangte? Betrachtete Canetti die Namen sogar wie die Naturvölker als mit dem Benannten wesenhaft verbunden, als ein Omen?34 War seine »Namensverzücktheit« nichts anderes als eine Namensmythologie mit magischen Elementen? Diese Fragen sind nicht zu beantworten, ohne auf Canettis generelles Verhältnis zum mythischen Denken einzugehen, das in der Forschung wiederholt analysiert worden ist, zuletzt in den Büchern von Penka Angelova und Karoline Hornik.35 Die Untersuchung der Funktion und Bedeutung von Namen

|| 32 Wolfgang Laur: Der Name. Beiträge zur allgemeinen Namenkunde und ihrer Grundlegung. Heidelberg: Winter 1989 (Beiträge zur Namenforschung, N.F., Beihefte; 28), S. 122. Noch 1965 konstatiert Vater in seinem Aufsatz über Eigennamen und Gattungsbezeichnungen (wie Anm. 26), S. 207: »Einige Grammatiken […] arbeiten mit dem Begriff Eigennamen (EN), führen ihn im Register, sprechen von Besonderheiten in der Deklination der EN, behandeln Untergruppen von EN wie Personen-, Länder- und Flußnamen, ohne an irgendeiner Stelle eine Definition der EN zu geben.« 33 Vgl. Hallpike: Die Grundlagen primitiven Denkens (wie Anm. 28), S. 478. 34 Zum Realismus der Eigennamen vgl. ebd., S. 475. 35 Penka Angelova: Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken. Wien: Zsolnay 2005, bes. S. 67f.: »Mythos ist für Canetti ein die Wirklichkeit deutendes, sie begründendes zyklisches Geschehen, welches sowohl in den Mythen als auch in den Religionen zu treffen ist.« Angelova unterscheidet die archaischen Mythen von Canettis neuem Mythos, der durch den Verwandlungsbegriff und dem Maskensprung gekennzeichnet sei. Dieser Mythos sei »ein das Leben als oberstes Prinzip in seiner Gegnerschaft gegen den Tod vergöttlichender transzendierender Mythos«. Hyun Sook Shin: Augen- und Ohrenzeuge. Die sinnliche Erfahrung als poetisches Darstellungsprinzip bei Elias Canetti. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2005 (Mäander; 8) [zugl. Paderborn, Univ.-Diss. 2005], S. 496 arbeitet heraus, dass Mythos für Canetti eine »konkrete, sinnlich erfaßbare Fähigkeit des Menschen« zur Erkenntnis eines Phänomens sei und eine Einheit von Denken und Empfinden darstelle. Auch weist Shin darauf hin, dass Canettis Rehabilitierung des Mythos nicht neu ist (Vgl. ebd., S. 494f.). Im Unterschied zur »Neuen Mythologie« der Romantiker und Ernst Cassirers Phänomenologie des mythischen Denkens in seiner Philosophie der symbolischen Formen sei Canettis Mythoskonzeption aber sowohl antimetaphysisch

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in ausgewählten Werken Elias Canettis versteht sich – nicht zuletzt – als Beitrag zu diesem zentralen Forschungsdiskurs. Dass Canettis Verzicht auf eine Differenzierung zwischen Name und Wort indessen kein konsequentes Prinzip ist, belegen die beiden folgenden Aufzeichnungen aus unserer Zusammenstellung. Hier unterscheidet Canetti sehr dezidiert zwischen Name und Wort. Dieser dialektische Befund ist symptomatisch. Wie im Folgenden verschiedentlich deutlich werden wird, ist Canetti kaum oder nur schwer auf eine These, einen Charakterzug oder ein Regelverhalten festzulegen.36 In seinen Aufzeichnungen über Namen lässt sich auch keine terminologische Entwicklung diagnostizieren, weder von einem allgemeinen zu einem konkreten Gebrauch des Begriffs noch umgekehrt. Dennoch fällt in den bisher zitierten Aufzeichnungen auf, dass Canetti den Allgemeinbegriff »Name« zumeist für Personennamen verwendet. Das ist ein rein quantitativer Befund, der bei der Konstituierung einer Textbasis aber helfen kann. Wir können die Schwierigkeiten, die Canettis (Ab-)Scheu vor Definitionen mit sich bringt, ein Stück weit umgehen, indem wir uns bei der Analyse der Aufzeichnungen auf Anthroponyme konzentrieren, und das heißt: auf Stellen, die entweder konkrete Personennamen enthalten oder in denen der allgemeine Begriff »Name« durch den Kontext (nach Möglichkeit eindeutig) als Stellvertreter für ein Anthroponym ausgewiesen ist.

|| als auch antisymbolisch (Vgl. ebd., S. 496f.). Zu Canettis mythischem Denken vgl. auch Stephan Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst. Elias Canettis Roman Die Blendung. München: Tuduv 1987 (tuduv-Studien: Reihe Sprach- und Literaturwissenschaften; 23) [zugl. München, Univ.-Diss. 1985]; Klaus-Peter Zepp: Privatmythos und Wahn. Das mythopoetische Konzept im Werk Elias Canettis. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 1165) [zugl. FU Berlin, Univ.-Diss. 1988]; Karoline Hornik: Mythoman und Menschenfresser. Zum Mythos in Elias Canettis Dichterbild. Bielefeld: Aisthesis 2006 (Chironeia; 1). 36 Zu Recht kritisiert Susanne Lüdemann im Vorwort ihres Bandes: Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg i.Br., Berlin und Wien: Rombach 2008 (Rombach-Wissenschaften: Reihe Litterae; 150), S. 9–15, hier S. 9f. die bisherige Forschung und formuliert ein neues Paradigma, das auf dem Berliner Colloquium zu Canettis 100. Todestag entwickelt und in verschiedenen Zusammenhängen erprobt worden war: »Wo die Canetti-Rezeption lange Zeit mit Ausblendungen arbeitete und entweder den Dichter oder den Mythenforscher oder den Zeitzeugen Canetti in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellte, sollte eine Synopse versucht werden, die gerade Canettis ›Vielstimmigkeit‹ zum Ausgangspunkt nahm, das Proteushafte seines Werks, das sich keiner Sparte und keiner Disziplin eindeutig zurechnen läßt.« Diesem neuen Paradigma der Canetti-Forschung fühle ich mich in dieser Arbeit verpflichtet.

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Da sich eine wissenschaftliche Arbeit um eine klare und einheitliche Terminologie zu bemühen hat, dürfen wir im Gegensatz zu Canetti auf eine Definition des zentralen Begriffes dieser Studien nicht verzichten. Um den Blick jedoch nicht von Vorneherein zu sehr einzuschränken, soll diese Definition möglichst offen bleiben. Mit Hans Walther und Johannes Schultheis ordnen wir dem Begriff »Anthroponym« alle Namenarten zu, die von Menschen getragen bzw. ihnen gegeben werden.37 Die Konzentration auf diese Namensklasse hat zwei entscheidende Vorteile. Erstens können wir der formalen Vielfalt von Canettis Œuvre gerecht werden und neben den Aufzeichnungen auch die poetischen Werke in die Untersuchung einbeziehen. Und zweitens stehen uns bei eventuell auftauchenden philosophischen, linguistischen oder etymologischen Problemen etliche Hilfsmittel zur Verfügung. Denn die Personennamen sind gleich nach den Ortsnamen die »besterforschte Namenklasse«38. Wenn wir mit diesem wissenschaftlichen Instrumentarium ein wissenschaftsfernes Denken zu analysieren versuchen, dann entsteht aus diesem Versuch eine Spannung, die nicht aufzulösen ist; sie verleiht der Arbeit ihr Gesicht. Gelegentlich werden wir aber auch auf Toponyme eingehen, da sie Canettis Namenkosmos in den poetischen Werken ergänzen und darüber hinaus eine ähnliche Funktion wie die Personennamen besitzen. Für Canetti haben sie allerdings längst nicht dieselbe Bedeutung wie Anthroponyme.

1.3 Aufbau und Propädeutik Die Untersuchung, zu der nun die Grundlage gelegt ist, besteht aus zwei großen Teilen. Im ersten Teil (A) soll zunächst nachgewiesen werden, dass es sich bei Namen tatsächlich um ein Lebensthema Canettis handelt. Wie bereits klar sein dürfte, ist dies keinesfalls in dem Sinn zu verstehen, dass sich Canetti wie alle Menschen permanent neue Namen angeeignet hat39, sondern vielmehr in dem

|| 37 Vgl. Hans Walther und Johannes Schultheis: Soziolinguistische Aspekte der Eigennamen. In: Debus und Seibicke (Hg.): Namentheorie (wie Anm. 25), S. 357–375, hier S. 362. 38 Damaris Nübling, Fabian Fahlbusch und Rita Heuser: Namen. Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen: Narr 2012 (Narr Studienbücher), S. 105. 39 Vgl. dazu eine unpublizierte Aufzeichnung über die schlechten Folgen der Sprache in der Fremde vom 24. Juni 1969 (ZB 16, Hervorhebung im Original): »Es fehlt an der unablässigen Nahrung durch neue, unbekannte Worte, oder genauer gesagt: alle neuen Worte ereignen sich nur in der Sprache des Gastlandes. Vielleicht sind sich nicht alle Schriftsteller dessen bewusst, wie viel sie sich mit neuen Worten befassen, auch wenn sie nicht zu denen gehören, die sie anwenden oder gar aufsuchen. Man ist so aus dem Fluss der unaufhörlich sich erweiternden

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Sinn, dass er sein Leben lang über Namen reflektiert, sich an ihnen abgearbeitet hat. Dieser Nachweis ist am besten erneut quantitativ zu führen, und zwar mit Hilfe der Aufzeichnungen, die Canettis Gedanken über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert beinahe täglich und ungefiltert überliefern. In diesen Aufzeichnungen, einer unschätzbaren Fundgrube, aber auch in seiner Lebensgeschichte, hat Canetti immer wieder vermerkt, wie sehr und aus welchen Gründen ihn bestimmte Namen verzückten. Zwar hat bereits Susanna Engelmann in ihrer Freiburger Dissertation aus dem Jahre 1996 darauf hingewiesen, dass Wort und Name die »beiden am häufigsten reflektierten sprachlichen Einzelphänomene in den Aufzeichnungen« seien40; doch nach der weitgehenden Freigabe des Nachlasses, die der Forschung eine Unmenge bisher unbekannter Aufzeichnungen zugänglich gemacht hat, muss diese These einer Revision unterzogen werden. Ich habe in der Zürcher Zentralbibliothek deshalb sämtliche Aufzeichnungen durchgearbeitet (soweit sie nicht gesperrt sind) und alle Stellen notiert, an denen von Namen, speziell von Anthroponymen, oder von »nennen«, »benennen« und »heißen« die Rede ist. Doch das Ziel besteht keineswegs in der Herstellung einer Konkordanz wie im entsprechenden Teil von Martina Schwankes Dissertation über Name und Namengebung bei Goethe41. Mehr noch als um quantitative Befunde oder um einzelne Namen soll es um das große Ganze gehen: um Canettis »Phänomenologie des Namens«, seine Beschreibung der verschiedenen Erscheinungsweisen des Namens.42 Nach der quantitativen Erfassung sollen seine Aufzeichnungen über Namen exemplarisch analysiert und untersucht, verknüpft und miteinander verglichen werden.

|| und bereichernden Sprache herausgestiegen, man steht daneben. Instinktiv findet man neue Wege, seinen Durst zu stillen: man erlernt die Namen von Dingen, die man früher so genau nicht kannte und es ist nicht verwunderlich, dass man dabei besonders gern nach den Namen von Lebendem, von Tieren, Pflanzen, Menschen trachtet und diese erlernt wie ein fremder Schüler. Es ist zum Glück sehr viel davon da und die Gegenstände, die sie bezeichnen, lassen sich überall betrachten oder berühren. Die Sinnlichkeit der Sprache nährt sich aus allen Namen dessen, was am Leben ist. Zu allem Abstrakten der Sprache kann man in seinem Zimmer mit sich und seinen Büchern gelangen.« 40 Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Anm. 5), S. 190. 41 Vgl. Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe (wie Anm. 25), S. 161–191. 42 Die vielleicht knappste Definition der Phänomenologie findet sich bei Dan Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger. Paderborn: Fink 2007 (UTB; 2935), S. 13: Die Phänomenologie lasse sich als »eine philosophische Analyse der verschiedenen Erscheinungsweisen der Gegenstände« begreifen.

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Die Bezeichnung »Phänomenologie des Namens« geht auf Susanna Engelmann43 zurück und muss erläutert werden. Sie wirkt nämlich auf den ersten Blick etwas merkwürdig, da sich Canetti nie als Vertreter einer bestimmten philosophischen Disziplin begriffen hat, schon gar nicht als Anhänger der Phänomenologie Edmund Husserls. Davon abgesehen hat er seine Aufzeichnungen über Namen auch nie als einen konsistenten, theoretischen Beitrag zum (sprach-)wissenschaftlichen Diskurs verstanden – anders als seine großangelegte Untersuchung der beiden Phänomene Masse und Macht44. Weder in den publizierten Aufzeichnungsbänden noch im Nachlass findet sich ein Beleg dafür, dass er mit diesen Aufzeichnungen – wie Susanna Engelmann behauptet – eine spätere Darstellung seiner »Phänomenologie des Namens« vorbereiten wollte.45 Da Canetti allen Ankündigungen zum Trotz nicht einmal die eigene Dramentheorie ausformuliert hat, dürfen wir annehmen, dass er seine Gedanken über Namen niemals zusammenfassend niederschreiben konnte oder wollte. Mit diesem status quo dürfen wir uns nicht zufrieden geben, da wir uns sonst in der Fülle der Aufzeichnungen verlören und nur zu einer Aneinanderreihung einzelner Beobachtungen von begrenztem Wert kämen. Wir werden deshalb versuchen, das fehlende Ganze selbst zu entwerfen. Das aber bedeutet: Es ist ein retrospektiv gewonnenes Konstrukt, eine Interpretationsleistung, die die Genese der Gedanken ignoriert, um auf Kosten der Vielfalt den tieferen Gehalt der Aufzeichnungen über Namen herauszuarbeiten. Wenn dieses Ganze im Anschluss an Susanna Engelmann als »Phänomenologie« bezeichnet wird, dann ist damit vor allem eines gemeint: dass Canetti seine Überlegungen zu Namen auf ihre Erscheinung in der natürlichen Erfahrung stützte, nicht auf Hypothesen oder metaphysische Postulate, sondern frei nach Husserls »Zurück zu den Sachen selbst!« auf das im Bewusstsein unmittelbar Gegebene.46 Da

|| 43 Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Anm. 5), S. 192. Vgl. auch Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Anm. 35), S. 270. 44 Im Gespräch mit René König und Alexander Mitscherlich (wie Anm. 14) erläutert Canetti, dass er die Masse sowohl phänomenologisch (»von außen«) zeigen als auch »von innen« betrachten wolle. 45 Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Anm. 5), S. 192. In einem Gespräch mit Peter Laemmle erinnert sich Canetti daran, dass er in jungen Jahren eine »Phänomenologie der Essenden« schreiben wollte (X, S. 344). 46 Zur Eigenart der Phänomenologie vgl. Jean-François Lyotard: Die Phänomenologie. Mit einem Nachwort von Christoph von Wolzogen. Aus dem Französischen von Karin Schulze. Hamburg: Junius 1993, S. 9f.: »Es geht darum, dieses Gegebene zu erforschen, ›die Sache selbst‹, die man wahrnimmt, an die man denkt, von der man spricht, und keine Hypothesen zu

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dieses unmittelbar Gegebene aber unterschiedlich angeschaut werden kann, »von dieser oder jener Seite, in schwacher oder starker Beleuchtung, als wahrgenommen, phantasiert, erwünscht, gefürchtet, erwartet oder erinnert, bewiesen, beschrieben oder mitgeteilt«47, kommt es in einem bestimmten Augenblick nur einseitig, unter einem originalen Aspekt, einer perspektivischen Abschattung, wie Husserl es formuliert, zur Erscheinung. Jede Veränderung der Perspektive lässt andere, manchmal sogar überraschende Aspekte hervortreten. Husserl hat dies am Beispiel eines Tisches verdeutlicht: Man kann diesen Tisch näher betrachten oder vielleicht aus einem anderen Augenwinkel, man kann um ihn herumgehen oder – was am häufigsten geschieht – den Wahrnehmungsverlauf imaginieren und wird jeweils auf einen anderen originalen Aspekt stoßen.48 Die Erkundung des Tisches kann darum nach Husserl nie zu einem Ende finden: »Eine äußere Wahrnehmung ist undenkbar, die ihr Wahrgenommenes in ihrem sinnendinglichen Gehalt erschöpfte, ein Wahrnehmungsgegenstand ist undenkbar, der in einer abgeschlossenen Wahrnehmung im strengsten Sinn allseitig, nach der Allheit seiner sinnlich anschaulichen Merkmale gegeben sein könnte.«49 Canettis Aufzeichnungen über Namen führen uns einen solchen niemals abschließbaren Wahrnehmungsverlauf vor. Sie enthalten immer wieder neue Aspekte, deren nachträgliche Verknüpfung phänomenologisch nichts weniger bedeutet als eine Annäherung an die ideale Erscheinung. Die Rede von einer »Phänomenologie des Namens« hat also keinen anderen Zweck, als Canettis Methode der Erkenntnisgewinnung zu charakterisieren.50

|| bilden, weder über die Beziehung, die das Phänomen mit dem Sein der Sache verbindet, deren Phänomen es ist, noch über die Beziehung, die es an das Ich bindet, für das es Phänomen ist.« Vgl. dazu auch Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Anm. 35), S. 20: Für Canetti sei die Phänomenologie »die Erforschung der Wirklichkeit selbst, nicht die eines Abbildes der Wirklichkeit«. Die Wirklichkeit sei »[…] nicht die vermittelte, sondern die unmittelbar erfahrene, erlebte und bewußt vorgestellte.« 47 Vgl. Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie. Übersetzt von Bernhard Obsieger. Tübingen: Mohr Siebeck 2009 (UTB; 3239), S. 56. 48 Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926. Hg. von Margot Fleischer. Den Haag: Nijhoff 1966 (Husserliana; XI), S. 4–7. 49 Ebd., S. 3. 50 Der Begriff Phänomenologie bezeichnet erstens eine philosophische Disziplin, zweitens eine Methode und schließlich drittens »[…] den Anspruch auf eine neue philosophische Wissenschaft, die alle bisherigen Philosophien an Originalität und Sachgehalt übertreffen soll.« Vgl. Ferdinand Fellmann: Phänomenologie zur Einführung. 3., vollständig überarbeitete Auflage, Hamburg: Junius 2015, S. 25.

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Methode ist dabei nicht als »neutrales Werkzeug« zu verstehen, sondern als ein »Weg, der den Zugang zur Sache eröffnet«.51 Auf der Seite des Subjekts ist dafür eine »[…] Naivität [erforderlich], die Unmittelbarkeit und Schlichtheit zum Forschungspostulat erhebt.«52 Denn grundlegend für den Erkenntnisprozess ist nach Auffassung Husserls die direkte Korrelation zwischen Subjekt und Objekt (»Konstitution«53), eine Korrelation, die den Gegensatz von Subjektivität und Welt, Ich und Nicht-Ich überwindet. Wahrheit bedeutet dementsprechend die Übereinstimmung von Denken und Sein. Wie im ersten Teil zu zeigen und zu erläutern ist, erlebte Canetti jedoch nicht die konstituierende Subjektivität als den aktiven Part, sondern gerade das Objekt, den Namen. Trotz ihrer Naivität und ihrer (mit Adorno gesprochen: skandalösen) Subjektivität lassen sich Canettis phänomenologische Reflexionen über Namen mit einer sprachwissenschaftlichen Disziplin verknüpfen, die der Phänomenologie zumeist eher fernsteht: der Namenstheorie.54 Denn sowohl in der Namenstheorie als auch in Canettis Aufzeichnungen geht es um eine generelle Frage: die Frage nach dem Wesen des Namens, dem bleibend Identischen in der Abfolge der Erscheinungen.55 Als Denker, der sich wie die Phänomenologen auf die

|| 51 Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. München: Fink 1992 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1688), S. 30. Das bedeutet, »[…] daß die Gesichtspunkte, nach denen die Sachen betrachtet und behandelt werden, aus dem Anblick der Sache selbst zu entwickeln sind und nirgendwoher sonst.« (Ebd., S. 19) 52 Karl-Heinz Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie. Darmstadt: WBG 1994 (Die Philosophie), S. 37. 53 Vgl. dazu Fellmann: Phänomenologie zur Einführung (wie Anm. 50), S. 65 und Zahavi: Husserls Phänomenologie (wie Anm. 47), S. 76f.: »Konstitution muss als ein Prozess verstanden werden, der dem, was konstituiert wird, gestattet zu erscheinen, sich zu entfalten, sich zu artikulieren und sich selbst als das zu zeigen, was es ist […].« 54 Das Verhältnis zwischen der Phänomenologie und dem sprachanalytischen Denken problematisiert in pointierter Form Fellmann: Phänomenologie zur Einführung (wie Anm. 50), S. 19. 55 Vgl. Ernst Hansack: Das Wesen des Namens. In: Andrea und Silvio Brendler (Hg.): Namenarten und ihre Erforschung. Ein Lehrbuch für das Studium der Onomastik. Anlässlich des 70. Geburtstages von Karlheinz Hengst. Mit einem Geleitwort von Volkmar Hellfritzsch. Hamburg: Baar 2004 (Lehr- und Handbücher zur Onomastik; 1), S. 51–65, hier S. 51: Die Namenstheorie beschäftigt sich mit dem Wesen des Namens. Sie möchte die Frage beantworten: Was ist ein Name? Vgl. auch ders.: Der Name im Sprachsystem. Grundprobleme der Sprachtheorie. Regensburg: Roderer 2000 (Studia et exempla linguistica et philologica: Series I, Studia maiora; 5), S. 197: »Bei der Untersuchung von Namen gehört alles Einzelsprachliche in den Bereich der Namenkunde und alles Übereinzelsprachliche (=Allgemeinsprachliche) in den Bereich der Namenstheorie.« Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Anm. 13), S. 134 spricht von einer »rudimentären Theorie der Eigennamen«. Vgl. auch Shin: Augen- und Ohren-

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Sachen selbst verwiesen fühlte, hielt Canetti daran fest, dass sich dieses Wesen nicht durch diskursives Denken erkennen lasse, sondern durch Anschauung zeige.56 Auch er verstand unter Wahrheit dabei die Übereinstimmung von Denken und Sein. Im Unterschied zu Husserl machte er aber keinen Unterschied zwischen der empirischen und der transzendentalen Phänomenologie. Seine »Wesenslehre« des Namens verzichtete darauf, alle empirischen Setzungen auszuschalten, um die objektiven, apriorischen Eigenschaften ihres Gegenstandes zu erfassen. Sie beruhte vielmehr auf der Überzeugung, dass die allgemeinen Eigenschaften des Namens – ohne Einklammerung des empirischen Ich – aus den unmittelbaren, situativen Erfahrungen erkannt werden können.57 Die Namensphänomenologie, die es im ersten Teil aus den verstreuten Aufzeichnungen zu entwerfen gilt, hätte Canetti wegen ihres gelegentlich vereinfachenden Charakters kaum gefallen. Für unsere Zwecke hat dieses Konstrukt allerdings zwei äußerst wichtige Vorzüge. Erstens kann es uns kompakter als jede Einzelanalyse oder (wie noch erläutert werden wird) jede diachrone Untersuchung vor Augen führen, welche Bedeutung Namen für Canetti besessen haben. Und zweitens wird es uns ermöglichen, Canettis ›Arbeit am Namen‹ so pointiert darzustellen, dass wir seine Erkenntnisse punktuell mit einigen ausgewählten Namenstheorien konfrontieren können.58 Diese Konfrontation wird das Spezifische, ja wie sich zeigen wird: Skandalöse an Canettis »Phänomenologie des Namens« erkennbar machen. Das ist das Kernanliegen des ersten Teils, der keinen Anspruch darauf erhebt, sämtliche Aufzeichnungen über Namen zu berücksichtigen59 oder die Entwicklung der wissenschaftlichen Onomas-

|| zeuge (wie Anm. 35), S. 21: Canetti geht mit den Bewusstseinsphänomenen »[…] dem Wesen der Dinge nach und erfaßt deren Erscheinungen nicht als das Individuelle, sondern als das Typische.« 56 Husserl bezeichnet die Phänomenologie als »deskriptive Wesenslehre«. Zitat nach Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Neu hg. von Karl Schuhmann. Text der 1.–3. Auflage, Den Haag: Nijhoff 1976 (Husserliana; III, 1), S. 156. 57 Vgl. Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Anm. 35), S. 22. 58 Ich habe diese Theorien nicht ausgewählt, weil ich sie für überzeugender halte als andere, sondern weil sie sich mit Canettis Denken am besten verknüpfen lassen. Eine allgemein akzeptierte Theorie des Eigennamens gibt es ohnehin nicht. Vgl. dazu Vincent Blanár: Theorie des Eigennamens. Status, Organisation und Funktionieren der Eigennamen in der gesellschaftlichen Kommunikation. Hildesheim, Zürich und New York: Olms 2001 (Germanistische Linguistik; 164–165), S. 11. 59 Ich konzentriere mich vor allem auf die Aufzeichnungen, in denen der Name als »Grundwort, um das sich die ganze Aussage konzentriert«, fungiert. Zitat nach Stefan H. Kaszyński: Im Labor der Gedanken. Zur Poetik der Aufzeichnungen von Elias Canetti. In: Ders (Hg.): Elias

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tik nachzuzeichnen. Sie wird nur partiell einbezogen, ist in diesem ersten Teil nicht mehr als eine Hilfsdisziplin. Wenn man um Canettis betont antisystematische Haltung weiß, ergibt sich aus dem Kernanliegen indessen ein Problem, das in einem eigenen Kapitel näher beleuchtet werden wird: Wie ist es methodisch zu rechtfertigen, aus bewusst isolierten und nicht selten widersprüchlichen Aufzeichnungen nachträglich das System einer Art Namenstheorie zu konstruieren? Der zweite Teil dieser Arbeit (B) schwenkt von der theoretischen zur praktischen Seite über. Es wird jetzt darum gehen, in umfassender Weise zu erforschen, wie Canetti in seinen poetischen Werken mit Namen umgegangen ist. Erforderlich ist dazu sowohl die Nah- als auch die Fernsicht: die reziproke Verknüpfung von Einzelinterpretation mit der Analyse des Verfahrens. Zu fragen ist, welche Funktion Namen in den einzelnen Texten und im poetischen Werk insgesamt besitzen und nach welchen Kriterien Canetti sie vergeben hat. Und zu fragen ist, ob und – wenn ja – wie er Namen in seine Poetologie einbezogen hat. Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei an dieser Stelle hinzugefügt, dass die Bezeichnung »poetische Werke« lediglich dazu dient, Die Blendung, die Dramen und Der Ohrenzeuge von Canettis aphoristischem Werk abzugrenzen. Es soll also weder behauptet werden, Canettis Aufzeichnungen seien nicht poetisch, noch soll der Eindruck erweckt werden, die Aufzeichnungen und die poetischen Werke müssten getrennt behandelt werden. Im Gegenteil: Das Kernanliegen dieses zweiten Teils ist es, ausgehend von den Erkenntnissen des ersten Teils, jeden Namen in den poetischen Werken zu analysieren und so zu einer Gesamtinterpretation des jeweiligen Textes zu gelangen. Die Namen sollen als Schlüssel zu den Figuren und zugleich als Schlüssel zum Werk dienen.60 Dieser Teil ist nicht nur als Beitrag zur Canetti-Forschung gedacht, sondern auch als Beitrag zur literarischen Onomastik, deren Aufgabe nach Karl Gutschmidt darin

|| Canettis Anthropologie und Poetik. München: Hanser; Poznań: Universitätsverlag Poznań 1984, S. 151–162, hier S. 158. 60 Elizabeth M. Rajec: Namen und ihre Bedeutungen im Werke Franz Kafkas. Ein interpretatorischer Versuch. Bern, Frankfurt a.M. und Las Vegas: Lang 1977 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Literatur und Germanistik; 186), S. 28 glaubt, dass Namen bei Kafka auf »höchst komplizierte Weise« ebenfalls »den Schlüssel zur Erkenntnis der Gestalten« liefern. Treffende Namen, so Rajec, seien oft der »Kern einer Handlungs-Schale« (Ebd., S. 15). Bescheidener zeigt sich Uwo Böker: Über die Herkunft des Namens Äscher in C. F. Meyers Der Heilige: Beowulf, V. 1323ff. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 50 (1969), S. 458–460, hier S. 460: »Der Vergleich zwischen der Beowulf- und der Heiligen-Stelle trägt zwar nur wenig zur Deutung der Novelle bei; aber es läßt sich doch neues Licht auf die Arbeitsweise des Autors und ein weiterer Blick in seine Werkstatt werfen.«

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besteht, die Funktion der Eigennamen im literarischen Text zu bestimmen und das Beziehungsgefüge der Namen zu durchleuchten, mit einem Wort: die »Namenstrategie« des Dichters heraus zu präparieren61. Erforderlich ist dazu eine mehrfache Kontextualisierung der Namen, zunächst innerhalb des einzelnen Textes, dann innerhalb des Gesamtwerkes. Schließlich gilt es aber auch, die erkannte Strategie literarhistorisch einzuordnen.62 Canettis Namengebungsverfahren wird mit den Verfahren anderer Dichter konfrontiert, und zwar erneut in der Absicht, dadurch das Spezifische an seinem Umgang mit Namen sichtbar zu machen. Die Erkenntnisse aus beiden Teilen werden in einem weiterführenden Resümee zuletzt genutzt, um Canettis Stellung in der Wiener Literatur zu beschreiben, der er sich über sein zeitweiliges Vorbild Karl Kraus am ehesten zugehörig fühlte. Einer weiteren, von mir bereits vorbereiteten Studie muss es vorbehalten bleiben, die Funktion und Bedeutung von Namen in Canettis Lebensgeschichte zu klären. Die Abtrennung des autobiografischen Werkes von den übrigen Schriften mag künstlich erscheinen – und sie ist es auch. Aber sie bietet sich insofern an, als für diese zweite Untersuchung ein eigener voraussetzungsreicher theoretischer Hintergrund geschaffen werden muss. Denn wer sich mit den Namen in der Lebensgeschichte beschäftigen will, der wird sich mit Canettis Theorie des Ruhms, seiner Differenzierung zwischen Überleben und Unsterblichkeit sowie mit dem Zusammenhang von Name und Erinnerung in Psychologie, Kulturgeschichte und Literatur auseinander zu setzen haben. Mehr noch als in dieser Arbeit wird dabei neben dem Namen eine weitere Grundkategorie ins Zentrum rücken: der Tod.63

|| 61 Vgl. Karl Gutschmidt: Bemerkungen zum Gegenstand und zu den Aufgaben der poetischen (literarischen) Onomastik. In: Debus und Seibicke (Hg.): Namentheorie (wie Anm. 25), S. 425–430, hier S. 428. Doris Rümmele versucht, in ihrer Arbeit: Mikrokosmos im Wort. Zur Ästhetik der Namengebung bei Thomas Mann. Bamberg, Univ.-Diss. 1969 »Motivation und Gesetzmäßigkeiten der dichterischen Namengebung Thomas Manns darzulegen« (S. 7). Nicht mehr aktuell, aber zum Einstieg in die Forschungsliteratur noch immer geeignet ist Elizabeth M. Rajec: Literarische Onomastik. Eine Bibliographie. Heidelberg: Winter 1977 (Beiträge zur Namenforschung N.F.; Beiheft 12). 62 Zum Begriff des Kontextes vgl. Henning Thies: Namen im Kontext von Dramen. Studien zur Funktion von Personennamen im englischen, amerikanischen und deutschen Drama. Frankfurt a.M., Bern und Las Vegas: Lang 1978 (Sprache und Literatur; 13), S. 32: »›Kontext‹ bezieht sich sowohl auf die Einbettung der Namen in den betreffenden literarischen Text als auch auf literarhistorische, soziokulturelle und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte.« 63 Vgl. dazu Gerald Stieg: Überlegungen zur Rezeption der österreichischen Gegenwartsliteratur in Frankreich. Am Beispiel Thomas Bernhards und Elias Canettis. In: Sigurd Paul Scheichl und ders. (Hg.): Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Französische und österreichi-

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2 Forschungsstand In seiner wegweisenden Canetti-Biografie stellt Sven Hanuschek im Jahre 2005 fest, dass ein »klar erkennbares Movens« alle Schriften des Dichters durchziehe. Dieses Movens sei der »Namensfetischismus«.64 Hanuschek variiert damit eine These, die Martin Bollacher zwanzig Jahre zuvor in seinem Aufsatz über Elias Canetti und die Verantwortung des Dichters im Exil vertreten hat. Canettis Werk, so Bollacher, zeichne sich durch eine »vielgestaltige ›Poetik der Namen‹« aus.65 Ebenfalls 2005 greift Penka Angelova diesen »konstitutiven Ansatz« in ihrer Monografie über Elias Canetti auf und spricht sogar von einer »Namensmythologie«.66 Im ersten Kapitel ihrer transdisziplinären Studie, das u.a. Canettis Einstellung zu den Namen der Geschichte und der Religionen zu erschließen sucht, konzentriert sich Angelova vor allem auf die Aufzeichnungen. Anhand ausgewählter Aufzeichnungen arbeitet sie heraus, dass Canetti die »Tradition der ›großen Persönlichkeiten‹« wegen ihrer fatalen Vorbildhaftigkeit abgelehnt und an die Stelle der berühmten Namen ein »Pantheon« anderer, zum Teil vergessener Namen habe setzen wollen. Dieses Pantheon gehöre zu Canettis neuem Mythos, der an die Stelle der falschen Überlieferung, des »Übel[s] der Zivilisation«, einer bloßen Reproduktionsmaschine der Macht, treten und Verwandlungen ermöglichen sollte. Die Namen des Pantheons sollten als »Gegen-Bilder« zu einer »Neueinschätzung der Werte« und einer »Umdeutung der Geschichte« beitragen.67 Unter Rekurs auf einige weitere Aufzeichnungen und Der Ohrenzeuge zeigt Angelova, dass sich Canetti nicht nur auf eine Neusich|| sche Beiträge. Akten der Jahrestagung 1982 der französischen Universitätsgermanisten (A.G.E.S.) in Innsbruck. Innsbruck: AMŒ 1986 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe; 21), S. 231–248, hier S. 246: Canetti sei »der leidenschaftlichste TodFeind der Weltliteratur«. Als »monumentale Bibel der Tod-Feindschaft« bezeichnet Canettis Werk Edgar Piel: Elias Canetti. München: Beck/Edition Text + Kritik 1984 (Autorenbücher; 38), S. 130. Auch Olga Borodatschjova: »Ich will, was ich war, werden.« Die autobiographische Trilogie von Elias Canetti. Hamburg: Kovač 2002 (Schriftenreihe Poetica; 62) [zugl. Halle, Univ.Diss. 2001], S. 28 sieht die Gegnerschaft zum Tod im Zentrum von Canettis philosophischer Weltanschauung. Zur Tod-Feindschaft vgl. auch Ursula Ruppel: Der Tod und Canetti. Essay. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1995. 64 Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 90. 65 Martin Bollacher: Vom Gewissen der Worte. Elias Canetti und die Verantwortung des Dichters im Exil. In: Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert: Königstein i.Ts.: Athenäum 1985, S. 326–337, hier S. 333. 66 Angelova: Spuren zum mythischen Denken (wie Anm. 35), S. 34. 67 Zitate aus ebd., S. 63.

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tung der Überlieferung beschränke, sondern überdies versucht habe, die »berüchtigten Namen der Geschichte«, die Namen von Machthabern wie Alexander, Caesar oder Napoleon, durch die Namen seiner selbst geschaffenen Charaktere zu ersetzen. Die Figuren mit diesen Namen, »Der Satte«, »Der Trickster«, »Der Belesene«, seien die »erstarrten Charakterzüge der Masse des 20. Jahrhunderts« und insofern die »wahren ›Helden‹ unserer Zeit«.68 Die vorliegende Studie vertritt ebenfalls die These, dass Canetti eine Namensmythologie entwickelt hat. Doch sie wird diese These anders begründen. Der für Canettis Denken zentrale Begriff »Mythos« wird dabei im gleichen Sinn verstanden wie in Angelovas Buch: als »ein die Wirklichkeit deutendes, sie begründendes zyklisches Geschehen« mit sinnstiftender Bedeutung, welches der von Max Weber konstatierten Entzauberung der Welt entgegenwirkt.69 Es wird zu zeigen sein, dass es Canetti gerade auf diese Gegenwirkung, die Wiederverzauberung der technisierten und rationalisierten Welt, angekommen ist. Und es wird zu zeigen sein, dass Namen seiner Auffassung nach dazu in außerordentlichem Maße beitragen. Die Studie versucht im ersten Teil indes, die Frage nach dem Inhalt dieser Mythologie mit einer anderen Frage zu verknüpfen, die in den Aufzeichnungen eine wichtige, bei Angelova aber kaum eine Rolle spielt: mit der Frage nach dem Wesen des Namens. Im Gegensatz zu Angelova ist es daher nicht möglich, die Untersuchung vornehmlich auf Canettis Aufzeichnungen über das Problem der großen Namen zu beschränken, das weder den Kern seiner Namensmythologie ausmacht noch für seine Haltung zu Namen repräsentativ ist. Stattdessen ist die Perspektive zu erweitern. Ein verlässliches und ausgewogenes Bild der Namensmythologie liefern nur die Aufzeichnungen insgesamt. Dieses Bild soll hier erstmals in der Canetti-Forschung entworfen werden. Im zweiten Teil wird dann klar zu machen sein, dass Canettis Namensmythologie bei der Arbeit an seinem Roman, den Dramen und Der Ohrenzeuge zu einer »Poetik der Namen« wird. Die Grundlage ist in beiden Fällen der Namensfetischismus, den Hanuschek zu Recht diagnostiziert hat.

|| 68 Ebd., S. 95 und 102. Das erste Zitat ist im Original kursiv. 69 Ebd., S. 58. Siehe dazu auch Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Auflage, München: Beck 2007 (Beck'sche Reihe; 1307), S. 52: »Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen.« Dieser Ursprung ist bei Canetti der Name. Vgl. auch Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Anm. 35), S. 495: »Ein Konsens zwischen Canetti und der gegenwärtigen Mythos-Diskussion scheint jedenfalls darüber zu bestehen, daß der Mythos der Entzauberung der Welt entgegenzuwirken habe.« Wie ich in meiner Arbeit herausarbeiten werde (S. 168–174), verbindet Canetti das Zyklische des Mythos allerdings mit seiner Verwandlungslehre und gibt ihm auf diese Weise eine neue Funktion.

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Diese Zusammenschau ist noch immer viel zu selten erprobt worden. Die weitgehende Konzentration auf eine einzige Gattung, so wie im ersten Kapitel von Angelovas Buch, ist typisch für die Forschung: Sie hat sich mit der Funktion und Bedeutung von Namen entweder nur in den Aufzeichnungen oder nur in den poetischen Werken beschäftigt. Zwar referiert Angelova in ihren mehr vereinzelten als systematisierten Ausführungen zu Canettis Namensmythologie auch auf die Lebensgeschichte und Der Ohrenzeuge, aber das Schwergewicht liegt bei den Aufzeichnungen. Ähnliches gilt für Karla Pilgerstorfer, die in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1982 Canettis Sprachauffassung in den Aufzeichnungen und in ausgewählten Essays analysiert und die poetischen Werke grundsätzlich ausklammert. Darüber hinaus berücksichtigt sie nur jene Aufzeichnungen und Essays, in denen explizit (was immer das auch heißen mag) über Sprache reflektiert wird, sei es isoliert oder in Verbindung mit Canettis Roman- bzw. Dramentheorie.70 Pilgerstorfer kommt zunächst zu einem quantitativen Ergebnis: Canetti reduziere den allgemeinen Begriff »Sprache« häufig auf den Namen.71 Name aber bedeute in den Aufzeichnungen so viel wie »als jemandes Vertreter«, »in jemandes Sinne« oder auch, bei Gegenständen, »in Vertretung des Dinges«.72 Das Verhältnis von Name und Benanntem bestimmt Pilgerstorfer qualitativ anschließend genauer: Canetti sei von der Übereinstimmung zwischen der Sprachform und dem Wesen der Dinge überzeugt und achte besonders auf den Klang des Namens.73 Die Sprache sei für ihn eine zweite Wirklichkeit, die der Wirklichkeit der Dinge ebenbürtig, ihnen vielleicht als »Substrat« sogar übergeordnet sei.74 Zu dieser Auffassung gelangt, en passant, auch Christine Altvater in ihrer Düsseldorfer Dissertation aus dem Jahr 1990: Die Namen Caesar, Dschingis-Khan und Napoleon seien das Substrat ihrer Träger.75 Die Ursprünge dieser heute befremdenden sprachmagischen Vorstellung können weder Pilgerstorfer noch Altvater mit Gewissheit angeben. Canettis Aussagen über Buchstaben- und Namensymbolik seien nämlich so vage,

|| 70 Vgl. Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung (wie Anm. 17), S. 35. 71 Vgl. ebd., S. 98. 72 Vgl. ebd., S. 99. 73 Vgl. ebd., S. 24. Der phonetisch-ästhetischen Qualität des Namens maß auch Goethe eine große Bedeutung bei. Vgl. Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe (wie Anm. 25), S. 197. 74 Vgl. Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung (wie Anm. 17), S. 155. 75 Vgl. Christine Altvater: »Die moralische Quadratur des Zirkels« Zur Problematik der Macht in Elias Canettis Aphorismensammlung Die Provinz des Menschen. Frankfurt a.M.: Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 1183) [zugl. Düsseldorf, Univ.-Diss. 1990], S. 195.

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schreibt Pilgerstorfer, dass man keinen spezifischen Einfluss ausmachen könne: Karl Kraus' Sprachmystik habe in ihnen wohl ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Kabbala, auch wenn Canetti nie von ihr gesprochen habe.76 Da Pilgerstorfer in ihrer breit angelegten Arbeit der Platz fehlte, um an diesem Punkt weiter in die Tiefe zu gehen und andere mögliche Quellen zu sichten, ist dieser Befund zu überprüfen. Dies ist umso dringender, als die Forschung inzwischen auf den Großteil der unpublizierten Aufzeichnungen zurückgreifen kann. Womöglich finden sich dort Hinweise, die uns Canettis sprachmagische Vorstellungen besser als bisher verstehen lassen. Wenn man an das Quellenmaterial von Masse und Macht denkt, so kommen vor allem Mythen und Märchen als potentielle Einflüsse in Betracht. Während sich Pilgerstorfer in ihrer Arbeit noch zwei Gattungen widmete, den Aufzeichnungen und den Essays, konzentriert sich Susanna Engelmann in ihrer 1997 publizierten Freiburger Dissertation ganz auf Canettis Aphorismen zur Sprache. Engelmann, die über die Sprachform und über die Sprachdeutung ausgewählter Aphorismen zur Sprache Canettis Sprachdenken zu analysieren beabsichtigt77, geht wie ihre Vorgänger davon aus, dass Canetti die Sprache schon früh als mythische Wirklichkeit erfahren habe78, und arbeitet aus den Aufzeichnungen drei zentrale Sprachmythen heraus: Babel, Bibel und Bibliothek. Diesen Sprachmythen ordnet sie sechs Grundmotive zu, aus denen sie drei dualistische Paare bildet: Wort und Name, Satz und Buch, Lektüre und Verzeichnung.79 In ihrer oft nur flüchtigen Analyse stellt Engelmann die These auf, dass dem Namen grundsätzlich eine Ambivalenz zu Eigen sei: Canetti stelle der paradiesischen Lautlichkeit des Namens die geschichtliche Ruhmesgier gegenüber, die Namen zu einem »Synonym für Macht« mache.80 Diese These ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens übersieht Engelmann, dass auch die paradiesischen Namen, ja die Namen überhaupt, eine Form von Bemächtigung darstellen, durch die sich der Mensch die Welt unterwirft. Und zweitens bestimmt sie den Namen allzu pauschal – ohne etwa zwischen großen und ›normalen‹, wirklichen und fiktionalen Namen zu unterscheiden – als ein Synonym für Macht, mit größtenteils negativer Implikation. Noch stärker als Angelova und Pilgerstorfer betrachtet Engelmann die Kategorie des Namens, neben Tod

|| 76 Vgl. Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung (wie Anm. 17), S. 148, Anm. 47. 77 Vgl. Engelmann: Babel-Bibel-Bibliothek (wie Anm. 5), S. 8. 78 Vgl. ebd., S. 160. 79 Vgl. ebd., S. 190. 80 Vgl. ebd., S. 192.

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und Sprache, also gemeinsam mit der Kategorie der Macht. Die Komplementärkategorie der Masse gerät dagegen in Vergessenheit. Sie ist höchstens bei Angelova von Bedeutung. Die Kategorie der Verwandlung ist in allen bisher genannten Werken nicht in einen Zusammenhang mit Namen gebracht worden. Canettis Verhältnis zur Macht ist in der Forschung seit langem umstritten. Schon zu Lebzeiten des Dichters hat der von Kurt Bartsch und Gerhard Melzer herausgegebene Grazer Sammelband Experte der Macht. Elias Canetti die Frage aufgeworfen, ob Canetti nicht selbst ein veritabler Machthaber sei. Einige Aufsätze aus diesem Band geben eine bejahende Antwort auf diese Gretchenfrage der Canetti-Forschung.81 Doch diese Antwort kommt nicht immer ohne Polemik oder Spekulationen aus. So behauptet Kurt Bartsch in seinem Aufsatz, die Eindringlichkeit, mit der Canetti postuliere, ein »Gegenbild« des Machthabers zu sein, lasse auf einen harten Kampf um die Sublimierung seiner Machtgelüste schließen.82 Wie wir aus dem Nachlass wissen, hat sich Canetti die Frage nach den eigenen Machtgelüsten allerdings mit klarem Bewusstsein gestellt und dabei keineswegs ausgeschlossen, dass auch er zu den Machthabern gehört. In einer Aufzeichnung vom 18. Januar 1969 heißt es: »Dass auch die Hasser der Macht der Macht frönen! Du?«83 Gerade eine Untersuchung über die Funktion und Bedeutung der Namen vermag eine differenzierte Antwort auf die Frage nach Canetti als Machthaber zu geben. Denn sie durchleuchtet an einem exponierten Beispiel die beiden für diese Frage relevanten Dimensionen: das Aktive (Macht) und das Passive (Ohnmacht), den Bereich des Rezeptiven und ebenso den Bereich des Schöpferischen. Sie wird erforschen, wie Canetti auf Namen reagierte und wie er mit ihnen dichterisch verfuhr. Die beiden genannten Dimensionen und ihren wechselseitigen Zusammenhang haben bisher nur Josef Quack, allerdings ganz kursorisch84, sowie Hyun Sook Shin und Heide Helwig in ihren Dissertationen behandelt. Hyun Sook Shin interessiert sich vor allem für das Verhältnis zwischen Name und Benanntem bei Canetti, das sie unter Rekurs auf Walter Benjamin und Ernst Cassirer als

|| 81 Vgl. etwa Bernd Witte: Der Einzelne und seine Literatur. In: Kurt Bartsch und Gerhard Melzer (Hg.): Experte der Macht. Elias Canetti. Graz: Droschl 1985, S. 14–27. Canetti lässt kein gutes Haar an dem Buch, spricht vom »jämmerlichen Machwerk der Grazer«. Brief Elias Canettis an Wolfgang Frühwald vom 5. Mai 1986, Privatbesitz; zitiert nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 634. 82 Vgl. Kurt Bartsch: Der größte Experte der Macht. Elias Canetti über Franz Kafka und den Dichter als »Gegenbild« des Machthabers. In: Ders. und Melzer (Hg.): Experte der Macht (wie Anm. 81), S. 133–147, hier S. 137. 83 ZB 16. 84 Vgl. Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Anm. 13), S. 133–137.

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magisch bestimmt, als »Artikulation des Dinges selbst«, die die »Kraft der Unmittelbarkeit« besitze85. Neben den Aufzeichnungen geht Shin auch auf das Kapitel »Ein Irrenhaus« aus Die Blendung ein – und besonders ausführlich auf die Charaktere des Ohrenzeugen, in denen sie ein »Gegengewicht zum Verlust der untrennbaren Verbindung von Name und Ding, von Sprache und Wirklichkeit«86 erkennt. Sehr bedeutsam ist ihr Hinweis auf die Verknüpfung von Namen und akustischen Masken87, den es im zweiten Teil dieser Arbeit zu vertiefen gilt. Neben den Aufzeichnungen und Masse und Macht bezieht auch Heide Helwig in ihre Arbeit über Canettis Sprachauffassung immer wieder das poetische Werk ein, hauptsächlich die Komödie der Eitelkeit und Die Blendung. In einem Kapitel über den Eigennamen als Sonderfall der Sprache-WirklichkeitBeziehung stellt Helwig fest, dass Reflexionen über die Korrespondenz zwischen Name und Namenträger einen wesentlichen Teil von Canettis Gesamtwerk ausmachen.88 Darüber hinaus zeigt Helwig, dass der Name gerade in diesem sprachmagischen Sinn, als Prophezeiung und zugleich Beschränkung der Möglichkeiten des Namensträgers, selbst eine Form von Macht sei.89 Von den sprachimmanenten Machtphänomenen, denen Canetti mehr als andere erliege, unterscheidet Helwig die Herrschaftsansprüche, die er wie alle Sprecher in Sprachgebrauch und Kommunikationsverhalten zum Ausdruck bringe.90 Mit dieser Unterscheidung macht Helwig eine andere Art der Ambivalenz sichtbar als Engelmann. Die Forschung sollte auf analoge Unterscheidungen nicht verzichten, wenn sie sich in Zukunft über Canettis Verhältnis zur Macht äußert, da sie sonst zu einseitigen Urteilen gelangt. Wie Helwig überzeugend nachweist, ist z.B. Canettis Verhältnis zur Sprache nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen: »Einer absolut gesetzten Sprachverehrung, die sich zunächst an die Sprache als solche richtet und sich noch nicht so sehr im Blick auf ihre Leistungen differenziert, ist demnach bei Canetti als Gegengewicht das Bewußtsein um eine alles durchdringende Macht-Problematik zuzuordnen, das genau genommen nur noch völliges Verstummen möglich macht. Dieses Bewußtsein findet sich

|| 85 Vgl. Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Anm. 35), S. 262 und 265. Indem Shin von »Canettis Namensphilosophie« spricht (S. 264), unterstellt sie dem Dichter allerdings eine begriffliche Systematik, die seinen über Jahrzehnte hinweg entstandenen Aufzeichnungen über Namen fremd ist. 86 Ebd., S. 299. 87 Shin spricht deshalb sogar von »Namenmasken« (Im Original in einfachen Anführungszeichen). Vgl. ebd., S. 280. 88 Vgl. Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Anm. 17), S. 66. 89 Vgl. ebd., S. 67. 90 Vgl. ebd., S. 111.

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seinerseits immer wieder zurückgedrängt von der Einsicht in die soziale Funktion der Sprache und ihre Verbindungskraft [...].«91 Ob sich über Canettis Umgang mit Namen Ähnliches sagen lässt, soll in der vorliegenden Studie herausgearbeitet werden. In anderen Teilen ihrer Dissertation untersucht Helwig die Bedeutung des Eigennamens an Beispielfällen aus der Autobiografie und versucht, einige Namen aus dem poetischen Werk zu deuten, so etwa die Namen Garaus, Nada und Föhn aus Canettis zweitem Drama Komödie der Eitelkeit.92 Da Helwig in ihrer ebenfalls sehr breit angelegten Arbeit neben Namen Canettis Dichterbegriff, sein Verhältnis zum Wort, die Wechselbeziehung von Sprache und Wirklichkeit, dann auch Mehrsprachigkeit und Fremdsprache, Kommunikationspessimismus und Sprachvertrauen, Befehl und Urteil, Frage und Schweigen, Canettis Poetik und nicht zuletzt den Zusammenhang von Sprache und Charakter in den Blick nimmt, fehlt ihr allerdings der Platz, um weitere Namen aus dem poetischen Werk zu deuten und zu einer Gesamtthese zu kommen. Die wenigen Beispiele erscheinen deshalb etwas willkürlich. Zumindest ist nicht klar, inwiefern sie als repräsentativ gelten können. Helwigs Arbeit kann somit nicht als eine systematische Untersuchung der Namen in Canettis poetischen Werken gelten. Zudem bezieht Helwig die Erkenntnisse ihrer Arbeit an den Aufzeichnungen und den poetischen Werken nicht immer konsequent genug aufeinander. Auch die Arbeiten zu Canettis poetischen Werken deuten Namen nicht systematisch und umfassend, sondern gehen nur nebenbei auf einige wenige Namen ein. Und auch sie stellen höchstens kursorisch eine These zur »Namenlandschaft«93 des jeweiligen Werkes auf. Zumeist versuchen sie sich an einer Namendeutung, um irgendeine These zu einem anderen Thema zu untermauern oder zu illustrieren. In Jutta Paals Arbeit zur Figurenkonstellation der Blendung94 werden die Namen der Protagonisten sogar überhaupt nicht beachtet. Einige Studien zu den poetischen Werken eröffnen dennoch wichtige Einblicke in Canettis Namengebung und präsentieren gelungene Namendeutungen. Zu nennen sind insbesondere die Bücher von Dieter Dissinger95, Uwe

|| 91 Ebd., S. 273. 92 Vgl. ebd., S. 184–193 und 256. 93 Karl Gutschmidt: Eigennamen in der Literatur. In: Namenkundliche Studien. Berichte aus der Humboldt-Universität zu Berlin 5 (1984), S. 7–38, hier S. 20. 94 Jutta Paal: Die Figurenkonstellation in Canettis Roman Die Blendung. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991. 95 Dieter Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn. Elias Canettis Roman Die Blendung. Bonn: Bouvier 1971 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik; 11).

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Sänger96, Nicola Riedner97 und Konrad Kirsch98 zu Die Blendung sowie das Buch von Hans Feth99 zu Canettis Dramen. Insgesamt sind die Dramen – wie sonst auch in der Forschung – unterrepräsentiert. Einen ähnlichen Befund wie für die Canetti-Forschung machte 1977 Elizabeth M. Rajec für die Kafka-Philologie: In den damaligen Standardwerken von Brod, Emrich, Politzer und Sokel würden Namen zwar erläutert, aber die Namendeutung stehe nicht im Zentrum. Die genannten Bücher kämen als »systematische Namenanalyse« deshalb nicht in Betracht.100 Rajec bemüht sich diesem Missstand abzuhelfen und nachzuweisen, dass Namen bei Kafka einen »bedeutsamen Teil seiner Dichtung und ihres Verständnisses bilden«.101 Die vorliegende Arbeit verfolgt dasselbe Ziel für die Canetti-Forschung. Sie widmet sich zum ersten Mal ausschließlich der Frage nach der Bedeutung von Namen in seinem Werk. Dabei profitiert sie davon, dass Canetti im Unterschied zu Kafka102 oder Thomas Mann103 zahlreiche kürzere und längere theoretische Äußerungen zu Namen hinterlassen hat. Dieses Zugleich von Theorie und Praxis, das in der Geschichte der literarischen Namengebung nicht allzu häufig ist, wird die Deutung der poetischen Namen im zweiten Teil erleichtern. Es wird ein rein spekulatives, auf Assoziationen beruhendes Verfahren, das uns in der literarischen Onomastik gelegentlich begegnet104, oder ein größtenteils induktives Vorgehen wie bei Rajec105 an vielen (aber längst nicht an allen) Stellen überflüssig ma|| 96 Uwe Sänger: Schrecken und Verwandlung: biblische Motive im Werk Canettis. Hannover, Univ.-Diss. 1998 [Mikrofiche-Ausgabe]. 97 Nicola Riedner: Canettis Fischerle. Eine Figur zwischen Masse, Macht und Blendung. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994. 98 Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Anm. 5). 99 Hans Feth: Elias Canettis Dramen. Frankfurt a.M.: R. G. Fischer 1980 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; 2). 100 Vgl. Rajec: Namen und ihre Bedeutung im Werke Franz Kafkas (wie Anm. 60), S. 27. 101 Ebd., S. 11. Vgl. auch ebd., S. 186: »Ich glaube gezeigt zu haben, dass hinter fast allen kafkaeschen Figuren für den Philologen Bedeutungen sichtbar werden, die in vielen Fällen den Schlüssel, in manchen Fällen sogar den einzigen Schlüssel zum Verständnis seiner Werke liefern.« 102 Vgl. ebd., S. 11. 103 Vgl. Sigmar Tyroff: Namen bei Thomas Mann in den Erzählungen und den Romanen Buddenbrooks, Königliche Hoheit, Der Zauberberg. Frankfurt a.M.: Lang 1975 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Literatur und Germanistik; 102), S. 10. 104 Ein negatives Beispiel, in dem die Assoziationen z.T. wild ins Kraut schießen, ist Richard Gerber: Vom Geheimnis der Namen. Eine onomastische Studie über Lessings dramatisches Werk. In: Neue Rundschau 76 (1965), S. 573–586. 105 Rajec: Namen und ihre Bedeutungen im Werke Franz Kafkas (wie Anm. 60), S. 11. Ein weiterer Extremfall ist Jürgen Bleiker: Gottfried Kellers Namengebung. In: Schweizer Monats-

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chen. Vorbilder für die enge analytische und interpretatorische Verschränkung von Theorie und Praxis, von Namenstheorie und Namensdeutung, sind die Monografie von Hendrik Birus über die Namen in Nathan der Weise106, die sich mit den sprachphilosophischen und literaturhistorischen Fragen rund um den Namen allerdings losgelöst von Lessing befasst, sowie die Aufsätze von Wolfgang Binder zu Hölderlins Namenssymbolik107 und von Eduard Berend zur Namengebung bei Jean Paul108. In diesem »Muster einer autorenmonografischen Arbeit«109 kommt Berend zu dem Ergebnis, dass Jean Paul in der Geschichte der literarischen Namengebung eine »hervorragende Stelle« zugewiesen bekommen müsse.110 Eine solche Stelle gebührt auch Elias Canetti. Er gehört zu den Autoren, die sich im 20. Jahrhundert am intensivsten mit Namen beschäftigt haben. Diesen Umstand (von neuem111) in das kollektive wissenschaftliche Gedächtnis zu heben, ist das literaturhistorische Ziel der vorliegenden Studie, insoweit sie sich als Beitrag zur literarischen Onomastik versteht.

3 Methode 3.1 Zur Begründung der Methode Am 20. Oktober 1978 äußert sich Canetti in den Aufzeichnungen sehr abfällig über ein onomastisches Buch, dessen Titel er verschweigt. Wahrscheinlich handelt es sich um Elizabeth M. Rajecs bereits erwähnte Dissertation aus dem Vorjahr: || hefte 39 (1960), S. 1215–1227, hier S. 1221: Unser Gefühl, so Bleiker, erkenne die Richtigkeit von Kellers Namen. 106 Hendrik Birus: Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings Nathan der Weise. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978 (Palaestra; 270). 107 Wolfgang Binder: Hölderlins Namenssymbolik. In: Hölderlin-Jahrbuch 12 (1961/62), S. 95–204. 108 Eduard Berend: Die Namengebung bei Jean Paul. In: Publications of the Modern Language Association of America 57 (1942), S. 820–850. 109 Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Anm. 62), S. 28. 110 Vgl. Berend: Die Namengebung bei Jean Paul (wie Anm. 108), S. 821. 111 Eine Ausnahme ist Friedhelm Debus: Name und Mythos: Elias Canetti als Beispiel. In: Peter Ernst und Franz Patocka (Hg.): Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Wien: Edition Praesens 1998, S. 347–361; ders: Namen in literarischen Werken. (Er-) Findung, Form, Funktion. Stuttgart: Steiner 2002 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur; Jg. 2002, 2), S. 83.

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Ein Mann, den ich mag und schätze, schickt mir eine idiotische germanistische Arbeit über die Namen bei Kafka. Tabellen, Systeme, Zitate (aus andern so sehr wie aus Kafka). Wie es gelingt, diesen streng linearen Autor durch Diffusion zu verdünnen und zu töten. Durch das von Zeit zu Zeit eingesprenkelte Wort ›genial‹ wird der Versuch gemacht, ihn wiederzubeleben. Beidem entzieht er sich, der Tötung wie der Wiederbelebung, aber es bleibt der Ärger über die Familiarität dieser Berührung.112

Offenbar dachte der uns unbekannte Mann nicht im Traum daran, dass er mit seiner Wahl falsch liegen könnte. Er muss also davon überzeugt gewesen sein, dass Namen für Canetti wichtig sind. Und er muss darüber hinaus angenommen haben, dass sich Canetti ganz generell für poetische Namengebung interessiere – besonders für die Namengebung eines Dichters, über den er zehn Jahre zuvor selbst ein kleines Buch geschrieben hatte. Doch das war ein Trugschluss. Canetti begeisterte sich zwar für Kafkas Werk, vielleicht auch für dessen Namengebung. Aber die Notiz verrät, was ihm an der literarischen Onomastik (wie überhaupt an jeder Wissenschaft) zuwider war: die Methode der Zergliederung, die Systematisierung und Kategorisierung, die Diffusion, die Rajec in ihrem »interpretatorischen Versuch« zu einer Schlussfolgerung führte, von der Canetti sich abgestoßen fühlen musste: »Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit wird die Entdeckung sein, dass Kafka wohl vielschichtig, doch nie mehrdeutig ist.«113 Eine Studie über die Funktion und Bedeutung der Namen im Werk Elias Canettis muss von Anfang an einkalkulieren, dass Namen nicht nur vielschichtig, sondern auch mehrdeutig sein können. Denn nichts hasste Canetti, der zeitlebens über das Problem der Verwandlung reflektierte und den Menschen als »Verwandlungswesen par excellence« begriff (X, S. 260), inständiger als jenen Willen zur Eindeutigkeit, den Rajec Kafka unterstellt. Ihre These, dass Kafkas poetische Namen fast immer Kryptogramme seines eigenen Namens seien114, lässt sich für Canettis Werk nicht adaptieren. Mehr als auf ihn selbst verweisen seine Namen – z.T. gleichzeitig – auf die verschiedenen Lebensthemen: auf seine Gedanken zum Tod, zu Masse und Macht, zur Verwandlung. Auch ist nicht immer eindeutig zu klären, um welche Art des literarischen Namens es sich handelt. Im zweiten Teil dieser Arbeit kommen wir Canettis Einwänden methodisch ein Stück weit entgegen, indem wir auf Grafiken und Tabellen verzichten. Bei

|| 112 ZB 18. Rajec: Namen und ihre Bedeutungen im Werk Franz Kafkas (wie Anm. 60), S. 43 und 188 spricht in der Tat von der »typisch kafkaesche[n] Genialität« und der »dichterische[n] Genialität Kafkas«. 113 Ebd., S. 193. 114 Vgl. ebd., S. 185.

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Rajec haben sie ohnehin zumeist nur ergänzende oder summarische Funktion, wie etwa die Namenlisten am Schluss jedes größeren Kapitels (eingeteilt in Nomenklatur, Toponyma, Miszellen). Gelegentlich stützen sie aber gerade ihre These von der Eindeutigkeit der Namen, wie etwa die Tabelle, die den Namen Odradek auf Kafka zurückführt115. Die Studie wird allerdings auch nicht so angelegt sein wie Siegmar Tyroffs Dissertation über die Namen bei Thomas Mann, obwohl darin nicht eine einzige Tabelle oder Grafik zu finden ist. Zwar ist auch sie in den ersten Kapiteln theoretisch und literaturhistorisch zugleich orientiert, doch insgesamt besteht sie zu mehr als der Hälfte aus einem lexikalischen Teil. In diesem Teil werden die Namen, chronologisch nach Werken rubriziert, alphabetisch aufgelistet, versehen jeweils mit einer »Kurzinformation nach Art einer Lexikonauskunft, die besonders auf den sprachlichen Beziehungsbereich des Namens im Kontext achtet«.116 Nicht an allen Stellen wird Tyroff damit einer methodischen Forderung gerecht, die einige Jahre später Wilfried Seibicke aufgestellt hat: Die wissenschaftliche Untersuchung von Namen in der Literatur kann infolgedessen auch nicht dabei stehen bleiben, die Namen im Gesamtwerk eines Autors zu sammeln, zu klassifizieren und nach der Herkunft, etymologischen Bedeutung, Bildungsweise und ähnlichen formalen Gesichtspunkten zu beschreiben. Vielmehr kommt es darauf an, im einzelnen Werk das Beziehungsgeflecht der Namen untereinander in seiner Bedeutung für den Aufbau des Werks und die künstlerischen Absichten des Autors aufzudecken.117

Während sich Tyroff im ersten Teil der Frage nach der Namenstrategie widmet und herausarbeitet, dass Thomas Mann redende Namen bevorzuge118, beschränkt er sich im lexikalischen Teil auf Einzelbeobachtungen, die das Beziehungsgeflecht der Namen nicht immer zur Gänze offenlegen. Zuweilen drückt Tyroff sich sogar vor einer Namensdeutung. So schreibt er über Friederike Friedemann, die Schwester des kleinen Herrn Friedemann in der gleichnamigen Erzählung: »Als älteste der drei Töchter des niederländischen Konsuls führt sie mit ihren Schwestern Friedemanns Haushalt. Sie ist, wie ihre Schwester Henriette, lang und dünn.«119 In diesem paraphrasierenden Eintrag bleibt ungewiss, was die Verdoppelung der Silbe »Friede« zu bedeuten hat – gerade im Hinblick auf das Schicksal des Bruders, der im Leben keinen Frieden findet.

|| 115 Vgl. ebd., S. 42. 116 Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Anm. 103), S. 74. 117 Seibicke: Die Personennamen im Deutschen (wie Anm. 27), S. 93. 118 Vgl. Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Anm. 103), S. 9. 119 Ebd., S. 77.

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Zu dessen Vornamen Johannes merkt Tyroff an, dass er zur Sprachschicht religiöser Namen gehöre, verzichtet dann aber darauf zu klären, warum Thomas Mann dem Protagonisten einen Namen aus dieser Schicht gegeben hat. Die strenge lexikalische Ordnung erlaubt auch keine Zwischenbemerkungen und versperrt mitunter sogar den Blick für das Wesentliche. So fehlt in Tyroffs Arbeit ein zusammenfassender Hinweis darauf, dass Thomas Mann bereits in seinen frühen Erzählungen eine Vorliebe für antithetische Namen und antipodische Namen-Konstellationen entwickelt hat. Denn wie Tonio Kröger und Paolo Hofmann trägt auch Ada von Stein in Der Wille zum Glück einen Namen, in dem sich – wie Tyroff zu Recht anmerkt – die beiden Pole Weichheit und Härte vereinen.120 Diese Vorliebe für onomastische Kontraste ist ebenso wie ihr Komplement, die Verstärkung eines einzigen jener beiden Pole (Hans Hansen), ein wesentliches Charakteristikum der Namengebung Thomas Manns. Von hier aus wäre zu fragen, ob nicht auch der Schriftsteller Detlev Spinell, die Hauptfigur der Erzählung Tristan, einen antithetischen Namen trägt. Tyroff dekretiert im lexikalischen Teil hingegen, dass die beiden Bestandteile des Namens ein »harmonisches Ganzes« bilden, und zwar einen weichen Namen.121 Da Spinell »den Namen irgendeines Minerals oder Edelsteins«122 führt, liegt allerdings zumindest die Vermutung nahe, dass Vor- und Nachname genauso widersprüchlich sind wie Ada von Stein. Diese Beispiele mögen belegen, dass eine lexikalische Präsentation dazu verführen kann, einen Namen nur der Vollständigkeit halber zu besprechen, selbst wenn zu seiner Deutung nichts gesagt werden kann. Sie steht darüber hinaus in der Gefahr, die Namen allzu isoliert zu betrachten und dabei zu übersehen, welchen Beitrag die Namendeutung zur Interpretation des Werkes leisten kann. Für Tyroff sind Namen denn auch nicht mehr als ein »Sprachdetail«.123 In einem eigenen Kapitel zu den Namen in der Novelle Tristan zeigt er hingegen beispielhaft und stellenweise überzeugender als im lexikalischen Teil, wie die Namen in die Erzählung strukturell eingebunden sind. In dieser Arbeit wollen

|| 120 Vgl. ebd., S. 76. 121 Ebd., S. 86. Zu assoziativ ist die Deutung von Doris Rümmele in ihrem Buch: Mikrokosmos im Wort (wie Anm. 61), S. 45. Rümmele hört Spinell an die mundartlichen Wörter »spinnet«, »spinnen«, »spintisieren« anklingen und deutet den Namen deshalb als Verweis auf das Wunderliche, Verrückte seines Trägers. Plausibler ist ihre Vermutung, Thomas Mann habe bei der Benennung an den Komponisten Niccolà Spinelli gedacht (Vgl. ebd., S. 269). 122 Thomas Mann: Tristan. In: Ders.: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt a.M.: Fischer 2004 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe; 2,1), S. 319–371, hier S. 321. 123 Vgl. Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Anm. 103), S. 16.

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wir den beschriebenen Gefahren aus dem Weg gehen, indem wir auf die Namen nicht in lexikalischer Form, sondern in einem Fließtext eingehen. Dieses Vorgehen trägt der bereits formulierten Erkenntnis Rechnung, dass Namen für Canetti mehr sind als ein Sprachdetail. Außerdem zwingt sie den Interpreten weniger als andere Präsentationsformen, sich für eine Lesart zu entscheiden. Auch ist die alphabetische Anordnung nicht geeignet, Canettis von starken Korrespondenzen geprägte Namenlandschaft angemessen zu erschließen. Die Namen werden deshalb einander zugeordnet, sodass sich die Korrespondenzen und Widersprüche besser zeigen lassen. Daraus wird sich allmählich eine Gesamtinterpretation des jeweiligen Textes aufbauen. Anders als Tyroff werden wir im zweiten Teil auch darauf verzichten, die Werke in chronologischer Reihenfolge zu behandeln. Um die beiden Teile unserer Arbeit angemessen miteinander zu verknüpfen, werden wir vielmehr mit Canettis letztem Drama Die Befristeten beginnen. Denn hier können wir die aus der Lektüre der Aufzeichnungen gewonnenen Erkenntnisse direkt einbringen. Auch im weiteren Verlauf soll die tatsächliche Chronologie keine Rolle spielen. Stattdessen werden wir die Werke im Hinblick auf ihr jeweiliges Namengebungsverfahren neu ordnen und sie in dieser Abfolge besprechen. Den zweiten Teil werden wir mit dem Roman Die Blendung abschließen, Canettis onomastischem Meisterstück. Auch im ersten Teil über die Aufzeichnungen werden wir auf eine chronologische Anordnung verzichten. Dafür gibt es einen praktischen und einen theoretischen Grund. Praktisch lässt sich das gewählte Vorgehen mit einem Seitenblick auf die Bücher von Susanna Engelmann und Karla Pilgerstorfer begründen. Engelmann präsentiert ausgewählte Aufzeichnungen in thematischen Blöcken und ordnet sie innerhalb dieser Blöcke nach dem Publikationsort chronologisch. Das führt dazu, dass Aufzeichnungen, die sich inhaltlich ähnlich sind, in denen sich vielleicht sogar derselbe Gedanke ausspricht, zwar nicht weit entfernt voneinander stehen, aber doch durch andere Aufzeichnungen getrennt sind. Da Engelmann es vorzieht, zwischen den einzelnen Blöcken eher paraphrasierende und zusammenfassende als analytische Übergänge zu schreiben, bleibt die Verknüpfungsarbeit dem Leser überlassen. Auch geht die einzelne Aufzeichnung in diesen z.T. aus über zehn Aufzeichnungen bestehenden Blöcken zumeist unter. Noch klarer werden die Nachteile der chronologischen Anordnung in Pilgerstorfers Dissertation. Auch hier sind die Aufzeichnungen thematisch geordnet, sie werden aber nicht in Blöcken präsentiert und kommentiert, sondern in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Das führt zu etlichen Wiederholungen. So schreibt Pilgerstorfer im Kapitel über die Sprachaufzeichnungen zum Jahr 1946, dass der Name für Canetti zu einer Zauberformel gewor-

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den sei, und notiert nur eine Seite später: »1948 fällt wieder der Begriff ›Zauber‹ in Bezug auf den Namen.«124 Da sich auch Pilgerstorfer vor der Vielfalt der Aufzeichnungen in die Paraphrase rettet, sind die Ergebnisse ziemlich dürftig. Es scheint insofern sinnvoller, die Aufzeichnungen so anzuordnen, dass ähnliche Gedanken zusammengebracht und gemeinsam interpretiert werden – ohne Rücksicht auf ihre Chronologie. Das wertet das Ergebnis des Denkens auf und die Genese der Gedanken ab. Dieses Verfahren ist auch theoretisch zu rechtfertigen. Wie Konrad Kirsch anhand des wiederkehrenden Messer-Motivs gezeigt hat, ist die Unterscheidung zwischen einem frühen und einem späten Canetti125 obsolet. Kirsch spricht stattdessen von einer »strukturellen Konsistenz der Poetik« und der »Homogenität von Canettis Werk«: Es gibt darin keine markanten Einschnitte, die eine blaue von einer rosa oder einer kubistischen Phase unterscheiden ließen. In diesem Sinne ist eine ›ahistorische‹ Betrachtung seines Werks nicht nur möglich, sondern angezeigt, denn auch die anderen Metaphern sind von einer ähnlichen Beständigkeit wie die des Messers.126

Dieser Befund kann auf Canettis Aufzeichnungen übertragen werden, da auch in ihnen Gedanken und Motive wiederkehren. Die ahistorische Betrach-

|| 124 Vgl. Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Canettis Sprachauffassung (wie Anm. 17), S. 105f. 125 Diese Unterscheidung findet sich etwa bei Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Anm. 95), S. 13, der allerdings keine Zäsur für das philosophische Denken Canettis annimmt; Youseff Ishaghpour: Masse und Macht im Werk Elias Canettis. In: John D. Patillo-Hess (Hg.): Tod und Verwandlung in Canettis Masse und Macht. Wien: Kunstverein 1990 (CanettiSymposion; 2), S. 78–89, hier S. 78f.; Axel Gunther Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis. Subjekt-Sprache-Identität. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 135) [zugl. Freiburg i.Br., Univ.-Diss. 1993], S. 155. Dagegen argumentieren Dagmar Barnouw: Masse, Macht und Tod im Werk Elias Canettis. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 19 (1975), S. 344–388, hier S. 344f.; Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Anm. 5), S. 40f. sowie – kurz und prägnant – Herbert Zand: Stimmen unsere Maßstäbe noch? Versuch über Elias Canetti. In: Literatur und Kritik 21 (1968), S. 33–37, hier S. 35 und 37: »Die Grenzen verschwimmen heute. Wir durchschauen sie. Im Werk Canettis bestehen sie nicht mehr. Was wir für einen Bruch gehalten haben, ist wahrscheinlich eine gerade Linie.« »Das Werk Canettis ist eine Einheit.« Diese Einheit ist freilich eine Einheit in Vielheit. Canettis Werk bildet keine gerade Linie, sondern es zeichnet sich durch ständige Perspektiv- und Formenwechsel aus, bei gleichzeitiger Konzentration auf die wenigen beherrschenden Lebensthemen. Einheit und Vielheit dürfen deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden. 126 Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Anm. 5), S. 55. Wie Dagmar Barnouw: Elias Canetti zur Einführung. Hamburg: Junius 1996 (Zur Einführung; 133), S. 9 gezeigt hat, stimmt es nicht, dass Canettis Todfeindschaft im Alter nachgelassen habe – wie gelegentlich behauptet worden ist. Auch hier gebe es keinen markanten Einschnitt. Die soziale Forderung, den Tod nicht zu akzeptieren, kehre vielmehr bis zum Ende immer wieder.

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tung ist allerdings auch deshalb angebracht, weil Canettis Werk nach Meinung der meisten Forscher einen »geschlossenen Kosmos« bildet: eine hermetische Welt, in der alle Texte immer aufeinander verweisen.127 So begreift Martin Bollacher z.B. die Autobiografie als »epische[n] Kommentar des im engeren Sinne poetischen Werks«.128 Und bereits 1972 schreibt Horst Bienek, Canettis Werk werde von den »immergleichen Triebkräften des Denkens und Gestaltens bewegt«; es sei […] der perpetuierende Versuch, mit verschiedenen Stimmen auf mehreren Ebenen eine Antwort zu geben.«129 Die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Meinung an. Sie versucht, durch eine konsequente Zusammenschau zu zeigen, dass Canettis Werke sich gegenseitig erhellen, selbst wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Die Methode der Wahl ist darum zunächst die text- bzw. werkimmanente Hermeneutik, die sich an manchen Stellen dem close-reading-Verfahren annähern wird. Auch unter onomastischer Perspektive bietet sich der Einsatz hermeneutischer Methoden an. Denn anders als Namen in der Realität sind Namen in der Literatur gerade durch ihre Textbezogenheit gekennzeichnet; sie ist nach Karl Gutschmidt ein »spezifisches Merkmal« der literarischen Onomastik.130 Zugleich spielt das Verstehen, die Suche nach dem Sinn eines Namens, aber auch für Canetti selbst eine sehr wichtige Rolle. Es geht in dieser Arbeit mithin darum zu verstehen, wie Canetti Namen verstanden hat.

|| 127 Ruppel: Der Tod und Canetti (wie Anm. 63), S. 7. Vgl. auch Karl Heinz Bohrer: Der Stoiker und unsere prähistorische Seele. Zu Masse und Macht. In: Göpfert (Hg.): Canetti lesen (wie Anm. 1), S. 61–66, hier S. 61; ders.: Der Stoiker und unsere prähistorische Seele. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Elias Canetti (wie Anm. 4), S. 148–153, hier S. 148: Canetti als »einer der letzten hermetischen Schriftsteller«; Knoll: Das System Canetti (wie Anm. 12), S. 7: Gesamtwerk als »Entwurf eines in sich geschlossenen, einheitlichen Weltbildes«; Stieg und Valentin: Vorwort (wie Anm. 10), S. 7: »Lebenswerk von einer faszinierenden inneren Geschlossenheit«. 128 Martin Bollacher: »[...] das Weitertragen des Gelesenen«. Lesen und Schreiben in Canettis Autobiographie. In: Gerhard Neumann (Hg.): Canetti als Leser. Freiburg i.Br.: Rombach 1996 (Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae; 22), S. 33–48, hier S. 46. 129 Horst Bienek: Die Zeit entläßt uns nicht. Rede auf Elias Canetti. In: Akzente 19 (1972), H. 6, S. 557–564, hier S. 563. Unklar ist, wie Joachim Günther: Die Stimmen von Marrakesch. In: Manfred Durzak (Hg.): Zu Elias Canetti. Stuttgart: Klett 1983 (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft; 63: LGW-Interpretationen), S. 116–120, hier S. 117 zu der Auffassung gelangt, Canetti sei ein Schriftsteller, »[…] dessen Arbeiten ein sie ›zusammenhaltendes geistiges Band‹ vermissen lassen.« 130 Vgl. Gutschmidt: Bemerkungen zum Gegenstand und zu den Aufgaben der poetischen (literarischen) Onomastik (wie Anm. 61), S. 426; ders.: Eigennamen in der Literatur (wie Anm. 93), S. 9; Debus: Namen in literarischen Werken (wie Anm. 111), S. 36.

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3.2 Zur Rolle von Masse und Macht Wenn Canettis Werk einen geschlossenen Kosmos bildet, dann ist neben der dreibändigen Autobiografie vor allem ein Buch zur Erschließung dieser hermetischen Welt wichtig. Es ist Canettis »fundamentalste Arbeit«131: Masse und Macht. Die literaturwissenschaftlich orientierte Canetti-Forschung ist mit diesem Buch bisher ganz verschieden umgegangen, je nachdem, in welchem Verhältnis sie es zu den poetischen Werken, insbesondere zu Die Blendung, gesehen hat. Nicht wenige Forscher haben Masse und Macht von Die Blendung strikt getrennt.132 Andere wie z.B. David Roberts133 und Dieter Dissinger134 in ihren Büchern oder Dagmar C. G. Lorenz in einem Aufsatz135 haben Canettis MasseBuch bei der Analyse des Romans ausführlich herangezogen. Seine Bedeutung für das Verständnis der poetischen Werke sei kaum zu überschätzen, meint auch Dagmar Barnouw 1979 in ihrer den Forschungsstand zusammenfassenden Monografie.136 Elf Jahre später unterstreicht Gerald Stieg diese These und weist nach, dass der Roman nach demselben Prinzip wie Masse und Macht gebaut ist:

|| 131 Knoll: Das System Canetti (wie Anm. 12), S. 208. 132 Vgl. Irene Boose: Das undenkbare Leben. Elias Canettis Die Blendung. Eine ironische Parabel über den ontologischen Abgrund. Heidelberg: Mattes 1996 [zugl. Heidelberg, Univ.Diss. 1994], S. 11: Die Blendung erfordere »einen ganz eigenen, vom späteren Canetti weitgehend unabhängigen Zugang«. Vgl. auch William Collins Donahue: The End of Modernism. Elias Canetti's Auto-da-Fé. Chapel Hill und London: The University of North Carolina Press 2001 (University of North Carolina Studies in Germanic Languages and Literatures; 124), S. 3f. Siehe auch Kuhnau: Masse und Macht in der Geschichte (wie Anm. 1), S. 13; Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 717, Anm. 1. 133 David Roberts: Kopf und Welt. Elias Canettis Die Blendung. Aus dem Englischen übersetzt von Helga und Fred Wagner. München: Hanser 1975 (Literatur als Kunst). 134 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Anm. 95), S. 13: »Seine philosophischen Anschauungen wurden zwar erst lange nach der Entstehung der drei frühen Dichtungen veröffentlicht, sie gehören aber in ihren Grundzügen schon derselben Zeit an. Die späten theoretischen Schriften sind deshalb (mit der notwendigen Vorsicht) zur Erhellung der frühen Dichtungen heranzuziehen.« Noch vorsichtiger zeigt sich Dissinger in seinem Aufsatz: Der Roman Die Blendung. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik 28: Elias Canetti. 2. Auflage, München: Edition Text + Kritik 1973, S. 30–38, hier S. 36: »Man sollte sich dagegen hüten, allzuviel aus Canettis Lehre, wie sie in ›Masse und Macht‹ entwickelt wird, in den Roman hineinzudeuten, obwohl man auch so zu fruchtbaren Ergebnissen kommt.« 135 Dagmar C. G. Lorenz: Elias Canetti: Masse und Macht und Die Blendung. Bezüge zwischen Roman und Massentheorie. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), H. 3/4: Special Elias Canetti Issue, S. 81–91. 136 Vgl. Dagmar Barnouw: Elias Canetti. Stuttgart: Metzler 1979 (Sammlung Metzler; M 180: Abt. D, Literaturgeschichte), S. 113.

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Das erste Kapitel sei eine vorweggenommene Illustration der Berührungsfurcht, das letzte entspreche dem paranoischen Wahnsinn Schrebers, der Canetti damals aber noch nicht bekannt war.137 Heike Knoll sieht in Masse und Macht sogar eine »theoretische Erläuterung« zu Canettis Die Blendung.138 Und Eva M. Meidl versucht nachzuweisen, dass der Begriff des Verwandlungsverbotes in Die Blendung und in den Dramen literarisch gestaltet werde.139 Alfred Doppler und Maria Cristina Puricelli schließlich beschreiben den Zusammenhang zwischen der frühen und der späteren Schrift in ihren Arbeiten metaphorisch: In Die Blendung seien die Denkanstöße von Masse und Macht schon »keimhaft« enthalten.140 Gegen diesen Umgang mit Canettis Die Blendung wendet sich William Collins Donahue mit zwei ernst zu nehmenden Argumenten. Erstens moniert er, dass der Roman durch die Verknüpfung mit Masse und Macht auf einen sekundären und bloß illustrierenden Status herabgestuft werde, auf die Rolle einer tastenden Vorwegnahme der späteren Theorien.141 Und zweitens nimmt er an, Canetti habe 1930/31, als er Die Blendung schrieb, nicht wissen können, was er in den dreißig Jahren denken würde, die bis zur Publikation von Masse und Macht (1960) noch vergehen sollten.142 Zugleich ist Donahue aber fest davon überzeugt, dass die beiden Werke nicht nur das Interesse an Problemen der Macht143 teilen, sondern dass ihnen auch ein »common spirit of inquiry« eigen sei; der Roman stelle die große Frage, die Masse und Macht zu beantworten

|| 137 Gerald Stieg: Frucht des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Wien: Edition Falter im ÖBV 1990, S. 139f. 138 Knoll: Das System Canetti (wie Anm. 12), S. 2. 139 Vgl. Eva M. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (1929–1952). Studien zum Begriff des »Verwandlungsverbotes«. Frankfurt a.M.: Lang 1994 (Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur; 14), S. 11. 140 Alfred Doppler: »Der Hüter der Verwandlungen«. Canettis Bestimmung des Dichters. In: Friedhelm Aspetsberger und Gerald Stieg (Hg.): Elias Canetti. Blendung als Lebensform. Königstein i.Ts.: Athenäum 1985, S. 45–56, hier S. 48; Chang Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien in Canettis Die Blendung. Aachen: Shaker 2005 [zugl. Köln, Univ.-Diss. 2004], S. 13; Maria Cristina Puricelli: Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz. Elias Canettis Roman Die Blendung im Problemkontext von Max Webers Religionssoziologie und Wissenschaftslehre. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2005 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 1916) [zugl. München, Univ.-Diss. 2003], S. 60. 141 Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Anm. 132), S. 3f. 142 Vgl. ebd., S. 4. 143 Dagegen Roberts: Kopf und Welt (wie Anm. 133), S. 91: Das Hauptanliegen des Romans sei die Interpretation der Masse.

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suche.144 Trotz allem hütet sich Donahue, den Roman mit dieser These erneut zu einem Belegtext für Masse und Macht zu machen. Er liest Die Blendung vielmehr, ohne Rekurs auf das Masse-Buch, als einen modernen deutschen Roman mit einer sozialen Agenda.145 Um Die Blendung nicht von Vorneherein in ein Raster zu pressen, entschließt sich auch David Darby, auf Masse und Macht als Interpretationshilfe zu verzichten. Stattdessen versucht er, den Roman anhand von Kriterien zu analysieren, die einem fiktionalen Text in erzählender Prosa seiner Auffassung nach angemessen sind.146 Auch wenn Donahue und Darby der Blendung als einem eigenen Werk gerecht zu werden versuchen, können ihre Argumente nicht restlos überzeugen. Das liegt maßgeblich daran, dass sie der Meinung sind, der Rekurs auf Masse und Macht führe automatisch zu einer qualitativen Degradierung des Romans. Das kann, muss aber nicht der Fall sein. Wer wegen dieser bloß diffusen Gefahr bei der Interpretation der Blendung auf das Massebuch verzichtet, beraubt sich wertvoller Einsichten und wird z.B. Probleme haben, den Anfang des Romans zu deuten. Auch Donahues erstes Argument erweist sich bei genauerem Hinsehen als wenig schlagkräftig. Sicher ist es zutreffend, dass Canetti zur Entstehungszeit der Blendung nicht alle Hypothesen seiner späteren Studie entwickelt hatte (was im Übrigen nie behauptet worden ist). Anhand des Romans lässt sich aber doch zeigen, dass er die Vorstellung, wenn auch vielleicht noch nicht die Begriffe der rhythmischen und der stockenden Masse im Kopf gehabt haben muss; dass er die Zerstörungslust der Masse erkannt hatte147; dass ihm der Zusammenhang von Macht und Überleben klar geworden war; dass er um die Bedeutung des Befehls für die Theorie der Macht wusste und die Rolle von Mutter und Vater für die Entwicklung des Kindes bedacht hatte. An diesen Einsichten hielt er in den kommenden Jahrzehnten fest und führte sie weiter aus. Ähnliches lässt sich für Hochzeit und Komödie der Eitelkeit, selbst für die Befristeten, zeigen. Trotz dieser Entsprechungen wäre es dennoch falsch zu meinen, der spätere Text habe ein größeres Gewicht, weil dort alles ausgereifter und durchdachter sei als in Die Blendung. Zum einen trifft das gar nicht überall zu. Und zum anderen hat Canetti selbst betont, dass er seine Begriffe und Thesen stets von einem konkreten Ausgangspunkt her entwickelt habe wie der Berührungs|| 144 Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Anm. 132), S. 5. Umgekehrt Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Anm. 139), S. 11: Masse und Macht beinhalte »[…] Fragestellungen, die zentral für Canettis literarisches Werk sind.« 145 Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Anm. 132), S. 4. 146 Vgl. David Darby: Structures of Disintegration. Narrative Strategies in Elias Canetti's Die Blendung. Riverside: Ariadne 1992 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought), S. 15. 147 Vgl. dazu z.B. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Anm. 95), S. 144f.

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furcht. In diesem Sinne wird Die Blendung hier als eine Konkretion verschiedener (erst später ausformulierter) Theorien zu den beiden korrelativen Phänomenen Masse und Macht verstanden – was allerdings wiederum nicht mit einem qualitativen Vorrang zu verwechseln ist.148 Denn das Verhältnis zwischen Dichtung und Denken ist bei Canetti nicht hierarchisch, sondern reziprok. Deutlich machen lässt sich das daran, dass Canetti elf Jahre vor der Publikation von Masse und Macht Stellen aus Die Blendung aufgelistet hat, an denen die Masse in Erscheinung tritt. Dabei taucht auch die Vorstellung von symbolischen Massen auf.149 Aus demselben Jahr hat sich ein Konvolut mit Materialien zur Theorie der nationalen Massensymbole erhalten.150 Canetti wollte im November 1949 also eruieren, wo er den Begriff des Massensymbols, den er inzwischen entwickelt hatte, bereits konkretisiert hatte, vielleicht um künftig der Frage nach der Möglichkeit privater Massensymbole nachzugehen. Er selbst hatte dabei keine Scheu, die Chronologie zu missachten und das Spätere auf das Frühere zu beziehen.151 In einer wissenschaftlichen Arbeit ist es methodisch allerdings notwendig, die Verknüpfung der beiden Bücher durch eine gründliche textimmanente Analyse des Romans angemessen vor- und nachzubereiten.

3.3 Zur Rolle des Nachlasses Diese Verweise geben einen ersten Eindruck von der Bedeutung des Nachlasses152 für die Forschung. Diese Bedeutung ist höher als bei den meisten anderen || 148 Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Anm. 140), S. 13 möchte das Gedankenmaterial aus Masse und Macht verwenden, um »die Facette der Machtausübung in den Wechselbeziehungen der Romanpersonen zu erläutern«, ohne den Roman als bloßes »Beweismittel« zu missbrauchen. Anders Doppler: »Der Hüter der Verwandlungen« (wie Anm. 140), S. 48, der Die Blendung als Canettis »grundlegende literarische Arbeit« bezeichnet und Masse und Macht als eine »Art von Selbstinterpretation« des Romans versteht. Dabei konzentriert er sich allerdings, allzu einseitig, auf die Verwandlung. 149 Vgl. ZB 57, Paralipomena von diversen Arbeiten 1949–1965, November 1949. 150 ZB 40. 151 Vgl. dazu auch Canettis Aufsatz Zu ›Masse und Macht‹ (1962) in X, S. 61f., hier S. 61: »Viele Symbole für die Masse sind schon in diesem Buche [Die Blendung – A.S.] – man wäre versucht zu sagen unabsichtlich – gestaltet.« So wörtlich (!) auch Erich Fried [recte Veza Canetti]: Einleitung. In: Elias Canetti: Welt im Kopf. Eingeleitet und ausgewählt von dems. Graz, Wien: Stiasny 1962 (Stiasny-Bücherei; 102), S. 5–22, hier S. 19. 152 Zum Umfang siehe Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 18: 100 Schachteln in A3Format sowie 50 weitere mit Ankäufen der Zentralbibliothek: Korrespondenzen, Manuskripte und Schenkungen. Von diesen 150 Schachteln sind etwa 20 bis Sommer 2024 gesperrt. Noch 2008, drei Jahre nach der Publikation von Sven Hanuscheks materialreicher Biografie, prog-

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Autoren, da Canettis Werk – wie Sven Hanuschek formuliert – »vor allem ein nicht geschriebenes Werk« ist.153 Im Vorwort ihres Sammelbandes über Canetti und die europäische Tradition haben Gerald Stieg und Jean-Marie Valentin deshalb 1997 erklärt, erst mit der Freigabe des Nachlasses 2002 könne eine »wahre Canetti-Philologie« beginnen.154 Diese wahre Canetti-Philologie steckt heute, mehr als ein Jahrzehnt nach der Freigabe des Nachlasses, noch immer in den Kinderschuhen. Der einzige, der den Nachlass bisher systematisch ausgewertet und in seinem Buch minutiös herangezogen hat, ist Sven Hanuschek. Auch Helmut Göbel zitiert in seiner Rowohlt-Monografie über Elias Canetti einzelne Passagen aus dem Nachlass155, ebenso Kerstin Kratochwill in ihrer Dissertation Elias Canetti. Experte der Lüge, Anne Peiter in einem Aufsatz über Exil, Judentum und Sprache in ausgewählten unveröffentlichten Aufzeichnungen156 sowie Kyung-Ho Cha in einem Beitrag zu Elias Canettis orientalischer Wissenschaftskritik157. Da der Nachlass in den genannten Arbeiten nur sehr selektiv rezipiert wird (was vor allem bei Kratochwill negativ ins Gewicht fällt), ist die vorliegende Dissertation die erste Arbeit seit Hanuscheks Canetti-Biografie, die den Züricher Nachlass (im Hinblick auf ihr Thema) systematisch ausgewertet hat und in ihren Argumentationsgang ausführlich einzuarbeiten sucht. Sie kann dabei erstmals alle zugänglichen Aufzeichnungen berücksichtigen und somit ein genaueres Bild der Namensmythologie Elias Canettis zeichnen als bisher. Darüber hinaus kann sie bei der Deutung der poetischen Namen auf Entwürfe

|| nostizierte Susanne Lüdemann auf der Tagung zu Canettis 100. Geburtstag allerdings, dass man im Nachlass nicht allzu viel Aufschlussreiches finden werde. Vgl. dazu Vorwort (wie Anm. 36), S. 11. 153 Sven Hanuschek: »Viele sind eitel, aber wenige dazu auserwählt.« Elias Canettis Überlebensstrategien. In: Ders. (Hg.): Der Zukunftsfette. Neue Beiträge zum Werk Elias Canettis. Wrocław, Dresden: Neisse 2007 (Beihefte zum Orbis Linguarum; 54), S. 225–239, hier S. 232. Kerstin Kratochwill: Elias Canetti – Experte der Lüge. »Erinnerung«, »Verwandlung« und »Kitsch« als komplementäre Prinzipien der Lüge in den autobiographischen Schriften und dem Nachlass. Würzburg: Ergon 2005 (Klassische Moderne; 3), S. 19 bezeichnet Canettis Werk, weniger treffend, als »unsichtbares Werk«. 154 Stieg und Valentin: Vorwort (wie Anm. 10), S. 7. 155 Helmut Göbel: Elias Canetti. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005 (rowohlts monographien; 50585). 156 Peiter: Exil, Judentum und Sprache in ausgewählten Nachlass-Aufzeichnungen von Elias Canetti (wie Anm. 1). 157 Kyung-Ho Cha: Darwinismus oder Hinduismus? Zu Elias Canettis orientalischer Wissenschaftskritik im Entstehungskontext seiner Verwandlungslehre (mit Materialien aus dem Nachlass). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), H. 4, S. 563–584.

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und Vorstufen zurückgreifen. In der literarischen Onomastik ist das ein probates Vorgehen. Bereits Siegmar Tyroff konsultierte Thomas Manns Notizbücher, um die »Namenwerdung« zu verfolgen und »Kriterien der Selektion und Integration« zu finden.158 Wir wollen Ähnliches versuchen. Das aber bedeutet, dass das Desinteresse an der historischen Chronologie innerhalb der einzelnen Kapitel des zweiten Teils zugunsten textgenetischer Fragen zurücktritt. Denn anders als bei den Aufzeichnungen wird die Schilderung der Textgenese den Blick hier nicht mehr verstellen, sondern die Interpretation absichern, vorantreiben und stellenweise sogar ermöglichen. Schließlich aber hat die vorliegende Arbeit den Vorteil, dass Materialien berücksichtigt werden konnten, die selbst Sven Hanuschek nicht kennen konnte, da Florindo Tarreghetta sie damals noch nicht vollständig transkribiert hatte. Besonders wichtig sind die Entwürfe und verworfenen Kapitel der drei autobiografischen Bände, zusammen an die tausend Seiten, die mir Johanna Canetti freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Gleichwohl hat Hanuschek – in der Nachfolge Canettis159 – zu Recht vor einer Überbewertung des Nachlasses gewarnt: Die meisten Entwürfe zu Die Blendung habe Canetti vermutlich selbst vernichtet, sodass die wenigen erhaltenen Skizzen nur aus dem fertigen Buch verständlich seien. Aus den übrigen Notizen aber sei nicht einmal ansatzweise zu erschließen, wie die Werke ausgesehen hätten, die Canetti habe schreiben wollen.160 Mit anderen Worten: Das veröffentlichte ist dem unveröffentlichten Werk vorzuziehen. Dabei ist auf einen behutsamen Umgang mit dem Nachlass zu achten, behutsamer als Kratochwill, die z.B. aus der Wendung »Die Welt als Fülle und Vorstellung«, zu finden in einer nachgelassenen Aufzeichnung, eine allzu weitreichende, nicht gerechtfertigte Schlussfolgerung zieht: Die Stelle sei nicht nur ein Hinweis auf Canettis SchopenhauerLektüre, sondern auch ein Hinweis darauf, dass ihn dessen Kontemplationstheorie »nachhaltig beeindruckt« habe.161 Zu einem behutsamen Umgang mit dem Nachlass gehört hingegen, ebenso wie im Fall von Masse und Macht, die adäquate Einbettung der Materialien in die werkimmanente Analyse. Eine angemessene Rezeption des Nachlasses kann, wie im optimalen Fall bei Hanuschek, die »[…] Innenseite der großenteils bekannten Publikationsge|| 158 Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Anm. 103), S. 36. Ähnliches gilt für Fontane. Vgl. Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung. In: Bettina Plett (Hg.): Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: WBG 2007, S. 96–118, hier S. 96. 159 Vgl. ZB 11, 1. Mai 1950: »Das Durchleuchten seines Nachlasses: jedes Wort steht für drei andere.« 160 Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 237f. 161 Vgl. Kratochwill: Elias Canetti – Experte der Lüge (wie Anm. 153), S. 31.

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schichte zeigen, einen beinahe siebzig Jahre währenden Reflexionsprozeß.«162 Diese Innenseite wird auch uns beschäftigen, aber keineswegs ausschließlich. Konrad Kirsch hat in seiner anregenden, gelegentlich jedoch etwas spekulativen Dissertation darauf hingewiesen, dass Canetti die drohende Hermetik seines Werkes selbst aufgebrochen habe, etwa, indem er sich in Die Blendung auf etliche Texte bezogen habe.163 Wir wollen den werkimmanenten Fokus unserer Untersuchung deshalb (wie angedeutet) gelegentlich aufgeben. Im ersten Teil werden wir Canettis Namenstheorie nicht nur mit ausgewählten sprachphilosophischen bzw. linguistischen Theorien konfrontieren, sondern auch mögliche Einflüsse aus dem sogenannten primitiven Denken der Naturvölker sowie aus Märchen und Mythen eruieren. Dadurch soll verhindert werden, dass wir in der Tat wenig mehr als »Innenansichten« wiedergeben und Canetti nur mit seinen eigenen Begriffen interpretieren.164 Im zweiten Teil werden wir Canettis Namengebungsverfahren literaturhistorisch einordnen und es zu diesem Zweck mit einigen anderen Strategien vergleichen. Anhand der Namensgenese des Büchermenschen werden wir dann die intertextuelle Dimension der Blendung exemplarisch ausleuchten. Statt eines Schlusswortes werden wir Canettis Namensmythologie und -poetik zuletzt im Kontext der Wiener Literatur betrachten, sie vor allem mit dem Werk des Sprachmagiers Karl Kraus und kurz auch mit Hofmannsthals sprachskeptischem Chandos-Brief konfrontieren. Beides soll Aufschluss darüber geben, ob Canetti in der Literatur seiner Zeit wirklich (wie bis vor einigen Jahren behauptet) ein Außenseiter gewesen ist.165 Diese Seiten-

|| 162 Hanuschek: Elias Canetti (wie Anm. 3), S. 15. 163 Vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Anm. 5), S. 43. Etwas einseitiger Stieg und Valentin: Vorwort (wie Anm. 10), S. 7: »Der komparatistische Zugang zu Canettis Werk schien uns der im Augenblick fruchtbarste für die Forschung. Er garantiert die ›Öffnung‹, die Weite, die Canetti selbst immer wieder beschworen hat.« Demgegenüber betont Lüdemann: Vorwort (wie Anm. 36), S. 14 zu Recht Canettis Ambivalenz: »Denn zu Canettis literarischer Gestalt (seiner Gestalt als Autor) gehört nicht nur seine Vielstimmigkeit, sondern zugleich eine Geschlossenheit, die die Autonomie des Werk-Innenraums bis zur völligen Kommunikationsverweigerung verteidigt […].« Lüdemann sieht deshalb zwei Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Man könne Canettis Rede folgen; oder man könne die Texte auf »ihr Ungesagtes« hin öffnen: auf Traditionen, Theorien, Einflüsse und Gegeneinflüsse, auf Vor- und Feindbilder (Ebd., S. 14f.). Beide Möglichkeiten möchte ich in der vorliegenden Arbeit miteinander verbinden. 164 Zu dieser Gefahr vgl. Knoll: Das System Canetti (wie Anm. 12), S. 4; Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Anm. 139), S. 12. 165 Vgl. Manfred Durzak: Elias Canetti. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter der Gegenwart. Ihr Leben und Werk. Berlin: Schmidt 1973, S. 195–209, hier S. 195: »Einzelgänger in einem weit radikaleren Sinn als etwa Arno Schmidt«; Marcel Reich-Ranicki: »Marrakesch ist überall.« In: Ders: Entgegnungen. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Stuttgart: Deut-

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blicke auf Sprachwissenschaft, Literaturtheorie und -geschichte beweisen an einem konkreten Beispiel, dass Henning Thies die literarische Onomastik zu Recht als enzyklopädische Disziplin bezeichnet hat.166 Wie unverzichtbar sie sind, verrät eine Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen: »Man kann einem Menschen nichts Böseres tun, als sich ausschließlich mit ihm zu beschäftigen.« (IV, S. 81)

|| sche Verlagsanstalt 1979, S. 47–54, hier S. 47: Canetti als Außenseiter »noch unter den Außenseitern unserer zeitgenössischen Literatur«; Ruppel: Der Tod und Canetti (wie Anm. 63), S. 7; Johannes G. Pankau: Elias Canetti – das Selbstbewußtsein des Außenseiters. In: Hans Henning Hahn und Jens Stüben (Hg.): Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. 2., überarbeitete Auflage, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2000 (Mitteleuropa – Osteuropa; 1), S. 335–358; Hillary Hope Herzog: »Vienna is different«. Jewish Writers in Austria from the Fin de Siècle to the Present. New York, Oxford: Berghahn Books 2011 (Austrian and Habsburg Studies; 12), S. 147. 166 Vgl. Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Anm. 62), S. 6.

| Teil A: Name und Rätsel Namen in den Aufzeichnungen

1 Das Meer der Namen 1.1 Ein Leben voller Namen Das öffentliche Leben des Elias Canetti begann mit einiger Verspätung. Zu Ruhm und Erfolg gelangte er erst mit weit jenseits der Fünfzig; zu diesem Zeitpunkt war sein einziger Roman Die Blendung fast dreißig Jahre alt. Seine ersten Preise erhielt er mit Anfang sechzig, den bedeutendsten, den Nobelpreis, mit sechsundsiebzig. In seinem geistigen Leben dagegen kam nichts zu spät, alles flog ihm zu und war sehr früh schon da. Seinen Altersgenossen war der hochbegabte Junge fast immer einen entscheidenden Schritt voraus. Erinnern beispielsweise konnte er sich bereits mit zwei Jahren, zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Und wie fotografisch genau sein autobiografisches Gedächtnis funktionierte! Noch der über Siebzigjährige erzählte mit erstaunlicher Präzision von seiner ersten, traumatischen Erinnerung.1 Die Örtlichkeit, eine Pension in Karlsbad, die rote Farbe allenthalben, der lächelnde Mann, plötzlich dessen Befehl und das Messer an der eigenen Zunge, der exakte Wortlaut der Drohung, die ihn für zehn Jahre zum Schweigen über die fürchterliche Begegnung zwang – alle diese Einzelheiten, auf einer halben Druckseite zusammengedrängt, erwecken den Anschein, als schildere Canetti ein Ereignis, das erst wenige Tage zurückläge und nicht sieben Jahrzehnte.2 Selbst den Namen seines

|| 1 Vgl. dazu ZB 6, 23. Juni 1942: »Ich war zwei Jahre alt, als ich ihn kannte. Es war eine flüchtige Bekanntschaft; aber auf dem Treppenflur sind die Menschen grausam. Und wenn ich hundert Jahre tot bin, ich werde ihn nie vergessen.« 2 Wir wissen heute, dass Kinder traumatische Erfahrungen sehr genau behalten. Vgl. dazu John Kotre: Der Strom der Erinnerung. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. Aus dem Englischen von Hartmut Schickert. Ungekürzte Ausgabe, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1998 (dtv; 36089), S. 168ff. Für authentisch und präzise hält Canettis erste Erinnerung etwa David Darby: A literary Life: The Textuality of Elias Canetti's Autobiography. In: Modern Austrian Literature 25 (1992), H. 2, S. 37–49. Peter Henninger dagegen bezweifelt, dass das Karlsbader Erlebnis Canettis früheste Erinnerung sei. Er verweist auf die zweite frühe Erinnerung und fragt: Wie kann Canetti über siebzig Jahre später so genau wissen, welche von diesen beiden Erinnerungen die erste gewesen sei? Vgl. »Kannitverstan«. Über das nötige Missverstehen von Literatur. Marginalien zu Canettis Die gerettete Zunge. In: Ludo Verbeeck und Bart Philipsen (Hg.): Die Aufgabe des Lesers. On the Ethics of Reading. Leuven: Peters 1992 (Letter & Zin; 1), S. 99–114, hier S. 114, Anm. 30. Dieser Einwand verliert angesichts der Erkenntnisse zur bleibenden Präsenz traumatischer Erfahrungen an Gewicht. Die Vorbehalte werden dadurch jedoch nicht restlos beseitigt. Ohnedies gibt es Grund genug, einzelne Elemente der Darstellung in ihrer Authentizität anzuzweifeln. So weist Hanuschek nach, dass sich Canetti motivisch an Stendhals Vie de Henri Brulard orientiert. Vgl. Elias Canetti (wie Einlei-

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damaligen Kindermädchens, einer blutjungen Bulgarin und der Geliebten des maskenhaft lächelnden Mannes, vergaß er in all den Jahren nicht: Sie hieß Stanka; nach Karlsbad hat er sie nie wieder gesehen.3 Seine zweite frühe Erinnerung, die Erinnerung an das erste spanische Kinderlied, war ähnlich präzise und beständig (VII, S. 61); sogar die erste Zeile wusste er später noch auswendig. Ebenfalls sehr früh, nämlich mit sechs, fing Canetti an, sich spannende Geschichten auszudenken. Nur wenig später verspürte er zum ersten Mal eine schier unmäßige Leidenschaft für geschriebene Geschichten, für Bücher. Sie brachte ihn dazu, manche Bände nicht weniger als vierzigmal zu lesen. Und sie zog ihn alsbald und erst recht, als er über eigenes Geld verfügte, in die Buchhandlungen und die Antiquariate, wo er sich mit glühenden Wangen ein Buch nach dem anderen kaufte.4 Mit acht wiederum, im besten Volksschulalter, lernte er – nach Ladino, Englisch und Französisch – seine vierte Sprache: Es war die Mutter-Sprache Deutsch; er lernte sie innerhalb von vier Wochen. Mit vierzehn verfasste er in eben dieser Sprache, noch dazu in Blankversen, sein erstes Drama. Auch vieles Andere, was in seinem geistigen Leben von Bedeutung war, machte sich früh bemerkbar: seine Vorbehalte gegen den Stolz der Herkunft; seine Faszination für alles Farbige, Lebendige, Verwandlungsfähige; sein unerbittlicher Hass gegen den Tod. In Rustschuk, seiner ersten Heimat, so meinte er

|| tung, Anm. 3), S. 96. Lea Ritter-Santini nennt einen anderen Referenztext: den Mythos um Tereus, der Philomela die Zunge abschneidet. Vgl. Die entmachtete Zunge. In: Krüger (Hg.): Einladung zur Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 12), S. 335–366, hier S. 346–349. Bereits in den 1980er Jahren hat Friederike Eigler: Das autobiographische Werk von Elias Canetti: Verwandlung, Identität, Machtausübung. Tübingen: Stauffenberg 1988 (StauffenbergColloquium; 7) [zugl. Washington, Univ.-Diss. 1987], S. 51 Parallelen zwischen Canettis Kindheitsgeschichte und derjenigen Goethes aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund erweist sich Canettis erste Erinnerung gewissermaßen als Urszene, ein moderner Mythos, der sich Verschiedenes anverwandelt. 3 Vgl. ZB 222, Frühere Fassung von Meine früheste Erinnerung (Privatbesitz). Siehe auch X, S. 201. 4 In den nachgelassenen Notizen und Entwürfen zu Die Fackel im Ohr schildert Canetti, dass er in der Frankfurter Buchhandlung Bär einmal 500 Franken für Bücher ausgegeben hat – ein Geschenk seiner Tante Bellina zur Bar-Mizwa. Er kauft: »Plutarch in 6 Bänden, Aristophanes in 2, Thukydides 2, Herodot 2, Horaz 3, Cicero's Briefe 4, Homer 2, Tacitus 2, Lukian 5 Bde., Plutarch: Vermischte Schriften 3, später Plautus 4, u.s.w. Da besorgte ich für die Mutter den 4bändigen Insel-Keller und las bald den ›Grünen Heinrich‹. Es war die eigentliche Grundlage zu meiner Bibliothek (wenn ich von den Forschungsreisen der Züricher Zeit absehe). (Amundsen, Shackleton u.s.w.). Zitiert nach ZB 59, 30. August 1978.

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deshalb aus der Rückschau, sei alles, was er erlebt habe, schon einmal geschehen. Als Canetti zum ersten Mal über Namen schrieb, wohnte er längst nicht mehr in Rustschuk. Er war erwachsen, aber immer noch ein junger Mann. Sein zweiundzwanzigstes Lebensjahr hatte er noch nicht ganz vollendet; es war im Mai 1929. Nach acht Jahren in Zürich und Frankfurt lebte er seit einiger Zeit wieder in Wien, seiner dritten Heimatstadt. Er studierte dort Chemie, das Fach, von dem er, der über gründliche und umfassende Kenntnisse in sämtlichen Disziplinen verfügen wollte, in der Schule erschreckend wenig gelernt zu haben glaubte. Eine Zukunft als Chemiker in einer Firma, einem Forschungsinstitut war für ihn allerdings unvorstellbar, ein Horror wie die zeitweise drohende Existenz als Kaufmann im Geschäft seines Onkels Salomon. Stattdessen und mehr denn je träumte er davon, eines Tages als Dichter hervorzutreten. Zu diesem Zweck schrieb er und schrieb, neben den Vorlesungen und den praktischen Übungen im universitären Laboratorium, so oft wie nur möglich. Was er zu Papier brachte, das war noch kein dickleibiger Roman, es waren kürzere Texte: Gedichte, Erinnerungen, manchmal Exzerpte, in der Hauptsache Aphorismen oder Aufzeichnungen, wie er sie einige Jahre später zu nennen begann.5 Ver-

|| 5 Canetti bezeichnet seine regelmäßig angefertigten Notizen seit 1939 als Aufzeichnungen. Vgl. Irmgard Wirtz: Der Tod, die Familie und der Kegeljunge. Ein Themenkomplex aus den nachgelassenen Aufzeichnungen. In: Arnold (Hg.): Elias Canetti 2005 (wie Einleitung, Anm. 8), S. 18–30, hier S. 28, Anm. 1: »Canetti hat diese Notationsform seit Anfang der 1930er Jahre gepflegt, seit 1939 als solche bezeichnet, seit 1942 Reinschriften angefertigt.« Den Begriff Aphorismus hat Canetti für seine Aufzeichnungen abgelehnt: »Jetzt heißen seine Gedanken Aphorismen, ein Name wie von Prokrustes.« (V, S. 295) Auf überzeugende Weise, ohne allerdings auf diese Aufzeichnung einzugehen, erklärt Altvater: »Die moralische Quadratur des Zirkels« (wie Einleitung, Anm. 75), S. 3 Canettis Haltung: Der eng definierte Begriff Aphorismus könne der Vielfalt der Textformen in den Aufzeichnungen nicht gerecht werden. Eine Definition des Begriffs Aphorismus findet sich bei Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart: Metzler 1984 (Sammlung Metzler; M 208: Abt. E, Poetik), S. 18: »Ein Aphorismus ist ein kotextuell isoliertes Element einer Kette von schriftlichen Sachprosatexten, das in einem verweisungsfähigen Einzelsatz bzw. in konziser Weise formuliert oder auch sprachlich bzw. sachlich pointiert ist.« Einige Aufzeichnungen, etwa die Charakterskizze des Lobsammlers (IV, S. 341), sind keine Sachprosatexte und wären damit, jedenfalls Frickes Definition zufolge, keine Aphorismen. Siehe dazu die Kritik von Stefan H. Kaszyński: Dialog und Poetik. Zum dialogischen Charakter der Aufzeichnungen. In: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. München, Wien: Hanser 1985, S. 205–216, hier S. 208: Die Sachprosatexte, so Kaszyńskis Argument gegen Fricke, könnten durchaus eine »profilierte ästhetische Funktion« besitzen. Nach Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek, S. 19f. habe Canetti die Bezeichnung Aphorismus aus einem anderen Grund vermieden: Er habe andeuten wollen, dass seinen Aufzeichnungen die »inhaltsleere Sprachartistik bzw. selbstverliebte Sprachästhetik« fehle, die man den Apho-

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öffentlicht hat er diese frühen Gedankensplitter nicht, er hat sie aber auch nicht weggeworfen, nicht verbrannt wie andere Manuskripte. Man findet sie heute in seinem Nachlass, verstreut auf den Wiener Notizblöcken der Jahre 1925 bis 1930. Und da, auf einem dieser Blöcke, steht sie nun also, jene allererste Aufzeichnung über Namen, von der hier die Rede ist – in derart großen, von einem starken Selbstbewusstsein zeugenden Buchstaben, dass sie trotz ihrer nur mittleren Länge drei ganze Seiten beansprucht. Wie später noch so oft setzte sich Canetti in dieser Aufzeichnung mit prominenten Namen auseinander: mit Bach und Beethoven, mit Wagner und Nietzsche und mit einigen anderen.6 Zu guter Letzt versah er die Aufzeichnung mit einem kurzen Kommentar, was nicht eben seine Gewohnheit war; sie erschien ihm: »Wichtig!« Es war das erste Mal, dass Canetti über Namen schrieb, aber nicht das erste Mal, dass er sich mit ihnen befasste. Lange schon hatte er über Namen nachgedacht, ohne seine Erkenntnisse allerdings schriftlich festzuhalten. Mit vier machte er sich, von einer kessen Bemerkung seiner Cousine provoziert, erstmals über den eigenen Vornamen Gedanken. Schreiben konnte er da überhaupt noch nicht, ebenso wenig lesen (X, S. 241). Das eigentliche Initiationserlebnis folgte einige Jahre später: Canetti war zehn, ein neugieriger, gelegentlich altkluger Knabe mit einer Vorliebe für Shakespeare und Schiller: Kein Abend, an dem er nicht zusammen mit der Mutter in einem Drama las, immer in der Originalsprache und niemals ohne Diskussion. Nicht nur die europäische Dramentradition lernte er so allmählich kennen, sondern auch die Namen der griechischen Götter und Helden, von Zeus bis Herakles, von Hera bis Medea, von Ajax bis Kassandra. Und wie wirkten diese Namen auf ihn! Weil er mehr über sie und ihre Träger erfahren wollte, vertiefte er sich in Schwabs Sagen des klassischen Altertums. Die Mutter, der er immer Löcher in den Bauch fragte, hatte es ihm geschenkt, als »Hilfsmittel zu deren Verständnis« (VII, S. 117). Er sollte im Stande sein, seine Neugier vor dem Abend und ohne ihre Unterstützung zu befriedigen.

|| rismen gerne zuschreibe. Diese These bleibt ohne Beleg, sie ist bloße Spekulation, wie auch Engelmanns zweite These: Die Bezeichnung Aphorismus habe Canetti außerdem nicht verwendet, weil ihm der »Akt des freien Verzeichnens« wichtiger gewesen sei als die »Form des Verzeichneten« (Ebd., S. 21). Während Engelmann die beiden Begriffe »Aphorismus« und »Aufzeichnung« trotz dieser Erklärung synonym verwendet, werde ich durchgängig von »Aufzeichnungen« sprechen. Denn dieser Begriff ist genau genug, um die Gattung zu fixieren, und vage genug, um sehr viele, auch fiktionale Textsorten, zu bezeichnen. Außerdem gehe ich davon aus, dass es sich bei den spontanen Notizen und Einfällen, die Canetti während seiner Wiener Zeit zu Papier gebracht hat, ebenfalls um Aufzeichnungen (im weitesten Sinne) handelt. 6 ZB 2, Mai 1929.

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Das Buch wurde zu einer prägenden Lektüre. Es spielte für Canettis geistige Entwicklung eine mindestens ebenso große Rolle wie die Dramen selbst, derentwegen er, wie er als bereits gestandener Dichter annahm, zum Dramatiker und nicht etwa zum Lyriker geworden sei.7 Mit all den Namen, die ihm in diesem Buch begegneten, mit all den Namen, die ihn faszinierten, ihn nicht mehr losließen, so Canetti in Die gerettete Zunge, begann »[…] ein Leben, über das ich mir bewußt Rechenschaft ablegte, und darin allein hing ich von niemandem ab.« (VII, S. 119) Nun plötzlich genügte es ihm nicht mehr, Namen nur zu hören oder zu lesen oder vor sich hinzusprechen; er fing an, sie zu sortieren: Persephone, Aphrodite und Hera zu den schönen, Zeus, Ares und Hades zu den abscheulichen Namen.8 So bahnte sich Canetti als Zehnjähriger seinen Weg in die geistige Eigenständigkeit, so wurde er frühzeitig zu einem Selbstdenker.9 Namen waren auch und gerade in dieser Hinsicht wichtig für ihn. Von da an beschäftigte er sich immer wieder mit ihnen, nicht unentwegt, aber regelmäßig, was etliche Aufzeichnungen aus den folgenden Jahrzehnten belegen. Einige von ihnen lassen erkennen, dass er, der in vielerlei Hinsicht

|| 7 Vgl. ZB 7, 3. September 1943: »Ein Dramatiker bin ich geworden, weil ich mit meiner Mutter deutsche Dramen las. Sie hatte grosse Verachtung für Gedichte; die las ich also allein; sonst wäre ich Lyriker geworden.« 8 Canetti hat in Masse und Macht später allgemein-theoretisch reflektiert, was er hier an einem Beispiel aus seinem eigenen Leben konkret darstellt. Er bezeichnet es als »Neigung zur feindlichen Meutenbildung«: »Der Mensch hat ein tiefes Bedürfnis danach, alle Leute, die er sich vorstellen kann, immer wieder umzugruppieren. Indem er die lockere, amorphe Zahl der Vorhandenen in zwei Gruppen abteilt und als solche gegeneinander aufstellt, gibt er ihnen etwas wie Dichte. Er zieht sie zusammen, als hätten sie miteinander zu kämpfen; er macht sie exklusiv und erfüllt sie mit Feindschaft. So wie er sie sich vorstellt, so wie er sie will, können sie nur gegeneinander sein. Das Urteilen über ›Gut‹ und ›Schlecht‹ ist das uralte Mittel einer dualistischen Klassifikation, die aber nie ganz begrifflich und nie ganz friedlich ist. Es kommt auf die Spannung zwischen ihnen an, und der Urteilende schafft und erneuert diese Spannung.« (III, S. 352) 9 Vgl. dazu auch IV, S. 52. Auf die Mehrdeutigkeit des Wortes »Selbstdenken« weist Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Einleitung, Anm. 5), S. 72 hin: Selbstdenken könne einerseits eigenständiges Denken bedeuten, befreit von aller Vormundschaft, andererseits aber auch ein Denken für sich selbst. Drittens schließlich könne das Wort ein Denken bezeichnen, das sich selbst zum Gegenstand werde. Im ersteren Sinne verwendet Georg Christoph Lichtenberg, mit seinen Sudelbüchern einer der wichtigsten Ahnen Canettis, dieses Wort, wenn er aus dem berühmten Vers des Horaz »Sapere aude« ein »Cogitare aude« macht. Vgl. Paul Requadt: Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik. Hameln: Verlag der Bücherstube Fritz Seifert 1948, S. 127.

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unersättlich war und sich selbst etwa einen »Hunger nach Mythen« (IV, S. 54)10 attestierte, auch von Namen nicht genug bekommen konnte11; dass er, um ihn selbst zu zitieren, in der steten »Erwartung auf neue Namen«12 lebte. Es genüge, heißt es in einer seiner typischen Selbstanklagen, dass er etwas nicht kenne, und seine Wissbegier sei geweckt: »Neue Namen von alten Dingen allein haben eine Anziehung, fast wie das Lebendige selbst.«13 In einer weiteren, später gedruckten Aufzeichnung schrieb Canetti in einem enthusiastischen Ton: Es ist wunderbar zu studieren, nämlich Namen und Dinge aufzunehmen und zu bedenken, die man noch nicht bedacht hat; sich zu sagen, was einem an ihnen auffällt; was man sich von ihnen merken möchte […]. (IV, S. 214)

Von Zeit zu Zeit stürzte sich Canetti deshalb in den »Tumult der Namen«.14 Er zog eine Literatur- oder eine Kunstgeschichte aus dem Regal, ein Buch auf jeden Fall voller Namen; er las diese Namen, hielt inne, prüfte und bedachte sie, stellte sie gegeneinander, wägte ab, ob die Namen ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt seien.15 Solche Namens-Exzesse kamen im Lauf seines Lebens vermutlich nicht eben selten vor, wenngleich Canetti nach eigener Aussage andere Bücher lieber hatte, und zwar gerade ›Namenloses‹. So bezeichnete er Überlieferungen, deren Autoren immer schon unbekannt oder im Dunkel der Geschichte verschwunden waren. Zu diesen Überlieferungen gehörten für ihn die »großen Erzählungen der Völker« und die »Mythen der einfach gebliebenen Stämme« (IV, S. 72). Und dennoch, trotz dieser Vorliebe für das Namenlose,

|| 10 Vgl. dazu ZB 6, 24. Februar 1942: »Wieviel Mythen darf man ungestraft schlucken? Eine sehr persönliche Frage, denn ich bin ein Mythenfresser, es ist meine eigentliche und substantielle Nahrung, die ich mir selbst erzeuge nur, wenn ich sie sonst nicht mehr finden kann.« 11 Es gibt gelegentlich Ausnahmen. Vgl. dazu ZB 12, 22. Dezember 1953: »Perioden, in denen die ungeheure Zahl von Namen, mit denen ich vollgepropft bin, mich stört und quält, als wäre es eine Art niederen Reichtums, dessen ich mich zu entledigen hätte.« (Hervorhebung im Original) 12 ZB 10, 14. März 1949. 13 ZB 6, 10. Juli 1942. 14 ZB 7, 31. Dezember 1943. Die Aufzeichnung ist durch das Indefinitpronomen »man« verfremdet. 15 Vgl. dazu IV, S. 77: »Literaturgeschichten lesen sich manchmal so, als wären alle Namen vertauscht und als handle der Verfasser von ganz anderen Dingen wie die, die er nennt, und als könnte man nun ruhig alles weiter vertauschen, die Urteile aber bleiben schon stehen, wie sie sind.« Siehe auch IV, S. 460: »Es wundert mich sehr, wie einer Literatur studieren kann, dem sie wirklich etwas bedeutet. Fürchtet er nicht etwas wie einen Ausgleich unter den Namen? Ich stelle mir die Dichter am liebsten auf einer Eisbahn vor und wie sie geschickt umeinander herumfahren.«

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konstatierte er am 12. März 1956, sein »eigentlicher Fleiss« bestehe im »Aufnehmen neuer Namen«; drei Tage habe er nun gelesen, drei Tage nur, und sich dabei Tausende neuer Namen angeeignet.16 Das ist eine bemerkenswerte Selbstdiagnose, immerhin beschuldigte sich Canetti sonst gelegentlich des Nichtstuns, der Faulheit.17 Bei Namen hingegen war er sich für keine Arbeit zu schade, nicht einmal für die banalste: Da ihn die »Häufigkeit von Namen« interessierte, notierte er sich 1977, wie viele Müllers, Schmidts (bzw. Schmids/Schmitts), Maiers (bzw. Mayers/Meiers/Meyers) es momentan in Deutschland gebe.18 Überhaupt legte er sich gerne Verzeichnisse an, bestehend ausschließlich aus Namen – das erste am 13. Juni 1945. In die linke Spalte dieses Verzeichnisses schrieb er französische Vogelnamen, rechts daneben die deutsche Entsprechung.19 Damit nicht genug: Ein anderes Mal zählte er puritanische Namen für Findelkinder auf; diese Liste, eine unkommentierte Aneinanderreihung ziemlich außergewöhnlicher Namen, nahm er sogar in einen seiner Aufzeichnungsbände auf: »Helpless, Repentance, Lament, Forsaken, Flie-Fornication, eins (1644 in Somerset) wird Misericordia-adulterina getauft.« (V, S. 287) Wieder ein anderes Mal notierte Canetti Namen aus Cornwall, die ihn – wie er sich ausdrückte – betörten.20 Am 10. Januar 1972 schließlich plante er einen »Katalog der Namen seiner letzten Reise«21, wobei er mit dieser Formulierung offen ließ, ob er an eine jüngst vergangene oder an eine künftige, die allerletzte Reise dachte. Fasziniert blieb Canetti von Namen tatsächlich bis zu seiner letzten Reise – und darüber hinaus. Noch als alter Mann, in den Jahren 1992 und 1993, hielt er in seinen Notizbüchern manch einen Gedanken über Namen fest. Sogar ihn selbst verwunderten die Sätze, die ihm in den Kopf gekommen waren. Er konnte sich unmöglich erklären, wieso er noch immer, nach so langer Zeit, an Namen denken musste; er konnte es nur zur Kenntnis nehmen und es in einer jener ErAufzeichnungen beschreiben, die, in pronominaler Verfremdung, von ihm selber handeln.22 Diese Beschreibung ist erhalten, sie ist außerdem publiziert, was

|| 16 Vgl. ZB 13. 17 So spricht er etwa von der Faulheit seines Lebens in Grinzing, das immerhin vier Jahre dauerte. Vgl. ZB 60, 10. November 1950. 18 Vgl. ZB 18, 13. August 1977. Zitat im Original unterstrichen. 19 Vgl. ZB 8. 20 ZB 9, 22. August 1946. 21 ZB 17. 22 Vgl. dazu ZB 11, 6. April 1950: »Seine innere Verfassung ist daran zu erkennen, ob er von sich in seinen Aufzeichnungen als ›er‹ oder ›ich‹ spricht. Es geht ihm gut, wenn es ihm gelingt, sich zu ›er‹ zu reduzieren.« Vgl. auch IV, S. 61; darin heißt es: »Die Scheu vor der persönlichen Aufzeichnung aber läßt sich überwinden. Es genügt, von sich in der dritten Person zu reden;

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Canetti nicht zugelassen hätte, wäre sie ihm nebensächlich oder misslungen erschienen: »Vor einem Namen bleibt er stehen wie vor einem Baum. Zunahme der Namens-Verzücktheit im Alter.« (V, S. 386)23 Auch seine späten Aufzeichnungen, Reflexionen eines außerordentlich Namens-Verzückten, kann man nachlesen, zum Teil wenigstens. Nicht lange nach Canettis Tod sind einige von ihnen veröffentlicht worden.

1.2 Namen in den Aufzeichnungen – drei Befunde Wenn man alle zu Canettis Lebzeiten gedruckten Aufzeichnungen zusammen zählt, in denen es ausschließlich oder zu einem wesentlichen Teil um Namen geht, dann kommt man auf circa einhundertundvierzig.24 Hinzuzurechnen sind, seitdem die Canetti-Bestände der Zürcher Zentralbibliothek der Forschung zur Verfügung stehen, all die nachgelassenen, die postum oder bis dato noch nirgendwo veröffentlichten Aufzeichnungen über Namen: Es sind rund zweiein-

|| ›er‹ ist weniger lästig und gefräßig als ›ich‹; und sobald man den Mut hat, ›ihn‹ unter andere dritte Personen einzureihen, ist ›er‹ jeder Verwechslung ausgesetzt und nur noch vom Schreiber selber zu erkennen.« Stefan H. Kaszyński: Reservoire der mythischen Wortkunst. Zur Identität der aphoristischen Aufzeichnungen von Elias Canetti. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 4), S. 19–39, hier S. 31 kommt zu folgendem Befund: In »weltanschaulich entscheidenden Momenten« bevorzuge Canetti »Er-Aufzeichnungen«. In Die Fliegenpein komme man insgesamt auf 85 solcher Aufzeichnungen, gegenüber lediglich fünf »identitätssicheren Ich-Aphorismen«. 23 Canettis Aufzeichnungsband Die Provinz des Menschen enthält 39 Aufzeichnungen über Namen. Gemessen an seinem Umfang von knapp 370 Seiten ist das eine geringe Zahl. Zum Vergleich: Canettis letzte Aufzeichnungssammlung Aufzeichnungen 1992–93 enthält auf etwas mehr als hundert Seiten immerhin 22 Aufzeichnungen über Namen. 24 Zu dieser Gruppe zähle ich nur Aufzeichnungen, in denen der Name das »Grundwort« bildet. Vgl. zum »Grundwort« Einleitung, Anm. 59. Nicht berücksichtigt habe ich darüber hinaus Aufzeichnungen, in denen Name als Synonym für Bezeichnung verwendet wird, so wie beispielsweise in dieser Aufzeichnung: »Es bedrückt mich, daß Mythen bombastisch Mythen und Märchen infantil Märchen heißen. Man müßte den Mut haben, für diese wunderbaren Dinge andere Namen zu erfinden.« (V, S. 253) Ebenso vernachlässige ich all jene Aufzeichnungen, in denen Canetti Adjektive wie »bekannt« oder »unbekannt« verwendet. Eine solche Aufzeichnung wäre: »Man wird keine unbekannten Gegenstände mehr finden. Man wird sie machen müssen, wie trostlos!« (IV, S. 42) Zwar mag Canetti an dieser Stelle auf Namen anspielen, doch da es verschiedene Arten der Bekanntschaft gibt, ist die Verwendung nicht eindeutig. Umgangssprachlich sprechen wir ja etwa manchmal davon, dass wir jemanden ›vom Sehen‹ kennen.

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halbmal so viele.25 Da nicht alle Aufzeichnungen zur Einsicht freigegeben sind, muss ihre genaue Zahl bis auf weiteres offenbleiben. Für diese Arbeit konnten aber doch wohl die allermeisten dieser nachgelassenen Aufzeichnungen herangezogen werden. Die ausgewerteten Bestände umfassen einen Zeitraum von fast sieben Jahrzehnten, die letzten Aufzeichnungen über Namen stammen aus dem Juni 1994. Bereits aus der flüchtigen, rein chronologisch orientierten Durchsicht der zugänglichen Aufzeichnungen ergibt sich ein erster Befund. Namen gehören aufgrund der Quantität der ihnen gewidmeten Notate zu den wichtigsten Themen in den Aufzeichnungen. Und mehr noch: Canetti kannte offenbar keinen besseren Ort und keine bessere Form, um über Namen zu schreiben, als eben die Aufzeichnungen.26 Denn so häufig und so ausführlich wie hier, wo er sich erlaubte, alle seine Lebensthemen – Masse, Macht, Tod und Verwandlung, Sprache, Tiere, Mythos und Dichtung – in zwanglosen Aperçus zu behandeln, äußerte er sich in seinen übrigen Schriften zu Namen bei weitem nicht, weder in seinen Essays noch auf den tausend Seiten seiner Autobiografie. Außerhalb seines literarischen Werks, in Gesprächen, in Interviews, in Briefen sagte er über Namen gar so gut wie nichts – mit einer Ausnahme: In einem Interview mit Joachim Schickel hört man ihn ungefähr fünf Minuten lang – im Druck sind es drei Seiten – von Namen sprechen, vorwiegend von seinem eigenen Namen. Kurzum: Wer nachvollziehen möchte, was Canetti über Namen dachte und was sie ihm bedeuteten, der muss mit den Aufzeichnungen beginnen. Sie sind, wie Hugo Dittberner bildhaft formulierte, ein Meer, »[…] als dessen Leuchttürme dann die Namen gelten könnten, die Namen Berühmter, […] aber auch andere Namen, jeder Name, die Vorstellung eines Namens überhaupt, sodass man die

|| 25 Zum Vergleich: Eine computergestützte Analyse hat ergeben, dass sich in Goethes Werken (Hamburger Ausgabe) 586 Belegstellen mit dem Lexem »Name« finden. Eine Vielzahl von ihnen gibt jedoch nur wenig bis gar keinen Aufschluss über die spezifische Bedeutung des Namens bei Goethe. Vgl. Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe (wie Einleitung, Anm. 25), S. 153. 26 Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 1 spricht ganz richtig von einer »thematischen Homogenität« in Canettis Aufzeichnungen. Ähnlich Susanne NiemuthEngelmann: Alltag und Aufzeichnung. Untersuchungen zu Canetti, Bender, Handke und Schnurre. Würzburg: Königshausen und Neumann 1998 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 253) [zugl. München, Univ.-Diss. 1997], S. 61: Auch in den Aufzeichnungen, so NiemuthEngelmann, entkomme Canetti seinen Hauptthemen nicht, auch hier kreise er mit seinen Gedanken um ›Macht‹ und ›Tod‹ und deren Zusammenhang.

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Aufzeichnungen mit wenig Übertreibung ein Universum der Namen nennen könnte […].«27 Wer sich auf diesem Meer ein Stück weit ins Unbekannte hinauswagt, ohne dabei gleich auf jede Einzelheit zu achten, der wird nach nur kurzer Zeit begriffen haben: Canetti mag sich sehr für Namen interessiert, er mag sich auch für Worte interessiert haben und für die Sprache insgesamt; ein Linguist, ein Analytiker der Sprache, war er trotz allem nicht. So wie er den meisten Wissenschaften innerlich fernstand28, hatte er auch für die Sprachwissenschaft nichts übrig.29 Zwar hatte er niemals auch nur die geringste Scheu, sich aus ihr die Informationen zu holen, die er im Augenblick benötigte, etwa wenn er auf einen exotischen Namen stieß, dessen etymologische Bedeutung er wissen wollte.30

|| 27 Dittberner: Das Buch gegen den Tod (wie Einleitung, Anm. 8), S. 6. 28 Vgl. dazu etwa Canettis Gedanken zur Ethnologie aus dem Jahre 1943: »Je genauer die Berichte sind, die man von Reisenden über ›einfache‹ Völker liest, um so stärker fühlt man das Bedürfnis, sich um keine der herrschenden oder strittigen ethnologischen Theorien zu kümmern und mit dem Denken ganz von neuem zu beginnen. Das Wichtigste, das, was einen selber zunächst anspricht, wird in den Theorien immer fortgelassen. Man muß seine Auswahl von selber besorgen.« (IV, S. 63) 29 Vgl. dazu ZB 18, 20. März 1974: »Der Mann, der sich der Linguistik verweigert.« Vgl. auch ZB 20, 27. Februar 1986: »Der Linguistik heute ausgewichen wie damals der Psychoanalyse.« Siehe schließlich auch V, S. 433: »Alle Theorien der Sprache bis zum heutigen Tage können ihr nichts anhaben.« 30 »›Yoho National Park in British Columbia. Yoho stammt aus der Sprache der Cree-Indianer und bedeutet Bewunderung.‹« (V, S. 403) Am 23. Dezember 1980 notiert Canetti, dass der antike Name von Rustschuk »Sexaginta Prista«, also sechzig Schiffe, lautete (ZB 19). Vgl. auch Gespräch mit Dora Willy. In: Werner Morlang (Hg.): Canetti in Zürich. Erinnerungen und Gespräche. München, Wien: Nagel & Kimche 2005, S. 161–173, hier S. 172f.: »Während unserer Gespräche am Mittagstisch erwähnte ich hie und da einen schweizerdeutschen Ausdruck. Herr Canetti war immer interessiert, erwog, woher sich der Ausdruck herleite, und zog manchmal sogar ein etymologisches Wörterbuch bei.« Zum Begriff der etymologischen Bedeutung vgl. z.B. Friedhelm Debus: Aspekte zum Verhältnis Name – Wort. In: Hugo Steger (Hg.): Probleme der Namenforschung im deutschsprachigen Raum. Darmstadt: WBG 1977 (Wege der Forschung; 383), S. 3–25, hier S. 22–25 stellt fest, dass Namen zwar eine etymologische Bedeutung besitzen wie die Worte, hinsichtlich der lexikalischen und aktuellen Bedeutung aber »eigenständige Gebilde sind, denen Bedeutung im appellativischen Sinn nicht zukommt«. Zusammenfassend und problematisierend Rainer Wimmer: Der Eigenname im Deutschen. Ein Beitrag zu seiner linguistischen Beschreibung. Tübingen: Niemeyer 1973 (Linguistische Arbeiten; 11), S. 25–29. Wimmer trennt die synchrone von der diachronen Untersuchung und verwirft deshalb den Begriff »etymologische Bedeutung«. Denn die Bedeutung eines Zeichens im System der Langue zu einem bestimmten Zeitpunkt werde synchronisch, die Etymologie hingegen diachronisch untersucht. Wenn hier dennoch am Begriff »etymologische Bedeutung« festgehalten wird, dann vor allem deshalb, weil Canetti

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Doch die zuständige Fachrichtung, die Namenkunde, war für ihn nicht viel mehr als eine Hilfe; sie war ein Mittel zum Zweck – zu einem ihr selbst fremden, einem ganz und gar unwissenschaftlichen Zweck, dem wir uns in einem späteren Kapitel dieses ersten Teils ausführlich widmen werden. Die Namenstheorie31 hingegen, eine andere Disziplin innerhalb der Onomastik, hatte für Canetti offensichtlich nicht einmal diese Funktion. In sämtlichen Aufzeichnungen, seien sie veröffentlicht oder seien sie im Nachlass überliefert, finden wir nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Canetti jemals einen Klassiker der Namenstheorie gelesen, geschweige denn sich von ihm hätte inspirieren lassen.32 Nirgends ein Exzerpt aus einem der einschlägigen Werke, nirgends ein Kommentar zu einer bestimmten Hypothese – in so vielen Jahrzehnten und so vielen Aufzeichnungen, auf insgesamt mehr als 13.000 Seiten.33 Zwei Erklärungen kommen dafür in Betracht. Zum einen lässt sich annehmen, dass Canetti aus einem recht banalen Grund so beharrlich geschwiegen hat: weil er nicht eine einzige der Thesen kannte, die Mill und Frege, Searle und Wittgenstein, die Burks und Kripke über Namen aufgestellt haben.34 Und wenn

|| dem Namen eine Bedeutung attestierte und weil die Etymologie für ihn zu dieser Bedeutung gehörte. 31 Zu den alternativen Bezeichnungsmöglichkeiten für diese Disziplin vgl. Gerhard Bauer: Deutsche Namenkunde. 2., überarbeitete Auflage, Berlin: Weidler 1998 (Germanistische Lehrbuchsammlung; 21), S. 29. Vgl. dazu auch die Einträge »Namenkunde« und »Onomastik« in Teodolius Witkowski: Grundbegriffe der Namenkunde. Berlin: Akademie-Verlag 1964 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften; H. 91). 32 Vgl. IV, S. 155ff. Canetti unterscheidet hier zwischen »Bücher[n], an denen man sich schärft« und Büchern, »[…] an denen man erlahmt, weil sie längst schon ausgesogen und erschöpft sind.« 33 Ich berufe mich auf Wirtz: Der Tod, die Familie und der Kegeljunge (wie Anm. 5), S. 18. 34 Ildikó Hidas: Namen geben. Ingeborg Bachmanns und Elias Canettis Sprachauffassung. In: Zsuzsa Bognár u.a. (Hg.): »Ihr Worte«. Ein Symposion zum Werk von Ingeborg Bachmann. Wien: Praesens 2008 (Österreich-Studien Szeged; 2), S. 91–98, hier S. 91 behauptet, Canetti sei von Wittgensteins Philosophie stark beeinflusst worden. Für diese These lässt sich kein Beleg finden. In den publizierten Bänden gibt es nur drei Aufzeichnungen über Wittgenstein. Canetti beschäftigt sich darin nicht mit Wittgensteins Sprachphilosophie, sondern mit dessen Biografie. Vgl. IV, S. 413; V, S. 351f. und 390. An Wittgensteins Tätigkeit als Volksschullehrer in Niederösterreich hebt Canetti in einer Aufzeichnung vom 5. Oktober 1971 hervor, dass sie ihn »aufmerksam auf die Alltagssprache [gemacht habe], auf ihren Gebrauch und die Art und Weise, wie sie mit den Lebensformen verknüpft ist. Der Boden für die spätere Kritik im ›Traktat‹, in der Suche nach einer idealen Sprache, wird durch den Umgang mit den Kindern bereitet.« (ZB 24) Am 13. Oktober 1977 hat Canetti sich allerdings, »[s]ehr tief getroffen«, einige Gedanken aus Wittgensteins Vermischte Bemerkungen herausgeschrieben, darunter auch

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das richtig wäre, dürften wir wohl noch etwas weitergehen und behaupten: Canetti hat dieses Unwissen keineswegs für schlimm oder für beschämend gehalten, sonst hätte er sich nämlich mit ziemlicher Sicherheit bemüht, diese Lücke zu schließen. Dafür aber gibt es keine Belege.35 Andererseits könnten wir annehmen: Canetti waren die einschlägigen Studien sehr wohl vertraut – möglicherweise nicht alle von ihnen, aber doch einige. Er erwähnte sie indessen mit Absicht nicht, weil er sie für langweilig, für erkenntnisarm, kurzum: für nutzlos hielt. Diese Vermutung ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Canetti wäre mit diesen Schriften dann genauso verfahren wie mit Freuds Abhandlung Massenpsychologie und Ich-Analyse, die er in Masse und Macht an keiner einzigen Stelle erwähnte, selbst im Literaturverzeichnis nicht. Dabei hatte er sie mehr als eine Woche lang studiert, exzerpiert und kommentiert, vom 1. bis zum 10. August 1925, wie wir aus dem zweiten Band der Lebensgeschichte wissen (VIII, S. 141–144). Trotz dieses Präzedenzfalls (ähnlich verhält es sich mit Le Bons Buch über die Massenpsychologie) ist allerdings zuzugeben: Dass Canetti die Schlüsseltexte einer ganzen Disziplin absichtlich mit Schweigen gestraft und sie auch sonst nie erwähnt hätte, wäre in seinem Werk nicht nur einzigartig, es wäre geradezu unwahrscheinlich. Insofern scheint alles für die erste Erklärung und nichts für die zweite zu sprechen. Zu entscheiden braucht man sich gleichwohl nicht. Denn in beiden Fällen ist das Ergebnis dasselbe: Der namenstheoretische Diskurs hatte keinen Einfluss auf Canetti, der seiner phänomenologischen Grundhaltung auch in den Aufzeichnungen treu blieb.36 Das ist der zweite Befund, der sich aus einer kursorischen Lektüre der Aufzeichnungen ergibt. Von einer wissenschaftlichen Arbeit wird man erwarten, dass sie sich mit diesem Negativbefund nicht zufrieden gibt. Man wird erwarten, dass sie Canettis Thesen, sozusagen sein Versäumnis nachholend, in den aktuellen linguisti-

|| diesen Satz, der mit seinen eigenen Vorstellungen von einer Reinigung der allzu oft gebrauchten Worte kompatibel ist: »Man muss manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, – und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen.« 35 Grundlegende Texte zur Namenstheorie von Mill bis Kripke finden sich auszugsweise in der sehr gut zusammengestellten Anthologie von Ursula Wolf (Hg.): Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 1057). 36 Die Phänomenologie versucht, »[…] das im Bewusstsein unmittelbar Gegebene theoriefrei zu beschreiben.« Vgl. Fellmann: Phänomenologie zur Einführung (wie Einleitung, Anm. 50), S. 28.

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schen Diskurs einbettet.37 Ein vergleichendes Verfahren ist tatsächlich von nicht geringem Nutzen, wie sich in zahlreichen Dissertationen und Aufsätzen zu anderen Themen des reichen Canetti-Œuvres erwiesen hat. Auch in der vorliegenden Arbeit wird es zu gegebener Zeit seinen Zweck erfüllen. Und doch: Wer sich damit begnügt, Canetti einen Platz im namenstheoretischen Koordinatensystem zuzuweisen, der wird den Mittelpunkt seines Denkens bereits verfehlt haben. Denn dieses Denken verdankt seine Eigentümlichkeit und Anziehungskraft vor allem der Tatsache, dass es den Menschen und die Welt zu verstehen sucht, ohne in die (für Canetti: trügerische) Sicherheit wissenschaftlicher Systeme einzutreten.38 Das heißt nicht (wie später noch zu zeigen ist), Canetti wäre ein vollkommen unsystematischer, ein assoziativer Denker gewesen, der nur kurz bei einer Sache bleiben konnte und sich ausschließlich mit eigenen Ideen beschäftigte – er hätte Masse und Macht schwerlich schreiben können, wenn dies stimmen würde. Es heißt vielmehr, dass er sich, bei aller Konzentration und aller Beharrlichkeit, die er für sein Lebenswerk benötigte, immer nach einem Ausweg aus dem Gefängnis des wissenschaftlichen Denkens sehnte. Sein System sollte sich, wie er in einer vielfach zitierten Aufzeichnung, sich selbst beschwörend, einmal schrieb, im Unterschied zu anderen Systemen niemals völlig schließen (IV, S. 131); es sollte offen bleiben, an möglichst vielen Stellen. Denn ohne Öffnungen – das wusste Canetti und aus diesem Wissen hatte er als junger Mann einen Jahrhundertroman gemacht – wäre seine innere Welt nur mehr ein Ort des Irrsinns, vergleichbar jenem düsteren Kabinett des Hausbesorgers Benedikt Pfaff in Die Blendung, das lediglich ein winziges Guckloch über dem Boden besitzt, durch das man immer dasselbe zu sehen vermag: Schatten, Röcke und Hosen. Canetti dagegen wollte vieles sehen, durch verschiedene Gucklöcher; er wollte zu Atem kommen und nicht an den eigenen Ideen ersticken.

|| 37 Vgl. dazu etwa Knoll: Das System Canetti, S. 10f.: Es erweise sich als außerordentlich hilfreich, Canetti mit anderen, gegensätzlichen Denkmodellen zu konfrontieren. Erst der Kontrast lasse »seine jeweiligen Setzungen und Implikationen« ganz deutlich werden und zeige darüber hinaus die »extreme Folgerichtigkeit und innere Logik seines Denkens«. 38 Hier ist zu berücksichtigen, »[…] dass der literarische Anlass zu den ›Aufzeichnungen‹ von 1942 an die Wiederbegegnung mit den Vorsokratikern war […].« (ZB 15, 11. Juni 1965) Die Vorsokratiker stehen bei Canetti metonymisch für ein fragmentarisches und gerade deshalb unsystematisches Denken (V, S. 445). Zur Bedeutung der Vorsokratiker für Canetti vgl. auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 176. Es ist insofern ganz verfehlt, die Aufzeichnungen so wie Schweikert: »Schöne Nester ausgeflogener Wahrheiten« (wie Einleitung, Anm. 6), S. 77 als »die Späne, die bei der Konzipierung von Masse und Macht anfielen«, zu verstehen.

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Das galt ohne Abstriche auch dann noch, als er Masse und Macht längst gedruckt in Händen halten konnte. Zu seinem Glück fand er sie recht schnell: die Möglichkeit, offen zu bleiben und frei atmen zu können. Es war die »spontane und zufällige Äußerung«, die Canetti den erlösenden Ausgang aus dem selbst errichteten Theoriegebäude wies (V, S. 22). Aus solch spontanen und zufälligen Äußerungen bestehen die Aufzeichnungen, nicht aus geschliffenen, gut überlegten Sätzen. Sie stellen sich damit in die antisystematische Tradition der Gattung Aphorismus.39 Wann immer Canetti Aufzeichnungen schrieb, ob in London, in Zürich, in Wien, ob als junger Mann oder als Greis, geschah das auf unsystematische Art: in »Rösselsprüngen«, mit ständigen, unvorhersehbaren Volten.40 Es komme, meinte er, in entscheidendem Maße darauf an, wie weit der Mensch es »in sich« habe, von einem Sprung zum anderen.41 Indem Canetti seine Gedanken unkontrolliert kreuz und quer, hierhin und dorthin strömen ließ, erweiterte er sich, machte er das eigene Ich, so wie es ihm vorschwebte und wie er es in Goethe vorbildhaft verwirklicht sah42, zu einem Raum. »[N]icht weniger weit [sein] als die Welt« – das war sein Ziel, und er fühlte schließlich auch, »wie ich sie überall erreiche.« (V, S. 132) Maximal erweitern aber konnte er sich stets am besten als sein eige-

|| 39 Vgl. dazu grundlegend Hans Margolius: System und Aphorismus. In: Gerhard Neumann (Hg.): Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt: WBG 1976 (Wege der Forschung; 356), S. 280–292. Vgl. auch Thomas Lappe: Die Aufzeichnung. Typologie einer literarischen Kurzform im 20. Jahrhundert. Aachen: Alano 1991 [zugl. Paderborn, Univ.-Diss. 1990/91], S. 155–165. 40 Vgl. vor allem die Vorrede zu Die Provinz des Menschen (IV, S. 6). Siehe auch V, S. 100: »Das Wissen, indem es wächst, verändert seine Gestalt. Es gibt keine Gleichmäßigkeit im wirklichen Wissen. Alle eigentlichen Sprünge erfolgen seitwärts, Rösselsprünge. Was geradlinig und voraussehbar weiterwächst, ist bedeutungslos. Entscheidend ist das gekrümmte und besonders das seitliche Wissen.« Auch im Nachlass findet sich, unter dem Datum des 24. Januar 1975, eine Aufzeichnung mit dieser Metapher: »Die eigentliche Treue ist die zu den Sprüngen.« (ZB 18) In seiner Münchner Rede Der Beruf des Dichters spricht Canetti von der »lineare[n] Beschränkung« als prägendes Merkmal der gegenwärtigen Welt (VI, S. 366). Das zeigt noch einmal und anders, wie wichtig die Aufzeichnungen sind. Sie stehen quer zu dieser linearen Beschränkung, sie sind ein Widerstand gegen die eigene Zeit. 41 ZB 21a, 24. Januar 1975 (Hervorhebung im Original). 42 Vgl. dazu etwa VII, S. 12: Canetti bezeichnet hier den Familienstolz der Mutter als »Enge«. Sie habe ihn früh gegen jeden Hochmut der Herkunft eingenommen. An Goethe reizt ihn demgegenüber gerade die Weite: »Ich sage gern ›Goethe‹. Warum? Ich hätte ihn nie gern besucht und vielleicht auch außerhalb seiner Sammlungen nicht gern gesprochen. Nenne ich seinen Namen, weil er der weiteste ist und ich für mein Leben gern weit gewesen wäre – ich bin aber nur fanatisch, das war er nie, vielleicht nenne ich ihn, weil ich mich vor ihm schämen möchte.« (V, S. 426)

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ner advocatus diaboli: indem er Paradoxien zuließ, das Gegensätzlichste zugleich als eigene Position akzeptierte. Das Schreiben in Sprüngen war für Canetti nicht nur ein antisystematisches Spiel, sondern auch Anstrengung, nicht nur Spontaneität, sondern auch Vorsatz.43 Keineswegs zufällig sprach er in Bezug auf den schöpferischen Menschen vom »selbsterschaffene[n] Chaos seiner Gedanken« (IV, S. 136). Man darf diesen merkwürdigen Ausdruck, eine contradictio in adiecto, auf ihn selbst beziehen: Wer, wenn nicht er, war jener Mensch, der, einmal ans eigene Denken gewöhnt, sich vor der »Verflochtenheit in die Welt« zu retten bemühte, wie es weiter in dieser Aufzeichnung heißt? Das Adjektiv »selbsterschaffen« lässt bereits erahnen, dass das Chaos ihn, wie jeden kreativen Menschen, Arbeit und, bei der späteren Auswahl seiner Aufzeichnungen, auch Überlegung kostete. Es war nicht von Anfang an, gleichsam von Natur aus da, wie das biblische Tohuwabohu, und er litt auch nicht darunter. Es wurde bewusst geschaffen und musste zudem gegen Widerstände verteidigt werden: gegen den eigenen Willen zum System und die innere Stimme, die Canetti selbst in Mußestunden dazu angehalten haben mag, seine Theorien über Masse und Macht zu entwickeln und zu verfeinern statt über Anderes nachzudenken. Und doch gelang ihm der Widerstand: »Seine größte Befriedigung, die er sich konstant versagt, ist die des Zusammenhangs.« (V, S. 150) Dieser Satz sollte nicht vergessen werden – auch wenn man Canettis Aufzeichnungen mit anderen Schriften vergleicht. Es mag also zwar vielleicht möglich sein, eine Parallele zu einer bestimmten Namenstheorie zu entdecken; zur Gänze jedoch sind die Aufzeichnungen keiner Theorie und keiner Schule zuzuordnen. Dazu waren sie zu spontan und zufällig, auch zu genial – ein Raum der »absolute[n] Freiheit und Unbestimmtheit« (IV, S. 257).44 »[W]idersprüchliche[] Deutlichkeit« (V, S. 396): Was Canetti den chinesischen Philosophen attestierte45, das kennzeichnet ebenso sehr seine eigenen

|| 43 Thomas Lappe: Elias Canettis Aufzeichnungen 1942–1985. Modell und Dialog als Konstituenten einer programmatischen Utopie. Aachen: Alano 1989, S. 13 spricht deshalb von einer »geregelten Spontaneität«. 44 In der engen Bindung der Aufzeichnung an ihre Entstehungssituation sieht Altvater: »Die moralische Quadratur des Zirkels« (wie Einleitung, Anm. 75), S. 28 den »gravierendste[n] Unterschied« zum System. 45 Canettis Verhältnis zu einzelnen chinesischen Philosophen untersuchen Ning Wu: Canetti und China. Quellen, Materialien, Darstellung und Interpretation. Stuttgart: Heinz 2000 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 384/Unterreihe Salzburger Beiträge; 38) [zugl. Salzburg, Univ.-Diss. 1995) und Yun Chen: Canetti und die chinesische Kultur. Düsseldorf, Univ.-Diss. 2003, S. 124–160 (Schwerpunkt auf Die Blendung).

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Aufzeichnungen. Aus Sicht der Onomastik und überhaupt jeder Wissenschaft ist diese widersprüchliche Deutlichkeit skandalös, ein Verstoß gegen ein Grundprinzip der formalen Logik. Doch Canetti war der festen Überzeugung, dass gerade sie – und sie allein – den unablässig sich verwandelnden Phänomenen im Reich des Geistes gerecht werden könne: »Wer eine Sache gründlich zu erkennen wünscht«, schreibt Hans Margolius in seinem Aufsatz über »System und Aphorismus«, »[…] der muß sie von vielen Seiten betrachten. Wer eine Sache von vielen Seiten aus betrachtet, der wird sie verschieden sehen und sich oft in Widersprüche verwickeln.«46 Was Canetti an Aristoteles, dem »Allesfresser«, und an seinen Nachahmern, was er an Philosophen, Linguisten und Ethnologen kritisierte: die Entwicklung eines »ingeniöse[n] System[s] von Schachteln«, die Sammlung und Einordnung, die Vergewaltigung der Dinge mithilfe von Begriffen (IV, S. 49) – all das versagte er sich während jener wenigen Stunden des Tages, in denen er Aufzeichnungen schrieb. Da legte er nirgends Schachteln an; da sammelte er die Dinge nicht; da entwickelte er keine Einteilungen wie für die Masse. In einer der vielleicht wichtigsten nachgelassenen Notizen – Canetti schrieb sie 1933 in sein Pariser Tagebuch – heißt es: »Man darf an alles glauben, nur nicht an Grenzen (und wenn man sie oft in sich aufrichtet, dann nur im Hinblick auf den grossen Augenblick, da man sie lärmend einreissen darf).«47 In seinen Aufzeichnungen verzichtete Canetti, hierhin ganz Feind der Grenzen, nicht nur auf die Übernahme oder Entwicklung einer Theorie, sondern auch auf eine Methode mitsamt den ihr eigenen Termini und überhaupt auf alles, was ihn von den Erscheinungen distanzieren, was seine Perspektive, seine Person hätte beschränken können.48 Zu seinen Erkenntnissen gelangte er, wie die meisten Aphoristiker, auf eine direkte Art, die ihn frei sein ließ, weil sie keinen Regeln gehorchte und keine Grenzen akzeptierte: Canetti machte Erfahrungen, er hatte Erlebnisse und schrieb über sie. Oder wie er selbst formulierte, um das Vor-Rationale dieses Vorgangs zu akzentuieren: Er fühlte.49 In Die Provinz des Menschen hat sich Canetti zum Vorrang des unmittelbaren Erlebens vor

|| 46 Margolius: System und Aphorismus (wie Anm. 39), S. 281. 47 ZB 5a, Pariser Tagebuch, September 1933 (verspätete Eintragung). 48 In einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1949 stellt Canetti fest, dass er sich, anders als ein Paranoiker wie der ehemalige Dresdner Senatspräsident Schreber, niemals einer Methode verschreibe, schon gar nicht einer eigenen. Vgl. IV, S. 162. 49 Vgl. IV, S. 441: »In einer Sprache allein werde ich nie sein können. Ich bin darum dem Deutschen so tief verfallen, weil ich immer auch eine andere Sprache fühle. Es ist richtig zu sagen, daß ich diese fühle, sie ist mir nicht etwa bewußt. Aber ich bin freudig erregt, wenn ich auf etwas stoße, das sie heraufholt.«

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dem begrifflich-abstrahierenden Denken bekannt: »Ich will alles in mir fühlen, bevor ich es denke.« (IV, S. 43)50 Das Vorbild für diese Haltung fand er nicht bei den Phänomenologen seiner Zeit, sondern erneut bei den chinesischen Philosophen des Altertums, die er nicht von ungefähr zu seinen Ahnen51 rechnete. Ihnen vor allem habe die »Entstellung durch das Begriffliche« gefehlt, sagte er. Die drei Hauptlehren Chinas seien mögliche »Haltungen zum Leben«, nicht zu den Begriffen (IV, S. 336). Auch er selbst, heißt es in Nachträge aus Hampstead, sei zu allen seinen neuen Erkenntnissen nicht durch Begriffe gekommen, sondern durch »Betrachtung eines einzigen konkreten Phänomens« (V, S. 126).52 Bereits das einleitende Kapitel, besonders der erste berühmte Satz von Masse und Macht, bestätigt diese These: Canetti eröffnet sein Buch mit einem konkreten, einem, wie er annahm, allen Menschen vertrauten Phänomen: der Berührungsfurcht (III, S. 13). Auch seine späteren Einteilungen der Masse sind alles andere als abstrakt, sie gehen zurück auf Beobachtungen, auf Handfestes: Die streikenden Arbeiter vor den Fabriken erschienen Canetti als Verbotsmasse, und die Masse als Ring hatte für ihn ihren realen Ort in der Arena (III, S. 29f.).53 Auf ringförmige Massen stieß er aber auch in Marrakesch: Es waren Kamele, die sich, erschöpft von den Strapazen ihrer Reise, in einem Kreis vor der roten Stadtmauer ausruhten; es waren Menschen, die fasziniert von den Erzählern, in einem Kreis um sie herum saßen || 50 Vgl. dazu auch Canettis Bemerkung über die Bescheidenheit in der Wissenschaft, die er für unerträglich hält: »Es ist oft so, als würden sie [die Bescheidenen – A.S.] sagen: ›Es kommt nicht darauf an, was wir finden, sondern wie wir das, was wir gefunden haben, ordnen.‹« (IV, S. 203) 51 Vgl. zu diesem Begriff IX, S. 275: »Ein Dichter braucht Ahnen. Einige von ihnen muß er namentlich kennen. Wenn er am eigenen Namen, den er immer trägt, zu ersticken vermeint, besinnt er sich auf Ahnen, die ihre eigenen, glücklichen, nicht mehr sterblichen Namen tragen.« 52 Vgl. dazu auch V, S. 286: »Im Grunde war das einzige, das sich für ihn sagen läßt, daß er Begriffen mißtraut.« Siehe dazu Michael Krüger: Besuch bei Canetti. In: Morlang (Hg.): Canetti in Zürich (wie Anm. 30), S. 197–200, hier S. 198: »Besonders misstrauisch war er gegenüber Theorien. Begriffe wie ›post-histoire‹, Postmoderne, Dekonstruktion nahm er nur dann in den Mund, wenn er sie sofort wieder ausspucken konnte.« 53 Vgl. dazu Canettis Ausführungen zur »Berührungsfurcht« in seinem Gespräch mit Theodor W. Adorno: »Ich denke, daß das ein sehr realer Ansatz ist; er geht aus von einem konkreten Erlebnis, das jeder von der Masse her kennt.« (X, S. 143) Vgl. dazu auch Peter von Matt: Reverenz vor einem Selbstdenker. Canetti erhält den Nobelpreis. In: Ders.: Der Entflammte. Über Elias Canetti. München: Nagel & Kimche 2007, S. 14–17, hier S. 16f.: »Überall nämlich, auch in den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen und Reiseberichten, schlägt unverwechselbar seine überragende Begabung durch: ganz konkret zu denken und kein Wort zuzulassen, das sich nicht mit Angeschautem, mit sinnlich Gespürtem und Vernommenem verbindet.«

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und andächtig lauschten. Kein Wunder, dass Canetti einen Denker oder einen Dichter nur dann ernst nahm, wenn dieser von etwas Konkretem und nicht von etwas Abstraktem ausgegangen war (V, S. 169).54 Vieles ist konkret: ein Bettler, der wie ein Bündel auf dem Boden liegt, ein Esel, den die Lust bewegt, ein schreiendes Kamel. In der Sprache aber ist nichts konkreter als ein Eigenname, ein nomen proprium. Das Selbstdenken setzte bei Canetti also nicht von ungefähr ein, als er die fremden Namen aus Schwabs Sagenbuch zu prüfen und einzuschätzen begann. Später muss er darin einen Wink des Schicksals gesehen haben, der ihn von Anfang an, geradezu instinktiv, das Richtige tun ließ. Doch damit Namen ihn zum Selbstdenken anregen konnten, mussten sie auch konkret, und das heißt: einzeln erfahrbar bleiben. »Das Summieren von Namen« (V, S. 361) war Canetti, wie alles Summieren, höchst verdächtig, ein Akt der Macht. Diesen Akt führte er am Beispiel von Hitlers geplantem Triumphbogen, in den die Namen der 1,8 Millionen deutschen Gefallen des Ersten Weltkriegs eingemeißelt werden sollten, auf egoistische Motive zurück (Vgl. VI, S. 267f.). Er selbst wollte es anders halten: In den Namenslisten, die er in seinen Notizheften anlegte, ging es ihm nicht allein um die Namen in ihrer Gesamtheit, sondern ebenso sehr um jeden einzelnen von ihnen. Canettis Aufzeichnungen über Namen – und das ist nun zusammenfassend der dritte und letzte, der fundamentalste Befund – präsentieren uns keine konsistente, argumentativ abgesicherte, wissenschaftliche Namenstheorie; sie erzählen vielmehr von einzelnen Erfahrungen mit Namen: von äußerst merkwürdigen, bald ähnlichen, bald miteinander unvereinbaren und doch gerade deshalb authentischen Erfahrungen. Diese Erfahrungen waren dermaßen stark, mit den Kräften des Geistes so wenig in den Griff zu bekommen, dass sich Canetti 1980, nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit Namen, zu diesem Eingeständnis gezwungen sah: »Über Namen habe ich noch nicht begonnen: ich weiß über Namen nichts. Ich habe sie erlebt, das ist alles.« (IV, S. 447) Dem konkreten Erleben blieb das Denken nachgeordnet, nicht nur chronologisch, sondern auch qualitativ. Es gab bei Canetti immer einen Überschuss des Fühlens. Manchmal kam es sogar vor, dass er sich dem Denken konsequent verweigerte: Das dritte Jahr wohnte er 1950 schon in jener Straße mit dem »geheimnisvollen und wunderbaren Namen«

|| 54 Das gilt auch für Dichter, wie Canetti in seiner Grazer Rede exemplarisch an Franz Nabl zeigt: »Als Dichter, und er ist einer der großen österreichischen Dichter, ging Franz Nabl vom Konkreten aus und blieb zeit seines Lebens dem Einzelnen und Konkreten verhaftet.« (X, S. 89f.)

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Maida Vale; doch nachgedacht hatte er über diesen Namen bisher nicht, wie er ausdrücklich feststellte.55 Aber selbst, wenn Canetti seine Erlebnisse mit Namen schriftlich fixierte und sie dabei reflektierte, blieb er leidenschaftlich, ein Feuerkopf, ein Entflammter56. Anders als Aristoteles, anders als alle Wissenschaftler, so wie er sie sah, ließ er sich berühren, ließ er sich hinreißen von den Dingen und den Erscheinungen der vielgestaltigen Welt:57 Sein Selbstdenken setzte eine unbedingte Nähe voraus. »Nichts ist herrlicher als ein Name, und nichts ist herrlicher als ein namenloses Bild«58 – dieser Satz aus einer nachgelassenen Aufzeichnung bringt Canettis Eigenart auf den Punkt: Es ist ein paradoxer und zugleich ein enthusiastischer Satz. Sine ira et studio – das war Canettis Sache nicht, er war, wie alle Aphoristiker, »Denker aus Leidenschaft«59. Schrieb er über Namen, so schrieb er oft in emotionaler Erregung, voller Begeisterung oder voller Abscheu. Nicht immer erschienen ihm Namen nämlich herrlich, schön oder wunderbar. In Das Geheimherz der Uhr, um ein Beispiel zu nennen, steht das Gegenteil: »Ätzende Namen« (IV, S. 525). Zwischen diesen beiden Extremen, zwischen Rausch und Cafard, erstreckt es sich, das »Meer« der Aufzeichnungen mit seinen Hunderten von Namens-Leuchttürmen.

|| 55 Vgl. ZB 11, 1. Mai 1950. 56 Vgl. den titelgebenden Aufsatz in Matt: Der Entflammte (wie Anm. 53), S. 121–126. 57 Vgl. dazu IV, S. 48f: »Das Forschen als Selbstzweck, wie er [Aristoteles – A.S.] es betreibt, ist nicht wirklich objektiv. Es bedeutet dem Forscher nur, sich von allem, was er unternimmt, ja nicht hinreißen zu lassen. Es schließt Begeisterung und Verwandlung des Menschen aus.« 58 ZB 12a, 26. März 1955. 59 Walter Wehe: Geist und Form des deutschen Aphorismus. In: Neumann (Hg.): Der Aphorismus (wie Anm. 39), S. 130–143, hier S. 143. Siehe dort auch S. 131: »Nicht der einmalige kluge Einfall und die Gabe für witzige Formulierungen machen den Aphoristiker aus; sie reichen bestenfalls für eine gelungene Anekdote; ohne die leidenschaftliche Energie zu grundsätzlich subjektiver Anschauung und Wertung kommt kein Aphorismus zustande.«

2 Die beiden Dimensionen der Aufzeichnungen 2.1 Vereinzelung oder Zusammenhang? Canettis Spontaneität stellt jeden Interpreten vor ein schwieriges methodisches Problem. Da er beabsichtigen wird, aus dem verfügbaren Material nicht etliche isolierte Thesen, sondern einige wenige, aber allgemeine Schlüsse zu ziehen, muss er die Aufzeichnungen ordnen und systematisieren, muss er Gruppen und Untergruppen bilden, eines zum anderen bringen. Eine Untersuchung hätte andernfalls keinen Sinn und auch keine Struktur; sie würde ausufern. Wir haben eine solche Ordnung stillschweigend bereits vorausgesetzt, indem wir aus dem Meer der Aufzeichnungen sämtliche Aufzeichnungen über Namen als eine – wenn auch zunächst nur thematische – Einheit herausgenommen haben. Das Verfahren der thematischen Ordnung ist in Forschung und Edition nichts Neues, wie die postum zusammengestellten Bücher mit Texten über Tiere1 und Dichter2 oder die Arbeit von Susanna Engelmann über Canettis Aphorismen zur Sprache belegen. Es kann sich, wenn man an das jüngst in Auswahl veröffentlichte Totenbuch3 denkt, sogar auf Canetti selbst berufen. Nun stellt sich indes die Frage, ob man diese Systematisierung noch weiter treiben kann. Lassen sich innerhalb der Gruppe von Aufzeichnungen über Namen wiederkehrende Themenkreise finden? Lassen sich einzelne Gedanken über alle räumlichen und zeitlichen Distanzen hinweg miteinander verknüpfen? Und lassen sich, aus einer gleichsam olympischen Perspektive heraus, über die Jahrzehnte hinweg charakteristische Argumentationslinien und Interessenschwerpunkte, vielleicht sogar ähnliche oder gleiche Formulierungen feststellen? Gegen welche Widerstände der Interpret bei der Beantwortung dieser scheinbar selbstverständlichen Fragen wird kämpfen müssen, das lässt eine Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen erahnen: »Er zimmert Gedanken. Sie müssen eckig sein.« (IV, S. 314)4 Wie aber lassen sich eckige Gedanken zusammenbringen, ohne dass sie einen Teil ihrer Substanz verlieren? Und wider-

|| 1 Elias Canetti: Über Tiere. Mit einem Nachwort von Brigitte Kronauer. München: Hanser 2002. 2 Elias Canetti: Über Dichter. Ausgewählt von Penka Angelova und Peter von Matt. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2004. 3 Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Aus dem Nachlass hg. von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2014. 4 Canettis Vorbild ist Lichtenberg: »Daß er nichts abrunden mag, daß er nichts zu Ende führt, ist sein und unser Glück: so hat er das reichste Buch der Weltliteratur geschrieben.« (IV, S. 314)

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spricht nicht allein der Versuch allem, was Canetti über die Aufzeichnungen gesagt hat? Da stellt sich erst recht die Frage, wie mit den Aufzeichnungen methodisch zu verfahren sei. In seinem Kleinen Dialog über die Plastik, einem relativ unbekannten, aber doch sehr bemerkenswerten Text5, lässt Canetti einen Dichter auftreten, der es in kleinen Räumen nur schwer auszuhalten vermag. Er meint dann immer, er ersticke, das Abteil eines Schlafwagens ist für ihn geradezu ein Sarg. Es dauere nicht lange, so jener Dichter, da stürze er, wie wild nach Atem ringend, in den Gang hinaus. Dort renne er herum, reiße die Fenster auf, prüfe außerdem, ob er die Waggontüren öffnen könne. Freilich: Dann schließe er die Fenster gleich wieder und auch die Türen, auf keinen Fall springe er aus dem Zug heraus, das Öffnen und Schließen, im ständigen Wechsel, sei ihm schon Befriedigung genug. Der Plastiker, zu dem der Dichter hier spricht, zögert zunächst, ahnt schließlich aber, was dieser eigenartige Vorgang bedeuten könnte: »Vielleicht ist dir die Enge auch wichtig. Du willst sie gar nicht ganz aufgeben. Du mußt zwar erproben, ob du heraus könntest, aber dann willst du dich auch wieder vergewissern, daß du noch drin bist.« (X, S. 113f.) Man könnte Canetti nicht genauer charakterisieren als mit diesen Sätzen aus seiner eigenen Feder. Er brauchte tatsächlich beides: Offenheit und Enge. Er brauchte das Fluide und das Harte, seine Freiheit und zugleich (nicht nur für sein Masse-Buch) ein System, einen Zusammenhang.6 In einem Text über die Radierungen Alfred Hrdlickas zu Masse und Macht (X, S. 75–87, bes. S. 75–78) hat Canetti, ähnlich wie im Kleinen Dialog, zwei Grundtypen des Künstlers unterschieden: Der Destillierer suche überall nach Gesetzmäßigkeiten, der Chaotiker dagegen erkläre nichts, sondern stelle das Chaos dar, das er um sich herum sehe und in sich selber finde. Auch hier gilt: Canetti war beides. Er war ein janusköpfiger Poet, der seine zwei Gesichter sowohl in Masse und Macht als auch in den Aufzeichnungen zeigte, wenngleich er einmal mehr als Destillierer und

|| 5 In einem Brief an Dieter Sulzer vom 6. Juni 1978 erwähnt Canetti, dass der Dialog im Zusammenhang mit seinem Essay über Fritz Wotruba entstanden sei. Vgl. Dieter Sulzer: Canetti, Wotruba und die Erfahrung des Raums. In: Akzente 27 (1980), H. 3, S. 195–208, hier S. 207, Anm. 26. 6 Das wird sehr deutlich in einer Aufzeichnung über die »[w]achsende Passion für alle Sekten«. Darin heißt es: »Ich habe alle Eigenschaften eines religiösen Menschen an mir, aber auch den tiefen, inneren Zwang, dem Gehege jedes Glaubens wieder zu entkommen. Es mag sein, daß ich diese beiden widersprechenden Qualitäten im Erlernen von Sekten übe. Man will alles genau kennen, wofür Menschen je zu sterben bereit waren.« (IV, S. 79)

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einmal mehr als Chaotiker in Erscheinung trat.7 Eine zentrale These dieses ersten Teils lautet deshalb: Es gibt ein System im Raum der Freiheit, eine Ordnung im Chaos. Zwischen den formal vereinzelten und inhaltlich zum Teil sehr disparaten Aufzeichnungen über Namen, zwischen Texten aus unterschiedlichen Jahren und Jahrzehnten besteht über das bloß Thematische hinaus ein Zusammenhang.8 Nur: Dieser Zusammenhang ist von anderen Aufzeichnungen durchbrochen und muss deshalb im Nachhinein erschlossen werden. Dazu ist es nun aber erforderlich, die Aufzeichnungen synchron anzuordnen, unter konsequentem Verzicht auf die Chronologie.9 Die Hinweise auf den Kleinen Dialog und den Hrdlicka-Text genügen gleichwohl nicht, um dieses Verfahren zu legitimieren, es bedarf einer weiteren und noch genaueren Begründung. Wir müssen fragen, ob wir mit dieser These nicht die Enge in unzulässiger Weise gegen die Weite ausspielen, das System gegen die Freiheit. Wir werden zu zeigen versuchen, dass diese Frage ins Leere zielt, und wir wollen dabei nicht gegen, sondern mit Canetti argumentieren. Diese Argumentation wird zugleich eine erste Belastungsprobe für das hier gewählte Verfahren der synchronen Analyse darstellen. Zunächst fällt auf, dass Canetti auch in den Aufzeichnungen nicht ausschließlich von Vereinzelung und von einem unabgeschlossenen System gesprochen hat, sondern auch von Einheit und Verbindung, von Zusammenhang. Oft fügte er beides sogar selbst zusammen, er sprach dann meistens über seine eigene Person, deren Substanz, wie er sagte, viele verschiedene Figuren und viele verschiedene Erkenntnisse bildeten: »Ich will mich so lange zerbrechen, bis ich ganz bin.« (IV, S. 182) Oder an einer anderen Stelle: »Ich möchte alles in mir enthalten und doch ganz einfach sein. Das ist schwer. Denn ich will das || 7 Auch der Autobiograf Canetti lässt sich beiden Typen zuordnen. Zum einen schildert er die wunderbare – und wie in Berlin – gelegentlich verwirrende Fülle seines Lebens in den ersten dreißig Jahren. Zum anderen fügt er die erzählten Begebenheiten zu einer teleologischen Lebensgeschichte zusammen, deren Bände bis in die Kapitel hinein genau gegliedert sind. Zum Aufbau der Lebensgeschichte vgl. etwa Sigurd Paul Scheichl: Hörenlernen: Zur teleologischen Struktur der autobiographischen Bücher Canettis. In: Aspetsberger und Stieg (Hg.): Blendung als Lebensform, S. 73–79, hier S. 75. 8 Wie Karl Kraus' thematisch gegliederte Aphorismen zeigen, verhindert ein (lockeres) Ordnungsprinzip keineswegs Gedankensprünge. Vgl. Karl Kraus: Aphorismen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Schriften; 8/suhrkamp taschenbuch; 1318). Themen der Aphorismen sind beispielsweise im letzten Band Nachts: »Eros«, »Kunst«, »Zeit«, »Wien«, »1915« und »Nachts«. Zu Kraus als antisystematischem Denker vgl. Werner Kraft: Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes. Salzburg: Müller 1956, S. 171. 9 In Die Fliegenpein verzichtet Canetti selbst auf eine chronologische Ordnung der Aufzeichnungen.

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Viele nicht auflösen, sosehr ich einfach sein will.« (V, S. 118) Und am merkwürdigsten vielleicht hier: »Es solle jeder durch die Ritzen sehen können. Es hänge nichts zusammen.« (V, S. 453) Merkwürdig daran ist, dass eine Ritze in ihrer Umgebung den Zusammenhalt des je verbauten Materials voraussetzt, sonst wäre sie keine Ritze. Bereits im folgenden Satz wendet sich Canetti aber gegen jede Form des Zusammenhalts, gleichsam als habe er seinen ersten Gedanken gleich wieder vergessen. Ähnlich verhält es sich mit seinem wiederholt geäußerten Wunsch, offen zu bleiben: Ohne Wände, ohne Mauern kann es keine Öffnungen geben, beides gehört schon begrifflich zueinander. Die Stimmen von Marrakesch legen von diesem Zusammenhang auf ganz konkrete Weise Zeugnis ab: Man denke an die Frau am Gitter, deren Stimme durch das Fenster auf die Straße dringt, während sie selbst in ihrem »Turm« verharren muss, dessen Tor sich wohl, wie Canetti meint, nicht allzu häufig öffnet (VI, S. 31). Vor diesem Hintergrund wäre es ein schwerer und unverzeihlicher Fehler, bei der Arbeit an den Aufzeichnungen ausschließlich Stellen zu berücksichtigen, an denen sich die gedankliche Freiheit und Unbestimmtheit des Systemgegners Canetti nachweisen ließen. Man hätte ihn, den Janusköpfigen, damit nur halb zu Gesicht bekommen. Um den Reichtum seines Denkens zu demonstrieren, würde man ihn – was für eine Paradoxie! – auf einen einzigen Zug seiner vielfältigen Persönlichkeit reduzieren: die Sehnsucht nach Freiheit. Zu berücksichtigen sind deswegen im selben Maße auch all jene Stellen, an denen Canettis Gedankenwelt sich geschlossen hat – allerdings, wie er selbst wiederholt und glaubhaft versicherte, niemals allzu hermetisch.10 Nur dann nämlich, notierte er, wenn man die Gitterstäbe sähe, hätte man den Himmel dazwischen gewonnen (IV, S. 119). Wie bei einer Ritze auch hier: Der Blick geht nach draußen, in die Freiheit, er wird jedoch zugleich behindert, die Freiheit bleibt eingeschränkt. In den Athenäums-Fragmenten schrieb Friedrich Schlegel: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«11 Canetti hat sich dazu entschlossen, aber auf seine Weise (ohne damit Schlegels Implikationen zu über-

|| 10 Hilfreich und zugleich doch irreführend ist die Rede von einem »System Canetti« (so der Titel von Heike Knolls schon mehrfach zitiertem Buch). Hilfreich ist, dass dieses Schlagwort deutlich macht: Auch Canetti hat ein System. Irreführend ist, dass es nicht deutlich macht: Dieses System ist alles andere als starr und apodiktisch. 11 Friedrich Schlegel: Athenäums Fragmente. In: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. München, Paderborn und Wien: Schöningh; Zürich: Thomas 1967 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe; 2), S. 165–255, hier S. 173 (Fragment 53).

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nehmen12, die er wahrscheinlich nicht einmal kannte). Er versuchte, die eigenen Gitterstäbe zu sehen, als Symbol seines Systems, um den Himmel dazwischen, um Momente der Freiheit zu erlangen. Doch die Gitterstäbe beseitigen – das konnte und wollte er nicht. Deshalb brauchte er die Aufzeichnungen. Sie waren der Ort, an dem er systematisches und antisystematisches Denken verbinden, die Quadratur des Kreises im Sinne Schlegels meistern konnte. Hier war es ohne Belang, ob das eine mit dem anderen zu vereinbaren wäre, aber hier war es eben auch kein Problem, wenn einige Gedanken zusammen passten, da so Vieles und Verschiedenes, auch Widersprüchliches, ausgesprochen werden konnte und die Verbindung verdeckte. Wie der Dichter in dem Kleinen Dialog über die Plastik blieb Canetti in den Aufzeichnungen zum einen innerhalb seines Systems, seiner Lebensthemen und -thesen, die er variierend wiederholte. Doch zum anderen prüfte er, wo es Fenster und Türen, wo es Fluchtwege für ihn gebe. Als »Korrektur zum geschlossenen System seiner Ansprüche«, bemerkte Canetti einmal, wolle er »zerstreute Aufzeichnungen« hinterlassen (V, S. 27). Mit diesen »Ansprüchen« spielte er wohl auf sein ehrgeiziges Vorhaben an, das zersplitterte Wissen der Welt in einem einzigen Kopf zusammenzuführen. Diese Zusam-

|| 12 Auch Schlegel lehnt jedes geschlossene System ab, weil er damit die »Vorstellung von ›festen Resultaten‹, von Endgültigkeit und Starrheit verbindet.« Zitat nach Hans-Joachim Heiner: Das Ganzheitsdenken Friedrich Schlegels. Wissenssoziologische Deutung einer Denkform. Stuttgart: Metzler 1971, S. 23. Bei Schlegel ist der Begriff des Systems allerdings nur schwer zu bestimmen, denn er gibt seinen Begriffen genauso wie Canetti immer wieder eine neue Bedeutung. Soviel aber lässt sich sagen: System ist für Schlegel ein organisches Ganzes, in dem, wie er einmal an seinen Bruder schreibt, der »lebendigste[] Zusammenhang« herrsche (Zitiert nach ebd., S. 24). In einem solchen organischen Zusammenhang sei der Gegensatz zwischen »unendliche[r] Fülle« und »unendliche[r] Einheit« aufgehoben (Ebd., S. 27). Für Schlegel ist nun aber ausgerechnet die Philosophie Platons ein offenes System, weil sie sich nicht zu definitiven Aussagen über das Höchste hinreißen lasse; Platon gehe es vielmehr um das Progredieren des Denkens. Canetti hätte dagegen sicher Einspruch erhoben. Vgl. dazu V, S. 306: »Die erste Begegnung mit den Ideen Platons 15jährig und die unauslöschliche Abneigung gegen sie noch nach 60 Jahren. In der Jugendgeschichte weggelassen.« Vgl. dazu VIII, S. 49. In den nachgelassenen Materialien zu Die Fackel im Ohr berichtet Canetti, er habe in seiner Frankfurter Zeit sehr viele antike Klassiker gelesen. Die Lehrerbibliothek, die Gerber, sein Deutschlehrer, ihm aufschloss, bot ihm eine reiche Auswahl an dichterischen und historischen Werken des griechischen und römischen Altertums. Vor den Werken Platons sei er damals freilich »physisch« zurückgeschreckt, erinnert sich Canetti, ebenso vor den Schriften des Aristoteles. Siehe dazu ZB 59, 18. August 1977. Einige Jahre später griff Canetti dann aber doch zu Platons Dialogen. Anders als befürchtet, war er bald geradezu »hingerissen« von diesen Dialogen, so als wäre Platon ein Dichter. Vgl. ZB 222, Unpubliziertes Kapitel »Verdammung durch Philosophen«.

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menführung, die höchste Form des systematischen Denkens, stellte Canetti nicht in Frage, sie bedurfte seiner Meinung nach aber einer gebrochenen Form. Eine Aufzeichnung, die die hier vorgetragene These bestätigen kann, steht in Die Provinz des Menschen. Canetti stellte sie fast an den Anfang dieses umfangreichen Bandes: Es ist die sechste Aufzeichnung. Nicht nur wegen dieser Position wirkt sie wie eine Leseanweisung für die nachfolgenden Seiten13, sondern auch, weil in ihr, auf ganz absonderliche Art, von »Gedanken« die Rede ist. Die Aufzeichnung hat einen, eher schwach ausgeprägten, mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund: den Aberglauben an Wassergeister, die den Menschen, als Irrlichter, über die Wirklichkeit und auch über ihre eigene wahre Natur hinwegtäuschen.14 Sie lautet so: Man sieht die Gedanken ihre Hände aus dem Wasser strecken, man glaubt, sie rufen um Hilfe; wie das täuscht, sie leben unten innig und sehr vertraut miteinander, man probiere es doch nur und ziehe einen einzeln heraus! (IV, S. 12)

Das Bild, das Canetti uns, seiner Aussage entsprechend, in einem einzigen, langen Satz vor das geistige Auge rückt, hat eine aufschlussreiche Parallele in Masse und Macht. Die Stelle handelt von den Tropfen im Meer, dem Einzelnen im großen Zusammenhang: Sie allerdings sind isoliert, sie sind nur Tropfen, wenn sie untereinander nicht zusammenhängen, ihre Kleinheit und Vereinzeltheit hat etwas Ohnmächtiges. Sie sind beinahe nichts und wecken ein Gefühl von Mitleid im Betrachter. Man tauche die Hand ins Wasser, hebe sie hoch und betrachte die Tropfen, die einzeln und schwach an ihr herunterrinnen. Das Mitleid, das man für sie fühlt, ist so, als wären sie hoffnungslos abgesonderte Menschen. Die Tropfen zählen erst wieder, wenn man sie nicht mehr zählen kann, wenn sie im großen und im ganzen wieder aufgegangen sind. (III, S. 93)

|| 13 Canetti hat sich sehr genau überlegt, womit Die Provinz des Menschen beginnen solle. Seine erste Aufzeichnung enthält nämlich eine »implizite Reverenz« vor Lichtenberg, dessen Sudelbücher er für das »reichste Buch der Weltliteratur« gehalten hat (IV, S. 314). Vgl. dazu Fricke: Aphorismus (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 138. Wie in der Forschung wiederholt festgestellt worden ist, setzt die verstärkte Beschäftigung mit Lichtenberg bei Canetti erst gegen Ende der 1960er Jahre ein. Der Anlass war vermutlich die Neuausgabe der Schriften und Briefe durch Wolfgang Promies. Vgl. dazu Dieter Lamping: »Zehn Minuten Lichtenberg«. Canetti als Leser anderer Aphoristiker. In: Neumann (Hg.): Canetti als Leser (wie Einleitung, Anm. 128), S. 113– 125, hier S. 120; Niemuth-Engelmann: Alltag und Aufzeichnung (wie Kapitel A1, Anm. 26), S. 43. 14 Vgl. F[riedrich] Panzer: Art. Wassergeister. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. unter besonderer Mitwirkung von E. Hoffmann-Krayer und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. 9. Berlin: de Gruyter 1938/41 (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, Abteilung I: Aberglaube), Sp. 127–191, hier Sp. 135f.

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Es ist der gleiche Vorgang: Der Betrachter zieht aus Mitleid – dort sind es Hilferufe – die einzelnen Tropfen – dort die Gedanken – aus dem Wasser heraus, in dem sie alle, ohne als Tropfen sich bereits geformt zu haben, miteinander zu einem Ganzen, eben dem Meer, verbunden sind. Die Wasseroberfläche und der Raum über ihr: das ist der Ort, an dem die Trennung sich ereignet und das Getrennte überhaupt erst wahrgenommen werden kann; das Wasser selbst, die dunkle, undurchdringliche Tiefe, ist der Ort eines geheimen Zusammenhangs, der Vielerlei, »alle Gewächse, alle Tiere« in »ungeheuren Mengen« birgt.15 Es lässt sich von hier aus vermuten, dass all die disparaten und paradoxen Gedanken über Namen und andere Themen auf dem Meeresgrund, dem Urgrund der Aufzeichnungen, wo die aus Canettis Sicht oberflächlichen Systematiker niemals hingelangen, einträchtig beisammen leben: als Bestandteile eben jener geheimen, »eigentliche[n] Einheit eines Lebens«, die sich unabsichtlich verberge, wie es in der Vorrede zu Die Provinz des Menschen heißt (IV, S. 6).16 In einer Aufzeichnung aus demselben Band schreibt Canetti, die Wahrheit sei nichts anderes als ein »Meer von Grashalmen«, sie wolle »[…] als Bewegung gefühlt, als Atem eingezogen sein. Ein Fels [sei] sie nur für den, der sie nicht fühlt und atmet; der soll sich den Kopf an ihr blutig schlagen.« (IV, S. 67)17 Die Stelle fasst wie in einem Brennspiegel alles zusammen, was bis hierhin gesagt wurde. Man kann jetzt allerdings hinzufügen: Dieses Meer aus Grashalmen – das sind die Aufzeichnungen. Sie sind, zusammengenommen, in all ihrer inhaltlichen Verschiedenheit und doch zugleich thematischen Homogenität, in all ihren raumgreifenden Gedankensprüngen, die den Leser dennoch an immer

|| 15 Schon Joachim Günther bezeichnet die Aufzeichnungen als »Korallenstöcke mit unabsehbarem submarinem Zusammenhang« Siehe dazu seine Rezension zu Die Provinz des Menschen. In: Neue Deutsche Hefte 21 (1974), H. 1, S. 177–180, hier S. 180. 16 Auch in Die Fackel im Ohr vergleicht Canetti sein Inneres mit einem Meer, in dem das Disparateste zu finden ist. Denn nach seinem Berliner Intermezzo hatte er erkannt, dass nichts von dem, was er erlebt hatte, vergessen oder verdrängt ist, »[…] es war alles da, immer, zugleich und so deutlich, als könne man es mit Händen greifen. Von irgendwelchen Gezeiten, über die ich keine Macht hatte, hing es ab, was auf Wellen vor mir auftauchte und von anderen Wellen beiseite geschoben wurde. Immer spürte man die Weite und Erfülltheit dieses Meeres, das von Ungetümen brodelte, die man alle erkannte.« (VIII, S. 295f.) 17 Vgl. dazu auch III, S. 92: »Das Meer ist vielfach, es ist in Bewegung, es hat seinen dichten Zusammenhang. Sein Vielfaches sind seine Wellen, sie machen es aus. Sie sind unzählbar; wer sich auf dem Meere befindet, ist überall von ihnen umgeben.«

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wieder denselben Stellen landen lassen, die »Wahrheit immerhin eines Menschen« (IV, S. 5).18 Damit erhält die metaphorische Rede vom »Meer« bezüglich der Aufzeichnungen einen neuen, tieferen Sinn: Wie das Meer mit seinen Wellen sind auch sie voller Bewegung, zugleich »allumfassend und unerfüllbar« (III, S. 93). Und wie das Meer sind auch sie das »Vorbild einer in sich gestillten Humanität, in die alles Leben mündet und die alles enthält.« (III, S. 94) Denn das Meer hat keine Grenzen; es ist anmaßend, wie Canetti, als Feind aller Begrenzungen, aller geistigen und gegenständlichen Schranken, voller Freude feststellt (IV, S. 36). Diese Grenzenlosigkeit ist für ihn wiederum nichts anderes als Freiheit, wie es in der zweiten Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen heißt (IV, S. 11). Alles zusammenbringen – Canetti hat es in den Aufzeichnungen getan. Für den Interpreten bedeutet das: Die Wahrheit, in einzelne, isolierte Aufzeichnungen gebrochen wie in kleine und kleinste Stücke, hat bei Canetti immer zwei Dimensionen, eine Flächen- und eine Tiefendimension. Um sein Bild noch einmal aufzugreifen: Aufgrund ihrer formalen Isolierung liegen die Aufzeichnungen gleichsam über dem Meeresspiegel; als zusammengehörende Fragmente eines großen Ganzen, der Wahrheit des einen Menschen Elias Canetti, liegen sie zugleich darunter, im Verborgenen. Über Lichtenberg schreibt Karl Kraus, Canettis zeitweiliger Lehrmeister und »Gott«, in metaphorischer Rede, wobei er sich indessen eines anderen Elementes bedient: »Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner, aber er kommt nicht wieder hinauf. Er redet unter der Erde. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn.«19 Diese Aussage passt auch auf Canetti – und zugleich nicht. Sie passt nicht, weil Canetti sehr oft über der Erde redet; seine Aufzeichnungen sind nicht nur dunkel, sondern auch hell. Und sie passt dennoch, weil er ebenfalls unter der Erde spricht, weil seine Gedanken in eine geheimnisvolle Tiefe hinab reichen, man könnte sagen: in den Urgrund, das Jenseits aller Vereinzelung, wo alles zusammenfindet. Wer sich mit den Aufzeichnungen befasst, der muss also beide Dimensionen zu erforschen suchen; er muss den einzelnen Gedanken als einzelnen Gedanken zu nehmen wissen und desgleichen, unter der Oberfläche, seinen Zusammenhalt mit anderen Gedanken ergründen. Wie das gelingen kann? Canetti hat eine Möglichkeit in || 18 Vgl. dazu Bernhard Greiner: Das Bild und die Schriften der Blendung: Über den biblischen Grund von Canettis Schreiben. In: Franz Link (Hg.): Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments. 2. Teil: 20. Jahrhundert. Berlin: Duncker & Humblot 1989 (Schriften zur Literaturwissenschaft; 5/2), S. 543–562, hier S. 543f.: »Canetti entwirft das Ich paradox, durch das Prinzip der Identität und zugleich der Nicht-Identität, der Teleologie und zugleich der Kontingenz, der Vielheit und zugleich der Einheit.« 19 Kraus: Aphorismen (wie Anm. 8), S. 127.

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seiner oben zitierten Aufzeichnung selber angedeutet: durch tastenden Nachvollzug des je konkreten Zusammenhalts zweier Gedanken, aus denen sich allmählich eine Kette ergibt, hier eine Kette aus spontanen Gedanken über Namen. Machen wir die beiden Dimensionen an einem Beispiel deutlich. Zunächst zur Flächendimension, der Dimension der Vereinzelung: Wenn Canetti am 22. Mai 1942 schreibt: Sonnes Name »[…] ist der schönste, den ich kenne […].«20 – dann ist das eine deutliche, eine zudem absolut wahrhaftige Aussage. Nicht minder wahrhaftig ist ein Satz, den er nur drei Wochen später zu Papier bringen wird: »Die Worte und Namen aus der Bibel sind immer noch die schönsten, in jeder Sprache […].«21 Auch das ist Wahrheit: die Wahrheit eines Augenblicks, und da Canetti fast jeden Tag ein, zwei Stunden voller solcher Augenblicke erlebte, gab es für ihn ebenso viele und, wie zu betonen ist, gleichberechtigte Wahrheiten.22 In der Tiefendimension jedoch besteht zwischen beiden Stellen ein Zusammenhang, so wie auch zwischen den stärksten Paradoxien ein Mindestmaß an kausaler Kohärenz herrschen muss: Hier wie da fällt Canetti ein leidenschaftliches Urteil über Namen, und dieses Urteil ist, trotz seiner superlativischen Unbedingtheit, keinesfalls endgültig. Zudem ist es ein positives Urteil, es unterscheidet sich eklatant von all den negativen Urteilen, mit denen sich, so Canetti in Masse und Macht, die urteilskranken Menschen erhöhen, indem sie alles Andere erniedrigen (III, S. 351f.). Bei Canetti ist es umgekehrt: Er erhöht Namen, indem er sie beurteilt; er wird an ihnen nicht zum Machthaber, der vor einer emotionalen Berührung zurückschreckt und Distanz zu Menschen und Dingen hält. Allerdings gehört zur Wahrheit auch die andere Seite, die (deutlich seltenere) Geringschätzung einzelner Namen. Das musste keinesfalls mit den Namen selbst zu tun haben, sondern konnte z.B. daran liegen, dass Canetti diejenigen verachtete, die sie besonders gern gebrauchten: »Manche Namen, in gewissen

|| 20 ZB 6, 22. Mai 1942 (im Original hervorgehoben). 21 ZB 6, 14. Juni 1942. Siehe dazu auch ZB 15, 21. September 1968: »Von allen Namen der Bibel ist Benjamin einer der schönsten. Auch Jonathan. Auch Abisag, noch schöner als Abisag von Sunem. Auch Gideon. Auch Gabriel. Auch Raphael. Auch Ezechiel. Auch Deborah, auch Ruth, auch Eva, auch Adam, auch Elias, aber Benjamin, Jonathan und Abisag sind schöner. Auch Methusalem, aber da verlocken einen die Jahre. Um ihrer Namen willen, schon darum möchte ich lange ganz und gar in der Bibel leben.« 22 An den Mythen und Sagen der Juden begeistern Canetti die »Varianten derselben Themen, Verbrämungen des eigentlich immer Gleichen«. Es scheint, »[…] als hätte die Überlieferung vielfachen Sinn, und alle Sinngebungen stehen gleichwertig nebeneinander.« (V, S. 197)

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Mündern geläufiger, werden eben dadurch verhasster als andre: Monte Carlo, Riviera.«23

2.2 Wiederholungen Wir haben schon kurz darauf hingewiesen: Auf den Tausenden von Seiten, die Canetti im Laufe seines Lebens mit Aufzeichnungen beschrieben hat, gibt es nicht nur Widersprüche, sondern auch Gleichklänge: Aufzeichnungen, die, obwohl isoliert, einander verblüffend ähnlich sind. Auch dazu ein Beispiel, in dem der Begriff »Name« allerdings wieder in seiner weitesten Bedeutung gebraucht wird. Eine Aufzeichnung in Das Geheimherz der Uhr lautet: »Man braucht Namen, an denen man nicht mäkelt, nichts braucht man mehr.« (IV, S. 504) Dieser Satz steht ganz allein für sich, es fehlt ihm jegliche kontextuelle Einbindung, und er ist, wie fast immer bei Canetti, auch ko-textuell isoliert24. Die vorausliegende, genauso die folgende Aufzeichnung – es sind ebenfalls EinSatz-Aufzeichnungen – handeln nicht von Namen, auch nicht von Mäkelei, sondern von etwas ganz anderem. Es lässt sich also nur vermuten, aus welchem Grund man an Namen mäkeln könnte: Steht der Name hier stellvertretend für seinen Träger? Hat die Mäkelei mit dem Klang des Namens zu tun? Und wieso sind Namen, an denen keine Kritik möglich ist, so notwendig wie sonst nichts auf der Welt? Auf einer anderen Seite in einem anderen Aufzeichnungsband schließlich ist zu lesen: Man braucht, um bestehen zu können, einen Vorrat von unbezweifelten Namen. Der denkende Mensch nimmt einen Namen um den anderen aus seinem Schatz hervor, beißt in ihn hinein und hält ihn gegens Licht; und wenn er dann sieht, wie falsch dieser Name der Sache, die er bezeichnen soll, angehängt ist, wirft er ihn verächtlich zum alten Eisen. So aber wird der Vorrat von unbezweifelten Namen immer geringer; der Mensch verarmt von Tag zu Tag. (IV, S. 66)

Die offenkundigen Übereinstimmungen in Syntax und Wortwahl zwischen dem ersten Satz dieser Aufzeichnung und dem zuerst angeführten, knappen Satz aus Das Geheimherz der Uhr belegen diesmal nicht formal, sondern inhaltlich: Auch wenn Canettis Aufzeichnungen keinem wissenschaftlichen System folgen und es in ihnen von eckigen, sich gegenseitig stoßenden Gedanken nur

|| 23 ZB 12, 7. März 1952. 24 Zum Begriff der »kotextuelle[n] Isolation« (wechselseitige Unabhängigkeit der Aphorismen) vgl. Fricke: Aphorismus (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 10ff.

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so wimmeln mag – sie sind deshalb nicht gleich ohne jeden tieferen Zusammenhalt. Sie sind es ebenso wenig wie ihre Vorbilder, die Texte der frühen chinesischen Philosophen und der Vorsokratiker, ebenso wenig wie Pascals Pensées.25 Ihr Zusammenhalt ist allerdings – und da liegt der springende Punkt – nicht eng und nicht linear wie bei einem Roman, einer Abhandlung, einer Lebensgeschichte, wo jeder Satz sich aus dem vorigen unmittelbar ergibt. Ihr Zusammenhalt ist, um der Offenheit und der Freiheit willen, die sich Canetti bewahren wollte, aufs Äußerste gespannt. Nahezu ein halbes Leben und Hunderte Aufzeichnungen haben sich in diesem Fall dazwischen geschoben: Die zweite Aufzeichnung schrieb Canetti 1943, die erste exakt vierzig Jahre später.26 Welch erstaunliche Konstanz bei einem Verwandlungskünstler wie ihm! Um auf derartige Wiederholungen, das Beständige im Unbeständigen, zu stoßen, um Widersprüche und Paradoxien zu finden, die aufeinander verweisen, ist allerdings eine methodische Voraussetzung von Nöten, die keinesfalls selbstverständlich ist: Die Aufzeichnungen, ausnahmslos alle Aufzeichnungen, die veröffentlichten und die unveröffentlichten, müssen als zusammengehörig, als eine Einheit begriffen und behandelt werden. Was Horst Bienek für Canettis gesamtes Werk sich vorstellte: eine Edition mit fortlaufender Seitennummerierung – das wäre auch, ja vor allem bei den Aufzeichnungen eine sehr gute Idee. Sven Hanuschek hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Aufzeichnungen sind dasjenige Werk, das Canetti als einziges ganz enthält.27 Von ihm, dem ganzen Canetti, ist insofern ein Zehntel überhaupt erst bekannt; so gering nämlich ist, vorsichtiger Schätzung zufolge, der Anteil der publizierten Aufzeichnungen am

|| 25 ZB 15, 11. Juni 1965: »Ich sollte feststellen, dass der literarische Anlass zu den ›Aufzeichnungen‹ von 1942 an die Wiederbegegnung mit den Vorsokratikern war, das persönliche Vorbild aber war Pascal.« 26 Canetti selbst bleibt es nicht verborgen, dass er sich wiederholt. Ganz im Gegenteil: Er weiß es; immerhin hat er die Angewohnheit, gelegentlich in seinen Aufzeichnungen zu lesen. Wenn er dabei auf eine Wiederholung stößt, ärgert er sich nicht, sondern hat seine Freude daran: »Es ist mir vorgekommen, dass ich einen Satz niederschrieb, der mir ganz neu erschien, und dann entdeckte ich, dass er drei Jahre zuvor schon in genau derselben Form verzeichnet worden war. Diese Vergesslichkeit für einen selbst freut mich und gefällt mir. Sie gibt mir ein Gefühl tieferer Beständigkeit und ich komme mir dadurch sinnvoll und von innen abgegrenzt vor.« (ZB 11, 6. März 1951) Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem (wie Einleitung, Anm. 6), S. 51 diagnostiziert ebenfalls, dass Canettis »Äußerungen zu einem Thema […] von den Streuungen anderer gleichwertiger Themenkomplexe durchbrochen« sind. Lücke, Zwischenraum oder Bruch erhielten dadurch den »Rang textkonstitutiver, grammatikalischer und logischer Relationen«. 27 Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 172.

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gesamten Bestand.28 Zu einem »komplette[n] geistige[n] Porträt«, wie die Gespräche des Konfuzius (IV, S. 88), werden die Aufzeichnungen erst in ihrer Totalität: unter Verzicht auf jede Form der Aufteilung, sei es in einzelne Bücher, sei es in Werk und Nachlass. Auch in Canettis Œuvre müssen Grenzen eingerissen werden. Das gilt nicht zuletzt für die Grenzen zwischen den Aufzeichnungen und Canettis anderen Werken. Zeitlich und räumlich Entferntes findet in der Tiefe zueinander, im Kopf des Lesers, der Canettis Denken nachvollzieht. Gerade für den Interpreten lohnt es sich, die Aufzeichnungen auf diese Weise zu begreifen und zu behandeln: als einen einzigen, lebenslangen Gedankenstrom, der sich entweder selbst erhellt oder der von Masse und Macht, den Stimmen von Marrakesch, der Lebensgeschichte erhellt wird.29 Es lohnt sich vor allem bei zunächst eher kryptischen, verwirrenden Aufzeichnungen. Aus ihrer formalen Isolierung befreit und anderen, ähnlichen, aber besser verständlichen Aufzeichnungen oder anderen Passagen aus Canettis Werk zur Seite gestellt, erscheinen manche von ihnen in hellerem Licht. Unser Beispiel mag dies belegen: Hier hilft die zweite, lange Aufzeichnung die erste, kurze zu verstehen: Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt auch sie von der Sehnsucht nach unbezweifelbaren, also richtigen, dem Benannten angemessenen Namen. Für Canetti ist das – so viel sei bereits verraten – ein brennendes, ein zeitlebens präsentes Thema. Ziehen wir aus Canettis Gedankenmeer deshalb weitere und noch wichtigere Aufzeichnungen über Namen. Studieren wir sie einzeln, und studieren wir ihren Zusammenhalt. Das muss nicht immer und überall ein bloß rezeptiver Vorgang sein, worauf eine Aufzeichnung hinweist, die man als Meta-

|| 28 Vgl. ebd., S. 175. Vgl. auch ders.: »Alle grossen Beziehungen sind mir ein Rätsel.« Paarverweigerungsstrategien bei Elias Canetti in: Arnold (Hg.): Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 8), S. 110–117, hier S. 110. Irmgard Wirtz: »Es kommt alles darauf an, mit wem man sich verwechselt.« Canettis Poetik der paradoxen Identität. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 4), S. 40–55, hier S. 42 bezeichnet die publizierten Aufzeichnungen als »Schaumkrone des Schreibflusses«. Canetti hat seine Auswahl selbst nachträglich in Zweifel gezogen. Er begründet diesen Zweifel mit der immensen Anzahl seiner Aufzeichnungen: »Die Zahl der Aufzeichnungen in deinem Buch beträgt 630. Vielleicht 50 mal so viel hast du verzeichnet. Welche Willkür in der Auswahl! Und vielleicht ergibt das kleine Buch nur einen Sinn, weil alles andere fehlt. Wäre es alles da, – wäre dann vielleicht alles sinnlos? So bin ich möglicherweise einem Manne wie Göpfert, der diese Auswahl betrieben und überwacht hat, schuldig, dass der merkwürdigste Teil meines Werks besteht.« (ZB 16, 6. Januar 1969, Hervorhebung im Original) 29 Als »kontinuierlichsten Gedankenstrom Canettis in seiner literarischen Produktion« versteht die Aufzeichnungen auch Wirtz: Der Tod, die Familie und der Kegeljunge (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 18.

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Aufzeichnung lesen kann: »Ein Gewitter, das eine volle Woche dauert. Finsternis überall. Lesen nur, wenn es blitzt. Das in Blitzen Gelesene erinnern und verbinden.« (IV, S. 357) Hier der passive Nachvollzug eines vorgegebenen, aber verdunkelten Zusammenhalts, dort, bei der Arbeit an Canettis Aufzeichnungen, die aktive (Re-)Konstruktion – nebeneinandergestellt erscheint beides paradox. Es gibt allerdings eine Gemeinsamkeit: Beide Male geht man nicht von Begriffen, nicht von Theorien aus, sondern von den Gedanken und Sätzen selbst, nicht von Abstraktem, sondern von Konkretem. Und beide Male ist der Zusammenhalt zunächst geheim und erschließt sich nur allmählich: Man braucht Geduld.30 Wir werden uns also entscheiden müssen, bei der Arbeit an den Aufzeichnungen auch methodisch Paradoxes zu verbinden.

|| 30 Vgl. dazu IV, S. 413: »›Der Gruß der Philosophen untereinander sollte sein: Laß dir Zeit!‹« Anne Peiter arbeitet in ihrem Aufsatz Exil, Judentum und Sprache (wie Einleitung, Anm. 1), S. 58 heraus, dass der Leser auch bei der Lektüre von Masse und Macht zu eigenem Denken aufgefordert sei. Er müsse Zusammenhänge herstellen, zugleich aber die Selbstständigkeit der verschiedenen Erzählungen anerkennen, die Canetti in seinem Buch ohne eindeutige Verbindung nebeneinandergestellt habe.

3 Was ist in einem Namen? 3.1 Das größte Rätsel in der Sprache Jeder Name war für Canetti ein Rätsel. Das, was die meisten Menschen für einen selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebens erachten, was sie täglich gebrauchen, ihr gesamtes Leben lang, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden – ausgerechnet das brachte Canetti zum Staunen und zum Grübeln. Maida Vale zum Beispiel war nicht nur ein wunderbarer, sondern obendrein ein geheimnisvoller Name für ihn, ein Mysterium in der Sprache. Kaum weniger geheimnisvoll erschien ihm das Toponym »Herzegowina«1. Einen unergründlichen Eindruck machten auf ihn etliche Namen, Anthroponyme vor allem: Da gebe es, so Canetti 1941, »[r]ätselhafte, überraschende, reiche, wohlklingende Vornamen bei den Engländern; als hätten sie, die Erben und Verwalter vieler alter und andrer Kulturen mit diesen alle zugehörigen Namen übernommen.«2 Die Bemerkung legt die Vermutung nahe, das Rätsel dieser Namen bestehe in ihrer Fremdartigkeit; sie hörten also auf, rätselhaft zu sein, sobald man sich die erforderlichen etymologischen Kenntnisse angeeignet habe. Aber was wäre das dann für ein Rätsel? In den meisten Fällen wäre es schnell und leicht zu lösen, und gewiss hätte Canetti niemals zu behaupten gewagt, Namen seien »die rätselhaftesten aller Worte.« (V, S. 140) Zwar war er mit derartigen Zuschreibungen in seinen Texten keinesfalls zimperlich, Vieles und recht Verschiedenes wirkte auf ihn rätselhaft: der Schrei der Masse vom Sportplatz Rapid (X, S. 68), der »GegenSatz« zur Hochzeit3, der Beruf des Arztes4, die Verwandlung5, die Masse6. Im Glau-

|| 1 ZB 16, 29. Juli 1969: »›Herzegowina‹, eines der schönsten und geheimnisvollsten Worte.« Beim Wiederlesen setzte Canetti hinter diese Aufzeichnung ein Ausrufezeichen und schrieb – wahrscheinlich unter dem Eindruck des Balkankrieges – zusätzlich in roter Farbe: »1993!!!!!« 2 ZB 5a, Ende April 1941 (Hervorhebung im Original). 3 Siehe X, S. 71: »Er [der Satz – A.S.] war mir rätselhaft, als ich ihn zuerst vernahm, er ist mir rätselhaft geblieben, und in dieser Rätselhaftigkeit wollte ich ihn erhalten.« 4 Siehe ZB 20, 11. Februar 1985: »Immer rätselhafter wird mir der Beruf eines Arztes. Er stellt sich mir als das Schwierigste vor, das ein Mensch unternehmen kann. Dieser Schwierigkeit hätte ich mich stellen sollen: ich bin ihr ausgewichen. Ich denke an die Zeit, in der Menschen Philosophen und Ärzte zugleich waren, Araber wie Juden im mittelalterlichen Spanien. An ihnen gemessen bin ich ein klägliches Nichts.« 5 In seiner Rede Der Beruf des Dichters nennt Canetti die »Gabe der Verwandlung« den »eigentlichsten und rätselhaftesten Aspekt des Menschen« (VI, S. 364f.). 6 Vgl. X, S. 211.

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ben erkannte er schließlich gar das »Rätsel aller Rätsel«7. Doch bei Namen bekundete er wahrscheinlich am häufigsten, dass sie für ihn ein außerordentliches Rätsel seien.8 Canetti war nicht der einzige, der bei Namen eine »Erregung des Staunens« spürte (V, S. 259). Auch Ingeborg Bachmann staunte über Namen: über Lulu und Undine, Emma Bovary und Anna Karenina, den Grünen Heinrich und Hans Castorp. Und auch sie beschrieb diese einschneidende Erfahrung, die sie zugleich für die Erfahrung aller hielt, mit Hilfe eines Superlativs: Es gebe »nichts Mysteriöseres als das Leuchten von Namen und unser Hängen an solchen Namen«.9 Anders als sie machte Canetti seine Erfahrung aber nicht allein beim Lesen, in der Welt der schönen Literatur, sondern auch, ja vor allem in der Wirklichkeit. Die unumgängliche Folge seiner Erfahrung: Er wurde, um dieses Rätsels aller Rätsel willen, zu einem Namenforscher, zu einem Namenforscher freilich ganz eigener Art. Er wurde zu einem Namenforscher, der immer wieder von neuem ins Staunen geriet; der Namen schon deshalb nicht zu systematisieren vermochte, weil sie für ihn ein Rätsel blieben. Wie bei einigen seiner Ahnen,

|| 7 ZB 9, 9. Oktober 1946 (Hervorhebung im Original): »Dem Rätsel des Glaubens muss ich auf die Spur kommen, es ist das Rätsel aller Rätsel, daneben gibt es nichts mehr, das mich wirklich fasziniert.« Vgl. dazu auch IV, S. 103: »Ich habe eine rätselhafte Bereitschaft zum Glauben und eine Leichtigkeit darin, als wäre es meine Aufgabe, alles wieder darzustellen, was je geglaubt worden ist. Das Glauben selbst vermag ich nicht anzutasten. Es ist stark und natürlich in mir und bewegt sich auf alle Weisen. Ich könnte mir vorstellen, daß ich mein Leben an einem geheimen Zufluchtsort verbringe, der die Quellen, Mythen, Disputationen und Geschichten aller bekannten Glaubensformeln birgt. Dort würde ich lesen, denken und mir langsam erglauben, was es überhaupt gibt.« 8 Zu den semantisch verwandten Begriffen »Rätsel« und »Geheimnis« vgl. Karin Zogmayer: … das Rätsel sie sollen lassen stân. Von Elias Canettis »Verwandlung«. Wien, Berlin: LIT 2008 (Deutschsprachige Literatur – Lektüren; 1), S. 26–45, vor allem S. 35: »Der Unterschied zwischen Rätsel und Geheimnis liegt in ihrem Verhältnis zur Lösung. Das Rätsel ist nicht zu lösen, je tiefer man eindringt, desto klarer zeigt sich seine Rätselhaftigkeit. Ein Geheimnis dagegen ist konkret und fassbar. Jemand behält es für sich, er verschweigt es. Mit List oder Gewalt ließe es sich lüften.« Diese These findet bei genauerem Hinsehen keine Bestätigung. Eine so genaue Differenzierung, wie Zogmayer sie vorschlägt, ist nicht möglich. Im Zusammenhang mit Namen verwendet Canetti die beiden Wörter Rätsel und Geheimnis eindeutig synonym, wie die folgende Aufzeichnung aus dem Nachlass bezeugt: »Das Geheimnis der Namen ist unergründet.« (ZB 8, 25. Juni 1944) Dass auch ein Geheimnis in Canettis Vorstellung nicht immer lösbar sein muss, zeigt eine andere Aufzeichnung: »Nie werde ich das Geheimnis der Worte ergründen, der Sprachen untereinander, und wie die Worte verschiedener Sprachen einander beleben.« (V, S. 63) 9 Ingeborg Bachmann: Der Umgang mit Namen. In: Dies.: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang. München, Zürich: Piper 1978, S. 238–254, hier S. 238 (Werke; 4).

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den griechischen Philosophen der Achsenzeit10, war das Staunen, das NochNicht-Wissen, aber Wissen-Wollen, Dreh- und Angelpunkt seines Denkens, nicht nur seiner Beschäftigung mit den Namen. Als Grabinschrift wünschte er sich nicht von ungefähr: »Er hat nie ausgestaunt.«11 Und tatsächlich: Als Canetti während jener drei Tage, von denen bereits die Rede war, Tausende neuer Namen aufnahm, da staunte er, als seien sie ihm alle neu: »Was sind diese Namen? Was bedeuten sie? Wofür stehen sie?« Beim passiven Staunen blieb es also nicht, Canetti wurde aktiv, er begann, sich Fragen zu stellen; aber er wusste vermutlich nicht, ob er auf diese Fragen jemals die passenden Antworten finden würde. Denn in Das Geheimherz der Uhr schrieb er: »Ich habe keine Antwort parat: Ich würde in jedem Fall weiter nach einer suchen. Mein Glaube ist noch in der Schwebe.« (IV, S. 471) Auch sonst misstraute er den »Antworten seines Lebens«, allerdings bedeute das nicht, so Canetti in seiner typischen widersprüchlichen Deutlichkeit, »[…] daß sie sich als falsch erweisen werden.« (IV, S. 484)12 Vor allem eine Frage ließ ihn nicht los. Es ist überraschenderweise die gleiche Frage, die sich die von Canetti verteufelten Linguisten und Sprachphilosophen gestellt haben: die Frage, ob der Name einen Inhalt, eine Bedeutung habe. Ihre Antwort lautet heute zumeist, dass der Name inhaltsleer sei, ohne eine lexikalische Bedeutung.13 In einer nachgelassenen Aufzeichnung vom 26. Oktober 1956 stellte sich Canetti diese Frage auf höchst ungewöhnliche Weise. Indem er das Satzzeichen veränderte, machte er aus der Frage kurzerhand die Antwort: Was ist in einem Namen! Alles, alles! Je älter ich werde, umso mehr verfalle ich Namen. Sie erregen mich mehr als alle andern Worte in einer Sprache. Sie sind eine Sprache für

|| 10 Der Terminus stammt von Karl Jaspers, der die Achsenzeit zusammenfassend so beschreibt: »Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten [Griechenland, Indien, China – A.S.], daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung. Indem er mit Bewußtsein seine Grenzen erfaßt, steckt er sich die höchsten Ziele. Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz.« Zitiert nach Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt a.M., Hamburg: Fischer 1950 (Fischer Bücherei), S. 15. 11 ZB 7, 22. Februar 1943. 12 Vgl. dazu auch den Brief an Rüdiger Vaas vom 12. September 1990: »Es ist ja keineswegs so, daß ich schreibe, um Antworten zu geben. Ich will Denkprozesse auslösen, die in sich weitergehen, mit allen Schwierigkeiten, die dazu gehören. Ich will es niemandem, so wenig wie mir, leicht machen.« Zitiert nach Zogmayer: … das Rätsel sie sollen lassen stân (wie Anm. 8), S. 12. 13 Vgl. z.B. Nübling, Fahlbusch und Heuser: Namen (wie Einleitung, Anm. 38), S. 19.

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sich. Was ein Dichter mit einzelnen Worten bewirkt, die er isoliert und erhöht, die er ganz neu erfüllt, das haben die Namen von selbst. Sie sind rätselhaft und erfüllt, bloss weil sie Namen sind […].14

Es ist ein Glücksfall, dass diese Aufzeichnung erhalten blieb. Sie bestätigt zunächst noch einmal, dass Canetti die kühle Distanz, die Nüchternheit eines Wissenschaftlers fehlte. Geradezu verfallen fühlt er sich hier den Namen, sie erregen ihn mehr als alle übrigen Worte. Er fängt deshalb auch nicht an zu theoretisieren: Auf die abstrakte Frage nach dem Inhalt des Namens, die im ersten Satz deutlich anklingt, antwortet er mit einer eigenen, sehr konkreten, in ihrem Überschwang aber schwer zu verallgemeinernden Erfahrung. Die Frage nach dem Inhalt des Namens wird in ein Bekenntnis umgewandelt. Doch die Aufzeichnung enthält mehr als dieses Bekenntnis. Da klammern sich die Sätze tatsächlich so innig aneinander wie, in der obigen Aufzeichnung, die Gedanken auf dem Grund des Meeres. In beachtlicher Kürze liefert sie eine Summe dessen, was Canetti zu Namen überhaupt jemals eingefallen ist. Und das war deutlich mehr als die auch jetzt wieder bekundete Überzeugung von der Rätselhaftigkeit des Namens. Die Aufzeichnung ist insofern ein hervorragender Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung. Von hier aus können wir schon jetzt einigermaßen abschätzen, womit wir es im Folgenden zu tun bekommen werden: mit welchen Thesen, welchen Zusammenhängen, mit welchen Schwierigkeiten und nicht zuletzt mit welchen intertextuellen Bezügen. Man stößt in dieser Aufzeichnung gleich als erstes auf einen solchen Bezugspunkt. Es ist die in ein Bekenntnis verwandelte Frage. Canetti hat sie von Shakespeare übernommen, aber er hat das Frage- durch ein Ausrufezeichen ersetzt. »What's in a name?« Im zweiten Aufzug des zweiten Aktes von Romeo and Juliet, in der berühmten »Balkonszene«, hat Shakespeare diese Worte der dreizehnjährigen Juliet in den Mund gelegt. Und die Antwort noch dazu – eine radikale Antwort: Im Namen, so Juliet, sei nichts, was zum Benannten wesenhaft gehöre. Das, was wir Rose nennen, würde mit jedem anderen Namen nicht weniger süß duften. Und auch Romeo wäre noch immer vollkommen, wenn er nicht Romeo mehr hieße.15 Aus diesem Grund wünscht sich Juliet nichts sehnli-

|| 14 ZB 13. 15 Zitiert nach der folgenden Ausgabe: William Shakespeare: Romeo and Juliet/Romeo und Julia. Englisch-deutsche Studienausgabe. Deutsche Prosafassung, Anmerkungen, Einleitung und Kommentar von Ulrike Fritz. Tübingen: Stauffenburg 1999 (Englisch-deutsche Studienausgabe der Dramen), S. 163. Alle Zitate aus Romeo and Juliet entnehme ich dieser Ausgabe. Im Folgenden werde ich daher nur noch Akt, Szene und Vers nachweisen. Juliets Frage findet sich in II, 2, V. 43.

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cher, als dass der Geliebte seinen Namen ablege (»doff«), gleichsam wie ein Kleid16; denn der Name allein, sagt sie, nicht der Benannte sei ihr Feind. Diese Stelle lässt dem Leser einigen Spielraum, da Juliet nicht klar genug sagt, ob Romeo seinen Vornamen oder seinen Nachnamen oder etwa beides zugleich ablegen solle. Alle drei Möglichkeiten haben ihre Berechtigung, die Hintergrundfolie von Juliets Argumentation ist nur jeweils eine andere: Im Falle der ersten Möglichkeit wendet sie sich gegen die mythische Vorstellung, dass der Name – um Goethes Vergleich zu gebrauchen – genauso zum Benannten gehöre wie die Haut, ja mehr noch: dass er sein Innerstes, sein Wesen, nach außen hin erkennbar mache.17 Im Falle der zweiten Möglichkeit wendet sie sich gegen die vom Familiennamen ausgehende soziale Fixierung des Benannten auf eine bestimmte Rolle, ein bestimmtes Verhalten.18 Denn solange Romeo und Juliet, die bekanntlich aus verfeindeten Häusern stammen, ihren jeweiligen Familiennamen tragen und solange sie sich offiziell bei diesem Namen ansprechen müssen, bleibt ihnen im Gedächtnis, wie sie nach dem Willen ihrer Eltern miteinander zu verfahren haben: Sie müssen den Geliebten hassen, hassen bis aufs Blut. Im Falle der dritten, der wahrscheinlichsten Möglichkeit wendet sie sich gegen beides zugleich, gegen überhaupt jede Fixierung, die Menschen von außen, mit Gewalt, aufgenötigt wird. Juliets Monolog verfolgt, so betrachtet, von Anfang an keinen theoretischen, sondern einen praktischen Zweck: Es geht ihr, die gegen jede Regel den Feind ihrer eigenen Sippe liebt, um die Befreiung von der Tyrannis vorgegebener Bestimmungen. Diese Bestimmungen – sie können ebenso gut mythischer

|| 16 Zu Shakespeares Wortwahl an dieser Stelle vgl. Ernst Leisi: Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. 4. Auflage, Heidelberg: Quelle & Meyer 1993 (UTB; 824), S. 26. Schon Thomas Carlyle vertritt in seinem Sartor Resartus die Auffassung, der Name sei das früheste Kleid, das sich der Mensch in seinem Dasein umwerfe: »The name is the earliest Garment you wrap rount the earth visiting Me; to which it thenceforth cleaves, more tenaciously […] than the very skin.« Zitiert nach der folgenden Ausgabe: Sartor Resartus. Introduction by W.H. Hudson. London, Melbourne: Dent 1984 (Everyman's Library), S. 66. Siehe dazu Rudolf Hirzel: Der Name. Ein Beitrag zu seiner Geschichte im Altertum und besonders bei den Griechen. Leipzig: Teubner 1918 (Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der sächsischen Akademie der Wissenschaften; 36, 2), S. 5. 17 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Peter Sprengel. München, Wien: Hanser 1985 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe; 16), S. 439. 18 Rüdiger Hillgärtner attestiert Juliet einen »soziale[n] Nominalismus«. Vgl. dazu seinen Aufsatz: Macht der Namen, namenlose Gefühle und Tod. Zum Verhältnis von Liebe und Patriarchat in Shakespeares Romeo and Juliet. In: Shakespeare-Jahrbuch 124 (1988), S. 148–162, hier S. 153.

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wie sozialer Natur sein – sind wirkmächtig, da sie von den Menschen als ihr ureigenes Schicksal verstanden werden. Im Denken des Namenträgers sind sie so tief verwurzelt, dass es beinahe unmöglich scheint, sich von ihnen zu lösen. Das wird sich später auf schreckliche Art erweisen, als Romeo Tybalt, Juliets zänkischen Cousin, niedersticht und den Todschlag der »verfluchten Hand seines Namens« ankreidet (»that name's cursèd hand«).19 Man hat Shakespeares Drama insofern zu Recht eine »tragedy of names« genannt.20 Und dennoch: In der Balkonszene manifestiert sich Widerstand gegen diese Tragödie, gegen die Vorstellung eines im Namen verborgenen Zwangs. Er manifestiert sich, wie immer unter despotischen Verhältnissen, zuerst in einer Frage. Die Hoffnung auf endgültige Erlösung erfüllt sich auf tragische Weise gerade nicht: Romeo kommt von seinem Namen nicht los, allen guten Vorsätzen zum Trotz. Juliet ahnt das bereits, als Tybalt noch am Leben ist. Ihre vorauseilende Reaktion: Sie erfüllt Romeos Namen mit einem neuen Inhalt, indem sie ihn mit Rosmarin assoziiert, einem Symbol der Treue.21 In einer Welt, in der die Menschen den Inhalt eines Namens nicht selbst zu bestimmen haben, ist diese Neu-Erfüllung – eine Neu-Erfüllung in Freiheit – ein geradezu revolutionärer Akt. Der Vorname, der Romeo jetzt an Juliet bindet, wird zum Gegengewicht gegen den Familiennamen, der ihn nach wie vor an seine Verwandten, an Juliets Feinde kettet.22 Mit diesem Akt verwirklicht sich, auf freilich ganz stille und zurückhaltende, auf lediglich private Art, was Juliet mit ihrer Frage theoretisch

|| 19 III, 3, V. 104. 20 L.A. Willoughby: ›Name ist Schall und Rauch‹. On the Significance of Names for Goethe. In: German Life and Letters N.S. 16 (1962–63), S. 294–307, hier S. 296. 21 Vgl. II, 4, V. 197f.: »[…] and she hath the prettiest sententious of it, of you and rosemary, that it would do you good to hear it.« In III, 5, V. 62 behauptet Juliet dann, Romeo sei für seine Treue bekannt (»renowned for faith«). Diese Assoziation hat mit dem Dilemma zu tun, dass die Namen Romeo und Juliet zwei Ordnungen zugleich angehören. Sie regeln die sozialen Systeme der Familien, und sie gehören zur Privatsprache der beiden Liebenden. Juliet kann auf Romeos Namen deshalb nicht verzichten. Vgl. dazu Manfred Schneider: Liebe und Betrug. Die Sprache des Verlangens. München, Wien: Hanser 1992, S. 140. Es trifft also keineswegs zu, dass der Name für Juliet bedeutungslos wird, wie Dietrich Rolle: Romeo and Juliet. In: Shakespeares Dramen. Interpretationen. Stuttgart: Reclam 2000 (RUB; 17513), S. 99–128, hier S. 121 behauptet. 22 Das »Zwingend-Fesselnde« der ursprünglich mythische Züge tragenden Namengebung kommt in dem althochdeutschen »namohaft« zum Ausdruck. Die zweite Komponente »haft« bedeutet: »gefangen, gebunden, gefesselt, festgemacht, besetzt, behaftet«. Siehe Friedhelm Debus: Identitätsstiftende Funktion von Eigennamen. In: Nina Janich und Christiane ThimMabrey (Hg.): Sprachidentiät – Identität durch Sprache. Tübingen: Narr 2003 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 465), S. 77–90, hier S. 77f.

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angedeutet hat: die Abkehr von der althergebrachten, bedrückenden Ordnung und der Aufbruch in die Freiheit des Denkens, Wollens und Handelns.23 Es ist eine bedrohte Freiheit, aber doch schon Freiheit. Sie endet bekanntlich im Tod. Was aber bezweckte Canetti dreihundertfünfzig Jahre später, als er Juliets Frage aus dem Zusammenhang riss und durch eine kleine Veränderung zu ihrer eigenen Antwort machte? Ging es ihm so wie Juliet um Widerstand gegen einen Zwang, um Freiheit? Was sich dazu bereits sagen lässt, ist nicht allzu viel: Das Adjektiv »Alles«, das auf den einleitenden Ausruf folgt und durch Gemination hervorgehoben wird, ergänzt das vorausgegangene Bekenntnis. Canetti wollte für sich selbst offenbar festhalten, dass die Bedeutung eines Namens einen unendlich großen Umfang habe.24 Und doch bleibt der Name für Canetti ein Rätsel. Das zeigt sich deutlich im letzten zitierten Satz dieser Aufzeichnung, wo Canetti die beiden Adjektive »erfüllt« und »rätselhaft« miteinander verknüpft. Juliets Frage ist mit der Antwort, auch mit der nachfolgenden Erklärung dieser Antwort, keineswegs obsolet geworden, im Gegenteil: Wir könnten den Ausruf am Ende in seine ursprüngliche Form zurückverwandeln und fragen: Was ist in einem Namen? Denn Canettis »Alles« ist mehr als eine kurze, prägnante Antwort auf die Frage nach dem Inhalt des Namens. Es ist zugleich die Verweigerung einer Antwort. Das Wort, welches das Rätsel des Namens lösen soll, ist – als unbestimmtes Numerale – selber rätselhaft. Misstraut Canetti seiner Antwort? Und schwächt er sie deshalb ab? Der klare intertextuelle Bezug des Ausrufs »Was ist in einem Namen!« legt es nahe, Canettis Antwort nicht isoliert zu betrachten, sondern sie mit Juliets Antwort zu vergleichen. Ein solcher Vergleich führt rasch zu einem Ergebnis: In seiner Aufzeichnung bezieht Canetti die Gegenposition zu Juliet, wenngleich er auf Shakespeares Drama dort nirgendwo sonst zu sprechen kommt. Der Unterschied ist dennoch, wie es scheint, gewaltig: Indem Juliet dem Namen ihres Geliebten einen neuen Inhalt gibt, einen Inhalt nach ihren und auch wohl nach Romeos Vorstellungen, behandelt sie ihn, nunmehr Canettis Vorstellung zugrundegelegt, keineswegs wie einen Eigennamen, sondern wie der Dichter || 23 Die Neu-Erfüllung des Namens, angeregt durch die frei gewählte Liebesbeziehung, zählt somit zu den »seeds of a new society«. Vgl. zu diesem Begriff Roger Stilling: Love and Death in Renaissance Tragedy. Baton Rouge (La.): Louisiana State University Press 1976, S. 81. 24 Der Name ist damit das Gegenteil eines die Wirklichkeit verengenden Begriffs. Vgl. dazu die gegen Aristoteles und Hegel gerichtete Aufzeichnung in Nachträge aus Hampstead (V, S. 129): »Ich will wirklich neu sehen und bedenken. Es ist nicht soviel Anmaßung darin, wie man meinen könnte, sondern eine unaustilgbare Leidenschaft für den Menschen und ein wachsender Glaube an seine Unerschöpflichkeit.«

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das Wort: Sie ersetzt Altes durch Neues, einen Bedeutungsinhalt durch einen anderen; sie erhöht den Namen, weil sie auch Romeo, den einst Verachteten, in ihrem Herzen erhöht hat. Bei einem Namen wäre diese Neu-Erfüllung nicht nur unnötig, sie wäre sogar unmöglich, und zwar, weil der Name »von selbst«, ohne Zutun des Menschen, alles enthält. Dass Canettis »Alles« dennoch dieselbe Stoßrichtung hat wie Juliets Monolog insgesamt, lässt sich mit Hilfe einer zweiten Aufzeichnung plausibel machen. Von Namen ist an dieser Stelle freilich nicht die Rede, aber von ihren Antipoden, den Worten: Ein Mann, der sich nur Worte in neuen Sprachen merkt und die alten allmählich darüber zerbröselt. Er lebt, solange Laute für ihn neuen Sinn bekommen. Er hat die Heiterkeit neuer Bedeutungen und ungeahnter Aussprachen. Er entschlüpft der Tyrannei festgefahrener Bahnen. (V, S. 233)

Durch diese Aufzeichnung können wir uns nun besser vorstellen, warum der Dichter Worte neu erfüllt: Er möchte die Erstarrung ihres Inhalts verhindern. Und er verhindert sie, indem er den Worten eben das verleiht, was Canetti die »Heiterkeit neuer Bedeutungen« nennt. Man muss in den neuen Bedeutungen und den ungeahnten Aussprachen eine Form von Verwandlung in der Sprache sehen. Denn es ist für Canetti eine fundamentale und doch zugleich frustrierende, eine wiederkehrende und immer neu zu bewältigende Erfahrung, dass es »[z]uviel Straßen in der Sprache« gebe, alles sei »vorgebahnt« (IV, S. 236). Es kommt keinesfalls von ungefähr, dass Canetti sich an dieser Stelle abermals der Wegmetaphorik bediente. Wir erinnern uns: In seinen Aufzeichnungen wollte er dem direkten und kürzesten Weg, dem linearen Zusammenhang, durch Rösselsprünge entfliehen. Um solche Sprünge, genauer also: um Verwandlungen ist es ihm auch hier zu tun, das Verb »entschlüpfen«, das einen der Kernvorgänge der Verwandlung bezeichnet, macht es offenkundig.25 Das Ziel dieser Verwandlungen: Vielsinnige Worte26, Worte, die »prall von Bedeutung« sind (V, S. 93).

|| 25 Siehe dazu V, S. 112: »Wenn er sagt, er glaubt an nichts als Verwandlung, so heißt das, er übt sich im Entschlüpfen, wohl wissend, daß er dem Tod noch nicht entschlüpfen wird, aber andere, einmal andere.« 26 Vgl. V, S. 52: »Manche Worte sind so vielsinnig, daß es um ihrer Kenntnis willen allein verlohnt, gelebt zu haben.«

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Die Worte können aber auch durch allzu häufigen Gebrauch erstarren. Canetti beobachtete, dass selbst er, der Wortgläubige27, an der Abnutzung der Worte nicht ganz unbeteiligt war. Er appellierte deshalb an die eigene Moral, sprach ausdrücklich von Missbrauch.28 Im direkten Gegenzug rühmte er die »Unschuld« einiger Wörter, zu denen er das Wort »Unschuld« selber rechnete (IV, S. 485). In diesem Anthropomorphismus zeigt sich noch jetzt, Jahre nach dem endgültigen Bruch, ein Rest von Nähe zu seinem einstigen »Gott« Karl Kraus, der in seinen Aphorismen in drastischer Gegenüberstellung geschrieben hatte: »Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache.«29 Natürlich blieb Canetti nicht bei einer bloßen Diagnose, auch er wollte handeln. Deshalb forderte er zunächst die »Wiederauffüllung eines Wortes durch den, der es entleert hat.« (V, S. 451) Eine Möglichkeit dazu biete die Musik, eine neue Musik, »[…] in der die Töne in schärfstem Gegensatz zu den Worten stehen und die Worte auf diese Weise verändern, verjüngen, mit neuem Inhalt erfüllen.« (IV, S. 137) Überhaupt sei die Musik ein »mächtiges und unbeeinflußtes Reservoir der Freiheit« (IV, S. 31). Über die zweite Möglichkeit, das wissen wir bereits, verfügte seiner Meinung nach der Dichter. Und so ging Canetti mit gutem Beispiel voran. Zu den alten, auf einem bestimmten status quo erstarrten Wörtern gehörte für ihn das Wort »Dichter« selbst. Wie er in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1967 bemerkte, gefiel ihm dieses Wort nicht mehr, und zwar wahrscheinlich, »[…] [w]eil es nicht mehr alles enthielt, was ich von mir verlange« (IV, S. 306). Keine zehn Jahre später füllte er dieses Wort mit neuem Inhalt: in seiner Münchner Rede Der Beruf des Dichters. Dort bestimmte er den Dichter als jemanden, der von Worten außerordentlich viel hält, der gegen ihren Missbrauch aufbegehrt, ihn sich nicht gefallen lässt; der die Worte »befragt und betastet, streichelt, zerkratzt, hobelt, bemalt« und sich dann doch, »nach all seinen intimen Frechheiten«, in genauer Umkehrung der Machtverhältnisse, ehrfürchtig wieder vor ihnen verkriecht (VI, S. 363).

|| 27 »Ich habe mir in einem ziemlich langen Leben die Worte nicht antasten und nicht zerstören lassen. Eine Art von Unschuld bewahrt mich davor, die Worte zu bezweifeln, obwohl ich sehr wohl weiß, was gegen sie gesagt worden ist und wieviel davon erfaßt und verwirrt worden ist. Vielleicht ist es das, was mir vom Bibelglauben geblieben ist, der Glaube an Worte.« (V, S. 313) 28 Vgl. hierzu IV, S. 473: »›Durchsichtigkeit‹ und ›Klarheit‹ sind bei dir zu mißbrauchten Wörtern geworden. Du hast sie zu oft gebraucht. Du mußt neue Wörter für sie finden. Mit Klarheit meinst du Unablenkbarkeit. Mit Durchsichtigkeit meinst du Verzicht auf Wolken.« (Hervorhebungen im Original) 29 Kraus: Aphorismen (wie Kapitel A2, Anm. 8), S. 293.

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Auch als Denker wollte Canetti es sich nicht angenehm und leicht machen. Durch das »Erlernen von immer Neuem« mühte er sich, »private Verhärtungen« aufzulösen (IV, S. 162). Dabei half ihm das Hören, das Sprechen, das Lesen, nicht zuletzt das Reisen. Nach seiner Rückkehr aus Marrakesch erlebte er, dass manche Worte »[…] mit so viel neuer Bedeutung geladen [sind], daß ich sie nicht aussprechen kann, ohne die größten Störungen in mir hervorzurufen.« Diese Worte waren: Bettler, Marrakesch, Juden (IV, S. 199).30 Über diese Wörter, ihren neuen Inhalt, schrieb Canetti ein schmales Buch, das er aber erst vierzehn Jahre später veröffentlichen ließ. Es ist sein erfolgreichstes, sein bis heute beliebtestes Werk: Die Stimmen von Marrakesch.31 Es dürfte nach diesem kleinen Exkurs wesentlich klarer sein, wie man Canettis unbestimmtes Numerale zu verstehen hat. Dass in einem Namen alles sei, bedeutet nichts anderes als dies: Eine »Tyrannei festgefahrener Bahnen«, die große Gefahr der Worte, kann die Eigennamen nicht bedrohen. Der je einzelne Name enthält die verschiedensten Bahnen, und er enthält sie alle zugleich; er ist weit, weiter als alles in der Sprache. Wir werden in den folgenden Kapiteln des ersten Teils zu klären haben, wie man sich das vorzustellen hat. Sicher aber ist schon jetzt: Es gibt, wenn überhaupt, nur wenige Worte, mit denen Namen im Hinblick auf ihre Bedeutungsfülle zu vergleichen sind. Am 11. September 1942 notierte Canetti: »Die hauptsächliche Attraktion mancher Worte besteht darin, dass soviel in sie eingegangen ist: es sind Monstren der Sprache und jeder staunt begierig die Schwellungen ihres Leibes an; das kolossalste Wort dieser Art ist Gott.«32 Doch bereits im folgenden Jahr nahm Canetti den letzten Satz zurück: »Es gibt keine gewaltigen Worte mehr. Man sagt manchmal Gott,

|| 30 Wie ein Blick in den Nachlass zeigt, muss man auch das Wort »Mellah« dazurechnen: »Ich hatte eine wahre Zärtlichkeit für das Wort ›Mellah‹ und es half mir über Manches hinweg, das mir dort unheimlich war. Ich wusste, wie es dort aussah, und doch, wenn ich mir oder andern sagte: ›Ich gehe in die Mellah!‹, klang es friedlich und erwartungsvoll, als hätte ich einen jener wunderbaren Namen ausgesprochen, die manche Orte im südlichen Marokko trugen: Taroudant! war von ihnen der schönste, aber auch andere gefielen mir: Gulimin! Ouarzazat! Tiznit! Telouet! Agadir! Was aber die Mellah anlangt, so hat mir meine unzeitige NeuWissbegier einen bösen Streich gespielt. Ich habe mir einige historische Bücher aus der Bibliothek nach Hause geholt und begann darin zu lesen. Ich stiess, zu meinem Schrecken, auf die Bedeutung des Wortes ›Mellah‹. Ich frage mich, ob ich nun in aller Unschuld noch berichten kann, was ich da sah. […]« Siehe ZB 54.1, ohne Datum (Kurzschrift). 31 Canetti hatte zu dieser Zeit seit längerem eine Art von Blockade. Sie verstärkte sich durch die Trauer um Friedl Benedikt, die am Karfreitag 1953 gestorben war. Mit den Aufzeichnungen nach einer Reise, die später unter dem Titel Die Stimmen von Marrakesch erschienen, löste sich diese Blockade. Vgl. dazu Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 418. 32 ZB 6.

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bloß um ein Wort auszusprechen, das einmal gewaltig war.« (IV, S. 63) Gewaltige Namen aber gibt es noch, und es wird sie immer geben, für Canetti eine Tatsache ohne negative Implikationen. In Anbetracht ihres unermesslichen inneren Reichtums konnten Namen für Canetti gar nichts anderes sein als rätselhaft. Es ist kein Zufall, dass er sie mit dem ebenfalls reichen und grenzenlosen, dem unergründlichen Meeresgrund verglichen hat: Durch die Namen ist mehr da. Man muss es lernen, sie zuweilen zu vergessen, wie das Leben am Meeresgrund, wenn man aufs Meer selber sieht.33

Es war ausgerechnet dieses ›Mehr‹, das Canetti in schwieriger Zeit, unter der Last seiner Studien, Hoffnung schenkte. Während er sich über dreißig Jahre zur konzentrierten Arbeit zwang, zum Studium möglichst vieler Quellen und Berichte zu den Themen Masse und Macht, rief er sich regelmäßig ins Bewusstsein, nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit Namen, dass nicht alles nur eng und beschränkt, nicht alles einfach, sondern auch vielfältig sei. Das war für ihn eine beglückende Erfahrung, vergleichbar den Verwandlungen in seinen Aufzeichnungen. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass er den Namen verfiel. Sie verzückten ihn, weil ihn alle Worte verzückten, »[…] die Raum und Zukunft enthalten, Weite überallhin.« (IV, S. 207) Diese Verzückung belegt auch eine weitere Aufzeichnung aus dem Nachlass: »Herrlich sind die alten Namen, deren Bedeutung man nicht kennt. Es lässt sich alles in sie fassen und sie bleiben doch fremd.«34 Im Unterschied zu den alten Wörtern, die der neugierige Mann aus Canettis Aufzeichnung allmählich zerbröselt, haben alte Namen – und gerade sie – die »Heiterkeit neuer Bedeutungen«. Die meisten sind uns heute fremd, weil wir ihren etymologischen Ursprung nicht kennen. Und einige werden es auch für immer bleiben, weil sich ihre einstige Bedeutung nicht mehr eruieren lässt. Man kann versuchen, sie zu erklären, man kann alles in ihnen sehen, aber man wird ihrer doch nicht Herr. Das Versagen der onomastischen Forschung ist Canettis Zuversicht. Der Name als das größte Rätsel in der Sprache – das liest sich als Absage an die Macht der Wissenschaft und zugleich als Bekenntnis zur ozeanischen Weite des Namens.

|| 33 ZB 7, 13. April 1943 (Hervorhebung im Original). 34 ZB 13, 27. März 1957.

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3.2 Ein Seitenblick auf die Namenstheorie Was würden die Namenforscher dazu sagen? Würden sie, die dem Namen die Bedeutung zumeist absprechen, Canettis Auffassung für unzulänglich halten? Oder lässt sich jemand finden, der sich wie Canetti gegen die Kardinalsehnsucht des Wissenschaftlers nach Präzision wendet und von dem unendlich großen, unbestimmbaren Inhalt jedes Eigennamens überzeugt ist? In der Tat gibt es innerhalb der Sprachwissenschaft eine Theorie, die Canettis Gedanken nicht ganz fern zu liegen scheint. Sie wird vertreten etwa von Ernst Pulgram35 und vor allem von Hartwig Kalverkämper.36 Für unsere Zwecke lässt sie sich, unter Vernachlässigung sämtlicher argumentativer Feinheiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen, in wenigen Worten zusammenfassen: Anders als bei Appellativen habe bei Namen die Menge aller Eigenschaften und Merkmale, die sogenannte Intension37, maximale Größe; sie gehe gegen unendlich. Soweit die Theorie.38 Die Frage ist, ob Canetti, der Sprachenthusiast, der Selbstdenker, wirklich zu dem gleichen Ergebnis gelangt ist wie einige Angehörige eben jener Zunft, deren nüchterner, professioneller Umgang mit Sprache ihm gegen den Strich ging. Die Antwort lautet: Nein. Canettis Vorstellung von der unerschöpflichen Weite des Namens ist mit dem Begriff der unendlich großen Intension nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wie der letzte zitierte Satz seiner Aufzeichnung vom 26. Oktober 1956 zeigt, vertritt Canetti die Meinung, dass Namen »von selbst« eine unendlich große Inhaltsmenge haben. Die Intension eines Namens dagegen ist dynamisch.39 Zunächst, so Friedhelm Debus, sei jeder Name wie eine Leerformel: Er enthalte nichts, nicht einmal die Etymologie seiner

|| 35 Ernst Pulgram: Theory of Proper Names. In: Beiträge zur Namenforschung 5 (1954), S. 149– 196, hier S. 187. 36 Vgl. Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 63. 37 Der Begriff Intension geht zurück auf Rudolf Carnap: Bedeutung und Notwendigkeit. Wien, New York: Springer 1972 (Library of exact philosophy; 6). 38 Zur Kritik an der Auffassung von einem besonderen Bedeutungsreichtum des Namens vgl. schon Wimmer: Der Eigenname im Deutschen (wie Kapitel A1, Anm. 30), S. 76. 39 Vgl. dazu auch die Definition des Begriffs »Bedeutung« in Stephen Ullmann: Grundzüge der Semantik. Die Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Sicht. Deutsche Fassung von Susanne Koopmann. Berlin: de Gruyter 1967, S. 65: »Die Bedeutung ist eine Wechselbeziehung zwischen Name und Sinn, die ihnen die gegenseitige Vergegenwärtigung ermöglicht.« (Im Original gesperrt) Mit dieser Definition, die sich nicht auf Eigennamen, sondern auf Worte bezieht, macht Ullmann aus »Bedeutung« einen funktionalen Begriff; »[…] die Bedeutung wird zu einer Beziehung und damit ihrem Wesen nach dynamisch.« Dem Eigennamen spricht Ullmann – in der Nachfolge John Stuart Mills – die Bedeutung gleichwohl ab (Vgl. ebd., S. 68f.).

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Bestandteile sei für die Menschen von Belang. Bei der Namengebung werde diese Leerformel einem Individuum zugeordnet; von da an erst fülle sich der Name mit einem Inhalt.40 Dieser Inhalt besteht – Hartwig Kalverkämper hat es gezeigt – in der Hauptsache aus Konnotationen; darunter versteht Kalverkämper persönliche Erfahrungen mit dem Namenträger.41 Diese Konnotationen sind so mannigfaltig wie die Menschen selbst. Sie sind bald mehr, bald weniger differenziert; immer jedoch sind sie an eine konkrete Situation gebunden. An einem Beispiel aus der alltäglichen Lebenswelt veranschaulicht Klaus Hilgemann, wie solche Konnotationen entstehen.42 Man stelle sich die folgende Szene vor: Auf einer Party kündigt der Gastgeber einen Mann an, den keiner der Anwesenden je getroffen hat; er heißt Netzer. Es dauert nicht lange, da erscheint dieser Mann, ein rundlicher Herr, und mischt sich unter die Gäste. Diese nehmen ihn in den folgenden Stunden recht unterschiedlich wahr: Einige bemerken, dass Herr Netzer während des ganzen Abends ununterbrochen isst, anderen geht sein ständiges Reden auf die Nerven, wieder andere behalten ihn als Tölpel in Erinnerung, weil sie beobachtet haben, dass er sich ein Glas Wein über den Anzug geschüttet hat. Bei einem späteren Wiedersehen mit Herrn Netzer reaktiviert sich bei jedem zunächst die damalige persönliche Konnotation, sie wird dann aber womöglich neutralisiert, sofern Herr Netzer sich plötzlich und gegen seine vermeintliche Natur reserviert verhalten sollte. Neue Konnotationen, als individuell-emotionale Merkmale des Namens, werden sich dann bilden, sie werden allerdings die alten nicht restlos verdrängen. So geht es fort und fort, der Inhalt des Namens wächst und wächst, desto schneller, je mehr Menschen sich mit dem Benannten beschäftigen. Nach Hartmut Kalverkämper könne es darum bei Eigennamen »keine homogene und allgemein-verbindliche und im pragmatischen Bereich auch zeitlich nicht begrenzte, also geschlossene || 40 Vgl. Debus: Namen in literarischen Werken (wie Einleitung, Anm. 111), S. 24. 41 Vgl. Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 390: »Aber im allgemeinen dominieren für die Intension doch die auch quantitativ sicherlich stärker vertretenden persönlichen Erfahrungen mit dem Namenträger.« Zum Begriff der Konnotation vgl. etwa Koss: Namenforschung (wie Einleitung, Anm. 31), S. 67. Danach handelt es sich bei der Denotation um Eigenschafts-, bei der Konnotation um Ereigniswissen. Konnotationen resultieren dabei sowohl aus »Momenten der Sprachgemeinschaft (soziolektisch/dialektisch) als auch aus individuellen Momenten (idiolektisch) rationaler und emotionaler Art«. Vgl. Klaus Hilgemann: Eigennamen und semantische Strukturen. In: Beiträge zur Namenforschung N.F. 9 (1974), S. 371–385, hier S. 383. Zur Kritik an der Verknüpfung der Begriffe »Inhalt« (bzw. Bedeutung) und »Konnotation« vgl. z.B. Nübling, Fahlbusch und Heuser: Namen (wie Einleitung, Anm. 38), S. 37: Konnotationen stellen keine festen Bedeutungen dar, wie sie den Appellativen zukommen. 42 Vgl. Hilgemann: Eigennamen und semantische Strukturen (wie Anm. 41), S. 384f.

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Merkmalbündelung«43 geben. Der Name enthält, weniger umständlich gesagt, alles, aber nicht als Faktum, sondern als Futurum; er bedarf der Erfüllung durch die Menschen. Und je bekannter ein Name ist, je mehr Menschen ihn mit ihren persönlichen Konnotationen erfüllen, desto umfangreicher ist sein Inhalt.44 Namen wie Bismarck und Napoleon haben darum, so Dieter Lamping, ein »großes kommunikatives Potential«45. Noch deutlicher formuliert ist dieser Gedanke in der Studie des Slawisten Ernst Hansack. Den Begriff der Intension verwendet Hansack dabei ebenso wenig wie Klaus Hilgemann. Gleichwohl ist auch er, ermuntert durch die Ergebnisse der modernen Kognitionspsychologie, davon überzeugt, dass der Inhalt des Namens nicht zu beschränken sei. Er argumentiert so: Anders als man lange wähnte, stehen Namen nicht für einen Gegenstand, sondern für eine »Informationsmenge über einen Gegenstand«46. Der Name sei ein »Zugriffsindex auf unseren Bestand an Kenntnissen über das betreffende Objekt«. Der Umfang der unter diesem Index gespeicherten Datenmenge sei wegen der »Echtzeitverarbeitung unserer Sinneseindrücke« und des »probabilistische[n] Speicherverfahren[s]« von Zugriff zu Zugriff verschieden. Bei jedem Menschen sei die Menge anders zusammengesetzt, außerdem werde sie fortwährend ergänzt.47 Aus diesem Grund lasse sich ein Name niemals vollständig beschreiben.48 Nach Hansack sind es also die Köpfe der Menschen insgesamt, die alle Merkmale des Benannten enthalten und die ständig neue Merkmale bilden; es ist das Kollektiv der Gedächtnisse, das den Namen auf niemals ganz durchsichtige, wissenschaftlich erschließbare Weise erfüllt. Der Name selbst ist ein sprachökonomisches Hilfsmittel, eine Sigle, hinter der sich ein erst noch zu schreibendes, aber niemals abzuschließendes Buch verbirgt.

|| 43 Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 390. Vgl. auch Klaus Hilgemann: Die Semantik der Eigennamen. Untersuchungen zur Struktur der Eigennamenbedeutung anhand von norwegischen Beispielen. Göppingen: Kümmerle 1978 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 237) [zugl. Münster, Univ.-Diss 1976], S. 37. 44 Vgl. Hilgemann: Eigennamen und semantische Strukturen (wie Anm. 41), S. 382; ders.: Die Semantik der Eigennamen (wie Anm. 43), S. 37. 45 Dieter Lamping: Der Name in der Erzählung. Zur Poetik der Personennamen. Bonn: Bouvier 1983 (Wuppertaler Schriftenreihe Literatur; 21), S. 38. 46 Vgl. Hansack: Der Name im Sprachsystem (wie Einleitung, Anm. 55), S. 211. 47 Vgl. ebd., S. 217. Hansack spricht von einem »offene[n] Informationsbestand«, im Gegensatz zum abgeschlossenen Informationsbestand der Appellativa, der nur gelegentlich korrigiert und angepasst werde (Vgl. ebd., S. 233). 48 Vgl. ebd., S. 228.

Ein Seitenblick auf die Namenstheorie | 93

Mit Canettis Erfahrungen verträgt sich diese These denkbar schlecht. Die Forscher, die sich zu ihr bekennen, denken bei Namen an Erweiterung und er an Weite – eine absolute Weite, die er selbst gern gehabt hätte und durch permanente Verwandlungen zu erreichen suchte. Auch die Wortwahl ist auf bezeichnende Weise diskrepant: Während Hansack vom Namen, höchst prosaisch, als einem »Zugriffsindex« spricht, den der Mensch zur besseren Organisation seines Wissens im Gehirn anlege, gesteht Canetti, geradeso schwärmerisch wie die frisch verliebte Juliet, er sei den Namen verfallen. Vehement hätte er sich gegen den Begriff »Zugriffsindex« gewehrt und gegen die gesamte dahinterstehende Auffassung. Seine Erlebnisse mit Namen sagten ihm das Gegenteil: Der Name ist ein Faszinosum. Undenkbar für ihn, dass man einen Namen ablegen könne wie ein altes, verschlissenes, über die Jahre zu eng gewordenes Kleidungsstück.49 Dazu hat der Name einen zu großen Einfluss auf den Geist. Das ist nun alles sehr merkwürdig: Canetti, der die Phänomenologie der Macht studierte; er, der die Machthaber hasste und dem man doch allzu gerne unterstellt, er sei selbst ein Machthaber gewesen50; er, ein Experte der Macht in vielerlei Hinsicht, der die »Tyrannei festgefahrener Bahnen« nicht akzeptieren konnte und wollte – dieser Canetti scheint sich widerstandslos, um nicht zu sagen: glücklich einer Macht unterstellt zu haben, und zwar der Macht des Namens. Hielt er Namen vielleicht gerade aus diesem Grund für rätselhaft? War es || 49 Die folgende Aufzeichnung aus dem Nachlass schildert eine Verwandlung und hängt wahrscheinlich mit dem Problem der öffentlichen Person zusammen, das Canetti schon beschäftigte, als er selbst noch keinen berühmten Namen besaß. Sie spielt die in den Aufzeichnungen vielfach erwogene Möglichkeit eines Identitätswechsels durch. »Die Freunde, die jeden zweiten Tag Namen und Kleider miteinander tauschen.« (ZB 11, 11. Januar 1950) Ähnlich eine wenige Monate später entstandene Aufzeichnung: »Zwei Brüder, die sehr verschieden sind, tauschen ihre Namen aus und leben so glücklich weiter.« (ZB 11, 11. April 1950) 50 Vgl. dazu etwa Gerhard Melzer: Der einzige Satz und sein Eigentümer. Versuch über den symbolischen Machthaber Elias Canetti. In: Bartsch und ders. (Hg.): Experte der Macht (wie Einleitung, Anm. 81), S. 58–72, hier S. 60: »Einem gottähnlichen Richter gleich verfügt er Erlösung oder Verdammung, und der Ort, wo seine Richtersprüche wirksam werden, ist das Werk.« Siehe auch im selben Band den Aufsatz von Witte: Der Einzelne und seine Literatur. Die Darstellung Hermann Brochs in Canettis Autobiografie kommentiert Witte wie folgt: »Die hämische Überlegenheit, mit der der Überlebende dabei seinen Lehrer von der ›Unmöglichkeit einer Massenpsychologie‹ sprechen und ihn so das eigene Spätwerk im vorhinein verurteilen läßt, ist ein strategischer Trick im literarischen Machtkampf, dessen man den Autor von Masse und Macht gerne für unfähig gehalten hätte.« (Ebd., S. 21) In dieselbe Kerbe schlägt Sigrid SchmidBortenschlager – ebenfalls in diesem Band – mit ihrem Aufsatz: Der Einzelne und seine Masse. Massentheorie und Literaturkonzeption bei Elias Canetti und Hermann Broch, S. 116–132, bes. S. 124f.

94 | Was ist in einem Namen?

die Anziehungskraft, die er spürte, aber nicht erklären konnte, die Namen für ihn zu einem Rätsel machte? Es wird an dieser Stelle noch etwas komplizierter: In der Aufzeichnung über die alten Namen schreibt Canetti, alles lasse sich in diese fassen. Nun ist der Vorgang der Einfassung, von dem er an dieser Stelle spricht, zweifellos eine Tätigkeit von Seiten des Menschen. Wie verhält sich das aber zu der Behauptung, im Namen sei »von selbst« alles enthalten? Machen wir uns das Problem an einem Wort klar, das wir alle kennen. Es ist das Wort »Romantik«, Canetti hielt es für ein sehr vielschichtiges Wort: »Romantik« lebt von den vielen und sehr verschieden gearteten Worten und Wortresten, die es in sich enthält: Rom, Roman, Mantik, Antik, Tik, Oman, man, Romant (als Rest von »Chiromant« etwa), an, ant, anti, ti – wenig Worte sind von Bedeutungen so förmlich vollgeladen.51

»Romantik« hat, wenn man von »Roman« einmal absieht, mit all diesen Worten und Wortresten nichts zu tun. Unter sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die ganze Aufzählung absurd. Canetti selbst, so der Vorwurf, ist derjenige, der dem Wort seine verschiedenen Bedeutungen verleiht, sie gehören keineswegs zu dessen Etymologie. Und doch scheint es, als sei das Wort schon immer, ohne Canettis Zutun, mit allen diesen Bedeutungen erfüllt. Was hingegen stimmt? Ist die Erfüllung, die Canetti bei Namen voraussetzt, eine Erfüllung von dieser Art und dann also doch eine nachträgliche Erfüllung? Und hätte Juliet womöglich, in Canettis Lesart, den Namen Romeo überhaupt nicht selbst erfüllt, sondern sich in ihrer Deutung lediglich ein Wort – Rosmarin – zu Eigen gemacht, das der Name bereits enthält? Wir kommen an dieser Stelle nicht umhin, die Wirkung des Namens auf Canetti noch genauer zu untersuchen als bisher. Um den menschlichen Handlungsspielraum zu ermessen, müssen wir dabei vor allem prüfen, ob der Name eine Macht in Canettis Sinne ist.

|| 51 ZB 5a, 15. November 1939.

4 Der Zauber des Namens 4.1 Namensorgien Kann man sich an Namen berauschen? Canetti konnte es. Mit weit über achtzig, 1992, sprach er von der »Namensorgie der heutigen Abendlektüre« (V, S. 368). Was war geschehen? Er hatte zuvor lange in den Pariser Erinnerungen der Misia Sert1 gelesen und dabei etliche Namen aufgenommen. Wir kennen dieses Verhalten bereits, neu ist aber die Deutung: Kein Fleiß ist es, vielmehr eine Orgie. An einer anderen Stelle ist die Formulierung noch deutlicher, Canetti nahm dabei freilich an, seine eigene Schwäche für Namen sei ein allgemein verbreitetes Phänomen: »Man möchte sich fragen, was den Menschen so namensüchtig macht, warum er ihnen verfällt, von innen wie von außen.« (V, S. 169) Im Unterschied zu Goethes Faust waren Namen für Canetti also nicht bloß »Schall und Rauch«, sondern ein Schall, dem er zuhören musste, und ein Rauch, der die Sinne benebelte. Gerade deshalb hat Sven Hanuschek von einem »Namensfetischismus« gesprochen.2 Dieser Namensfetischismus prägte den Selbstdenker auf seltsam dialektische Art tatsächlich sein Leben lang. Bereits in der frühen Kindheit machte er sich bemerkbar. Der Ort: London, das Jahr: 1913, im Monat Mai. Der Vater ist seit Oktober des vorigen Jahres tot. Mathilde Canetti hält nun nichts mehr in Manchester, sie bereitet die Übersiedlung nach Wien vor. Die Fahrt geht über London, Victoria Station. Der Trubel der Millionenstadt, das Gewusel der Menschen, die zu ihren Zügen eilen – all das macht großen Eindruck auf den bald achtjährigen Elias. Doch mehr noch interessiert ihn der Name des Bahnhofs. Er hat zuvor schon von Queen Victoria gehört, erinnert sich aber vor allem an eine Tante in Manchester, die ebenfalls Victoria heißt. Deshalb möchte er Näheres über den Namen wissen. Die Mutter hat unterdes ganz anderes im Kopf, sie muss ihre drei Kinder im Auge behalten und zugleich das Gepäck bewachen. Kurzum: Im Augenblick vermag sie nicht zu antworten. Sie zeigt sich sogar sehr verärgert über die Hartnäckigkeit ihres Sohnes, der das Fragen nicht sein lässt, und vertröstet ihn brüsk auf später. Canetti überliefert diese spätere Antwort nicht, er deutet nicht einmal an, ob die Mutter ihm überhaupt etwas sagte. Aber wir erfahren, dass Namen für ihn schon damals eine »wahre Obsession« gewesen seien.3

|| 1 Den Titel Die Fliegenpein hat Canetti diesem Buch entnommen. Siehe V, S. 98. 2 Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 90. 3 ZB 58, 14. August 1971.

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Wie sich diese Obsession später, in Wien, bemerkbar machte, ist summarisch bereits dargestellt worden: Bei der Lektüre der Sagen des klassischen Altertums fing Canetti an, sich intensiv mit Namen zu beschäftigen und sie nach seinen augenblicklichen Eindrücken in zwei Gruppen zu sortieren. Es ist jetzt an der Zeit, diese Stelle genauer anzuschauen. Canetti bezieht sich dort auf die Namen der Ilias: An Helenas Schönheit zweifelte ich, die Namen des Menelaos wie des Paris waren mir gleich lächerlich. Überhaupt war ich von Namen abhängig, es gab Figuren, die ich wegen ihrer Namen allein verabscheute, und andere, die ich für ihre Namen liebte, noch bevor ich ihre Geschichten erfahren hatte: zu diesen gehörten Ajax und Kassandra. Wann diese Abhängigkeit von Namen entstand, vermag ich nicht zu sagen. Sie wurde unbezwinglich bei den Griechen, ihre Götter schieden sich für mich in zwei Gruppen, in die sie durch ihre Namen und seltener nur durch ihren Charakter gerieten. Ich mochte Persephone, Aphrodite und Hera, nichts was Hera tat, befleckte mir ihren Namen; ich mochte Poseidon und Hephaistos – Zeus hingegen, aber auch Ares und Hades war mir zuwider. (VII, S. 118f.)

Auch hier fällt ein Wort (als Lexem und Derivat), das sich wie »Orgie« und »Obsession« dem Wortfeld »Sucht« zuordnen lässt: Es ist eine »Abhängigkeit«, die Canetti bei sich selber diagnostiziert. Und wie er kurz danach ergänzen wird, ist es sogar eine »durch nichts zu beeinflußende Abhängigkeit«, die er als »etwas wahrhaft Fatales«, als »Schicksal« empfindet (VII, S. 119). Die Pointe ist merkwürdig: Für Canetti scheint es, sobald er mit Namen zu tun bekommt, ebenso wenig Handlungsfreiheit zu geben wie für die »star-crossed-lovers«4 Romeo und Juliet. Das allerdings ist höchst eigenartig bei einem Mann, der sich in seinem Leben so sehr nach Freiheit sehnte wie er. Nun mag man wahrscheinlich nicht so recht glauben, dass Namen Canettis Haltung zumeist ganz »allein« bestimmten. Tatsächlich mangelt es nicht an Gegenbeispielen, wo der Charakter, die Geschichte hinter dem Namen, den Ausschlag für die Bewertung des Namens gegeben hat. Kurz zuvor beispielsweise kommt Canetti auf seinen Abscheu vor Agamemnon zu sprechen, und dabei nennt er auch sein Motiv: Der mächtige König der Mykener habe seiner Tochter Iphigenie nicht verboten, ihr Leben als Opfer darzubringen. Bei einem TodFeind wie Canetti muss Agamemnon damit zwangsläufig auf den heftigsten Widerwillen stoßen, auch wenn Iphigenie schließlich doch am Leben bleibt. Ähnlich verhält es sich vermutlich mit Ares, dem Gott des todbringenden Krieges. Es wäre außerdem möglich, dass die Herkunft dieses Namens aus dem griechischen »ara«, Fluch, Verwünschung, Canettis Empfinden latent beein-

|| 4 Prologue, V. 6. Zitiert nach der in Kapitel A3, Anm. 15 genannten Ausgabe.

Namensorgien | 97

flusst hat.5 Zwar war er des Griechischen nicht mächtig, er könnte aber die etymologische Ableitung des Namens irgendwo gelesen oder gehört haben; immerhin schreibt er aus der Rückschau, als Erwachsener. An Helenas Schönheit wiederum könnte er Zweifel haben, weil er sie unausgesprochen verantwortlich dafür machte, dass so viele hervorragende Männer vor den Mauern Trojas ihr Leben ließen; für Menelaos und Paris würde dann dasselbe gelten. Und zuletzt noch ein ganz anderer Grund: Sven Hanuschek versteht Canettis lobende Worte für Hera, die Göttermutter, sicher zu Recht als »kleine Hommage an seine zweite Frau«6. Sein Empfinden war demnach nicht grundlos. Es gibt allerdings auch genügend weitere Namen, bei denen solche Gründe nicht zu finden sind oder eine Begründung seltsam erscheint. Zu Poseidon etwa schreibt Canetti: »Poseidon, herrliches Wort. Donner des rettenden Meeres.« (IV, S. 419) Er mag hier daran gedacht haben, dass der Meeresgott Poseidon auch als Erderschütterer und Herr der (mit ihren Hufen donnernden) Pferde gilt, für das dem Meer zugeordnete Partizipialadjektiv ›rettend‹ allerdings fehlt jede Erklärung. Die vorgebrachten Argumente würde Canetti vermutlich nicht einmal von sich weisen: Natürlich habe er beim Schreiben an seine Frau Hera gedacht. Er würde aber vor schnellen Schlussfolgerungen warnen. Denn in Wirklichkeit kam es ihm auf die Häufigkeit und, wie eine Aufzeichnung aus Das Geheimherz der Uhr zeigt, auf die Gewichtung an. Auch dort dreht sich alles um griechische Namen, um Kolchis und Medea, Odysseus, Polyphem und Kalypso, um Nausikaa und Penelope, die Canetti während seiner gesamten Jugend nicht leiden konnte. Und dann heißt es: Ich glaube, es liegt an den Namen selbst, nicht an den mit ihnen verbundenen Geschichten. Bei Polyphem hat immerhin mitgespielt, daß Odysseus sich für ihn zum Niemand machte. Menelaos war mir wegen seines Namens so lächerlich wie Paris. Tiresias fand ich herrlich. Ich will den Namen der Odyssee nachgehen und ihre Ursprünge in mir finden. (IV, S. 402)

Das meiste in dieser Aufzeichnung ist uns schon bekannt. Im zweiten Satz steht das für den momentanen Zusammenhang wichtigste Wort: mitgespielt. Was Canetti etwa an Robert Walser7 bewunderte, die Verwandlung in das || 5 Vgl. dazu Wilhelm Schmidt: Die Bedeutung des Namens in Kult und Aberglauben. Ein Beitrag zur vergleichenden Volkskunde. Darmstadt: Otto's Hofbuchdruckerei 1912 (Beilage zum Jahresbericht des Grossherzoglichen Ludwig-Georgs-Gymnasiums und der Vorschule der beiden Gymnasien zu Darmstadt; 923), S. 15. 6 Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 61. 7 Vgl. IV, S. 300: »›Ich kann nur in den untern Regionen atmen.‹ Dieser Satz von Robert Walser wäre das Losungswort der Dichter.«

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Kleinste, das rühmte er auch an Homers Odysseus. Es ist die Fähigkeit, sich den Mächtigen zu entziehen. Doch ausschlaggebend für seine Meinung war sie anscheinend nicht. Sie hat zu seiner Sympathie beigetragen, mehr nicht – aber auch nicht weniger. Canettis Empfindungen lassen sich rational nicht vollkommen bewältigen. Was aber ist das Entscheidende? Was also bedeutet: Es liegt an den Namen »selbst«? In einem Aufsatz über Namen weist der Schriftsteller Ernst Penzoldt darauf hin, dass Luther im Bibelvers: »[…] wer zu seinem Bruder sagt Racha! der ist des Rats schuldig [...]« (Mt 5,22) das hebräische Wort nicht übersetzt habe. Seine Erklärung: »Auch wenn ich die Bedeutung von Racha nicht kenne, im Klang schon liegt der Schimpf.«8 Der Satz eröffnet uns eine Möglichkeit, Canettis Abhängigkeit von Namen besser zu verstehen. Zunächst als Frage formuliert: Haben Canettis Empfindungen, haben Sympathie und Antipathie mit dem Klang des Namens zu tun? Canetti selbst hat sich dazu geäußert. Unter den nachgelassenen Niederschriften zu Die gerettete Zunge befindet sich auch diese, leider abgebrochene Notiz; sie hätte am Schluss des Kapitels »Unter großen Männern« stehen sollen: Ich wollte, es wäre mir möglich zu schildern, wie Namen von einem Besitz ergreifen. Es ist ein Prozess eigentümlichster Art, sein Verlauf hängt auch von den Namen als solchen ab, ihrem Klang, ihrer Wucht, ihrer Länge, ihrer Kürze, aber natürlich auch von den Inhalten, mit denen sie sich in ihren besonderen Fällen erfüllt haben, jeder Name, darin besteht für mich kein Zweifel, hat das Zeug zur Verzauberung in sich. Wird er häufig genug ausgesprochen, so blüht dieser Zauber auf. Zwar sind Namen nicht so unverwechselbar wie Menschen...9

Zwei Stellen, zwei Wörter, »ergreifen« und »Zauber«, sind in dieser Passage von größter Bedeutung. Wir wollen sie nacheinander betrachten, obwohl sie eigentlich zusammengehören, wie sich in Kürze zeigen wird. Zunächst zum ersten Wort und zum ersten Befund: Canetti verwendet das Verb als Bestandteil der alltäglichen Wendung »Besitz ergreifen«. Soweit nichts Besonderes. Indes: Er benutzt dieses Verb oder bedeutungsähnliche Verben auch an anderen Stellen, an denen er über Namen spricht. In »Medea und Odysseus«, jenem Kapitel über die »Abhängigkeit von Namen«, schreibt er: »Medea ergriff mich mit einer Gewalt, die ich nicht ganz verstehe, und noch weniger, daß ich sie der Mutter || 8 Ernst Penzoldt: Magie der Namen. In: Westermanns Monatshefte 93 (1952/53), H. 6, zitiert nach Karlheinz Daniels: Über die Sprache. Erfahrungen und Erkenntnisse deutscher Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie. Bremen: Schünemann 1966 (Sammlung Dieterich; 311), S. 174–178, hier S. 177. 9 Privatbesitz K 28, Unpublizierter Schluss des Kapitels »Unter grossen Männern«.

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gleichsetzte.« (VII, S. 117) Noch schärfer seine Wortwahl wenig später: »Ich kannte damals keine Menschen, die griechische Namen trugen, so waren sie mir alle neu und überfielen mich mit gesammelter Kraft.« (VII, S. 119) Und im Nachlass stoßen wir schließlich auf diese Stelle: Die konzentrierte Gewalt von Namen und Sätzen ist ein Erlebnis, das sich mir in den letzten Jahren sehr gehäuft hat. Bei Gérard de Nerval habe ich meinen Frieden mit Wien gemacht. Bei Lichtenberg bin ich Hamlet, dem ich zeit meines Lebens aus geheimnisvollen Gründen auszuweichen verstand, plötzlich im Kernsatz aller Schwermut so begegnet, dass meine eigene Schwermut von mir abgefallen ist und ich mich kräftig und zu jeder Tätigkeit bereit fühle. Vielleicht war meine jahrelange Begierde nach den Namen der fremden Götter nichts als der Weg zu diesem selben Erlebnis. Die Namen sind der Sinn und die Seele der Geschöpfe, und sie sind sich im Grunde alle fremd.10

Kraft, Gewalt, Überfall, Begierde – das alles sind Worte, die mitzudenken sind, wann immer Canetti von Ergriffenheit spricht. Aber auch das Rätsel des Namens spielt wieder eine Rolle. Canetti versteht die Gewalt nicht, mit der er ergriffen wird. Die Namen sind ihm neu; er hält sie alle für fremd, obwohl sie ihm als Seele der Geschöpfe erscheinen. So verdichten sich allmählich die Anzeichen: Das Rätsel des Namens muss mit dieser Ergriffenheit zu tun haben. Und Namen müssen eine Macht in Canettis Sinne sein. Es bleibt allerdings bis auf weiteres offen, ob sich der Mensch etwa nur ergreifen, nur in steter Abhängigkeit halten lässt oder ob er sich der Kraft des Namens auch selbst und für seine Zwecke bedienen kann. Nicht zufällig fällt das Verb »ergreifen« in diesen beiden Aufzeichnungen auch aus einem anderen Grund. Es gehört zu den Worten, die Canetti in Masse und Macht selbst mit Bedeutung füllt. Sein Buch enthält ein kleines Kapitel über das »Ergreifen und Einverleiben« – zwei Vorgänge, die Canetti zu den ›Eingeweiden der Macht‹ zählt: Es [das Wort »Ergriffenheit« – A.S.] drückt das Vollständige und ganz Eingeschlossene aus, in Verbindung mit einer Kraft, auf die man keinen Einfluß hat. Der ›Ergriffene‹ ist von einer Riesenhand gepackt, von ihr ganz eingefaßt und tut nichts, um sich gegen sie, deren Absichten er nicht kennen kann, zu wehren. Es liegt nahe, den entscheidenden Akt der Macht dort zu finden, wo er seit altersher unter Tieren wie Menschen am auffallendsten ist: eben im Ergreifen. […] Das Lauern, der Sprung, das Einschlagen der Tatzen, das Zerfleischen, alles ist bei ihnen noch in einem beisammen. Die Wucht dieses Vorgangs, seine Unerbittlichkeit, die Sicherheit, mit der er ausgeführt wird, die nie angezweifelte Überlegenheit des Ausführenden, die Tatsache, daß, was immer er will, das Verschiedenste ihm zur Beute werden kann: alles trägt zu seinem gewaltigen Ansehen bei. Von welchem

|| 10 ZB 13, 24. April 1956.

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Standpunkt immer man es betrachtet, hier ist Macht in höchster Konzentration. (III, S. 241)

Gewiss: In diesem Kapitel, wo von Löwen und Tigern, Fliegen und Flöhen die Rede ist, mag das ganz konkret gemeint sein. Doch »Ergreifen« lässt sich, wie im selben Kapitel der Hinweis auf solch geflügelte Worte wie »Er gab ihn in seine Hand« oder »Er ist in Gottes Hand« auch metaphorisch verstehen und verwenden. An einer Stelle – wir werden später noch darauf zurückkommen – spricht Canetti in diesem metaphorischen Sinn, er gebraucht dabei ein substantiviertes Verb, das uns gerade erst in Masse und Macht begegnet ist: »Das Lauern der Namen«11. In einer Aufzeichnung vom 8. Juni 1945 kommt es dann terminologisch endlich unmissverständlich ans Licht, was Canettis Ergriffenheit, seine Abhängigkeit, seine Obsession, seine Namenssucht zu bedeuten haben: »Die Macht der Namen erforschen, nicht bloss erfahren.«12 Auch wenn Canetti in seinen Texten zumeist nicht von Macht, sondern von Kraft spricht: Namen haben für ihn nicht nur Kraft und Gewalt, sie verfügen ebenso sehr über jene Macht, die »allgemeiner und geräumiger« ist als die Gewalt und vor allem – wir denken an Canettis lebenslange Obsession für Namen – wesentlich geduldiger.13 Auf unwiderstehliche Art bemächtigen sie sich des Geistes, der Sinne, des ganzen Menschen. Das ist eine Erfahrung, die zugleich alt ist und neu, zugleich vertraut und fremd: »[D]ass ein Name eine Aura besitzt, eine Physiognomie, dass er Eigenschaften trägt oder vermuten läßt, dass er Gefühle hervorruft«, gehört, wie Siegfried Lenz meint14, zu den Selbstverständlichkeiten unseres Lebens. || 11 ZB 11, 19. April 1951 (Hervorhebung im Original). 12 ZB 8. 13 Vgl. dazu III, S. 333: »Macht ist allgemeiner und geräumiger als Gewalt, sie enthält viel mehr, und sie ist nicht mehr ganz so dynamisch. Sie ist umständlicher und hat sogar ein gewisses Maß von Geduld.« 14 Siegfried Lenz: Weder Schall noch Rauch. Etwas über Namen. In: Ders.: Essays 2: 1970– 1997. Hamburg: Hoffmann und Campe 1999 (Werkausgabe in Einzelbdn.; 20), S. 205–222, hier S. 211. Auch Ingeborg Bachmann schreibt dem Namen eine »Aura« zu. Vgl. Bachmann: Vom Umgang mit Namen (wie Kapitel A3, Anm. 9), S. 238. Walter Benjamin bestimmt den Begriff der Aura an mehreren Stellen seines Werkes, etwa in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. »Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit, einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« Zitiert nach: Gesammelte Schriften. I.2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 440 und 479. Canettis »Zauber« hat mit Benjamins »Aura« das paradoxe Moment gemein, das Zugleich von Nähe und Ferne. Der Name, als das Vertrauteste in der Sprache, wird

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Seit einigen Jahrzehnten wird die Wirkung der Namen, man spricht vom »Gefühlswert«15, sogar wissenschaftlich untersucht. Die noch relativ junge Disziplin – man kann sie Psychoonomastik nennen – arbeitet mit empirischen Methoden.16 Ihre Forschungsarbeiten – wiewohl die Testverfahren im Einzelnen diskutabel sind17 – zeigen auf insgesamt überzeugende Weise: Die Beurteilung von Namen unterliegt einer »Art von kollektiver Intention«18. Als schön wird ein Name empfunden: erstens, wenn er einen für den Hörer angenehmen Klang besitzt, und zweitens, wenn er positive Assoziationen zu wecken vermag.19 Ger-

|| unversehens fremd und rätselhaft; er rückt gleichsam in die Ferne. Doch durch den Zauber des Namens wird diese Distanz überbrückt; der Mensch fühlt sich magisch angezogen. 15 Witkowski: Grundbegriffe der Namenkunde (wie Kapitel A1, Anm. 31), S. 32. 16 Vgl. Torsten Hartmann: Ein empirischer Beitrag zur Psychoonomastik. In: Friedhelm Debus und Wilfried Seibicke (Hg.): Anthroponyme. Hildesheim, Zürich und New York: Olms 1993 (Reader zur Namenkunde; 2/Germanistische Linguistik; 115–118), S. 73–92, hier S. 73. Die Aufgabe der Psychoonomastik ist die Untersuchung der Konnotationen, die Personennamen hervorrufen. Einschlägig zu diesem Thema sind die beiden folgenden Arbeiten: Gerhard Eis: Tests über suggestive Personennamen in der modernen Literatur und im Alltag. In: Beiträge zur Namenforschung 10 (1959), S. 293–308 und Reinhard Krien: Namenphysiognomik. Untersuchungen zur sprachlichen Expressivität am Beispiel von Personennamen, Appellativen und Phonemen des Deutschen. Tübingen: Niemeyer 1973. 17 Vgl. dazu etwa Hartmann: Ein empirischer Beitrag zur Psychoonomastik (wie Anm. 16), S. 73. Hartmann beanstandet vor allem den Testaufbau und die Datenanalyse: Methodisch zieht er dem Polaritätsprofil die semantische Differential-Technik vor. Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 109 vermisst bei Krien zu Recht jeglichen Hinweis darauf, ob außersprachliche Faktoren als »pragmatische Komponenten« an den »Assoziations-Profilierungen« beteiligt sind. Für besonders bedenkenswert halte ich den Einwand von Rainer Frank, der statt von Namenphysiognomik allerdings vom Image des Namens spricht: Ein solches Image, so Frank, könne konstant sein, im Regelfall gebe es aber Differenzen etwa zwischen einer ersten und einer zweiten Befragung. Vgl. dazu: Das Image von Rufnamen. Eine Studie zur empirischen Psychoonomastik. In: Debus und Seibicke (Hg.): Anthroponyme (wie Anm. 16), S. 277–294, hier S. 289. Nicht anders urteilt Dieter Lamping, der sich aber nicht speziell auf Kriens Thesen bezieht: Eine feste, automatische und allzeit gültige Zuordnung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Lauten sei kaum möglich. Vgl. Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 45. Von diesen Kritikpunkten abgesehen, sind die Ergebnisse namentlich der Studie von Reinhard Krien dennoch »überwältigend und überzeugend«, wie selbst Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 109 hervorhebt. Es wird künftig also darauf ankommen, die Untersuchungen methodisch noch genauer abzusichern. 18 Krien: Namenphysiognomik (wie Anm. 16), S. 37ff. 19 Krien definiert den Begriff Assoziation wie folgt: »Unter Assoziationen sollen in dieser Untersuchung im Unterschied zu den ganzheitlich-intuitiven Primärkonnotationen cerebrale Abläufe verstanden werden, die – unabhängig von dem jeweiligen aktuellen Grad ihrer Bewußtheit – grundsätzlich wichtige strukturelle Merkmale des bewußten Denkens aufweisen,

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hard Eis spricht deshalb von suggestiven Namen.20 Neu und fremd, den wissenschaftlichen Befunden genau widersprechend, ist an Canettis SuggestionsErfahrung: Der Mensch fühlt sich so stark ergriffen, dass er seine erste Einschätzung kaum mehr revidiert. Das zweite Wort, das in Canettis oben zitierter Aufzeichnung große Bedeutung hat, ist »Zauber«. Tatsächlich stoßen wir auf dieses Wort, wie auf das Verbum »ergreifen«, auch in weiteren Aufzeichnungen über Namen: So spricht Canetti in Die Provinz des Menschen vom »Zauber« der Namen exotischer Völker und Götter (IV, S. 206). Und in Die Fliegenpein heißt es: »Die Namen der Musikinstrumente sind ein Zauber für sich. Gäbe es nichts anderes, das von uns benannt ist, wir müßten über uns staunen.« (V, S. 10) Kanada schließlich ist für Canetti ein »zauberhaft frecher Name, nie würde ich es wagen, so zu heissen.«21 Nun scheint es zunächst keineswegs so originell und aufregend, bei Namen von einem Zauber zu reden, wie sich zur eigenen Namenssucht zu bekennen. Nichts anderes sei dieser Zauber, so der Volkskundler Günther Kapfhammer, als die »[…] zeitliche Distanz zu einem Namen, dessen eigentliche Aussage durch Veränderungen im kulturhistorischen Kontext nicht mehr verstanden und deshalb häufig mißdeutet wird.«22 Dazu passt Canettis Hinweis auf die Namen exotischer Völker. Hier ist es aber offensichtlich nicht eine zeitliche, sondern eher

|| indem sie stets den Verzweigungen eines erlernten Systems von konkreten formalen oder inhaltlichen Zusammenhängen folgen.« (Ebd., S. 93) 20 Man muss hier allerdings kritisch anmerken, dass die Anlage des Tests selbst suggestiv ist, vor allem der vorgegebene Rollenkatalog. Man weiß insofern nicht so recht, ob der Name an sich suggestiv oder ob er es nur als Bestandteil eines bestimmten Kataloges ist. Das kann jedoch, wie anders gestaltete Tests zeigen, kein Argument gegen die Existenz suggestiver Namen sein. Udo Rudolph und Matthias Schörrle sprechen aber, etwas vorsichtiger, von »Namenseffekten«. Diese seien »[…] umso deutlicher ausgeprägt, je weniger weitere Informationen über den Namenträger bekannt sind.« Siehe dazu: Alter, Attraktivität und Intelligenz von Vornamen. Wortnormen für Vornamen im Deutschen. In: Zeitschrift für experimentelle Psychologie 46 (1998), S. 115–128, hier S. 116. 21 ZB 6, 14. Dezember 1942. Canetti verwendet mehrheitlich das Wort »Zauber«, spricht kaum von der »Magie« des Namens (Ausnahme: »Die Buchstaben des eigenen Namens haben eine furchtbare Magie […].« IV, S. 106). Dies könnte damit zusammenhängen, dass der Bedeutungshorizont von »Zauber« größer ist als derjenige von »Magie«. Definitorisch lässt sich das Wort also weniger in den Griff bekommen – ein Umstand, der für Canetti nicht unbedeutend gewesen sein dürfte. Vgl. zu Zauber und Magie Helmut Birkhan: Magie im Mittelalter. München: Beck 2010 (Beck'sche Reihe; 1901), S. 9. 22 Günther Kapfhammer: Stilistische Funktion der Namen in Sagen und Märchen. In: Horst Eichler u.a. (Hg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. 1. Teilbd. Berlin, New York: de Gruyter 1995 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 11.1), S. 573–576, hier S. 574.

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die räumliche Entfernung von einem zugleich existierenden, allerdings fremdartigen Kulturkreis, die diesen verschiedenen Namen das »Zeug zur Verzauberung« verleiht. Freilich: Dass etwa die Bratsche nach dem italienischen »bracchia« so viel wie Armgeige heißt und die Oboe nach dem französischen »hautbois« »Langes Holz«, erfährt man in jedem Lexikon; es ist nicht zauberhaft. Das gilt, mit Abstrichen, auch für den Ländernamen Kanada, der sich vermutlich aus der Irokesensprache ableitet und so viel bedeutet wie »Dorf« oder »Siedlung«. Was also ist an diesen Namen, was ist an Namen im Allgemeinen zauberhaft? Das Wort »Zauber« gehört ebenfalls zu denjenigen Wörtern, die in Canettis Sprache eine besondere Bedeutung erhalten haben. Noch in Rustschuk erlebte der Kleine, der bloß Bulgarisch sprach, immer wieder, wie seine Eltern plötzlich in eine unbekannte Sprache wechselten, die er nicht verstand. Und er sah zugleich, wie sich ihr Gesicht dabei veränderte, sich belebte, einen fröhlichen Ausdruck gewann. Das einzige Wort aus dieser Sprache, das Mathilde und Jacques ihrem gebannt lauschenden Sohn beibrachten, war das Wort »Wien«. Doch »Wien« war für Canetti damals nicht mehr und nicht weniger als ein Klang. Er hatte die Stadt noch niemals besucht, nicht wie die Eltern dort für längere Zeit gelebt, nicht wie sie die unvergesslichsten Erlebnisse in Wien gehabt. Er verband überhaupt keine eigenen Vorstellungen mit jenem Ort, von dem die Eltern redeten.23 Und trotzdem reichte ihm das eine Wort nicht. Er wollte mehr Wörter aus der fremden Sprache lernen, er hielt diese Sprache nämlich für ein Mittel, um wunderbare Dinge zu sagen. Darum spitzte er die Ohren, wann immer die Eltern ins Deutsche verfielen, schnappte jede ihrer Silben begierig auf. Und sobald er allein war, sprach er die Sätze, die er aufgenommen hatte, im genauen Tonfall vor sich hin – »wie Zauberformeln«, heißt es in Die gerettete Zunge (VII, S. 34).24 Dieses Wort fällt hier nicht von

|| 23 Angelika Redder: Fremdheit des Deutschen. Zum Sprachbegriff bei Elias Canetti und Peter Weiss. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 17 (1991), S. 34–54, hier S. 39 vertritt die Auffassung, bei Canetti komme den Inhalten keine »sprachspezifische Charakteristik« zu. Es spiele keine wesentliche Rolle, dass sie in verschiedenen Worten zur Sprache kämen. Zum Beleg weist Redder auf die bulgarischen Märchen hin, die Canetti laut eigener Aussage deutsch im Kopf habe. 24 Nach Bronislaw Malinowski bildet die Zauberformel immer den »Kern der magischen Handlung«. Vgl. Die Kunst der Magie und die Macht des Glaubens. In: Leander Petzoldt (Hg.): Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie. Darmstadt: WBG 1978 (Wege der Forschung; 337), S. 84–108, hier S. 88. Susanna Engelmann spricht deshalb ganz richtig vom »[…] mythischen ›Urerlebnis‹ Sprache bei Canetti. Schon früh erfährt er Sprache, vor allem in

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ungefähr, auch bei Zauberformeln kommt es auf den Klang an, einen möglichst ominösen Klang, selten nur auf den Inhalt.25 Eine Sprache aus Zauberformeln, wie es das Deutsche für Canetti zunächst war, ist eine Sprache, die sich hauptsächlich als klangliches Ereignis realisiert, im Gegensatz zu anderen Sprachen. Eine Sprache aus Zauberformeln ist eine Sprache, die den Zuhörer gebannt innehalten lässt, weil er, abseits aller Bedeutungen, unversehens die Schönheit des gesprochenen Wortes erfahren kann. Viele Jahre später, in Marrakesch, machte sich der Zauber der Sprache erneut bemerkbar: Canetti, inzwischen Autor eines Romans und zweier Dramen, ließ sich von den Alláh-Rufen der blinden Bettler auf dem dortigen Marktplatz nicht weniger faszinieren als von seinem ersten deutschen Wort ›Wien‹. Und wie einst setzte er sich auch jetzt wieder, kaum war er aus Marrakesch zurückgekehrt, eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen und untergeschlagenen Beinen hin und rief »Alláh«, in derselben Geschwindigkeit wie die marokkanischen Bettler, gleichsam als wolle er sich in einen von ihnen verwandeln (VI, S. 22f.). Zwar wusste Canetti dieses Mal um den Inhalt der nachgesprochenen Silben, doch offensichtlich spielte er für ihn keine Rolle. Aus dem Glaubensbekenntnis, das die Bettler, wie Canetti meinte, kontrafaktorisch gegen Gott gewendet hatten, wurde ein Bekenntnis zum Zauber des Klanges. Der Zauber des Namens, der Besitz ergreift von seinem Hörer – auch bei diesem Vorgang geht es um eine Grenzüberwindung. Von seinen auf Deutsch parlierenden Eltern fühlte sich Canetti »ausgeschlossen«, wie es in Die gerettete Zunge ausdrücklich heißt (VII, S. 34). Er wollte deshalb die »Wortbarriere«26 hinter sich lassen und sich an ihren Gesprächen beteiligen. Und er wollte außerdem, die fremden Wörter heimlich vor sich hin skandierend, seinen Anteil gewinnen an dem Wunderbaren, das er in den unverständlichen Worten verborgen glaubte. Auch der Besitz gehört wie die fremde Sprache zu den Grenzen, die Canetti um der Freiheit willen nicht akzeptieren konnte. Es müsste ein jährliches Fest geben, bei dem sich die Menschen bestehlen lassen, schreibt er in

|| Gestalt der als magisch und mysteriös empfundenen deutschen Sprache, als mythische Wirklichkeit.« Siehe: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Einleitung, Anm. 5), S. 160. 25 Bereits in der Antike gebrauchten Zauberer unverständliche Formeln, man sprach von »barbarischen Namen«. Ihre Verwendung belegt zum ersten Mal Euripides, die passende Begründung liefert Iamblichos: Die Götter liebten es, wenn man sie bei ihrem ägyptischen Namen rufe, da sie den Ägyptern zuerst die Gnade gewährt hätten, mit ihnen zu verkehren. Vgl. Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike. München: Beck 1996 (C.H. Beck Kulturwissenschaft), S. 195–198. 26 Manfred Durzak: Versuch über Elias Canetti. In: Akzente 17 (1970), H. 2, S. 169–191, hier S. 171.

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Die Provinz des Menschen. »Der Besitz würde viel von seiner Gottähnlichkeit und Ewigkeit verlieren.« (IV, S. 15) Indem Namen vom Menschen Besitz ergreifen, ziehen sie ihn – nicht körperlich, aber geistig – zu sich hinüber, in ihren Bereich. Sie helfen ihm, sich zu entgrenzen, den Blick von sich selbst abzuwenden. Canetti beschreibt etwas Ähnliches in Die Stimmen von Marrakesch: Wir sehen ihn dort »gebannt« den Erzählern lauschen, er hört von ihnen freilich »Worte ohne jede Bedeutung für mich« (VI, S. 66). Trotz allem bleibt er besonders lange in diesem »Zauberkreise« (VI, S. 67), in dem die Worte zu fliegen scheinen: »Die Luft über den Zuhörern war voller Bewegung; und einer, der so wenig verstand wie ich, fühlte das Leben zu Häupten der Hörer.« (VI, S. 66) Dass er die Worte der Erzähler nicht versteht, macht ihn sogar glücklich. Wir begreifen nun, wieso die Abhängigkeit von Namen dem jungen Canetti die Freiheit schenkte; wieso er durch Namen zu einem Selbstdenker wurde. Die Namen zwangen ihn durch die Macht ihres Klangs, sich ganz und gar von ihnen erfüllen zu lassen. Der Zauber des je bestimmten Namens ermöglichte es Canetti – im dialektischen Umschlag – überhaupt erst, sich eigenständig auf ihn einzulassen, frei von allem Wissensballast, den die Linguisten mit sich herumzutragen haben. Er gestattete ihm, mit einem Wort: die Verwandlung – ein Vorgang, den wir später genauer in den Blick zu nehmen haben, da er nicht unproblematisch ist.27 Die vollkommene Hingabe an den Namen als Voraussetzung des Selbstdenkens – das ist ein wesentliches Prinzip von Canettis »Gegenwissenschaft«28.

|| 27 Der Zusammenhang von Verzauberung und Verwandlung wird sehr eindrucksvoll dargestellt in Die Stimmen von Marrakesch. Es ist die Szene, in der Canetti auf dem kleinen Platz inmitten der Mellah steht: »Aber ich glaube nicht, daß er [ein alter Bettler – A.S.] allein es war, dem ich die glückliche Verzauberung auf diesem Platze verdankte. Mir war zumute, als wäre ich nun wirklich woanders, am Ziel meiner Reise angelangt. Ich mochte nicht mehr weg von hier, vor Hunderten von Jahren war ich hier gewesen, aber ich hatte es vergessen und nun kam mir alles wieder. Ich fand jene Dichte und Wärme des Lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühle. Ich war dieser Platz, als ich dort stand. Ich glaube, ich bin immer dieser Platz.« (VI, S. 40) Ein enger Zusammenhang von Zauber und Verwandlung zeigt sich auch im sogenannten Lukara-Mythos, den Canetti in Masse und Macht nacherzählt: »Manchmal verspürten sie selbst [die Söhne des Urvaters – A.S.] den Wunsch, wieder zu Larven zu werden. Dann sangen sie einen Zauberspruch, verwandelten sich in Larven und gingen wieder in die Wurzeln der Sträucher ein.« (III, S. 414) 28 Zur Terminologie vgl. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem (wie Einleitung, Anm. 6), S. 11f.: Die Gegenwissenschaft ist nach Michel Foucault eine Form der Wissenserzeugung, die für die anerkannten Erkenntnisse ein Prinzip der »Unruhe«, der »Kritik« und des »Bestreitens« darstellt und vor allem die Endlichkeit (Abgeschlossenheit, Grenze, Tod) in Frage stellt.

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Ich konnte ihnen [den griechischen Namen] mit einer Freiheit begegnen, die ans Wunderbare grenzte, sie klangen an nichts Vertrautes an, sie vermischten sich mit nichts, als reine Figuren erschienen sie und blieben Figuren; mit Ausnahme der Medea, die mich in Verwirrung stürzte, entschied ich mich für jede einzelne von ihnen und immer bewahrten sie eine Wirksamkeit, die sich nicht erschöpfte: Mit ihnen begann ein Leben, über das ich mir bewußt Rechenschaft ablegte, und darin allein hing ich von niemandem ab. (VII, S. 119)

Die Namen, so ist hier zu lesen, »bewahrten eine Wirksamkeit, die sich nicht erschöpfte.« Auch das ist ein wesentlicher Teil ihres Zaubers. Nur dann ist er wahrhaftig Zauber, wenn man ihn nicht durchschauen, wenn man sich keinesfalls erklären kann, was sich vor den eigenen Augen ereignet hat. Der Zauber braucht die »Erregung des Staunens«, das Eingeständnis der Undurchschaubarkeit des Geschehens. Ohne diese Undurchschaubarkeit, ohne das Geheimnis gäbe es nach Canetti auch keine wirkliche Macht. »Zur Macht gehört eine ungleiche Verteilung des Durchschauens. Der Mächtige durchschaut, aber er läßt sich nicht durchschauen.« (III, S. 346) So wie für einen konkreten Menschen, den Machthaber Filippo Maria Visconti, gilt dies auch für die zauberhaften Namen. Sie sind immer wieder neu, undurchschaubar, rätselhaft; sie sind mächtig und darum geheimnisvoll.

4.2 Der Name als Gott In Masse und Macht widmet Canetti dem Geheimnis ein eigenes Kapitel. Er erwähnt darin nicht nur den Mailänder Herzog, einen »klassische[n] Fall solcher Unergründlichkeit« (III, S. 346), sondern auch verschiedene Zauberpraktiken der Naturvölker, vor allem der australischen Aranda. Die Zauberei, sagt er, erfolge bei ihnen immer aus der Ferne, man bereite spitze Zauberhölzer vor, die man dann, aus sicherer Entfernung, auf das ausersehene Opfer richte. So werde es von der »furchtbaren Wirkung der Zauberei befallen« (III, S. 345). Auch Fremde seien bei den Aranda gefürchtet, sie hätten, obwohl in großer Entfernung lebend, dennoch, wie man glaubt, die Macht zum Schadenszauber. Man sieht sehr deutlich, dass auch hier, wie beim Zauber des Namens, durch magische Rituale Grenzen, diesmal räumliche Grenzen, überwunden werden. Aber man sieht zugleich, dass es Menschen sind, die sich des Zaubers, die sich eines magischen Gegenstandes bedienen, um ihre Macht durchzusetzen und zu behaupten, und nicht umgekehrt. So verhält es sich auch mit den Erzählern in der Mellah: Sie haben die Macht, »[…] die mächtigsten Worte flogen genau so weit, wie der Erzähler wollte.« (VI, S. 66) Nicht von ungefähr beschreibt Canetti in Masse und Macht also zunächst, wie der Medizinmann, der für den Zauber zu-

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ständig ist, »[…] zu seinem Beruf gestärkt [wird], aber von innen her, seine neue Macht beginnt in seinen Eingeweiden.« Seine Stammesmitglieder stellen sich nämlich vor, er sei tot und liege in einer Höhle, dem passenden Ort für Geheimnisse aller Art29, wo die Geister ihm jetzt seine Organe entnehmen und ihm neue, bessere geben (III, S. 344). Derart mit Macht und Widerstandskraft gegen andere Zauberer ausgestattet, kann der Medizinmann erst jetzt seine Wünsche und die Wünsche seines Stammes verwirklichen. Kurzum: Zauberei ist bei den Aranda nichts anderes als Wunscherfüllung. In diesem Sinne beklagt Canetti in Nachträge aus Hampstead: Zuwenig Zaubersprüche gelesen. Gestern nacht nahm mich das alte Zauberbuch der Inder, der Atharvaveda, gefangen. Es stehen unheimliche Dinge darin. Nirgends sind die Wünsche des Menschen unverhohlener ausgedrückt. Es ist eine ganz elementare Welt, und wer etwas Wirkliches über die Menschen erfahren will, muß zu den Mythen die Zaubersprüche, die nackt sind, dazunehmen. (V, S. 123)

Auch Namen verheißen Macht gerade demjenigen, der sie zu erlangen und zu benutzen weiß. Für diese Vorstellung gibt es zahllose Belege, etwa einen Mythos aus Ägypten, dem »klassische[n] Land der Magie und des Namenzaubers«30. Er erzählt von Re, dem gealterten König der Götter und Menschen und von seiner Widersacherin, der listigen Zauberin Isis. Noch immer, trotz seines Alters, ist Re mächtig und in der Lage, viele Gestalten anzunehmen und viele Namen. Seinen eigentlichen, geheimen Namen jedoch, den Namen, auf dem seine Macht beruht, kennt niemand unter Göttern und Menschen. Doch Isis will ihn wissen. Sie formt aus dem Speichel Res eine Zauberschlange und legt sie dem Gott heimlich in den Weg. Es kommt, wie es kommen muss: Re wird gebissen und leidet furchtbare Qualen. Das Herz brennt ihm wie Feuer, sein Leib zittert, fast erblindet er, und in seiner Verzweiflung ruft er die übrigen Götter um Hilfe. Da schlägt ihm Isis, die jetzt ihren wohl vorbereiteten Auftritt hat, einen perfiden Handel vor: »Sage mir deinen Namen, mein göttlicher Vater,

|| 29 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Tristan und Isolde, die sich so wenig lieben dürfen wie Romeo und Juliet, sich in ein »minnenden hol« zurückziehen, wo sie, von den anderen unbemerkt, zusammen sein können und so ihr Geheimnis bewahren. »Und swâ der einez [eine Grotte – A.S.] vunden wart, / daz was mit êre bespart / und was der Minnen benant […]« (V. 16697–16699 und 16701) Zitiert nach Gottfried von Strassburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Bd. 2: Text. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, Verse 9983–19548. Stuttgart: Reclam 1980 (RUB; 4472), S. 408f. 30 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Hamburg: Meiner 2010, S. 51.

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denn der Mann lebt, mit dessen Namen ein Zauber gesprochen wird.«31 Re nennt zuerst einige seiner Namen32, doch keineswegs den richtigen – die Schmerzen bleiben. Schließlich kann er nicht mehr, die Leiden sind zu groß. Er verrät den geheimen Namen und wird sofort geheilt. Isis aber besitzt nun Macht über ihn, weil sie seinen Namen kennt. Bekannter noch als dieser Mythos ist das Märchen von Rumpelstilzchen.33 Auch hier erlangt die Frau Königin erst Macht über das böse Männlein, das ihr das neugeborene Kind für immer wegnehmen will, als sie seinen richtigen Namen zu nennen weiß.34 Rumpelstilzchen reißt sich daraufhin voller Wut mitten entzwei, denn es hat seine Macht verloren und wird sie nicht wiedererlangen. Hinter diesen beiden Erzählungen, die aus ganz verschiedenen Zeiten und Kulturen stammen, stehen alte, mythische Kollektivvorstellungen. Da wir später auf diese Vorstellungen genauer eingehen werden, mögen an dieser Stelle einige erste Hinweise genügen. Nicht nur in Ägypten, auch in Griechenland, in Israel, in Rom und in den Ländern des europäischen Mittelalters glaubte man

|| 31 Altägyptische Märchen. Mythen und andere volkstümliche Erzählungen. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Emma Brunner-Traut. 9. Auflage, München: Diederichs 1990 (Die Märchen der Weltliteratur), S. 153. 32 Bei den Ägyptern ist die Vielnamigkeit der Götter das äußere Spiegelbild ihrer Fülle. Osiris trät sogar den Beinamen »Mit vielen Namen«. Vgl. dazu Erik Hornung: Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen. 2., unveränderte Auflage, Darmstadt: WBG 1973, S. 77f. Der babylonische Gott Marduk besitzt nicht weniger als fünfzig Namen. Vgl. Joshua Trachtenberg: Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion. Cleveland, New York: The World Publishing Company; Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1961, S. 87. Canettis Interesse an Gottesnamen ist beileibe nicht so groß wie dasjenige für Anthroponyme. Dass einzelne Namen ihm dennoch bedeutsam erschienen, belegt diese, sogar veröffentlichte Aufzeichnung: »›Emli n mfas‹ – ›Herr des Atmens‹, einer der Gottesnamen der Tuareg.« (IV, S. 483) Sicher dachte Canetti bei diesem Namen daran, wie wichtig ihm selbst das Atmen war. Es war für ihn sogar der »Ursprung der Freiheit« (IV, S. 12). 33 Vgl. Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der 3. Auflage (1837), hg. von Heinz Rölleke. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker; 5), S. 250–253. Vgl. dazu Wilhelm F. H. Nicolaisen: Art. Name. In: Rolf Wilhelm Brednich u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 9. Berlin, New York: de Gruyter 1999, Sp. 1157–1164, hier Sp. 1160: Das Märchen vom Rumpelstilzchen sei »[…] wohl die wichtigste mit der Rolle des N.ns [Namens – A.S.] beschäftigte Volkserzählung.« 34 Vgl. dazu Hedwig von Beit: Das Märchen. Sein Ort in der geistigen Entwicklung. Bern, München: Francke 1965, S. 202: Die Bezeichnung Rumpelstilzchen identifiziere den Dämon als ›rumpelnden‹ Poltergeist, so Beit. In fast allen Varianten dieses sehr verbreiteten Märchens trage das Männlein den Namen eines neckischen Kobolds, es heiße etwa: Flederfitz, Spitzbärtl, Berlewittchen, Purzinigele, Hahnenkiekerle.

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einst an den Zusammenhang von Name und Macht: Wer den wahren Namen besitze, so die Vorstellung, habe Macht über die Person und könne einen Dämon, selbst einen Gott, bezwingen.35 Einer solchen Bemächtigung will Re sich entziehen, indem er Isis zunächst in die Irre zu führen versucht. Auch der Name des Gottes der benachbarten Israeliten, sein im brennenden Dornbusch geoffenbartes »Ich bin der Ich-bin« (oder: »Ich werde sein, der ich sein werde«36) (Ex 3,14), gewinnt in diesem Zusammenhang seine Bedeutung: Man kann ihn deuten als Verweigerung einer Namensnennung und damit als Vorkehrung gegen jede Form der Bemächtigung. Wer Gott ist, so die Botschaft des Elohisten, wird sich von Mal zu Mal erweisen, im Gang der Geschichte; man weiß es keineswegs von Anfang an und für immer durch seinen Namen. Anders als Re ist er nicht in den Griff zu bekommen, selbst das Tetragramm darf nur einmal im Jahr vom amtierenden Hohepriester ausgesprochen werden. Die Undurchschaubarkeit des Mächtigen, der sich nicht bemächtigen lässt, gilt gerade für ihn, den Canetti für den größten aller Machthaber gehalten hat.37 || 35 Vgl. James George Frazer: Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker. Aus dem Englischen von Helen von Bauer. 5. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004 (Rowohlts Enzyklopädie; 55483), S. 381. Vgl. zur Kraft des Namens auch Hirzel: Der Name (wie Kapitel A3, Anm. 16), bes. S. 19–25. Zu Magie und Zwang auch Graf: Gottesnähe und Schadenzauber (wie Anm. 25), S. 198–203. Nach Graf ist der Zwang »Teil in einer umfassenden Palette von Haltungen des Magiers, die von der rücksichtslosesten Erpressung bis zur völligen Unterwerfung reicht« (Ebd., S. 201). 36 Vgl. Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Ders.: Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 (Judaica; 3), S. 7–70, hier S. 11. Jahwe fehlt die »Aura des Magischen«. Vgl. dazu auch Trachtenberg: Jewish Magic and Superstition (wie Anm. 32), S. 87: »The culture of ancient Israel reflected preponderantly the influence of the two civilizations that dominated the ancient world: Babylonia-Assyria and Egypt. In both the invocation of names of gods, and the multiplication of these names to ensure greater magical efficacy was well known and widely practiced.« 37 Vgl. dazu IV, S. 215: »Gottes Macht, es ist wahr, beginnt mit der Schöpfung selbst, und die Geschichte der Ansprüche dieses Schöpfers ist es wohl, was der Bibel ihre Einzigkeit verleiht.« Siehe auch ZB 12, 19. September 1951 (Hervorhebungen im Original): »Gott war das Vorbild, aber auch der Schrecken der Machthaber. Einer glaubenslosen Zeit wird er nur noch Vorbild. Die Vor- und Nachteile Gottes sind noch sehr genau gegeneinander abzuwägen; aber er wird auf jeden Fall zu einem katastrophalen Unglück, sobald die Mächtigsten nicht mehr ganz an ihn glauben.« Canettis Verhältnis zu Gott bringt Gerald Stieg: Erinnerungen an Elias Canetti. In: Hanuschek (Hg.): Der Zukunftsfette (wie Einleitung, Anm. 153), S. 13–28, hier S. 17 wie folgt auf den Punkt: Sein ganzes Leben lang habe Canetti mit Gott gehadert, obwohl er im Grunde nicht an ihn geglaubt und ihn allenfalls als »bösen Gott« im Sinne Markions habe gelten lassen. Ähnlich Alfons-M. Bischoff: Elias Canetti. Stationen zum Werk. Bern, Frankfurt a.M.: Lang 1973 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Literatur und Germanistik; 79), S. 96: »Gott bedeutet Canetti die höchste Personifizierung der Macht, und weil ihm die Macht, in

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Was auf Götter und Dämonen zutrifft, gilt erst recht für die Menschen untereinander: Durch den Namen kann man Macht über den Benannten erlangen. Der Wort- und Namenzauber bildet, so Hedwig von Beit, einen »wesentlichen Bestandteil der magischen Weltansicht«38. Diese magische Weltansicht schlägt sich in abergläubischen Praktiken nieder, die die Bemächtigung des Namenträgers vermeiden sollen: Vor der Taufe erhält das spirituell noch ungeschützte Kind keinen Namen. Oder ein Knabe schreibt seinen Namen in die Luft, anstatt ihn auszusprechen. Oder ein Vater gibt seinem Kind einen Namen ohne Wissen der Mutter, um es zum Schweigen zu erziehen.39 Am genauesten vielleicht ist diese magische Weltansicht untersucht worden bei den Naturvölkern, den so genannten Primitiven. Viele von ihnen, so James George Frazer, einer der Pioniere der Ethnologie, sind sehr darauf bedacht, dass ihr Name nicht in die falschen Hände gerate, weil dann auch sie selbst, wie sie meinen, verloren seien.40 Dazu ein Beispiel von Lucien Lévy-Bruhl: Die Indianer glauben, der Name gehöre genauso zum Menschen wie seine Augen oder die Zähne. Durch böswilligen Gebrauch des Namens werde der Mensch somit in gleichem Maße leiden, als wenn ihm jemand die Augen verletzt oder die Zähne ausgeschlagen hätte.41 Doch die zauberische Einwirkung musste nicht immer negativ sein, wie ein Beispiel aus Europa zeigt: Durch Nennung des Taufnamens, besagte der Volksmund, lasse sich etwa ein Werwolf entzaubern.42 Die Magie des Namens zeigt sich schließlich auch darin, dass seine bloße Nennung den Namenträger herbeizuzwingen vermag. Weil das nicht immer ungefährlich schien, waren bestimmte Namen mit einem Tabu belegt. So nannte man den Tod, dessen Kommen man, wenn nicht verhindern, so doch hinausschieben wollte, »Freund Hein« und den Teufel »Gottseibeiuns« oder den »Leibhaftigen«.43

|| jeder nur möglichen Form, als das Böse gilt, hadert er auch mit Gott. In dieser urjüdischen Konstellation nimmt er Züge der alttestamentlichen Gestalt des Hiob an.« Aus dem Nachlass wissen wir zudem, dass Canetti Witzgedichte über Gott geschrieben hat. Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 136f. 38 von Beit: Das Märchen (wie Anm. 34), S. 101. 39 Beispiele bei Wolfgang Aly: Art. Name. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Kapitel A2, Anm. 14). Bd. 6, Sp. 950–964, hier Sp. 954f. 40 Vgl. Frazer: Der goldene Bogen (wie Anm. 35), S. 356. 41 Vgl. L[ucien] Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker. Aus dem Französischen übersetzt von Paul Friedländer. Hg. und eingeleitet von Wilhelm Jerusalem. 2. Auflage, Wien, Leipzig: Braumüller 1926, S. 34f. 42 Vgl. Nicolaisen: Art. Name (wie Anm. 33), Sp. 1161. 43 Vgl. Laur: Der Name (wie Einleitung, Anm. 32), S. 149.

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Die Grundlage aller dieser Vorstellungen erkannte Lucien Lévy-Bruhl im »Gesetz der Partizipation«. Damit ist Folgendes gemeint: Zwischen Bild und Modell, zwischen Name und Namenträger existiert ein »mystisches Band«44, eine »Art Symbiose durch Wesensidentität«. Man könnte auch sagen: Bild und Name sind im mythischen Denken pars pro toto, im Bild ist das Modell leibhaftig anwesend und im Namen der Namenträger. Oder mit Ernst Cassirer gesagt: Der Name besitzt »keine bloße Darstellungsfunktion«, sondern in ihm sind »der Gegenstand selbst und seine realen Kr ä f t e« enthalten. Er bezeichnet und bedeutet nicht, sondern ist und wirkt.45 Auf das Modell oder den Namenträger, die sich selten nur im eigenen Verfügungsbereich befinden, könne man daher, so wieder Lévy-Bruhl, zauberisch einwirken, indem man auf das Bild oder auf den Namen einwirke.46 Die Art dieser Einwirkung kann man mit Frazer als »sympathetische Magie« bezeichnen.47 Bei den Stämmen Zentral-Australiens hat die Angst vor dieser Magie konkrete Folgen: Man verwendet dort geheime Namen, Namen also, derer sich niemand durch Zauberei bemächtigen kann. Aus demselben Grund besaßen die Ägypter zwei Namen: einen guten und kleinen, der bekannt gegeben wurde, und, wie ihr Gott Re, einen wahren und großen, der im Verborgenen blieb.48

|| 44 Zitate bei Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker (wie Anm. 41), S. 60 und 71. Hedwig von Beit präzisiert diese These, indem sie zwei Arten der Partizipation unterscheidet: Zum einen gebe es die »geheime Teilhabe des Wahrnehmbaren am Nicht-Wahrnehmbarem« oder umgekehrt, zum anderen die »Partizipation diesseitiger Wesen und Dinge aneinander«. Die Beziehung zwischen dem Namen und dem Namenträger gehört zur ersten Form der Partizipation. Vgl. Das Märchen (wie Anm. 34), S. 88. 45 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 2 (wie Anm. 30), S. 49. 46 Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker (wie Anm. 41), S. 60. 47 Die sympathetische Magie hat zwei Grundsätze. Erstens: Gleiches bringt Gleiches hervor, oder eine Wirkung gleicht ihrer Ursache. Und zweitens: Alle Dinge, die einmal in Beziehung zueinander gestanden haben, wirken aus der Ferne auch dann noch aufeinander ein, wenn die physische Berührung längst aufgehoben ist. Den ersten Grundsatz nennt Frazer das Gesetz der Ähnlichkeit, den zweiten das Gesetz der Berührung oder der direkten Übertragung. Die Magier schließe nun aus diesem zweiten Gesetz, dass alles, was man einem stofflichen Gegenstand zufüge, auch dem Menschen geschehe, der mit diesem Gegenstand einmal verbunden gewesen sei. Vgl. Frazer: Der goldene Bogen (wie Anm. 35), S. 15f. Alfred Bertholet sieht in der »sympathetischen Magie« einen Oberbegriff für zwei Formen der Magie, die sich in ihr zu einer »größeren Einheit« zusammenschließen: Das sind die imitative Magie, die Gleiches durch Gleiches zu erwirken sucht, und die kontagiöse Magie, die einen sympathetischen Zusammenhang zwischen Teil und Ganzem voraussetzt. Vgl. Das Wesen der Magie. In: Petzoldt (Hg.): Magie und Religion (wie Anm. 24), S. 109–134, hier S. 113–119. 48 Vgl. ebd., S. 356 und 360. Auf zahlreiche Beispiele aus primitiven Kulturen stützt sich auch Freud in seiner Studie Totem und Tabu. Im Kapitel »Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühls-

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Canetti kannte den Brauch, den Namen geheim zu halten, wie einer seiner phantastischen Aphorismen49 vom 6. April 1986 belegt: »Dort hat man drei Namen, einer davon ist geheim. Von den zwei anderen ist der eine der Kose-, der andere der Schimpfname.«50 In diesem Zusammenhang stellt sich nun unweigerlich die Frage, ob Canetti, der Namensverzückte, auch mit der Vorstellung vertraut gewesen ist, dass der Mensch sich der Macht des Namens bedienen könne. Und gesetzt den Fall, er war es: Was hielt er von dieser Vorstellung? Lesen wir dazu eine Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen: Das Hauptvehikel der Unfreiheit ist dein Name. Wer ihn nicht kennt, hat keine Macht über dich. Viele werden ihn aber wissen, immer mehr: gegen ihre vereinte Macht dich frei zu halten, ist das kaum erlangbare Ziel deines Lebens. (IV, S. 128)

Ganz deutlich steht hinter dieser Aufzeichnung die mythische Vorstellung von der zauberischen Wirkung des Namens, die, in den falschen Händen, einen unerwünschten Zwang auf den Namenträger auszuüben vermag. Canettis Lösung ist dieselbe wie bei den Naturvölkern, den abergläubischen Menschen, die ihren Namen lieber verschweigen. Von der zauberischen Wirkung handelt auch ein kleines Exzerpt, das Canetti angefertigt hat; es geht darin um Thutmosis III.: »›Sein strafender Arm blieb drei Generationen lang bei den Leuten von Naharina in gefürchtetem Andenken. Man pflegte bei seinem Namen zu schwören, und noch Jahrhunderte, nachdem sein Weltreich in Stücke zerfallen war, schrieb man seinen mächtigen Namen als ein Zauberwort auf Amulette.‹«51 Selbst die Kraft, die dem Aussprechen des Namens eignet, kannte Canetti; am 6. Mai 1944 schrieb er in seinen Aufzeichnungen: »Er hat den Kopf voller Namen, und wenn ein zugehöriges Geschöpf erscheint, ist es ihm, als hätte der Name es heraufbeschworen, still und aus seinem Versteck her.«52 Abermals erweisen sich hier jedoch – der Konjunktiv des Nebensatzes zeigt es an – die Namen als undurchschaubar und rätselhaft: Canetti weiß nicht sicher, ob das Aussprechen des

|| regungen« schreibt er: »Zum persönlichsten Eigentum gehört in Australien auch der neue Name, den ein Knabe bei seiner Männerweihe erhält, dieser ist tabu und muß geheimgehalten werden.« Die »eigentlichen Quellen des Tabu« sieht Freud »in der Furcht vor der Wirkung dämonischer Mächte.« Zitate nach Sigmund Freud: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Frankfurt a.M.: Fischer 1974 (Studienausgabe; IX), S. 316. 49 Peter von Matt: Der phantastische Aphorismus bei Elias Canetti. In: Ders: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München, Wien: Hanser 1994, S. 321–329, bes. S. 324; wieder in ders.: Der Entflammte (wie Kapitel A1, Anm. 53), S. 18–32, bes. S. 22. 50 ZB 20. 51 ZB 5a, Konvolut mit Aufzeichnungen, angeschrieben »Dezember 1940 bis Januar 1941«. 52 ZB 8.

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Namens das Geschöpf heraufbeschworen hat. Wir werden solchen Konjunktiven noch öfters begegnen. Was aber ist nun der Name für Canetti? Eine Macht, der der Mensch verfällt, ohne sich wehren zu können? Oder eine Macht, die er wie ein kluger Zauberer verwenden kann, um sich des Benannten zu bemächtigen? Oder sogar beides? Die Antwort ist, allen bisherigen Erkenntnissen über den Zauber des Namens zum Trotz, überraschend: Für Canetti war der Name nichts Geringeres als ein Gott53: Alle rechnerischen Zusammenhänge, Proportionen, elliptischen Schicksale und Bahnen sind mir gleichgültig, alle Zusammenhänge durch Namen sind mir erregend und wahr. Mein Gott ist der Name, der Atem meines Lebens ist das Wort. Gleichgültig sind mir die Orte, wenn ihre Namen erblassen. Nirgends bin ich gewesen, wohin nicht der Name mich zog. Ich fürchte die Zerlegung und Erklärung von Namen, ich fürchte sie mehr als Mord. (IV, S. 208f.)

Die menschliche Macht über die Dinge, als Ordnungs- und Beschreibungsmacht, repräsentieren in dieser Aufzeichnung Begriffe aus Mathematik und Astronomie: Proportion, Ellipse, Bahn. Dieser Macht wird der Name antithetisch gegenübergestellt.54 Er repräsentiert das Unverfügbare und nicht Berechenbare, das Zauberhafte in einer vermeintlich entzauberten Welt.55 An ihm erweist sich die Ohnmacht des Menschen angesichts des immer schon Größeren und Gewaltigeren, das er mit allen seinen Hilfsmitteln rational nicht zu beherrschen ver-

|| 53 Eine solche Göttlichkeit wird zuweilen auch dem Wort zugestanden. Die Texte der Pyramiden beispielsweise erwähnen einen Gott mit Namen Khern, und das heißt: Wort. Bei Victor Hugo wiederum findet sich der folgende Vers: »Le mot, qu'on le sache, est un être vivant... le mot est le verbe, et le verbe est Dieu.« Vgl. C.K. Ogden und I.A. Richards: Die Bedeutung der Bedeutung. Eine Untersuchung über den Einfluß der Sprache auf das Denken und über die Wissenschaft des Symbolismus. Aus dem Englischen von Gert H. Müller. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 (Theorie), S. 36 und 33 (Zitat). Jörg Fündling hat mich darauf hingewiesen, dass der Name Khern in den Götterlisten nicht auftaucht. Seit dem Alten Reich gebe es aber den Gott Hw (»Hu«), dessen Name so viel bedeutet wie »der Ausspruch, das (Macht-)Wort«. Diese Urgottheit, die es mit der Schöpfung durch Sprechakte zu tun habe, könnte von Ogden und Richards gemeint sein. 54 Vgl. dazu auch V, S. 141: »Das mathematische Denken, das allmählich zur wissenschaftlichen Macht des Menschen geführt hat, besteht im Aufgeben der Namen; sie werden aus dem Denken eliminiert, man denkt ganz ohne sie.« 55 Zur Entzauberung der Welt vgl. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. Photomechanischer Nachdruck der 6. Auflage. 7. Auflage, Tübingen: Mohr 1988 (UTB für Wissenschaft: UniTaschenbücher; 1492), S. 582–613, hier S. 594.

114 | Der Zauber des Namens

mag. Die Verzauberung der Welt durch den Namen ist bei Canetti ein gegenaufklärerischer Akt56, eine Rückkehr zum mythischen Denken mit seinen alles bestimmenden Schicksalsmächten: Der Mensch ist nicht mehr Herr über die Welt. Dies zeigt sich in dieser Aufzeichnung nicht zuletzt darin, dass Canetti sich von Namen bald hierhin, bald dorthin gezogen fühlt. Seine eigene Entscheidung: nüchterne Erwägungen, Wünsche, Neugier spielen keine Rolle. Soweit also fasst die Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen Canettis Obsession für Namen noch einmal zusammen. Sie zeigt aber auch, dass Canettis Rückkehr zum mythischen Denken an entscheidender Stelle gebrochen ist, da die Bedingungen für dieses Denken grundlegend andere sind als in den archaischen Kulturen. Die Rückkehr ist nicht unmittelbar, da sie sich in der heutigen rationalisierten Welt ereignet, in der sich die Macht des Numinosen gegen den Machbarkeitswahn von Naturwissenschaft, Ökonomie und Technik richtet und behaupten muss. Wieso aber gleich die Aufwertung des Namens zu einem Gott? Um das nicht falsch zu verstehen, muss man wissen, dass Canetti, hierin seinem Lehrmeister Karl Kraus verwandt57, ein gleichsam religiöses Verhältnis zur Sprache unterhielt: Er habe »Respekt« vor den Worten, heißt es in Die Provinz des Menschen, keineswegs wolle er ihnen das »Unheimliche« nehmen, ihre »Integrität« sei ihm beinahe »heilig« (IV, S. 126). Später, in den Aufzeichnungen des Jahres 1980, wird er sogar von einem »Glaube[n] an Worte« sprechen, das allein sei ihm vom Bibelglauben noch geblieben (V, S. 313). Von diesen Gedanken aus ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Vergöttlichung des Namens. Aber es ist ein Schritt – und man sollte ergründen, wieso sich Canetti mit dieser Aufzeichnung, seinem Glaubensbekenntnis, zu ihm entschlossen hat. Die extreme Aufwertung des Namens ist nicht etwa eine Reminiszenz des Juden Canetti an die Kabbalisten, die im göttlichen Namen »eine innerweltliche, in der Schöpfung wirkende Konfiguration der Macht, ja der Allmacht Gottes« erkannten.58 Denn der Name selbst ist Gott. Vor dem Hintergrund der bisherigen Einblicke in Canettis Denken kann diese Vergöttlichung nur einen einzigen Grund haben. Gegen die aus den Mythen bekannte zauberische Wirkung des || 56 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Limitierte Sonderausgabe, Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (Fischer Taschenbuch; 50669), S. 9: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. […] Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.« 57 Vgl. Christian Johannes Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965 (Palaestra; 242), S. 126. 58 Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 36), S. 14.

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Namens wandte sich Canetti, indem er sich zum Namen als der höchsten Macht überhaupt bekannte. Dieses Bekenntnis besaß eine Botschaft: Der Mensch kann am Namen nicht zu einem Machthaber werden, ebenso wenig wie er sich Gottes bemächtigen kann, es sei denn durch seinen Namen. Er kann die Namen, denen er verfallen ist, nicht benutzen, er wird benutzt; er kann mit ihnen nicht zaubern, er wird verzaubert. Dass der Mensch gegenüber dem Namen eine passive Haltung einnimmt, wird endgültig klar, wenn wir den folgenden Satz aus einer nachgelassenen Aufzeichnung hören: »Der Name macht den Menschen zum Gott.«59 Man beachte die Nuancen: Der Name hat auch hier eine göttliche Kraft, wer mit ihm in Berührung kommt, wird zum Gott. Von einer solchen Göttlichkeit des Menschen ist in der Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen hingegen nicht die Rede. Der Mensch tritt dem Namen dort vielmehr als seinem Gott gegenüber, er ist nicht selbst Gott, sondern dessen Verehrer. Das scheint nun, nimmt man beide Aufzeichnungen zusammen, gleichsam die erste Stufe zu sein, eine Initiation in den Kultus des Namens, der nur einen Ritus kennt: die sukzessive Annäherung des Verehrers an den Verehrten. Es ist deshalb programmatisch, dass Canetti in der Aufzeichnung über seinen Gott auf versteckte Weise den eigenen Vornamen zitiert; Elias nämlich bedeutet: »Mein Gott ist Jahwe«. Nicht nur wird hier an die Stelle des biblischen Gottes der Name gesetzt, das Individuum selbst nimmt sich zurück, indem es das Bekenntnis zum Namen in das Persönlichste, das ihm Ureigenste einfügt: den eigenen Namen. Nun begreift man, was Canetti meinte, als er sagte: »Tausende von Göttern:

|| 59 ZB 8, 31. Oktober 1945 (Hervorhebungen im Original): »Die Grade der Lebendigkeit hängen vom Gebrauch der persönlichen Fürwörter ab. ›Du‹ ist am mächtigsten, aber ›Ich‹ steckt an; es soll einer noch zeigen, wie sich die Eitelkeit dieses Ich vermeiden lässt! ›Er‹ wäre ruhig, aber es hat sein Geschlecht; man wird sich darüber klar, wenn man ›sie‹ denkt. Der Name macht den Menschen zum Gott. Will man ihm diese Göttlichkeit nicht zuerkennen und hat man es auf ironische Wirkungen nicht abgesehen, so reduziert man am besten den Namen auf den ersten seiner Buchstaben. Dadurch bleibt ihm nur das Gewicht eines Bruchteils des Alphabets. Lange Namen, in eine Sprache versetzt, die nur kürzere gebraucht, lösen die Person auf. Das Wort Karamasoff im Englischen z.B. erfordert mehrere Brüder. In der Mehrzahl haben Fürwörter immer eine ungenaue Wirkung. Eine Erzählung, in der ›wir‹ sehr häufig vorkommt, kann nur eins von beidem sein: heilig oder falsch. Nur im Chor, der heilig ist, ist ›wir‹ wirklich erlaubt. ›Ihr‹ ist durch die alte Anrede reduziert; nichts kann harmloser sein, sind mehrere gemeint, so könnten sie doch immerhin in die Einzahl der alten Anrede zusammenfallen; das nimmt ihnen jedes Übergewicht; man spricht zu Zwergen; zusammen sind sie, nein waren sie einmal ein Mann. Das grosse ›Sie‹ ist um seine Gebräuchlichkeit ernster. Die Geschlechtslosigkeit des kleinen ›sie‹ würde es für viele Zwecke empfehlen; da es sich aber im Klang vom grossen nicht unterscheidet, bleibt ihm eine leise Unsauberkeit immer anhaften: sie ist natürlich auch sein grösster Reiz. Zauberkräftig im alten Sinn sind nur noch Ich, du und wir. [...].«

116 | Der Zauber des Namens

Jeder erhält durch Los seinen Gott, gleich nach der Geburt. Sein Leben ist nun ganz an diesen Gott gebunden, dessen Natur er sich allmählich zu nähern sucht. Der Name als Gott.«60 Beinahe ein ganzes Leben lang fühlte sich Canetti an jenen Namensgott gebunden, der ihm selbst zugewiesen worden war. Wie sollte es für ihn anders sein: Der Name ist so rätselhaft und erfüllt wie Gott. In einem Namen ist alles. Der Name als Gott, der Name als Obsession, als Sucht, als Macht: Solche Erfahrungen sind nicht immer angenehm, die Verzauberung kann zur Belastung werden. So notierte Canetti etwa am 23. November 1966 in seinen Aufzeichnungen: »Die Ergriffenheit aus den Namen holen.«61 Diese Aufzeichnung kann man so deuten, dass sie auf ein Gleichgewicht abzielt: Zunächst fühlt der Mensch sich ergriffen, dann, im direkten Gegenzug, holt er diese Ergriffenheit aus den Namen heraus, als könne jetzt er mit seinen Händen in sie hineingreifen.62 Ähnlich diese Aufzeichnung: »Die Namen verzaubern alles; drum holt man sie; drum fürchtet man sie; drum wirft man sie wieder hinaus.«63 Da stellt sich nun erneut und sogar noch dringender als je die Frage, ob der Mensch im konkreten Umgang mit den Namen, etwa bei der Bestimmung ihrer Bedeutung, nicht doch gelegentlich zu ihrem Meister wird. »Ich hätte die Macht nie wirklich kennen gelernt«, heißt es in Die Provinz des Menschen, »wenn ich sie nicht ausgeübt und nicht selber das Opfer dieser eigenen Übung geworden wäre. So ist mir die Macht nun dreifach vertraut: ich habe sie beobachtet, ich habe sie ausgeübt, ich habe sie erlitten.« (IV, S. 115) Diese gern zitierte Aufzeichnung wird für unsere Frage brisant, wenn wir eine weitere Aufzeichnung daneben stellen; Canetti bezieht sich darin auf Robert Minder64: »Der Name Minder hat bei ihm

|| 60 ZB 9, 6. Oktober 1947. 61 ZB 22a. In Die Provinz des Menschen heißt es statt »holen« »zurückholen« (IV, S. 295). 62 Man kann diese Aufzeichnung in enger Anlehnung an Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung (wie Einleitung, Anm. 17), S. 109 auch so deuten: In der Gegenwart können Namen den Menschen meist nicht mehr ergreifen, da sie ihren alten Zauber weitgehend verloren haben. Sie sind zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen geworden. Dieser Zauber soll zurückgeholt werden, er soll sich neu entfalten und die Menschen wieder in seinen Bann ziehen. 63 ZB 7, 23. Juni 1943. 64 Zu dieser Zeit war Robert Minder, Elsässer und Literarhistoriker mit einem großen Interesse an den regionalen Besonderheiten in der deutschsprachigen Dichtung, schon nicht mehr am Leben. Fast ein Jahr zuvor, am 10. September 1980, war er, achtundsiebzigjährig, in einem Schlafwagenabteil des Schnellzugs von Paris nach Ventimiglia an Herzversagen gestorben. Sein Tod traf Canetti so schwer wie jeder Tod eines Menschen. Er schätzte Minder; er las dessen Buch Glaube, Skepsis, Rationalismus mit dem Bleistift in der Hand, und in einer Widmung nannte er ihn sogar einen »Meister des Essays«. Vgl. dazu Hans Manfred Bock: Das Elsaß als

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etwas zu bedeuten, ich weiss noch nicht genau, was es ist, doch bin ich ihm auf der Spur.«65 Was Canetti in diesem Satz beschreibt, ist eine Jagd. Die Bedeutung des Namens soll ergriffen werden, sie soll Beute sein. In diese Richtung weist auch eine nachgelassene Aufzeichnung vom 13. Mai 1942: »Vorläufer der Namen bei den Tieren: die wohlbekannte Beute.«66 Das Spurenlesen, das Heranpirschen, schließlich das plötzliche Ergreifen der Beute gehören zweifellos in die Sphäre der Macht. War Canetti im Umgang mit Namen, was er nicht sein wollte und bekämpfte: ein Machthaber? Oder beschrieb er in diesem Satz nur seine vorsichtige, langsame Annäherung an einen bestimmten Namen, als einen der vielen Götter? Canetti also doch kein Machthaber, sondern im Gegenteil: bloß ein Namensverzückter und Namenssüchtiger? Oder hat er auch die Macht des Namens beobachtet, erlitten und gebraucht? Und wie steht es mit der Bedeutung des Namens: Ist sie Beute oder, wie bei Gott, Geschenk, Offenbarung? Gehen wir, um dieses Problem zu lösen, mit Canetti auf Spurensuche.

|| geistige Lebensform. Zur Bedeutung regionaler Identität und ihrer Repräsentanten (Charles Adler, Lucien Herr, Henri Lichtenberger) für Robert Minder. In: Albrecht Betz und Richard Faber (Hg.): Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 61–76, hier S. 61. Auch in den folgenden Monaten des Jahres 1980 kehrten Canettis Gedanken zu dem Verstorbenen zurück, in dem sich für ihn offenbar das Elsass personifiziert hatte. Während der inzwischen begonnenen Arbeit am dritten Band der Lebensgeschichte, in dem Canetti seinen biografisch wichtigen Aufenthalt in Straßburg zu schildern beabsichtigte, notierte er: »Gern hätte ich über die Zeit im Elsass geschrieben. Aber Robert Minder ist tot.« Siehe ZB 19, 30. November 1980. 65 ZB 19, 31. August 1981. 66 ZB 6.

5 Der Sinn des Namens 5.1 Namen als Zugänge Canetti mochte Herrn Florentin, den Freund seiner Eltern, bei dem er nach dem Tod des Vaters einige Wochen wohnte; er mochte ihn »wegen seines schönen Namens« (VII, S. 66). Diese Empfindung, die Canetti in Die gerettete Zunge nicht begründete, lässt sich nachvollziehen. Die Psychoonomastik hat nachgewiesen, dass unter den Assoziationen, die die Wahrnehmung eines Namens bestimmen, die semantische Assoziation am häufigsten ist: Die Vorstellungen, die Gedanken knüpfen sich dabei an einzelne Moneme.1 Bei Florentin ist das sehr leicht möglich: Wie Heide und Rosa, Erica und Viola, wie Laura und Jasmina gehört dieser Name zu den sogenannten Blumennamen. Es steckt sogar der Name der römischen Blumengöttin selbst darin, zugleich der Göttin des Frühlings. Solche Blumennamen werden im Allgemeinen als besonders schön empfunden; bis heute werden sie von Eltern gerne vergeben, fast immer für Mädchen.2 Canetti hatte eine Vorliebe für Blumennamen. Am 11. August 1945 schrieb er den folgenden Satz in sein Notizbuch: »Blumennamen und ein gleichgültiges Gedächtnis.«3 Die Konjunktion kann nicht verdecken, dass dieser Satz als Antithese zu verstehen ist. Canetti hielt es im Grunde für unmöglich, dass das Gedächtnis gegenüber einem Blumennamen gleichgültig sein könne. Wenigstens legt seine Formulierung nahe, dass es zumeist anders ist. Sein Gedächtnis jedenfalls war alles andere als gleichgültig: Noch viele Jahrzehnte später, als || 1 Vgl. Krien: Namenphysiognomie (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 95. 2 Vgl. dazu schon J[akob] Grimm: Ueber frauennamen aus blumen. In: Ders.: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1865, Hildesheim: Olms 1965 (Kleinere Schriften; 2), S. 366–401, hier S. 387: »Alle und jede frauennamen nach blumen wurden ursprünglich aus dem munde liebender ihren geliebten kosend gegeben und sollen die innigste vorstellung glänzender, duftender schönheit darlegen.« Vgl. auch Michael Mitterauer: Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte. München: Beck 1993, S. 413 und Hirzel: Der Name (wie Kapitel A3, Anm. 16), S. 76. Gerade bei Mädchennamen spielt er schöne Klang eine sehr wichtige Rolle. In ihm soll sich die Schönheit des Mädchens widerspiegeln. Vgl. dazu Wilfried Seibicke: Vornamen. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt a.M.: Verlag für Standesamtswesen 1991, S. 29. Näheres zur Namengebung auch bei Gerhard Koss: Motivationen bei der Wahl von Rufnamen. In: Beiträge zur Namenforschung N.F. 7 (1972), S. 152–173, besonders S. 163 und 169. 3 ZB 8. Siehe dazu auch das Gespräch mit Dora Willy (wie Kapitel A1, Anm. 30), S. 170f.: »Am Anfang besorgte ich ihm wegen des reizvollen Namens eine schwarzäugige Susanna, und der Name tat es ihm wirklich an.« In der Folgezeit habe sie dann zumeist, so Willy, »Blumen mit anmutigen Namen« gekauft.

Namen als Zugänge | 119

Autobiograf, erinnerte er sich sehr gut an Herrn Florentin und dessen schönen Namen. Ob die semantische Assoziation für seine Empfindung freilich allein verantwortlich ist? Canetti sagt es nicht, ein Rest des Rätsels bleibt. Genauso verzückt wie von diesem Namen sah sich Canetti, nun als Erwachsener, von dem Vor- und Nachnamen eines italienischen Philosophen: Nicola Abbagnano. Er fand diesen Namen »wunderbar«, konnte ihn nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Keine Zeile hatte er bis dahin von Nicola Abbagnano gelesen, und seinen Namen kannte er erst seit einem Tag.4 Aber der Name war da und wirkte. Das erinnert an Canettis Faszination für die griechischen Namen. Der Name schafft schon beim ersten Hören eine Verbindung zu seinem Träger. Er macht das noch Fremde vor dem eigentlichen Kennenlernen vertraut.5 Ähnlich erging es Canetti ein knappes halbes Jahrhundert zuvor in Rustschuk: Zuerst hörte er einige Namen, die Namen »der großen Spezialisten jener Tage« aus der Hauptstadt Wien. Von ihren Trägern machte er sich sofort seine eigenen Vorstellungen: Sie erschienen ihm wie Geister, die in ihrer eigenen Sprache redeten. Dann jedoch, als er nach Wien kam, war er »[…] verwundert, daß es all diese Namen: Lorenz, Schlesinger, Schnitzler, Neumann, Hajek, Halban als Leute wirklich gab.« (VII, S. 38)6 Mit Worten verhielt es sich bei Canetti nicht anders: Durch ein Lied, so ist in Das Geheimherz der Uhr zu lesen, sei ihm das Wort »Dohle« lieb geworden. »Das Interesse für Vögel, das später zu einer Passion wurde, hatte seinen Ursprung in diesem Wort ›Dohle‹. ›Polen‹, das sich in diesem Gedicht auf ›Dohlen‹ reimte,– ›sterb ich in Polen‹, so hieß es, – wurde zu einem geheimnisvollen Land.« (IV, S. 403) Die Aufzeichnung, in der diese Sätze stehen, ist voll von anderen Namen und Wörtern, die für Canetti »als solche bedeutend geblieben sind«: Aftalion, Rosanis, Adjubel; Stambol, fuego, zinganas, Worte für Gewächse und nicht zuletzt das Wort, das ihm die Gallier sympathisch machte: gallina – Huhn (IV, S. 402f.). Rationale Gründe für diese Sympathie fehlen auch hier, es bleibt bei einem undurchsichtigen Affekt, der allerdings eine sofortige Beziehung zum je Bezeichneten schafft.

|| 4 Vgl. ZB 13, 15. November 1957. 5 In Canettis Bibliothek findet man unter der Signatur CAN 06311 ein Buch Nicola Abbagnanos: Philosophie des menschlichen Konflikts. Eine Einführung in den Existenzialismus. Vorwort von Ernesto Grassi. Hamburg: Rowohlt 1957 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie; 43). Erschienen ist dieses Buch im selben Jahr, in dem Canetti seine Aufzeichnung geschrieben hat. Es ist also möglich, dass er es erst gekauft hat, nachdem ihn der Name ›verzaubert‹ hatte. 6 Vgl. dazu auch ZB 20, 30. Dezember 1983: »Höre ich einen Namen, so habe ich immer das Gefühl, als könnte ich den Menschen, dem er gehört, leibhaftig vor meinen Augen sehen. Bekomme ich ihn aber wirklich zu Gesicht, so sieht er meist anders aus.«

120 | Der Sinn des Namens

Der Unterschied zwischen Name und Wort ist nicht qualitativ, wohl aber quantitativ. In einer seiner wichtigsten Aufzeichnungen über Namen bekannte Canetti: »Namen sind mir der Zugang zu allem und ohne einen Namen kann ich nichts beginnen.«7 Das ist mehr als eine Metapher. Bei Ferdinand Gregorovius wurde es, wie Canetti aufmerksam vermerkte, zu einer Tat. Von ihm exzerpierte er den folgenden Satz: »›Es ist überhaupt das Erste, worauf ich in einer mir unbekannten Stadt achte, ihre Strassennamen zu lesen und sie mir aufzuschreiben.‹«8 Hier wie dort: Der Name eröffnet einen Zugang zum Fremden und macht es vertraut. Wir müssen ein wenig bei diesem Gedanken verweilen. Kennzeichnend für Canettis Haltung ist – wieder einmal – ein gerüttelt Maß an Passivität: Er ist angewiesen auf den Zugang, sonst kann er nichts beginnen. Von einer Spurensuche ist hier keineswegs die Rede, noch viel weniger von einer Jagd. Seine Abhängigkeit von der Offenheit des anderen im Namen ist rätselhaft. Sie passt auf jeden Fall nicht zu einem Machthaber, der auf Distanz zu den anderen Menschen bleiben will. Seine Meinung über einen Namen und seinen Träger ist kein Urteil. Wo dieses distanziert, stellt jene eine Beziehung her. Was aber ermöglicht diese Beziehung? Die bisherigen Beispiele legen nahe, dass es die mit dem Namen verbundenen persönlichen Vorstellungen sind. Der Zugang wäre demnach subjektiv. Das scheint sich zu bestätigen, wenn man sieht, wie Canetti auf bestimmte Toponyme reagierte. Zu Zugängen wurden auch sie für ihn. Unter den Aufzeichnungen des Jahres 1971 befindet sich ein kurzer Katalog von Städten, die Canetti mochte, »weil sie so heissen«. Es sind München, Berlin, Paris, London, nicht aber, wie man erwartet, Wien.9 Warum mochte Canetti die Stadt seiner Jugend, seines Studiums nicht, jene Stadt, die er in der Nobelpreisrede zu einer seiner »Stadtgottheiten« erhoben hat (X, S. 115)? Die Antwort gab er sich selbst, aber nicht mit letzter Gewissheit. Er äußerte lediglich eine Vermutung, das Ganze war ihm selber nebulös: Es könnte, sagte er, am Namen liegen. Auch die Antipathie gegen Wien beruht demnach nicht auf einem Urteil, so wie Canetti es in Masse und Macht bestimmt; ihr fehlt die »unheimliche[] Sicherheit« des Urteils (III, S. 351) und – wenn man an das Lob auf die Stadt und ihre Intellektuellen in der Dankrede für den Preis der Stadt Wien denkt (X, S. 63–66) – auch die

|| 7 ZB 8, 22. Februar 1944. Vgl. auch ZB 16, 28. Juli 1969 (Hervorhebung im Original): »Alle Verliebtheit beginnt bei dir mit Namen.« 8 ZB 7, 3. September 1943. Das Zitat stammt aus dem 103. Kapitel von Gregorovius' Buch Wanderjahre in Italien. Vgl. dazu auch die folgende Aufzeichnung: »Das eigentliche seines Lebens sind die Strassennamen der Städte.« (ZB 8, 25. Mai 1945) 9 ZB 17, 19. März 1971.

Namen als Zugänge | 121

Konstanz. Eine vergleichbare Abneigung hegte Canetti gegen Nord-Amerika, und zwar »wegen des ›Nord‹ im Namen«.10 Auch dieser Affekt ist subjektiv und mysteriös, die kausale Präposition ist eine Begründung ohne jeden Wert; viele mögen das Ganze lächerlich finden. Canetti versuchte noch mehrmals, seine Affekte zu begreifen – stets ohne endgültigen Erfolg. So lesen wir in Die gerettete Zunge: »Onkel Nathan hieß mit Zunahmen Eljakim, ein Name, der mir nicht behagte, vielleicht befremdete er mich, weil er nicht spanisch klang, wie die anderen alle.« (VII, S. 18f.) Und schon sehr früh, am 18. August 1939, nennt Canetti in seinen Aufzeichnungen zwei Kategorien von Leuten, zu denen er sich unterschiedlich verhielt. Zur zweiten Kategorie gehören Männer mit zwei Vornamen und einem, wie er sagt: »ordentliche[n]« Familiennamen. Erwähnt werden Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Wolfgang Goethe, Johann Peter Hebel. Sie alle genießen Canettis »Wertschätzung«. Anders verhält es sich mit den Männern der ersten Kategorie, Matthew Arnold und Otto Ludwig: Merkwürdige Abneigung gegen Leute, die statt eines besonderen Familiennamens einen zweiten Vornamen tragen. […] Es scheint also zu sein, dass die Unglücklichen der ersten Kategorie für mich gar keinen wirklichen Namen haben; sie fangen viel versprechend mit gleich zwei Vornamen an und sacken dann, umso enttäuschender, ins Nichts ab.11

Es fällt abermals auf, wie vorsichtig Canettis Begründung in diesen Fällen ist. Ob der Name Eljakim ihm aus dem angegebenen Grund missfällt, bleibt durch das Adverb »vielleicht« in der Schwebe, und die Abneigung gegen Leute mit zwei Vornamen klassifiziert Canetti selbst als »merkwürdig«. Er kann bloß angeben, welcher Grund ihm plausibel erscheint. Seine Erklärung ist deshalb noch nicht wahr, geschweige denn intersubjektiv vermittelbar; dazu ist sie zu ausgefallen und bizarr. Canettis Unsicherheit bei der Aufarbeitung seiner Empfindungen ist eine biografische Konstante; zwischen dieser Aufzeichnung und Die gerettete Zunge liegen über drei Jahrzehnte. Und dennoch, der Ungewissheit zum Trotz, eröffnet sich ihm in allen diesen Namen ein Zugang – und zwar auf der Stelle.

|| 10 ZB 7, 9. März 1943. 11 ZB 5a.

122 | Der Sinn des Namens

5.2 Name und Verwandlung Wenn bei Canetti von einem Zugang die Rede ist, dann geht es meistens um Verwandlung. Gemeinsam mit dem Spiel hält er sie für die »Essenz des Menschen« (IV, S. 95).12 In der Münchner Rede Der Beruf des Dichters, einem der wichtigsten Texte zur Verwandlung und ihrer poetologischen Bestimmung, skizziert Canetti die »eigentliche Aufgabe der Dichter«, der »Hüter der Verwandlungen«: »Sie sollten, dank einer Gabe, die eine allgemeine war, die jetzt zur Atrophie verurteilt ist, die sie sich aber mit allen Mitteln erhalten müßten, die Zugänge zwischen den Menschen offenhalten.« (VI, S. 367) Zwar definierte Canetti niemals, was er unter Verwandlung genau verstehen wollte. Und abgesehen von seiner ausgeprägten Abneigung gegenüber Definitionen und seiner »Angst vor der Aristotelisierung meiner Gedanken« (IV, S. 207): Wie widersinnig wäre es auch, gerade dieses Wort begrifflich zu fixieren.13 In seiner Rede gab Canetti aber zumindest einen Fingerzeig darauf, was man sich unter Verwandlung vorzustellen hat: Es ist ein geheimnisvoller, in seiner Natur noch kaum untersuchter Prozeß und doch ist es der einzige wahre Zugang zum anderen Menschen. Man hat diesen Prozeß auf verschiedene Weise zu benennen versucht, es ist etwa von Einfühlung oder von Empathie die Rede, ich ziehe aus Gründen, die ich jetzt nicht vorbringen kann, das anspruchsvollere Wort Verwandlung vor. (VI, S. 367)14

|| 12 Eine Ausnahme findet sich in V, S. 298: »Seine Freunde, dicht gesät wie Sterne, verstellten ihm den Zugang ins Nichts.« 13 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 18: Verwandlung zu definieren liefe ihrem »Wesens- und Sinngehalt« zuwider. »Verwandlung meint Offenheit und Weite, Flexibilität und Verstehen; mit ihr gelingt es, die ›Grenzen der Person‹ zu überwinden und Zugang der Menschen zueinander zu schaffen.« (Ebd., S. 17) Ähnlich Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 515: »Feste Begriffe und die Verwandlung schließen einander aus, da die Verwandlung den Wechsel der Begriffe einschließt.« Vgl. auch Peter von Matt: Die trotzigen Metaphern. In: Ders.: Der Entflammte (wie Kapitel A1, Anm. 53), S. 108–120, hier S. 112 und Zogmayer: … das Rätsel sie sollen lassen stân (wie Kapitel A3, Anm. 8), S. 87. Nach Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 30 verbindet Verwandlung Biologie und Soziologie, weil Canetti darunter nicht nur den Übergang z.B. vom Tier zum Menschen, sondern auch soziale Mobilität versteht. 14 Vgl. dazu auch Zogmayer: … das Rätsel sie sollen lassen stân (wie Kapitel A3, Anm. 8), S. 155: »Der Hinweis auf Einfühlung und Empathie gibt uns jedenfalls eine entscheidende Richtungsbestimmung und Konnotation der Canettischen Verwandlung. Eine Definition ist, wie auch im Fall von Rätsel, Wort oder Dichter nicht möglich, sie wäre widersprüchlich. Durch die wiederholten parallelen Gegenüberstellungen werden sie aber doch klarer.«

Name und Verwandlung | 123

Die beiden Substantive »Einfühlung«15 und »Empathie« verfügen über Präfixe, die den Vorgang als eine Grenzüberwindung ausweisen. Oder wie Canetti formuliert: Der Dichter, der sich verwandelt, hat »Lust auf Erfahrung anderer von innen her« (VI, S. 367). Canetti braucht also einen Zugang, den einzig wahren Zugang. Er braucht keine Abstände, sondern die Berührung, die Entgrenzung der eigenen Person, unbedingte Nähe zu seinem Gegenüber. Ein affektives Verhältnis zum Benannten, ein Verhältnis, das nicht durch rationale Nüchternheit und Distanznahme geprägt ist, wäre wahrscheinlich nicht die schlechteste Möglichkeit, um möglichst nah an einen anderen Menschen zu kommen. Die Verwandlung als der einzig wahre Zugang zum anderen Menschen: Da stellt sich die Frage, ob der Name zwar einen Zugang schafft, aber nicht den wahren Zugang. Haben diese beiden Zugänge, haben Verwandlung und Name miteinander zu tun? Oder stehen sie in einem einander ausschließenden Verhältnis? Der Name hindert die Verwandlung; man benennt die Dinge, um ihnen zu entkommen oder um sie zu nützen. Wer eine Pflanze ansieht, bevor er weiss, wie sie heisst, der liebt sie, der wird sie, der mag sie nicht einmal essen. Solange sie keinen Namen hat, ist es ihm unmöglich, sich ihr wirklich zu entziehen. Wir Tiere aber wollen immer weiter, unsre Begabung ist zweierlei: das ›Weg‹ und das ›Zurück‹. An die Betrachtung einer Pflanze gebunden, wollen wir doch plötzlich auf und davon, wir sagen ein Wort, und wenn es das richtige ist, findet unsre Laune später überall zu ihr zurück. Die Namen sind ein Netz, das der Mensch über die Welt wirft; ein Gerüst, das er in sie stellt; eine primitive Karte aus Stäbchen, wie sie die Völker der Südsee haben; und an ihr findet er sich zurecht. Sie machen ihn stärker als die Tiere, denn deren Orte sind wenige. Jeder Name ist ein Ort: überall, wo er ausgesprochen wird, kann der Mensch zu Hause sein. Der Name bezeichnet noch Eines und Vieles zugleich. Er ist das noch ungespaltene Wort. Die Religionen, die sich um den einen Gott bemühen, meinen den Namen unzerstückt und jung.16

|| 15 Canetti verwendet den Begriff »Einfühlung« im alltagssprachlichen Sinn, nicht im Sinn der transzendentalen Phänomenologie als »[…] Apperzeptionsleistung, in welcher ein anderes Subjekt als anderer Mensch zur Konstitution kommt, also erfahren wird.« Vgl. zu dieser Differenzierung Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie (wie Einleitung, Anm. 52), S. 66. Die Verwandlung soll Canetti immer wieder neue Fremderfahrungen ermöglichen und ihm auf diese Weise helfen, den methodischen Solipsismus der Phänomenologen zu überwinden. Denn sie meint ein »Aus-der-Grenze-des-Ich-Heraustreten, einen Sprung in ein ganz Anderes«. Siehe dazu Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 23 und 521. 16 ZB 6, 12. Mai 1942 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch bereits ZB 3, Juni 1932: »Strassennamen merkt man sich vergleichsweise schwer: sie sind ein Widerspruch in sich, sie bezeichnen eigentlich nichts, keine Person, kein Tier, kein Haus, kein Ding, nur einen Zwischen-

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Wir können auf diese reichhaltige Aufzeichnung hier nicht bis ins letzte Detail eingehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst die Aussage, dass der Name die Verwandlung hindert, dass er gleichsam eine Grenze schafft. Und wichtig ist Canettis Begründung: Dem Unbenannten kann sich der Mensch nicht entziehen, bei der Namengebung jedoch stößt er die Dinge von sich, sei es, um sich nicht mehr mit ihnen zu beschäftigen, sei es, um sich ihrer zu bemächtigen. So heißt es an anderer Stelle, in Die Fliegenpein, über die Menschen: »Solange man ihren Namen nicht kennt, sind sie Unbekannte. Der Name ist die Abwehr der Menschen und mit ihm beginnen sie gegeneinander Schrecken um sich zu verbreiten.« (V, S. 45) Der Name als Abwehr des Menschen: Erst im Vorgang des Benennens macht der Mensch sich die Welt zum Gegenüber, schafft er sprachlich jene Distanz zwischen Subjekt und Objekt, Eigenem und Nicht-Eigenem, die in der Verwandlung wieder überwunden werden soll. Zu ihr gehört nicht Abstand oder Trennung, keine Hierarchie, sondern Gleichheit – eine Gleichheit etwa der Körper wie bei den »Vorgefühlen« der Buschmänner, die die alte Wunde des Vaters, den Tragegurt der Ehefrau, das Blut des Springbocks jeweils an ihrem eigenen Körper spüren (III, S. 401). Namen als Netz, als Gerüst, als primitive Karte aus Stäbchen – all das sind im Gegenzug Metaphern für die Bemächtigung, die den Menschen heraushebt aus seiner Umwelt, ihn stärker macht als jedes Tier, das er sich in der Namengebung ebenso unterordnet wie alles andere: »Die Tiere ahnen es nicht, daß wir sie benennen. Oder sie ahnen es doch, und dann ist es darum, daß sie uns fürchten.« (IV, S. 28) Geradeso wird der Mensch, wenn schon nicht Gott selbst, so doch ihm, dem Schöpfer und Machthaber, ähnlich – sein Abbild. Die Namen hindern die Verwandlung noch aus einem zweiten Grund. Indem der Mensch Namen vergibt, ordnet er die Welt nach seinen Vorstellungen. Er macht sie sich vertraut, und zwar für immer. Namen sollen Ordnung schaffen und sie dauerhaft fixieren; wer Namen vergibt, will nie mehr unsicher sein, nie mehr auf Fremdes stoßen. Nicht von ungefähr bestimmt Canetti die Berührungsfurcht, die Angst vor der »Berührung durch Unbekanntes«, in Masse und Macht als anthropologisches Konstituens (III, S. 13). Bekanntschaft jedoch setzt Erstarrung voraus, das Gegenteil von Verwandlung: Travemünde, um ein Beispiel John Stuart Mills zu zitieren, heißt Travemünde, selbst wenn ein Erdbeben den Fluss Trave weit von der Stadt ablenken würde. Sollten sich aber die Vorstellungen, die zu einer Namengebung geführt haben, als völlig falsch erweisen – so || raum, noch dazu einen, der sich auf beiden Seiten ins Unendliche erstreckt. Wirkliche Namen haben etwas Begrenzendes. […]« (Hervorhebung im Original)

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ist der Name nicht weniger dauerhaft. Bis heute werden die Ureinwohner Amerikas Indianer genannt, obwohl wir längst wissen, dass Amerika nicht Indien ist. Namen sind also, um es mit Saul Kripke zu sagen, »starre Bezeichnungsausdrücke« (»rigid designators«) in allen möglichen Welten.17 Das hat seine Vorteile, und Canetti war keineswegs blind für sie. Immerhin attestierte er dem Menschen eine zweifache Begabung, die ihn dazu nötige, sich, wie er sagte, »Orte« in der Welt zu schaffen, um so stets wieder auf Bekanntes zu stoßen. Doch ganz besonders hob er die Nachteile der Benennung heraus – und nicht nur hier. In einer nachgelassenen Aufzeichnung heißt es unerwartet radikal: »Das Benannte geht einen nichts mehr an.«18 Hiernach verstellt der Name den Zugang zu den Menschen, den Dingen, den Orten; man will sich mit nichts mehr beschäftigen, denn man kennt es bereits. Und so lässt der Name den Menschen allmählich den Blick verlieren für die Vielfalt, das je andere Gegeben-Sein des Benannten, das man in seinem Namen auf eine und immer die gleiche Formel reduziert. Obwohl sich ein Mensch fortwährend verändert, so Bertrand Russell, ist er für uns, nicht zuletzt wegen seines unveränderten Namens, gleichsam derselbe (»a single quasi-permanent entity«).19 Bei Canetti klingt dieser Gedanke nicht ganz so nüchtern: »Noch immer bewältigt man, was man sieht, nur auf die eine und alte Weise, indem man ihm seinen Namen gibt. Aber wie quillt es dann zu allen Ritzen und Ecken und Enden des Namens hervor, wie leuchten die fahlen Blitze zwischen den Dingen.«20 Was soll das alles bedeuten? Wie kann ein Name Zugang sein und zugleich den einzig wahren Zugang zwischen den Menschen behindern? Und gibt es eine »Erlösung durch Unbekannte« (V, S. 45), obgleich Canetti feststellen musste: »Ein unbenanntes Stück Erde suchen. Es gibt keins« (IV, S. 443)?21 Ist die Quad|| 17 Saul A. Kripke: Naming and Necessity. 2nd Edition, Oxford: Blackwell 1980 (Library of philosophy and logic), S. 48. Eine deutsche Übersetzung liegt vor unter dem Titel: Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit. Übersetzt von Ursula Wolf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 1056). Das Zitat findet sich dort auf S. 59. 18 ZB 8, 26. Mai 1945. 19 Vgl. Bertrand Russell: Human Knowledge. Its Scope and Limits. London: Allen and Unwin 1948, S. 76. 20 ZB 6, 6. Mai 1942. Vgl. dazu auch Gespräch mit Gerd Gaiser. In: Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: Hanser 1962, S. 208–220, hier S. 214. »Das Namengeben ist eine offenbar uralte Weise der Bewältigung. Der Mensch, im zweiten Kapitel der Genesis, ergreift Besitz von einer Welt, indem er Namen austeilt.« 21 Siehe dazu auch ZB 9, 9. Oktober 1946 (Hervorhebung im Original): »Die blosse Vorstellung einer Welt, in der noch nichts benannt ist, erfüllt mich mit dem grössten Gefühl des Glücks. O wie viel Platz, wie viel Platz ist in einer solchen Welt! Es sind die Namen, die sich stossen, und nicht die Atome.«

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ratur des Kreises möglich? Kann man das Benannte trotzdem als Unbekanntes erleben? Canettis Reaktionen auf die Namen Florentin und Abbagnano, die Namen der griechischen Götter, der Wiener Berühmtheiten und der großen Städte zeigen, dass diese Möglichkeit für ihn existierte. In Die Stimmen von Marrakesch erhalten wir einen weiteren Hinweis. Bei seinem Spaziergang durch die Mellah hat Canetti zufällig einen jungen, mit der Zeit etwas aufdringlichen Mann kennen gelernt: Élie Dahan. Nun ist er bei dessen Familie zu Gast, in einem Geschäft voller Zucker, mitten in der Mellah. Dort trifft er bald auch den Vater des Jungen, es ist ein »stattlicher Mann mit einem schönen, weißen Bart« und lachenden Augen, ein Patriarch (VI, S. 63). Der Junge, der als Dolmetscher fungiert, stellt Canetti dem ›Père‹ zunächst vor, doch so wie er den Namen sagt, »mit seiner stumpfen, kaum artikulierenden Stimme«, klingt er in Canettis Ohren nach nichts (VI, S. 63). »E-li-as Ca-ne-ti?« wiederholte der Vater fragend und schwebend. Er sagte den Namen ein paarmal vor sich hin, wobei er die Silben deutlich voneinander abhob. [I]n seinem Munde wurde der Name gewichtiger und schöner. Er sah mich dabei nicht an, sondern blickte vor sich hin, als wäre der Name wirklicher als ich, und als wäre er es wert, daß man ihn erkunde. Ich hörte erstaunt und betroffen zu. In seinem Singsang kam mir mein Name so vor, als gehöre er in eine besondere Sprache, die ich gar nicht kannte. Er wog ihn großherzig vier- oder fünfmal; mir war, als höre ich das Klingen von Gewichten. Ich fühlte keine Sorge, er war kein Richter. Ich wußte, er würde Sinn und Schwere meines Namens finden; und als es soweit war, blickte er auf und lachte mir wieder in die Augen. (VI, S. 64)

Canetti schildert an dieser Stelle einen Vorgang, der im letzten – man beachte wieder die Konjunktive – ein Geheimnis bleibt, und zwar für den Leser genauso wie für den Autor selbst. Gleichwohl bemüht sich Canetti zu verstehen, was der Großvater vor seinen Augen tut. Seine tastenden Bemerkungen, seine Vermutungen sind sehr aufschlussreich, sie machen das Geheimnis, um eine Formulierung Goethes aus den Maximen und Reflexionen zu gebrauchen, zu einem »offenbare[n] Geheimnis«22. Die zentrale Frage dabei ist: Bemächtigt er sich des Namens, oder wartet er auf eine Zugangsmöglichkeit zu seinem Gegenüber, auf ein Gefühl? Der Vater erinnert mit seinem »Namen-Singsang[]« (VI, S. 64) an jenen Marabu, von dem Canetti in einem vorigen Kapitel der Stimmen von Marrakesch

|| 22 Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Maximen und Reflexionen. Hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. Textredaktion: Wolfgang Bunzel, Martin Ehrenzeller und Edith Zehm. München, Wien: Hanser 1991 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe; 17), S. 715–953, hier S. 751.

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erzählt. Da beobachtet er: Sobald man dem Marabu eine Münze gibt, sei es auch die schmutzigste, drückt er sie an seine Lippen, lässt sie in seinem Mund verschwinden und beginnt zu kauen. Schließlich spuckt er sie aus und steckt sie sich in die Tasche. Anfangs weiß Canetti nicht, was er von diesem Vorgang zu halten hat; er meint aber, dass der Speichel »sicher einen besonderen Zweck« habe und die Bewegung des Mundes »irgendein[en] Sinn« (VI, S. 25). Die aufmerksame Beobachtung dieses Vorgangs bringt die Erleuchtung: »Indem er [der Marabu – A.S.] die Münzen der Geber mit seinem Speichel in Berührung bringt, erteilt er ihnen einen besonderen Segen und erhöht so das Verdienst, das sie sich durch das Spenden von Almosen im Himmel erwerben.« (VI, S. 26) Der Speichel selbst aber kann nur diesen Zweck haben: Durch die »Anteilnahme seines Mundes« geht etwas von der Heiligkeit des Marabu, dem man »besondere Kräfte« zuschreibt, auf die schmutzigen Münzen über, die erst danach, als veränderte Münzen, wirklich in seinen Besitz übergehen (VI, S. 26). Vor diesem Hintergrund ließe sich der Singsang als eine solche Aneignung mit dem Munde verstehen. Der Vater wartet nicht, er macht sich den Namen, wie der Marabu die Münze, aktiv zu eigen, indem er ihn sich gleichsam einverleibt. Der »Namen-Singsang[]« erinnert indes auch an die Sprache aus Zauberformeln, die Magie des Deutschen. Und er erinnert daran, dass Canetti sich weigerte, vor seiner Reise nach Marrakesch Arabisch zu lernen, um die »Kraft der fremdartigen Laute« nicht durch »unzulängliches und künstliches Wissen« abzuschwächen. Er wollte, so heißt es da, von den Worten so betroffen werden, »[…] wie es an ihnen selber liegt, und nichts durch unzulängliches und künstliches Wissen abschwächen.« (VI, S. 21)23 Einiges spricht dafür, dass etwas Ähnliches auch hier geschieht: Indem der Vater die Silben des Namens mehrere Male vor sich hin singt, lässt er, dieser Lesart zufolge, eine Kraft zur Entfaltung kommen, die ihm nicht zugehört und auch nicht dem Benannten: Es ist der Zauber des Namens. Der Name tritt aus dem Alltag heraus, er wird, seiner bloß zweckhaften Verwendung als Identifikationsmittel entkleidet, »gewichtiger« und »schöner«. Ausdrücklich bemerkt Canetti, sein Name sei ihm damals vorgekommen, als gehöre er in eine besondere Sprache, »[…] die ich gar nicht kannte.« Nicht nur für Canetti rückt der Name damit in die Ferne des Mysteriösen, auch für den Vater verliert er die alte Vertrautheit – immerhin trägt sein Sohn

|| 23 Auf den Zusammenhang von Name und Fremdsprache weist bereits Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 144 hin: Beidem liege die »Faszination des Akustischen« zugrunde.

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den gleichen Vornamen wie Canetti.24 Der Name ist nicht mehr bekannt, er ist kein »Ort«, um Canettis schon besprochene Aufzeichnung zu zitieren, keine Heimat; er ist jetzt wieder frisch und muss ganz neu erkundet werden. Erkundung ist in diesem Abschnitt überhaupt das Schlüsselwort, der Vater erscheint wie einer jener alten Reisenden, denen die Erde, wie Canetti schreibt, noch rätselhaft und weitgehend unbekannt gewesen sei.25 Zum einen zeigt dieses Wort die Aktivität des Vaters an und zum anderen, dass er sich erst affizieren lassen muss. In Das Geheimherz der Uhr träumt Canetti von einem Land, »[…] wo alle Namen unbekannt sind.« (IV, S. 434) Man achte auf die Formulierung: Es gibt in diesem Land Namen, das Numerale deutet es an, aber sie sind nicht bekannt. Aber wie wird der Name von dem alten Père erkundet? Mitten im Singsang glaubt Canetti, das Klingen von Gewichten zu hören. Der Name wird also imaginär gewogen, seine »Schwere« ermittelt, auf eine wiederum rätselhafte Art. Denn was bedeutet Schwere? Geht es um die Schwere des Namens, die den falschen Träger zu Boden zieht, wie Canetti in einer Aufzeichnung schreibt?26 Was wäre ein falscher Träger? Wir wissen es (noch) nicht. Dadurch dass Canetti ausdrücklich erwähnt, der Vater sei kein Richter gewesen, macht er allerdings so deutlich wie nur möglich: Der Singende enthält sich eines Urteils, ein Machthaber ist er nicht. Den Namen und seinen Träger schiebt er nicht, wie der Urteilende, rasch und weit von sich weg, das Gegenteil ist richtig: Er holt ihn zu sich, er erkundet den Namen mit seiner eigenen Stimme. Er ist auch nicht passiv, er wartet nicht auf eine plötzliche Empfindung. Um einen Zugang zu finden, begibt er sich selbst auf die Suche nach seinem Sinn. Was Canetti in seiner Aufzeichnung theoretisch formuliert, dass der Name ihm einen Zugang biete, könnte nicht konkreter geschildert werden als hier: Der Vater schaut Canetti während seines Singsangs nicht ins Gesicht, der Name ist das Entscheidende. Er ist kein bloßes Instrument, sondern hat seinen eigenen Wert. Er schiebt sich zwar auch jetzt noch zwischen die Menschen, aber eben nicht als Hindernis auf dem Weg zur nächsten Nähe, sondern gerade umgekehrt: als Zugangsmöglichkeit. || 24 In einer Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen beschreibt Canetti einen ähnlichen Vorgang auf anderem Gebiet. Ein Vorteil des Reisens, schreibt er, sei das »Durchbrechen des Ominösen. Die neuen Orte fügen sich nicht in alte Bedeutungen ein. Für eine Weile öffnet man sich wirklich.« (IV, S. 228) 25 Vgl. IV, S. 36: »Die alten Reiseberichte werden so kostbar sein wie die größten Werke der Kunst; denn heilig war die unbekannte Erde, und sie kann es nie wieder sein.« 26 Vgl. V, S. 141: »Namen von geringem spezifischen Gewicht: Ballons, die rasch in die Höhe steigen. Schwere Namen, die den falschen Träger zu Boden ziehen.«

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Auf den Sinn des Namens stößt der Vater keineswegs sofort, beim ersten Sprechen, es braucht wie bei den Bettlern, die unentwegt Alláh rufen, die Wiederholung. Es braucht Zeit. Der Sinn entsteht, so wie auch der Sinn der Ereignisse, Bilder und Laute, der Stimmen von Marrakesch, erst nach und nach in Canetti entstanden ist (VI, S. 21). Die Kriterien, nach denen der Name gewogen wird, bleiben allerdings erneut im Dunkeln, das Nächste, was Canetti schildert, ist die affektive Reaktion des Vaters am Ende: Er lacht seinem Gegenüber in die Augen. Und danach heißt es: »Er stand nun da, als wolle er sagen: der Name ist gut, aber es gab keine Sprache, in der er es mir sagen konnte.« (VI, S. 64) So ist der Name zu einem Zugang geworden – und wieder, ohne dass wir etwas über die Gründe sagen könnten. Warum ist der Name gut? Und weist der gute Name auf einen guten Menschen hin? Die Fragen lassen sich zu einer einzigen Frage bündeln: Was bedeutet »Sinn«? Canetti verwendet das Wort in seinen Aufzeichnungen mehrmals, so etwa in Die Fliegenpein: »Den Sinn verhalten, nichts ist so widernatürlich wie die unaufhörliche Aufdeckung des Sinns. Der Vorzug und die eigentliche Macht der Mythen: daß der Sinn nicht genannt wird.« (V, S. 67) Ähnlich etwas später im selben Band. Der Mythos, so Canetti, habe »Kraft und schließlich Sinn«, der Sinn dürfe nur nicht in die Augen springen (V, S. 111). Die ganze Episode im Geschäft der Familie Dahan, ja der Name selbst rücken somit in die Nähe des Mythos. Der Name hat Sinn, doch dieser Sinn wird verschwiegen, und zwar aus (für Canetti) gutem Grund: »Der Sinn versteint, er gehört in die Geologie.«27 Wer den Sinn ein für allemal gefunden wähnt, ihn als seine Beute betrachtet, der erstarrt wie Peter Kien, der Protagonist der Blendung, zu Stein. Wer nicht bereit ist, den Sinn zu erkunden und immer wieder neu zu erkunden, der sichert sich mit Namen nur die eigene Macht. Will man beim Umgang mit Namen die Verwandlungsfähigkeit nicht behindern, so darf man keinen Sinn absolut setzen, denn das wäre die »Tyrannei festgefahrener Bahnen«. Der Name muss verwandlungsfähig bleiben, seine Sinnfülle darf nicht beschnitten werden.28 Der Sinn

|| 27 Die leider abgebrochene Aufzeichnung lautet so: »Den Tod in Frage stellen, bis er nicht mehr besteht. Aber nicht für mich allein nicht, das wäre furchtbar, ich will nicht überleben, ich will, dass alle überleben. Unsinn? Gewiss. Nur im Unsinn sind Fragen begriffen. Der Sinn versteint, er gehört in die Geologie. Der Unsinn formuliert …« Zitiert nach ZB 22a, 17. Juli 1965 (Hervorhebungen im Original). 28 Die Kabbalisten kennen die Vorstellung von einer unendlichen Sinnfülle des einzelnen Wortes. Für den Autor des Buches Sohar beispielsweise hat jedes Wort und jeder Name siebzig Aspekte, wobei diese Zahl die »unerschöpfliche Totalität des göttlichen Wortes« bezeichnet. In der Safeder Kabbalistenschule ging man später davon aus, dass es in der Tora sogar 600.000 Aspekte und Erklärungen gebe, entsprechend der Gesamtzahl der Seelen Israels in jeder Gene-

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mag zwar als Beute empfunden werden in eben jenem Augenblick, in dem man ihn gefunden zu haben glaubt; doch niemand hält ihn ein für allemal in Händen. Die Jagd ist nie zu Ende, ja der Jäger selbst ist gewissermaßen ein Gejagter, da er vom Sinn gepackt wird.29 Wir begreifen jetzt noch genauer, wieso der Name das rätselhafteste aller Worte ist. Das Klingen der Gewichte, das Canetti während des Singsangs zu hören meint, ist situativ zu verstehen. Das Wägen, der Zugang zur Wahrheit, ist an den Augenblick gebunden, die Begegnung. Das erinnert an die Aufzeichnungen: Auch der Sinn des Namens springt. Zu fragen wäre jedoch, ob Canetti einen Namen heute für schön und morgen für hässlich halten kann. Oder bleibt das Gefühl, die Art des Zaubers, konstant? Noch wissen wir es nicht. Wir werden diese Frage erst im abschließenden Kapitel des ersten Teils beantworten können, da wir weitere und noch aussagekräftigere Indizien zusammentragen müssen. Sicher ist aber schon jetzt: Als Canetti und der Pére aufeinander treffen, ereignet sich eine Grenzüberschreitung – und zwar von beiden Seiten. Canetti fühlt, kaum ist der Singsang vorüber, eine »unbändige Liebe« für den Vater. Beide stehen sich einige Augenblicke gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen. »Es wäre entwürdigend gewesen, diesem Dolmetsch noch etwas anzuvertrauen, kein Dolmetsch wäre mir für ihn gut genug.« (VI, S. 64) Nach diesem wundervollen Vorgang, der Canetti verzaubert hat, kann es zwischen beiden Männern kein Medium mehr geben, nicht einmal die Sprache als eine Mittlerin. Die Beziehung ist eine unmittelbare geworden. Etwas Ähnliches, aber längst nicht so Elementares, eine zaghafte Grenzüberschreitung von nur einer Seite, hat sich zuvor ereignet, als der junge Élie Dahan den englischen Politiker Lord Samuel fälschlicherweise mit einem Samuel aus seiner Familie in eins setzte. Er empfand dabei das »Gefühl einer entfernten Verwandtschaft« (VI, S. 52). Etwas weiter geht die Grenzüberschreitung zwischen Mann und Frau im Kapitel »Die Brotwahl«. Auch hier stellt Canetti einen Zusammenhang zwischen Wiegen und

|| ration. Vgl. Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 13), S. 89f. Ein direkter Einfluss der Kabbala auf Canettis Denken ist allerdings bei der momentanen Quellenlage nicht nachweisbar. 29 In einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1957 betont Canetti, dass er bei der Sinnsuche stets zunächst der Empfangende war: »Es hatte alles immer Sinn, selbst die Verzweiflung. Es mag von einem Augenblick zum andern anders ausgesehen haben: immer war es ein Sinn, der weiterwuchs. Ich mag ihn nicht einmal erkannt haben, er erkannte mich. Er mag geschwiegen haben, später nahm er das Wort. Er sprach in einer fremden Sprache, ich habe sie gelernt.« (IV, S. 226) Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem (wie Einleitung, Anm. 6), S. 98 greift deshalb zu kurz, wenn er meint, der Sinn des Namens werde beim Singsang vom Hörer beigesteuert.

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Liebe her, doch diese Liebe braucht einen Mittler: das Brot. Mitten in der Stadt der Mauern, Gitter und Verschleierungen ermöglicht dieses Brot eine Berührung. Zunächst nimmt die Frau den Laib, »als ob sie ihn wöge«, dann tätschelt und liebkost sie ihn. Durch diese Behandlung wird das Brot, das eine geradezu weibliche Form besitzt, zum symbolischen Repräsentanten der Frau, die der Käufer nicht berühren darf: »›Das kann ich dir von mir geben, nimm es in deine Hand, es war in meiner‹«. Und der Mann? Er greift nach dem Laib, wirft ihn in die Höhe, schwankt ein wenig mit der Hand, »als wäre dies eine Waagschale«, tätschelt ihn ein paarmal, legt ihn wieder weg oder behält ihn und nimmt ihn dann gleichsam in sich hinein, indem er ihn unter seinen Überwurf steckt (VI, S. 70f.). Freilich: Ist die unmittelbare Grenzüberschreitung im Hause der Dahans eine Einfühlung im Sinne der Verwandlungslehre? Wenn Verwandlung für Canetti so viel heißt wie »Erfahrung anderer von innen her« und wenn der Mensch einen seiner Mitmenschen über dessen Namen tatsächlich von innen her erfahren soll, so darf dieser Name keinesfalls beliebig, ein arbiträres Zeichen sein. Er muss wahr und dem Benannten angemessen sein. Denn wer sich verwandelt, der braucht so genannte »Knotenpunkte«; für Canetti sind sie die »hervorstechenden Züge des anderen Geschöpfes« (III, S. 402). Sollten diese »Knotenpunkte« nicht etwa nur am Körper des Menschen zu finden sein, sondern auch im Namen?30 Einen ersten Anhaltspunkt hat bereits die Rede von der »Schwere« des Namens geliefert, einen zweiten finden wir in einer Aufzeichnung aus dem Nachlass: Nichts ist ergreifender als das Wort einer fremden Sprache, das in der eigenen einen besonders tiefen Sinn bekommt. Die Erfüllung eines Ortsnamens, Great Missenden, den ich seit fünf Jahren kannte, als ich durch Zufall heute auf den Friedhof dieses Ortes stiess.31

Wieder wird der Sinn nicht genannt, man kann allenfalls mutmaßen. Da es sich um einen Friedhof handelt, könnten wir das englische Wort »Missenden« mit dem deutschen Verb »vermissen« zusammenbringen. Der Ortsname hätte für Canetti dann den folgenden, tieferen Sinn: Er stünde für ein bestimmtes Verhältnis zum Tod, nicht für das Triumphgefühl des Überlebenden, das der Mensch – nach Canetti – jedes Mal auf Friedhöfen empfindet (III, S. 326f.), son-

|| 30 Das Wort Name bedeutet ursprünglich so viel wie »›unterscheidendes Kennzeichen, hervorspringendes Merkmal, Wahrzeichen‹«. Vgl. Adolf Bach: Deutsche Namenkunde. Bd. 1: Die deutschen Personennamen. Berlin: de Gruyter 1943 (Grundriss der germanischen Philologie; 18), S. 3. 31 ZB 8, 30. Oktober 1945.

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dern für das Aufbegehren gegen den Verlust, für die Nicht-Akzeptanz des Todes. Im Namen wäre das Wesen des Ortes also enthalten. Von hier aus fällt der Blick zurück auf Die gerettete Zunge. Wird der von Canetti als schön empfundene Name des Herrn Florentin zuerst genannt, weil er die innere Schönheit seines Trägers bereits offenkundig macht? Nimmt er vorweg, was sich schließlich, im konkreten Verhalten des Herrn Florentin, als wirklich erweist: dass er ein liebenswürdiger Mensch ist, ein echter Freund? Ist Florentin ein guter Name wie Elias Canetti für den alten Père? Sollte man diese Fragen bejahen, wäre es klar, wieso Canetti den Eindruck gewann, der Père habe seinen Namen behandelt, als sei dieser wirklicher als er. Sollte nämlich der Name das Wesen des Benannten in sich bergen, dann würden alle Menschen, alle Orte, das gesamte Leben auf dieser, der prägenden Wirklichkeit beruhen. Der Name wäre dann kein Instrument des Menschen zur Weltbeherrschung, sondern etwas Drittes, ein ›tertium datur‹ von ganz eigenem Wert neben dem Namengeber und dem Benannten. In diesem Fall müssten allerdings die Fragen nach dem Verhältnis von Aktivität und Passivität, von Fixierung und Nicht-Fixierung erneut gestellt werden, und zwar im Hinblick auf den Namenträger und seine Verwandlungsfähigkeit. Nachdem wir die akustische Macht des Namens kennen gelernt haben, müssen wir nun erforschen, ob er auch (Wirk-)Macht über seinen Träger hat. Eine kryptische Aufzeichnung vom 8. August 1975 deutet an, dass diese Frage einer gründlichen Erwägung bedarf: Im Grunde weiss man über Namen nichts, obschon sich alles um sie dreht, was unter Menschen geschieht; das Wesen des Namens ist so geheimnisvoll wie das Leben selbst, vielleicht ist es sogar eine neue Multiplikation von Leben innerhalb der besonderen Form des Menschen.«32

|| 32 ZB 18 (Hervorhebung im Original).

6 Das Schicksal im Namen »Nietzsches Name ist richtig. Kein Buchstabe daran ist zu ändern.«1 Canetti brachte diesen eigenartigen Satz am 9. Mai 1985 zu Papier, da war er beinahe achtzig Jahre alt. Eigenartig ist dieser Satz, weil Canetti nicht erläutert oder auch nur andeutet, was an Nietzsches Name so richtig sei, dass man keinen Buchstaben ändern dürfte. Einen brauchbaren Hinweis finden wir in einer Aufzeichnung, die wir schon kennen, wenn auch nicht wörtlich. Es handelt sich um jene erste Aufzeichnung über Namen, die Canetti fast auf den Tag genau sechsundfünfzig Jahre zuvor in sein Notizbuch geschrieben hatte: Namenlosigkeit: Luther? Robespierre? Trotzki? Marx wurde nie Führer einer Revolution. Nietzsche zischte sich an seinem feurigen Namen wahnsinnig. ›Bach‹ ist – wenn man den deutschen Wortsinn ausser acht lässt – streng und tief. ›Mozart‹ klingt nach seiner eigenen Musik. Beethoven spricht sich heiss aus vor innerer Reibung. Was bedeutet demnach Wagner? der h. bayr. Wagner. Seine Firlefanz-Karosserien sind tot. Leonardo ist breit und umfassend, Raffael nur ein glatter Engel, Michelangelo – birst von geheimen Rhythmen. Hals fleischiges Leben, Rembrandt eine irdische Rinne, Dante, – Bach ins Romantische gesetzt, Laotse dunkel und verhalten, Goethe höfisch, Aristoteles nüchtern, Setze Heraklit gegen Demokrit.2

Hinter diesen seltsamen Namendeutungen steht eine gemeinsame Vorannahme: Der Name ist richtig, weil er mit seinem Träger in einer wesenhaften Beziehung steht: Er bestimmt sein Leben und sein Handeln. Und er wirkt auch auf den Hörer, indem er einen deiktischen, anscheinend nicht beliebigen Eindruck hinterlässt. Gehen wir exemplarisch auf einige dieser Namen ein. Bei Nietzsche wird der Zischlaut des Namens zu einem Verb: Nicht eine Krankheit, sondern das Zischen, für Canetti gleichsam Nietzsches Lebensgeräusch, führte den Philosophen in die geistige Umnachtung. Es könnte allerdings genauso gut möglich sein, dass Canetti an eine zischende Schlange dachte. Wahrscheinlich wusste er, dass Nietzsche sie seinem Zarathustra zusammen mit dem Adler beigesellt hatte und dass sie außerdem für ihn die Macht symbolisch repräsentierte – jene Macht, nach der es ihn, wie Canetti meinte, so sehr gelüstet hatte, dass er ihr am Ende erlegen war (IV, S. 248).3 Noch deutlicher ist die Beziehung || 1 ZB 20 (Hervorhebung im Original). 2 ZB 2, Mai 1929. Unter Heraklit steht: »feurig und dunkel zugleich«, unter Demokrit: »mathematischer Name«. 3 Vgl. zur Schlange als Begleiterin Zarathustras Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 4), S. 11. Zur Schlange als Symbol der Macht siehe ders.: Jenseits von Gut und Böse.

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bei Mozart, der nach Canetti im Namen eins mit seiner eigenen, »zarten« Musik geworden sei, und bei Raffael, der für seine madonnenhaften Gesichter, vor allem seine Engel bekannt ist – man denke nur an die Sixtinische Madonna. Deutlich auch die Beziehung bei Frans Hals, der das niederländische Alltagsleben seiner Zeit darstellte: Kneipen, Gilden- und Schützenfeste, Trinker, Zigeuner, Prostituierte; bei Laotse, dem Canetti den Beinamen des Heraklit, der Dunkle, adjektivisch zuschreibt, vermutlich, um anzudeuten, dass seine Sprache genauso mysteriös sei wie diejenige des griechischen Philosophen; und schließlich bei Aristoteles, dem Canetti zufolge die Leidenschaft gefehlt habe, sich von den Dingen packen, sich mitreißen zu lassen. In allen diesen Fällen ist der Name ein Mittel zur Erkenntnis. Die Form der Erkenntnis lässt sich noch genauer beschreiben: In den Aufzeichnungen spricht Canetti an einer Stelle, die mit Namen nichts zu tun hat, von der »Verkürzung der Philosophen zu Spielkarten« (IV, S. 517). Er meint damit die Reduktion ihrer Philosophie auf ein Schlagwort, eine Floskel. In Die Blendung sind solche Floskeln: »der Wille zum Leben« bei Schopenhauer, das »Ich« bei Fichte, der »Ewige Friede« bei Kant (I, S. 100).4 Nichts anderes geschieht bei der Namensdeutung: Canetti erkennt, indem er die Menschen zu

|| Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1980 (Kritische Studienausgabe; 5), S. 9–243, hier S. 61f.: »[...] wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species ›Mensch‹ dient, als sein Gegensatz [...].« Nach Gerald Stieg: Canetti und Nietzsche. In: Mark H. Gelber, Hans Otto Horch und Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Tübingen: Niemeyer 1996 (Conditio Judaica; 14), S. 345–355, hier S. 345 kommt Nietzsche unter all den Feinden, die Canetti in seinen Aufzeichnungen erwähnt, »unbestreitbar« die wichtigste Funktion zu. In einem Typoskript, Bestandteil der in Zürich aufbewahrten Materialsammlung zu Masse und Macht, heißt es über Nietzsche sogar: »Er zwingt einen zur heftigsten körperlichen Reaktion: zum Brechen.« Zitiert nach ZB 44, September 1942 (»Nietzsche«); dazu Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 449. Zu Canetti und Nietzsche vgl. auch Altvater: Die moralische Quadratur des Zirkels (wie Einleitung, Anm. 75), S. 92f. Altvater arbeitet zunächst einige Berührungspunkte zwischen Canetti und Nietzsche heraus. Abschließend beschreibt sie Canettis »System« aber doch, in Abgrenzung von Nietzsche, als »Wille zur Ohnmacht«. Einen Vergleich bietet auch Heide Helwig: Canetti und Nietzsche. In: Stieg und Valentin (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen« (wie Einleitung, Anm. 10), S. 145–162. 4 Auch geistige Strömungen fasst Canetti auf diese Weise zusammen wie etwa die Romantik (»Du bist alles«), den Impressionismus (»Du bist ein Fluss«) und den Skeptizismus (»Du bist wohl ein Irrtum«). Sogar für sich selbst findet Canetti ein entsprechendes Schlagwort: »Sei nichts«. Siehe ZB 3, Mai 1932.

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Spielkarten verkürzt. Er leitet ihr gesamtes Schaffen oder ihre Persönlichkeit intuitiv aus dem Namen ab, für Differenzierungen, für Komplexität ist kein Raum. Das kommt auch bei Kollektiva vor: »Die Schlagworte leben ewig, in den Namen der Völker.«5 Sechzehn Jahre nach seiner ersten Aufzeichnung über Namen, am 6. Mai 1943, schreibt Canetti die beiden folgenden Sätze; auch sie verkürzen ein Menschenleben auf Spielkartengröße: »Wordsworth ist in seiner Zufriedenheit mit sich erstickt. Sein Name ist sein genaues Schicksal.«6 Canetti spielt hier wahrscheinlich nicht auf den leiblichen Tod des William Wordsworth an, sondern, im übertragenen Sinne, auf sein Ende als Dichter: als ein in seinen Augen ernstzunehmender Dichter. Wir haben ja schon erwähnt, dass Canetti den Dichter in seiner Münchner Rede als jemanden bestimmt, der besonders viel von Worten hält. Wordsworth hingegen hält, Canettis Namensdeutung zufolge, besonders viel nur von sich selbst und, wie es scheint, deutlich weniger von den Worten, denen er als Dichter aber alles zu verdanken hat, sein gesamtes Werk. Canetti versteht den Namen somit als redenden Namen7: Wordsworth glaube, er sei der Worte würdig; daraus gewinne er Zufriedenheit, eine selbstgefällige und für einen Dichter gerade deshalb tödliche Zufriedenheit. Was Wordsworth in Canettis Augen fehlt, ist die Demut, die ein Dichter braucht, um wahrhaft Dichter zu sein. Wordsworth ist für ihn ein Machthaber, und zwar ein Machthaber im Hinblick auf die Worte. Einen solchen Machthaber beschreibt Canetti in Die Provinz des Menschen, er nennt dabei allerdings keinen Namen. Es könnte Wordsworth sein oder ein anderer: »Er setzt die Worte im Sprechen zu ruhig, er hat immer Macht über seine Worte, sie jagen ihn nie, sie verhöhnen ihn nie, sie machen ihn nie lächerlich – wie soll ich diesem Menschen trauen?« (IV, S. 72) Wordsworth, || 5 ZB 7, 14. April 1943. 6 ZB 7. Siehe dazu auch ZB 18, 30. Juli 1975: »Am Namen erstickt.« 7 Die erste Definition dieses Begriffs findet sich im 90. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: Redende Namen sind »[…] Namen, die man nur hören durfte, um sogleich zu wissen, von welcher Art die sein würden, die sie führen.« Zitiert nach Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1767–1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (Werke und Briefe in 12 Bdn.; 6/Bibliothek deutscher Klassiker; 6), S. 629. Eine neuere Definition findet sich in Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Einleitung, Anm. 62), S. 76: »Redende Namen […] sind Lexeme, die konventionellerweise nicht als Namen gebraucht werden, bei denen man also außer in eindeutig allein auf Identifikation gerichteten Kontexten dazu neigt, sie als Appellative zu interpretieren.« Siehe auch Franz Dornseiff: Redende Namen. In: Zeitschrift für Namenforschung 16 (1940), S. 24–38; S. 215–218. Alternative Bezeichnungen sind: deskriptiver, signifikanter oder allegorischer Name; attribute name, interpretive name, tag name; characteronym oder appropiate name. Vgl. dazu wieder Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Einleitung, Anm. 62), S. 85.

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der sein Schicksal im Namen mit sich trägt, ist allerdings noch mehr und anders als ein Machthaber: Er ist zugleich das Gegenteil. Denn er begreift nicht, dass er dem eigenen Namen unterworfen ist.8 Gleiches hätte Canetti wohl über Nietzsche gesagt. Das zentrale Wort in der Aufzeichnung über Wordsworth, das Gravitationszentrum der Namensdeutung, ist »Schicksal«. Es bezeichnet hier eine Kraft, die nicht, der hellenistischen Vorstellung von der »tyche« vergleichbar, launenhaft und willkürlich in die individuelle Biografie eingreift, sondern eine Kraft, die den Menschen auf ein ihm bei der Namengebung vorherbestimmtes Ziel hin lenkt. Wir stoßen bei Canetti auf dieses Wort auch anderswo, gleichfalls in Verbindung mit Namen – so in einer Aufzeichnung vom 1. Dezember 1957: »Der Name Quevedos enthält seine Leidenschaft und sein Schicksal. Sein Name hat mich angezogen, noch bevor ich etwas von ihm wusste. Ich habe mich nie lange und ernsthaft mit ihm beschäftigt, und doch fühle ich ihn, durch seinen Namen allein, in mir. Manche grosse spanische Namen haben diese unmittelbare Wirkung auf mich, die von Figuren oder ihres Schöpfers. Dazu gehören die ›Celestina‹, Lazarillo, Góngora und Lope de Vega. Der Name, der mich am meisten fasziniert, ist aber Quevedo.«9 Oder über zehn Jahre später, in einer Aufzeichnung vom 23. Juli 1968: »Vlaminck im Krieg. Sein Name sein Schicksal.«10 Beide Namen versteht Canetti anscheinend, wie bei Wordsworth und Nietzsche, bei Mozart und Hals wieder als redende Namen. Weisen wir es zunächst an Quevedo nach: Im Ladinischen, das der Spaniole Canetti fließend sprach, bedeutet vedér: sehen; man könnte den Namen Quevedo also übersetzen mit »was ich sehe«.11 Das spanische Substantiv »quevedos« bezeichnet außerdem eine bügellose Brille. Sie ist benannt nach Quevedo selbst, der, wie auf den überlieferten Porträts zu sehen ist, einen solchen Kneifer tatsächlich getragen hat. Wenn Canetti nun den Namen zu Quevedos Leidenschaft und Schicksal erklärt, dann könnte er ihn ungefähr so verstanden haben: Das genaue Hinse-

|| 8 Ähnlich die Kritik von Karl Kraus an Heine: »Die Sprache war ihm zu Willen. Doch nie brachte sie ihn zu schweigender Ekstase. Nie zwang ihn ihre Gnade auf die Knie.« Zitat nach Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 (Schriften; 4/suhrkamp taschenbuch; 1314), S. 210. Siehe dazu auch eine Aufzeichnung in V, S. 410, in der Canetti vermutlich zu sich selber spricht: »Auch du, Hochmütiger, bist ein Sklave, der Sprache nämlich, in der du schreibst.« 9 ZB 12. 10 ZB 15. 11 Vgl. Hugo von Rossi: Ladinisches Wörterbuch. Vocabolario ladino (brach) – tedesco. Con traduzione italiana. A cura di Ulrike Kindl e Fabio Chiochetti. Innsbruck: Istitut Cultural Ladin der Universität Innsbruck 1999, S. 397. »Que« schreibt man im Ladinischen allerdings »ke«.

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hen, die schonungslos-exakte Beschreibung der individuellen Schwächen seiner Mitmenschen und der Missstände der damaligen spanischen Gesellschaft – das ist Quevedos Leidenschaft. Diese Passion aber macht ihn dann nicht nur zu einem Dichter, der nach Canetti von einer Leidenschaft besessen sein müsse12, sondern – genauer – zu einem Satiriker. Sie unterscheidet ihn von all denen, die immer nur wegschauen oder nur flüchtig umher sehen, die an der Wirklichkeit so wenig interessiert sind wie der Sinologe Kien in Die Blendung.13 Man kann Canettis Aufzeichnung zwar anders verstehen, aber auch diese Möglichkeit stellt einen Bezug her zwischen Quevedo, als redendem Namen, und der satirischen Form seines Œuvres. Im heutigen Spanisch heißt »vedar« »verbieten« oder »untersagen«; Canetti könnte diese etymologische Bedeutung auf die besondere »Urteilskrankheit« des Satirikers bezogen haben: Der Satiriker, heißt es in einer seiner publizierten Aufzeichnungen, bestelle »sich selbst zum Richter«, sein Gesetz sei »Willkür und Übertreibung« (IV, S. 306). Die Distanzierung von Karl Kraus ließ Canetti die verheerenden Folgen solcher höchstrichterlicher Verfügungen erkennen. Von den Werken Heinrich Heines hatte er sich zunächst ferngehalten, weil Kraus kein gutes Haar an ihnen gelassen hatte.14 Diese erste Erklärung zeigt: Canettis Namensdeutung ist nicht immer so leicht nachvollziehbar wie im Falle Mozarts und Raffaels. Sie ist vielmehr selbst geheimnisvoll, da sie einen kausalen Zusammenhang zwischen Name und Namensträger postuliert, aber nicht näher expliziert. Wir bleiben auf (begründete) Vermutungen angewiesen. Die Deutung der zweiten Aufzeichnung ist noch ein wenig schwieriger. Denn Canetti erwähnt nicht, um welchen Krieg es sich handelt. Einen Hinweis gibt es aber doch: Die Formulierung legt nahe, dass es um ein bemerkenswertes Verhalten geht, vielleicht um einen (positiven oder negativen) Bruch mit der bisherigen Biografie. Bei Vlaminck ist da eher an den Zweiten Weltkrieg als den

|| 12 Vgl. VI, S. 106: »Brochs Laster ist das Atmen. Er atmet leidenschaftlich gern, und er atmet nie genug.« 13 Vgl. IV, S. 307: »Entscheidend für ihn [den Satiriker – A.S.] ist, daß er von sich absieht, und das mag ihm durch körperlicher [sic] Deformation erleichtert werden. Sein Blick ist auf andere konzentriert, seine Betätigung kommt ihm wie gerufen.« 14 Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 166 zitiert aus einem Brief Canettis an eine unbekannte Adressatin vom 14. August 1928. Canetti spricht darin von den »ganz falschen und leider wirklich jüdischen Tönen Heines«. In seinem Essay Karl Kraus. Schule des Widerstands rechnet Canetti Quevedo zu den Ahnen des großen Wieners: »Es war das sonderbarste aller Paradoxe: dieser Mann, der soviel verachtete, seit dem Spanier Quevedo und seit Swift der unbeirrbarste Verächter der Weltliteratur, eine Art Gottesgeißel der schuldigen Menschheit, ließ alle zu Wort kommen.« (VI, S. 134)

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Ersten zu denken. Um es konkreter zu machen: Canetti spielt vermutlich auf Vlamincks germanophiles Verhalten während des Zweiten Weltkrieges an. Der Maler, einst strahlender Exponent der Fauves, hatte einige alte Freunde angegriffen und vor allem Picasso auf übelste Weise beschimpft. In der Zeitschrift Comoedia, dem offiziellen Organ des Vichy-Regimes für Kulturpolitik, hatte er den Spanier als eine »Mensch gewordene Impotenz«15 bezeichnet. Und damit nicht genug: Vlaminck hatte an jener berühmt-berüchtigten Reise französischer Künstler nach Nazi-Deutschland teilgenommen, die Arno Breker, in Absprache mit Goebbels, initiiert hatte; er hatte sich, wenn man so will, auf die Seite des Feindes, der Barbaren, geschlagen.16 In seiner Aufzeichnung bezieht sich Canetti wahrscheinlich auf Vlamincks Herkunft – der Vater des Malers war Flame, und Vlaminck ist ein Herkunftsname. Als Flame, so Canettis mögliche Annahme, musste sich Vlaminck, so wie die Flamen gegen die Wallonen, gegen die romanische Kultur stellen, gegen alles Französische.17 Man mag in dieser Namendeutung, sofern sie denn Canettis Intention entspricht, eine problematische Verharmlosung von Schuld sehen oder ethnischen Mystizismus. Sicher jedoch ist: Canetti wollte niemanden in Schutz nehmen, er wollte nicht verharmlosen, sondern klarstellen, dass der Name Vlaminck seinem Träger zum Schicksal geworden sei. Es wird noch nachzuweisen sein, dass diese Auffassung durchaus Kritik, auch scharfe Kritik, am Handeln und den Entscheidungen des Namenträgers gestattet. Nicht immer sprach Canetti ausdrücklich vom Schicksal, wenn er den Einfluss des Namens auf den Menschen bedachte. Er tat es in einigen Aufzeichnungen aber wenigstens implizit. Am 19. April 1951 zum Beispiel schrieb er über das »Lauern der Namen«. Wir kennen diese Formulierung aus anderem Zusammenhang bereits. Hören wir jetzt, wie Canettis Aufzeichnung weitergeht:

|| 15 Diese Einschätzung wiederholt Maurice de Vlaminck in seinem 1943 erschienenen Buch: Rückblick in letzter Stunde. Menschen und Zeiten. St. Gallen: Erker 1965, S. 139. Hier spricht er auch von der »dekorativen Bastardkunst« Picassos (Ebd., S. 142). Über den Kubismus insgesamt schreibt er: »Als Perversität des Geistes, als Impotenz, als etwas Amoralisches ist der Kubismus ebensoweit von der Malerei entfernt wie die Päderastie von der Liebe.« (Ebd., S. 143) 16 Vgl. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955. München: Beck 2005, S. 750f. Diesem Buch entnehme ich auch das Zitat aus der Comoedia. 17 Eine schicksalhafte Prägung des Malers durch seinen Namen scheint auch Jean Selz anzunehmen. Er kleidet seine Behauptung aber – vermutlich aus Unsicherheit – in eine rhetorische Frage: »Kann man in der flämischen Abstammung Vlamincks den Grund dafür sehen, daß er mit ganz besonderem Einfühlungsvermögen das Wesen der Malerei van Goghs erfasste?« Zitiert nach: Vlaminck. Aus dem Französischen übersetzt von Helga Künzel. München: Südwest Verlag 1967, S. 21.

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»Das Lauern der Namen: ein Spitz, der ein Spitzel werden muss, weil jeder ihn dafür hält. Und warum hält ihn jeder dafür? Weil er beinah so heisst!«18 Es gibt Canettis Meinung nach also einen Teufelskreis, ein Wechselspiel aus Fremdwahrnehmung und reaktiver Anpassung des Namensträgers an eben jenes Bild, das die Mitmenschen sich aufgrund des Namens von ihm gemacht haben.19 Sie setzen voraus, dass es sich bei dem Namen um eine self-fulfilling-prophecy handelt, und bringen sie dadurch erst in Gang. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich diese Behauptung nachvollziehen. Wie einige wissenschaftliche Untersuchungen belegen, können wir tatsächlich nicht anders, als einen unbekannten Namen gleich beim ersten Hören mit einer passenden Vorstellung zu füllen, ihn als einen richtigen Namen aufzufassen.20 Reinhard Krien hat mit Hilfe von Polaritätsprofilen untersucht, welche Vorstellungen von welchen Namen hervorgerufen werden. Die meisten Probanden, um ein Beispiel anzuführen, hielten Friedrich Reinersdorff für einen adligen, vornehmen Mann, und zwar, wie Krien folgert, sehr wahrscheinlich, weil sie im Namen das klassische Bauprinzip von Adelsnamen erkannten, vor allem die barocke Schreibung mit doppeltem »f« am Ende.21 Einige ähnliche, aber wesentlich ausgefallenere Beispiele präsentiert

|| 18 ZB 11 (Hervorhebung im Original). 19 Zum Namen als self-fullfilling-prophecy vgl. Gisla Gniech: »Nomen atque omen« oder »Name ist Schall und Rauch«. In: Debus und Seibicke (Hg.): Anthroponyme (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 397–418, hier S. 398. 20 Vgl. Gerhard Koss: Über das Lernen und Vergessen von Eigennamen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Lingustik 17 (1987), H. 67: Namen, S. 24–37, hier S. 33. Vgl. dazu beispielsweise Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. In: Ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungs- und Seelenkunde. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999 (Werke in zwei Bdn.; 1/Bibliothek deutscher Klassiker; 159), S. 85–518, hier S. 127f: »Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von Personen oder Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden. […] Es ist dieses auch sehr natürlich: denn von einem Dinge, wovon man nichts wie den Namen weiß, arbeitet die Seele, sich, auch vermittelst der entferntesten Ähnlichkeiten, ein Bild zu entwerfen, und in Ermangelung aller andern Vergleichungen, muß sie zu dem willkürlichen Namen des Dinges ihre Zuflucht nehmen […].« Zur Dauerhaftigkeit dieser Vorstellungen, die natürlich immer historisch bedingt sind, siehe Bach: Deutsche Namenkunde 1 (wie Kapitel A5, Anm. 30), S. 570: »Erst die nähere Bekanntschaft mit einem Menschen oder seinem Schaffen beseitigt oft das von seinem Namen erzeugte Vorurteil.« 21 Vgl. Krien: Namenphysiognomik (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 96. Krien kommt zu dem folgenden Ergebnis: »Insgesamt deuten alle bisher zu der Relation Name – Namenträger gesammelten Indizien darauf hin, daß die Hypothese von der Integration des kollektiven Namenbildes in das Ichbewußtsein des Namenträgers den tatsächlichen Gegebenheiten weitgehend entspricht. Die uralte magische Auffassung des Eigennamens hat offenbar einen objektiven charakterologischen Kern.« (Ebd., S. 147) Zustimmend äußert sich Roland Ris: Nameneinschät-

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Dieter Wellershoff: Er erzählt von einem Mann namens Frauenfeind oder, noch grotesker, von einem Lungenarzt mit Namen Dr. Krebs, den sogar er selbst erst nach einigem Zögern konsultiert habe.22 Aber es ist bei Canetti ja auch noch vom »Lauern« des Namens die Rede. Der Name ist, dieser Metaphorik zufolge, eine eigene Kraft, ein Jäger, der nur auf den geeigneten Augenblick zum Zugriff wartet und sich dazu auch anderer Menschen bedient: Sie treiben den Namenträger in die Enge, indem sie ihn mit ihren Vorstellungen konfrontieren und dadurch erst recht auf das Programm des Namens verpflichten. Der Name erweist sich so als Schicksals-Macht, der sich der Benannte schwer widersetzen kann – zumal der Name ihn nicht von außen erreicht oder ihm nur äußerlich bleibt. Nein: Von Beginn an und schier unauflöslich ist der Name mit ihm existentiell verbunden. Er ist das Innerste als Äußeres. Dass Namen das Schicksal bestimmen, gilt bei Canetti nicht zuletzt für zwischenmenschliche Beziehungen – sei es in der Literatur, sei es in der Wirklichkeit.23 Trotz ihrer Kürze programmatisch ist diese Aufzeichnung: »Frau Prägung. Herr Stanz.«24 In demselben Sinn kommentiert Canetti einen Satz aus Italo Svevos Roman La coscienza di Zeno Cosini, den er sich in englischer Übersetzung gekauft hatte: »Adas Name beginnt mit einem A. ›My name is Zeno, and I felt as

|| zung und Namenwirklichkeit. Ein Beitrag zur empirischen Sozioonomastik. In: Debus und Seibicke (Hg.): Anthroponyme (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 259–276, hier S. 261. Ris gelingt es zudem, nachzuweisen, dass die soziale Wirklichkeit nur teilweise, ja zuweilen überhaupt nicht mit der »Namenwirklichkeit« übereinstimmt. Wer etwa den Namen von Gunten trage, werde von seinen Mitmenschen durchschnittlich zu hoch eingeschätzt, wer Ott heiße, dagegen zu niedrig (Ebd., S. 272). 22 Vgl. Dieter Wellershoff: Frauenfeind und Dr. Krebs. Probleme der Namengebung in literarischen Texten. In: Ders.: Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 102–122, hier S. 102ff. Weitere Beispiele bei Gniech: »Nomen atque omen« (wie Anm. 19), S. 399f. Gniech nennt folgende Namen: Dr. Maul für einen Zahnarzt, Dr. Mund für einen Hals-Nasen-Ohrenarzt, Hans-H. Tod für einen Friedhofsgärtner, Helmut Spinner für einen Wissenschaftsphilosophen, Otto Schwanz für einen Bordellbesitzer. 23 Ein derartiges Verhalten zeigt sich auch bei Karl Kraus: Er versucht, den Namen seiner geliebten Sidonie zu deuten und mit dem eigenen in Beziehung zu setzen. Seine Deutung geht so: Karl sei germanisch und heiße Mann, Sidi, das sei Herr. Und Sidonie komme vom hebräischen Zidon (Fischfang) und bedeute: Fischerin (auch Jägerin). Sidonie sei demnach seine Minneherrin und zugleich eine Fischerin, in deren Netz er sich verfangen habe. Vgl. dazu Rolf Max Kully: Namenspiele. Die erotische, die polemische und die poetische Verwendung der Eigennamen in den Werken von Karl Kraus. In: Joseph P. Strelka (Hg.): Karl Kraus. Diener der Sprache – Meister des Ethos. Tübingen: Francke 1990 (Edition Orpheus; 1), S. 139–166, hier S. 142. 24 ZB 20, 8. Januar 1983.

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if I were about to choose a wife from a far country!‹ Sein Name beginnt mit ›Z‹.«25 Zenos Gefühl sieht Canetti durch die Namen bestätigt, weiter als A und Z könnten zwei Buchstaben im Alphabet nicht voneinander entfernt sein. Auch Zenos spätere Frau und Schwester Adas, Augusta, die so sehr das Gegenteil von ihm selbst verkörpert, trägt diesen Buchstaben am Anfang und Ende ihres Namens. Am 14. August 1965 notierte Canetti dann wiederum: »Ich habe einen Mann gekannt, der seinen Namen zu ›Geige‹ änderte, weil er sich eine wohltönende Frau gewünscht hatte.«26 Und nach dem Tod Gerhard Fritschs vermerkte er: »Die drei ersten Buchstaben der Namen Fritsch und Fried sind identisch. War darum der Ruhm des Fried für ihn unwiderstehlich?«27 Alle diese Aufzeichnungen sind nur im Nachlass erhalten, veröffentlicht aber ist diese Aufzeichnung: »›Haben sie die Doppel-s im Namen von Matisse, Poussin, dem Zöllner Rousseau bemerkt?‹ Picasso« (V, S. 338). Auch hier ist es der Name, genauer: das Doppel-s im Namen, das des Menschen Schicksal bestimmt, ihn zu einem Maler prädestiniert. »Namen – Amen: ist er darum der deutschen Sprache verfallen?«28 Kürzer könnte man nicht zusammenfassen, worin die Macht des Namens über seinen Träger besteht: Namen schaffen Tatsachen, indem der Namensträger gleichsam von innen heraus gezwungen wird zu sagen: So sei es. Die Wirklichkeit ist ein Abglanz jener eigentlichen Wirklichkeit, in der das Schicksal längst entschieden ist, bevor der Mensch selbst zu handeln beginnt. Wer den Einzelnen, das Individuum erkunden, wer sich mit ihm vertraut machen möchte, der tut demnach gut daran, wenn er zunächst dessen Namen erkundet, wie der Vater in Marrakesch. Aber wie kommt Canetti eigentlich auf den Gedanken, dass der Name Schicksal, das Substrat des Benannten sei?29 Gibt es dafür irgendwelche Vorbilder, einen historischen Bezugspunkt? Und warum hält Canetti etliche Jahre seines Lebens daran fest, dass Namen so richtig seien wie etwa Nietzsches Name? Ist das nicht anachronis-

|| 25 ZB 15, 6. März 1966 (Hervorhebung im Original). In Canettis Bibliothek findet man unter der Signatur CAN 12208: Italo Svevo: Confessions of Zeno. Translated by Beryl de Zoete. Harmondsworth: Penguin 1964 (Penguin Modern Classis; 2171). Im Deutschen vgl. man die folgende Ausgabe: Zeno Cosini. Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Piero Rismondo. 11. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004 (rororo; 13485), S. 107. 26 ZB 22a. Vgl. dazu auch ZB 18, 2. April 1978: »Der Geiger Geigenfeind, seine besser benannte Frau, sein dreijähriges Kind als Konzertstörung.« 27 ZB 16, 1. April 1969. 28 ZB 12a, 1. März 1955. 29 Vgl. Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung (wie Einleitung, Anm. 17), S. 155.

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tisch, ja mehr noch: Ist es nicht geradezu lächerlich in einer Zeit, da die meisten Eltern ihrem Kind einen Namen nach ihrem persönlichen Wohlgefallen geben?

7 Name und Schicksal im mythischen Denken »Nomen est omen« – so pflegt man noch heute in Anlehnung an den Römer Plautus zu sagen, wenn ein Name seinem Träger zu entsprechen scheint. Der Name ist ein Vorzeichen, er zeigt an, was mit dem Benannten geschehen, wohin er sich entwickeln, wohin er streben wird.1 Dass der Name Persönlichkeit und Werdegang des Trägers bestimmt, ist keinesfalls Canettis eigener Mythos, eine völlig neue idée fixe; es ist vielmehr eine mythische und immer noch weit verbreitete Vorstellung. Sie ist aber wesentlich älter und ernsthafter als das zumeist mit einem Augenzwinkern zitierte Bonmot des vorklassischen Satirikers Plautus. Bei zahlreichen Naturvölkern begegnet sie uns bis heute, selbst wenn diese einen solch abstrakten Begriff wie den des Schicksals gar nicht kennen. Die Ommura zum Beispiel, ein kleiner Stamm in Papua-Neuguinea, betrachten alle Namen als mit den Dingen wesenhaft verbunden.2 Nicht anders ist es bei den Ashanti, die an der Goldküste Westafrikas zu Hause sind. Sie geben ihren Kindern den Namen eben jenes Wochentages, an dem diese geboren worden sind. Denn sie sind davon überzeugt, dass der Tag den Charakter des Neugeborenen bestimmt und die Namen Seelennamen sind. Ein Kind mit Namen »Mon-

|| 1 Plaut. Persa IV, 4, 625, zitiert nach der folgenden Ausgabe: T. Maccius Plautus. Einleitung, Text und Kommentar von Erich Woytek. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1982, S. 118. Bei Plautus finden wir den Gedanken etwa anders formuliert: »nomen atque omen quantivis iam est preti.« 2 Vgl. Hallpike: Die Grundlagen primitiven Denkens (wie Einleitung, Anm. 28), S. 474f. Bei den Naturvölkern existiert insgesamt aber eine enorme Bandbreite an Benennungsmöglichkeiten. In seiner kleinen Studie »The aetiology of Zulu personal names«, erschienen in: Nomina africana 3 (1989), H. 2, S. 31–46, hier S. 32f. zählt Adrian Koopman acht Motive für die Namengebung auf: Die Erinnerung an die physische Verfassung bei der Geburt ist nur eines dieser Motive. Außerdem gibt es etwa die Möglichkeit, Namen nach den Umständen der Geburt zu vergeben, nach der geistigen Haltung der Eltern oder nach dem Tage der Geburt. Vgl. dazu auch Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Aus dem Französischen von Hans Naumann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 14), S. 201–235. Bei den Zulu existieren nach Koopman noch fünf weitere Namenklassen, so z.B. Namen, die sich auf die Rolle Gottes bei der Geburt beziehen oder auf die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern. Sein Fazit: »Zulu names reflect the position of the individual both within the immediate family and the wider family. […] Zulu personal names are without doubt ›social documents‹.« (S. 45) Zahlreiche Beispiele bietet auch der Forschungsüberblick bei Rosa Katz: Psychologie des Vornamens. Bern, Stuttgart: Huber 1964 (Beiheft zur schweizerischen Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen; 48), S. 8–19.

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tag« (»Kwadwo«) sei ruhiger und friedvoller als ein Mittwochskind (»Kwaku«), ein Name, mit dem die Ashanti übrigens auch Hitler belegten.3 Das geistige Fundament dieser beiden Kollektivvorstellungen ist die »Einheit von Ideellem und Materiellem«4. Der Name ist nicht bloß ein symbolischer, er ist ein »realer Teil« des Menschen. Das Wesen des Benannten ist in ihm, wie Ernst Cassirer formuliert, »beschlossen« und »gleichsam verdichtet«.5 Das nun ermöglicht jede Form des Namenzaubers und verhindert obendrein Verwirrung und Chaos. Denn mythisch gedacht, garantieren Namen eine geordnete und beständige Welt, eine Welt, in der alles seinen fixen Sinn hat. Der Mensch ist, wie er heißt, er wird sein Wesen nicht grundlegend verändern, jedenfalls nicht, solange er seinen Namen trägt. Die Ordnung, die mit dem Begriff des Schicksals verbunden ist, ist die strengste Form von Ordnung überhaupt: die Notwendigkeit. Nicht von ungefähr sind schon bei Platon die drei Schicksalsgöttinnen, die Moiren, Töchter der Göttin Ananke, der Notwendigkeit.6 Zum Durcheinander kann es niemals kommen, wenn das Schicksal, als Notwendigkeit verstanden, waltet: Innen und Außen, Charakter und Taten des Menschen sind gleich, Erkenntnis und Benennung nicht voneinander geschieden. Die Hinweise auf Platon und Plautus deuten es bereits an: Auch bei den frühen Kulturvölkern, den Ägyptern, den Juden und eben den Griechen und den Römern, gehören Name und Wesen zusammen. Der Name bestimmt die Zukunft des Benannten, in der sich sein Wesen schicksalhaft entfalten wird. So erhält Abram von Gott einen anderen (besseren) Vornamen, nämlich Abraham: Vater einer Menge von Völkern (Gen 17,5). Kurz zuvor hatte ihm der Engel Jahwes verheißen, was Gott an ihm dereinst vollbringen wird: »Ich will deine Nachkommen so zahlreich machen, daß man sie vor der Menge nicht wird zählen können.« (Gen

|| 3 Vgl. G[ustav]. Jahoda: A Note on Ashanti Names and their Relationship to Personality. In: British Journal of Psychology 45 (1954), H. 3, S. 192–195. Jahodas Untersuchungen zeigen, dass die Montagskinder tatsächlich friedvoller sind: Sie begehen prozentual weniger Straftaten als die Mittwochskinder. Jahoda erklärt diesen Umstand so: »It is probable that for many Ashanti there is some truth in the saying nomen est omen.« (Ebd., S. 195) 4 Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München: Beck 1985, S. 174. 5 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 2 (wie Kapitel A4, Anm. 30), S. 51. Vgl. dazu auch Freud: Totem und Tabu (wie Kapitel A4, Anm. 48), S. 398: Der Name eines Menschen sei für die Primitiven ein »Hauptbestandteil seiner Person, vielleicht ein Stück seiner Seele«. Vgl. auch ebd., S. 347: »ein wesentliches Stück und ein wichtiger Besitz der Persönlichkeit«. 6 Plat. rep. X, 617c zitiert nach Platon: Politeia – Der Staat. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry, Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Sonderausgabe, Darmstadt: WBG 1990 (Werke in 8 Bdn.; 4), S. 862f.

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16,10)7 Eine schöne Zukunft stellen ihren Trägern auch viele griechische Namen in Aussicht, man glaubte, dass sich ein Kind seinem Namen gemäß entwickeln werde. Allein vom griechischen Wort für Ruhm, »kleos«, existieren über zweihundert Namensableitungen.8 Ähnlich die Vorstellung und das Handeln bei den Römern: An der Grundsteinlegung des wiedererbauten Kapitolinischen Tempels im Jahre 70 durften nur Soldaten mit »fausta nomina« teilnehmen.9 Solche Namen waren Felix, Faustus oder Prosper; das ihnen verheißene Glück sollte dem Tempel von Anfang an zugutekommen. Auch bei Ortsnamen ließen sich die Römer gelegentlich von mythischen Vorstellungen leiten: Die Stadt Maleventum etwa benannten sie in Beneventum um (der Überlieferung zufolge wegen der dort gewonnenen Schlacht gegen Pyrrhos von Epirus), und auch Epidamnos in Illyrien erhielt, römisch geworden, einen neuen Namen: Es hieß fortan Dyrrhachium, wohl damit der Name nicht an »damnum«, das Verdammte, erinnere.10 Im germanischen Bereich schließlich sollte dem Kind mit dem Namen etwas vom Wesen eines seiner Vorfahren mitgegeben werden. Man bevorzugte Namen, die durch Stabreim an den Namen des jeweiligen Ahnen anklangen.11 Am berühmtesten geworden sind die Namen eines Vaters und seines Sohnes, die sich später allerdings bekämpften. Es handelt sich um die Hauptpersonen des althochdeutschen Hildebrandslied: Hiltibrant und Hadubrant. In den Metamorphosen, neben Homers Odyssee für Canetti eines der beiden »Grundbücher der Antike« (VI, S. 365), setzt auch Ovid (bisherige Mythenversionen übernehmend) einen kausalen Zusammenhang zwischen Name und Wesen des Menschen voraus.12 Überraschenderweise verdeutlicht er ihn zunächst

|| 7 Ein weiteres Beispiel aus dem Alten Testament, das den Zusammenhang von Name und Wesen zeigt: »Mein Herr setze nicht sein Herz wider diesen Nabal, den heillosen Mann; denn er ist ein Narr, wie sein Name heißt, und Narrheit ist bei ihm.« (1 Sam 25,25) Zu den Namen im Alten Israel vgl. nach wie vor Martin Noth: Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung. Nachdruck der Ausgabe 1928, Stuttgart: Kohlhammer 2010 (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament; 46=F. 3, H. 10). 8 Vgl. Krien: Namenphysiognomik (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 116f. Siehe auch Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 111. 9 Tac. hist. 4, 53, zitiert nach P. Cornelius Tacitus: Historien. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt und hg. von Helmuth Vretska. Stuttgart: Reclam 1984 (RUB; 2721), S. 533. Vgl. dazu Schmidt: Die Bedeutung des Namens in Kult und Aberglauben (wie Kapitel A4, Anm. 5), S. 20 und Krien: Namenphysiognomik (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 117. 10 Vgl. Friedrich Kainz: Psychologie der Sprache. Bd. 1: Grundlagen der allgemeinen Sprachpsychologie. 3., unveränderte Auflage, Stuttgart: Enke 1962, S. 253. 11 Vgl. Bach: Deutsche Namenkunde 1 (wie Kapitel A5, Anm. 30), S. 580. 12 In Anlehnung an Adolf Ellegard Jensen könnte man die Sage von Lykaon als einen ›ätiologischen Mythos‹ klassifizieren. Vgl. dazu Jensens Aufsatz: Echte und ätiologische (explanatori-

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an einer Verwandlung: Lykaon, dessen Name sich vom griechischen »lykos«, der Wolf, herleitet, sieht zwar nicht aus wie ein Wolf, er ist ein Mensch, der Herrscher von Arkadien zumal. Doch er ist bereits so blutrünstig wie ein Wolf. Jupiter, der als Gast in seinem Hause weilt, erregt sein Misstrauen; Lykaon will ihn daher auf die Probe stellen. Heimlich tötet er eine Geisel aus dem Stamm der Molosser. Die Glieder des Leichnams lässt er kochen, anrichten und Jupiter servieren, um zu prüfen, ob er bemerke, was da vor ihm auf dem Tisch zum Essen liege. Jupiter erkennt die frevlerische List. Er wird zornig, und zur Strafe verwandelt er den fliehenden Übeltäter in einen Wolf. Lykaon wird so, was er immer schon war, die Schöpfung ist wieder in Ordnung, da das Äußere dem Inneren entspricht. Lykaon wird sich künftig auch äußerlich gleichbleiben, so sehr wie innerlich, er wird sich nicht etwa noch einmal und anders verwandeln. In gewohnter Mordlust (»solitaeque cupidine caedis«) stürzt er sich nunmehr auf das Vieh, gleich grausam ist sein Gesichtsausdruck (»eadem violentia vultus«), gleich auch seine Augen und das Bild seiner Wildheit (»eadem feritatis imago«).13 Der Unterschied zu modernen Namenstheorien, etwa derjenigen von Saul Kripke, könnte nicht deutlicher werden als hier. Denn Kripke bestreitet dem Namen die Notwendigkeit: Keine einzige Eigenschaft des Mose, so sein Beispiel, sei notwendig, er hätte leben können, ohne sein Volk aus Ägypten geführt, ohne die Zehn Gebote empfangen zu haben.14 Und Lykaon? Im Mythos ist der Name sein Lebensgesetz, Lykaon mordet nicht, er muss morden. Wer den Namen freilich für nicht notwendig, sondern für kontingent hält, muss dem entgegen halten: Lykaon hätte sehr wohl leben können, ohne wie ein Wolf zu

|| sche) Mythen, der in folgendem Sammelband bequem zugänglich ist: Karl Kérenyi (Hg.): Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch. Darmstadt: WBG 1967 (Wege der Forschung; 20), S. 262–270. 13 Ov. met. I, 234–239, zitiert nach P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt und hg. von Michael von Albrecht. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2003 (RUB; 1360), S. 22f. Ovid folgt in der Lykaon-Metamorphose dem antiken Konsens über Charaktertypen, der sich besonders in der Tyrannentopik zeigt: Der Mensch entwickelt sich nicht, sondern seine bereits angelegten Eigenschaften treten mit der Zeit immer deutlicher hervor. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Jörg Fündling. 14 Vgl. Kripke: Name and Necessity (wie Kapitel A5, Anm. 17), S. 66; in der deutschen Übersetzung, S. 79. Ähnlich auch Odo Leys: Was ist ein Eigenname? Ein pragmatisch orientierter Standpunkt. In: Debus und Seibicke (Hg.): Namentheorie (wie Einleitung, Anm. 25), S. 143–165, hier S. 151. Die einzige Voraussetzung für die Referenz des Eigennamens sei, so Leys, dass es irgendwo ein Objekt gebe, das implizit oder explizit so benannt worden sei und auf das sich der Name bleibend beziehen lasse. Die Kenntnis der Eigenschaften des Objektes sei dabei nicht von Bedeutung.

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töten; für seine Untaten sei also nicht der Name, sondern der Mensch selbst verantwortlich. Der mythische Namenglaube hat, aller Aufklärung zum Trotz, die Zeiten der Griechen, Römer und Germanen überdauert. Er ist heute nicht etwa nur auf die Naturvölker beschränkt, er ist noch immer auch Teil unseres Denkens.15 Überall dort erweist es sich als wirkmächtig, wo wir, wie Ingeborg Bachmann, von der Aura eines Namens sprechen oder wo wir, wie Kriens Probanden, aus dem Namen sogleich auf den Träger, seinen Beruf, seinen Stand, sein Aussehen schließen.16 Und nicht zuletzt erweist er sich als wirkmächtig überall dort, wo Menschen einen tiefgreifenden inneren und äußeren Wandel über einen Namenswechsel, als »rite de passage«, verdeutlichen: Man denke an den Klosternamen eines Mönchs, den Namen des Papstes, Bühnen- und Künstlernamen, nicht zuletzt an die Kosenamen in einer Paarbeziehung17. Und doch befremdet Canettis Namenglaube. Anders als Kriens Testpersonen, die keinerlei Informationen über den Benannten besitzen und sich erst aus diesem Grund genötigt sehen, über den Namen zu einer Vorstellung von ihm zu gelangen, weiß Canetti über Nietzsche, Quevedo und Goethe eine ganze Menge: Er kennt ihre Werke, ihre Gedanken, ihre Biografie. Trotz allem hält er an seiner Überzeugung fest: Das Schicksal dieser Männer ist nirgendwo anders beschlossen und verdichtet als in ihren Namen. Canettis Namenglaube ist insofern keine instinktive, sondern eine bereits reflektierte Vorstellung. Dafür muss es einen Grund geben. Natürlich kann man auf Canettis »Leidenschaft« für Religionen und Mythen (V,

|| 15 Das mythische Denken kommt bei starken Emotionen mehr zum Tragen als bei rationalen Überlegungen. Im Traum wirkt es sich mehr aus als im Wachzustand, im Erleben eines Kunstwerks mehr als bei praktischen und theoretischen Tätigkeiten. Vgl. dazu András Horn: Mythisches Denken und Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 18. 16 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 2 (wie Kapitel A4, Anm. 30), S. 50. Zahlreiche Belege bei Daniels: Über die Sprache (wie Kapitel A4, Anm. 8). Stellvertretend genannt sei René Schickele: » Der Name hat sie für mich verwandelt. Sie ist eine andre als zuvor, sogar in körperlicher Beziehung. Sie ist kleiner und runder geworden. Sie ist, was ihr Name sagt: Pipette. […] Die kleinsten Männer wollen einen Kopf größer sein als ihre Geliebte, die ängstlichen sie an Kühnheit übertreffen. Dazu erfinden sie Kosenamen. Und siehe, der Name, womit man ein Ding belegt, erweist sich als so stark, daß dieses, dem Augenschein zum Trotz, nachgibt. Es fügt sich, begibt sich in die Gefangenschaft seines Namens. Und wir, die wir die Wahrheit kennen, folgen ihm.« Zitiert nach ebd., S. 166. Siehe dazu auch Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 116 und Seibicke: Die Personennamen im Deutschen (wie Einleitung, Anm. 27), S. 87: »Ich bin der Meinung, daß ein Rest Namenmagie in den meisten von uns, wenn auch stark abgeschwächt, weiterlebt.« 17 Vgl. Leisi: Paar und Sprache (wie Kapitel A3, Anm. 16), S. 25 und 28.

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S. 125) verweisen18; sie brachte ihn immerhin dazu, Mythen über Mythen zu studieren und sie sogar lieber zu lesen als »jedes komplizierte psychologische Gebilde der Moderne« (IV, S. 54). Aber das genügt nicht, es ist noch zu allgemein. Nützlicher ist der Hinweis auf diese Aufzeichnung: »Es ist ein ernstes Ziel meines Lebens, alle Mythen aller Völker wirklich zu kennen. Ich will sie aber so kennen, als hätte ich an sie geglaubt.« (IV, S. 97) Glaubte Canetti an die Richtigkeit der Namen, weil er an Mythen glauben wollte? Man versteht Canettis Vorstellung dann erst ganz, wenn man sie mit einer der wichtigsten Sprachaufzeichnungen aus Die Provinz des Menschen verknüpft. Die Geschichte vom Turm zu Babel (Gen 11) deutet Canetti darin als den zweiten Sündenfall: »Die Verwirrung der Namen«, meint er, wobei er »Name« als Synonym für Wort verwendet, sei die Verwirrung der Schöpfung durch Gott selbst, eine »teuflische«, eine im wörtlichen Sinn diabolische Tat.19 Seither gebe es für ein und dasselbe Ding die verschiedensten Bezeichnungen, in jeder Sprache einen anderen Namen. Aus diesem Grund, so Canetti, müsste man beinahe »[…] daran zweifeln, daß es dieselben Dinge sind.« (IV, S. 18)20 Unausgesprochen

|| 18 Vgl. dazu Canettis Ausführungen im Gespräch mit Horst Bienek: »Ja, ich lese nichts lieber als Mythen. Der wichtigste Teil meiner Bibliothek besteht daraus, es mögen an die dreihundert Bände sein. Die meisten stammen von den sogenannten Naturvölkern. Aus einem dieser Bücher über die Buschmänner habe ich mehr gelernt als aus manchen der bedeutendsten Werke der Weltliteratur.« (X, S. 167) Den Begriff Mythos definiert etwa Mircea Eliade: Mythos und Wirklichkeit. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M.: Insel 1988, S. 15 wie folgt: »Der Mythos erzählt eine heilige Geschichte; er berichtet von einem Ereignis, das in der primordialen Zeit, der märchenhaften Zeit der ›Anfänge‹ stattgefunden hat.« Die meiner Arbeit zugrundeliegende Definition, die noch besser zu Canettis Denken passt, habe ich in der Einleitung, S. 11, Anm. 35 und S. 22 mit Anm. 69 genannt. Weitere Definitionsmöglichkeiten nennt kursorisch Dieter Borchmeyer: Mythos. In: Ders. und Viktor Žmegač: Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2., neu bearbeitete Auflage, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 292–308, hier S. 293f. Zu den Mythen rechnet Canetti allerdings ganz Verschiedenes: Neben die alten Mythen, die Vorstellungs- und Glaubensinhalte primitiver Völker beschreiben, treten bei ihm historische Reiseberichte, Tagebücher, Biografien und die Darstellungen psychiatrischer Fälle. Vgl. Zepp: Privatmythos und Wahn (wie Einleitung, Anm. 35), S. 41f., außerdem Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 13. 19 Karla Pilgerstorfer kommt in ihrer Dissertation über Canettis Sprachauffassung (wie Einleitung, Anm. 17), S. 101 zu der folgenden Interpretation: Die Bezeichnung »teuflische Tat« unterhöhle die biblischen Werte; deshalb könne man nicht ernsthaft annehmen, Canetti habe die Vorstellung von einer Ursprache übernommen. Dieser Übergang vom Befund zur Deutung ist keineswegs zwingend, zumal Pilgerstorfer die etymologische Bedeutung des Wortes Teufel nicht berücksichtigt, auf die Canetti hier ganz sicher anspielt. 20 Vgl. dazu eine analoge Stelle in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn: »Die verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zeigen, dass es bei den Worten nie auf die

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setzt er damit voraus, dass es vor der Verwirrung nur wahre und richtige Bezeichnungen gab – Namen, die den Baum, den Fluss, das Tier passend benannten.21 Denn nicht nur die Namen, die Schöpfung selbst ist nach dem Sündenfall verwirrt. Sie ist für den Menschen nicht mehr durchschaubar, die Dinge scheinen sich mit jedem neuen Namen genauso zu verändern. Gottes Tat ist »die teuflischste, die je begangen wurde«, weil sie die eine richtige Sprache durch zahlreiche irrlichternde Bezeichnungen ersetzt. Canetti stellt sich damit in eine sprachmystische Tradition, die die erste Namengebung in Gen 2,20 so auslegt, dass Adam das wahre Wesen der Tiere erfasste, als er sie im Paradies benannte.22 Diese Vorstellung begegnet uns bei christlichen Theologen des Mittelalters || Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen.« Zitiert nach Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 1), S. 873–890, hier S. 879. 21 Vgl. Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 261, Anm. 15. 22 Die biblische Namengebung lässt sich als ein Herrschaftsakt verstehen, wie Viktor Notter: Biblischer Schöpfungsbericht und ägyptische Schöpfungsmythen. Mit Geleitworten von Hellmut Brunner und Herbert Haag. Stuttgart: KBW 1974 (Stuttgarter Bibelstudien; 68), S. 159–163 feststellt: Die Namengebung sei »als intellektueller Akt auch die Grundlage für das physische Bezwingenkönnen«. »Durch die Namengebung beherrscht der Mensch die Tierwelt magisch und rechtlich; durch die Namengebung erobert er sie sich auch geistig.« (Zitate: S. 162 und 161) Für den Ägypter ist Benennung, so Notter, stets die Grundlage für eine dreifache Form von Herrschaft: eine magische, eine rechtliche und eine geistige. Vgl. auch Walther Zimmerli: 1 Mose. 3. Auflage, Zürich u.a.: Zwingli 1967, S. 140f.: »Namengebung ist Herrschaftsakt. Gott übergibt dem Menschen etwas von seiner Herrschaftsmacht, wenn er den Herrschaftsakt der Namengebung dem Menschen überläßt.« Eine sprachmystische Deutung findet sich etwa bei Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 140–157, hier S. 148: »Gott machte die Dinge in ihren Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.« Benjamin deutet das nicht als Bemächtigung, für ihn ist die Idee der Gemeinschaft wichtig. Zum einen spricht er von einer »magische[n] Gemeinschaft« der menschlichen Sprache mit den Dingen (S. 147), zum anderen bestimmt er den Eigennamen als »die Gemeinschaft des Menschen mit dem schöpferischen Wort Gottes.« (S. 150) Zusammenfassend heißt es am Ende: »Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein geistiges Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt, denn auch die Natur ist von einer namenlosen stummen Sprache durchzogen, dem Residuum des schaffenden Gotteswortes, welches im Menschen als erkennender Name und über dem Menschen als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat.« (S. 157) Der entscheidende Unterschied zwischen Canetti und Benjamin sowie der jüdischen Kabbalistik besteht, allen Gemeinsamkeiten zum Trotz, in der konsequenten Aussparung Gottes, was den Ursprung der

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ebenso wie beim Autor des Sohar.23 Im Gegensatz zu Canetti gab er freilich nicht Gott, sondern den anmaßenden Menschen die Schuld an der Verwirrung der Sprache. Aber dem Gedanken, den Canetti in einer seiner Aufzeichnungen zur Sprache brachte, hätte auch er zugestimmt: »Ungeheuer wichtig sind die Namen der Geschöpfe. Die Vorstellung von ihrer Benennung am Anfang der Genesis ist einer der wenigen Fingerzeige zu einem Eindringen in die Natur der Namen.« (V, S. 141) Aus einer anderen Aufzeichnung wissen wir: Dass man durch bloße Anschauung auf den Namen eines Tieres, einer Pflanze, sogar eines Steines kommen könne, war für Canetti nicht etwa ein abwegiger, sondern ein vertrauter Gedanke.24 Es ist keineswegs beweisbar, aber doch sehr wahrscheinlich, || Sprache anbelangt. Gott tritt bei Canetti lediglich im Nachhinein und in negativer Rolle in Erscheinung: als Urheber der Sprachverwirrung. Dazu passt auch, dass Canetti in seiner Aufzeichnung den Grund verschweigt, der zum Turmbau führte: Die Menschen, heißt es in der Genesis, wollten sich einen Namen machen, sie allein tragen also, biblisch gesehen, die Schuld am Verlust der wahren Sprache. Vgl. zu Benjamin und Canetti auch Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Einleitung, Anm. 5), S. 164. Zu den Berührungspunkten zwischen Canettis Auffassung und der Sprachmystik bzw. Kabbala vgl. zudem Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 296f. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass auch Karl Kraus, der Streiter wider die Phrase, ein religiöses Verhältnis zur Sprache besaß, indes ohne sich auf die Kabbala zu berufen. Vgl. Paul Schick: Karl Kraus mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965 (rowohlts monographien; 50111), S. 140: »Als einziges Kriterium für die Wahrheit einer Sache galt ihm die Wahrhaftigkeit der Sprache, die Identität von Wort und Wesen. Er wußte aber, daß auch dieses Kriterium den Irrtum nicht ausschließt, da man sich über die Wahrhaftigkeit des anderen täuschen kann und auch die Wahrhaftigkeit selbst noch nicht die Wahrheit verbürgt.« Siehe dazu vor allem eine vielzitierte Stelle in Nachts: »Wort und Wesen – das ist die einzige Verbindung, die ich je im Leben angestrebt habe.« Zitiert nach Kraus: Aphorismen (wie Kapitel A2, Anm. 8), S. 431. 23 In der Vulgata heißt es: Adam nannte die Tiere nominibus suis. Diese Übersetzung lässt offen, ob er die Tiere »aufgrund irgendeines außersprachlichen Rechts« benannte oder ob er nur eine Konvention begründete, der die Nachgeborenen folgten. Vgl. dazu Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. 3. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002 (dtv; 30829), S. 22. Die erste Auffassung setzte sich durch und gehörte schließlich zum Allgemeingut der mittelalterlichen Sprachtheorie. Vgl. dazu Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Bd. 1: Fundamente und Aufbau. Stuttgart: Hiersemann 1957, S. 6. Einen Überblick über die zahlreichen Belegstellen bietet Bd. 4. Stuttgart: Hiersemann 1963, S. 1948. Stark zusammenfassend Bauer: Deutsche Namenkunde (wie Kapitel A1, Anm. 31), S. 26. Zur jüdischen Tradition vgl. Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala (wie Kapitel A4, Anm. 36), S. 55: »Die ursprüngliche, paradiesische Sprache des Menschen hatte noch diesen Charakter des Sakralen, das heißt, sie war noch unmittelbar und unverstellt mit dem Wesen der Dinge, die sie ausdrücken wollte, verbunden.« 24 Eine Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen beschreibt, wie der »denkende Mensch« einen Namen prüfe und dabei sehe, wie falsch dieser für die Sache sei, die er bezeichnen solle.

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dass er dies für die Benennung in der Genesis ebenso voraussetzt. Die Dinge beim Namen zu nennen heißt: sie kennen. Mit der Sprachverwirrung in Babel, so glaubten Generationen von Gelehrten und auch von Pseudowissenschaftlern, sei die wahre Sprache, die biblische Ursprache, zwar verloren, jedoch nicht ganz verloren gegangen. Deshalb mühten sie sich, diese Sprache zu finden oder wenigstens eine Sprache, die ihr so nah wie möglich käme.25 Um dergleichen ist es Canetti nicht zu tun, auch wenn ihm der Gedanke einer Ursprache keineswegs fremd gewesen ist26. Es geht ihm in seiner Aufzeichnung zunächst um eine wichtige Klarstellung jenseits aller philologischen Spielereien: Erkenntnis und Benennung gehören, wie im Mythos, unabdingbar zusammen. Mit einer anderen Bezeichnung ist auch das Bezeichnete anders. Ohne die »Einheitlichkeit der Namen« in einer Welt mit verschiedensten Sprachen und wechselnden Bezeichnungen kann es keine Richtigkeit und keine Ordnung geben. Da sind nur Zweifel, nur Zwiespalt und Verwirrung. Das klingt resignativ. Aber: Bereits Jechiel Michel Epstein, der Autor des Kizzur schnei luchoth ha-brith, meinte, die profanen Sprachen enthielten Restbestandteile der heiligen Sprache.27 Nicht anders Canetti, der allerdings weder den Sohar noch eine andere kabbalistische Schrift jemals erwähnt.28 So unterschiedlich die einzelnen Sprachen auch seien, in einem wichtigen Bereich || So verarme er, und alles werde leer. Zum Glück aber gebe es eine Abhilfe: »[D]ie Welt ist reich; wieviel Tiere, wieviel Pflanzen, wieviel Steine hat er nie gekannt. Wenn er sich nun um diese bemüht, nimmt er mit dem ersten Eindruck von ihrer Gestalt ihre Namen auf, die noch unbezweifelt sind, schön und frisch wie für das Kind, das sprechen lernt.« (IV, S. 66) 25 Vgl. dazu vor allem Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache (wie Anm. 23). 26 Vgl. dazu IV, S. 527: »Das Fremdartige des Wortes ›Atem‹, als wäre es aus einer anderen Sprache. Es hat etwas Ägyptisches und etwas Indisches, aber mehr noch tönt es nach einer Ursprache. Die Worte im Deutschen finden, die nach einer Ursprache tönen. Als erstes: Atem.« (IV, S. 527) Bei Canetti, der hier vielleicht an Aton denkt, ist auch einmal die Rede von einer Endsprache: »Chinesische Namen haben etwas von der Endsprache, in die alle Sprachen der Menschen münden.« (IV, S. 351) 27 Vgl. Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala (wie Kapitel A4, Anm. 36), S. 55f. 28 Eine Nähe Canettis zur jüdischen Sprachmystik erkennt schon Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 145, ohne diese Erkenntnis allerdings auszuführen. Pilgerstorfer: Canettis Sprachauffassung (wie Einleitung, Anm. 17), S. 148, Anm. 47 vertritt dagegen die Meinung, Canettis erkenntnistheoretische Aufzeichnungen zur Buchstaben- und Namensymbolik seien so allgemein gehalten, dass man »keinen spezifischen Einfluß« darin nachweisen könne. Sie könnten von der Kabbala beeinflusst worden sein, die Canetti aber nie erwähne. Das stimmt nicht ganz; Canetti bezieht sich auf die Kabbala in IV, S. 202: »Alle Zauberei, seit sie in die Technik eingegangen ist, ist einem so lästig geworden, daß man es nicht einmal mehr erträgt, in der Kabbala von ihr zu lesen.«

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der Sprache gibt es für Canetti den paradiesischen Zustand noch immer – bei den Eigennamen. Nietzsches Name, die Namen von Mozart, Goethe und Hals, überhaupt alle Anthroponyme – sie sind einheitlich; sie werden nicht angeglichen, nicht verändert, schon gar nicht übersetzt; sie sind innerhalb eines abgegrenzten Gebiets, wie Canetti in Bezug auf sämtliche Eigennamen konstatiert, »fest und anerkannt«29. Sie können sich außerdem alle anderen Sprachen »erobern«30, selbst in einer fremden Sprache »heimeln« sie einen, so Canettis Erfahrung, am raschesten an31. Anders ausgedrückt: Die Eigennamen befinden sich, was ihre Einheitlichkeit anbelangt, für Canetti in einem Zustand vor dem zweiten Sündenfall. Und wie er sich mit seinen Namendeutungen selbst ein Leben lang vor Augen führte: Sie sind richtig, könnten nicht besser zu dem Benannten passen, sie kommen ihm wahrhaft zu. Für Canetti hat der mythische Namenglaube somit eine kardinale Bedeutung: Da im Namen Wesen und Schicksal des Benannten seiner Meinung nach beschlossen sind, existieren mitten in der allgemeinen Sprachverwirrung noch immer Enklaven der Ordnung. In den Namen finden Sprache und Wahrheit nach wie vor zusammen. In einer chaotisch gewordenen, einer zerfallenden Welt, die er in seinen beiden frühen Dramen und in Die Blendung so komisch-beklemmend zu schildern vermochte32, einer Welt, in der die Menschen keine gemeinsame Sprache mehr sprechen, ist das keine geringe Sache. Und so heißt es in Die Fliegenpein: »Das Benennen ist der große und ernste Trost des Menschen.« (V, S. 13) Der Mensch selbst hat es in der Hand: Er kann dem Chaos entgegentreten, er kann Ordnung schaffen, indem er richtig benennt, und das heißt: das Wesen des zu Benennenden erfasst. Erst dann kann der Name zum Zugang werden. Die Revitalisierung des mythischen Namensglaubens hat somit eine Schlüsselfunktion für Canetti: Er ist ein Einspruch gegen die »verblendetste aller Welten« (VI, S. 366)

|| 29 ZB 9, 29. September 1947. 30 ZB 9, 30. November 1946. 31 ZB 10, 9. August 1949. Es sei darauf hingewiesen, dass Namengebung in allen Sprachen vorkommt, dass Namen also zu den nicht eben zahlreichen »sprachlichen Universalien« gehören. Vgl. Nübling, Fahlbusch und Heuser: Namen (wie Einleitung, Anm. 38), S. 14; Hansjakob Seiler: Namengebung als eine Technik zur sprachlichen Erfassung von Gegenständen. In: Manfred Faust u.a. (Hg.): Allgemeine Sprachwissenschaft, Sprachtypologie und Textlinguistik. Festschrift für Peter Hartmann. Tübingen: Narr 1983, S. 149–156, hier S. 150 (Universalität der Namengebung). 32 Vgl. dazu etwa Franziska Schößler: Masse, Musik und Narzissmus. Zu den Dramen von Elias und Veza Canetti. In: Arnold (Hg.): Elias Canetti 2005 (wie Einleitung, Anm. 8), S. 76–91, hier S. 82: »Canetti inszeniert in seinen Stücken das Babel der Sprache, installiert eine postdramatische Simultanlandschaft des Akustischen.«

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und zugleich ein Zeichen der Hoffnung: Es ist nicht alles verloren, es gibt noch Richtiges und Gemeinsames in der Sprache, ein verbindendes Element jenseits aller Unterschiede und Trennungen, aller Konflikte.33 Am 22. Juni 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, blickte Canetti in die Zukunft: »Eine Untersuchung über die Namen, die den Sprachen gemeinsam sind, wäre so wichtig wie ein Völkerbund, oder seine Voraussetzung.«34

|| 33 Vgl. dazu die parallele Deutung bei Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 295: »Der Mythos, der die Verwandlungsfähigkeit des Menschen aussagt, und die Namen als die schöpferischen und Erkenntnis bewahrenden Worte sind dem zerstörerischen Wissen entzogene, berufene Gegenkräfte der zentrifugalen Welt, die sich ins Chaos auflöst, das Canetti in seinem Roman und in seinen Dramen ausleuchtet.« 34 ZB 8. Während die Aufzeichnung selbst mit Füller geschrieben ist, hat Canetti die Unterstreichung mit Bleistift vorgenommen; sie stammt also vermutlich aus späterer Zeit.

8 Der Name als Wurzel und Gefäß 8.1 Namen als Substanz der Welt War Canetti ein Mythomane1, ein naiver Kratylist des Eigennamens2, sein Trost eine billige Illusion? Sah er denn nicht, was alles gegen die Schicksalshaftigkeit und was für die Arbitrarität des Namens spricht? Bis hierhin kann man diesen Verdacht nicht von der Hand weisen. Doch um einem Missverständnis vorzubeugen: Es ist keineswegs so, dass Canetti die Widerstände gegen die mythische Vorstellung vom Namen ausgeblendet hat. Im Gegenteil: Er stellte sich ihnen, sprach sie immer wieder offen an. Und manchmal gab er ihnen sogar nach. In einer Aufzeichnung spielte er die Alternative durch, »dass in Namen nichts

|| 1 Als Mythomane wird Canetti zuerst bezeichnet von Willi Winkler: Geschichten vom träumenden Exoten. Elias Canettis Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch. In: Süddeutsche Zeitung 100 (30. April 2004), S. 13. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 360 nennt Canetti und seine Frau Veza »notorische Mythomanen«. Vgl. dazu auch Hornik: Mythoman und Menschenfresser (wie Einleitung, Anm. 35), S. 9. 2 Der Terminus »Kratylist« geht zurück auf Platons Kratylos. Die Titelfigur behauptet dort: Jedes Ding habe seine von Natur aus (»physei«) richtige Bezeichnung; es gebe eine »natürliche Richtigkeit der Namen« (»orthotēta tina tōn onomatōn«) (Plat. Krat. 383ab). Gegen Kratylos wendet sich bei Platon Hermogenes: Namen seien nicht von Natur aus richtig, sagt er, sie seien aber doch insofern richtig, als sie auf »Vertrag und Übereinkunft« (»synthēkē kai homologia«) beruhten (Plat. Krat. 384d). Ersetze man einen Namen durch einen anderen, der fortan von allen verwendet werde, so sei dieser Name genauso richtig wie der erste. Es sei mithin in etwa so, als wenn man einem Knecht einen anderen Namen gebe. Dieser Vergleich macht einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Positionen deutlich. Für Hermogenes ist es der Mensch, genauer: die Gemeinschaft der Menschen, die über die Dinge gebietet wie ein Herr über seine Sklaven, und zwar durch Benennung, ja gelegentlich auch durch Umbenennung. Für Kratylos ist das nicht akzeptabel. Sokrates fasst seine Position später so zusammen: Die Dinge haben ihr eigenes, bestehendes Wesen, sie werden keineswegs von den Menschen hinund hergezogen, je nach ihrer aktuellen Einbildung, sie bestehen vielmehr für sich, so wie sie nun einmal geartet seien. Zitate nach Platon: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Léon Robin und Louis Méridier, Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Sonderausgabe, Darmstadt: WBG 1990 (Werke in 8 Bdn.; 3), S. 396f. Sokrates, von den beiden Widersachern um seine Meinung befragt, erweist sich im Laufe des Dialogs als »unzufriedener Kratylist«. Er ist der Meinung, der Nomothet habe sich gelegentlich geirrt. Diesen Irrtum gelte es zu korrigieren, um dadurch jenen Naturzustand zu schaffen oder wieder herzustellen, den Kratylos immer noch oder schon längst verwirklicht sieht. Vgl. dazu Gérard Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien. Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 1511), S. 44.

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ist«.3 Wie aber kam er dazu, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, obwohl sie mit etlichen Aufzeichnungen und einem Großteil seiner bisherigen Erfahrungen unvereinbar ist? Es war vor allem ein Problem, das ihm zu schaffen machte: dass zwei unterschiedliche Menschen den gleichen Namen tragen. Im Mythos habe dieses Problem, so Canetti, nicht existiert. Hier sei der Name noch »frisch«, an einen einzelnen Menschen gebunden und nicht auf viele verschiedene Träger verteilt (V, S. 141). Angesichts der Milliarden von Menschen, die heute auf der Erde leben, stellt sich die Frage, ob Canetti dieses Problem als unlösbar hingenommen oder ob er versucht hat, es aus der Welt zu schaffen – und wenn ja, wie? Oder ignorierte er es am Ende vielleicht doch? Selbst wenn er es wollte: Canetti konnte dieses Problem nicht ignorieren; dazu war es ihm zu nah. Ein Vetter nämlich trug denselben Vor- und Nachnamen wie er – und diesen Vetter konnte er nicht leiden. Darüber hinaus hielt er ihn für dumm, ja für schwachsinnig.4 Was, so musste sich Canetti fragen, habe ich mit diesem Mann gemein? Mit einem Mann, der so heißt wie ich, der dasselbe Wesen, dasselbe Schicksal haben müsste wie ich und der dennoch offenkundig anders ist? Die Antwort gab sich Canetti wie so oft selbst – in einer Aufzeichnung über die »Vornamensvetter«: »Die Gleichnamigen, die man gekannt hat, nebeneinander aufstellen: alle Annas und alle Barbaras, die vielen Ernste, die wenigen Bernhards. Sie haben nichts, überhaupt nichts miteinander gemein, und drum ist es besonders spassig, sie beisammen zu sehn.«5 Das klingt vernünftig und alles andere als mythomanisch, Canetti scheint sich über den mythischen Namenglauben sogar lustig zu machen. Freilich: Es ist nicht das einzige, was er über das Problem der Gleichnamigkeit zu sagen hatte. An einer anderen Stelle lesen wir: »Pavese ist eine Figur, zwischen Kafka und mir. An seinem Vornamen Cesare musst du dich nicht stossen. Unzählige Hunde haben schon so geheissen. Der wahre Dichter ist der Hund seiner Zeit.«6 Pavese ist für Canetti also keineswegs der Wiedergänger des römischen Diktators, sein geistiger Nachkomme, sondern er ist der Antipode eines Machthabers: ein Hund, ein Dichter. Und doch ist sein Name richtig. Er hat aber plötzlich einen anderen, sogar einen gegensätzlichen Sinn. Auch hier bleibt der Sinn in der Schwebe. || 3 ZB 12a, 1. Februar 1954 (Hervorhebung im Original). 4 Vgl. dazu BG, S. 347: »Am meisten ärgert mich der Mensch, der genau so heisst wie ich; der Teufel soll ihn holen.« Vgl. auch ZB 19, 10. Februar 1982: »Den eigenen Namen vor sich, in einem Idioten, der sich darauf etwas zugute hält. – Strafe für einen Namen.« 5 ZB 12, 30. Oktober 1951 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch ZB 11, 7. Mai 1950: »Versammlung aller Namensgleichen an ihrem Namenstag: Saturnalien der Namensgleichen.« 6 ZB 14, 23. Mai 1960.

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Es liegt auf der Hand, warum diese Lösung ihrerseits problematisch ist: Wo Namen dem Benannten zum Schicksal werden, da setzen sie ihm, wie es scheint, feste und unüberwindbare Grenzen; da gibt es keine Entwicklungsmöglichkeiten, keine überraschenden Sprünge, keine Vielfalt, sondern nur ein streng determiniertes Dasein, bestimmt jeweils von einem einzigen, starren Kausalzusammenhang7. Ein Mann namens Felix kann, nimmt man die mythische Vorstellung ernst, nicht unglücklich sein noch es jemals werden, er bleibt derselbe, solange er seinen Namen trägt. Und mit einem zweiten Felix ist es nicht anders, auch er wird sich in seinem Leben nicht wesentlich verändern. Canetti war das bewusst, in Die Provinz des Menschen formulierte er diesen Gedanken so: »Das Schicksal der Menschen wird durch ihre Namen vereinfacht.« (IV, S. 122) Was aber bedeutet hier »vereinfacht«? Und wie passt es zur Mannigfaltigkeit des Sinns? Kann es im mythischen Denken überhaupt möglich sein, dass der Name Caesar einerseits einem Machthaber zukommt und andererseits einem Dichter? Wie können die gleichen Vornamen zu ungleichen Taten, einem anderen Schicksal, führen? Und angenommen, es sei tatsächlich möglich, was wäre ursprünglicher? Der Machthaber oder der Dichter? Man muss diese Fragen noch grundsätzlicher stellen, denn sie berühren Canettis innerste Überzeugungen, seinen Glauben an die multiplen Anlagen des Menschen: Wo wäre angesichts der Vereinfachung, die Namen bewirken, noch Gelegenheit zur Verwandlung? Wäre nicht alles, was der Mensch tut oder erleidet, nur eine Bestätigung des Faktischen, eine Wiederholung des immer Gleichen? Hindert der Name auch auf diese Weise die Verwandlung?

|| 7 Anders als man vielleicht vermutet, fehlt dem mythischen Denken, wie Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 2 (wie Kapitel A4, Anm. 30), S. 54 erläutert, die Kategorie von Ursache und Wirkung keineswegs; sie gehöre vielmehr »in gewissem Sinne zu seinem eigentlichen Grundbestand«. Es ist aber eine besondere Kausalität. Sie geht nicht von wissenschaftlichen oder empirischen, sondern von mythischen Vorstellungen aus. Bei der Begründung mythischer Basissätze durch Tatsachen wird, nicht viel anders als bei der entsprechenden Begründung wissenschaftlicher Basissätze, die Geltung einer Reihe von Annahmen vorausgesetzt. Diese Annahmen sind aber mythischer und nicht wissenschaftlicher Natur. Die Rolle, die in der Wissenschaft Naturgesetze und Regeln spielen, übernehmen im Mythos die Archái. Vgl. Hübner: Die Wahrheit des Mythos (wie Kapitel A7, Anm. 4), S. 261. In seinem Buch über die Magie des Mittelalters hat Helmut Birkhan (wie Kapitel A4, Anm. 21) deshalb – vielleicht etwas zu pejorativ – von einer »Pseudokausalität« gesprochen (S. 17). Nüchterner, ohne zu urteilen, beschreibt L[ucien] Lévy-Bruhl: Die geistige Welt der Primitiven. Unveränderter fotomechanischer Nachdruck der 1927 bei Bruckmann, München, erschienen Ausgabe, Darmstadt: WBG 1966, S. 75 die mythische Auffassung von Ursache und Wirkung: Die primitive Geistesart gehe von einer unmittelbaren Kausalverbindung zwischen dem Phänomen und einer »dunklen, außerräumlichen Kraft« aus.

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Es gibt mehrere Aufzeichnungen, die keinen Zweifel daran lassen: Canetti empfand Namen gelegentlich als so bedrückend, dass er sich nach Freiheit sehnte. Am klarsten brachte er das in der folgenden Aufzeichnung zum Ausdruck: »Einen Namen ungeschehen machen.« (IV, S. 464)8 Zu nennen sind aber auch all jene Aufzeichnungen, in denen Canetti über das Vergessen von Namen gesprochen hat.9 Exemplarisch seien vier von ihnen zitiert: »Dort hat kein Mensch einen anderen je gesehen; auch wenn er ihn täglich erblickt, so erkennt er ihn nicht. Es wäre die ärgste Beleidigung, einen Menschen zu erkennen. Diese Fiktion wird auch in Ehen aufrechterhalten. So hat man auch keinen Namen, ohne Namen fühlen sich die Leute freier. Unabhängig bedeutet da, daß man niemanden kennt. Da man sich aber das Gedächtnis nicht ganz abgewöhnen kann, verbirgt man das Erkannte und empfindet es als Schuld.« (V, S. 151) Oder aus Das Geheimherz der Uhr: »In einem Lande leben, wo alle Namen unbekannt sind.« (IV, S. 434) Und aus demselben Band: »Einer kommt durchs Leben, ohne ein einziges Mal seinen Namen zu unterzeichnen.« (IV, S. 456) Zu guter Letzt noch eine nachgelassene Aufzeichnung vom 29. August 1979: »Verzweiflung dessen, der seinen Namen loswerden will.«10 Alle diese Aufzeichnungen artikulieren auf je andere Weise den Wunsch, nicht mehr festgelegt zu sein, die Grenzen des Namens zu überschreiten, um endlich frei zu sein. Ihr gemeinsames Thema ist die Erlösung. Bei aller Liebe zum Mythos, die Canetti in sich fühlte und zu der er sich auch öffentlich bekannte: Wie konnte er, der sich verwandeln, der niemals erstarren wollte, der die Bibel spät erst las, weil er kein »vorgegebenes geistiges Leben« wollte (V, S. 78) – wie konnte ausgerechnet er, der sich ein Leben lang nach Weite sehnte, im Namen das Schicksal des Trägers erblicken? War es, was ihn auch jetzt am mythischen Namenglauben festhalten ließ, wo seine sonstigen Überzeugungen nicht mehr damit kompatibel schienen, »das Trugbild der leichteren Überschaubarkeit relativ einfacher Verhältnisse«? (IV, S. 206) Wenn Namen nun aber nach dem Vorbild der Mythen einfache und übersichtliche Verhältnisse schaffen, dann wird man erst recht zu klären haben, ob sie Verwandlung ermöglichen oder behindern; ob in ihnen tatsächlich alles ist oder nicht doch nur ein einziger, sich sukzessive entbergender Sinn, die »Tyrannei festgefahrener Bahnen«. Mit dieser Frage konfrontierte sich Canetti, als ihn die politischen Entwicklungen in Israel überraschten:

|| 8 Auch eine nachgelassene Aufzeichnung weist in diese Richtung: »Man darf sich von seinem Namen nicht zu viel gefallen lassen.« (ZB 7, 30. Mai 1943) 9 Nach Zogmayer: …das Rätsel sie sollen lassen stân (wie Kapitel A3, Anm. 8), S. 46 gehört »Vergessen« zu »Canettis Grundwortschatz«. 10 ZB 19.

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Unfaßbar, was an den biblischen Stätten geschieht: Raketen, Tanks, Jets und die alten Namen. Heißt das, daß Namen nichts bedeuten? Oder heißt das, daß Namen ihren Inhalt nach Jahrtausenden erst enthüllen? Gehört zu den biblischen Namen auch, was jetzt dort geschieht? Sind Namen geheime Geschehnis-Vorräte? Können darum so vielerlei Leute denselben Namen tragen? Aristoteles Sokrates Onassis! (V, S. 280f.)

Die Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 1975; sie befasst sich wohl, ohne dass ein konkretes Ereignis erwähnt würde, mit dem damals schon seit Jahren gewaltsam ausgetragenen Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Die Aufzeichnung besteht aus einem einleitenden Befund und einem abschließenden Namen und dazwischen aus fünf kurzen Fragen, aber nicht einer einzigen Antwort. Canetti gelingt es also nicht, das Rätsel zu lösen, es bleibt bei seinen Fragen. Die Richtung dieser Fragen und auch das Signalwort »geheim« lassen aber eine Tendenz erahnen. Zunächst die Alternative: Namen bedeuten entweder nichts oder sie bedeuten etwas, was sich allerdings nicht sofort enthüllen muss; es kann langsam und allmählich, womöglich erst innerhalb von Jahrhunderten, ans Licht gelangen. Die weiteren Fragen schließen nun keineswegs an die erste, sondern an die zweite Alternative an. Sie beschäftigt Canetti wesentlich mehr, was vor dem Hintergrund der bisherigen Befunde nicht überraschend ist. Was aber würde es bedeuten, wenn Namen als geheime GeschehnisVorräte fungierten? Wenn das richtig wäre, dann würde der Name zwar das Schicksal des Menschen bestimmen, wäre gleichsam eine seiner »eigenen inneren Notwendigkeiten«11, doch die Art und Weise dieser Bestimmung wäre nicht von vorneherein evident und zudem bei allen Trägern anders. Sie wäre geheim, bedürfte bei jedem Namenträger einer gesonderten Auslegung. So ließe sich auch das Problem der Gleichnamigkeit lösen: Es wäre lediglich ein »Wahn des Namensgleichen«12 zu meinen, sie seien ihren Namensvettern zum Verwechseln ähnlich. Zu den Namen Aristoteles und Sokrates würde insofern nicht etwa nur gehören, was die griechischen Philosophen geschaffen haben, sondern auch, was der Reeder und Milliardär Onassis, für viele ein Antipode der beiden antiken Denker, als Lebensleistung vorzuweisen hat. Der Name böte damit Platz für Verschiedenes, er wäre Besitz und Nicht-Besitz, würde seinen Träger festlegen und nicht festlegen und sogar, in allerdings mysteriös begrenztem Rahmen,

|| 11 Canetti gebraucht diese Formulierung in einem anderen Zusammenhang – zu Beginn des Kapitels »Die Frucht des Feuers« in Die Fackel im Ohr. Dort heißt es: »Im September 1929, als ich von einem zweiten Berliner Besuch nach Wien zurückkehrte, begann endlich etwas, das ich das ›notwendige‹ Leben nannte, ein Leben nämlich, das von den eigenen inneren Notwendigkeiten bestimmt war.« (VIII, S. 295) 12 ZB 19, 6. Februar 1982.

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Verwandlungen ermöglichen. Man müsste diese Verwandlungen verstehen als Teil eines zugleich gemeinschaftlichen und individuellen Schicksals.13 Der Name hätte also wie die Aufzeichnungen zwei Dimensionen: eine Oberfläche, den je einzelnen Träger, und eine Tiefendimension, die den Benannten mit seinem Namensahn und allen anderen Trägern verbindet; einen Zugang und ein Dahinter. Die Aufzeichnung über Pavese legt derartige Folgerungen nahe. Verstärkt wird dieser Eindruck durch einen Satz, den Canetti am 30. Oktober 1966 formuliert hat: »Namen, schwanger wie Termitenköniginnen und Millionen Eier.«14 Aus einem Namen, heißt das, entsteht Vieles, worauf sowohl die Termiten als auch die Millionen verweisen, bei Canetti Metaphern für die Masse. Eine teils schon bekannte Aufzeichnung gerät dadurch erneut in den Blick: Namen, die rätselhaftesten aller Worte. Eine Ahnung, die mich seit langem verfolgt und die mich von Jahr zu Jahr in größere Unruhe versetzt, sagt mir, daß die Enträtselung ihres Wesens den Schlüssel zu historischem Geschehen liefern würde. So wie die Entzifferung alter Schriften verschollene Kulturen zum Leben zurückgebracht hat, wäre in einer Deutung der Namen das eigentliche Gesetz dessen zu finden, was die Menschheit getan und gelitten hat. (V, S. 140)

Diese Aufzeichnung schreibt Canetti 1960, also fünfzehn Jahre zuvor. Wenn er darin vermutet, eine Enträtselung des Namens liefere den Schlüssel zum historischen Geschehen; wenn er in den Namen das Gesetz allen menschlichen Handelns und Leidens zu entdecken hofft, dann setzt diese Ahnung nichts anderes voraus, als dass Namen geheime Geschehnis-Vorräte seien. Hinter der scheinbaren Vielfalt der Ereignisse, der Entscheidungen, der Winkelzüge, der Kriege, der wissenschaftlichen Leistungen steht – als »eigentliche Substanz der Welt«, wie es an anderer Stelle heißt15 – jeweils ein Name. Ihn gilt es zu enträtseln, seine Motivation und seine Möglichkeiten zu eruieren, sofern man den Gang der Geschichte verstehen will. Dass dies keine einfache, sondern eigentlich eine unmögliche Aufgabe ist, dürfte bereits klar geworden sein: Der Name ist ein Gott, der sich dem Menschen zwar offenbart, aber wie Jahwe niemals in seiner ganzen Fülle. Er zwingt den Hörer dazu, auf eine Eingebung zu warten. Dennoch reizte Canetti dieses mit der Kraft des Denkens allein nicht zu lösende, aber doch anzupackende Rätsel: || 13 Diese Vorstellung liegt wohl auch der folgenden Aufzeichnung vom 11. Februar 1943 zugrunde: »Es gibt hier und in Amerika Leute, die den Vornamen Homer tragen!« (ZB 7, Hervorhebung im Original). 14 ZB 22a. 15 ZB 7, 6. November 1943: »Namen haben so sehr ihre eigene Geschichte, dass man sich oft fragt, ob nicht sie die eigentliche Substanz der Welt bilden.«

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Alle Geschichtsschreibung, die nicht von Namen prall ist, langweilt dich. Es ist nämlich dieselbe Geschichte, und das Neue sind nur die Namen. Aber durch die Namen ist auch die Geschichte immer neu. Sie sind es, die die Geschichte auf eine mysteriöse Weise verändern, und man wäre versucht sich zu fragen, ob sie sich nicht vielleicht nur innerhalb von Namen abspielt. (V, S. 65)

Die Geschichte ist für Canetti zyklisch16, und sie ist es gleichzeitig nicht. Wie die mythische Zeit kennt sie die Wiederkehr des Gleichen inmitten des unaufhörlichen Wandels.17 Es muss aber sofort weiter gefragt werden, wie es sich mit der Wiederkehr und der Wandlung in der Geschichte denn nun ganz genau verhält. Die Namen verändern die Geschichte auf zweifache Art. Zum einen heißen die Machthaber immer wieder anders – Alexander, Caesar, Napoleon –, obwohl es ihnen allen, dem Typus des Machthabers (in Canettis Theorie) gemäß, auf dasselbe angekommen ist: Sie wollten der Größte, der Einzige sein, sie wollen möglichst viele Menschen übertreffen und überleben. Zum anderen und in umgekehrter Richtung verändern Namen die Geschichte, weil sich der Träger zu ihnen verhalten muss. So treiben sie ihn an, so sorgen sie für Dynamik in der Geschichte, so werden sie zum Gesetz aller Bewegung. Was dem Menschen bleibend vorgegeben ist, verwirklicht er, indem er handelt, indem er die Geschichte im Sinn seines Namens gestaltet (so wie er ihn erkannt hat) – allerdings unter den Bedingungen seines individuellen Lebens und seiner eigenen Epoche. Mit anderen Worten: Der Mensch aktualisiert auf seine Weise ein Urbild, das ihm mit seinem Namen direkt vor Augen gestellt worden ist. Diesen Umstand hat sich Canetti nicht zuletzt an seiner späteren zweiten Frau Hera verdeutlicht: Er fragte sich, was dieser Name konkret zu bedeuten habe, und kam zu dem Ergebnis: Mit Hera, der Göttin, dem Archetyp des Namens, habe sie wenigstens einen Zug gemeinsam: die Intensität des Blicks.18 Und doch war Hera für Canetti nicht absolut identisch mit der griechischen Göttin, die Geschichte vollzieht sich, wie er wusste und ja auch klar formulierte, nicht im

|| 16 So Schmid-Bortenschlager: Der Einzelne und seine Masse (wie Kapitel A3, Anm. 50), S. 123. 17 Vgl. Hübner: Die Wahrheit der Mythen (wie Kapitel A7, Anm. 4), S. 142. Vgl. ebenfalls Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. 3. Auflage, Frankfurt a.M.: Insel 1986, S. 48ff. 18 ZB 22, 5. Dezember 1962. Siehe dazu auch einen Brief Canettis an Annette Gersbach vom 14. September 1989, der sich in Privatbesitz befindet: »Heras Auge war von der Genauigkeit, wie ich sie nie sonst erlebt habe. Ich wusste aber auch, was sie ihrem Namen schuldig war, der Sinn für alles Mythische war immer wach in ihr, so sehr, wie es eigentlich bei einem Dichter sein sollte und leider nicht immer ist.« Zitiert nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 523.

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Wiederholungsmodus. Hera war anders, und sie war mehr, aber sie hatte auf mysteriöse Weise Anteil an der Göttin, ihrem fernen Urbild. Ähnlich mag man es sich bei Caesar und Pavese vorstellen: Der Dichter ist ein Machthaber wie Caesar einst, ein Machthaber jedoch, der als »Hund seiner Zeit« auf Macht bewusst verzichtet. Der Name ist demnach keine arché im mythischen Sinne, kein Ursprung, der sich im Lauf der Zeit identisch wiederholt.19 Er ist allerdings auch mehr als ein Vorbild, für das man sich freiwillig und vielleicht nur zeitweise begeistern, dem man aus eigenem Antrieb nacheifern könnte. Er steht zwischen arché und Vorbild. Der Namenträger ist weder bis ins Letzte determiniert noch vollkommen frei, er verfügt vielmehr, so ließe sich mit Claude Lévy-Bruhl sagen, über eine »bedingte Freiheit«20. Eine gelungene Verbindung von Begrenzung und Freiheit beschrieb Canetti in seinem Essay über Fritz Wotruba: als Dialektik von Schaffensprozess und Rezeption. Der Bildhauer, heißt es dort, begebe sich bei seiner Arbeit immer tiefer in das »sicherste und unauflöslichste Gefängnis« des Steins. Das fertige monumentale Werk jedoch sei nicht starr, sondern mehrdeutig und rätselhaft (X, S. 53–55). Man kann diesen paradoxen Gedanken auf Namen übertragen: Der Name ist das Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Zugleich ist er aber auch das Material, das der Benannte zu bearbeiten, dem er Gestalt zu geben hat. Und das Ergebnis, der Zusammenhang von Name und Taten, ist ebenso rätselhaft wie das monumentale Werk. Eindeutig ist die Art des Zaubers, das von ihm hervorgerufene Gefühl im Menschen: Es ist nicht beliebig, sondern es lässt den Hörer erahnen, ob Name und Träger in einem symbiotischen Verhältnis zueinander stehen. Canetti hält sich deshalb an Namen wie an Bilder. Denn auch Namen sind das Unveränderbare, mit dem der Mensch versuchen kann, »das immer Veränderliche« auszuschöpfen, ein weiteres Netz zur Erfassung der Wirklichkeit (VIII, S. 110).21 Die denkerische Einholung des Gefühls, die Interpretation des Namens von seinem konkreten Träger aus, ist

|| 19 Hübner: Die Wahrheit des Mythos (wie Kapitel A7, Anm. 4), S. 139 zeigt, »[…] daß auch Archaí im Bereich von Gemeinschaft und Geschichte nicht einfach Vorbilder sind, die man nachahmt, sondern daß sie sich buchstäblich in jeder auf sie gegründeten Handlung wiederholen.« 20 Lévy-Bruhl: Die geistige Welt der Primitiven (wie Anm. 7), S. 113 und 179. 21 Auch in Masse und Macht interessiert sich Canetti für das Unveränderliche im Veränderbaren (z.B. Massensymbole). Vgl. dazu kritisch Kuhnau: Masse und Macht in der Geschichte (wie Einleitung, Anm. 1), S. 103: »Denn mit der weitgehenden Ausschaltung von Variablen sowohl im Bereich der Massenphänomenologie als auch der Massenpsychologie können Spielräume historischer Entwicklung und ethischen Handelns nicht erkannt werden […].« In seiner »Phänomenologie des Namens« verbindet Canetti das Konstante mit dem Variablen.

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allerdings mehrdeutig. Canetti reißt sie darum meist nur an; er formuliert erste Eindrücke, nähert sich dem Sinn. Wir begreifen nun, wieso Canetti den Namen als Wurzel bezeichnete und gleichzeitig als Gefäß. Er ist eine Wurzel, aus der allmählich und immer wieder (eine durchaus kausale Entwicklung) eine Pflanze22 oder ein Baum mit vielen verschiedenen Ästen und Verzweigungen erwächst. Diese Äste und Verzweigungen mitsamt ihren je neuen Blättern und Blüten sind die einzelnen Namenträger. Sie gleichen sich und sind sich doch nicht gleich. Das erinnert an eine bestimmte kabbalistische Vorstellung, ohne dass Canetti sich aber ausdrücklich auf sie bezogen hätte. Der Name Gottes bildet danach die Wurzel von allem, und die Tora ist die Explikation dieses Namens in verschiedenen Schichten, die wie die Blätter, die Rinde, das Mark eines Baumes zwar unterschiedlich, aber nicht substantiell voneinander geschieden sind.23 Bei Canetti gilt das, in säkularisierter Form, für jeden Namen: Er ist die Wurzel aller seiner Träger, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, er enthält – im Vorgriff auch auf die Zukunft – alles. Doch der Name ist keineswegs nur die allem Geschehen zugrundliegende Wurzel einer auf geheimnisvolle Weise vorherbestimmten Entwicklung, er ist auch Gefäß, ein Gefäß mit festen äußeren Grenzen, das bereits erfüllt ist, das der Träger aber auch selbst befüllt.24 Wie der Einzelne seinem Schicksal gerecht wird, ist darum so unvorhersehbar wie ein plötzlicher Sprung: »Der Name ist alles, in seiner Spannung zum Träger verleiht er diesem allmählich eine Seele.«25 Namen sind also ebenso exoterisch wie esoterisch: Sie geschehen dem Menschen, und sie aktivieren ihn. Sie bringen den Namenträger in Bewegung, indem sie ihn verpflichten26, ihm ein Ziel vor Augen stellen, welches er auf ei-

|| 22 Vgl. dazu IV, S. 77: »Pflanzen aber blühen vielfach und immer wieder; ihr Geist ist plural und scheint frei zu sein von der furchtbaren Einheitstyrannei des Menschen. [...] Die Eins hat uns gepackt und nun haben wir ihr ewig im Maul zu hängen. Die zerstreuten Werke der Künstler haben etwas von Blüten; nur bringt die Pflanze immer etwa das Gleiche hervor, die Künstler neuerer Zeiten sind vom Fieber der Verschiedenheit geschüttelt.« 23 Vgl. Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Kapitel A5, Anm. 28), S. 67. 24 In Masse und Macht veranschaulicht Canetti die geschlossene Masse, die Masse, die sich Grenzen setzt, am Beispiel eines Gefäßes, das man mit Wasser füllt. Vgl. III, S. 15. Die Metapher des Gefäßes nutzt auch Debus: Aspekte zum Verhältnis Name – Wort (wie Kapitel A 1, Anm. 30), S. 13: »Der einem Menschen zugelegte Name erweist sich gewissermaßen als Gefäß, das erst durch seinen Träger den durch Werte oder Unwerte gezeichneten unverwechselbaren Inhalt erhält.« 25 ZB 14, 26. Juli 1962. 26 Die Komplementarität von Freiheit und Begrenzung ist für Canetti auch auf intellektuellem Gebiet unverzichtbar: »Es ist wahr: ich verabscheue Freud; Marx; Hegel; Aristoteles; Gott: Alles was der Verwandlung im Wege steht; alles was den Menschen fixiert, bevor er seinen vollen

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nem selbst zu wählenden Wege zu erreichen hat. In einer Aufzeichnung ist dementsprechend zu lesen: »Es wäre nicht besser namenlos, an einen Namen gebunden bedeutet alles mehr, der Name liefert den Pfeil und die Flügel.«27 Pfeil und Flügel sind hier als paradoxe – und gerade in dieser Paradoxie zusammengehörige – Metaphern zu verstehen: Während der Pfeil stets eine Richtung hat und seinen Zweck nur erfüllt, wenn er möglichst genau ins Ziel trifft, schenken die Flügel Freiheit – jene Freiheit, die Canetti an den Schwalben bewunderte. Gerade in der Stadt der Mauern und Grenzen, in Marrakesch, sah er sie »unbekümmert über drei, fünf, zehn Dächer zugleich« hinweg fliegen (VI, S. 30). Doch der Namensträger kann diese Freiheit missbrauchen und sich gleichsam gegen seinen eigenen Namensgott versündigen, etwa indem er ihn nicht anerkennt oder ihn sich ein für allemal verfügbar macht. Er kann seinen Ursprung und seine Aufgabe verleugnen: Ebenbild seines Namengottes zu sein. Oder er kann scheitern – an einem allzu schweren Namen, dem er mit seinen Fähigkeiten nur ansatzweise entsprechen kann (vgl. V, S. 141). In einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1941 sieht Canetti darin – wohl wieder in einem Anflug von Selbstkritik – sogar den Normalfall: »Die Wahrheit ist ausschliesslich im Augenblick des Benennens.«28 Vierunddreißig Jahre später, am 3. November 1975, ist ihm selbst das nicht mehr gewiss: »Jeder Name wird falsch. War er es von Anfang an?«29 In den Aufzeichnungen hat Canetti diese Frage dennoch zumeist mit einem »Nein« beantwortet und auch den Prozess der Angleichung von Name und Träger nicht so pessimistisch bewertet wie in diesen beiden Notizen. In ihrer Kombination von Freiheit und Begrenzung, Fixierung und Bewegung ähneln die Namen bei Canetti auf verblüffende Weise den Mythen selbst.30 Denn ihre Vitalität ist ebenfalls nur in »jedem einzelnen Falle« zu bestimmen (VI, S. 369). Wie Canetti in einer Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen

|| Umfang erlangt hat. Aber ich verabscheue auch Jung, Nietzsche, Wagner, Voltaire: alles was den Menschen aufbläst oder ohne Verpflichtung erweitert.« Zitiert nach ZB 14, 13. November 1962. 27 ZB 15, 16. September 1967 (Hervorhebung im Original). 28 ZB 5a (Hervorhebung im Original). 29 ZB 18. 30 In Die Fackel im Ohr macht sich Canetti anlässlich seiner ersten Begegnung mit Gilgamesch Gedanken über sein Verhältnis zu diesem Mythos: »Die Wirkung eines Mythus habe ich auf diese Weise an mir erfahren: als etwas, das ich im halben Jahrhundert, das seither verflossen ist, auf viele Arten bedacht und in mir hin und her gewendet, aber nicht einmal ernsthaft bezweifelt habe.« (VIII, S. 52) Auch über den Zauber des Namens hat Canetti immer wieder nachgedacht. An der Richtigkeit der Namen hat er aber – wie gesehen – gelegentlich durchaus gezweifelt.

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schreibt, seien Mythen konstant und zugleich fluide; ihre Fluidität sei indessen »eine interne« (IV, S. 26). Diese interne Fluidität, die Bewegungen der einzelnen Träger innerhalb derselben vorgegebenen Grenzen, nicht ein fixer Sinn – das ist die Wahrheit des Namens. Denn Wahrheit, daran sei erinnert, ist für Canetti »[…] ein Meer von Grashalmen, das sich im Winde wiegt; sie will als Bewegung gefühlt, als Atem eingezogen sein. Ein Fels ist sie nur für den, der sie nicht fühlt und atmet; der soll sich den Kopf an ihr blutig schlagen.« (IV, S. 67) Auch der Namendeuter muss, sofern es ihm um diese, die eigentliche Wahrheit geht, in Bewegung bleiben, unabhängig davon, ob er sich mit seinem oder mit einem anderen Namen beschäftigt. Aber wie funktioniert das: in Bewegung bleiben? Man kann die Frage auch anders stellen: Wie vermeidet man – nicht nur im Fühlen, sondern auch im Denken – die Versteinerung des Sinns?

8.2 Einen einzigen Namen verstehen Am 2. Juni 1947 erzählt Canetti in einer Aufzeichnung von einem Mann, der sich an die Enträtselung der Namen macht: Die Geschichte eines Mannes, der Leute nur nach ihren Namen beurteilt. Es kümmern ihn aber nicht die Familien; ihn interessiert nur die selbständige Geschichte des Vornamens, den einer trägt. Wenn er jemand kennen lernt, macht er sich an ein Studium seines Namens. Er schlägt auf, überlegt, verfolgt ihn durch mehrere Sprachen. Namen sind ihm komplizierte Omina; ihr Ritus aber ist durch die Wissenschaft der Etymologie gegeben. Wenn die Omina günstig sind, wird er ein guter Freund. Die Besitzer übler Namen verfolgt er mit Hass.31

Der Mann erinnert in vielem an Canetti selbst. Auch für ihn entscheidet sich am Namen, ob er sich zu einem Menschen hingezogen oder von ihm abgestoßen fühlt. Auch für ihn sind Namen, indem sie das Schicksal auf geheimnisvolle Weise fixieren, »komplizierte Omina«. Und doch schildert Canetti in dieser Aufzeichnung, wie man unter keinen Umständen mit Namen umgehen sollte. In einer anderen Aufzeichnung nämlich heißt es: »Die Philologie hat etwas Tödliches: sie zerlegt die Worte in ihre zeitlichen Querschnitte, zu papierenen Figuren. Es gehört dann ein Dichter dazu, sie ins Leben zurückzurufen.«32 In Die Provinz des Menschen nennt Canetti den Namen eines solchen Dichters: »Gérard de Nerval wäre mir darum allein schon ein Dichter, weil er von Nerva abzu-

|| 31 ZB 9. 32 ZB 13, 27. März 1957.

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stammen glaubte.« (IV, S. 208) Man findet diesen Satz am Anfang jener Aufzeichnung, in der Canetti alle rechnerischen Zusammenhänge verwirft und im Gegenzug alle Zusammenhänge durch Namen für wahr erklärt. Einen ebensolchen Zusammenhang stellt Gérald de Nerval her; es ist ein erfühlter, ein nicht argumentativ begründeter Zusammenhang. Mit anderen Worten: Das Gefühl ist bei ihm genauso wie bei Canetti dem Denken vorgeordnet. Denn ob der Name wirklich auf den römischen Kaiser Nerva (96–98 n. Chr.) zurückgeht, ist schwer zu beweisen. Eigentlich ist es sogar ganz unwahrscheinlich, da Nerva kinderlos geblieben ist und die Endung –val auf einen Ortsnamen hinweist. Mit seiner Namensdeutung bezieht der Dichter deshalb eine wissenschaftsferne Position. Es ist eine poetische, aus philologischer und historischer Sicht grundfalsche Namensdeutung. Doch erst durch diesen Schritt zur Seite auf ein von der Wissenschaft verfemtes Terrain gewinnt der Name für Nerval Leben, entfaltet er seinen Zauber. Er ist jetzt nicht mehr Etikett, ein versteinertes Relikt der Familiengeschichte ohne Bezug zur Gegenwart, sondern er ist wieder motiviert. Das ist der engste, vorstellbare Zusammenhang zwischen Name und Namenträger. Zugleich schafft er eine Beziehung: Er führt Gérard de Nerval über die Zeiten hinweg – so lässt sich Canettis Bemerkung weiter auslegen – zu einem Vorbild, mythisch gesprochen: zu einem Urbild.33 Die philologischen Erkenntnisse, die diese Zusammenhänge nicht erspüren, sind für Canetti allenfalls Beiwerk, ein Ausgangspunkt vielleicht auf dem Weg der Namensdeutung. Denn sie dringen nicht tief genug. Sie kennen nur einen einzigen, verbindlichen Sinn und nicht die lebendige Vielfalt des Sinnes, nicht das Gefühl, sondern nur den Verstand; sie bleiben allgemein und oberflächlich: »Ich fürchte die Zerlegung und Erklärung von Namen, ich fürchte sie mehr als Mord.« (IV, S. 209) Canetti wollte mehr als eine Zerlegung: »Einen einzigen Namen verstehen.« (IV, S. 497) Verstehen: Das Verb ist merkwürdig, man erwartet es in diesem Zusammenhang nicht. Einen Namen kann man kennen oder auch nicht kennen, aber von einem Namen kann man nicht behaupten, dass man ihn versteht oder nicht versteht so wie eine fremde Sprache.34 Dennoch hebt Canetti gerade dieses Wort

|| 33 Ähnliche Beispiele bei Karl Abraham: Über die determinierende Kraft des Namens. In: Ders.: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung und andere Schriften. Hg. und eingeleitet von Johannes Cremerius. Frankfurt a.M.: Fischer 1969 (Conditio Humana), S. 39f., hier S. 40. Abraham erwähnt etwa den Historiker Ottokar Lorenz, der eine Geschichte des Königs Ottokar von Böhmen verfasste. Zahlreiche weitere Hinweise finden sich auch bei Katz: Psychologie des Vornamens (wie Kapitel A7, Anm. 2), S. 37–40. 34 So Hermann Ammann: Die menschliche Rede. Sprachphilosophische Untersuchungen I und II. 2., unveränderte Auflage, Darmstadt: WBG 1962, S. 47; Bruno Boesch: Die Eigennamen in ihrer geistigen und seelischen Bedeutung für den Menschen. In: Der Deutschunterricht 9

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kursiv hervor. Für eine derartige Akzentuierung kann es nur einen Grund geben: Man muss das Wort, wie es schon Wilhelm Dilthey tat35 und wie es auch die oben zitierte Aufzeichnung über das Zerlegen von Namen andeutet, als Gegenbegriff zum Erklären nehmen. Verstehen ist für Dilthey, anders als das nüchtern-sezierende Erklären, kongenial, das Nacherleben eines fremden Zusammenhangs im eigenen Seelenleben; es ist ein »Vorgang, in dem wir aus Zeichen, die von außen gegeben sind, Inneres erkennen«.36 Das Verstehen ermöglicht, gleichsam wie eine Brücke, den Übergang zwischen Ich und Du und führt immer tiefer in das »Geheimnis einer Person« hinein.37 Genau darauf hoffte Canetti, wann immer er sich dem Rätsel eines Namens widmete. Verstehen ist eine Art der »Erfahrung von innen her«; wer versteht, der verwandelt sich, indem er das zu Verstehende in sich aufnimmt. Wenn Verwandlung »eine älteste, vorwissenschaftliche Weise« des Begreifens ist (VI, S. 368), eine Leidenschaft, ein Gefühl, die Erfahrung und das Aufnehmen eines Menschen, eine immerwährende innere Bewegung38 – dann ist über das Verstehen eines anderen, eines zauberhaften Namens, auch über das Verstehen des eigenen Namens, Verwandlung tatsächlich möglich. Canettis Formulierung deutet an, wie kühn dieses Unterfangen ist. Denn Verstehen ist, trotz aller Intuition, immer ein Prozess. Es dringt langsam tiefer und tiefer in verborgene Sinnschichten, und es kommt, anders als das etymologische Erklären, niemals an ein Ende. So gehört Verstehen zu den Kern|| (1957), H. 5, S. 32–50, hier S. 32; Ullmann: Grundzüge der Semantik (wie Kapitel A3, Anm. 39), S. 68f.; Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 36; Debus: Aspekte zum Verhältnis Name – Wort (wie Kapitel A1, Anm. 30), S. 24; Nübling, Fahlbusch und Heuser: Namen (wie Einleitung, Anm. 38), S. 14: »Namen muss man kennen, nicht können.« 35 Wilhelm Dilthey: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. 1. Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. 6., unveränderte Auflage, Stuttgart: Teubner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957 (Gesammelte Schriften; 5), S. 144: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende.« Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 117 bezieht das Wort auf Habermas' Begriff des Verstehens. Verstehen sei auch bei Canetti »[…] eine ›Form der Empirie‹, der physische Erfahrungen zugrunde liegen, genauer gesagt: ›Verstehen‹ ist ›physisches Wahrnehmen‹.« 36 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 6., unveränderte Auflage, Stuttgart: Teubner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1958 (Gesammelte Schriften; 7), S. 309. 37 Ebd., S. 212. 38 Eine Übersicht über die Umschreibungen und Synonyme für den Vorgang der Verwandlung findet sich bei Pilgerstorfer: Bemerkungen zu Elias Canettis Sprachauffassung (wie Einleitung, Anm. 17), S. 111.

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aufgaben des Dichters, des »Hüter[s] der Verwandlungen«. Denn im Gegensatz zum rasch sich einfühlenden Schauspieler ist er für Canetti der Mann »einer langsamen Einfühlung«39 In seinen Aufzeichnungen bemüht sich Canetti immer wieder um dieses Verstehen. Am 25. März 1943 notiert er: »Es macht ihn glücklich, dass der Historiker Gibbon den Namen eines Affen trägt, dessen Bewegungen er über alles bewundert und der zu den grossen Gleichgewichtskünstlern der Welt gehört.«40 Im Unterschied zu den bisher besprochenen Beispielen ignoriert Canetti hier – wie Nerval bei seinem Namen – die etymologische Bedeutung des Namens Gibbon, Son of Gilbert, vollkommen. Nur deshalb aber zieht er aus ihm eine Erkenntnis über das Wesen des Trägers. Als Historiker müsste Gibbon, so jedenfalls sah es Canetti, im Grunde parteiisch sein: Wie die meisten »TatsachenHistoriker« (V, S. 88) müsste er »[…] vor jeder Form von Macht auf dem Bauche lieg[en].« (IV, S. 41)41 Doch sein Name, als Name eines Affen verstanden, bestimmt ihn zu etwas Anderem, er ist ein Korrektiv. Das machte Canetti glücklich, der nur wenige Historiker schätzte. Indem er in seiner Aufzeichnung den Gibbon als Gleichgewichtskünstler bezeichnet, deutet er zumindest an, dass er Gibbons monumentale Darstellung von Aufstieg und Fall des römischen Weltreiches für ausgeglichener, für wesentlich weniger der Macht und den Mächtigen verfallen hält als die Werke der Kollegen. Über Heimito von Doderer wiederum, einen anderen Autor voluminöser Bücher, äußert sich Canetti kritischer: »Heimito von Doderer, ein Name so idiotisch, dass er auch durch 5000 Seiten nicht zu retten wäre. Das deutsche ›Heim‹ mit der spanischen Endung ›ito‹. Doderer dazu klingt wie ein Zitterer, der donnern möchte. Wieviel andere komische Namen haben sich als ›Grösse‹ erhalten?«42 Über die etymologische Bedeutung des mittelhochdeutschen Vornamens »Heimo« weiß Canetti offenbar Bescheid, was nicht allzu schwierig ist; auch die Endung »ito«, die Doderers Mutter vom spanischen Kosenamen Jaimito übernommen hat, ordnet er richtig

|| 39 ZB 3, Notizblock Wien, Januar 1931. 40 ZB 7. 41 Zu den Bewegungen der Affen vgl. auch III, S. 248: »Was den Affen von anderen Tieren unterscheidet, ist die rasche Aufeinanderfolge beider Bewegungen. Ergreifen und Loslassen jagen hintereinander her und verleihen den Affen etwas von der Leichtigkeit, die man an ihnen so bewundert.« Canettis Meinung über die Historiker generell bringt auch die folgende Aufzeichnung über Leopold von Ranke zum Ausdruck: »Historiker, die keine Machtanbeter sind, können keine zusammenhängende Staatengeschichte schreiben.« (IV, S. 167) 42 ZB 15, 26. Juli 1968 (Hervorhebung im Original).

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zu.43 Der Nachname ist da schon weniger durchsichtig. Umso erstaunlicher: Canettis Deutung ist philologisch nicht völlig falsch, sie stimmt aber eben auch nicht ganz. Doderer ist ein Übername, gebildet aus dem mittelhochdeutschen Verb »todern«, was so viel heißt wie »undeutlich reden«, »stottern«.44 Das ist tatsächlich nicht allzu weit entfernt von Canettis Zittern. Gar nicht mehr von der Philologie gedeckt ist allerdings die abschließende Folgerung: Von Donner lässt sich der Name Doderer nicht ableiten, Canettis Deutung ist eine lautliche Assoziation.45 Er spielt damit wohl auf Doderers seitenstarke, aber in seinen Augen wenig gewaltige und erschütternde, kurzum: mediokre Bücher an.46 Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander – darin erkennt Canetti Doderers Schicksal, die latent-offenkundige Wahrheit im Namen. Auch erheblich ältere, sogar antike Namen versuchte Canetti auf diese freie, von allen etymologischen Kenntnissen gelöste Weise zu verstehen. Am 19. April 1942 schrieb er in seinen Aufzeichnungen: »Die Macht des Aristoteles leitet sich auch aus seinem Namen her: der Ton liegt auf ›tot‹, dem lateinischen Stamm für ›alles‹. So wurde er der Vater der ›Summen‹.«47 Der Name wird seinem Träger auch hier zum Schicksal: Er bestimmt die Art seiner geistigen Leistung, einer Leistung, die Canetti mehr als alles andere zuwider war. Aus der Perspektive des Philologen ist diese Namensdeutung erneut barer Unsinn (in der Tradition Isidor von Sevillas), zumal Canetti bedenkenlos zwei verschiedene Sprachen vermengt, als gehörten sie noch enger zusammen als in Wirklichkeit. Ferdinand de Saussure hätte gar von einem »phénomène pathologique« gesprochen.48 Der

|| 43 Vgl. Wolfgang Fleischer: Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer. 2. Auflage, Wien: Kremayr & Scheriau 1996, S. 29. Von seiner Familie wurde Heimito alsbald »Heimchen« genannt (Ebd., S. 39). 44 Vgl. Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Bearbeitet von Rosa und Volker Kohlheim. Mannheim u.a.: Dudenverlag 2005, S. 195. 45 Zur Terminologie siehe Krien: Namenphysiognomik (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 95. 46 Gegen Doderer hat Canetti sicher auch dieses Erlebnis aufgebracht, das uns Jeremy Adler überliefert: »Doderer besuchte Canetti in London und fragte ihn, ob er je einen Menschen umgebracht habe. Als dieser mit ›Nein‹ antworte, sagte Doderer: ›Dann sind Sie ja eine Jungfrau!‹« Zitiert nach Jeremy Adler: H. G. Adler und seine Freunde. Vermischte Erinnerungen. In: Marcel Atze: »Ortlose Botschaft«. Der Freundeskreis H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner im englischen Exil. Mit Beiträgen von Jeremy Adler und Gerhard Hirschfeld. In Zusammenarbeit mit der Bibliothek für Zeitgeschichte. Stuttgart, Marbach: Deutsche SchillerGesellschaft Marbach am Neckar 1998, S. 189–195, hier S. 193. 47 ZB 6. 48 Zitiert nach Kalverkämper: Textlinguistik der Eigennamen (wie Einleitung, Anm. 26), S. 84. Vgl. dazu auch Ogden und Richards: Die Bedeutung der Bedeutung (wie Kapitel A4, Anm. 53), S. 39: »Das Beharren der primitiven sprachlichen Grundeinstellung nicht nur in der gesamten

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Name Aristoteles hat mit dem lateinischen »tot« nichts zu tun, er enthält vielmehr die beiden Bestandteile »aristos«, der Beste, und »telos«, das Ziel und heißt so viel wie »aufs Beste vollendet«. Doch Canetti wollte davon nichts wissen; er wollte tiefer gelangen, dorthin, wo er die Wurzel des Benannten vermutete. So ist es auch bei dieser Aufzeichnung: Die Nähe des Namens Adonis zu Adonai, das mir von den hebräischen Gebeten meiner Kindheit her noch geläufig ist, verwirrt mich und geht mir nahe. In diesem Worte waren sich Hebräisch und Griechisch zuerst ganz nahe, und wie haben sie sich missverstanden. Es scheint mir, dass sie sich in Wirklichkeit nie nähergekommen sind und dass die falsch überbrückte Kluft zwischen ihnen noch immer das eigentliche Unglück unserer Geschichte ausmacht.49

Man muss an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen: Canetti beherrschte das Griechische nicht (und das Hebräische allem Anschein nach nur schlecht).50 Wie wir in mehreren seiner Aufzeichnungen allerdings hören, wollte er diese Sprache auch nicht lernen, obwohl sie ihn so sehr faszinierte wie sonst kaum eine andere.51 Für diese merkwürdige Weigerung gab es einen Grund. || religiösen Welt, sondern auch im Werk der tiefsten Denker ist in der Tat einer der merkwürdigsten Züge des Denkens der Gegenwart.« In seinem kleinen, nur noch historisch bedeutsamen Aufsatz: Die Verpflichtung des Namens. In: Zeitschrift für Psychotherapie und Medizinische Psychologie 3 (1911), S. 110–114 stellt Wilhelm Stekel die Behauptung auf, dass alle Künstler mehr oder weniger Neurotiker seien. So habe Johann Sebastian Bach zum Beispiel eine Fuge über die Buchstaben seines Namens komponiert, während sich Robert Schumann über seinen ›unmusikalischen‹ Namen geärgert habe. 49 ZB 10, 24. Januar 1949. Canetti liegt hier vermutlich sogar richtig, da Adonis nach augenblicklichem Kenntnisstand aus einer der westsemitischen Sprachen Syriens stammt und »Herr« bedeutet. Für diese Information danke ich Jörg Fündling. 50 In Wien hatte der junge Canetti die Talmud-Thora-Schule in der Novaragassse 29 besucht und dort auch Hebräisch gelernt. Vgl. dazu Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 58. Canettis Kenntnisse des Hebräischen siedelt Mark H. Gelber: Abraham Sonne und Das Augenspiel. Jüdisches Bewußtsein in Elias Canettis autobiographischen Schriften. In: John D. Patillo-Hess und Mario R. Smole (Hg.): Canettis Aufstand gegen Macht und Tod. Wien: Löcker 1996, S. 69–79, hier S. 73 auf der »unteren Grundstufe« an. Martin Treml: Elias Canetti als jüdischer Schriftsteller. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 39–55, hier S. 53 hält es für sicher, dass Canetti das Hebräische »zumindest passiv und in liturgischen Resten« beherrschte. 51 Das war nicht immer so, wie eine Stelle aus den frühen Manuskripten zeigt. In einem Arbeitsplan (»Minimum«) nimmt sich Canetti vor, alle möglichen Kenntnisse auf den verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft zu erlangen (etwa so wie in der Chemie): Zoologie, Botanik, allgemeine Biologie, menschliche Physiologie, allgemeine Kenntnis der Anatomie, Geologie und Paläontologie, später: tieferes Studium der Mathematik und Physik und der Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Holländische Leseversuche, Russisch,

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Canetti nannte ihn in drei nachgelassenen Aufzeichnungen, in je anderer Nuancierung. Die letzte dieser Aufzeichnungen stammt vom 13. Dezember 1951: »Das Schöne der griechischen Worte in meinen Sprachen, weil ich nicht Griechisch kann.«52 Schon am 12. März 1943 brachte Canetti, in leicht verfremdeter Er-Rede, einen ähnlichen Gedanken zu Papier: »Die Worte griechischen Ursprungs sollen die nährenden Mysterien seiner Sprache bleiben. Er gelobt sich nie Griechisch zu lernen.«53 Und dann, noch einmal etwas früher und am ausführlichsten, im August 1942: »Ich halte es für mein besonderes Glück, dass ich nicht Griechisch kann. Es ist sehr wohl möglich, dass ich noch dreissig ferne und fremde Sprachen erlerne. Aber nie werde ich Griechisch lernen. So soll dieser eine grosse Quellfluss meines Lebens in seinen Ursprüngen immer geheim bleiben.«54 Schönheit, Mysterium, ein geheimer Ursprung: Erst in völliger Offenheit, unter Relativierung oder vollkommener Nicht-Beachtung der Etymologie, erst durch ein neues und unbefangenes Hören wie bei einer Fremdsprache entfaltet er sich: der Zauber des Namens. Innerhalb seiner festen Grenzen bleibt der Name in Bewegung, es fehlen die wissenschaftlich verbindlichen Erklärungen der Etymologie.55 Wie auch in Marrakesch braucht es, um zu verstehen, keine Sprachkenntnisse. Es braucht nicht mehr als den Namen, einen zauberhaften Namen, und einen sich öffnenden, schließlich ergriffenen Hörer, der aus dem eigenen Gefühl heraus neu zu denken beginnt. || ein Überblick über die übrigen slawischen Sprachen, Fortsetzen des Türkischen, vielleicht später davon ausgehend Persisch und Arabisch, eventuell Hebräisch und in einigen Jahren vielleicht Griechisch und Chinesisch). Er möchte sich aber auch mit der romanischen Sprachwissenschaft und der Deutschen Etymologie beschäftigen. »Das alles hat nebenbei zu geschehen. Als Hauptstudium, weil auch als wesentlich für das Werk [,] betrachte ich für die nächsten Jahre und auf Lebenszeit Philosophie, Psychologie, Psychiatrie und Geschichte. Eine parallelgehende literarische Ausbildung ist selbstverständlich, ebenso eine in den bildenden Künsten. Musik darf Kunst bleiben. Zu führen: unbedingt eine Chronik der Masse. ein [sic] Tagebuch des Individuums. eine [sic] Chronik der geistigen Entfaltung. Das alles zusammengenommen ist als Minimalprogramm anzusehen.« Siehe ZB 5.1, ohne Datum (Hervorhebungen im Original). 52 ZB 12 (Hervorhebung im Original). 53 ZB 7. 54 ZB 6. 55 Wie Rümmele: Mikrokosmos im Wort (wie Einleitung, Anm. 61), S. 27f. anhand zahlreicher Beispiele nachweist, hat auch Thomas Mann Etymologie »auf eigene Hand« betrieben, indem er »die Namen auffächerte, um alle Bedeutungszonen zu erfassen«. »Dadurch daß der Name vor allem aus dem Netz von Beziehungen seine Bedeutung gewinnt, wird er zugleich mit einer neuen Aura umgeben; das abgenützte oder unscheinbare Wort wird neugeschaffen.« Es wird zum Mikrokosmos (Ebd., S. 28f. und 239). Dies erinnert an Canettis schon früh formulierte Vorstellung, dass im Namen alles sei.

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Für die Art, nach der Canetti Namen zu verstehen sich bemühte, existiert ein historisches Vorbild: die sogenannte gelehrte Volksetymologie.56 Einem Namen wird dabei ein Sinn zugesprochen, der auf semantischen oder lautlichen Assoziationen beruht, auf zunächst vielleicht noch fundiert erscheinenden, philologisch aber absurden Verknüpfungen. Die etymologische Bedeutung spielt dabei keine Rolle, ja die Volksetymologen kennen sie meist gar nicht mehr. Gerade deshalb versuchen sie, den Namen wieder zu motivieren, ihn transparent zu machen.57 Eine besonders reiche Fundgrube gelehrter Volksetymologien ist die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine; sie gehörte zu Canettis Lieblingsbüchern.58 Wir finden darin philologisch korrekte Erklärungen unmittelbar neben volksetymologischen Sinngebungen. Schauen wir uns einen Abschnitt über den heiligen Kornelius an, der von 251 bis 253 auf dem Stuhle Petri saß. Zu seinem Namen, der auf das römische Geschlecht der Cornelii verweist, liest man dort unter anderem: Kornelius könne vielleicht vom lateinischen »cornu« und dem griechischen »leos« (eigentlich »laos«) kommen, der Name bedeute also »Horn des Volkes«.59 Was Jacobus de Voragine um 1270 lediglich mutmaßte und überdies symbolisch verstand, war bei anderen schon bald Gewissheit: In Frankreich, aber auch im Rheinland galt Kornelius beim Volk als Schutzpatron des Rindviehs.60 Selbst das Attribut des Heiligen, ein Horn, wurde

|| 56 Zur Terminologie Bach: Deutsche Namenkunde 1 (wie Kapitel A5, Anm. 31), S. 575. Vgl. dazu auch Arno Ruoff: Naive Zugänge zur Namenforschung. In: Eichler u.a. (Hg.): Namenforschung 1 (wie Kapitel A4, Anm. 22), S. 360–367, hier S. 361: Die Volksetymologie sei ein »Zwischenbereich zwischen dumpfer Unkenntnis und wissenschaftlicher Klarheit«. Eine alternative Bezeichnung wäre »Neuetymologisieren«. Vgl. dazu Laur: Der Name (wie Einleitung, Anm. 32), S. 77. Zu einseitig Nübling, Fahlbusch und Heuser: Namen (wie Einleitung, Anm. 38), S. 39f., die am Beispiel Milano/Mailand zu zeigen versuchen, dass die Volksetymologie bei Namen keine echte sekundäre semantische Motivierung schaffe, sondern nur auf formale Transparenz aus sei. 57 Beispiele bei Bach: Deutsche Namenkunde 1 (wie Kapitel A5, Anm. 30), S. 573–576. 58 Gespräch mit Johann Steurer in Morlang (Hg.): Canetti in Zürich (wie Kapitel A1, Anm. 30), S. 181–196, hier S. 182. 59 Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. Mit einem Nachwort von Walter Berschin. 14. Auflage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004, S. 550. Etwas zu hart das Urteil von Christoph Daxelmüller: Namenmagie und Aberglaube, Namenmystik, Namenspott und Volksglaube, Namenbrauch und Frömmigkeit. In: Horst Eichler u.a. (Hg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. 2. Teilbd. Berlin, New York: de Gruyter 1996 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 11.2), S. 1866–1875, hier S. 1872: Die Namenetymologie der Legenda Aurea verfahre »nicht philologisch, sondern hermeneutisch im Sinne der Wesensbestimmung.« 60 Vgl. Matthias Zender: Über Heiligennamen. In: Der Deutschunterricht 9 (1957), H. 5, S. 72–91, hier S. 75. Vgl. dazu auch ders.: Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung und

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aus seinem Namen abgeleitet. Noch heute befindet sich in Kornelimünster bei Aachen, wo man den Papst seit dem frühen Mittelalter verehrt, das sogenannte Horn des heiligen Kornelius; es handelt sich um ein verziertes Büffelhorn, eine Arbeit wahrscheinlich des 15. oder 16. Jahrhunderts.61 Die Menschen erzählten sich über dieses Horn, es sei kein gewöhnliches Horn, sondern die Klaue des sagenhaften Vogels Greif. Der Autor eines kleinen »Heiltumsfahrtbüchleins« aus dem Jahre 1790 schien es ganz genau zu wissen: Der Vogel Greif habe diese Klaue dem heiligen Kornelius aus Dankbarkeit geschenkt, weil dieser ihn von der Fallsucht befreit habe. Auf diese Erzählung weisen noch heute zwei silberne Klauen hin, die als Stützen am Horn befestigt sind.62 Ein weiteres, ein wesentlich bekannteres Beispiel ist die Legende vom heiligen Christophorus, die, so Lutz Mackensen, aus diesem Namen erst entstanden ist.63 Später jedoch, als die griechische Bedeutung der beiden Namenglieder nicht mehr bekannt war, nahm man allgemein an, Christus sei von einem Riesen namens Offerus über das Wasser getragen worden. Eine sehr viel weniger gelehrte, mythenbildende Volksetymologie bemühte sich schließlich nach Kräften, die Patronate einiger Heiliger direkt aus deren Namen abzuleiten: Blasius etwa sei für Blasenkrankheiten zuständig, Lambert müsse man bei Lahmheit anrufen und Lucia bei Augenleiden.64 Von Lucia wusste man zu berichten, sie habe sich ihre Augen ausgestochen und sie ihrem Verlobten zugeschickt, einem Heiden, den sie gegen ihre Überzeugungen heiraten sollte. Maria habe ihr daraufhin neue und schönere Augen geschenkt. Diese Hinweise zeigen, dass die volksetymologischen Deutungen nicht das Ende der Beschäftigung mit einem Namen bedeuteten, sondern den Anfang. Der Name war auch hier ein Zugang. Die Menschen gerieten über der Namensdeutung ans Erzählen. Sie schufen Sagen und Legenden, weil sie einen Namen verstehen wollten. Sie wurden, indem sie eine Geschichte zu diesem Namen erfanden, sie ergänzten, wieder anders fassten und neu bedachten, zu Dichtern, die im Dienste der Wahrheit phantasierten. Sie hatten zwar keine Zweifel daran,

|| ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverehrung. 2. Auflage, Köln, Bonn: Rheinland-Verlag 1973, S. 151. 61 Vgl. Dieter P.J. Wynands: Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen. Aachen: Einhard 1986 (Veröffentlichungen des bischöflichen Diözesanarchivs Aachen; 41), S. 129. 62 Vgl. E. Pauls: Beiträge zur Geschichte der grösseren Reliquien und der Heiligthumsfahrten zu Cornelimünster bei Aachen. In: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiözese Köln 52 (1891), S. 157–174, hier S. 166f. 63 Vgl. Lutz Mackensen: Name und Mythos. Sprachliche Untersuchungen zur Religionsgeschichte und Volkskunde. Leipzig: Eichblatt 1927 (Form und Geist; 4), S. 32. 64 Vgl. ebd., S. 26f.

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dass der Name richtig sei, aber sie gingen frei mit dieser Überzeugung um. So wie der Namenträger selbst waren auch sie, beim Nachvollzug des Namens, begrenzt und frei zugleich. Gerade diese Paradoxie machte für Canetti das Wesen des Dichters aus, wie sich der Aufzeichnung über Gérard de Nerval ablesen lässt. Er war ein Dichter, weil er wusste, dass die Wahrheit nur zu erfühlen ist – ein Wissen, mit dem er sich, wie Canetti es vom Dichter u.a. verlangte, gegen die eigene Zeit stellte. Heute, da eine solche Überzeugung vielen befremdlicher erscheint als je, ist die schöne Literatur beinahe zum alleinigen Hort dieser einst kollektiven Vorstellung von Wahrheit geworden. Wie vor Hunderten von Jahren glauben manche Dichter bis heute an den Zauber der Namen, als hätten sie die Entzauberung der Welt im Zuge der Aufklärung nicht zur Kenntnis genommen.65 Für Canetti gilt dies erst recht, wie nicht zuletzt sein Umgang mit dem Problem der anscheinend unpassenden Namen belegt. Dieses Problem ist ihm sehr früh bewusst geworden, und zwar schon damals, als er die Namen der griechischen Götter und Helden aufgenommen und seine »Abhängigkeit von Namen« begonnen hatte. In Die gerettete Zunge beschreibt er, wie er es in den Griff bekommen hatte, lange bevor ihn die Gleichnamigkeit ungleicher Menschen oder die ›schweren‹ Namen zu beunruhigen begannen: Der Konflikt zwischen Namen und Taten wurde zu einer wesentlichen Spannung für mich, und der Zwang, sie in Übereinstimmung zu bringen, hat mich nie losgelassen. Menschen wie Figuren hing ich um ihrer Namen willen an, und die Enttäuschung über ihr Verhalten hat mich zu den umständlichsten Bemühungen veranlaßt, sie zu verändern und mit ihren Namen in Einklang zu bringen. Über andere aber mußte ich abstoßende Geschichten aushecken, die ihre abscheulichen Namen rechtfertigten. (VII, S. 119)66

|| 65 Vgl. dazu etwa Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 105: »An kaum ein Wort haben sich so hartnäckig mythische Vorstellungen geheftet wie an den Namen, und keine anderen Vorstellungen begegnen im Zusammenhang mit dem Namen so häufig wie die mythischen: praktisch alle seine literarischen Verwendungsweisen können einen mythischen Sinn erhalten.« Zur Problematisierung siehe Debus: Namen in literarischen Werken (wie Einleitung, Anm. 111), S. 81: »Die alte im Mythos wurzelnde Vorstellung von der unzertrennlichen Einheit von Name und Wesen des diesen Namen Tragenden [...] ist für die literarische Welt von besonderer Bedeutung.« Ein prominentes Beispiel unter den Dichtern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Thomas Bernhard, der sich Canetti zeitweise verbunden fühlte. Die Assoziationen, die Eigen- oder Flurnamen wie »Höllengebirge« hervorrufen, waren ihm außerordentlich wichtig. Vgl. Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biographie. Salzburg: Residenz Verlag 2015, S. 171. 66 Siehe auch ZB 15, 21. September 1968: »Ein Dummkopf gestern erzählt mir, dass er Proust nicht mehr lesen kann, seit er Freud liest. Und dieser Mensch wagt es, einen so schönen Namen zu tragen, er heisst Benjamin.« Die Antithese »onoma« und »ergon«/«pragma« ist schon

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In geringfügiger Abwandlung einer bekannten Formulierung von Jean Piaget könnte man dem jungen Canetti hier einen kindertypischen (allerdings nicht mehr naiven) »Realismus der Eigennamen« attestieren.67 Zwar verfügt der Zehnjährige bereits über die Erfahrung, dass einzelne Namen ihrem Träger nicht angemessen sind; doch das kann und will er nicht akzeptieren. Die Namen sollen mit dem Benannten in Einklang stehen, sie dürfen sich keineswegs als beliebig und falsch und trügerisch erweisen; der Träger darf nicht zu leicht sein. Auch für die »umständlichen Bemühungen«, beides im Nachhinein zusammenzubringen, findet sich bei Piaget die passende Diagnose, er bezeichnet ein solches Verhalten als »verbalen Synkretismus«; dieser Synkretismus sei der Ursprung des etymologischen Triebes, wie der Romanist Charles Bally ihn nannte, jenes Triebes also, der den Menschen dazu zwinge, jedes einzelne Wort zu rechtfertigen, es als richtiges und wahres Wort zu begreifen.68 Die Analyse der Aufzeichnungen hat nachweisen können, dass sich Canetti zeit seines Lebens von diesem Trieb beherrschen ließ (im Hinblick allerdings ausschließlich auf Eigenamen) – von einem Trieb, den manche für pathologisch halten mögen. Doch Canetti war nicht der einzige, dem es auf diese bedingungslose Art um Wahrheit in der Sprache gegangen ist. Auch Karl Kraus, der »in die Sprache

|| bei den Sophisten belegt. Vgl. Laur: Der Name (wie Einleitung, Anm. 32), S. 112. Einen Konflikt zwischen Name und Benanntem stellt Canetti übrigens auch bei einem Appellativum fest: »In der Synagoge beeindruckte mich das Wort ›Schofar‹ für das Horn, nicht aber seine Laute. Der Gegensatz zwischen dem Namen, der etwas Dunkles und Schweres hatte und den unsicheren und unzusammenhängenden Tönen irritierte mich.« (ZB 18, 21. Februar 1976) 67 In seinem Buch Das Weltbild des Kindes unterscheidet Jean Piaget zwischen dem ontologischen und dem logischen Realismus der Namen, wobei er sich freilich nicht auf Eigennamen, sondern auf Worte wie Sonne und Mond bezieht. Zunächst zur ersten Form des Realismus: Mit 5 bis 6 Jahren, so Piaget, sei das Kind der festen Überzeugung, die Namen seien eine Eigenschaft der Dinge: Mit dem Namen dringt das Kind »[…] seiner Meinung nach in das Wesen des Dings ein und entdeckt eine wirkliche Erklärung.« Mit 7 bis 8 Jahren sei dieses Stadium zumeist abgeschlossen, das Kind glaube jetzt, die Namen gingen zurück auf den Schöpfer der Dinge, sei es Gott, seien es die ersten Menschen. Im letzten Stadium schließlich, mit 9 bis 10 Jahren, vertrete das Kind die Auffassung, die Namen seien von Generation zu Generation weitergegeben worden. Noch länger dauere der logische Realismus: »Bis ungefähr zum 10. Lebensjahr enthalten alle Namen die Idee des Dings. In einem zweiten Stadium (10 und 11 Jahre) besteht bloß eine Übereinstimmung zwischen dem Namen und der Idee: Der Name ›passt gut‹ usw. Das heißt, er enthält noch ein wenig die Idee des Dings, aber man hätte andere Namen finden können, die dieselbe Idee enthalten. Nach dem 11. bis 12. Lebensjahr schließlich hat der Name an sich keinen Inhalt, er ist reines Zeichen.« Zitate nach: Das Weltbild des Kindes. Einführung von Hans Aebli. Aus dem Französischen von Luc Bernard. 9. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2010 (dtv; 15044), S. 67 und 86. 68 Vgl. ebd., S. 87.

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Verliebte[]«69, war ein Realist der Eigennamen70, wenngleich er wohl nicht generell, im Sinne einer sprachtheoretischen These, von der ›Richtigkeit‹ der Namen überzeugt war.71 Zwar ist der Namensfetischismus unter den Dichtern des Abendlandes sehr verbreitet72, aber Canetti ging in seiner Verzückung weiter als die meisten, weiter auch als Kraus. Wie die Aufzeichnung über Gérald de Nerval bezeugt, glaubte er, dass erst der etymologische Trieb den Dichter mache. In der zitierten Passage aus seiner Lebensgeschichte wollte er zeigen, dass er schon als Kind zu einem Dichter in diesem Sinne geworden war, einem Geschichtenerzähler, der seine Phantasie von Namen begrenzen und steuern ließ. Vieles spricht dafür, dass Canetti seine Namensmythologie auch später – neben den Aufzeichnungen – nirgendwo sonst besser zur Geltung hätte bringen können als in seinen poetischen Werken. Hier nämlich konnte er, wann immer er wollte, selbst Schicksal spielen und seinen Figuren mit ihren Namen eine Seele und einen ›Knotenpunkt‹ verleihen; hier brauchte er keine »umständlichen Bemühungen«; hier musste er keine Vornamensvetter und keine Konflikte, keine allzu schweren oder vielleicht sogar falsch gewordenen Namen, keine (Ent-)Täuschungen ertragen. Stattdessen konnte er – als Schöpfer seines eigenen Werks – überall richtige Namen bilden. Auch und gerade für den Dichter Canetti war der Name alles: Wurzel

|| 69 Caroline Kohn: Karl Kraus. Stuttgart: Metzler 1966, S. 200. Kohn ruft in Erinnerung, dass bereits 1918 Leopold Liegler Karl Kraus' Auffassung von der Sprache für vergleichbar hielt »mit der animistischen Einstellung in der Religion der Primitiven, die an einen Sprachzauber glauben, durch die Nennung eines Wortes etwas in der Außenwelt zu bewirken hoffen«. Zitiert nach ebd., S. 200f. 70 Weiteres bei Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus (wie Kapitel A4, Anm. 57), S. 134. Wie Canetti hielt auch Kraus Namen und die ursprüngliche Namengebung für höchst bedeutend. Vgl. Volker Dürr: Karl Kraus: Sprachmystik, Kabbala und die deutsche Sprache als »Haus des Seins«. Zum Essay Heine und die Folgen. In: Eckehard Czucka, Thomas Althaus und Burkhard Spinnen (Hg.): »Die in dem alten Haus der Sprache wohnen«. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Münster: Aschendorff 1991 (Literatur als Sprache; Supplementbd.), S. 375–390, hier S. 384. Zur Sprachmystik bei Karl Kraus siehe auch Kohn: Karl Kraus (wie Anm. 69), S. 204: »Das Wort als ein magisches Zeichen gewinnt bei Kraus Bedeutung und fesselt seine ganze Aufmerksamkeit. Das Wort ist nicht nur konventionelles Verständigungsmittel, sondern in der Region des Geistigen magischer Stellvertreter des Dinges. Es handelt sich nicht um Wortfetischismus, sondern um ein Bekenntnis zur metaphysischen Einheit von Wort und Ding, Sein und Sprache.« 71 Vgl. Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Einleitung, Anm. 13), S. 137. 72 Für Johann Gottfried Herder waren Namen »von ihrem Ursprung an ein zutiefst poetisches Sprachelement«. Er zeigt, dass Namen dem Handeln oder Schicksal des Trägers im Nachhinein angepasst wurden, oft durch einen dichterischen Akt, etwa in einer Sage. Vgl. Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe (wie Einleitung, Anm. 25), S. 205–207. Eine eigene Überblicksdarstellung über die Geschichte der poetischen Namengebung fehlt bis heute.

176 | Der Name als Wurzel und Gefäß

und Gefäß, Pfeil und Flügel, zugleich Ursprung und Ziel und Weg. Am 23. Mai 1983 schrieb er sich in sein Notizbuch: »Selbst die Geschichte eines Namens ist erzählenswert.«73 Studieren wir die Geschichten, die er uns in seinen Büchern erzählt. Der Fokus der Arbeit wird sich dadurch – wie angekündigt – verschieben. Während Canetti in den Aufzeichnungen vor allem seine Passivität angesichts der rätselhaften Namen hervorgehoben hat, kommt nun das aktive Moment stärker als bisher in den Blick. Statt vom Zauber des Names wird mehr von Namenzauberei die Rede sein. Beides, Macht und Ohnmacht, gehörte für Canetti zur Paradoxie des Schöpfungsakts. Und nur beides zusammen verlieh ihm jene geistige Weite, von der er träumte und die er sich in den Aufzeichnungen zu erschreiben suchte.

|| 73 ZB 20 (Hervorhebung im Original).

| Teil B: Name und Maske Namen in den poetischen Werken

1 Die Befristeten 1.1 Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall Im ersten Teil seines Dramas Die Befristeten1 lässt Canetti einen Mann auftreten, der mit derselben Angst zu kämpfen hat wie er. Es ist die Angst, trotz aller Bemühungen mit der Arbeit nicht fertig zu werden, die Angst vor dem eigenen Scheitern. Im Stück ist diese Angst keineswegs unbegründet; der Mann ist sich absolut sicher: Er wird es nicht schaffen, alles war umsonst. In seiner Verzweiflung vertraut er sich einem Kollegen an und erzählt ihm von seinem Dilemma: »Aber ich plag mich doch sehr. Ich versuche alles. Ich bin den ganzen Tag bei der Arbeit und die halbe Nacht dazu. Ich esse kaum, ich schlafe kaum, du mußt es mir doch ansehen, daß ich mich übernehme.« (II, S. 203) Wenig später kommt heraus, warum der Mann glaubt, es gebe keine Hoffnung mehr und keinen Trost. Es liegt nicht an seinen Fähigkeiten oder seiner Entschlossenheit, nicht an den Arbeitsbedingungen oder fehlender Unterstützung; der Grund für die Depression ist schlimmer: Der Mann wird bald sterben. Er selbst formuliert diese schreckliche Gewissheit überraschend nüchtern: »Ich habe zu wenig Zeit.« (II, S. 203) Dieser Satz mag Canetti wiederholt auf den Lippen gelegen haben in all den Jahren, in denen er an seinem opus magnum schrieb. Aus den Nachlassmaterialien zu Die Stimmen von Marrakesch wissen wir, dass ihm das Problem der vorüberfliegenden Zeit sehr zu schaffen machte: Noch immer empfinde ich es als bitter, dass die Zahl meiner Tage mir nicht bekannt ist. [...] Ich bin ein Mensch der Fristen, wer Fristen und Termine so hasst wie ich, braucht sie für das Geringste, das er vollenden soll. Ich bin den Fristen ausgeliefert, und ich kenne sie nicht, und die furchtbare Vorstellung eines Werkes, das ich nie vollenden werde, verlässt mich nicht. O wüsste ich ein Orakel, das mir hilft! Eine Instanz, der ich traue und glaube!

|| 1 Dagmar Barnouw hält Die Befristeten für eine der »interessantesten Anti-Utopien unserer Zeit«. Vgl. dazu ihr Buch: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 136), S. 80 sowie ihren Aufsatz: Elias Canettis poetische Anthropologie (wie Einleitung, Anm. 1), S. 19. Als »reinste Form der Dystopie« bezeichnet Barnouw das Stück in ihrem Aufsatz: Utopie und Lebenszeit: Die Befristeten. In: Patillo-Hess und Smole (Hg.): Canettis Aufstand gegen Macht und Tod, S. 99–107, hier S. 100. Robin Maekelbergh: Elias Canettis Dramen. Eine Landschaft des Grotesken. In: Germanistische Mitteilungen 27 (1988), S. 31–45, hier S. 41 spricht von einem »anti-utopische[n] Experiment«.

180 | Die Befristeten

Aber ich bin mit grossartigen Absichten und Erkenntnissen, die mich wie Schwerter durchziehen [?], allein.«2

Mit dem Tod musste sich Canetti in der ersten Hälfte der 1940er Jahre immer wieder auseinander setzen, vor allem mit dem Tod in massenhafter Form. Bis zum Ende des Krieges verging kein Tag ohne Nachrichten von den Schlachtfeldern Europas, auf denen Millionen ihr Leben ließen.3 Überall abgebrochene Vorhaben und unvollendetes Leben, überall Leid und Angst und Klage. Doch der Tod hatte für Canetti auch ein individuelles Gesicht. Am 31. Mai 1944 lernte er bei seiner Freundin, der Malerin Marie-Louise von Motesiczky, die junge, todkranke Dichterin Gwyneth Barthall kennen, die sich über ihre Lage nicht im Klaren war, da man sie schonen wollte.4 Nach dieser Begegnung, die Canetti, zutiefst bewegt, einige Tage später in einer Aufzeichnung Revue passieren ließ, skizzierte er die Idee zu einem Werk, das er, der die meisten seiner Ideen nicht realisierte, dann auch wirklich schrieb: sein drittes und (wie er nicht ahnte) letztes Theaterstück. Die Niederschrift nahm er erst zu Beginn der 1950er Jahre in Angriff, in einem Augenblick, in dem der Tod wieder mit aller Macht in sein Leben drängte: Unmittelbar zuvor – es war im September 19515 – hatte er von der Krebskrankheit seiner Schülerin und Geliebten Friedl Benedikt erfahren – eine Nachricht, die ihn bestürzte. Kein Wunder, dass er sich jetzt erneut und vielleicht sogar mehr denn je auch mit dem eigenen Tod beschäftigte; dass er, der frei sein wollte, sich danach sehnte zu wissen, wie viel Zeit ihm selbst noch bleibe. Die oben zitierte Aufzeichnung über die Frist legt Zeugnis davon ab, ebenso wie das im September 1951 begonnene Drama selbst, das seine »erste verbindliche Stellungname zum Tod« werden sollte (BgT, S. 69). Im Gegensatz nämlich zu Canetti und allen anderen Menschen kennen dessen Figuren, so der Grundeinfall6,

|| 2 ZB 54, 26. April 1954. Zur Bedeutung von Fristen für Canetti vgl. auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 418. 3 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scheint sich die Beschäftigung mit dem Tod bei Canetti noch einmal verdichtet zu haben. Das belegen vor allem die zahlreichen Aufzeichnungen über den Tod aus dieser Zeit. Siehe dazu Piel: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 63), S. 99. 4 ZB 8, 1. Juni 1944, dazu Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 348. Siehe jetzt auch BgT, S. 67f. 5 Canetti arbeitete an dem Stück von Ende September 1951 ungefähr anderthalb Jahre bis Frühjahr 1953. Siehe ZB 16, 29. Januar 1969. Vgl. dazu X, S. 313: Das Stück wurde »[…] unter der Entwicklung eines bestimmten Todes geschrieben […].« 6 Zum Grundeinfall siehe Canettis Ausführungen im Gespräch mit Manfred Durzak (X, S. 307): »Ich will gar nicht viel Reflexion. Mir ist viel wichtiger, daß ein Einfall, das, was ich den Grundeinfall nenne, vorliegt, wie ich auch nie ein Drama beginnen würde ohne einen vollkommen neuen Grundeinfall, von dem ich überzeugt bin, daß er noch nie verwendet worden

Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall | 181

das Datum ihres Todes auf Jahr und Tag genau. Sie sterben stets an ihrem Geburtstag – einem von Geburt an festgelegten Geburtstag. Und doch ist Canettis Stück keine literarische Wunscherfüllung, sondern eine sozialkritische Dystopie.7 Wie das Beispiel des verzweifelten Kollegen verdeutlicht, wirkt sich unter den Bedingungen der Befristung noch verheerender als sonst jene Paradoxie des Todes aus, die Ernst Bloch folgendermaßen beschrieben hat: »Nichts steht so finalistisch wie er [der Tod – A.S.] am Ende, und nichts zerschmettert zugleich den Subjekten der historischen Zwecksetzung ihre Arbeit so antifinalistisch zum Fragment.«8 Die Wurzeln dieses Grundeinfalls reichen weiter zurück als bis zum Zusammentreffen mit der todgeweihten Dichterin. Wie weit zurück ist allerdings unklar. Canetti könnte sich damals, im Mai 1944, an ein Ereignis aus dem Jahr 1933 erinnert haben, von dem er in seiner Lebensgeschichte berichtet hat. Auf dem Abschlussfest der Straßburger Arbeitstagung zur modernen Musik hatte Hermann Scherchen, der Initiator, alle verbliebenen Teilnehmer dazu aufgefordert, sich von ihm das Schicksal aus der Hand lesen zu lassen, auch seinen persönlichen Gast Canetti, der in seiner Achtung allerdings sehr gesunken war. Er selbst, so Scherchen, werde vierundachtzig, viel älter als alle Anwesenden. Canetti dagegen – zu diesem Zeitpunkt achtundzwanzig Jahre alt – werde als

|| ist. Ich will also jedes Mal ein vollkommen neues Drama schreiben. Ich will von einem Einfall ausgehen, der meines Wissens noch nie da war, der noch nie verwendet wurde. Was damit geschehen soll, ist folgendes: Ich will die Abwandlung dieses Einfalls.« Nach Schößler: Masse, Musik und Narzißmus (wie Kapitel A7, Anm. 32), S. 77 schließt Canetti damit an die Konzeption des Originalgenies an. Zum Grundeinfall vgl. auch Marek Przybecki: Ein Augenblick entlarvter Macht. Zu Canettis dramentheoretischer Begrifflichkeit. In: Kaszyński (Hg.): Canettis Anthropologie und Poetik (wie Einleitung, Anm. 59), S. 117–133, S. 130: Der Grundeinfall sei »eine Art thematische Voraussetzung, die es dem Zuschauer ermöglicht, sich in das dramatische Geschehen, in die ›verfremdete‹ Alltagsrealität auf der Bühne zu verwandeln.« Gedanken über die Frage, die seinem Grundeinfall zugrunde liegt, macht sich Canetti in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1952: »Aller Fatalismus bezieht sich im Grund auf diese eine Frage: Ist die Lebensdauer des Menschen vorherbestimmt, oder ergibt sie sich erst aus dem Verlauf seines Lebens? […] Man lebt vage so, als ob die zweite Annahme die richtige wäre, und man tröstet sich über den Tod mit der ersten.« (BgT, S. 70) 7 Vgl. dazu auch Katarzyna Antczak: Die Gesellschaft des präsumptiven Todes. Die Befristeten von Elias Canetti. In: Hubert Lengauer (Hg.): »Abgelegte Zeit«? Österreichische Literatur der fünfziger Jahre. Beiträge zum 9. Polnisch-Österreichischen Germanisten-Kolloquium Łodź 1990. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Zirkular; Sondernummer 28), S. 77–84, hier S. 83: Das Stück sei das »Modell einer totalitären Herrschaft mit fast allen dazugehörigen Manipulationstechniken«. 8 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. In 5 Teilen. Kapitel 43–55. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 (Werkausgabe; 5/suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 554), S. 1301.

182 | Die Befristeten

Jüngster sterben, und zwar ziemlich bald: mit nicht einmal Dreißig (IX, S. 82f.). Diese Szene ist zweifellos stilisiert, was nicht heißt, sie habe sich nie ereignet. Canetti stellt Scherchen als einen Typus dar: Er, der Dirigent, ist der vollkommene Machthaber, ein Überlebenssüchtiger, der nicht von ungefähr eine Hierarchie der Lebenszeit etabliert mit sich selbst an der Spitze. So vergewissert er sich seiner Überlebenskraft, in noch schärferer Form als (nach Canettis Theorie) die Menschen, die auf einem Friedhof die Lebensdaten von den Grabsteinen sammeln und ausrechnen, um wie viel Jahre sie diesen und jenen Verstorbenen überlebt haben. Denn einerseits strebt Scherchen den Triumph über Lebende an; seine Prophezeiung ist ein Todesurteil und ein Vorgriff auf das »Friedhofsgefühl«: Er allein wird dereinst zwischen den Gräbern spazieren gehen; er allein wird alle überleben. Andererseits beseitigt Scherchen – besonders vor sich selbst – den letzten Zweifel an seiner Überlegenheit. Während die Friedhofsbesucher (in Canettis Theorie) »das Unbestimmte des eigenen, noch zu erwartenden Lebens« als einen »große[n] Vorteil« empfinden (III, S. 326), da die Lebensdaten der Toten feststehen, ist es für Scherchen ein Nachteil. Denn die Unbestimmtheit des eigenen Lebensendes schließt die Möglichkeit eines schnellen Todes ein. Mit Scherchens Prophezeiung verschwindet auch sie. Der Zwang wird zur Freiheit umgedeutet; denn Scherchen selbst entscheidet über das Datum seines Todes. Diese Freiheit jedoch ist eine Illusion – ein Thema, das Canetti in Die Befristeten aufgreifen wird. Auch er selbst hat über den Ursprung seines Grundeinfalls nachgedacht: Der 15. Juni, schreibt er, sei sowohl der Todestag der Mutter als auch der Geburtstag Anna Mahlers, die im Jahr 1933 für wenige Monate seine Geliebte war. Es sei möglich, dass diese Koinzidenz von Geburtstag und Tod ihm die erste Anregung zu seinem Stück gegeben habe.9 Was Canetti jedoch wichtiger war als alle Anstöße, das verrät er in einem Brief an den Germanisten Hans Feth: Dieses Drama führe ins Zentrum seines Denkens.10 Dort nun aber stoßen wir nicht nur auf den Tod, sondern auch auf eine bereits bekannte mythische Vorstellung: Es ist die Vorstellung, dass etwas dem Menschen Äußerliches wie ein Name sein Inneres offenbare und sein Schicksal bestimme. In Canettis Œuvre existiert kein zweites Werk, in dem diese Vorstellung so radikal, aber auch so kritisch in Sze|| 9 ZB 60, 13. Mai 1984. Als Georg im Juni 1951 erneut im Sanatorium liegt, ist Canetti fest davon überzeugt, dass der Bruder am Todestag der Mutter sterben wolle. An Marie-Louise von Motesiczky schreibt er: »Überhaupt Aberglauben! Vor dem 15. Juni, dem Todestag meiner Mutter, hatte ich solche Angst, dass ich den Kalender am liebsten verschoben hätte.« Zitiert nach LoA, S. 82. 10 Brief an Hans Feth vom 5. Mai 1977. Zitiert nach Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 8.

Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall | 183

ne gesetzt wäre wie in Die Befristeten. Doch auf welche Weise ist sie in Szene gesetzt und mit welchen Absichten? Und warum schreibt Canetti eine Dystopie? Zunächst zur Ausgestaltung des Grundeinfalls: Statt der üblichen Vor- und Nachnamen tragen die Befristeten einen sehr ungewöhnlichen Namen: einen Zahlennamen. Diese Zahl bestimmt das Alter, das der Namenträger erreichen wird; sie legt seine Befristung fest. Da gibt es beispielsweise Fünfzig, einen Jungen namens Zehn, zwei Herren, die sich am Ende als Brüder herausstellen, mit Namen Achtundzwanzig und Achtundachtzig, schließlich zwei sehr alte Damen, die Dreiundneunzig und Sechsundneunzig heißen. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit rückt allen diesen Figuren damit so nah wie nur möglich. Kein Scharlatan muss das Datum des Todes erst wie auf dem Jahrmarkt aus der Hand ablesen; es ist von Geburt an gewiss und ruft sich in Erinnerung, wann immer der Benannte sich vorstellt, wann immer er angesprochen wird. Durch nichts lässt sich der Tod mehr verdrängen, durch keine Lüge und keine Hoffnung, das ganze Leben ist unter seine Herrschaft gestellt. Der Tod ist sogar verschmolzen mit dem Ureigensten, dem Namen, der den Menschen nach uralter Vorstellung erst zum Menschen macht, ihm seine Identität verleiht. Auf ungewöhnliche Weise gewinnt der Name, die bloße Zahl, dadurch eine individualisierende Funktion: Er charakterisiert die Figur; er macht sie einzigartig und bestimmt – im mythischen Sinn – ihr Schicksal.11 Niemand trägt in Die Befristeten daher denselben Namen wie ein anderer – eine Option, die Canetti bei der Arbeit an seinem Stück noch erwogen hatte: »Die Befristeten: Begegnung zwischen zwei Gleichnamigen.«12 Darin dass der Name als Ausweis des je eigenen Schicksals fungiert, unterscheidet sich Canettis Drama von Jewgenji Samjatins Roman-Dystopie Wir. Auch dort tragen die Figuren Zahlennamen, aber diese Namen haben eine ganz andere Funktion: Sie zeigen die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen in einem totalitären Staat, der willenlose Massenwesen schafft.13 Ob Canetti beim

|| 11 Vgl. dazu eine Aufzeichnung vom 31. Mai 1944, die sich Canetti während der Arbeit an Die Befristeten noch einmal abgeschrieben hat: »Das Prinzip der Gleichheit ist in den Zahlen verwirklicht. Den Zahlen ihre Gleichheit wieder benehmen.« (ZB 34) 12 ZB 12, 31. Januar 1952. 13 D-503, Hauptfigur des Romans und Erzähler, schildert das Leben im ›Einzigen Staat‹ so: »Jeden Morgen stehen wir, Millionen, wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf. Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmten Sekunde die Löffel zum Mund, zur gleichen Sekunde gehen wir spazieren, versammeln uns zu den TaylorExerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen…« Zitiert nach Jewgenji Samjatin: Wir. Ro-

184 | Die Befristeten

Schreiben womöglich an die Auschwitz-Nummern dachte, jene Ur-Verbindung von Zahl und Tod, lässt sich nicht mehr klären. Da entsprechende Hinweise sowohl im publizierten Werk als auch im Nachlass fehlen14, ist es nicht allzu wahrscheinlich. Interpretatorisch ergiebiger ist demgegenüber ein Blick in Masse und Macht. Denn der Zahlenname teilt wesentliche Eigenschaften mit der Maske: Er ist wie sie klar, bestimmt und starr. Beide, Name und Maske, ändern sich nicht, sie bleiben gleich.15 Dass Name und Maske eng zusammen gehören, erweist sich bei genauerer Prüfung keineswegs als Spekulation ex post. In den Entwürfen bezeichnet Canetti selbst die Zahlennamen als Maske.16 Das lässt sich noch besser nachvollziehen, wenn wir berücksichtigen, dass die Maske eine weitere wichtige Eigenschaft besitzt: Das Gewisse der Maske, ihre Deutlichkeit, ist von Ungewissem geladen. Ihre Macht beruht darauf, daß man sie genau kennt, ohne je wissen zu können, was sie enthält. Man kennt sie von außen, sozusagen nur von vorn. (III, S. 446)

Zur Gewissheit kommt auch in Die Befristeten als komplementäres Moment die Ungewissheit. Neben die Offenbarung tritt das Geheimnis. Denn im Gegensatz zur Befristung kennt meist nur der Betroffene selbst sein derzeitiges Alter; || man. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Mit einem Nachwort von Jürgen Rühle. 9. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006 (KiWi; 49), S. 15. Auf Samjatin, der als erstes den Übergang von der Individualität des Eigennamens zur Anonymität der Ziffer dargestellt habe, weist hin: Penka Angelova: Masse und Individuum bei Zamjatin und Canetti. Typologische Betrachtungen zu Zamjatins Roman Wir und Canettis Dramen. In: Stieg und Valentin (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen« (wie Einleitung, Anm. 10), S. 173–190. Allerdings zeigt sich bei D-503 schon zu Beginn die Tendenz, den Namen im Nachhinein eine individualisierende Funktion zuzusprechen: »Die liebe O! Ich fand schon immer, daß sie genau wie ihr Name aussieht: sie ist zehn Zentimeter unter der Mutternorm, ganz rund, wie gedrechselt, und bei jedem Wort, das sie sagt, formt ihr Mund ein rosiges O.« (Samjatin: Wir, S. 8) 14 Peter J. Conradi erwähnt in seinem Buch: Iris Murdoch. Ein Leben. Biographie. Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Marion Balkenhol. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 (suhrkamp taschenbuch; 3579), S. 454f., dass Canetti 1945 mit dem Roten Kreuz in Auschwitz gewesen sein und dort mit überlebenden Kindern Deutsch gesprochen haben soll. »Mein Name! Mein Name!« sollen sie gebettelt haben, da sie ihre Namen vergessen hätten. Canetti soll sie ihnen genannt haben. Nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 374 ist diese Geschichte, die Conradi für eine »eher zweifelhafte Story« hält, ganz sicher ein »Mythos«. Vgl. dazu auch ZB 9, 11. November 1946. 15 Vgl. dazu III, S. 444: »Die Maske ist klar, sie drückt etwas ganz Bestimmtes aus, nicht mehr, nicht weniger. Die Maske ist starr: dieses Bestimmte ändert sich nicht.« 16 Vgl. ZB 34, 29. März 1951. Für Petra von Morstein ist die Maskierung durch Namen das »Strukturfundament des Stücks«. Vgl. Das Gesetz der Maske. Elias Canettis akustische Künste. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 4), S. 153–156, hier S. 156.

Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall | 185

es ist nicht öffentlich bekannt und unterliegt auch im Privatleben einem Tabu, dem Gesetz des Schweigens. Selbst enge Verwandte sind über das »Geheimnis« nicht informiert, nur Vater und Mutter kennen es, würden es aber niemals jemandem verraten (II, S. 185). Schon das Wort »Geheimnis«, das auf das gleichnamige (später publizierte) Kapitel in Masse und Macht vorausweist (III, S. 343–51), lässt vermuten, dass sich Canetti in seinem Stück mit den Mechanismen der Macht auseinandersetzt. Das ist ein erster Hinweis auf die Frage, warum Canetti mit den Befristeten eine Dystopie geschrieben hat. Anders als die Geheimnisse in Masse und Macht ist das Geheimnis in Die Befristeten mit Händen zu greifen. Ihr Leben lang tragen alle Menschen eine Kapsel um den Hals, in der, wie es heißt, ein Zettel mit dem Geburtsdatum enthalten sei (II, S. 189). Diese Kapsel erinnert an die Bulla, ein wassertropfenförmige Amulettkapsel zur Abwehr von Unglück und bösem Zauber, die römische Knaben bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr auf der Brust zu tragen hatten. Die Kapsel der Befristeten erfüllt eine ähnliche Funktion: Sie verbürgt, dass niemand, sei es durch Unfall oder Mord, sei es durch Krankheit oder Magie, vor seinem persönlichen Augenblick sterbe.17 Zugleich hält sie ihre Träger in Unmündigkeit, macht sie noch als Erwachsene zu Kindern. Denn sie ist das Dingsymbol für die Herrschaft des Todes, ein Memento mori, das jede einzelne Sekunde des Lebens jenem allerletzten Augenblick unterwirft. Nach Eintritt des Todes erst wird diese Kapsel von einem eigens dazu ermächtigten Amtsträger erbrochen, dem sogenannten Kapselan. Er hat nun öffentlich zu verkünden: Dieser Mensch ist an seinem vorherbestimmten Geburtstag gestorben. Es gibt keine Ausnahme von der Regel, keine Freiheit, kein ewiges Leben. Die Ordnung ist richtig und unumstößlich, der Zahlenname das Gegenteil eines arbiträren Zeichens. Aus kulturhistorischer Perspektive handelt es sich bei dieser Konstruktion um die Verkehrung eines traditionellen Mythems. Seit ältesten Zeiten klammert sich gerade an den Eigennamen die Sehnsucht nach einem Leben über den Tod hinaus, nach Ruhm und Unsterblichkeit im kollektiven Gedächtnis der Menschen.18 In Canettis Stück ist das umgekehrt: Der Name wird zum Träger des Todes, die Figuren, heißt es im Nachlass, »[…] laufen wie ihre eigenen Grabstei|| 17 Uwe Schweikert vergleicht die Kapsel in seinem Gespräch mit Canetti deshalb mit dem Lebenslicht (X, S. 332). 18 In seiner frühesten Schrift bezeichnet Cicero Ruhm als das »von vielen mit Anerkennung Genanntwerden«. Vgl. Ulrich Knoche: Der römische Ruhmesgedanke. In: Philologus 89 (1934), S. 102–124, hier S. 102. Zum Komplex Name und Unsterblichkeit siehe auch Stephen Cave: Unsterblichkeit. Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben als Triebkraft unserer Zivilisation. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Fischer 2012.

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ne herum. Sie tragen die Grabinschrift auf den Herzen.«19 Auch hier mag Canetti an das »Friedhofsgefühl« gedacht haben. Die Welt seines Dramas ist zwar noch sehr lebendig, zugleich aber bereits wie ein Friedhof. Das Errechnen der eigenen Überlegenheit ist auf diesem Welt-Friedhof eine selbstverständliche Übung von Kindheit an. Schon die erste Szene zeigt – programmatisch – einen Jungen, der ausrechnet, er werde achtunddreißig Jahre älter als seine Mutter (II, S. 184). Mit seinen siebzig verheißenen Jahren gehört er zu den ›höheren Namen‹, die wissen, dass sie viele Menschen überleben werden: »Nicht nur Eltern und die Leute einer früheren Generation, – das wäre natürlich; aber auch seine Geschwister, Freunde, Kollegen, Frauen und meist auch seine Kinder.« (II, S. 192) Betroffen von dieser Verkehrung ist auch die Kapsel: Während sich die griechischen Mysten mit Amuletten die Unsterblichkeit zu sichern suchten20, garantieren die Kapseln nur eines: das Datum des Todes. Hans Feth hat die Zahlennamen, ein Unikum in Canettis Gesamtwerk, auf die (im Vergleich zu den ersten beiden Dramen) veränderten biografischen Umstände zurückgeführt, mit einem Wort: auf das Exil. Aus seiner Heimat und seiner Sprache vertrieben, vermisse Canetti die vertrauten Namen und könne sie nicht mehr selbstverständlich gebrauchen. Darum habe er als Namen Zahlen gewählt, verbreitet in nahezu allen Sprachen.21 Literarhistorisch, als allgemeingültige These über die Arbeit des Dichters im Exil, ist dies wenig überzeugend, zumal ausgeklammert bleibt, dass Canetti regelmäßigen Kontakt zu deutschsprachigen Exilanten hatte. Doch Feth stützt seine These auf eine Aufzeichnung von Canettis eigener Hand; sie steht in Die Provinz des Menschen: Es ist eine alte Sicherheit in der Sprache, die sich Namen zu geben getraut. Der Dichter im Exil, und ganz besonders der Dramatiker, ist nach mehr als einer Richtung hin ernsthaft geschwächt. Aus seiner sprachlichen Luft entfernt, entbehrt er die vertraute Nahrung der Namen. Er mochte früher die Namen, die er täglich hörte, gar nicht beachten; doch sie beachteten ihn und riefen ihn rund und sicher. Wenn er seine Figuren entwarf, schöpfte er aus der Gewißheit eines ungeheuren Sturmes von Namen, und obwohl er dann einen verwenden mochte, der in der Klarheit der Erinnerung nichts mehr bedeutete, irgend einmal war jener doch da gewesen und hatte sich rufen gehört. Nun ist dem Ausgewanderten das Gedächtnis seiner Namen ja nicht verlorengegangen, aber es ist kein lebender Wind mehr,

|| 19 ZB 34.2, ohne Datum (Kurzschrift). 20 Vgl. Bloch: Das Prinzip Hoffnung 43–55 (wie Anm. 8), S. 1313. 21 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 216. Überzeugender ist meines Erachtens die These, dass das Exil bei Canetti eine Verschiebung von der mündlichen Kommunikation zur deutschen Schriftsprache bewirkt habe. Vgl. dazu Peiter: Exil, Judentum und Sprache in ausgewählten Nachlass-Aufzeichnungen von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 1), S. 57.

Die Bedeutung der Namen für den Grundeinfall | 187

der sie zu ihm trägt, er hütet sie als toten Schatz, und je länger er seinem alten Klima fernbleiben muß, um so geiziger werden die Finger durch die alte [sic] Namen gleiten. So bleibt dem Dichter im Exil, wenn er sich nicht ganz ergibt, nur eines übrig: die neue Luft zu atmen, bis auch sie ihm ruft. [...] Die Fremde wächst, und wenn er erwacht, ist es der alte vertrocknete Haufen, der neben ihm liegt, und er stillt seinen Hunger mit Korn, das aus seiner Jugend stammt. (IV, S. 59)

Aus dem Nachlass wissen wir heute, dass der Fall bei Die Befristeten anders liegt. Denn Canetti hat zeitweise beabsichtigt, den Befristeten neben ihren Zahlennamen auch einen (gleichsam normalen) Vornamen zu geben – ein Vorhaben, das Feths These widerlegt. In den Entwürfen finden wir: Charles 22, aus dem dann Karl 22 wird, und Ruth 37; wir finden Frank 80 und Magda 80, Franz 22 und Johann 95.22 Sein Vorhaben hat Canetti allerdings recht schnell aufgegeben, ebenso wie die Idee, Familiennamen aus Doppelziffern zu schaffen oder sogar, unter Berücksichtigung der Kinder, aus einer noch längeren Zahlenfolge. Im Nachlass sind diese Namen erhalten geblieben, im abgeschlossenen Drama hingegen suchen wir vergeblich nach einem Ehepaar mit Namen 37.45 – einem Mann, dem selbst 37 Jahre verheißen sind und der eine Frau geheiratet hat, die 45 Jahre leben wird. Und ebenso vergeblich suchen wir nach einer Familie mit Namen 37.45.80.16.36, wobei die drei letzten Zahlen das Sterbealter der Kinder bezeichnen.23 Auf solche Zahlenungetüme hat Canetti vermutlich um der Lesund Spielbarkeit willen verzichtet und sich für die schlichteste aller Varianten entschieden. Im publizierten Text verwendet er als Namen nur noch eine einzige, leicht zu merkende Zahl. Als Sprecherbezeichnung erhalten die Figuren stets einen allgemeinen Begriff (Mann, Frau und Junge), gelegentlich versehen mit einer Dezimale (erste und zweite Dame). Im Personenverzeichnis wirkt das zuweilen komisch, etwa wenn hinter einem Jungen die Zahl 70 steht, zuweilen aber auch beklemmend, beispielsweise bei einem jungen Herrn namens 28. Diese Diskrepanz weist auf den tragikomischen Charakter der Befristeten hin und hat außerdem einen dramaturgischen Effekt: Der Zuschauer wird in das Stück hinein gezogen. Plötzlich, im Laufe eines Gesprächs, bei den beiden jungen Herren erst gegen Ende des Stücks, ist der Name da – eine Überraschung sowohl für das Publikum im Saal als auch für den Gesprächspartner auf der Bühne, manchmal sogar ein Schock, nach dem die Szene in neuem Licht erscheint. Einige wenige Figuren wie Kollege und Freund tragen statt eines Zahlennamens eine Funktionsbezeichnung. Denn bei ihnen kommt es nicht auf die genaue Lebenserwartung an, auch nicht auf ihr gegenwärtiges Alter, sondern – wie

|| 22 Vgl. ZB 34, 29. März 1951. 23 Vgl. ebd.

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bei einem Paar, für das es kein Morgen mehr gibt – auf den Umgang mit der Befristung. Da diese Funktionsbezeichnungen an die Stelle der Zahlennamen treten, mit derselben fixierenden Wirkung, könnte man sie als funktionelle Namen24 bezeichnen. Eine Sonderstellung nehmen »der Eine« und »der Andere« ein, die beiden Figuren des Prologs. Canetti greift hier mit Absicht auf zwei Indefinitpronomina zurück. Er will seinen Grundeinfall erst einmal in Ruhe entwickeln, unbelastet von konkreten Namen und den damit verbundenen Affekten. Die Beschränkung der Namen auf eine einzige Zahl hat einen weiteren Vorteil: Nichts lenkt jetzt mehr von der Schicksals-Ziffer ab, kein Begriff, keine weitere Zahl, kein zusätzlicher Vorname. Die herkömmlichen Vor- und Nachnamen sind in Canettis Stück sogar geächtet: als Relikte einer schrecklichen Vergangenheit. Im »Prolog über die alte Zeit« erläutert »Einer« dem »Anderen« mit sichtlicher Abscheu, dass die Leute damals »ohne rechte Namen« lebten. »Sie hatten irgendwelche Namen und die Namen hatten gar nichts zu bedeuten. […] Es war gleichgültig, wie jemand hieß.« (II, S. 181) Der einzige Name, der als Beispiel für die alte Praxis dient, ist von Canetti sehr bewusst gewählt. Es ist ein gewöhnlicher Name, wie er, in Erinnerung an die beiden wichtigsten Apostel, seit Jahrhunderten verbreitet ist: Peter Paul.25 Und es ist ein antithetischer Name26, ein Name mit einem widersprüchlichen (mythischen) Sinn: Denn obwohl Petrus und Paulus oft gemeinsam dargestellt werden, waren sie zeitweise Gegner. Auf dem Apostelkonzil (44–49 n. Chr.) hatten sie sich für verschiedene Positionen stark gemacht. Insofern fehlt dem Namen Peter Paul jene Sicherheit und Enge, die die Zahlennamen der Befristeten kennzeichnen.

1.2 Die Namens-Hierarchie der Befristeten Namen und Zahlen, vor allem als Preise, besitzen für Canetti eine Gemeinsamkeit, die ihre zunächst so seltsam wirkende Fusion in Die Befristeten zu erklären vermag und sie zugleich mit der Maske verbindet: Es ist die Festigkeit. In einer

|| 24 In den Entwürfen spricht Canetti von »funktionellen Figuren«. Siehe ZB 34, 25. Juni 1952. 25 Im Entwurf steht zunächst Peter Konstantin. Siehe ZB 34, 18. November 1952. Es könnte sich hier ebenfalls um einen antithetischen Namen handeln (Gegensatz von Papst und Kaiser). 26 Zur Terminologie vgl. Peter Demetz: Zur Rhetorik Fontanes: Die Kunst der Namen. In: Ders.: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. München: Hanser 1964, S. 193–203, hier S. 197: In den Namen Alonzo Giesshübler und Niels Wrschowitz gerate, so Demetz, ein »romantisches, farbenreiches oder ›heroisches‹ Element in fruchtbaren Widerspruch mit einem »Familiennamen von alltäglicher, farbloser, ›langweiliger‹ Art«.

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nachgelassenen Aufzeichnung aus dem Jahre 1947, betitelt »Das Buch von den Preisen«, heißt es dazu: Der Wert ist als eine zweite Art der Festsetzung über die Dinge gekommen, zum Namen, der ursprünglicher war. Schon die Anerkennung der Namen ist eine der beunruhigendsten Tatsachen. Man weiss zwar, dass es verschiedene Sprachen gibt, jede mit ihrem abgegrenzten Gebiet, aber innerhalb dieses Gebiets sind die Namen fest und anerkannt und wehe dem, der daran zu rütteln wagte.27

In Die Stimmen von Marrakesch schildert Canetti, dass die Preise durch Handeln trotzdem in Bewegung geraten können; dass sie ihre Festigkeit im Akt des Feilschens verlieren. Sie wechseln je nach Käufer – nach seinem Besitzstand oder der Länge seines Aufenthaltes in Marrakesch (VI, S. 16–19). Wie im ersten Teil gesehen, haben auch die Namen – als zauberhafte Namen, die eine tiefe Sinnfülle erahnen lassen – für Canetti keine fixe und eng umrissene Bedeutung, sondern einen beweglichen, einen unendlich großen Inhalt. Bei den Befristeten ist diese variable Fülle des Namens unbekannt. In ihrer Welt sind Namen nicht rätselhaft. Hier dienen sie ausschließlich der Fixierung, hier sollen sie Schranken28 schaffen, die nicht mehr, durch keine Verwandlung, zu transzendieren sind. Selbst ihr Inhalt ist identisch mit einer Schranke, der letzten Schranke, dem Tod. Dass in einem Namen alles sei, gilt auch in Die Befristeten, aber diametral anders als in den Aufzeichnungen. Das Numerale ist vom Ende her bestimmt; es meint, dass das ganze Leben am Tod hängt. Dass Name und Zahl nicht nur beschränken, sondern auch selbst beschränkt sind, betont Canetti in einer Aufzeichnung vom 24. Mai 1942, knapp zehn Jahre, bevor er mit der Ausarbeitung der Befristeten beginnen wird: »Er kann sich nichts genau merken; ausser Namen und Zahlen. Alles Übrige dichtet sich weiter.«29 In den Entwürfen wiederum, in einer später gestrichenen Szene, lässt Canetti einen Richter zu Fünfzig sagen: »Jeder hat seine bestimmte Lebenszahl. Es gibt niedere und es gibt hohe Namen. Das ist richtig. Es gibt sogar sehr hohe Namen. Ein Kapselan meiner Bekanntschaft heisst 122. Aber es hat alles seine Grenzen. Sie sind sich klar darüber, dass alles eine Grenze hat? Oder halten sie ihren Schwachsinn für grenzenlos?«30 Worin besteht dieser Schwachsinn? Fünfzig hat auf die Frage nach seinem Namen geantwortet: »Niemals«. Für ihn ist die »Freiheit in der Zeit«, wie es in Die Provinz des Menschen heißt,

|| 27 ZB 9, 29. September 1947. 28 Canetti selbst macht keinen Unterschied zwischen Schranke und Grenze. 29 ZB 6. Statt »Er« hat Canetti zunächst »Man« geschrieben. 30 ZB 34.2, Szene ohne Datum: »Fünfzig als Niemals vor dem Richter« (Kurzschrift).

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die weitmöglichste Entgrenzung: »die Überwindung des Todes« (IV, S. 11). Dort, im Reich der Freiheit, gibt es keine Zahlennamen, keinen Zwang und ebenso wenig den Tod. Wer in der Welt der Befristeten »Niemals« zu heißen begehrt, der will heraus aus dem Gefängnis, über die Grenze hinweg, geradeso wie Odysseus, der Polyphem als »Niemand« zum Narren hält und ihm dadurch entkommen kann.31 Eine solche Entgrenzung scheint den Befristeten ganz unmöglich. Denn die Schranke, die ihre Namen schaffen, ist besonders hermetisch. Es ist zum einen eine existentielle Schranke: Die Menschen werden tatsächlich nicht einen Tag älter als ihnen verheißen. Sie folgen dem Befehl, der, von außen kommend, in ihrem Innersten steckt, dem Namen. Der Befehl tritt hier in seiner (von Canetti in Masse und Macht angenommenen) ältesten, seiner ursprünglichen Form auf: als Todesurteil. (III, S. 358).32 Zwar spricht in Canettis Stück niemand von einem Befehl, aber dieser Befund trifft wieder nur auf den publizierten Text zu. In den Entwürfen legt Canetti Fünfzig dieses für ihn so wichtige Wort noch in den Mund, und zwar in einem Monolog mit dem Titel: »Fünfzig gegen seinen Namen«: »Jedesmal wenn einer meinen Namen ausspricht, ist es wie ein Befehl; vergiss nicht, was du ihm schuldig bist!« Richte dich auf 50 ein!«33 Im Unterschied zu den Aufzeichnungen erzählt Canetti in Die Befristeten also von einer Macht des Namens, die dem Benannten nicht die geringste Freiheit lässt. Ihre Freiheit verlieren die Figuren auch deshalb, weil die Namen zum anderen eine soziale Schranke schaffen. Sie sind das Fundament einer Rangordnung, die hoch und niedrig scheidet (wie das Lebensalter bei Scherchen), das »Kapital« des Menschen in einem gleichsam plutokratischen Staat.34 Die Ange-

|| 31 Vgl. zu Odysseus und Polyphem eine im Haupttext schon teilweise zitierte Aufzeichnung aus Das Geheimherz der Uhr: »Das Wort ›Kolchis‹: sehr früh. Ohne ›Kolchis‹ hätte mir Medea nichts bedeutet. Den Zusammenhang dieser Namen empfinde ich auch heute als wahr und berückend. Aber wenig einleuchtend finde ich, daß Odysseus zuerst durch Polyphem und Kalypso in mir entstand. Nausikaa hatte zu ihm beigetragen, für den Namen Penelope empfand ich während meiner ganzen Jugend Abneigung. Ich glaube, es liegt an den Namen selbst, nicht an den mit ihnen verbundenen Geschichten. Bei Polyphem hat immerhin mitgespielt, daß Odysseus sich für ihn zum Niemand machte. Menelaos war mir wegen seines Namens so lächerlich wie Paris. Tiresias fand ich herrlich. Ich will den Namen der Odyssee nachgehen und ihre Ursprünge in mir finden.« (IV, S. 402) 32 Vgl. zu dieser Deutung auch Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 215 und Barnouw: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 136), S. 79. 33 ZB 34.2, Szene ohne Datum: »Fünfzig gegen seinen Namen« (Kurzschrift). 34 Vgl. II, S. 204: »Mit einem bestimmten Kapital Leben kommt man zur Welt. Es nimmt nicht ab, es nimmt nicht zu. Man kann dir nichts davon rauben, es ist unveräußerlich auf deinen Namen geschrieben.« Canettis Vorbehalte gegen den Besitz bündeln sich in einer Aufzeich-

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sehensten unter den Befristeten sind jene, die am ältesten werden, die viele überleben, das meiste »Kapital« besitzen.35 Darum verzehren sich die Frauen nicht nach vermögenden, sondern nach »hohen« Männern. Ein Mann, der nicht mindestens Achtundachtzig heiße, sagt eine Dame zu einer anderen, sei nichts für sie; nur »das Teuerste« sei ihr gut genug (II, S. 214). Diese erneute Verknüpfung von Kapital und Leben enthüllt, wie sehr sich die Befristeten gegenseitig als Warenobjekte betrachten, mit denen sie ihren eigenen Wert akzentuieren oder verbessern können. In einer Welt, in der die Menschen durch kollektive Prädestination verdinglicht sind, ist Verdinglichung auch gesellschaftlich das herrschende Prinzip. Noch drastischer zeigt sich die Gier nach hohen Namen in einem Dialog zwischen zwei Mädchen, den Canetti allerdings über den Entwurf nicht hinaus gebracht hat. Das erste Mädchen hat sich in einen Mann verliebt, dessen Größe es nicht anzugeben weiß, genauso wenig wie seine Augenfarbe und seine körperliche Konstitution. Doch darauf, meint es, komme es sowieso nicht an, der Mann könne nur einen Meter messen, es würde ihn trotzdem lieben. Von einem zweiten Mädchen wird es für diese scheinbar blinde, nahezu irrsinnige Liebe scharf kritisiert. Als dieses zweite Mädchen nun aber hört, der Mann heiße Achtundachtzig, ist auch es gleich verliebt und himmelt ihn sogar an wie einen Gott: »88! Was für ein wunderbarer Name. Ich könnte vor ihm niederknien und ihn anbeten. Ich muss ihn heute noch kennen lernen.«36 Den höchsten Namen von allen Befristeten trägt der Kapselan. In seinem privaten Leben nennt man ihn Hundertundzweiundzwanzig (II, S. 197). Wahrscheinlich wegen dieses Privilegs der Vorsehung ist er zum alleinigen Herrn über die Kapseln bestellt. Seine Lebenserwartung übertrifft jedes Maß, selbst jene 120 Jahre, die Gott in der Genesis für den Menschen festgelegt haben soll.37 Ohne eigenes Zutun verfügt der Kapselan über eine Kraft, die sich der Mensch in archaischen Gesellschaften erst Mann gegen Mann erkämpfen muss: die »Kraft des Überlebens« (III, S. 274). Der Name bezeugt diese Kraft, er ist gleichsam das Mana, das der Kapselan im Vorgriff auf seine Siege, d.h.: sein massenhaftes

|| nung aus Die Provinz des Menschen; darin heißt es u.a.: »Man müßte die Menschen durch ein jährliches Fest dazu erziehen, das Bestohlenwerden zu ertragen. […] Der Besitz würde viel von seiner Gottähnlichkeit und Ewigkeit verlieren.« (IV, S. 15) 35 Siehe dazu auch III, S. 294: »Der Wunsch nach einem langen Leben, der in den meisten Kulturen eine große Rolle spielt, bedeutet in Wirklichkeit, daß man die eigenen Altersgenossen überleben will. Man weiß, daß viele früh sterben, und will für sich ein anderes Schicksal.« 36 ZB 34.2, Szene ohne Datum: »Reichtum oder der hohe Name« (Kurzschrift). Auf ganz andere Art als für Canetti wird der Name in dieser Szene zu einem Gott, den die Menschen anbeten. 37 Vgl. Gen 6,3. Mit 120 Jahren soll auch Moses gestorben sein (Dtn 34,7).

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Überleben bei der Geburt erhalten hat. Während sich aber – wie Canetti in Masse und Macht berichtet (III, S. 300) – der Name eines Mannes auf den FidschiInseln jeweils bei einer bestimmten Anzahl Getöteter ändert, bleiben die Namen der Befristeten gleich. Der Träger eines hohen Namens besitzt dennoch einen ähnlichen Status wie der siegreiche Krieger bei den Primitiven. Er ist (in Canettis Terminologie) ein Held, überzeugt von seiner Auserwählung und beseelt vom »Gefühl der Unverletzlichkeit« (III, S. 269), als ob er sie wie Achill und Caesar tausendfach bewiesen hätte. Nicht von ungefähr ist sich Siebzig sicher, dass ihm beim Klettern kein Unheil zustoßen werde: »Mir doch nicht, mir doch nicht. Ich heiße Siebzig.« (II, S. 184) Auch ein anderes Kind, ein Mädchen, weiß genau, dass es nicht vor der gesetzten Frist ertrinken wird: »Ich könnte gleich ins Wasser springen.« (II, S. 199) Angesichts des nicht vermehrbaren Kapitals Lebenszeit verliert für die Befristeten alles an Bedeutung, was unter ›normalen‹ (den Zuschauern vertrauten) Umständen Ansehen schaffen oder garantieren könnte. Eine niedere Frau, die allenfalls ein Jahr noch zu leben hat, findet keinen Ehemann mehr, ihr soziales Kapital ist zu gering, wie intelligent, attraktiv und liebenswert sie auch sein mag: »Da könnte sie die größte Schönheit sein, mit einem Jahr nimmt sie niemand.« (II, S. 212) Selbst ein Doktortitel macht keinen Eindruck. Die Szene »Die Werbung« führt es vor Augen: Frau: Sie sind Doktor Sechsundvierzig. Mann: Stimmt. Das bin ich. Sie kennen meinen Namen! Frau: Ich kenne und schätze ihn. (II, S. 190)

Wie soll man den letzten Satz verstehen? Im anschließenden Gespräch erwähnt der Mann, er habe unter seinem Namen immer gelitten; schließlich sei er nichts Besonderes, sondern einfach nur ›mittelmäßig‹ (II, S. 191). Aus seiner Bemerkung klingt die ganze Enttäuschung darüber, dass das gesellschaftliche Renommee, auch die Akzeptanz bei den Frauen, nichts mit seinen Fähigkeiten und Leistungen zu tun haben, sondern mit der Lebenszeit. Tatsächlich wirbt die Frau einzig aus diesem Grund um ihn. Sie heißt Dreiundvierzig und ist auf der Suche nach dem »gemeinsamen Augenblick« (II, S. 193). Weder möchte sie, die mit diesem Namen über eine nicht sonderlich hohe »Kraft des Überlebens« verfügt, ihren Mann überleben noch möchte sie von ihm überlebt werden. »Man soll zusammen beginnen und zusammen enden.« (II, S. 192) Da sie weiß, wie alt Sechsundvierzig werden wird, bemüht sie sich durch intensives Studium seines Äußeren herauszufinden, wie lange er noch leben werde. Die Themen seiner

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Vorträge, die bezeichnenderweise nicht erwähnt werden (im Nachlass ist von »Vorlesungen über Musik«38 die Rede), interessieren sie nicht im Geringsten. Sie hört nicht zu, sie kommt allein wegen ihrer »fixe[n] Idee«. »Wie lange wird er noch so sprechen können? Wie lange? Wie lange? Wie lange?« (II, S. 191) Das Verb »schätzen« spielt auf dieses ›Einschätzen‹ an, es weist aber auch darauf hin, dass die Frau mit dem Mann einen Schatz, ein passendes Kapital, erwerben möchte. Zugleich lässt die Szene erahnen, wie undurchlässig die Hierarchie der Zahlennamen39 ist. Es gibt keine Aufstiegsmöglichkeiten, weder im öffentlichen noch im privaten Leben. An einer anderen Stelle wird das noch klarer: Eine Dame, die »um fünfzehn Jahre besser« ist als ihre Gesprächspartnerin, stellt ebenso trocken wie überheblich fest: »Ich bin hoch, du bist mittel, da ist eben nichts zu machen.« (II, S. 215) Die Befristeten sind ideologisch so sehr gleichgeschaltet, dass die Statik ihrer Gesellschaftsordnung vor Eingriffen wirksam geschützt ist. Nicht zufällig wird der »Kontrakt«, der die Richtigkeit der Befristung zu verbürgen scheint, »das Heilige Gesetz« genannt (II, S. 217); nicht zufällig tritt der Kapselan laut Regieanweisung einmal »in schwerem Ornat« auf und spricht der versammelten Menge eine Litanei vor, »[…] wie wenn ein Priester singen würde« (II, S. 215 und 218). Und nicht zufällig ist die Kapselöffnung sogar auf doppelte Art verfemt: Im juristischen Sinn gilt sie als Mord und im religiösen Sinn als Sünde (II, S. 226). Die Hierarchie der Namen ist dadurch als göttliche Ordnung legitimiert. Wer sie antastet, handelt, so die Suggestion, wider eine höhere (Schicksals-)Macht, die im Stück indes nie auch nur in Umrissen sichtbar wird.40 Sie zu kennen ist im Grunde auch nicht wichtig. Von Fünfzig verlangt der Kapselan, vor dem Volk das Credo der Befristeten zu sprechen: »Ich glaube an das Heilige Gesetz.« (II, S. 217) An die Stelle Gottes, des höchsten Machthabers, und an die Stelle des irdischen Herrschers von Gottes Gnaden, den in Canettis Jugend der greise Kaiser Franz Joseph verkörperte, ist das Gesetz selbst getreten; der Gesetzgeber spielt keine Rolle. Doch gerade diese Leerstelle hat dazu geführt, dass die hohen Namen eine göttliche Verehrung genießen. Wo alles von Schranken geprägt ist, gibt es keine Transzendenz, auch keine Erlösung als Aufnahme in Gottes jenseitige Herrlichkeit, sondern nur das Diesseits und den Menschen.

|| 38 ZB 34.2, Szene ohne Datum: »Ehe der Gleichen« (Kurzschrift). 39 Von einer »Hierarchie der Namen« spricht auch Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 129. 40 Siehe dazu allerdings eine Bemerkung in Masse und Macht (III, S. 371): »Es ist nach islamischer Auffassung der unmittelbare Befehl Gottes, der den Menschen den Tod bringt.«

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Bereits für ein Kind kann die religiös verbrämte Hierarchie die schlimmsten Folgen haben. Ein Junge namens Zehn beispielsweise wird von seinen Eltern erst gar nicht zur Schule geschickt, er wird nicht erzogen, nicht zurechtgewiesen, er liest nicht, ja er kann nicht einmal lesen, da in Anbetracht seines frühzeitigen Todes sämtliche Mühen zwecklos erscheinen (II, S. 201f.). Sein Name steht der Entfaltung seiner Anlagen im Wege, er zwingt ihn, sich gleich und immer gleich zu bleiben. Was ihm selber als die wundervollste Freiheit erscheinen mag – er darf alles –, ist in Wahrheit die schlimmste Form der Unfreiheit, ist mitten im Leben die völlige Isolation: der Tod.41 Das dystopische Moment des Stücks zeichnet sich nun immer deutlicher ab: Da das Potential der Befristeten durch die von Anfang an bekannte Lebenserwartung beschnitten ist, bleiben sie bis zum letzten Atemzug Sklaven ihrer Namen, festgelegt auf eine einzige Rolle. Hier ist es tatsächlich so, dass der Name, wie Canetti in den Aufzeichnungen schrieb, die Verwandlung hindert. Wir haben es gleichsam mit einem extremen Ständestaat zu tun – nur dass nicht die Geburt, sondern der Tod die Position bestimmt. Man kann die Gesellschaft der Befristeten aber auch mit dem noch starreren Kastensystem vergleichen, das Canetti in Masse und Macht beschrieben hat. Selbst die bloße Berührung mit einem Tieferstehenden sei dort bei Strafe verboten. Ausgeschlossen sei überhaupt jede soziale Verwandlung, alles sei statisch: Man heirate möglichst nur untereinander, man übe ein Leben lang denselben Beruf aus wie die Eltern und könne schon darum nicht in eine andere Kaste gelangen (III, S. 451). Wenn man Canetti glaubt, so existieren Kasten nicht nur in Indien, sondern auch in England, seiner zweiten Heimat. Die englische Party, so schrieb er in Party im Blitz, dem posthum veröffentlichten vierten Band seiner Autobiografie, beruhe darauf, dass »[…] Menschen Kasten von verschiedener Höhe angehören und zur Belebung hie und da welche anderer Kasten zulassen.« (PB, S. 69) Im Gegensatz zu einem ›idealen‹ Kastensystem kommt es bei diesen Partys also zu Berührungen; es sind allerdings Schein-Berührungen, die an den Verhältnissen nichts ändern. In einer nachgelassenen Aufzeichnung vom 17. Dezember 1948 entwirft Canetti ein noch genaueres Bild von diesen »gesellschaftlichen Ereignissen«, die er in England – wer weiß wie oft – erlebte: Die Berührung der Namen an sich ist das Wichtige; es ist, als springe ein Fünkchen von einem Namen ab und wirke auf den zweiten, der dann nicht mehr ganz dasselbe ist wie zuvor. Bei solchen Gelegenheiten kommen nur Ränge und Namen zusammen, nichts sonst, alles was mehr wäre, ist unerwünscht. Eine Begegnung menschlicher Qualitäten würde den Ritus stören und vom eigentlichen dürftigen Zwecke der Veranstaltung ablen-

|| 41 Vgl. Dagmar Barnouw: Doubting Death. On Elias Canetti's Drama The Deadlined. In: Mosaic 7 (1973/74), H. 2, S. 1–23, hier S. 12.

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ken. Die bescheidenen Allüren der Affäre sind Täuschung: es ist wahr, man muss zurückhaltend sein und soll nicht prahlen; von sich selber kann man nur so sprechen, als wäre man gar nicht da; aber mit derselben Schonung behandelt man auch den andern. Man frägt nicht zu viel, man stellt sich, als wüsste man nichts über ihn; nur was er einem selber sagt, ist offiziell bekannt, das Übrige hat man geschickt verborgen zu halten. Wer zu lange mit einem einzigen Menschen verweilt, ist unhöflich; er entzieht ihn seinen übrigen Gelegenheiten und auch den andern, denen es um ihn zu tun ist. Bei diesem Spiel soll Jeder der Eingeladenen seine gleichen Chancen haben. Die leiseste Handlung in Richtung auf eine Verwandlung hin gilt als geschmacklos, ja, sie ist beinahe etwas wie eine Täuschung, denn man geht ja hin, um nach Rang und Ansehen man selber zu sein, das darzustellen nämlich, was die Welt sich unter einem vorstellt, und um keinen Preis das, was man wirklich ist. Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass nichts auf der Welt langweiliger, unwürdiger und demütigender ist als eine solche Gesellschaft, und es wäre einfacher, die Teilnehmer würden in einem Schaufenster ausgestellt, jeder mit einem deutlich sichtbaren Preis behaftet.42

Vor diesem Hintergrund lässt sich die These aufstellen, dass Canetti den Grundeinfall für Die Befristeten zu einem großen Teil der englischen Atmosphäre verdankt. Vielleicht wäre es ihm sogar unmöglich gewesen, das Stück anderswo zu schreiben als hier. Erst in England nämlich stieß er auf ein Kastensystem, dessen Mechanismen er unmittelbar und nicht nur in der Theorie studieren konnte, ähnlich wie später das Zusammenwirken von Masse und Macht und die Fähigkeit zur Verwandlung in den Gassen von Marrakesch. So wie diese konkreten Erfahrungen seine ins Stocken geratene Arbeit an dem Großprojekt beflügelten, könnten auch die englischen Partys ihn angeregt haben, die Funktionsweise des Kastensystems zu beleuchten: Einmal theoretisch in Masse und Macht und einmal praktisch auf der Bühne – stark verfremdet, aber immer noch erkennbar. Inspiriert haben mag ihn dabei ganz besonders, dass das Kastensystem der englischen Partys auf Anerkennung und Ruhm beruhte und somit (wenn auch in anderer Form als in seinem Drama) auf Namen; dass es nicht, wie Canetti schrieb, eigentlich Menschen waren, sondern große Namen, Berühmtheiten, die miteinander sprachen, ohne sich nahezukommen, geschweige denn sich zu verwandeln. Noch aus dem Abstand einiger Jahrzehnte hielt Canetti die Distanz für die »Hauptübung der Engländer« (PB, S. 27). Den Chor der Ungleichen, eine Kontrafaktur des antiken Chores, ließ er in Die Befristeten

|| 42 ZB 10 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch ZB 6, 24. August 1942: »[…] Es sind die Namen, die sich hier (bei englischen Gesellschaften – A.S.] kennen lernen, und die Namen wollen einander von Zeit zu Zeit wiedersehen. Jeder hat einen, jedem bedeutet er etwas, und indem er ihn mit den andern austauscht, steigt sein Gewicht. Man soll aber nicht zu viel Namen haben, und sobald er das übliche Gewicht überschreitet, wird auch er zu den Titeln in die Tasche gesteckt.« (Hervorhebung im Original)

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Sätze deklamieren, die aus seiner Sicht wohl auch eine englische Party hätten beschreiben können: »Nein, wir sind nicht gern beisammen. […] Wir sind es nur zum Schein, wir werden uns trennen.« (II, S. 219) Mit anderen Worten: Die Befristeten treffen zwar aufeinander – sie treten immer zu zweit auf –, aber sie bleiben doch voneinander geschieden, selbst innerhalb ein und derselben Familie. Im Nachlass heißt es dazu: »Sie nennen es alle ihren Augenblick. Das ganz und gar nicht Gemeinsame der menschlichen Schicksale. Alle unsere Gemeinsamkeiten zählen nicht mehr, der Augenblick ist zu verschieden.«43 Diese Verschiedenheit macht aus den Befristeten das Gegenteil einer Masse. Zu ihren vier Haupteigenschaften zählt Canetti die Dichte – alles ist eng beisammen – und die Gleichheit: »Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.« (III, S. 30) Die Gesellschaft der Befristeten kennt sowohl Gleichheit als auch Dichte nicht, sie erinnert eher an ein Heer oder an die Kirche. Beide Gruppen sind für Canetti, anders als für Freud, dem er hier vehement widerspricht, gar keine Massen, da sie eine hierarchische Struktur besitzen.44 Was die Befristeten auf Abstand zueinander hält, sind die Namen. Nach Masse und Macht sind sie es auch, die dem Menschen seine Individualität zu Bewusstsein bringen, wenn die Masse zerfällt (III, S. 17). Sie markieren die Grenzen des Einzelnen, die in der Rangordnung der Befristeten überhaupt nicht, in der Masse nur vorübergehend überschritten werden kann. So statisch wie die Hierarchie ist auch das Alltagsleben der Befristeten: Sie reden miteinander, aber sie handeln nicht. Da sie die Welt nicht gestalten, die Ordnung nicht ändern, sie nur hinnehmen können, sind sie zu weitgehender Passivität verdammt. Zwar können sie ihr Leben im Detail gestalten, nicht indessen, wo es wichtig wäre: bei der Partnerwahl, der Erziehung der Kinder, dem Umgang mit Leid und Tod. Ein Mann, der meint: »Ein Mensch muß nur wollen, und er kann alles! Alles ist in unserer Macht, alles!« (II, S. 207) wird von seiner Freundin sofort eines Besseren belehrt: Das sei ein »Kinderglaube« (II, S. 207). Aus diesem Grund kennen die Befristeten auch keine schweren Strafdelikte wie Mord und Totschlag, es sei denn, einer stellt die Ordnung an sich in Frage und || 43 ZB 34, 30. März 1951. 44 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen im Gespräch mit Theodor W. Adorno: »Freud spricht von zwei konkreten Massen, die er als Beispiele gibt, die eine ist die Kirche und die andere das Heer. Und daß er zwei hierarchisch gegliederte – nennen wir es Gruppen – aussucht, um seine Massentheorie zu erklären, scheint mir schon sehr charakteristisch für ihn. Ich betrachte ja die Masse nicht als etwas hierarchisch Gegliedertes. Das Heer ist für mich gar keine Masse.« (X, S. 157f.)

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raubt – in ihrer Diktion: ermordet – eine Kapsel.45 Wer hingegen einen Menschen umbringt, ist nach ihrer Doktrin »[…] nicht wirklich schuldig, denn in diesem Augenblick wäre er [das Opfer – A.S.] auf alle Fälle gestorben.« (II, S. 195) Ein junger Herr mit Namen Achtundachtzig, ein Machthaber wie Scherchen, träumt trotz allem von einem Mord. Ihm genügt die »Kraft des Überlebens« nicht, die ihm sein Name verheißt; er muss selber töten, sich zum Schicksal für einen anderen Menschen aufwerfen; das (miss)versteht er unter Freiheit. Canetti verdeutlicht anhand dieser Figur, dass sich der Wunsch, die Toten wie auf dem Schlachtfeld zu vermehren, nicht unterdrücken lässt, selbst in einer Gesellschaft nicht, die ihrer Elite das massenhafte Überleben garantiert. Gleichwohl lässt der junge Herr von seinem Plan schließlich ab. Denn er kann sich von den Vorstellungen der Befristeten nicht lösen und glaubt, er werde für seine Tat nicht verantwortlich sein. Seine Freiheit wäre in Wahrheit Zwang. »Man ist an Händen und Füßen gebunden. Da man niemand töten kann, kann man auch nie mehr etwas ändern.« (II, S. 211) In einer anderen Szene spricht Fünfzig eine junge Frau an, deren Kind Sieben soeben begraben wird; er will wissen, wie sie mit dessen Tod umgeht: Fünfzig: Hätten sie gern etwas dagegen getan? Junge Frau: Das kann man nicht. Fünfzig: Haben sie es versucht? Junge Frau: Nein. Das tut niemand. Fünfzig: Aber wenn sie nun die erste gewesen wären, die es versucht hätte? Junge Frau: Ich, als einzige? Nein! (II, S. 208)

An die Stelle der Freiheit des Handelns ist bei den Befristeten der Zwang des Erleidens getreten, der Gehorsam gegenüber dem Befehl im Namen, an dem es nichts zu ändern gibt. »Man« und »niemand« regieren das Ich. Das freilich, so will es die Ideologie des Staates, soll einen guten Zweck erfüllen. Einmal ist emphatisch sogar vom »größten Fortschritt in der Geschichte der Menschheit« die Rede (II, S. 183).46 Worin besteht dieser Fortschritt? Im Prolog gibt »Der Andere« die Antwort, wobei er sich scharf von der Vergangenheit distanziert.47

|| 45 Vgl. II, S. 195: »Es ist zu Beginn dieser denkwürdigen Einrichtung vorgekommen, daß gewalttätige Gesellen aus der Hefe des Volkes andere angriffen, um ihnen ihre Kapseln zu rauben! Damals sind noch manche vor Schreck darüber gestorben. Gewalttätige Akte gegen Kapseln wurden mit dem Stigma des Mordes behaftet. Derselbe Ausdruck wurde dann im Laufe der Zeit auch auf die übertragen, die sich gegen ihre eigenen Kapseln vergingen.« 46 Im Nachlass findet man zudem die beiden Neologismen »Fortsprung« und »Fortflug«. Siehe ZB 34, 18. November 1952 (Kurzschrift). 47 Schon das erste Wort des Stücks dient der Abgrenzung: »Damals!« (II, S. 181)

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Dass sein Gesprächspartner zu behaupten wagt, in früheren Zeiten habe es bereits Genies und Philosophen gegeben, nötigt ihn zu einer Suada im Sinne der herrschenden Ordnung: Lächerlich. Jeder armselige Schuster bei uns ist ein größerer Philosoph, denn er weiß, was mit ihm geschehen wird. Er kann sich seine Lebenszeit genau einteilen. Er kann planen ohne Angst, er ist seiner Spanne sicher, er steht so sicher auf seinen Jahren wie auf seinen Beinen. (II, S. 182f.)

Sicherheit und Angstlosigkeit, das sind Schlüsselbegriffe in der gleichgeschalteten Sprache der Befristeten, Fixpunkte ihres Denkens.48 Immer wieder führen sie sich dankbar und geradezu wie befreit vor Augen, dass ihr Leben berechenbar ist und sie keine Angst vor Eingriffen und Veränderungen, vor Mord und Totschlag und Unglücksfällen haben müssen. Der Chor der Ungleichen ist sich gerade in diesem Punkt einig: »Seit wir den Augenblick kennen, fürchten wir nichts.« (II, S. 219)49 Selbst ein kleines Kind bekennt sich gegenüber seiner Großmutter begeistert zu seiner Befristung, zu den Vorteilen der Gegenwart im Vergleich zu der alten, rückständigen Zeit: »Ich lebe viel, viel lieber jetzt, Großmutter. Jetzt gibt es keine Riesen und keine Menschenfresser und die Leute kommen nicht immer um.« (II, S. 199) Schon im Prolog wird die Vergangenheit mit diesen märchenhaften Figuren apostrophiert, hinzu kommen dort Pygmäen, Mastodonten und Mammute; sie alle personifizieren jene Angst, die man für bezwungen hält (II, S. 182). Hinter diesen Erzählungen steckt eine aszendente Geschichtsphilosophie. Sie widerspricht Canettis eigenen Überlegungen in den Aufzeichnungen. Denn die Befristeten sind davon überzeugt, dass die Richtigkeit der (Eigen-)Namen zuerst fehlte und dann plötzlich hergestellt wurde. Das Paradies ist nicht verloren, sondern gekommen. Es ist jene Welt der Sicherheit und Ruhe, in der sie zu leben meinen, als wäre es der Garten Eden, eine Welt indessen nicht ohne den Tod. Dass diese Sicherheit wichtig, dass sie im wörtlichen Sinne fundamental ist für die Befristeten, erklärt der Kapselan seinem Gegenspieler Fünfzig: »Der Bestand und die Sicherheit unserer Gesellschaft beruhen darauf, daß jeder seinen Augenblick einhält.« (II, S. 193) Diese kollektive Überzeugung verklärt den Zwang zur Freiheit (wie bei Scherchen) und scheint ein Überbleibsel der Masse

|| 48 Vgl. dazu auch Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 214. 49 Die Angstlosigkeit der Befristeten erinnert entfernt an die Engländer, die Canetti nach eigener Aussage niemals in Angst geraten sah, selbst nicht beim Brand der City von London. Eine Ausnahme waren die Eheleute Milburn, die beim Klang der Luftschutzsirenen zu zittern begannen. Vgl. PB, S. 58f.

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zu sein, eine – wenn man so will – gemeinsame Richtung für Taten und Gedanken. Doch da sie keinen anderen Zweck hat als die Befristung ideologisch abzusichern, erinnert sie erneut eher an das Heer als an die Masse. In seinem Gespräch mit Theodor W. Adorno führt Canetti nämlich aus, dass das Heer aus Menschen bestehe, die »durch eine bestimmte Befehlsstruktur so zusammengehalten werden, daß sie eben nicht zur Masse werden.« (X, S. 158) In Die Befristeten ist es der Todesbefehl, der die Menschen zusammenhält und ihre Massenbildung verhindert. Wie Canetti im ersten Kapitel von Masse und Macht zeigt, gehören zum Gefühl der Sicherheit ganz unweigerlich Abstände, seien es Kleider, Röcke, Hosen, Häuser oder Türen oder irgendetwas anderes, was vor einem unerwarteten Griff aus dem Dunkeln, einer spontanen Berührung zu schützen vermag (III, S. 13). So ist es auch bei den Befristeten: Ihre Sicherheitsabstände sind die Kapseln, sind ihre Namen, ist schließlich die Ordnung, die beides für ebenso unantastbar erklärt wie sich selbst. So sehen sich die Menschen vor dem Zugriff eines anderen bewahrt, und das bedeutet konkret: vor der Gleichheit in der Masse, vor dem Umsturz der Hierarchie, vor Revolution. Die Abstände, die die Figuren in Canettis Drama voneinander trennen, sind zu einem sehr bedeutenden Teil auch emotionaler Art: Die Befristeten formulieren leidenschaftlich gern Urteile. Sie richten einander, im Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit, die sie in ihrem Namen ein Leben lang vor Augen haben.50 Man wird darin einen subjektiven Reflex auf das Todesurteil sehen müssen, das von allem Anfang an und mit derselben Sicherheit über sie alle verhängt ist. Indem sie über andere den Stab brechen, sie mit ihrem Urteil geradezu vernichten51, befreien sie sich – um es in Canettis Terminologie zu fassen – von dem Stachel dieses Befehls, wenn auch nur vorübergehend und punktuell. So bezeichnen sie die Menschen der alten Zeit als »Wilde« und »arme Teufel« und »Bestien« (II, S. 183); von Morden sprechen sie als »barbarischen

|| 50 Siehe dazu III, S. 351: »Das Urteil ist nur ein Urteil, wenn es mit etwas wie unheimlicher Sicherheit abgegeben wird. […] Man schiebt etwas von sich weg, in eine Gruppe des Geringeren, wobei vorausgesetzt ist, daß man selbst zu einer Gruppe des Besseren gehört.« In Party im Blitz bemerkt Canetti, der Hochmut des bekannten Sinologen Arthur Waley sei einer des Urteils gewesen. Vgl. PB, S. 110. Dazu auch IV, S. 47: »Der Engländer will zu einem Urteil kommen [...]. Das Denken für ihn ist unmittelbare Ausübung der Macht. [...] Rätselhaft sind ihm Menschen, die nichts mit ihrem Wissen bezwecken. Solche Leute, wenn sie hier nicht lächerlich werden wollen, halten ihr Licht besser verborgen.« 51 Die Tätigkeit des Kapselans, der die Einhaltung des Kontraktes bei jedem Toten festzustellen hat, wird von Fünfzig ausdrücklich als Urteil charakterisiert: »Denn in diesem Augenblick hängt alles von Ihrem Urteil ab.« (II, S. 196)

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Dummheiten« (II, S. 210), wobei »dumm« ohnehin ein Kernbegriff ihrer Sprache ist.52 Eine Frau mit einem niedrigeren Namen etwa hält Achtundachtziger für »aufgeblasen und dumm« (II, S. 191). Und schließlich: Die Befristeten diffamieren Zweifler wie Fünfzig, drängen sie an den Rand der Gesellschaft.53 Selbst »Freund« hätte sich eines abschätzigen Urteils nicht enthalten können, wäre ihm Fünfzig nicht so gut bekannt: »Wenn ich dich nicht so gut kennte, würde ich sagen, du bist zurückgeblieben, von Geburt idiotisch, ein hoffnungsloser Kretin.« (II, S. 188) Mit ihren Urteilen werden die Figuren der Befristeten zu Machthabern aneinander. Statt sich zu öffnen, wie es der Kollege versucht; statt sich mit dem Gegenüber zu identifizieren, es gar zu lieben, stoßen sie es von sich weg. Vor allem die hohen Namen gelten als arrogant und »herzlos«. Von einem Achtundachtziger weiß Frau Dreiundvierzig zu berichten, dass er sich gerne (und typisch für einen Machthaber) so fühlt, als wäre er der Einzige: Mitleid kennt er nicht, er kann niemand helfen. Seine Jahre gehören nur ihm. Er kann keine verschenken. Aber er will es auch gar nicht. Denn er wird natürlich so hart, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt. Und dafür wird er dann noch bewundert! Ich verabscheue Achtundachtziger! Ich hasse Achtundachtziger. (II, S. 192)

Im zwischenmenschlichen Verkehr wird die Starrheit der Ordnung zur Härte des Gefühls. Auch auf diese Weise, als Empathie-Barrieren, hindern Namen die Verwandlung. Im schlimmsten Fall zeigt sich die emotionale Kälte der Befristeten darin, dass man den Tod eines anderen erwartet, ihn sogar herbeisehnt.54 Ein Mann mit einem hohen Namen hat sich bereits die nächste Frau ausgesucht, noch ehe seine jetzige Frau, eine Frau mit einem mittleren Namen, verstorben ist: »Er, taktvoll und freundlich – du mußt wissen, es ist kein Unmensch –, nimmt an, daß sie stirbt.« (II, S. 214) Doch sie hat ihn belogen und lebt noch ein weiteres Jahr. In einem anderen, nur wenig schlimmeren Fall, der bereits kurz angeschnitten wurde, bleibt die junge Mutter am Grab ihres Kindes vollkommen teilnahmslos. Sie ist unfähig zu erkennen, dass ihre Kindesliebe

|| 52 Vgl. II, S. 199, 210, 211 und 212: »Die waren dumm, die Leute damals.« und »Das war eine dumme Zeit / »Es waren immer Menschen, immer auf dieselben Dummheiten aus […].« / «Es ist zu dumm!« / «dummes Vorurteil«. 53 Vgl. dazu eine Erklärung aus dem Munde des Kapselans (II, S. 195): »Denn jeder weiß, daß er ohne Kapsel nicht sein darf, und wenn sie verloren oder zerstört ist, hat er die tödliche Verpflichtung, sich zu melden. Wer das nicht tut, stellt sich außerhalb der Gesellschaft. Er will nur ohne Kapsel leben und ist ein Mörder.« 54 Vgl. Manfred Durzak: Elias Canettis Weg ins Exil. Vom Dialektstück zur philosophischen Parabel. In: Literatur und Kritik 9 (1976), H. 108, S. 455–470, hier S. 469. Die Liebes- und Kommunikationsfähigkeit der Befristeten sei, so Durzak, durch das Gesetz zerstört.

Die Namens-Hierarchie der Befristeten | 201

und ihre stoische Ruhe nicht zusammenpassen. In den Aufzeichnungen des Jahres 1951 bewertet Canetti den Kausalnexus von Befristung und sittlicher Gesinnung, er spricht von Bosheit: »Wir müssen böse sein, weil wir wissen, daß wir sterben werden. Wir wären noch böser, wenn wir von Anfang an wüßten, wann.« (IV, S. 174) Die Befristeten täuschen sich sehr, wenn sie meinen, sie lebten im Paradies, sie stehen der archaischen Vergangenheit näher als der Zukunft. Die Hölle, so mag man in Anlehnung an T.S. Eliot sagen, sind sie selbst. Canetti hat die emotionale Distanz zwischen den Figuren und die gleichzeitige Verkehrung der (jüdisch-christlichen) Moral in vielen Szenen variierend dargestellt. Dabei hat er vor allem zwei gegensätzliche Haltungen vorgeführt, deren tertium comparationis die jeweils fehlende Anteilnahme am Schicksal des Mitmenschen ist. Die erste Haltung veranschaulicht er an einem Erwachsenen, dem Kollegen jenes Mannes, der sich mit seiner Arbeit übernommen zu haben glaubt. Wann sein Gegenüber sterben wird, will dieser Kollege nicht wissen. Immer wieder weist er seinen Gesprächspartner darauf hin, dass das momentane Alter ein Geheimnis sei und bleiben solle. Seine Argumentation gibt sich den Anschein des Moralischen und muss die Leser doch erschüttern: »Ich habe zuviel Respekt vor der Persönlichkeit des Menschen, um mich in solche Sachen zu mischen. Ein Mensch ist für mich etwas Unantastbares.« (II, S. 203) Im letzten Satz kehrt die Terminologie aus Masse und Macht wieder, der Vorgang des Tastens ist vom Körperlichen allerdings ins Geistige verlegt; die Berührungsfurcht gilt dem Schicksal des Anderen, seinem Tod. Die Verkehrung der herkömmlichen Moralvorstellungen geht aber noch weiter, der Kollege, der sein Unglück allein nicht ertragen kann, muss sich als »Monstrum« beschimpfen lassen, das nur ein »Opfer« für seine Geschwätzigkeit brauche (II, S. 205). Sich dem Anderen anzuvertrauen, ihn zum Mitwisser und Mitleidenden zu machen, ist für die Befristeten ein Sakrileg. Schon möglichst früh bringt man den Kindern daher bei, was ein richtiger und was ein falscher Umgang mit dem Alter ist: »Aber das behält jeder schön für sich. Darüber spricht niemand. Das ist ein Geheimnis. Ein Kind plaudert das vielleicht aus. Aber das ist eben nur ein Kind. Ein Großer sagt so was nie. Das gehört sich nicht. Das wäre ja eine Schande!« (II, S. 200) Die funktionelle Kennzeichnung der beiden Männer als Kollegen – ein Wort, das man auch mit »Kamerad« übersetzen kann – erweist sich vor diesem Hintergrund als paradox. Denn unter den Bedingungen der Befristung kann es echte Kameradschaft nicht geben. Alle emotionalen Bindungen, die Liebe zu Frau und Kind, zu Verwandten und Freunden, sind nur scheinbar und stehen im Dienst egoistischer Motive.

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Die zweite Haltung lässt sich am besten bei einem Kind namens Siebzig studieren; im Nachlass heißt es sogar Achtzig.55 Der Name zeigt an: Es gehört zu den Privilegierten unter den Befristeten. Nicht so seine Mutter: Ihr stehen bloß zweiunddreißig Jahre zu. Das Kind ist in größter Sorge, aber nicht um die Mutter selbst, auch wenn es nicht müde wird zu beteuern: »Ich hab so Angst, Mutter.« (II, S. 185) Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass sich die Angst des Jungen aus der eigenen Unsicherheit ergibt, aus dem »Geheimnis« des wahren Alters seiner Mutter. Das Kind will, nein: es muss dieses Alter wissen, es muss wissen, wie viele Gutenachtküsse es noch bekommen wird, ehe die Mutter sterben wird. Wissen bedeutet ihm Sicherheit, und das Wissen-Wollen bestimmt, anders als beim Kollegen, sein Denken. Es ist eine Sucht. Die Mutter lässt sich schließlich erweichen, es seien Hundert Küsse, sagt sie; ihr Leben währt also etwas mehr noch als drei Monate. Bezeichnend die Reaktion des Jungen: »Mehr als hundert! Mehr als hundert! O Mutter, jetzt werde ich schlafen können…« (II, S. 186) An die Stelle der peinigenden Zweifel ist – wie der Junge mit seinen Fragen beabsichtigte – die Ruhe des Wissens getreten, nicht jedoch die gesteigerte Sorge um die todgeweihte Mutter. Um dieses Geschehen noch etwas genauer zu ergründen, lohnt es sich, erneut Masse und Macht zu konsultieren. Was in dieser Szene geschieht, ist ein Verhör: Die Maske des Namens soll gelüftet, das Geheimnis sichtbar werden. Unablässig stellt der Junge deshalb Fragen, solange bis die Mutter kapituliert. Zur Funktion der Fragen in einem Verhör erläutert Canetti: »Denn die Wirkung der Fragen auf den Fragenden ist eine Hebung des Machtgefühls; sie geben ihm Lust, noch mehr und mehr zu stellen. Der Antwortende unterwirft sich um so mehr, je häufiger er den Fragen nachgibt.« (III, S. 338) Noch kürzer formuliert Canetti diese These in einer Aufzeichnung vom 10. Juni 1944, die er sich bei der Arbeit an den Befristeten abgeschrieben hat: »Herrschsucht und Wissbegier sind heute kaum mehr zu trennen.«56 Was sich zwischen Kind und Mutter, zwischen Frau Dreiundvierzig und den hohen Männern und schließlich zwischen den Brüdern Achtundachtzig und Achtundzwanzig abspielt57, ist ein (mal mehr, mal weniger verdeckter) Machtkampf. Die Erbschuld

|| 55 ZB 34.2, Szene ohne Datum: »Junge Mutter, altes Kind« (Kurzschrift). 56 ZB 34.3, ohne Datum. 57 In den Entwürfen hat Canetti dazu eine eigene Szene geschrieben, in der die Eltern der beiden Brüder über ihre Kinder sprechen. Dem Vater geht das Benehmen Achtundachtzigs gegen den Strich: Dieser wolle seinen kleineren Bruder noch kleiner machen und benehme sich, als wäre er der Brotgeber der Familie. Seine Frau, Achtundachtzigs Mutter, ist da anderer Meinung. Sie ist stolz auf ihren Sohn und unterstellt ihrem Mann Neid und Hass, weil er einen niedrigeren Namen habe. Vgl. ZB 34, 18. November 1952.

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der Befristeten ist die Machtsucht. Ihre Welt ist die schlechteste aller Welten, eine Dystopie.

1.3 Freund und Fünfzig – Zwei Rebellen und ihre Namen »Wer wirklich wüßte, was die Menschen miteinander verbindet, wäre imstande, sie vor dem Tode zu retten. Das Rätsel des Lebens ist ein soziales Rätsel. Niemand ist ihm auf der Spur.« (IV, S. 257) In Canettis Sozial-Dystopie gibt es zwei Figuren, die diesem Rätsel auf der Spur sind. Sie stehen von Anfang an, doch auf je verschiedene Art im Abseits. Der eine ist schon durch seinen Namen als Beziehungswesen identifiziert: Er heißt »Freund«. Und tatsächlich stehen Beziehungen im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns. Anders als die übrigen Befristeten, die immer auf Distanz bleiben, anders vor allem als der Kollege, öffnet Freund sich Fünfzig, weil er ihn liebt: Er erzählt ihm sogar von seinen Gefühlen, seiner Trauer. Den Tod seiner Schwester Zwölf hat er niemals verwunden, noch immer erinnert er sich gern und voller Wehmut an sie.58 Ganz gegen die Arroganz und Herzlosigkeit der ›hohen Namen‹ hängt Freund, der Überlebende, sein Herz bis heute an die kleine Schwester, »ein bezauberndes Geschöpf« (II, S. 186). Der bleibende Kummer über diesen Verlust, das Nicht-loslassen-Können, die Weigerung, den Triumph des Überlebens zu genießen – das ist Freunds Geheimnis, nicht sein gegenwärtiges Alter, das ebenso wenig genannt wird wie seine Befristung. Dieses Geheimnis verrät er Fünfzig – und ihm allein. Er stellt die Schwester dabei weit über sich, erhebt sie – nicht einen Menschen mit einem hohen Namen, sondern eine Verstorbene – aus echter Liebe sogar zu einer Göttin: »Jeder, der in ihre Nähe kam, empfand sie als ein überirdisches Wesen.« (II, S. 187) Überhaupt ist die Schwester, deren Name nicht bloß auf ihr frühes Ende verweist, sondern zahlensymbolisch auch auf ihre (göttliche) Vollkommenheit59, die

|| 58 In seinen Aufzeichnungen vermerkt Canetti später, dass Branwell Brontë genauso wenig über den Tod seiner zwölfjährigen Schwester hinweggekommen sei wie Freund (Vgl. ZB 19, 22. August 1981). Ob Canetti von Branwells intensiver Trauer um seine Schwester bereits wusste, als er Die Befristeten schrieb, ist bei gegenwärtigem Kenntnisstand nicht zu klären. 59 Vgl. Wörterbuch der Symbolik. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. von Manfred Lurker. 5., durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart: Kröner 1991 (Kröners Taschenausgabe; 464), S. 859f. Hans Feth zeigt, dass Canetti die Szenenfolge nach zahlensymbolischen Gesichtspunkten gestaltet. Er orientiert sich an der Zahl sieben, die seit alters her als Zahl der Fülle und Vollendung gilt. In sieben exemplarischen Situationen wird die Herrschaft des Todes im Leben der Menschen dargestellt. Szene 1: Kindheit; Szene 5: Erwachsenenwerden; Szene 3: beginnende Liebe; Szene 8: Liebe; Szene 7: Pflicht und Last der Arbeit; Szene 10:

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Antipodin aller Befristeten60: »Sie stritt nie. Sie nahm nie einem Kind etwas weg. Sie hatte keine besonderen Wünsche. Sie war über alles froh, was ihr vor die Augen kam, und betrachtete es auf ihre langsame, eindringliche Art. Ich glaube jetzt, das Betrachten war ihr Glück, so wie andere lieben, sah sie sich die Dinge lange an.« (II, S. 187) Während die Befristeten ihre Augen nutzen, um über andere zu urteilen, lässt Zwölf sich schauend auf die Menschen ein. Und so hielt es einst auch Freund: »Wir waren alle verliebt in sie. Sie hatte lange Locken und wunderbare, dunkle Wimpern. Es war hinreißend, sie zu betrachten.« (II, S. 186) Dennoch zweifelt Freund nicht an der Befristung. Er hält die Kapsel für einen Beweis der Wahrheit; dass der staatlich vereidigte Kapselan lüge, kann er sich nicht vorstellen (II, S. 189f.). Mit einem Bein wenigstens bleibt er auf dem Boden der Hierarchie. Diesen Boden hat Fünfzig nie betreten. Fünfzig ist ein Rebell gegen die Autorität des Namens. Dabei ist er radikal, ein Selbstdenker, ein Aufklärer. Die vertrauten Meinungen gelten ihm nichts, nur weil sie vertraut sind, er will alles selbst erfahren und erkunden. So wird er zu einem Philosophen, der auf eigene Faust nach der Wahrheit sucht, nach rationalen Begründungen, Zusammenhängen und Beweisen für das, was er in Frage stellt. »Ich glaube es nicht.« (II, S. 186)61 – schon der zweite Satz, den Fünfzig spricht, ist der Kernsatz seines Denkens. Wo für die Befristeten alles sicher ist, ist ihm alles Zweifel. Häufig spricht er deshalb im Potentialis: Der Mensch könnte aus Angst vor seinem Geburtstag sterben, nicht aus Bestimmung, der Kapselan könnte lügen, auf diese Lüge sogar seinen Eid geschworen haben (II, S. 190). Befreit vom Wissen, vom Ballast der Vergangenheit und der Zukunft, den beiden Orientierungspunkten der Befristeten, lebt Fünfzig auf radikale Weise in der Gegenwart.62 Er, der weiß, dass er nichts weiß, ist ein lite|| Entspannung und Muße; Szene 11: Alter. Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 224ff. 60 Nicht zu Unrecht stellt Paul Fleming: Dead Men Walking. Zu Canettis Drama Die Befristeten. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 127–143, hier S. 141 fest: Zwölf ist eine »Ausnahmeerscheinung im Drama und vielleicht die wahre Heldin des Stücks«. 61 Vgl. dazu auch II, S. 216: »Ich habe nie an meinen Augenblick geglaubt.« 62 Das Temporaladverb »jetzt« taucht in Fünfzigs Rede immer wieder auf: »Aber darüber sprechen wir jetzt nicht.« (II, S. 188) »Aber sage mir jetzt: hast du schon je einen Menschen gekannt, der dir sein Alter anvertraut hat?« (II, S. 188) »So. Jetzt habt ihr viel schönere. Jetzt seid ihr aber zufrieden, was? Jetzt werdet ihr noch lange, lange leben. Das sind nämlich Glückskapseln.« (II, S. 229) »Jetzt habt ihr ja Zeit. Jetzt geht aber rasch fort, bevor jemand etwas merkt.« (II, S. 229) Nachdem Fünfzig den beiden Alten die Kapseln abgenommen hat und von Freund dafür getadelt wurde, sagt er lapidar: »Jetzt ist's geschehen.« (II, S. 230) In seinem Einführungsvortrag Proust – Kafka – Joyce nennt Canetti drei Dinge, »[…] die den menschli-

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rarischer Nachfolger des griechischen Philosophen Sokrates. Wie dieser läuft er herum und stellt den Menschen Fragen – unangenehme und »ketzerische« Fragen. Wie dieser macht er sich mit diesen Fragen unbeliebt – die Menschen fliehen buchstäblich vor ihm (II, S. 226). Und wie dieser gilt er als »Verführer« (II, S. 209). »Wenn er [der Kapselan – A.S.] jemand erlaubt, dieses Gesetz zu bezweifeln, gerät alles ins Wanken.« Es ist insofern nicht verwunderlich, dass Fünfzig vor Gericht gestellt wird wie Sokrates. Die statische Welt soll nicht erschüttert werden. Nun wissen wir aus Die gerettete Zunge, dass Canetti von seinen Mitschülern auf dem Zürcher Realgymnasium den Spitznamen Sokrates erhalten hat (VII, S. 180). In seiner Dankesrede zur Verleihung des Nelly-Sachs-Preises Sprache und Hoffnung hat er sich obendrein selbst als Rebell beschrieben. Er habe auch während des Kriegs, im englischen Exil, weiterhin auf Deutsch gedacht und geschrieben: »Es war, als nähme man sich täglich heraus, das Verbot, das man nicht anerkennen konnte, entschlossen zu überschreiten.« (X, S. 93) Diese Erfahrung, zusammen mit seiner schon früh entwickelten Tod-Feindschaft, machte die Figur Fünfzig möglich – ein weiteres Argument für den Einfluss der englischen Atmosphäre auf Die Befristeten. Auch zwei andere, bisher unbekannte Indizien weisen darauf hin, dass wir in Fünfzig das alter ego seines Schöpfers vor uns haben.63 Zum einen nennt Canetti ihn in einer unveröffentlichten Aufzeichnung vom 8. November 1951 – wie sich selbst – einen Todfeind.64 Im Stück lässt er ihn zudem ein Bekenntnis formulieren, das auch er selbst hätte sprechen können: »Mich brennt mein Name. Mich brennt jeder Name. Mich brennt der Tod.« (II, S. 197) Dieses Bekenntnis macht den Unterschied zwischen Fünfzig, dem Rebellen im Dienst aller Menschen, und Freund, der sich ausschließlich für das Schicksal seiner geliebten Schwester interessiert.65 Zum anderen identifiziert sich Canetti später – wenn auch nur hypothe-

|| chen Geist heute vor allem beschäftigen.« (X, S. 9) Erstens beschäftige ihn das Erbe, allgemeiner: die Vergangenheit, zweitens die eigene Zeit und drittens »das, was kommen wird« (X, S. 12). In den Befristeten lassen sich die Figuren diesen Zeitebenen zuordnen: Freund lebt in der Vergangenheit, in der seine Schwester noch lebendig war. Fünfzig lebt in der Gegenwart, während die übrigen Befristeten von der Zukunft besessen sind, die sie allerdings für vorherbestimmt halten. 63 Zu diesem Ergebnis kommt auch schon Barnouw: Doubting Death (wie Anm. 41), S. 21: Fünfzig sei »very much an extension of Canetti himself«. 64 Vgl. ZB 12. Schon Fleming: Dead Men Walking (wie Anm. 60), S. 136 erkennt in Fünfzig eine »Art Revenant einer früheren Figur Canettis, des Todfeinds«. 65 Vgl. II, S. 222: »Mir [d.i. Freund – A.S.] geht es um diesen einen Menschen. Es ist mir gleichgültig, was mit den andern geschieht.« Vor allem in diesem Sinne sind Fünfzig und Freund Antagonisten, wie auch Maekelbergh: Elias Canettis Dramen (wie Anm. 1), S. 43 feststellt.

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tisch – mit Fünfzig, zwei Tage vor seinem eigenen fünfzigsten Geburtstag: »Und wenn dein Name wirklich Fünfzig wäre, wenn du nächsten Montag – heut ist Samstag – sterben müsstest? Wärst du dann ein Prophet gewesen? Ein Kapselan?«66 Aber Canetti mag noch etwas anderes durch den Kopf gegangen sein, als er seiner Figur den Namen Fünfzig gab. In seiner Rede zum 50. Geburtstag Hermann Brochs hatte er sich bereits 1936 Gedanken über die Bedeutung dieses Alters gemacht. Dabei hatte er hervorgehoben, dass die Zahl Fünfzig über sich selbst hinaus weise, auf das volle Jahrhundert, das Säkulum. Von hier aus wächst dem Namen Fünfzig eine neue Bedeutung zu: In ihm kündigt sich die erhoffte Entgrenzung an, die Befreiung von der Last der Befristung. Dann jedoch heißt es in Canettis Rede: Die Zeit aber, die ihren Fünfzigjährigen feiert, kommt ihm darin auf halbem Weg entgegen. Sie streckt ihn den Späteren hin, als des Bewahrens würdig. Sie macht ihn, vielleicht gegen seinen Willen, deutlich sichtbar in der schütteren Schar der Wenigen, die mehr für sie da waren als für sich. Sie freut sich der runden Höhe, auf die sie ihn gehoben hat, und verbindet damit eine leise Hoffnung: vielleicht hat er, der nicht lügen kann, ein gelobtes Land gesehen und vielleicht spricht er noch davon, ihm würde sie glauben. (VI, S. 100)

In Die Befristeten geschieht das alles zunächst nicht. Niemand feiert Fünfzig, niemand möchte seine Gedanken bewahren, niemand freut sich und niemand hat die Hoffnung, er habe ein gelobtes Land gesehen und habe, als er die Ordnung in Zweifel zog, seinen Hörern davon im Vorgriff schon erzählt. Es geschieht das Gegenteil: Fünfzig wird verfemt. Dennoch ließe sich Fünfzig, so wie Broch, als repräsentativ für seine Zeit bezeichnen. Er ist, da er im »Jetzt« lebt, seiner Zeit verfallen, aber er stellt sich zugleich gegen seine Zeit, die Zeit der Befristung; und sein ganzes Engagement ist universal ausgerichtet. Nicht zuletzt hat auch Fünfzig, wie Broch das Atmen, seine ureigene Leidenschaft: »Es ist meine Leidenschaft, dem Augenblick zu mißtrauen.« (II, S. 216) Dieses Misstrauen bringt ihn dazu, die Kapseln zweier alter Frauen, dann auch die eigene Kapsel zu öffnen, um mit eigenen Augen festzustellen, was er lange vermutet hat: Sie sind leer. Die Wahrheit ist eine Lüge, die Namen sind nicht Offenbarungen des Schicksals, sondern Täuschung, Wahn, Betrug; der Befehl zu sterben ist des Menschen eigener Befehl. Kurzum: Es gibt keine Sicherheit, das Gesetz ist auf Sand gebaut. Jetzt erst, durch den Beweis, dass hinter der Maske des Na-

|| Dagmar Barnouw: Der Stachel des Zweifels. In: Literatur und Kritik 7 (1972), H. 65, S. 285–293, hier S. 288 bezeichnet sie als »Gegenspieler«. 66 Vgl. ZB 12a, 23. Juli 1955.

Freund und Fünfzig – Zwei Rebellen und ihre Namen | 207

mens nichts verborgen ist67, glauben die Menschen Fünfzigs Worten und feiern ihn als »Retter« (II, S. 237). Er, dem der Kapselan während des Prozesses wie einem zweiten Jesus vorgeworfen hatte, er lästere und erhebe sich gegen das Gesetz (II, S. 216), erscheint ihnen nun wirklich als Messias. Diese Kehrtwendung überrascht: Offenbar benutzt Canetti hier seine eigene Figur, um den Stab über die Namensmythologie zu brechen. Mit anderen Worten: Das Rätsel des Namens, das Canetti in so vielen Aufzeichnungen thematisierte, lohnt der Mühe nicht. Es gibt kein Schicksal, das im Namen erkennbar würde, es gibt nur die fixe Idee dieses Schicksals. Doch so weit muss man nicht gehen: Was Canetti mit Fünfzig aufs Korn nimmt, ist eine Form der Fixierung durch Namen, die dem Benannten keine Freiheit lässt, ihm gleichsam das Leben nimmt. In den Aufzeichnungen indessen hatte er eine andere Form der Namensmythologie entworfen und gezeigt, dass Namen zwar beschränken, aber auf paradoxe Art zugleich alle Möglichkeiten lassen. Trotzdem geht Canetti in einer Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen mit Fünfzig hart ins Gericht. Die Wahrheit, schreibt er, habe ihre doppelte Schwere. »Auffindung und Durchsetzen sind nur das eine Gesicht dieser Schwere, unendlich viel ernster ist das zweite Gesicht, das der Verantwortung.« (IV, S. 253) Fünfzig, so Canetti, müsse im Gegensatz zu Brechts Galilei sogar noch erleben, was er mit seiner Leidenschaft für die Wahrheit angerichtet habe. Die Folgen seiner antimythischen »Aufklärung« sind so verheerend, dass Hans Feth Fünfzig als eine »amoralische Figur ohne Glauben«68 bezeichnet hat. In der Tat vermittelt Fünfzig den Befristeten kein positives Verhältnis zum eigenen, jetzt wieder unberechenbaren Leben, sondern er ermuntert sie zur Revolution. Statt der Synthese – Freiheit, aber in Begrenzung – wollen sie nun das andere Extrem: unbeschränkte Freiheit. Aus Sokrates-Fünfzig wird, indem er die Kapseln der beiden Alten mit einem Hammer zertrümmert, geradezu ein zweiter Nietzsche: ein ›Philosoph‹ mit dem Hammer. Was er den Menschen bringt, ist das Ende der alten Wahrheit und nicht mehr69 – mit Nietzsche gesprochen: die Umwertung aller Werte.

|| 67 In einem kleinen Kommentar zum Ende des Stücks, aufbewahrt unter den Entwürfen, spricht Canetti bezeichnenderweise von einer »Entlarvung«. Siehe ZB 34, 16. November 1951 (Kurzschrift). 68 Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 244. 69 Vgl. dazu die Erklärung des Titels Götzen-Dämmerung. Wie man mit dem Hammer philosophirt in Ecce Homo: »Das, was G ö t z e auf dem Titelblatt heisst, ist ganz einfach das, was bisher Wahrheit genannt wurde. G ö t z e n - D ä m m e r u n g – auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit.« Zitiert nach Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner u.a. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 6), S. 55–161,

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Die bisherigen Verhältnisse werden in Die Befristeten einfach umgekehrt. An die Stelle der Hierarchie der Namen tritt die namenlose Masse, die »tobende Menge«, der Mob: »Eine Unmenge von Menschen, die Straßen schwarz von Menschen, plötzlich wird einer auf die Schultern gehoben und schreit gellend: ›Weg mit den Kapseln! Wir brauchen das Zeug nicht! Weg mit den Kapseln!‹« (II, S. 240)70 Doch mehr noch: Die Hierarchie wird nur anfangs durch das Gefühl der Gleichheit aller ersetzt, die kollektiv den Triumph des Überlebens genießen und sich von der eigenen Vergangenheit abgrenzen; sie wird dann allerdings, in einem zweiten, damit eng zusammenhängenden Schritt, auf den Kopf gestellt und in dieser Form erneut etabliert.71 Um es in Canettis Terminologie zu formulieren: Die Menge tobt durch die Straßen als »Umkehrungsmasse« (III, S. 388). Nach der Befreiung von der tödlichen Bedrohung, dem Befehl im Namen, versucht sie, sich ihrer ehemaligen Unterdrücker zu entledigen. Es gilt das Recht des Stärkeren, das in den Namen nur mittelbar existierte: als Mahnung an die niedrigen Namen, sich nicht mit den vorausbestimmten Siegern anzulegen. Canetti führt diese Umkehrung72 in zwei Szenen vor. Da hält zuerst der zweite junge Herr dem ersten jungen Herrn, seinem Bruder, dessen bisherige Privilegierung vor, nicht ohne im dröhnenden Jargon eines Revolutionärs hinzuzufügen: Damit werde nun endlich aufgeräumt. Was du mir getan hast? Du warst ein Gott! Bloß wegen des verdammten Namens. Warum sollst du Achtundachtzig heißen und ich Achtundzwanzig? Bist du besser als ich, bis du klüger und fleißiger? Im Gegenteil; du bist dümmer, schlechter und fauler. Aber immer hieß es: Achtundachtzig dies und Achtundachtzig das! (II, S. 238)

|| hier S. 244. Am Ende des Werks zitiert Nietzsche sein Gedicht Der Hammer redet aus Also sprach Zarathustra 3, 90. Der letzte Satz dieses Gedichtes lautet: »Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart! - -« (Ebd., S. 161) 70 Während des öffentlichen Prozesses gegen Fünfzig hatte sich schon eine Masse gebildet: »Es kamen immer mehr Leute, der Platz war bald von Menschen ganz schwarz.« (II, S. 224) In Canettis Terminologie übertragen, handelt es sich um eine Hetzmasse. Vgl. zur Hetzmasse III, S. 54–59. 71 Zu einem ähnlichen Befund kommt Antczak in ihrem Aufsatz: Die Gesellschaft des präsumptiven Todes (wie Anm. 7), S. 82: »Die darauffolgende Revolte zeigt die Befristeten als eine Gesellschaft, die unfähig ist, die totale Sicherheit aufzugeben. Die Abschaffung einer Totalität möchten sie durch die Einführung einer anderen ersetzen.« 72 Vgl. X, S. 314f.: »Dieses Mittel der Umkehrung scheint mir ganz enorm wichtig und essentiell dramatisch. […] Es gibt sehr viele Beispiele dafür in den ›Befristeten‹. Da wimmelt es von Umkehrungen. Die Szenen, sagen wir, von den beiden jungen Herren am Anfang, dann die Umkehrung später und so weiter.«

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In einer anderen Szene treffen die beiden Kollegen wieder aufeinander, und auch dabei ereignet sich eine Umkehrung: Während der Tod des ersten Kollegen zuvor anscheinend unmittelbar bevorstand, bricht nun der zweite Kollege, von seinem Opponenten massiv unter Druck gesetzt und als »Schwachkopf« beschimpft (II, S. 241), plötzlich tot zusammen. Die neue Epoche hat ihren ersten, exemplarischen Sündenfall, ihren Kain und Abel.73 Damit wird die falsche Erlösungshoffnung der Masse Lügen gestraft, ehe sie sich durchsetzen konnte: »›Jetzt wird nicht mehr gestorben! Jetzt lebt jeder, so lange er will! Freiheit! Freiheit!‹ – ›So lange ich will! Freiheit! Freiheit!‹« (II, S. 240) Doch auf die Befreiung von den täuschenden Namen und der Befristung folgt keineswegs die kollektive Entgrenzung, die Erlösung vom Tod, im Gegenteil: Er ist so mächtig wie einst, und auch die Distanzen bleiben, wie der Wechsel des Pronomens (jeder – ich) andeutet, vor allem die Abgrenzung vom Anderen im Urteil. Die neue Gesellschaft hat die Gestalt des Naturzustands angenommen im Sinne des Thomas Hobbes: »Homo homini lupus«. Der Kapselan hatte vorhergesehen, dass die Freiheit in Gewalt umschlagen74, die Erlösung vom Gesetz der Namen katastrophale Folgen haben würde: »Einer würde den andern anfallen und wir wären wieder in der alten Mördergrube.« (II, S. 224) Ebenso wie zuvor täuscht auch in dieser Welt der funktionelle Name »Kollege« über die Entfremdung zwischen den Menschen hinweg, die noch immer ihre Macht aneinander erproben. Auch Fünfzig ist von dieser Umkehrung betroffen. Er, der bis vor kurzem jeden Namen, jeden Tod am eigenen Körper als Brandmal zu spüren meinte, eilt durch die Straßen und ruft – nicht leidenschaftlich mehr, sondern wie ein Wahnsinniger: Ich will nichts von euch wissen. Ihr seid mir alle gleichgültig. Ihr seid mir gleichgültig, denn ihr seid gar nicht da. Ihr seid nicht am Leben. Ihr seid alle tot. Ich bin der einzige. Ich bin am Leben. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, darum bin ich der einzige. […] Ich sehe euch gar nicht. Ihr seid nicht einmal Schatten. Ihr seid nichts. Ich gehe nur unter euch, damit ihr es spürt, wie ich euch verachte. (II, S. 236f.)

|| 73 So schon Uwe Schweikert in seinem Gespräch mit Canetti. Vgl. X, S. 338. 74 Canetti gibt Uwe Schweikert darin recht, dass die »Ambivalenz der Freiheit« ein »zentraler Aspekt« seines Stückes sei. (X, S. 333)

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Der Todfeind wird zum Machthaber.75 Das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit zu den Befristeten, das Fünfzig vorher bereits empfand76, verselbstständigt sich und wird, einmal entgrenzt, zur Gewissheit, der Einzige auf der Welt zu sein – der einzige Lebende, wandelnd unter lauter Toten. Die Dialektik des Dramas geht dadurch erneut ins Leere, es fehlt der Ausgleich der divergierenden Positionen. Selbst eine Entwicklung findet nicht statt, die alte Zeit kehrt wieder, die Geschichte wiederholt sich. Gegen Ende fällt deshalb derselbe Satz wie am Anfang: Es ist gleichgültig, wie man heißt (II, S. 245).77 Indem Canetti sein alter ego Fünfzig scheitern lässt, macht er sich die Gefahren der eigenen Todfeindschaft bewusst: Sie darf keinesfalls zu einer Form der Macht werden, und sie muss über die bloße Ablehnung des Todes hinauskommen. In einer späten Aufzeichnung aus dem Jahre 1985 schreibt Canetti selbstkritisch: »Die Wahrheit ist, daß du noch nicht gefunden hast, was die richtige, die gültige, die Menschen nützliche Haltung wäre. Du hast es nicht weiter gebracht als dazu, nein zu sagen.« (IV, S. 524) In der bereits zitierten Abrechnung mit Fünfzig aus Die Provinz des Menschen hat Canetti hingegen zur Sprache gebracht, worauf es bei aller Leidenschaft und allem Einsatz für die Belange der Menschen ankommt. Was Fünfzig fehlt und worum sich Canetti bemühen muss, ist die Bereitschaft zur Verantwortung für das eigene Tun. Denn anders, als der Kapselan vermutet, denkt Fünfzig, der Gegenwarts-Mensch, nicht zu viel an die Zukunft, sondern zu wenig. »Das Unheil ist geschehen. Kann ich nichts mehr retten?« (II, S. 242) Auch er selbst ist verstrickt in Täuschung und Selbstbetrug. Doch diese Erkenntnis kommt zu spät. Sie kommt ebenfalls zu spät, um Freund davon abzuhalten, seine Schwester zu suchen. Da dieser nun um die kollektive, auch die eigene Täuschung weiß, glaubt er nicht mehr an ihren Tod. Sie lebe, sagt er, und habe sich irgendwo vor den Verbrechern versteckt, die sie töten wollten. Der alte Glaube an die Fixierung des Menschen durch seinen Namen wirkt so bei Freund erkennbar nach. Er ist allerdings ins Positive, ins Überzeitliche gewendet. Freund stellt sich seine Schwester als nicht gealtert vor, er meint, sie sei noch immer zwölf statt inzwi-

|| 75 So auch Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 260. Es sei in diesem Zusammenhang an einen Satz von Freund erinnert, der Fünfzig, lange bevor er zum Machthaber wird, bereits instinktiv durchschaut: »Deine Neugier ist wie ein hungriger Wolf.« (II, S. 222) 76 Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 244 weist auf diese Stelle hin: »Gibt es keine Unfälle bei euch? Wenn jemand vor dem Augenblick in einen Eisenbahnunfall gerät.« (II, S. 193 – Hervorhebung A.S.) 77 Vgl. dazu Reinhard Urbach: Der präsumptive Todestag. Bemerkungen zu Elias Canettis Die Befristeten. In: Literatur und Kritik 3 (1968), H. 26/27, S. 404–408, hier S. 407f.: Fünfzig sei ein Restaurator und kein Revolutionär.

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schen zweiundvierzig Jahre (II, S. 244f.). Während der Name zuvor das exakte Todesalter zu offenbaren schien, verheißt er jetzt ein ewiges, dem Werden und Vergehen entzogenes Leben. Das Imperfekt, das Freunds Erzählungen von der Schwester bisher dominierte78, ist darum fast vollständig aus seiner Sprache verdrängt, vor allem zugunsten des Präsens. »Wenn man nur da ist und sich sieht und zueinander spricht. Zwölf, du hörst mich, Zwölf du siehst mich, Zwölf, ich bin es, Zwölf, ich werde es immer sein.« (II, S. 245) Zweifel daran, dass alles bald und für immer so sein werde wie vor dreißig Jahren, melden sich bei Freund allenfalls sporadisch, die Richtigkeit seiner Haltung ist ihm sonst ebenso sehr gewiss wie den Befristeten das vorbestimmte Ende ihres Lebens. Die Herrschaft des Wissens ist nicht beendet, nicht der Unsicherheit gewichen, sie hat aber eine andere Form angenommen – eine wieder andere Form von Täuschung und Selbstbetrug. Freund wird wie Fünfzig zum Überzeugungstäter, seine Zurückhaltung ist zu Ende: »Vielleicht! Vielleicht! Vielleicht! Ich weiß, wovon ich rede. Für mich gibt es kein Vielleicht.« (II, S. 245) Wie soll man diesen merkwürdigen Schluss verstehen? In einem Gespräch mit Manfred Durzak hat Canetti erklärt, die letzte Szene der Befristeten stelle eine »Ursituation« dar (X, S. 310). Freund könnte von einem Wahn besessen, er könnte aber auch zum Glauben gekommen sein – zum Glauben an das niemals mehr endende Zusammensein in einer geradezu paradiesischen Ewigkeit. Es sei unmöglich, so Canetti, eine Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen zu treffen; denn der »Urkeim« – die Konfrontation mit einem konkreten Tod – werde noch nicht durch verschiedene Tröstungsmöglichkeiten verdeckt. Anders ausgedrückt: Der Mensch, repräsentiert von Freund, steht in dieser Szene ideologisch noch gleichsam nackt vor dem Tod, ohne den Schutzmantel etablierter eschatologischer Erklärungsmodelle oder gesellschaftlicher Erwartungen. Er reagiert instinktiv, indem er den Tod leugnet. Mit einer solchen »Ursituation« endet auch die Autobiografie. Dort ist es Canettis Bruder Georges, der den Tod seiner Mutter nicht anerkennt. Er redet mit ihr auch weiterhin, als ob sie lebe und ihm antworten könne:

|| 78 Als er mit Fünfzig zum ersten Mal über die Schwester spricht, verwendet Freund ausschließlich Vergangenheitstempora, vor allem das Imperfekt: »Ich hatte eine kleine Schwester, ein bezauberndes Geschöpf. Wir waren alle verliebt in sie. Sie hatte lange Locken und wunderbare, dunkle Wimpern. Es war hinreißend, sie zu betrachten, wenn sie die Augen aufschlug, sie tat das ganz langsam, und ihre Wimpern waren wie stille Flügel, die einen in die Höhe trugen, und während man leichter und leichter wurde, lag man zugleich, das war so sonderbar, im Schatten zu ihren Füßen.« (II, S. 186f.)

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Es hört sich an, als ob er leise zu ihr singen würde, nicht von sich, keine Klage, nur von ihr, nur sie hat gelitten, nur sie darf klagen, er aber tröstet sie und beschwört sie und verspricht ihr immer wieder, daß sie da ist, sie allein, mit ihm allein, niemand sonst, jeder stört sie, darum will er, daß ich ihn mit ihr allein lasse, zwei oder drei Tage, und obwohl sie begraben ist, liegt sie da, wo sie krank immer war und in Worten holt er sie und sie kann ihn nicht verlassen. (IX, S. 304)

Wie bei Freund auch hier die Negierung des Todes durch die Sprache und in der Sprache, die Rebellion als »Ursituation« des Menschen. Der Prototyp des Rebellen gegen den Tod, der Prototyp für Freund und Georges, ist der mythische Held Gilgamesch. Aus Trauer um Enkidu, seinen Freund, und in der Überzeugung, der Tod müsse nicht das Ende sein, begibt er sich auf die Suche nach dem ewigen Leben. Bei »Freund« könnte es sich um eine versteckte Reminiszenz an dieses Vorbild handeln, einen der leidenschaftlichsten Freunde der Weltliteratur. Doch ein Freund ist für Canetti noch mehr. Von Gilgamesch und Freund, der fremden und der eigenen Figur, unterscheidet er, der Todfeind, sich ganz außerordentlich: durch die Absicht seines »endlosen Aufstand[s]« (VIII, S. 52). Das »ganz konkrete und ernsthafte, das eingestandene Ziel meines Lebens«, so schreibt er in den Aufzeichnungen, sei die »Erlangung der Unsterblichkeit für die Menschen« (IV, S. 56).79 Und noch genauer heißt es in Die Fackel im Ohr: »Und wenn der Schmerz um meine Nächsten, die ich im Laufe der Zeit verlor, nicht geringer war als der des Gilgamesch um seinen Freund Enkidu, so habe ich doch eines, ein einziges vor dem Löwenmann voraus: daß es mir um das Leben jedes Menschen und nicht nur um das meiner Nächsten geht.« (VIII, S. 52) Anders als bei Freund und Georges, anders als bei Gilgamesch steht die Unsterblichkeit in Canettis Augen jedem zu, ohne Ansehen der Person, der Herkunft, des Namens. Er ist Freund und Fünfzig in einer Person.80 Erst so, in der Bedeutung || 79 Vgl. dazu Canettis Ausführungen in einem Interview mit Paul Schmid: »Sie wissen, dass bei den Primitiven die Vorstellung eines natürlichen Todes überhaupt nicht existiert. Jeder Tod, der eintrifft, ist durch irgendwelche bösen Zauber, durch irgendwelche bösen Menschen bewerkstelligt worden. Jemand ist immer schuld daran, und erst seit einigen tausend Jahren, zum Teil im Zusammenhang mit unseren grossen Universalreligionen, ist der Tod akzeptiert worden, und man hat sich mehr und mehr mit ihm abgefunden. Und ich betrachte es als die eigentliche Aufgabe meines Lebens, das rückgängig zu machen und die schändliche Wirkung des Todes, die man auf vielen, vielen Gebieten unseres Lebens feststellen kann, aufzuspüren, beim Namen zu nennen, den Tod zu konfrontieren – also nicht zu fliehen, im Gegenteil, ihn akut und direkt zu bekämpfen.« Zitiert nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 649f. 80 Die Erfahrung, wie wichtig für das Denken Konzentration und Weite zugleich sind, machte Canetti bereits in seiner Frankfurter Zeit. Von den Komödien des Aristophanes, schreibt er in Die Fackel im Ohr, habe er gelernt, dass nur das, »was die Öffentlichkeit als Ganzes betrifft«,

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Menschenfreund, gewinnt der funktionelle Name Freund seine volle inhaltliche Weite. Da »Freund« als einziger Name in den Befristeten nicht mit Betrug und Täuschung belastet ist (wie z.B. der funktionelle Name Kapselan), ist er dennoch im mythischen Sinn dem Wesen seines Trägers angemessen. Er ist aber noch nicht weit genug entfaltet. So wie Namen in den Aufzeichnungen und ganz anders als die Zahlennamen ist er keineswegs ein fait accompli, sondern eine Lebensaufgabe. Von ihrer Erfüllung hängt ab, ob und inwieweit der Name sich als richtig oder falsch erweist. Darin gleicht »Freund« nun just den Zahlennamen. Auch sie beschreiben eine Aufgabe: die Aufgabe, an einem vorherbestimmten Tag zu sterben. Die Täuschung des Befristeten endet insofern nicht schon mit Fünfzigs Entdeckung, sie endet erst mit der kollektiven Weigerung, diese Aufgabe zu erfüllen, dem Todesbefehl im Namen noch länger zu gehorchen. Der entscheidende Unterschied besteht indessen darin, dass die Zahlennamen ihre Träger lebenslang einengen, während der Name Freund – umgekehrt – das Potential zu einer inhaltlichen Erweiterung in Freiheit besitzt. So weist Canettis Drama in die gleiche Richtung wie die Aufzeichnungen: Freiheit ohne Grenzen und Grenzen ohne Freiheit – beides sind Formen der Macht, die die Menschen schuldig werden lassen. Schuldig wird am Ende aber auch Freund: indem er die Liebe zu einer Toten »eigensinnig« (II, S. 244) höher stellt als die Liebe zu den Lebenden. Darüber gerät er in einen Disput mit seinem Freund Fünfzig, den er verlassen wird, um seine Schwester zu suchen. Auch sein Name wird dadurch falsch. Mit dem Zusammenhang von Macht und Name, Wahrheit und Täuschung, Wesen und Maske, der die Konzeption und Ausführung der Befristeten bestimmt, hat sich Canetti bereits zwei Jahrzehnte zuvor beschäftigt: in seinem ersten Drama Hochzeit. Beide Stücke enden, getreu der (nach Canetti) »eigentliche[n] Absicht des Dichters« (X, S. 136), mit einer Erschütterung. Dem Aufbrechen der Kapseln entspricht in Hochzeit das Erdbeben. Während in Die Befristeten aber das je eigene Wesen der Figuren hinter den täuschenden Zahlennamen im Dunklen bleibt, besteht in Hochzeit zwischen den täuschenden Namen und dem Wesen des Benannten ein Zusammenhang. Canettis erstes und letztes Drama liefern so zusammen ein Beispiel für die Kontinuität und Verwandlungsfähigkeit seines Denkens.

|| auf dem Theater darzustellen sei. Von Gilgamesch habe er hingegen gelernt, auf das »Schicksal des einzelnen, von allen anderen abgesonderten Menschen« zu schauen (VIII, S. 56).

2 Hochzeit 2.1 Paradoxe Namen Toni, ein lustiges Mädchen, »blondgezopft, blauäugig, mit zärtlichen, etwas vollen Bewegungen« besucht seine Großmutter, eine »freundlich gebückte, weißhaarige Frau« mit Namen Gilz (II, S. 9). Das Bühnenbild zeigt eine gemütliche Wohnung, mit Butzenscheiben und einem altdeutschen Tisch. Alles deutet auf ein herzliches, vielleicht auch amüsantes, einer Komödie angemessenes Gespräch zwischen Großmutter und Enkelin hin. Doch es kommt anders. Zwischen beiden entspinnt sich ein Kampf, in dem es um den Besitz der Großmutter geht: das Haus, in dem Canettis Drama Hochzeit spielt. Bereits in der Szenenanweisung konterkariert Canetti den angenehmen Eindruck. »Ein Papagei faucht« – so heißt es vor dem Auftritt des Mädchens, als wolle das Tier den Gast vertreiben. Und dann Toni: Sie wirkt kindlich, aber sie ist auch schon eine Frau und keineswegs so naiv und unschuldig, wie sie mit ihren niedlichen Zöpfen zuerst erscheinen mag. Ihr Äußeres ist Blendwerk, eine Maske, hinter der sich ein Geheimnis verbirgt wie hinter den Zahlennamen der Befristeten. Einen Teil dieses Geheimnisses verrät Toni selbst, ohne es allerdings zu merken: Sie ist soeben von einem betrunkenen Mann auf der Treppe des Hauses belästigt worden. Der habe sie küssen wollen, sagt sie und suggeriert, sie habe sich das nicht gefallen lassen. Doch das Gegenteil ist richtig. Sie hat sich küssen lassen; aber: »Dem sein Mund hat nach Wein geschmeckt. I bin eh gleich furtglaufn.« (II, S. 9) Auf die anschließende Nachfrage der Großmutter, ob sie sich also doch einen Kuss habe geben lassen, antwortet Toni nicht mehr. Sie lenkt ab, um sich nicht erklären zu müssen. Was hier geschieht: die Umkehrung des ersten Eindrucks, die »Selbstanprangerung« einer Figur, wie Canetti es zu nennen pflegte1, die Entlarvung ihres Wesens hinter der Maske – all das wird im ersten Bild und im gesamten Stück thematisch die zentrale Rolle spielen. Dass Toni eine ambivalente Figur ist, enthüllt ein Name, der sich allerdings nur in den Entwürfen erhalten hat: Canetti nennt das Mädchen hier an einer

|| 1 Vgl. IX, S. 20: »Am ›Wozzeck‹ erlebte ich etwas, wofür ich erst später einen Namen fand, als ich es Selbstanprangerung nannte. Die Figuren, die einem (außer der Hauptfigur) den größten Eindruck machen, stellen sich selber vor.« »Niemand hat ihnen ihre Stimme geliehen, sie sagen sich und schlagen mit sich auf ein und denselben los, eben auf Wozzeck, und entstehen, indem sie auf ihn schlagen. Er dient ihnen allen, er ist ihr Zentrum. […] Sie können nicht anders sein, als sie sind, es ist das Wesen der Selbstanprangerung, daß sie diesen Eindruck vermittelt.« (IX, S. 21)

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Stelle die »blonde Lukretia der Hausbesitzerin oben«2. Der Name, als Appellativ verwendet, und der folgende Genitiv weisen auf zwei mögliche Vorbilder hin, die beide blond gewesen sein sollen wie sie.3 Zum einen erinnert er an die keusche Lucretia. Sie wurde von Sextus, einem Sohn des Tarquinius Superbus, vergewaltigt – eine legendäre Geschichte aus der römischen Frühzeit, die Canetti sicher von Livius her kannte. Toni als Nachfolgerin der römischen Lucretia, das wäre – nicht nur angesichts des ersten Bildes – eine Ironie, eine weitere täuschende Maske: Das Mädchen ist der Antitypus eines sittsamen Fräuleins – eine Dirne, die sich den Männern an den Hals wirft. Genau das geschieht später: Toni hockt sich – keinesfalls widerwillig, sondern gerne – auf den Schoß eben jenes Schürzenjägers, der sie auf der Treppe belästigt hatte (II, S. 52). Zum anderen aber erinnert der Name an Lucrezia Borgia, die berüchtigte Tochter des noch berüchtigteren Papstes Alexander VI. Im kollektiven Gedächtnis ist sie das Gegenteil einer Tugendheldin. Schon zu ihren Lebzeiten hieß es, sie habe eine Vorliebe für Sexorgien, sei eine Sünderin und Mörderin. Obendrein war sie die Schwester eines brutalen Machthabers – Cesare Borgia, dem Machiavelli seine Apologie der Macht Il principe gewidmet hatte. Aus einer merkwürdigen Szene in Das Augenspiel wissen wir, dass auch Canetti die Borgia-Fürstin mit Mord in Verbindung brachte. Einige Zeit nach der Vollendung der Hochzeit hatte er auf der »Hohen Warte« Gelegenheit, zuerst die Partitur der unvollendeten Zehnten Symphonie Gustav Mahlers zu betrachten und anschließend ein Gemälde Oskar Kokoschkas. Der Künstler hatte darauf Alma Mahler, die Geliebte, als Lucrezia Borgia dargestellt (wie die Porträtierte meinte). In seiner Lebensgeschichte schreibt Canetti zu diesem Bild: »Ich hatte es [das Bild – A.S.] gleich bemerkt, es ließ mich vom Augenblick des Eintretens an nicht los, es hatte etwas mörderisch Gefährliches und in der Bestürzung über die aufgeschlagene Partitur verwirrte sich mein Blick und das Bild erschien als das Porträt der Mörderin des Komponisten.« (IX, S. 53) Die Deutung des Gemäldes – Alma als Lucrezia Borgia – mag Canetti damals wie ein Eingeständnis der Tat durch den Mörder vorgekommen sein. Der Genitiv in der oben zitierten Formulierung ist insofern als genitivus obiectivus zu verstehen: Toni, die »Lukretia der Hausbesitzerin«, möchte ihrer Großmutter an den Kragen. Sie ist noch gefährlicher, als man bis hierhin hätte vermuten dürfen: ein Machtmensch, der sein Gegenüber zu töten versucht und

|| 2 ZB 33.1a, ohne Datum (Hervorhebung im Original). 3 Während Lucrezia Borgias Haarfarbe aus den Quellen bekannt ist, verschweigen die antiken Autoren die Haarfarbe der keuschen Lucretia. Auf den Gemälden »Der Selbstmord der Lukretia« (1930) von Lucas Cranach d. Älteren und »Dame als Lucretia« (1535) von Lorenzo Lotto hat Lucretia allerdings blonde Haare.

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seine Absicht verbirgt. Der Name Lukretia enthält beides: Täuschung und Wahrheit, Wesen und Maske. Eine Maske mit einem »gefährlichen Gehalt« (III, S. 445) ist auch das Diminutiv Toni. Wie heimtückisch das Mädchen bei seinem Besuch agiert, zeigt sich an ihren ersten Worten: »Großmutterle! Großmutterle!« (II, S. 9) Dem Anschein nach ist das eine liebevolle Anrede, ein Kosename, der auf ein herzliches Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelin schließen lässt, vergleichbar dem Märchen vom Rotkäppchen. Tatsächlich handelt es sich jedoch um einen perfiden Bemächtigungsversuch. Im Kapitel über den Besuch auf der »Hohen Warte« erzählt Canetti von einer solchen Bemächtigung: Es ist dort Alma Mahler, die ihre Tochter Anna demütigt, indem sie einen Kosenamen verwendet: »›Annerl hat mir erzählt‹, sagte sie gleich und verkleinerte damit ihre Tochter vom ersten Wort an, keinen Augenblick ließ sie einen darüber im Zweifel, wer hier, wer überhaupt das wichtige war.« (IX, S. 52) Vor diesem Hintergrund ist es plausibel anzunehmen, dass das Diminutiv Toni insgeheim dazu dient, die in Familie und Gesellschaft über ihr stehende Großmutter zu degradieren, sie mindestens auf die eigene Größe zu reduzieren.4 Wozu aber das Ganze? Im ersten Bild kommt immer klarer heraus, dass Toni vor ihrer Großmutter eine Rolle spielt; dass sie sich verstellt, um es mit einem Begriff aus Masse und Macht zu sagen (III, S. 438–441). Sie ist keine »kleine süße Dirne« wie Rotkäppchen5, sie gleicht eher dem Wolf, der die kranke Großmutter täuscht, um seine Gier zu befriedigen. Bei Toni ist es die Gier nach Geld, die sie zur Verstellung treibt. Sie will verhindern, dass ihre Schwester Resl das Haus bekommt, denn sie will es für sich selbst. Zu diesem Zweck diffamiert sie Resl bei der Großmutter: Im Unterschied zu ihr komme die doch niemals zu Besuch.6 Man dürfe auch nicht vergessen, dass die Schwester bereits einen Mann habe, während sie

|| 4 Hochzeit ist vor der Begegnung mit Alma Mahler entstanden. Wie die Analyse der Blendung zeigen wird (S. 502–504), war Canetti auf den Zusammenhang von Degradierung und Diminutiv aber schon vorher gekommen. Das mag seine Aufmerksamkeit für den Gebrauch von Diminutiven geschärft haben. 5 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (wie Kapitel A4, Anm. 33), S. 133. 6 Resl lässt sich vom Namen Therese ableiten, den man u.a. mit »die Schützerin« übersetzen könnte. Vgl. Lutz Mackensen: Das große Buch der Vornamen. Herkunft/Ableitungen und Verbreitung, Koseformen, berühmte Namensträger, Gedenk- und Namenstage, verklungene Vornamen. Ungekürzte Ausgabe, Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein 1988 (Ullstein-Buch; 34425, Ullstein-Sachbuch), S. 340. Ihrem Namen wird Resl allerdings nicht gerecht. Sie schützt ihre Großmutter nicht vor Tonis Attacken, ganz im Gegenteil: Sie lässt sich niemals blicken, da sie meint, das Haus bekomme sie nur, wenn sie die alte Gilz nicht zu beschwatzen versuche (II, S. 34).

Paradoxe Namen | 217

selbst unverheiratet, gemeint ist: finanziell bedürftig sei (II, S. 12). Aber mehr noch: Toni will das Haus nicht als Geschenk, sondern als Erbe; ihre Nachbarn bezeichnen sie darum als Erbschleicherin (II, S. 15). In der Tat sehnt sie den Tod der Großmutter herbei und träumt von der Erbschaft als ihrer Beute.7 Dieser Wunsch macht sie nach Canettis Theorie zu einer Machthaberin. Wie alle Menschen ihres Schlages spekuliert sie auf den Tod eines anderen Menschen und das eigene Überleben. Nur aus Heuchelei erkundigt sie sich, die neben der gebückten Frau wie das blühende Leben wirkt, nach dem momentanen Gesundheitszustand, nicht ohne daran zu erinnern, gleichsam wie an ein Versprechen, dass sich die Großmutter gestern noch »sterbensübel« gefühlt habe: »Du machst es nimmer lang hast gsagt. Keine Luft kriegst alleweil net und das böse Herz.« (II, S. 10) Über die Versicherung der Großmutter, ihr gehe es besser, kann sich Toni deshalb wenig freuen; sie behauptet vielmehr, sich selbst immer weiter entlarvend, die Großmutter lüge. Nicht einmal aufstehen könne sie, geschweige denn umhergehen. Als selbst dieser Angriff ohne Folgen bleibt, lenkt Toni das Gespräch auf »die deinige Hausbesorgerin unten«, die seit Wochen im Sterben liege. Sie projiziert die Großmutter nun auf die Hausbesorgerin und sich selbst auf deren Mann, der »[…] betet und schreit, so verzweifelt ist dir der Mensch.« (II, S. 10) Verzweifelt ist auch Toni: weil die Großmutter noch lebt. Sie ist eine moderne Lucrezia Borgia. Wieso aber nennt Canetti sie dann nicht nach ihrem Vorbild? Zur Beantwortung dieser Frage trägt der endgültige Name maßgeblich bei. Seine Deutung erfordert allerdings einen kleinen Umweg. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Brutalität hinter der kindlichen Fassade, die Herzlosigkeit, mit der Toni auf den Tod spekuliert, an ihrem Umgang mit Tieren deutlich zeigt. Katzen etwa kann sie nicht leiden, weil diese, wie man im Volksmund sagt, sieben Leben haben (II, S. 9). Auch darin zeigt sich ihre Fixierung auf das Überleben. Gerade deshalb ist für sie umgekehrt von Bedeutung, dass die Katze der Gilz bereits ziemlich alt ist – eine weitere Projektion der Großmutter, diesmal auf ein Tier. Dahinter steht der Wunsch, dass beide endlich sterben. Auch den Papagei der Großmutter – er trägt den typischen Papageiennamen Lori – kann Toni nicht ausstehen und beschimpft ihn als »Rabenvieh« (II, S. 10). Als der Pa-

|| 7 Vgl. dazu III, S. 292f.: »Alles, was der Vater hinterläßt, stärkt den Sohn. Die Erbschaft ist seine Beute. Er kann damit alles anders tun, als der Vater es getan hätte. War dieser sparsam, so kann der Sohn ein Verschwender, war er klug, so kann der Sohn kopflos sein. Es ist wie ein neues Gesetz, dessen Gültigkeit nun erklärt wird. Der Bruch ist gewaltig, er ist irreparabel. Durch Überleben ist er zustande gekommen; es ist die persönlichste und intimste Form davon.« Vgl. auch X, S. 273 (»den Tod anderer in Rechnung stellen«) und 342.

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pagei immer lauter »Haus. Haus. Haus.« krächzt, fährt Toni, ihre Tarnung endgültig vergessend, aus der Haut und kündigt an, dass sie den Vogel nach dem Tod der Großmutter erwürgen werde (II, S. 12). Einerseits will sie Lori auf diese Weise für alle Zeit ruhig stellen, im Bewusstsein, dass der »tepperte[] Papagei« ihre Rede durch Nachahmung auf die Essenz reduziert: die Gier nach dem Haus.8 Andererseits lässt sie für einen Augenblick die Maske der fürsorglichen Enkelin fallen und verrät, wenn auch nur implizit, was sie ihrer Großmutter am liebsten antäte, sollte diese sich weiterhin ans Leben klammern. Wie der Machthaber degradiert auch sie den Menschen zum Tier, mit dem Ziel der endgültigen Vernichtung (vgl. III, S. 430). Kein Wunder, dass der Papagei vor ihrem Auftritt zu fauchen beginnt: Es steht alles auf dem Spiel, sein eigenes und das Leben seiner Herrin. Im Hinblick auf den Namen hat Tonis Tierfeindschaft indes einen komischen Effekt: Antonius der Große ist der Patron der Haustiere. Tonis Name erweist sich somit als spezielle Form des redenden Namens. Es handelt sich – im Sinne Fontanes – um einen Namen im »Widerspiele«9, einen paradoxen Namen, der das Wesen des Benannten konterkariert. In Tonis Fall ist die Paradoxie des Namens sogar gesteigert durch das dem Beinamen »der Große« kontrastierende Diminutiv. Canetti hatte sich einige Jahre zuvor mit einer berühmten Episode aus der Legende des Heiligen intensiv beschäftigt. Sie findet sich dargestellt auf dem Isenheimer Altar des Matthias Grünewald, den Canetti in Colmar stundenlang und aus wechselnden Perspektiven betrachtet hatte. Einige Reproduktionen dieses Altars hingen später, als er Die Blendung schrieb, an den Wänden seines

|| 8 In Masse und Macht zählt Canetti die Papageien mit den Affen zu den nachahmenden Tieren. Allerdings täusche die Nachahmung eine Charakterisierung des Nachgeahmten nur vor: »Eine Person mag an bestimmten Formeln zu erkennen sein, die sie häufig gebraucht, und ein Papagei, der sie nachahmt, mag äußerlich an die Person gemahnen. Aber diese Formeln müssen gar nicht die für die Person charakteristischen sein.« (III, S. 438) In Hochzeit verhält es sich anders: Hier bringt der Papagei die Wahrheit hinter Tonis Verstellung ans Licht. Dramaturgisch ist das eine Bestätigung und Ergänzung ihrer Selbstanprangerung. Das Wort »Haus«, das der Papagei krächzt, ist für Josef Donnenberg: Elias Canettis Drama Hochzeit (1932) – Probleme der Analyse und Interpretation. In: Weiss und Beutner (Hg.): Literatur und Sprache im Österreich der Zwischenkriegszeit (wie Einleitung, Anm. 17), S. 87–109, hier S. 90 »Schlüsselwort und Leitmotiv des Stücks«. Der dreifache Haus-Ruf des Papageis sei ein »akustisches Requisit mit Leitmotivfunktion« (Ebd., S. 96). 9 Theodor Fontane: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. 2. Auflage, München: Hanser 1974 (Werke, Schriften und Briefe; Abteilung I, 4), S. 314 (Frau Jenny Treibel). Vgl. dazu Demetz: Zur Rhetorik Fontanes (wie Kapitel B1, Anm. 26), S. 194. Zur komischen Wirkung von Namen vgl. etwa Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 90: Diese Wirkung beruhe, so Lamping, vor allem auf Widersprüchen und Oppositionen.

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Arbeitszimmers in der Hagenberggasse. Vor allem die Kreuzigungsszene im Zentrum des Triptychons hatte ihn fasziniert, am meisten der leidende Christus und die Figur des Johannes. Auf dem rechten, inneren Flügel des Altars hatte sich Canetti ein kaum weniger grauenvoller Anblick geboten: die Versuchung des heiligen Antonius.10 Da wird der Heilige bedrängt von etlichen Dämonen in Gestalt schauriger Fabelwesen. Sie reißen an ihm von allen Seiten, ein Dämon beißt ihn in die Hand, ein anderer zieht an seinen Haaren. Antonius selbst schreit mit schmerzverzerrtem Gesicht, er scheint fürchterlich zu leiden. Wie die Betrachter (wenn sie es aus der Legende nicht ohnehin schon wussten) aus dem Lichtschein am oberen Bildrand erschließen konnten, ließ sich Antonius von den Mächten des Bösen dennoch nicht bezwingen; er blieb so standhaft wie Jesus gegenüber dem Teufel in der Wüste. Vor dem göttlichen Schein mussten die Dämonen schließlich weichen. Selbst der Satan, der Antonius die Kraft und Weisheit Gottes versprochen hatte, konnte ihn nicht gewinnen. Wie die Legenda Aurea erzählt, sah sich Antonius auch mit sexuellen und materiellen Verlockungen konfrontiert – mit der Aussicht auf ein Leben im Luxus: Einst ging Antonius in eine andere Wüste, da sah er eine silberne Schüssel am Wege liegen. Da gedachte er bei sich selbst ›Wie mag die silberne Schüssel hierher kommen, da keines Menschen Spur ist? Wäre sie einem wegfährtigen Menschen entfallen, er wäre sein wol inne worden, so groß ist sie; o du böser Geist, das ist deine List, aber meinen Willen sollst du nimmer beugen‹. Da verschwand die Schüssel als ein Rauch. Danach fand er einen großen Klumpen reinen Goldes, das floh er, als ob es Feuer wäre. Und floh auf einen Berg, da wohnte er zwanzig Jahr und tat unzählige Wunder und Zeichen.11

Während Antonius dem betörenden Glanz der silbernen und goldenen Schüsseln zu widerstehen vermag, ist Toni dem Materiellen verfallen. Sogar die »deinige Hausbesorgerin« zählt sie, wie sich dem Possessivpronomen ablesen lässt, zum Eigentum der Großmutter, die sie aber nicht mehr als Herrin des Hauses akzeptiert. Deshalb gebärdet sie selbst sich wie die Besitzerin und lässt sich sogar die Miete auszahlen (II, S. 51) – in ihrer Vorstellung wohl ein Vorgriff auf das Erbe. Nicht von ungefähr wird Toni später, als mit dem Haus ihr Traum in sich zusammenbricht, wie eine Wahnsinnige schreien: »Mein Haus! Mein

|| 10 Canetti erwähnt das Bild in seinem Gespräch mit Gerald Stieg, ohne allerdings auf seinen Eindruck genauer einzugehen. Er erklärt bloß, dass er Grünewald für eine Art Vorläufer der Surrealisten halte. Vgl. X, S. 329. Auch in Masse und Macht (III, S. 431) wird das Bild im Kapitel über das Delirium tremens kurz erwähnt. In Die Fackel im Ohr schließlich vergleicht Canetti seine Berliner Erlebnisse mit den Teufeln Grünewalds, »[…] dessen Altar ich in allen Einzelheiten an den Wänden meines Zimmers hängen hatte.« (VIII, S. 295) 11 Vgl. Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 95.

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Haus!« (II, S. 59) Auch die Wahl eines Ehepartners ist von dieser Gier bestimmt; Toni glaubt, den passenden Mann in einem 79jährigen Arzt gefunden zu haben: eben jenem Betrunkenen, der ihr im ersten Bild zu nahe getreten war: »Einen alten reichen Mann hab ich mir schon lang gewünscht.« (II, S. 52) Die Begründung ihres Wunsches ist demaskierend: »An Junger, das dauert mir zlang. Was glaubens', ob der no lang lebt?« (II, S. 52) An dieser Stelle zeigt sich abermals die ›unheilige Allianz‹ von Besitzdenken und Überlebenswunsch in Tonis Denken. Um ihre Gier zu befriedigen, muss jemand sterben. Die Sehnsucht nach dem »Triumphgefühl« des Überlebenden, bekannt aus Die Befristeten, wird durch die Aussicht auf eine beachtliche Geldsumme sogar noch gesteigert. Schärfer könnte Toni sich nicht abheben von Antonius, ihrem Namenspatron. Er verkaufte sein Gut, teilte den Erlös unter den Armen auf und lebte fortan als Einsiedler12 – ein Rückzug aus der Welt, zu dem Toni sich nie entschließen könnte. Und nicht zu vergessen: Im Gegensatz zu dem keuschen Asketen gibt sie der sexuellen Versuchung bei der erstbesten Gelegenheit nach, und zwar keineswegs zufällig auf einer Treppe, einem traditionellen Symbol für den Aufstieg zum Heil13. Auch symbolisch erweist sich Toni als Perversion des Heiligen. Von einer Erfüllung ihres Namens im mythischen Sinn ist sie weit entfernt. Dieser Widerspruch zwischen Name und Wesen muss Canetti derart wichtig gewesen sein, dass er das Mädchen Toni und nicht Lukretia nannte. Denn kaum jemand hätte wohl an die tugendhafte Römerin gedacht, die Assoziation mit Lucrezia Borgia hätte sich zu sehr aufgedrängt, und der täuschende Namen hätte seinen Effekt verloren. Der sich allmählich verschärfende Kontrast zwischen Szenenanweisung und anschließendem Dialog verdeutlicht, dass es Canetti um diesen Effekt ging: Er wollte seine Leser überraschen. Sie sollten sich getäuscht fühlen, als stünden sie selber auf der Bühne. Am Anfang der Hochzeit kommt es nur deshalb zu einem Machtkampf, weil sich die Großmutter das Heft nicht so leicht aus der Hand nehmen lässt, wie es Toni gerne hätte. Ihre freundlich gebückte Haltung ist ebenfalls eine Maske. Sie verschleiert das Innere, den Charakter, das Geheimnis. Dieses Geheimnis besteht darin, dass sich die Gilz selbst als Machthaberin versteht. Wie eine absolutistische Monarchin, eine zweite Maria Theresia, beansprucht sie die Herrschaft in ihrem Hause, ihrer Welt. Schon auf Tonis ersten Bemächtigungsversuch, die Anrede mit einem Diminutiv, reagiert sie, indem sie die Verhältnisse sofort zurechtrückt: »Bist du es, Kind?« »Aber, aber, Kind!« (II, S. 9) Die anschließenden Vorhaltungen der Enkelin, sie täusche sich, wenn sie meine, sie könne noch || 12 Vgl. ebd., S. 94. 13 Vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B1, Anm. 59), S. 431.

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aufstehen, sie berechne ihr Lebensalter falsch und höre irrtümlich einen Donner, weist sie dreimal auf die gleiche Art zurück, wobei sie das Haus – wie Toni – absichtlich mit einem Possessivpronomen versieht: »In mein Haus kann i redn wiar i wüll.« »In mein Haus kann i rechnen, wiar i wüll.« »In mein Haus kann i hern was i wüll.« (II, S. 10f.) Toni, die sich, ihrer Leidenschaft gemäß, für das Lebensalter der Menschen nicht weniger interessiert als die Befristeten, hat indessen ganz richtig gerechnet: Zwischen 75, dem Alter der Hausbesorgerin, und 73, dem Alter der Großmutter, liegen natürlich nicht zwölf, sondern nur zwei Jahre. Die barsche Antwort der Gilz bringt umso besser zum Vorschein, dass sie sich in ihrem Haus von niemandem die Regeln diktieren lassen will. Sie grenzt sich ab wie ein Machthaber, missachtet selbst die Regeln der Rechenkunst zugunsten der Deutungshoheit ihres Ich, das die Richtigkeit einer Rechnung oder Sinneswahrnehmung autoritär beglaubigt. Wenn die Großmutter dieses »Ich« in ihren Redeformeln dauernd zu einem »i« verkürzt, so ist das keinesfalls eine Geste der Demut, sondern die höchste Konzentration ihres Machtanspruchs: Nur sie selbst zählt; gleich zweimal enthält jeder ihrer drei Sätze das zentrale Wort ihres Denkens: »i«.14 Wie die Alten bei den Naturvölkern, auf die Canetti in Masse und Macht verweist (III, S. 293), fordert sie die Macht für sich allein. Was aber bedeutet der Name Gilz? Lässt sich über ihn Ähnliches sagen wie über Toni? Da Gilz zu den eher seltenen Namen gehört, ist das nicht leicht herauszufinden und mag zunächst etwas spekulativ erscheinen. Doch die Mühe lohnt sich. Im Oberdeutschen bezeichnet man mit »gelze« (im Westerwald und im Rheinischen auch »gilz«) ein zu Mastzwecken verschnittenes Mutterschwein.15 Es lässt sich nicht eruieren, woher Canetti dieses Wort kannte, aber zumindest ein Indiz spricht dafür, dass er es kannte. Im Mittelalter stellten die Künstler Antonius den Großen häufig mit einem Schwein dar, das seine Versuchungen symbolisiert. Zudem gab es bei den Bauern den Brauch, den Klöstern des Antoniterordens Ferkel zu schenken. Die Mönche zogen diese Ferkel auf und schlachteten sie meist am Antoniustag, dem 17. Januar; das Fleisch erhielten die Armen.16 Wie es scheint, spielt Canetti im ersten Bild auf diese Tradition an. Doch so wenig wie Toni ein zweiter heiliger Antonius ist, so wenig ist die

|| 14 Toni ahmt die Großmutter nach, indem auch sie das Pronomen verkürzt. Vgl. dazu etwa II, S. 9: »Ja, i bins, I bin so glaufn.« 15 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 4. Bandes 1. Abtheilung. 2. Theil. Bearbeitet von Rudolf Hildebrand und Hermann Wunderlich. Leipzig: Hirzel 1897, Sp. 3119ff. 16 Vgl. Peter Gemeinhardt: Antonius. Der erste Mönch. Leben, Lehre, Legende. München: Beck 2013, S. 156.

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Gilz ein Schwein. Zwar möchte Toni, die sich für bedürftig hält, die Gilz behandelt sehen wie ein gemästetes Schwein, das endlich geschlachtet werden muss.17 Aber sie unterschätzt die Großmutter, deren Verstellung sie nicht durchschaut. Darin ist sie nicht die einzige. Auch andere Figuren täuschen sich, nennen sie despektierlich nur die »alte« Gilz. Das Adjektiv ist ein Todesurteil, es besagt: Die Zeit zum Sterben ist gekommen. In Hochzeit taucht es immer wieder auf, vornehmlich in einer Verbindung mit Tiernamen – eine zusätzliche Bestätigung der hier vorgeschlagenen Namensdeutung: der alte Bock (II, S. 36 und 51), die alte Sau (II, S. 38 und 39), der alte Esel (II, S. 42). Nach Masse und Macht gehört diese Herabwürdigung des Menschen zum Tier zu den zentralen Strategien des Machthabers: »Wer über Menschen herrschen will, sucht sie zu erniedrigen; ihren Widerstand und ihre Rechte ihnen abzulisten, bis sie ohnmächtig vor ihm sind wie Tiere.« (III, S. 245f.) Ihres »großen Anfall[s]« vor vier Wochen (II, S. 15) zum Trotz ist die Großmutter aber mitnichten ihrer Kraft beraubt; sie ist keine Gilz, ihr Name ist paradox. Und sie hat auch keine Ähnlichkeit mit Rotkäppchens Großmutter, die vor lauter Liebe gar nicht wusste, »[…] was sie alles dem Kinde geben sollte.«18 Die Macht der Gilz enthüllt sich in einer Geste, die Toni nicht mehr mitbekommt. Auch sie hat mit einem Tier zu tun. Die Großmutter steckt dem Papagei am Ende des ersten Bildes ihren Finger in den Schnabel, ohne dass dieser sie beißt (II, S. 12). Wie später zu erfahren ist, hat sie ihn seit Jahren darauf abgerichtet, bei diesem Zeichen dreimal »Haus« zu krächzen (II, S. 33). Canetti demonstriert an dieser Stelle die Wirkungsweise eines Befehls. Der Papagei gehorcht dem Willen seines Dompteurs, hier der Großmutter; nicht von ungefähr heißt es später, sie habe ihn »gut erzogen« (II, S. 33). Damit nicht genug: Die Großmutter nennt das Tier je nach Belieben anders, mal Lore und mal Lorle (II, S. 11) – auch das ein (mythischer) Ausdruck ihrer Macht. Bei der ersten Dressur

|| 17 In Masse und Macht schreibt Canetti über den Vorgang der Bemächtigung: »Als Tiere verwendet er [der Mensch] sie [die Bemächtigten – A.S.]; wenn er es ihnen nicht sagt, in sich hat er immer Klarheit darüber, wie wenig sie ihm bedeuten; seinen Vertrauten gegenüber wird er sie als Schafe oder Vieh bezeichnen.« (III, S. 246) Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Toni die Großmutter in die Katze hineinprojiziert, um sich ihrer zu bemächtigen. Für die hier vorgestellte Namensdeutung spricht nicht zuletzt, dass in Die Blendung der Hausbesorger auf den Mord an seiner Nachbarin wartet, die ihren Mann in seinen Augen nicht gut genug umsorgt. Diese Frau, die wie die Gilz sterben soll, heißt Pilz (I, S. 417). Der Pilz mag hier auf den Giftmord hindeuten, mit dem auch Therese, zumindest in ihrem privaten Traum, den eigenen Mann beseitigen will. Kien wiederum spekuliert auf die Bibliothek des alten Silzinger, die zum Verkauf ausgeschrieben ist (I, S. 144). 18 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (wie Kapitel A4, Anm. 33), S. 133.

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verrät die Gilz außerdem, wie sehr sie am Leben hängt, wie konsequent sie – darin jedem Machthaber gleich – den Tod aus ihrem Denken verdrängt: »I leb alleweil no.« (II, S. 12) Sie wird diesen Satz in dem Moment wiederholen, in dem das Haus in sich zusammenstürzt. Noch immer, selbst in Anbetracht des sicheren Todes, negiert die Gilz die Realität wie eine nach ihren Maßstäben falsche Rechnung: Sie wenigstens, soviel ist ihr gewiss, werde die Katastrophe überleben. Doch dem ist nicht so: Auch sie stirbt, ihrem abgebrochenen Satz »I leb alleweil no. I le—« folgt nur mehr Stöhnen (II, S. 70). Die Naturgewalt setzt ihrer Macht eine Schranke. Die bisherigen Deutungen zeigen, dass paradoxe Namen für Canettis erstes Drama von eminenter Bedeutung sind. Die Namen Toni und Gilz helfen dabei zu verstehen, wie sich die Figuren in ihrem Kampf um die Macht verstellen und wie sie sich gegenseitig verkennen. In einem anderen Fall ist diese Paradoxie ein Bestandteil des Namens selbst. Schon das zweite Bild führt den Zuschauern den nächsten Machtkampf vor. Da betritt ein Mann die Bühne, »ziemlich groß«, die Statur eines Machthabers, der seinen Oberkörper nicht besonders gut nach vorne beugen kann (II, S. 12). Von Beruf ist er Gymnasialprofessor, und mit seiner Frau redet er wie mit einer begriffsstutzigen Schülerin (II, S. 12) – in einem Ton, der seine ganze Überheblichkeit bezeugt: »Denk einmal nach! Strenge dein kleines Hirn ein wenig an!« (II, S. 14) Sein neugeborenes Kind dagegen hält er für das Ebenbild seiner selbst, als wäre er Gott und das Kind sein Geschöpf. Das ist mehr als nur eine Verleugnung der nicht zu verleugnenden Tatsache, dass das Kind seiner Frau ähnlich sieht, es führt auch zu absurden Aussagen, zu unfreiwilliger Komik: »Wenn ich ihn sehe, denke ich an mich, wie ich war, vor dreißig Jahren.« (II, S. 13) Dieses Kind nun möchte der Professor, stellvertretend für sich selbst, mit Kapital versorgen, es zum Erben des Hauses einsetzen lassen. Auch er, der die eigene Gier auf das namenlose Kind, seine Projektionsfläche, überträgt und ihr so einen selbstlosen Anstrich verleiht,19 rechnet mit dem Tod der Hausbesitzerin. Sogar den baldigen Tod seiner Frau hält er für möglich, nur gegen den Gedanken an seinen eigenen Tod wehrt er sich – so sehr wie die alte Gilz und jeder Machthaber, was die adverbiale Einschränkung im folgenden Satz belegt: »Ich kann strenggenommen auch sterben.« (II, S. 13) Mit dem ersten Bild ist diese Szene eng verknüpft durch das Geschrei des Papageis, der am Ende wieder sein »Haus. Haus. Haus.« zu schreien beginnt. In der Tat geht es auch hier ums Geschäft mit dem Tod. Wie der Szenenanweisung zu

|| 19 Vgl. dazu III, S. 261: »Aber auch wo Kinder vorhanden sind, spürt man oft, wie sie zum bloßen Aushängeschild der nacktesten Selbstsucht dienen. ›Für seine Kinder‹ spart man und läßt andere hungern. In Wirklichkeit hat man aber dadurch alles, solange man lebt, für sich.«

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entnehmen ist, flüstert der Professor mit seiner Frau »geschäftig« (II, S. 12); dabei sei das Geschäft, meint er, seine Sache nicht, für das »Wohl meines Kindes« zwinge er sich allerdings gegen seine »Natur« zu handeln (II, S. 14). Worin besteht diese Natur? Angesichts seines Berufs ist zu vermuten: in einer intellektuellen und nicht in einer praktischen Begabung. Doch: Der Professor heißt Thut. Die schon angedeutete Spannung zwischen den beiden Teilen dieses Namens, eines antithetischen Namens, wirft die Frage auf, ob Professor Thut eher Gelehrter oder Geschäftsmann ist, eher Geist- oder Tatmensch? Oder ist er beides zugleich? Seine Frau Leni – er selbst nennt sie Magdalena (II, S. 32) – weiß es. Während sie ihrem Mann anfangs in allem recht gibt, verändert sich ihr Verhalten im Laufe der Szene, und schließlich entlarvt sie Thuts Pläne als bloßes Lippenbekenntnis. Seit einem Monat, sagt sie, behaupte er jeden Abend, er wolle mit der alten Gilz über das Erbe sprechen, aber den Mut dazu habe er nie gefunden (II, S. 16). Dem verblüfften Thut legt Canetti daraufhin eine Frage in den Mund, die zu einem ironischen Spiel mit dem Namen wird: »Und warum tue ich es seit einem Monat nicht?« (II, S. 16) Lenis Antwort kommt erst zögerlich und gerät dann zu einer Generalabrechnung mit ihrem Mann: Du wirst gehen? Ja, bis sie tot ist, wirst du gehen, bis sie tot ist, jeden Augenblick kann sie sterben. Du hast kein Herz. Dein Kind soll wohl ein schäbiger Beamter werden wie du, ein Mittelschulprofessor und dreißig Jahre auf dem Katheder sitzen. Jetzt wo wir doch einmal das Glück haben! Ach warum hab ich dich geheiratet? Warum hab ich dich nur geheiratet. (II, S. 16f.)

Professor Thuts Rechtfertigung – der Mensch habe eben einen freien Willen – kann nicht kaschieren, dass er das Gegenteil eines Tatmenschen ist: ein Großsprecher, der gern (auch im ökonomischen Sinn) handeln möchte, aber im entscheidenden Augenblick vor der eigenen Courage zurückschreckt. Ein Gelehrter ist er aber ebenfalls nicht, es bleibt sogar im Dunkeln, welche Fächer er am Gymnasium unterrichtet. Was dagegen feststeht: Thut missbraucht die Lehre vom freien Willen für seine Zwecke, er benutzt Wissenschaft zur Tarnung seiner Unfähigkeit. Seine berufliche Tätigkeit schlägt sich nicht in der Art seines Denkens nieder, sondern nur in Äußerlichkeiten: in albernen Kategorisierungen (Römisch Eins, Römisch Zwei; II, S. 14) und gespreizten Füllwörtern (»strenggenommen«, »vollinhaltlich«), den Arabesken seiner Sprache.20 Beide Namensbestandteile bezeichnen Rollen, die Thut sich angeeignet hat, ohne sie zu erfül-

|| 20 Zu Thuts Sprache vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 75 und Silvia Serena Tschopp: Schreckliche Erkenntnis. Wirkungsästhetik in Elias Canettis Drama Hochzeit. In: Sprachkunst 29 (1998), H. 1, S. 43–60, hier S. 51.

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len.21 Seine Frau hat das begriffen, sie lässt sich nicht täuschen: Er ist ein kleiner Beamter, der Angst hat vor der Gilz (II, S. 16). Aber auch ihr Name ist paradox. Wie eine spätere Bemerkung Dr. Bocks zeigt, soll man ihn auf Maria Magdalena beziehen. Von ihrer Namensvorgängerin habe Leni freilich, so Bock, nicht einmal das schöne Haar geerbt; es sei insofern nicht verwunderlich, dass sie nur von einem Professor geheiratet worden sei (II, S. 32). In seiner Schwäche für junge Frauen übersieht Bock indes, worin der eigentliche Kontrast zwischen dem Namen und dem Charakter seiner Trägerin besteht. Wieder geht es dabei um Macht und wieder um einen Diminutivnamen. Obwohl Thut seine Frau mit Magdalena anspricht statt mit Leni, stuft er sie mit seinen arroganten Erklärungen herab. Mit der vollen Anrede verschleiert er seine Missachtung und täuscht eine Gleichrangigkeit vor, die nicht existiert. Im Hinblick auf die Machtverhältnisse wirkt Leni so zunächst tatsächlich wie eine zweite Maria Magdalena. Seit Gregor dem Großen wird diese traditionell mit jener Sünderin identifiziert, die Jesus weinend die Füße geküsst, sie mit ihrem Haar getrocknet und gesalbt haben soll (Lk 7,37f.). Doch Leni ist keineswegs devot. Schon zu Beginn des Dialogs deutet sich das kurz an, als sie ihren Mann, den gestandenen Lehrer, auf Kindesmaß zurechtstutzt, ganz so wie zuvor die Großmutter bei Toni: Sie nennt ihn »[m]ein kleiner Schelm« (II, S. 12). Mit ihrem Ausbruch ereignet sich dann erneut eine Umkehrung: Der scheinbar Ohnmächtige übernimmt die Zügel und erweist sich als der Mächtigere. In einer nachgelassenen Notiz beschreibt Canetti selbst den Antagonismus zwischen den beiden Thuts: Die Frau sei so ehrgeizig, sagt er, wie ihr Mann ehrgeizlos.22 Eben dieses Ehrgeizes wegen spekuliert auch Leni, als Machthaberin, auf den scheinbar bevorstehenden Tod der Gilz. Die Projektionsfläche ihres Wunsches ist geradeso wie bei ihrem Mann das eigene Kind. Dahinter steckt abermals nur Gier. Für diese »Sünde« zu büßen wie eine Maria Magdalena – dazu ist Leni aber nicht bereit; ihr fehlen Einsicht und Wille. Denn auch sie handelt nicht, sie möchte ihren Mann vielmehr zum Handeln bewegen und selbst im Hintergrund bleiben. Am Ende des Dramas zeigt sich, dass auch sie ihrem Nachnamen nicht gewachsen ist. Das Haus erbebt und beginnt einzustürzen, doch niemand kümmert sich um den hilflosen Säugling.23 Die beiden Thuts werfen sich gegen|| 21 In Bezug auf den Namen Thut kommt Stefan Strucken in seiner Dissertation: Masse und Macht im fiktionalen Werk von Elias Canetti. Essen: Klartext 2007 (Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft; 3), S. 231f. zu demselben Ergebnis. 22 Vgl. ZB 33.1a, ohne Datum. 23 Vgl. dazu X, S. 314. Canetti spricht im Zusammenhang mit dieser und ähnlichen Szenen von »Umkehrung«. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 77 weist darauf hin, dass die Thuts im Untergang nicht mehr zwischen Haus und Kind unterscheiden. Das Erdbe-

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seitig Befehle zu, noch immer in ihrem Machtkampf begriffen, ohne dass einer die Initiative ergreift.24 Symbolisch fällt das Kind derjenigen, die es in ihrem Ehrgeiz nach oben bringen wollte, zuletzt durch ein Loch im Boden tief nach unten. Wie Hans Feth überzeugend dargelegt hat, sind Umkehrungen, insbesondere die Umkehrung des Raumes im finalen Erdbeben, ein zentrales strukturelles Element von Canettis erstem Drama Hochzeit.25 Diese dialektische Anlage spiegelt sich in der Namengebung. Was im Großen den Aufbau der Szenen und – nicht zuletzt – den Grundeinfall bestimmt, macht sich auch im Kleinen bemerkbar: bei den Namen. Sie erweisen sich als trügerisch, antithetisch und paradox. Doch die Funktion der Namengebung lässt sich noch umfassender erhellen, und zwar mit Hilfe eines Begriffs, den Canetti im Zusammenhang mit seiner Theorie der Maske entwickelt hat. Es ist der Begriff »Entwandlung«. Im gleichnamigen Kapitel von Masse und Macht ist zu lesen: Der Machthaber, der sich seiner feindlichen inneren Gesinnung bewußt ist, kann nicht alle durch Verstellung täuschen. Es gibt andere, die auf Macht aus sind wie er selbst, die ihn nicht anerkennen und sich als seine Rivalen fühlen. Vor diesen ist er immer auf der Hut, sie können ihm gefährlich werden. Er wartet auf den richtigen Augenblick, um ihnen die ›Maske vom Gesicht zu reißen‹. Dahinter wird dann ihre wahre Gesinnung sichtbar, die er so gut von sich selber kennt. Hat er sie entlarvt, so kann er sie unschädlich machen. Er mag sie, falls es zu seinen Zwecken stimmt, fürs erste Mal am Leben lassen. Aber er wird darauf achten, daß ihnen keine neue Verstellung gelingt, und sie in ihrer wahren Gestalt genau im Auge behalten. (III, S. 447)

Das wirkt wie ein Kommentar zum Gespräch zwischen den beiden Thuts. Leni entwandelt ihren Mann, den sie von Anfang an durchschaut. Auch sein Name ist eine Maske.26 Anders als bei Toni und der Gilz dient diese Maske aber nicht der Verstellung, sondern sie zeigt die innere Gestimmtheit, die fixe Idee des Maskierten, das Wahnbild, mit dem er sich über seine Möglichkeiten und

|| ben, die »Umkehrung des Raumes«, bringe insofern ihre wahren Ansichten ans Licht. Vgl. dazu auch Lenis verräterischen Satz: »Das Kind stürzt zusammen.« (II, S. 63) 24 In anderem Zusammenhang weist Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 203f. darauf hin, dass sowohl bei Thut als auch bei Peter Hell Fragen wechselseitiger Verständigung durch Imperative der Verantwortung des Kommunikationspartners übertragen werden. 25 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 83. 26 Im Drama trägt Pepi, die zurückgebliebene Tochter des Hausbesorgers, eine starre Maske, die zeigt, dass ihr trotz aller Stöße – bei Canetti regen Stöße Verwandlungen an – die Verwandlungsbereitschaft fehlt. »Sie stößt an alle Gegenstände, auch an das Bett und an den Stuhl ihres Vaters. Sie verändert trotzdem keine Miene; ihr Gesicht bleibt zum Lachen verzogen.« (II, S. 23)

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Fähigkeiten, seine Beschränkungen und Ängste hinwegtäuscht. Beide Male also gibt es eine Diskrepanz zwischen Sein und Schein. Doch während sich im einen Fall die Figur hinter der Maske ihrer Andersartigkeit bewusst bleibt, kann sich die Figur im anderen Fall gar nicht vorstellen, dass sie anders, sogar konträr sei. Das trifft auch auf Leni zu: So sicher sie ihren Mann durchschaut, so schlecht ist ihre Selbsteinschätzung. Daher weist ihre Selbstanprangerung über die Bühne hinaus. Nicht der eigene Mann, der Leser, der sich durch die redenden Namen nicht weniger getäuscht sieht als die Figuren im Stück selbst, hat sie zu entlarven. Er bekommt, wie es sich Canetti für jedes Drama vorstellte, »einen Stoß in die etwas fremde Welt«, die er sich dann anhand des weiteren Geschehens vertraut machen kann (X, S. 308). Dieser Stoß ereignet sich im Vorspiel, wo der Leser seine eigenen Vorstellungen gleich revidieren muss. Sobald er aber die Figuren des Vorspiels kenne, so Canetti im Gespräch mit Hans Heinz Holz, sei er »sozusagen schon im Haus wirklich drin, und zwar auf eine eindringlichere Weise, als wenn es bloß räumlich durch Möbel angegeben wäre.« (X, S. 222) Für die weitere Untersuchung ergibt sich daraus eine Leitfrage. Es ist jeweils zu klären, ob es sich um einen Namen handelt, der eine Verstellung oder eine fixe Idee anzeigt. Von hier aus ist dann weiter zu fragen: Ergibt sich die Verstellung aus den fixen Ideen der anderen? Oder umgekehrt: Fällt eine Figur gerade wegen ihrer eigenen Wahnvorstellungen auf die Verstellung eines anderen herein? Worauf man dabei besonders zu achten hat, das sind – kaum noch überraschend – die Diminutive. Grundsätzlich können sie auf beides hinweisen: sowohl auf eine Verstellung als auch auf die fixe Idee eines Machthabers, der die Welt verkleinert, um sich größer zu fühlen. Welche Möglichkeit in Frage kommt, bedarf einer eingehenden Prüfung; sie ist die Leistung des Rezipienten. Dazu ein weiteres Beispiel: In einer späteren Szene trägt eine Geschäftsfrau, die sich vor ihrem Geschäftspartner nicht groß machen möchte, zugleich aber auf steigende Grundstückspreise spekuliert, erneut einen paradoxen Diminutivnamen: Sie heißt Gretchen.27 Man wird hier zunächst an ein Mädchen denken und wahrscheinlich an Gretchen aus Goethes Faust, eine schüchterne Jungfrau. Gretchens Geschäftsfreund hingegen ist kein Faust, sondern ein Mann ohne Courage, der sich nach allen Regeln der Kunst einwickeln lässt. Und dennoch heißt er Max. Sein Name, der sich vom lateinischen »maximus« ableitet, verschleiert die Tatsache, dass er Gretchen unterlegen ist. Bereits in der Szenenanweisung heißt

|| 27 Der Name könnte allerdings auch auf Gretchens Besitzgier hinweisen. Denn Margarethe, ein persisches Wort, bedeutet Perle. Vgl. Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Anm. 6), S. 297.

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es: »Sie gibt nicht nach.« (II, S. 20) Einmal mehr behauptet sich eine Frau mit einem Diminutivnamen gegenüber einem Mann, ja mehr noch: Gretchen bestimmt, sich geschickt verstellend, die Richtung des Gesprächs. Sie ist eine noch radikalere Version Leni Thuts und eine Verführerin. Den zögernden Max will sie sogar dazu bringen, die Gilz gleichsam zu zerquetschen (II, S. 21) – ein Verb, mit dem Canetti in Masse und Macht einen Vorgang bezeichnet, bei dem der Mensch »etwas sehr Kleines, das kaum zählt, ein Insekt« tötet (III, S. 239). Voller Raffinesse zwingt Gretchen Max schließlich dazu, ihr auf ganz andere Art zu gehorchen. Trotz fehlender Lust soll er mit ihr ins Bett steigen und sich einfach vorstellen, es sei schon vorüber. »Dann vergißt du deine Angst. Du bist doch ein Mann.« (II, S. 23) Gretchen weist Max damit provokant die Rolle des Akteurs zu – und hat Erfolg. Max befiehlt ihr, was sie will, als wäre es sein eigener Wunsch: »Zieh dich aus!« (II, S. 23) Dabei wähnt er, die Situation befinde sich unter seiner Kontrolle. Doch er täuscht sich: über sich selbst und über Gretchen. Dieser Gebrauch des Diminutivnamens ist neu, wie ein Vergleich mit Jean Paul zeigen mag. Auch er bringt wiederholt Diminutivnamen zum Einsatz, wobei er süddeutsche Formen bevorzugt wie Böpple, Fautle, Oechsle, Schmelzle, Worble, Falterle. Sie sollen ihre Träger, so Eduard Berend, harmlos und gemütlich erscheinen lassen.28 Doch anders als bei Canetti entpuppen sich Jean Pauls Figuren keinesfalls als das Gegenteil ihres Namens: Sie sind, was diese Namen verheißen: harmlos und gemütlich. Sie wollen nicht an die Macht, sie sehen auch nicht auf andere herab, wollen erst recht nicht ihren Tod. Kurzum: Hinter Jean Pauls Namen steht im Gegensatz zu Canetti keine Theorie der Macht.

2.2 Namenmasken Die Machtkämpfe zwischen den Figuren, während derer sich die Namen als paradox erweisen, drehten sich bis zu diesem Punkt alle um das Haus.29 In grotesker Verzerrung spiegelt sich darin eine charakteristische Vorstellung der Epoche:30 Das Haus, so Dagmar Barnouw zu Canettis Hochzeit, sei die »deut-

|| 28 Vgl. Berend: Die Namengebung bei Jean Paul (wie Einleitung, Anm. 108), S. 839. 29 Dem gemeinsamen Wahn der Figuren entspricht die Struktur des Dramas: »Mein Gedanke war der, ein Haus aufzubauen aus den Szenen des Stückes.« (X, S. 221) 30 Vgl. Allan Janik und Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Merkel. München, Wien: Hanser 1984, S. 52: Stabilität nahm im Wien der letzten 25 oder 30 Jahre Österreichs-Ungarns einen »hohen Rang in der Liste der Tugenden« ein. »Die konkrete Verkörperung dieser Vorstellungen war das eigene Haus des Mannes, das in dieser Zeit wirklich noch sein Schloss war. In diesem Mikrokosmos des monarchischen Staates war

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lichste Konkretisierung bürgerlichen Sicherungsbestrebens, das zum Wahn verhärtete Objekt«31. In Hochzeit fehlt nun gerade diese Sicherheit, selbst die Namen täuschen. Allenfalls existiert wie in Die Befristeten die Illusion eines festen Bodens, eines Schicksals. Auch die familiären Beziehungen – die Beziehungen zwischen Großmutter und Enkelin, zwischen Eheleuten – sind keineswegs solide: Sie stehen unter dem Diktat einer rücksichtslosen Ökonomie. Nicht zuletzt aus diesem Grund konkretisieren sich die Sehnsüchte der Figuren in einem Haus; denn »Haus« heißt griechisch »oikos«. Im Gespräch zwischen Gretchen und Max verknüpft sich die Gier nach dem Haus indes mit einem Thema, das für das Stück nicht minder bedeutsam ist. Mit Tonis Auftritt ist es bereits angeschnitten worden; die Rede ist von der Sexualität. Auch sie lässt sich – pervertiert – auf ökonomische Art gestalten. Das zeigt ein bizarres Detail: Der Sargfabrikant Rosig zählt seinen täglichen Beitrag zum Eheleben zusammen: all die morgendlichen Küsse und Klapse auf den Hintern seiner Frau, die er als Liebesbeweise für ausreichend hält (II, S. 39). Genauer erforschen lässt sich der Zusammenhang von Ökonomie und Sexualität wieder anhand einiger Frauenfiguren. Sie treten erstmals bei der Hochzeitsfeier auf. Gemeint sind Johanna, die Brautmutter, Christa, die Braut, und Mariechen, ihre vierzehnjährige Schwester. Sie alle tragen biblische Namen und verhalten sich doch völlig anders als ihre »Paten« Johannes, Christus und Maria. Wer aber ist der Getäuschte: die anderen oder sie selbst? Johanna ist in ihrer Sexualität geradezu raubtierhaft. Das Bedürfnis nach Männern möchte sie unentwegt befriedigen, so sehr wie Toni und Thut die Gier nach dem Haus. Dabei kennt auch sie keine Tabus, vor allem keine Treue gegenüber ihrem Ehemann, mit dem sie seit 27 Jahren verheiratet ist. Von Umkehr und Buße, wie sie Johannes am Jordan gefordert hatte, fehlt bei ihr jede Spur. Sogar an ihren frischgebackenen Schwiegersohn Michel macht sie sich heran; denn mit seinen »Wuschelaugen« und seinem »treuherzigen Haar« hat sie ihn »zum Fressen gern« (II, S. 26 und 29). Diese Wortwahl, eine wiederkehrende Phrase in ihrer Sprache, die nach Freud an die orale Phase der Libidoorganisation erinnert32, erschließt auf überraschend präzise Weise Johannas Charakter. Zum einen erinnert sie an den Wolf aus dem Rotkäppchen-Märchen, das in

|| der Familienvater Garant für Ordnung und Sicherheit und besaß als solcher absolute Autorität.« 31 Barnouw: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 136), S. 31. 32 Vgl. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Ders.: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion (wie Kapitel A4, Anm. 48), S. 61–134, hier S. 98.

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seiner ursprünglichen französischen Fassung ebenfalls sexuell konnotiert ist.33 Und zum anderen begreift Canetti das Fressen in Masse und Macht als einen Akt der Macht, der Einverleibung des Erjagten und Ergriffenen: »Alles, was gegessen wird, ist Gegenstand der Macht.« (III, S. 257) In diesem Zusammenhang kommt Canetti auch auf die Rolle der Mutter zu sprechen, in deren Herrschaft über das Kind er die intensivste Form der Macht erkannt zu haben meint (III, S. 261). Die Bemächtigung beginne unmittelbar nach der Geburt: mit der Ernährung des Kindes durch die Mutter: Die Macht der Mutter über das Kind, in seinen frühen Stadien, ist absolut, nicht nur weil sein Leben von ihr abhängig ist, sondern weil sie auch selber den stärksten Drang verspürt, diese Macht unaufhörlich auszuüben. Die Konzentration dieser Herrschaftsgelüste auf ein so kleines Gebilde gibt ihr ein Gefühl von Übermacht, das sich schwerlich durch ein anderes normales Verhältnis unter Menschen überbieten lässt. (III, S. 260)

In zweierlei Hinsicht, so Canetti weiter, setze die Mutter ihrem Kind auch später Grenzen (im Sinn von Schranken). Erstens zwinge sie es dazu, nach ihren Vorstellungen gleichsam wie eine Pflanze heranzuwachsen; zweitens kontrolliere sie seine Bewegungen wie bei einem in Gefangenschaft gehaltenen Tier (III, S. 260). Das Kind bringe die Mutter damit in den Genuss zweier Hoheitsrechte, die gemeinsam auszuüben den Menschen sonst verwehrt sei. Bei Johanna haben sich die Machtgelüste in all den Jahren allerdings verselbstständigt und ausgeweitet: zu einem Anspruch auf generelle Herrschaft über die Menschen, besonders die Männer. Nicht von ungefähr sagt sie zu ihrem Schwiegersohn, dem Objekt ihrer obsessiven Lust: »Ich bin die Herrin im Haus. Hast du das schon gewußt? Mein kleiner Kater, ganz wuschelige Augen macht er und die treuherzigen Haar!« (II, S. 30) In ihrem Besitzanspruch ähnelt Johanna der jungen Toni. Nicht zufällig sieht sie in Michel einen Kater. So erniedrigt auch sie einen Menschen – einen gesichtslosen Niemand mit dem paradoxen Diminutivnamen des mächtigen Erzengels und Ritters, der einen Drachen tötete.34 – zum

|| 33 Vgl. etwa Christine Shojaei Kawan: Art. Rotkäppchen. In: Brednich u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens (wie Kapitel A4, Anm. 33) Bd. 11, Sp. 854–868, hier Sp. 856. In dieser sexuellen Konnotation taucht der Satz auch in Die Blendung auf. Der Möbelverkäufer Grob glaubt, alle Frauen hätten ihn zum Fressen gern (I, S. 105). Grob vertuscht mit diesem Satz, dass eigentlich er es ist, der sich der Frauen bemächtigen will. 34 Christa urteilt sehr negativ über ihren eigenen Mann: »Mein Michel ist überhaupt niemand.« (II, S. 38) Wie wir aus dem Nachlass wissen, sollte Michel als Nebenfigur ursprünglich sogar namenlos bleiben. Vgl. ZB 33.1a, ohne Datum. Der Name ist aber noch auf eine andere Weise paradox. Johanna findet Michel, den sie benutzt, »noch gescheiter wie mein Mann« (II, S. 27). Bei dieser ironischen Wendung muss man an den »Deutschen Michel« denken, dem Schwerfällig-

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Tier, nicht anders als Toni die Großmutter zur Katze.35 Zugleich aber ähnelt Johanna der Großmutter selbst, die ihre Macht immerhin an einem Tier zu üben pflegt. Johannas Tiere – das sind ihre Kinder, vor allem ihre Töchter, und ihr neues Kind Michel, der sie bezeichnenderweise demütig »Mutter« nennt (II, S. 29). Doch im Gegensatz zur Gilz ist Johanna eine sadistische Machthaberin. Mariechen, ihre eigene Tochter, beobachtet von einem Versteck aus, dass sie Michel an den Haaren zieht (II, S. 45). Diese Brutalität – sie erinnert an die Dämonen, die Antonius quälen – ist kein Ausnahmefall, wie Mariechen zu berichten weiß: »Sie tut allen Leuten weh, nur Papa nicht. Den läßt sie in Ruhe, weil sie ihn nicht leiden kann.« (II, S. 46) So freilich passt der Name Johanna erst recht nicht zu ihr. Es ist der Name eines jüdischen Propheten und christlichen Heiligen in weiblicher Form. Und es ist ein Name, der mit seiner Bedeutung »Gott ist gnädig« einen Charakterzug hervorhebt, der Johanna offenkundig fehlt.36 Auch sie trägt einen Namen im Widerspiel, die Maske einer tugendhaften Ehefrau, zu der sich Johanna hauptsächlich vor ihrem Mann stilisiert. Dass die drei Kinder von ihm gezeugt worden seien, will sie sogar beeiden, doch sie lügt. Sie hat ihn vor Jahren betrogen und tut es jetzt wieder. Eine Maske trägt auch Mariechen, Johannas vierzehnjährige Tochter. Trotz ihres kindlichen Diminutivnamens37 darf man sie genauso wenig unterschätzen wie Toni. Auch sie möchte, darin das Verhalten ihrer Mutter nachahmend38, den schüchternen Michel an den Haaren ziehen und ihn küssen (II, S. 45f.). Dahinter steht wie bei Johanna der zwanghafte Wunsch, eben jenen Menschen zu besitzen, der von diesem Tag an ganz der Schwester zugehören soll. Das Küssen, die intimste Form, einem anderen Menschen seine Zuneigung zu bekunden, ist in Hochzeit zu einem Mittel der Bemächtigung geworden. Von Direktor Schön lässt sich Mariechen zudem seit Jahren mit »Zuckerln, Puppen, Schokolade« beste|| keit, Schlafmützigkeit und Dummheit zugeschrieben wird. So meint etwa die schwäbische Redewendung »jemanden fürs Michele halten«: ihn für dumm und tolpatschig ansehen. Vgl. dazu Lutz Röhrig: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde. Bd. 2. Freiburg, Basel und Wien: Herder 1992, S. 1028ff. 35 Auch andere Figuren des Dramas behandeln ihr Gegenüber auf diese Weise, und zwar vor allem, indem sie ihm denselben Befehl erteilen wie einem Tier: »Kusch!« (II, S. 44, 49 und 70) 36 Im Nachlass beschreibt Canetti Johanna als »fett, zerlassen, dumm, gut!« Siehe ZB 33.1a, ohne Datum. Vor allem die körperliche Fülle ist für Canetti ein Kennzeichen des Machthabers. In Masse und Macht weist er auf die Figur des Meistessers hin. »Es gibt Gruppen von Menschen, die in einem solchen Meistesser ihren Häuptling sehen.« (III, S. 257) 37 Marie ist bei Canetti ein typischer Dienstbotenname. Näheres dazu im Kapitel über Komödie der Eitelkeit (S. 353). Mit diesem Namen ist die jüngste Tochter des Hauses deutlich abgewertet. 38 Vgl. zur Terminologie III, S. 437: »Nachahmung ist etwas Äußerliches, sie setzt etwas voraus, das man vor Augen hat, dessen Bewegungen man kopiert.«

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chen; sie soll den Vater nicht über die amourösen Eskapaden seiner Frau und seiner ältesten Tochter informieren (II, S. 47). Später behauptet Schön sogar, er habe auch mit Mariechen verkehrt (II, S. 69). Man kann diese Behauptung mit guten Gründen anzweifeln, Schön möchte Mariechens Vater provozieren, aber man wird kaum übersehen können, dass Mariechen sich nicht von Gleichaltrigen angezogen fühlt, sondern von dem etwas älteren Michel und sogar von dem ältesten Hochzeitsgast Dr. Bock, der es anfangs auf Toni abgesehen hatte. Für ihren Vater ist Mariechens sexuelle Frühreife ein Geheimnis, er behandelt sie noch immer wie ein Kind, nimmt sie in den Arm, tätschelt und verwöhnt sie, nennt sie »Mäuschen« (II, S. 48). Einem der Hochzeitsgäste jedoch, er heißt Horch, ist Mariechens andere Natur nicht verborgen geblieben, wie eine doppeldeutige Anspielung belegt: »Wer soll zu Bett und will nicht allein? Marie!« (II, S. 57) Vor ihm hat Mariechen zuvor die Maske fallen lassen und sich ganz anders gegeben: »Wenn Sie mich noch einmal duzen, kriegen Sie eine Ohrfeige!« (II, S. 47) Mariechen behauptet sich hier mit »plötzlich veränderter Stimme« wie eine Erwachsene, sie weiß genau, was sie will: den Mann ihrer Schwester und obendrein den alten Bock. Sie ist in allem das Gegenteil der Jungfrau Maria, bereits in jungen Jahren eine femme fatale. Das Sexualverhalten Christas, der Braut, unterscheidet sich nicht im Geringsten von Mariechen und Johanna. Das mütterliche Vorbild bestimmt auch sie. Christa ist triebhaft, ein Vamp, und sie betrügt Michel, an dem sie keinen Gefallen findet, schon vor der Hochzeit und sogar während der Feier selbst. Zugleich trifft sie die Arrangements für künftige Seitensprünge (II, S. 32). Dabei möchte sie die Zahl ihrer Liebhaber nach Möglichkeit vermehren wie ein Vermögen, eine Masse. In Nachahmung ihrer Mutter strebt sie danach, mehr als nur einen Mann zu besitzen: »Zu wenig Männer haben wir heut da.« (II, S. 38) Und an anderer Stelle: »Ich hab dich [Bock – A.S.] noch lieber als den Schön. Am liebsten möcht ich den Horch dazu, aber der ist so schwer.« (II, S. 32) »Schwer« meint in diesem Zusammenhang, dass Horch sich wohl kaum wird verführen lassen, jedenfalls nicht so leicht, weil er an Frauen nicht interessiert scheint. Trotz ihrer promiskuitiven Neigung hat sich Christa für die monogamische Ehe entschieden, allerdings aus Berechnung: Sie möchte dem Haus entkommen, und das bedeutet: dem Machtbereich der Eltern, vor allem der Mutter.39 Mit der Heirat, Christas Form von Verstellung, ist dieser Wunsch so gut wie erfüllt. Sie wird ausziehen, in eine eigene Wohnung. Anders als Mariechen hat Christa das Stadium der bloßen Nachahmung verlassen und jene nächste Stufe || 39 Vgl. II, S. 31. Siehe auch Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 92f.

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erreicht, die sich aus der Nachahmung eines Machthabers naturgemäß ergibt: den Kampf. Ihre Hochzeit macht diesen Kampf möglich. Zum ersten Mal steht Christa ihrer Mutter nun von gleich zu gleich gegenüber: als Ehefrau, als Herrin eines eigenen Hausstandes und als (ehebrecherische) Rivalin um die Gunst der Männer, insbesondere des eigenen Ehemanns. Diese Rivalität, eine Travestie des ödipalen Vater-Sohn-Konflikts, spiegelt sich in den Namen. Während Christa und Johanna unter dem (bedeutsameren) Blickwinkel der jüdischchristlichen Ethik paradoxe Namen bleiben40, passen sie zugleich doch recht gut zur Figurenkonstellation. Denn so wie Christus sich vom Täufer in einem teilweise spannungsreichen Prozess emanzipierte, um eigenes Profil zu gewinnen, so zieht es Christa weg von ihrer Mutter. Die biblische Konkurrenz zwischen Alt und Jung, Meister und Schüler gewinnt dadurch eine parodistische Gestalt: Sie verkommt zu einem Machtkampf zwischen Mutter und Tochter um die sexuelle Hegemonie in der Familie. Umgekehrt beschert aber auch Christa der eigene Name das Image einer tugendhaften Frau. Der Leser sieht sich ein weiteres Mal getäuscht, sollte er von ihrem Namen, mythisch denkend, auf Anstand und Keuschheit, ein tadelloses Verhalten schließen. Dass Christa in der Kunst der Täuschung ebenso sehr erfahren ist wie Mutter und Schwester, beweist sie später auf eindrucksvolle Art. Sie imitiert die Sprechweise ihrer Mutter so überzeugend (wie der junge Canetti einst die eigene Mutter41), dass ihr frisch angetrauter Ehemann sie nicht erkennt und wie immer mechanisch ruft: »Aber Mutter!« (II, S. 65) Eine der wichtigsten Figuren, an denen sich die Verschränkung von Sexualität und Besitzdenken entfaltet, ist Oberbaurat Karl Christian Segenreich, der Brautvater. In Hochzeit ist dies der einzige Nachname, den Canetti direkt aus der Wirklichkeit übernommen hat.42 In Die gerettete Zunge erzählt er von einem || 40 So auch Uwe Sängers Deutung: »Es ist vor allem die mit dem biblischen Erlösungsgeschehen verbundene Liebesbotschaft, die am Mißverhältnis von Name und Rede sowie Handlungen der Figuren als deren Negation erscheint.« Zitiert nach: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 117f., Anm. 30. 41 Vgl. VII, S. 34f. (Hervorhebung – A.S.): »Ich fand heraus, daß der Vater einen Namen für die Mutter hatte, den er nur gebrauchte, wenn sie deutsch sprachen. Sie hieß Mathilde und er nannte sie Mädi. Einmal stand ich im Garten, verstellte so gut ich es vermochte, meine Stimme und rief laut ins Haus hinein: ›Mädi! Mädi!‹ […] Es war ein Triumph für mich, daß sie meine Stimme für die des Vaters gehalten hatte […].« 42 Aus den Entwürfen für Das Augenspiel kennen wir das Vorbild für Segenreich: »Besonders Segenreich selbst hatte ich erlebt, es war der Vater nicht der Braut, sondern des Bräutigams auf der Hochzeit meiner Cousine Maud, die in der Böcklinstrasse bei ihren Eltern Elvira und Heinrich wohnte, nicht weit von der Josef-Gall-Gasse, wo wir vor dem Krieg selbst gewohnt hatten. […] Bei der Feier in der Wohnung der Böcklinstrasse trank der Schwiegervater, ein grosser,

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Jungen dieses Namens, einem Mitschüler, der vom Lehrer besonders häufig aufgerufen wurde. Und dennoch habe er, Canetti, den Namen nie richtig verstanden; es habe wie »Sägerich« geklungen. Es dauerte eine Weile, bis ich draufkam, daß der Junge Segenreich hieß, und das steigerte die Wirkung von Sägerich, denn die Gebete, die ich in Wien gelernt hatte, begannen alle mit ›Gesegnet seist du, Herr‹ und obwohl sie mir wenig bedeutet hatten – daß ein Junge den ›Segen‹ in seinem Namen trug und gar ›reich‹ daran war, hatte etwas Wunderbares. (VII, S. 170)

Auch der Oberbaurat fühlt sich reich gesegnet. Sein Reichtum sind die eigenen Kinder, er begreift sie als seinen persönlichen Besitz:43 »Meine Kinder gehören mir!« (II, S. 50) Das Possessivpronomen, das Toni und die Gilz, das auch Johanna dem Substantiv »Haus« voranstellen, taucht bei ihm dementsprechend als erstes in Verbindung mit den Kindern auf: »Ich sag, das ist mein Fleisch und Blut. Ich hab auch das Haus gebaut.« (II, S. 26) Die selbstverständliche Kombination von Kindern und Haus lässt erahnen, wie eng beides für Segenreich zusammengehört – so eng, dass man das Wort »Haus« gelegentlich sogar durch »Kinder« ersetzen könnte. »Meine Häuser hab ich alle grad gebaut. Ich bitte sich in figura zu überzeugen.« (II, S. 28) Gerade an dieser Stelle drängt sich die Ersetzung auf. Denn Segenreich redet sonst immer nur von einem einzigen Haus: dem Haus der alten Gilz, das er gebaut hat, aber nicht besitzt. Wie der Name Segenreich geht auch die Verknüpfung von Kindern und Haus nicht auf Canetti selbst zurück. Sie hat eine lange Tradition.44 Redensartlich spricht man bis heute von einem Haus statt von einer Familie, etwa vom Haus der Windsors, der Hohenzollern, der Welfen, der Bourbonen. Bereits in

|| starker Mensch, viel, redete grossspurig und besoffen daher und benahm sich genau wie der Ur-Segenreich in der ›Hochzeit‹. Er war mitten in einer seiner Tiraden, als der grosse Kronleuchter über dem Tisch in der Mitte des Hauptraums zu schwanken begann, da der Bräutigamsvater gerade seinen Kopf schräg darunter hatte und mit gewaltiger Kraft etwas beteuerte, ein erschreckender Anblick. Alle erstarrten, man begriff nicht gleich, was passiert war, das Schwanken des Kronleuchters war etwas, was man nie hier erlebt hatte und es dauerte einige Augenblicke, bis jemand sagte: ›Ein Erdbeben!‹« Zitiert nach ZB 60, 12. November 1980. Siehe auch ZB 58, 4. Juli 1973. Diese Szene spielte wohl ungefähr zwei Jahre, bevor Canetti das Drama schrieb, also vielleicht 1928 oder 1929. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 297 datiert die Episode hingegen auf die Jahre 1926 oder 1927. 43 Segenreich lebt somit noch in einer »feudal-patriarchalischen Vorstellungswelt«. Vgl. dazu Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 101. 44 Vgl. dazu auch eine Aufzeichnung vom 13. November 1979: »›In der alttestamentarischen Ursprache entspringt das Wort für Sohn (ben) der Wurzel Bauen (banoh)‹. (wie Segenreich in der ›Hochzeit‹).« (ZB 19)

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der Luther-Bibel ist diese Metapher belegt – im zweiten Buch Mose, welches seinen Lesern Mose als einen »Mann vom Hause Levi« vorstellt (Ex 2,1).45 Das obige, auf die drei Kinder bezogene Zitat der Einsetzungsworte deutet an, was weitere Beispiele bestätigen: Segenreich bedient sich gerne einer biblischen Ausdrucksweise.46 Und so hat auch sein Name einen Bezugspunkt im Buch der Bücher. Von einem reichen Kindersegen ist in den Patriarchenerzählungen wiederholt die Rede, etwa anlässlich des Isaak-Opfers, das bekanntlich in letzter Sekunde verhindert wird. Da sagt Gott zu Abraham: »Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand.« (Gen 22,16f.)47 Aus diesem Satz, besonders aus den Wörtern »Sand« und »Sterne«, für Canetti beides Massensymbole, lässt sich schließen, dass auch der Name Segenreich paradox ist – und zwar gleich auf doppelte Art: Während durch Abraham alle Völker Segen erlangen sollen (Gen 18,18), betrachtet der egoistische Segenreich nur sich selbst als gesegnet; der Segen ist sein Eigentum. Auch das erinnert an die Genesis, wo Esau sein Erstgeburtsrecht und damit den väterlichen Segen für ein Linsengericht verkauft wie ein Stück aus seinem Besitz. Doch anstelle unzähliger Nachkommen, die von dem Segen künden könnten, hat Segenreich nur drei Kinder, darunter einen Sohn – eine verschwindet geringe Zahl angesichts allein der zwölf Söhne Jakobs.48 Und selbst diese Zahl ist unsicher. Denn es bleibt zweifel|| 45 Vgl. Röhrig: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (wie Anm. 34) Bd. 2, S. 678f. 46 Vgl. dazu auch Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 101. 47 Im korporativen Bewusstsein der Israeliten war der Glaube an ein Fortleben in Sippe und Volk weit verbreitet. »Der Bestand der Sippe mußte gesichert werden durch Nachkommenschaft […] und ihr hinterlassenen Segen […]. In dem, was der Sterbende an seine Nachkommen weitergibt, transzendiert er seinen eigenen Tod. Wie die Wurzel im Stamm, so lebt der einzelne in der leiblichen Nachkommenschaft weiter, nicht zuletzt durch die Erhaltung und das Gedächtnis seines Namens […].« Zitiert nach: Hans Kessler: Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi in biblischer, fundamentaltheologischer und systematischer Sicht. Hg. von Thomas Gertler. Leipzig: St. Benno-Verlag 1989, S. 41. 48 Vgl. zu dieser Deutung ZB 4, Mai 1936: Canetti schreibt hier über den »Kindermann«, der 500 Kinder habe, und vergleicht ihn mit Segenreich. »Dieser war ja bloss seinem Namen nicht gewachsen. Er hatte bloss drei Kinder und schon auf diese drei war er stolz; die Kleinheit seiner Person erwies sich im billigsten Zusammenhang zwischen Kindersegen und Hausfrau. Denn in Wahrheit war sein Kindersegen eine Kinderarmut und das Haus, das eigene, stürzte ihm zusammen, ohne dass sich eigentlich sagen liesse, ob ein Erdbeben daran die Schuld hatte: ja, das bleibt festzuhalten, und daran ist mir besonders gelegen: niemand weiss, ob ein Erdbeben wirklich stattgefunden hat oder nicht; jede Vermutung darüber ist müssig; das Haus wäre höchstwahrscheinlich auch ohne Erbeben zusammengestürzt. Eigentliche Ursache des Ein-

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haft, ob Christa Segenreichs Tochter ist. Sie selbst äußert sich zu dieser Frage, vermutlich ist Dr. Bock ihr Vater, jener betrunkene Greis, mit dem sie – ungeachtet des womöglich engen Verwandtschaftsverhältnisses – dennoch im Bett gelandet ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine eigentlich rhetorisch gemeinte Frage Segenreichs ungeahnte Bedeutung; man kann sie nun negativ beantworten: »Wenn ich am Polterabend nicht der Vater bin, wann bin ich dann sonst der Vater?« (II, S. 26) Aber es gibt für Segenreich noch eine zweite Möglichkeit, um seinen Namen zu erfüllen. In Masse und Macht findet sich dazu der entscheidende Hinweis. Canetti schreibt dort über den Sand: Es ist zu verwundern, daß der Sand je zu einem Symbol für Nachkommenschaft werden konnte. Aber die Tatsache, die von der Bibel her so gut bekannt ist, beweist, wie heftig der Wunsch nach ungeheuerlicher Vermehrung ist. Der Nachdruck liegt hier keineswegs auf der Qualität allein. Gewiß wünscht man sich für sich selbst eine ganze Schar von starken, aufrechten Söhnen. Aber für die weitere Zukunft, als Summe des Lebens von Generationen, geht es um mehr als um Gruppen oder Scharen, da wünscht man sich eine Masse von Nachkommenschaft, und die größte, unabsehbarste, unzählbarste Masse, die man kennt, ist die des Sandes. (III, S. 101)

Auch Segenreich ist auf die Vermehrung seiner Familie in den kommenden Generationen aus. Von Marie, der Jüngsten, erhofft er sich drei Enkel, sonst drohe die Enterbung (II, S. 48) – eine weitere, nicht minder krude Verklammerung von Besitzdenken und Sexualität. Und Christa, die Braut, soll ihm noch mehr Enkel schenken (II, S. 27), darin ist er sich selbst mit Johanna einig. Statt wie er acht wünscht sie sich aber sogar neun Enkelkinder, wobei sie wohl eher, ihrem Wunsch nach Vermehrung entsprechend, an den häufigen Koitus denkt als an ihre Nachfahren. So enthemmt Johanna ist, so puritanisch wirkt Segenreich. Er möchte die Sinnenlust streng reguliert sehen. Die Vereinigung von Mann und Frau hat nur einen Zweck für ihn: die Kinderzeugung. Ihren ehelichen Pflichten soll Christa daher zügig nachkommen. Es ist Segenreich derart wichtig, endlich einen Enkel in den Armen zu halten, den Segen auch über der nächsten Generation zu wissen, dass er die neun Monate Schwangerschaft in seinem Kopf einfach überspringt: »Morgen gleich muß die Christa kleine Enkeln kriegen, für uns zwei, die Familie Segenreich blüht und das geht ewig so wei|| sturzes war die Hochzeit.« (Hervorhebungen im Original) Horch verzichtet denn auch darauf, die Frage: »Wer ist an eigenen Kindern reich?« zu beantworten – anders als zuvor bei Schön (»Wer trägt seinen Namen wie einen falschen Hut? Schön!«) oder Christa (»Wer ist für eines Mannes Braut zu schön? Christa!«). Es bleibt somit offen, ob die Frage auf Segenreich gemünzt ist, der sich freilich angesprochen fühlt.

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ter.« (II, S. 27) Es überrascht insofern nicht, dass er sich mit seiner ältesten Tochter übermäßig identifiziert und ihre Hochzeit gleich zu »meinem großen Tag« erklärt (II, S. 48).49 Ähnlich wie Toni und Thut ihren Besitz, ähnlich wie Christa die Zahl ihrer Liebhaber vergrößern will, drehen sich Segenreichs Gedanken permanent um die Vermehrung seines Besitzes, der Kinder.50 Während sich Toni und Thut aber nach dem »Triumph des Überlebens« zu ihren eigenen Lebzeiten sehnen, träumt Segenreich von einer anderen Form dieses Triumphs: Die ununterbrochene Generationenfolge soll dem eigenen Ich die Unsterblichkeit sichern. Segenreich will – wie später die Befristeten – eine sichere Zukunft, aber nicht als Toter, sondern als bleibend Lebendiger. In seiner Sprache kehren Wörter wie »Ewigkeit« und »ewig« deshalb immer wieder (II, S. 27, 41 und 48). Um sein Ziel zu erreichen, muss Segenreich seine Kinder so sehr im Griff haben, dass sie sich seinen Wünschen fügen. Seine Amtsbezeichnung Oberbaurat oder der im Nachlass zeitweise vorgesehene Professorentitel51 weisen darauf hin, dass er Macht, eine gesellschaftlich herausgehobene Stellung, besitzt und auch beansprucht. Doch in der eigenen Familie ist Segenreich darum noch lange nicht der Mächtigste, selbst wenn er seinen Kindern gern Befehle erteilt: »Ich hab meine Kinder. Die gehn für mich durchs Feuer. Christa! Marie! Karl! Strammgestanden, wenn der Vater ruft! Christa! Marie! Karl!« (II, S. 42)52 Statt dem Befehl zu gehorchen äußert sich Christa über ihren Vater insgeheim aber sehr abfällig: »Was will der alte Esel!« Auch Mariechen und Karl denken nicht im Traum daran, vor ihrem Vater strammzustehen. Aufschlussreich ist besonders Karls Reaktion auf des Vaters Befehl: »Und das Schönste ist, daß man mich nicht einmal ernst nimmt.« (II, S. 42) Dieser Satz könnte von Segenreich stammen, wie überhaupt Karl sein Abbild ist. Während Mariechen, gemessen an ihren vierzehn Jahren, beängstigend erwachsen ist, gilt Karl, der Student im dritten Semester, bei den Damen noch immer als grüner Junge (II, S. 38). Sein Name, den er mit dem Vater teilt, hat nun freilich die Bedeutung »Mann« und ist außerdem sowohl der Vorname des großen Kaisers Karl als auch des Intellektuellen-Machthabers Karl Kraus. Es ist also erneut ein paradoxer Name. Zugleich jedoch bezeichnet er den größten Wunsch des Knaben. Wenn schon kein Machthaber, dann möchte Karl doch wenigstens ein Mann nach dem väterli|| 49 Wenig später wird Horch, unter Anspielung auf den Brautvater, von einer »segenreichen Hochzeit wie dieser« sprechen (II, S. 55). 50 Zur Nachkommenschaft als Masse vgl. III, S. 50f. 51 Vgl. ZB 33.1a, ohne Datum. 52 Vgl. dazu auch II, S. 26: »Drei hab ich auf die Welt gesetzt, ich Karl Christian Segenreich persönlich. Zwei Mädeln, einen Buben, sie sollen aufmarschieren! Christa! Christa! Steh stramm, wenn der Vater dich aufruft. Christa! Christa! Wirds bald.«

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chen Vorbild sein. So wie die Töchter ihre Mutter, so ahmt er seinen Vater nach, wenn auch keinesfalls in feindlicher Absicht. Trotz seines jungen Alters von zwanzig Jahren versucht Karl deshalb, schleunigst eine Frau zu finden. Schließlich hält er sie in Armen: Es ist die zurückgebliebene Tochter des Hausbesorgers, mit der er schon ein Verhältnis hatte (II, S. 64f.). Mit ihr jedoch wird Karl niemals Kinder haben, sie kann nicht gebären (II, S. 35). Und schließlich wird auch sie in den Trümmern des Hauses zugrunde gehen wie er. Es ist symbolisch, dass Karl während des Erdbebens (wie das Kind der Thuts) durch ein Loch im Boden fällt und die sterbende Hausbesorgerin schreiend umarmt: »Ich hab eine Frau!« (II, S. 70) Am Ende winkt Segenreich nicht die Unsterblichkeit, sondern er erlebt die Vereinigung seines einzigen Sohnes mit dem personifizierten Tod. Auch von Christa erhofft sich Segenreich vergebens eine große Enkelschar. Als einziges seiner Kinder befindet sie sich zwar nun im Stand der Ehe, aber sie ist nicht gewillt, ihn zum Großvater zu machen. Gegenüber Bock spielt sie mit einer aus der Sprache der Ökonomie entlehnten Metapher sogar auf die Möglichkeit einer Abtreibung an: »Ich wirtschaft mir kein Kind ein, verstanden, Onkel Bock!« (II, S. 33) Dem Dienst an der familiären Vermehrung verweigert sich Christa demnach ganz bewusst, sie will nicht den gesteuerten, sondern den orgiastischen und folgenlosen Genuss ihrer Libido, die Sexualität als Selbstzweck. Eine Masse an Nachkommen – für Segenreich bleibt das eine fixe Idee, ein Traum, aus dem er nicht erwacht. Sein Name wird niemals richtig sein, er täuscht und wird immer täuschen. Ausgerechnet die beiden Kinder, Karl und Christa, die er durch Nachbenennung auf sich selbst verpflichtet hat, entziehen sich – freiwillig oder unfreiwillig – seiner patricia potestas. Und dennoch kommen Segenreich keine Zweifel an seiner Wahrnehmungsweise. Er lässt sich gerne täuschen und verschließt (nicht von ungefähr ist er sturzbetrunken) vor allem die Augen, was nicht in sein Bild von der Gegenwart und zu seiner Hoffnung auf die Zukunft passt. Dass Segenreich vom Glauben mehr als vom Wissen hält, macht sich wiederholt bemerkbar, nicht nur in seiner biblisch geprägten Sprache und seinem pietistischen Namen. Der Glaube mache selig, sagt Segenreich mehrmals, und dann anderswo: »Ich hab eine Vorliebe für die Wahrheit und für die Klarheit noch von früher her, das war mein Beruf.« (II, S. 28) In fahrlässiger Naivität aber übersieht Segenreich, dass seine Frau ihn während der Hochzeitsfeier mit dem Ehemann der eigenen Tochter betrügt und dass sie auch sonst kein Muster an Tugendhaftigkeit ist: »Siebenundzwanzig Jahre bin ich mit ihr verheiratet und es ist nichts vorgekommen. Rein gar nichts. Jetzt soll ich zum Aufpassen anfangen? Das Vertrauen steckt in mir und der Glaube steckt in mir, denn der Glaube macht selig. So bin ich. So

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bleib ich. Die Welt geht unter, bevor mir meine Alte untreu wird.« (II, S. 42) Segenreichs Glauben an eine Welt, die seiner Vorstellung entspricht und mit der Wahrheit nichts zu tun hat, ist ein weiterer Grund dafür, dass seine Frau und seine Tochter biblische Namen tragen. Bereits durch die Namen enthüllt sich so, wie sehr sich Segenreich, einem Fanatiker gleich, mit dem bloßen Anschein begnügt, mit dem Image, das diese Namen haben, und wie wenig er zur Kritik an seinen Überzeugungen bereit ist. Das macht ihn zum Modell für alle Figuren in Canettis Hochzeit. Die Sexualität, das zweite Leit-Thema der Hochzeit, spielt auch für Segenreichs Antipoden außerhalb der Familie die entscheidende Rolle im Leben. Einer von ihnen ist der bereits erwähnte Direktor Schön.53 Seine Amtsbezeichnung unterstreicht, ähnlich wie bei Segenreich, die gesellschaftliche und ökonomische Macht. Beides vermag Schön zur Befriedigung seiner libidinösen Bedürfnisse einzusetzen. Und er hat Erfolg: Johanna, Christa, Mariechen, die Witwe Zart, sie alle gehören zu seinen Eroberungen. Ein attraktiver Mann ist Schön indessen nicht, auch sein Name ist paradox. Für Johanna, ehemals seine Geliebte, ist die Schönheit des Körpers aber auch ganz ohne Bedeutung. An einer Stelle sagt sie: Schön: Aber schön ist er [Michel – A.S.] nicht. Johanna: Schön ist überflüssig. Sind Sie vielleicht schön, Schön? Schön: Dafür heiß ich so. Johanna: Für den Namen kauf ich mir nichts. Was hab ich vom Namen? (II, S. 27)

Horch wird später an diesen Dialog anknüpfen: »Wer trägt seinen Namen wie einen falschen Hut? Schön!« (II, S. 56) Das Adjektiv »falsch« erinnert an den mythischen Schicksalsglauben, dass der Mensch richtig, seinem Wesen gemäß benannt sei. Die Anspielung ist kein Zufall, immerhin bildet dieser Glaube, ins Medium der Literatur transponiert, die Bedingung der Möglichkeit der paradoxen Namen. Zugleich deutet das Adjektiv nochmals an: Hut und Name sind wie die Masken in Masse und Macht und die Zahlennamen in Die Befristeten: Sie verdecken die Wahrheit. Johanna, Schöns Geliebte, spielt heuchlerisch auf diese Wahrheit an, das Hässliche an Schön: »Ich hab bei dem Schön immer das Gefühl, man erfährt einmal etwas recht Dreckiges über ihn, so etwas ekelhaft Dreckiges, ich kann gar nicht kosten wie dreckig, so eine uneheliche Liebschaft oder so.« (II, S. 28) Der Name weist in diesem Fall aber außerdem darauf hin, dass Schön, obwohl körperlich unattraktiv, den Damen trotzdem in gewisser Weise schön erscheint. Sie lassen sich täuschen, weil er sie umschmeichelt, fast || 53 Im Nachlass heißt er einmal auch »Schöner«. Vgl. ZB 33.1a, ohne Datum.

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so wie Segenreich sich von den Verstellungen seiner Frau und seiner Töchter täuschen lässt. So hat Schön die Witwe Zart für sich eingenommen, indem er ihr sagte, was sie hören wollte: dass sie eine Mimose sei. Dabei hat ihm seine »Nase« geholfen, ein Gespür für die Richtung des Windes, wie Segenreich formuliert (II, S. 28), die Fähigkeit, sein Gegenüber zu durchschauen und das eigene Verhalten danach auszurichten. Schön selbst dagegen behält stets die Kontrolle über sich, er lässt sich nicht irreführen. Sein Name beschreibt nicht seine eigene fixe Idee, so wie bei Segenreich, sondern das Trugbild, das andere von ihm besitzen und besitzen sollen. Wie sehr ihm die Täuschung im Blut liegt, zeigt sich am Ende des Dramas. Um aus dem Haus heraus zu gelangen, ahmt Schön verschiedene Teilnehmer der Hochzeit nach, schließlich sogar einen Hund, das Gegenteil eines Machthabers (II, S. 68ff.). Jetzt, im Augenblick höchster Gefahr, denkt er nicht mehr an die Frauen, sondern nur noch an sich selber – allerdings ohne er selbst zu sein. Er ersetzt vielmehr die eine Maske durch wechselnde, andere Masken, ein unaufhörlicher Maskensprung54, von dem er sich – vergeblich – einen Erfolg verspricht. Segenreichs zweiter und noch wichtigerer Antipode ist der alte Dr. Bock, der bereits als Liebhaber Christas aufgetreten, aber auch schon im ersten Bild erwähnt worden ist: In trunkenem Zustand, nach Wein riechend, hatte er Toni auf der Treppe belästigt und geküsst. Wenn man diese Szene mit dem Namen zusammen bringt, dann ist sofort klar, mit wem wir es zu tun bekommen. Bock selbst hält sich für Casanova, nennt sich den »gefährlichste[n] Frauenfreund des Jahrhunderts« (II, S. 51). Kurzum: Er ist ein lüsterner Alter, ein dem Sexualtrieb und dem Wein verfallener Dionysos.55 In den Entwürfen bezeichnet Canetti ihn sogar als das »orgiastische Prinzip«56. Zahlreich sind die Anspielungen auf Bocks Namen auch im Drama selbst: Nicht nur dass Bock mit seinen 79 Jahren unter dem Tisch durchkriecht wie ein Tier auf der Jagd (II, S. 35), nicht nur, dass er, der moralisch Verkommene, selbst noch »dreckige Finger« hat (II, S. 49) und die Frau des Apothekers ›decken‹ möchte (II, S. 58), nicht nur dass er »mehr Schwein als wir alle zusammen« zu haben scheint (II, S. 49) – sein Name wird auch eigens als Appellativ verwendet.

|| 54 Vgl. dazu III, S. 444: »Es ist wahr, daß hinter dieser Maske eine andere sein kann. […] Es ist ein Sprung, der von einer zur anderen führt. Was immer dazwischen sein könnte, ist ausgeschaltet; es gibt keinen mildernden Übergang, wie er sich etwa auf dem Gesicht eines Menschen abspielen möchte. Das neue, das andere ist plötzlich da. Es ist genau so klar und genau so starr, wie das frühere war.« 55 Das »Urbild« des Dr. Bock heißt Dr. Weinstock. Vgl. ZB 58, 4. Juli 1973. 56 ZB 33.1a, ohne Datum (Kurzschrift).

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Gall: Es ist nicht jeder ein Bock. Es kann nicht jeder ein Bock sein. Es muß auch anständige Männer geben. Bock: Ich bin lieber unanständig. (II, S. 40)

In etwas übertriebener Form erfahren wir wenig später von Rosig, wie sehr sich bei dem Alten alles um den Geschlechtsverkehr dreht: »Der bringt im Tag so viel Kinder fertig, als er Patientinnen im Wartezimmer hat. Der heißt nicht umsonst Bock.« (II, S. 44) Der letzte Satz steht im Gegensatz zu Johannas und Horchs Aussagen über den Namen Schön. Zum ersten Mal wird hier suggeriert, dass es in Hochzeit auch Namen gebe, die dem Wesen des Benannten so angemessen seien wie der Name Lykaon einem wölfischen Menschen. Der Hinweis ist aber so explizit formuliert, dass in Anbetracht der sonstigen Täuschungen Vorsicht geboten ist. Um zu entscheiden, ob Bocks Name nicht ebenfalls Camouflage ist, muss man noch mehr über ihn wissen. Zunächst einmal: Auch Bock versteht sich als Machthaber. Sein Titel, der Distanz schafft zu allen Titellosen, bestätigt das ebenso wie sein sowohl schmeichlerischer als auch verächtlicher Umgang mit Frauen. So erniedrigt er Monika Gall, die Gattin des Apothekers, mit der er schlafen möchte, auf eine Art, die typisch ist für einen Machthaber. Er verkleinert sie: »Man zweifelt Ihre Volljährigkeit an, Kindchen.« (II, S. 43) Was ihn überdies als Machthaber entlarvt, ist seine unersättliche Gier nach dem Leben, die er im Sexualakt mit wesentlich jüngeren Partnerinnen zu befriedigen sucht. Dies gibt ihm ein Gefühl zeitloser Jugendlichkeit, was er in einem paradoxen Satz auch formuliert: »Ich bin alt, aber ich bin noch jung.« (II, S. 40) Diese Paradoxie ist ein Kennzeichen seiner Sprache. So lästert er entsprechend über Leni Thut: Die bildet sich wohl ein, ich will sie, so alt bin ich noch lange nicht, da hab ich schon andere, was man sich gefallen lassen muß, wenn man so jung ist und auf seine alten Tage noch Visiten macht! (II, S. 33)

In diesen Paradoxien steckt Bocks fixe Idee. Er tut alles dafür, die Zeichen seines Alters zu verbergen, er ist selbst eine paradoxe Gestalt. Denn diese Zeichen sind nicht zu übersehen: Bock fühlt sich zwar wie ein Vierziger (II, S. 40), doch er hört nicht mehr gut, er keucht (II, S. 54), und einmal bekommt er sogar einen kräftigen Hustenanfall (II, S. 41). Vor allem aber hat er keine Zähne mehr, ein Umstand, der in Canettis Denken den Mangel an Macht anzeigt.57 Als Pro-

|| 57 »Das auffälligste Instrument der Macht, das der Mensch und auch sehr viele Tiere an sich tragen, sind die Zähne.« (III, S. 241) Hans Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 111 weist darauf hin, wie wichtig die Zähne für Bocks Macht sind. Ohne sie breche seine sexuelle Potenz zusammen.

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these dieser Macht und zugleich als trügerische Larve trägt Dr. Bock, hierin ein zweiter Aschenbach, allerdings ein Gebiss, ohne das er hilflos wirkt.58 Hilflos scheint er auch, seiner Prahlerei zum Trotz, bei den Damen. Von Christa hören wir, er suche immer eine Frau, doch er habe keine gefunden (II, S. 52). Noch abfälliger äußert sich Monika Gall, die Frau des Apothekers: »Er gibt sich mit jeder ab. Er ist ja viel zu alt.« (II, S. 49) Damit dürfte erwiesen sein: Bocks Name bezeichnet seine fixe Idee, er wäre gern wieder jung, frisch, lebendig, mächtig, ein Draufgänger – aber er ist es nicht. Zur Paradoxie dieser Figur gehört indessen auch, dass Bock doch immer wieder zu einem Casanova wird: Auf Horchs Frage hin scharen sich die Frauen um ihn, gleich fünf, Pepi, Christa, Anita, Toni und Marie, bezeichnen ihn als ihren liebsten Menschen. Was Bock nicht weiß, nicht einmal ahnt: Sie begehren ihn nicht wegen seiner Qualitäten als Liebhaber, sondern weil er von anderen Frauen begehrt wird (eine Form des Besitzdenkens). Und nicht zuletzt begehren sie ihn, weil er so alt ist und sicher bald sterben wird. Kurzum: Es sind selbstsüchtige Motive, es sind die eigenen fixen Ideen, die sie in Bocks Arme treiben. Von diesem Punkt aus bestätigt sich noch einmal die Deutung des Namens Gilz. Als Schwein und Bock gehören diese zwei Figuren zueinander, und zwar nicht nur, weil sie die eigentlichen Herrscher des Hauses sind, sondern auch, weil sich in beiden Fällen (Verknüpfung durch die Figur Toni) die Sucht nach dem Überleben als Liebe tarnt: in Freuds Terminologie zuerst als zärtliche und dann als libidinöse Liebe. Wozu aber möchte Bock, der von vielen Frauen Geliebte, dann noch jung sein? Bocks fixe Idee von ewiger Jugend hat eine grausame Kehrseite. Um sich dem Tod überlegen zu fühlen, muss er selbst töten, braucht er den »Triumph« des Überlebens. Auf zwei Wegen gelangt Bock zu diesem Ziel. Zum einen nimmt er in seiner Praxis auch Abtreibungen vor. Doch damit nicht genug: Es sind seine eigenen Kinder, die er aus den Frauen herauskratzt, wie es im Drama drastisch heißt, und er lässt sich dafür sogar bezahlen (II, S. 44). So erschafft Bock neues Leben, um es zu vernichten – ein diabolischer Gott.59 Die gewissenlose Tötung seiner Nachkommen macht ihn erst recht zum Antipoden Segenreichs, der allerdings nicht weniger auf das Überleben fixiert ist als er. Zum anderen hat Bock seinen hippokratischen Eid gebrochen. Er hat sich mit dem

|| 58 Vgl. II, S. 61: »Wo ist mein Gebiß? Helfen sie mir suchen! Ich tu Ihrer Frau nichts. Was soll ich ihr ohne Zähne tun?« Der letzte Satz erinnert an Johannas Verknüpfung von Begierde und Fressen. 59 In der abendländischen Kulturgeschichte ist die Darstellung des Teufels als Ziegenbock verbreitet, der zugleich die (triebhafte) Furchtbarkeit symbolisiert. Vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B5, Anm. 59), S. 105f.

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Apotheker Gall und dem Sargfabrikanten Rosig geschäftlich verbündet. Mit ihnen zusammen bringt er, der Arzt, seinen Patienten den Tod: Wir drei haben nämlich in Kompagnie gearbeitet. Erst sind die Leute zum Gall gegangen. Der hat ihnen in der Apotheke ein Pulver gegeben, daß sie anständig krank werden und sie zu mir geschickt, wenns nicht hilft, dann hab ich sie um neue Pulver wieder zu ihm geschickt, da sind sie immer kränker geworden, ich hab verdient, er hat verdient, und wenn mit den Leuten schon gar nichts mehr anzufangen war, da sind sie eben gestorben und der Rosig hat ihnen einen Sarg drüber machen können. So gut wie Sie glauben, geht nämlich die Sargfabrik vom Rosig noch lange nicht. Ich hab ihm immer Leichen schicken müssen. (II, S. 43f.)

Wie Toni und Leni und Thut, wie Max und Gretchen spekuliert Bock auf Leichen, die ihm den ökonomischen Erfolg, die Vermehrung seines Besitzes bescheren sollen. Zur Steigerung des Profits hilft er bei den Kranken etwas nach. In der Figur Bock treffen damit die wichtigen Themenstränge der Hochzeit zusammen: das Besitzdenken, die Macht, die Sexualität und der Tod, der alles miteinander verklammert und umgreift. Insofern lässt sich Bock als das figürliche Zentrum des Dramas begreifen.60 Zugleich verkörpert sich in ihm das Tragische mitten in der Komödie; denn Tragödie heißt nichts anderes als »Bocksgesang«. Unter der Maske des Komischen lauert bei Canetti, nicht anders als in den Grotesken Dürrenmatts, der alles beherrschende Tod, die Vernichtung der gegenwärtigen und künftigen Menschheit.61 Die Hochzeit, die gattungshisto-

|| 60 Völlig zu Recht spricht deshalb Durzak: Elias Canettis Weg ins Exil (wie Kapitel B1, Anm. 54), S. 466 von dem »triebhafte[n] Veitstanz der Hochzeitsfeier«. 61 Drei Elemente sind besonders charakteristisch für die Komödie: Komik, erheiternde Wirkung und das gute Ende. Vgl. dazu Georg-Michael Schulz: Einführung in die deutsche Komödie. Darmstadt: WBG 2007 (Einführungen Germanistik), S. 10. Canettis Hochzeit fehlt vor allem das letztere, sie endet, im wörtlichen Sinn, mit einer Katastrophe: dem Zusammensturz des Hauses. Die Groteske beschreibt Schulz prägnant als die gleichzeitige Darstellung des »Monströs-Grausigen« und des Komischen (Vgl. ebd., S. 16). In höchstem Maße grotesk ist in Hochzeit etwa das fünfte Bild. Während die Hausbesorgerin im Sterben liegt und nur noch wimmert, erklingt von oben die Tanzmusik der Hochzeitsgesellschaft. Zugleich lacht Pepi ununterbrochen, was den Hausbesorger zu einem Wutausbruch bringt: »Wenn ich dich noch einmal lachen sehe, da stirbt die eigene Mutter.« (II, S. 25) Allerdings übersieht der Hausbesorger, dass sein eigenes Verhalten, das ungerührte Rezitieren des Bibeltextes, tatsächlich und auch ohne Pepis Lachen lächerlich ist. Nicht weniger grotesk ist später die letzte Äußerung der Hausbesorgerin: »Du, Mann, der Besen ist auf dem Boden. Den Besen hab ich auf dem Boden vergessen. Du sollst nicht schimpfen. Der Besen ist auf dem Boden.« (II, S. 70) Dringend notwendig ist eine Untersuchung, die Dürrenmatts und Canettis Dramentheorien und ihre praktische Umsetzung vergleicht. Über Dürrenmatt äußert sich Canetti am ausführlichsten in seinem Gespräch mit Manfred Durzak. Seine Ausführungen zeigen, dass er ein

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risch typisch für die Komödie ist, gerät in Canettis Drama zu einer perversen Parodie des guten Endes.62 Auf dem Tod beruht Canettis Hochzeit auch in ganz handfestem Sinn. Anhand eines »Sudelblatts« aus dem Nachlass hat Sven Hanuschek gezeigt, wie sehr sich Canetti über die räumliche Anordnung der Figuren den Kopf zerbrochen hat.63 Das gilt nicht weniger für den Raum insgesamt: das Haus. Den drei Etagen ist (allerdings verkehrt) der Lebensweg des Menschen eingezeichnet64: oben der Säugling, der aber nach Bocks Urteil »todsicher« stirbt (II, S. 32), in der Mitte das Hochzeitspaar und unten, gleichsam als Fundament des Hauses und der Welt: das sargähnliche Kabinett65 des Franz-Josef Kokosch mit der sterbenden Hausbesorgerin in ihrem wackligen Bett – ein Hinweis auf die spätere Erschütterung. Das Groteske dieser Konstellation beschreibt Christa kühl und lapidar: »Unten ist die Leich und hier heirat ich!« (II, S. 31) In diesem Zusammenhang erhält eine Bemerkung Professor Thuts neuen Sinn: Ein Haus, sagt er, stehe immer auf festem Grund, es sei unverbrüchlich wie das Ehrenwort eines

|| ambivalentes Verhältnis zu Dürrenmatt hatte. Er fühlte eine gewisse Nähe und zugleich unaufhebbare Distanz. Besonders angetan hatten es ihm Der Besuch der alten Dame und Der Meteor (X, S. 307f.). 62 Vgl. zur Chiffre »Hochzeit« etwa Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. 5. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2001 (dtv; 30143), S. 27: »›Hochzeit‹ – das ist, im Denken der Literatur, die umfassende Versöhnung mit der allgemeinen Ordnung. Zu ihr gehört der Segen der Väter als der Inhaber der Macht, der Segen der Mütter gemäß der je besonderen Art, wie sie an der Macht teilhaben. In der Hochzeit, der Chiffre ›Hochzeit‹, ereignet sich der Einklang von Trieb und Gesetz, und zwar, wo sie den tatsächlichen Schluss darstellt, der Einklang von Trieb und Gesetz auf immer. Wo solche Hochzeit sich ereignet, ist die Macht in der Gesellschaft entweder beseitigt oder sie ist gut und wird sogar gefeiert.« Canettis Hochzeit inszeniert in allem das Gegenteil. Speziell zu Canettis Hochzeit vgl. auch Donnenberg: Elias Canettis Drama Hochzeit (wie Anm. 8), S. 98: »Ausgerechnet bei einer Hochzeit enthüllt sich die Sprach- und Lebensform dieser Menschen als ein Dissoziationsprozeß, als Zerfall des Zusammengehörigen und Anarchie der Triebkräfte.« 63 Vgl. Sven Hanuschek: Hochzeit, Magd und roter Kater. Kleiner Kommentar zu einem Sudelblatt Elias Canettis. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 4), S. 57–67. 64 Ähnlich Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 126, ohne den Säugling im obersten Stock zu berücksichtigen. 65 Den Sarg nennt man auch das letzte Haus des Menschen. Vgl. Röhrig: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (wie Anm. 34) Bd. 2, S. 679. Man könnte deshalb das ganze Haus, das am Ende seine Bewohner in den Tod reißt, als einen Sarg begreifen. Die Umklammerung der Hochzeitsgesellschaft durch den Tod zeigt sich auch in einem Gespräch zwischen Christa und Bock, das zweimal unterbrochen wird. Beim ersten Mal hört man von oben das Geschrei des Säuglings, beim zweiten Mal von unten das Beten des Hausbesorgers (II, S. 32f.).

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Mannes (II, S. 14). Dieser Grund ist in Canettis Hochzeit der Tod, mit dem die Figuren zu rechnen wissen – ein Grund, der allerdings, wie das finale Erdbeben beweist, so wenig trägt wie Sand oder die Zahlennamen in Die Befristeten.66 Kein Wunder, dass die Gütigkeitsstraße an diesem Haus vorbeiführt. Die Güte, in Gestalt eines redenden Namens, bleibt aus der poetischen Welt der Hochzeit ausgeklammert. Gegen Ende des Stücks geschieht sogar, was Horch zu Beginn des Spiels bereits angekündigt hatte: »Die Gütigkeitsstraße ist weg, die gibt es nicht, wo sie war, da gibt es nur einen großen, gefräßigen Schlund, und wir, wir stürzen kunterdibunter, in zwei Sekunden, Gäste und Haus und Suff und Schmaus da mitten hinein und hinunter!« (II, S. 53) Der Typus des auf den Tod und das Überleben fixierten Machthabers, der für die Hochzeit von fundamentaler Bedeutung ist, verkörpert sich in einigen weiteren Figuren. Da ist zum einen der bereits erwähnte Hausbesorger Franzjosef Kokosch, seiner Sprache nach zu urteilen ein Böhme. Er sitzt am Bett seiner sterbenden Frau und liest ihr aus der Bibel vor. Indem er sich dabei in Richtung ihrer Füße wendet (II, S. 23), nimmt er schon jetzt, da seine Frau noch lebt und atmet, die Rolle des Überlebenden ein, der am Bett mit rituellem Desinteresse die Totenwache hält. Seine Geste zeigt: Die Regungen ihres Gesichtes, ihre Schmerzen, Wünsche, Hoffnungen interessieren ihn nicht. Er täuscht Anteilnahme vor und kümmert sich doch nicht, jetzt ebenso wenig wie zuvor, als er seine Frau niemals zu Wort kommen ließ (II, S. 34). Da er die Sterbende im Gegensatz zu allen anderen, die sie (überlebenslüstern) begaffen (II, S. 34), nicht einmal für eine Sekunde anschaut, entgeht ihm, dass sie etwas zu sagen hat. Das wäre für ihn aber ohnedies nicht von Belang. Denn auch er spekuliert auf den Tod, der für ihn eine ökonomische Relevanz besitzt, wie Christa zu berichten weiß: Trotz mehrfacher Aufforderung rufe er den Arzt nicht: »›Beten kommt billiger, die Herrschaften, beten kommt billiger!‹« (II, S. 34) Kokoschs Vorname bezeugt seine Fixierung auf den »Triumph« des Überlebens. Es ist der Name eines Überlebenden, des alten Kaisers Franz Joseph, der die Doppelmonarchie achtundsechzig Jahre lang regierte.67 Während dieser Zeit

|| 66 Für Canetti war die Erschütterung durch ein Erbeben ein Symbol für den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts. In seiner Dankrede für den Preis der Stadt Wien schreibt er: Das Erdbeben von Messina, eine Attraktion der Grottenbahn, habe ihn schon früh »auf das Jahrhundert vorbereitet« (X, S. 64). 67 Vgl. William M. Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. Wien, Köln und Graz: Böhlau 1974 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes; 1), S. 48: »Franz Joseph, der von Dezember 1848 bis November 1916 regierte, länger als jeder andere europäische Monarch, wurde zu einer lebenden Verkörperung des Überlebenswillens.« Die Tschechen nannten den Kaiser im Übrigen den alten Procházka,

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starben aus der engsten Familie: sein Sohn Rudolf durch Selbstmord, sein Neffe Franz Ferdinand und seine geliebte Frau Elisabeth, jeweils durch Attentate. Auch in seinem Äußeren ist der Hausbesorger eine Karikatur des Kaisers: Er trägt einen »Franz-Josefs-Bart« (II, S. 23). Mit dem tschechischen Nachnamen hingegen, der zu Kokoschs Sprache passt, könnte sich Canetti auf den Maler Oskar Kokoschka bezogen haben. Von ihm wird berichtet – und auch Canetti erwähnt diese Anekdote in seiner Autobiografie –, er habe in Dresden mit einer lebensgroßen Puppe Alma Mahlers zusammengelebt: »Sie saß im Kaffeehaus neben ihm am Tisch, bekam ihren Kaffee vorgesetzt und wurde später, so hieß es, auch zu Bett gebracht.« (IX, S. 291) Tatsächlich verfährt Kokosch mit seiner Frau wie mit einer Puppe. Seine zurückgebliebene Tochter Pepi – der Name bezeichnet im Wiener Dialekt eine Perücke oder ein Toupet (also ein täuschendes Utensil)68 – gleicht mit ihrem maskenhaften Gesicht, das zu keiner Nachahmung fähig ist69, zudem nicht weniger einer Puppe als die kranke Frau, die einen Totenschädel »trägt« (II, S. 23). Trotz allem ist sein Name keinesfalls richtig im mythischen Sinn. Denn Franzjosef Kokosch ist das Gegenteil eines liebenden Mannes, das Gegenteil auch seiner Frau, die Canetti am Ende einen Satz sagen lässt, der »Liebe in reinster und höchster Form« enthält (X, S. 226).70 Und er ist auch nicht der Herrscher des Hauses, kein Kaiser gleichsam im übertragenen Sinn, sondern er ist ein geiziger Hausbesorger, der Paria im Ensemble der Hochzeit, der in einem engen, düsteren Kabinett haust und eine simple Sprache spricht. Sein Name besitzt – mit seinem Wesen verglichen – ein erkennbar paradoxes Moment. Bereits zu den Überlebenden gehört die Witwe Zart; sie hatte einen hochbetagten Mann geheiratet und ihn bis zum Ende gepflegt. Seit zwei Jahren ist der nun tot, aber er hat an sie gedacht, was zu betonen sie nicht müde wird (II, S. 27 || was weniger auf die wörtliche Bedeutung (»Spaziergang«) anspielt als auf den Nebensinn: »bürgerlich-spießig«, »alter Invalide« und – »Hausmeister«. Vgl. Max Brod: Streitbares Leben. Autobiographie. München: Kindler 1960, S. 121. 68 Vgl. Peter Wehle: Sprechen Sie Wienerisch? Von Adaxl bis Zwutschkerl. Nachdruck der erweiterten und bearbeiteten Neuausgabe aus dem Jahr 1981, Wien: Ueberreuter 2012, S. 75 und 239. Außerdem ist Pepi die Koseform von Josefa. Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 117, Anm. 30. Pepi ist durch diese Nachbenennung eng an ihren Vater gebunden, sie ist gleichsam ohne eigenständige Existenz. 69 Vgl. II, S. 50: »Sie [Pepi] versucht die Gebärden ihrer sterbenden Mutter nachzuahmen, grinst aber unaufhörlich.« 70 Vgl. dazu Der Gegen-Satz zur ›Hochzeit‹ in X, S. 71f. und das Gespräch mit Rudolf Hartung: Der Satz ist »[…] der einzige Satz wirklicher Liebe, der in diesem ganzen furchtbaren Geschehnis, das Sie ja kennen, vorkommt. Und für mich ist dieser Satz das einzig Erlösende an dem ganzen schrecklichen Stück.« (X, S. 238)

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und 30). Ihr Name deutet allerdings nicht auf die Erfahrung des Überlebens hin: Mehrmals bezeichnet sie sich selbst als Mimose und wird von anderen ebenso bezeichnet (II, S. 30, 31 und 68). Als ein besonders verschüchtertes Exemplar dieser Gattung, so der »Idealist« Horch, sei sie unfähig, die Männer zu packen, sie habe deshalb wohl auch keinen Freund, ein Angriff müsse nämlich immer von der Frau ausgehen (II, S. 30). In diesem Zusammenhang verbindet Horch den Namen wie selbstverständlich mit dem Wesen des Benannten: »Aber Sie heißen Zart und sind wie eine Mimose. Nur erzittern Sie schon vor der Berührung.« (II, S. 30) Dieser letzte Satz deutet an, dass die Witwe anders ist, als Horch sie charakterisiert: Sie lässt sich nicht ergreifen, ihr Körper bietet nicht die geringste Angriffsfläche. Johanna, selbst sehr füllig, erkennt in der Witwe das kümmerliche Gegenbild ihrer selbst: »Sie hat keinen Busen, sie hat keine Hüften, sie hat keine Waden, nichts hat sie, was zu einer Frau gehört. Ich hab alles.« (II, S. 27) Doch Horch scheint die Witwe noch aus einem zweiten Grund zu verkennen: Er bemerkt offenbar nicht, dass sie sich zugleich und sehr bewusst mimosenhaft gebärdet, mit dem Ziel, dass ihr Gesprächspartner in die Falle geht. Er soll erst recht versuchen, sich ihr zu nähern und sie zu berühren (II, S. 27). Und so durchschaut Horch, wie es scheint, auch den Annäherungsversuch der Witwe nicht, der seine Einschätzung endgültig als Täuschung erweist. Es ist von hier aus zu verstehen, dass der Mann der Zart sehr eifersüchtig war (II, S. 30). Später, beim Zusammenbruch des Hauses, folgt dann ein zweiter, gar nicht mehr schüchterner Angriff der Witwe; das Opfer ist Schön. Um ihn zu gewinnen, lenkt die Zart seine Augen kokett auf ihre Erscheinung: »Ich bin deine Mimose, Schön.« »Ich zittere wie eine Mimose, Schön.« Schon bald aber fragt sie: »Hast du an mich gedacht, Schön?« Aus der Frage wird schließlich ein Befehl: »Du mußt an mich denken, Schön!« (II, S. 68) Der Wechsel vom Possessiv- zum Personalpronomen entlarvt die Strategie der Witwe. Sie bietet sich Schön nur zum Schein als »deine Mimose« an; in Wahrheit geht es ihr um die Wiederholung ihrer einstigen Erfahrung – und das heißt konkret: ums eigene Überleben und ein Testament zu ihren Gunsten. Wieder soll ein Mann sterben und an sie denken. Der Name Zart und das mimosenhafte Äußere sind ein Lockmittel71, ähnlich dem Gesang der Sirenen. Die Witwe Zart ist eine Machthaberin, die sich als ohnmächtig inszeniert. Weil Schön alle ihre Avancen dennoch abzuwehren weiß, als wäre er wie die Großmutter und sie wie Toni, kann die Zart ihre Maske endgültig fallen lassen: »Schön, du wirst im Grab keine Ruhe haben.« (II, S. 68) Noch im Augenblick des allgemeinen Untergangs wird || 71 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 109: Das Mimosen-Dasein der Witwe sei »Schutz und Koketterie zugleich«.

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sie von ihrer fixen Idee beherrscht: Der Mann wird sterben, sie hingegen wird leben und sich an ihm rächen. Nun spätestens ist klar: Witwe Zart – dieser Name ist genauso antithetisch wie Professor Thut. Überleben wollen auch der Apotheker Gall und Monika, seine Frau, sowie der Sargfabrikant Rosig. Bei Gall stehen die Chancen auf den ersten Blick am schlechtesten, seine Frau beschreibt seinen armseligen Zustand so: »Mein Mann ist zwar noch nicht viel über fünfzig, aber ein ungewöhnlicher Schwächling. Vielleicht stirbt er doch plötzlich an einem Herzschlag.« (II, S. 44) Auch Horch kommt auf Galls Befinden zu sprechen: »Er ist der magerste Mensch, der mir je untergekommen ist. Apotheker sehen gewöhnlich beruhigend gesund aus. Wahrscheinlich stirbt er an der Schwindsucht.« (II, S. 37) Damit gibt Horch den ersten Hinweis auf die Rolle des Namens: Der Apotheker leidet, seinem Namen entsprechend, offenbar an der Galle, was bei Schwindsucht vorkommen kann, allerdings nur selten. Hier scheint demnach etwas nicht zu stimmen. Zunächst stößt der gereizte Rosig gleichwohl in dasselbe Horn: »Reg dich nicht auf mit deiner verkrüppelten Galle. Dir sollte man mal die Galle sauberwaschen.« (II, S. 49) Doch Galls Gesundheitszustand ist mehr Schein als Sein, eine Camouflage, wie auch Monika zu ahnen scheint: »Er hat sie [die Schwindsucht – A.S.] seit Jahren. Aber er stirbt nicht, er wird nie sterben. Er kann nicht sterben. Ich sterbe bestimmt früher.« (II, S. 37) Plötzlich wirkt Gall trotz seiner Krankheit und seines Namens unverletzlich, wie ein Held, der Haufen von Toten um sich sammelt. Und tatsächlich ist er ja ein Verbrecher, ein Giftmörder wie Lucrezia Borgia. Des Profits wegen hat er gegen sein Berufsethos verstoßen und seinen Kunden falsche Arzneimittel ausgehändigt, die sie krank machten, sie bald sterben ließen. Er blieb indessen übrig, ein vielfach Überlebender, und vermehrte mit dem Geld der Getöteten seinen Besitz. Das Verlangen nach dem Überleben ist auch in seinem Kopf, wie bei so vielen Figuren der Hochzeit, eine fatale Verbindung eingegangen mit der Gier nach Geld. Gegen Ende der Hochzeit, als Horch die Anwesenden der Reihe nach fragt, was sie für ihr Liebstes als letztes tun würden, fällt auch bei Gall die Maske, er antwortet: »Ich bring meine Lungen in Sicherheit.« (II, S. 58) Sein Gesundheitszustand ist Täuschung, eine Verstellung, seine Lungen sind in Ordnung und sollen auch nicht Schaden nehmen. Nur so ist zu erklären, dass er auf ihre Sicherheit mehr bedacht ist als auf das Leben seiner jungen Frau. Dazu passt zuletzt denn auch, dass Gall ungeahnte Kräfte entfaltet: Er packt Rosig und Bock, die er zu Verbrechern erklärt, und dekretiert ihre Enthauptung: »Du wirst geköpft! Du wirst auch geköpft!« (II, S. 60) So zeigt Gall, wer er in Wahrheit ist: kein leidender, bedauernswerter Mensch, sondern ein Machthaber, der das Todesurteil, das »Siegel seiner Macht« (III, S. 273),

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benutzt, um mitten im allgemeinen Untergang die Lust des Überlebens zu spüren. Auch sein Name ist zugleich Täuschung und Ausweis einer fixen Idee. In diesem Zusammenhang ist ein letztes Mal auf die Gilz zurückzukommen. Denn in ihrem Namen klingt sehr deutlich ein anderes Organ an: die Milz, die nach humoralpathologischer Lehre die schwarze Galle produziert. Das wirft die Frage auf, ob auch Gall wie Bock eine Korrespondenzfigur der alten Gilz ist. Neben der humoralpathologischen Verknüpfung sprechen dafür die Alliteration ihrer Namen und die Tatsache, dass beide für sterbenskrank gehalten werden, ohne es zu sein. Nach der traditionellen Temperamentenlehre ist eine Überproduktion der schwarzen Galle in der Milz für Melancholie verantwortlich. Doch die Gilz ist keine Melancholikerin. Sie empfindet sich nicht als das »Ereilte und Ergriffene«, sie sieht sich nicht als Beute und spricht nicht wie die Melancholiker davon, »[…] daß sie Aas sehen, daß sie Fleisch sehen, daß sie Tote sehen, daß sie ein Leichnam sind.« (X, S. 182) Im Gegenteil: Sie legt Wert darauf, Toni zu sagen, dass sie noch lebe. Und während der Melancholiker sich davor fürchtet, dass er gegessen werde, hat die Gilz ihren Papagei gerade darauf abgerichtet, dass er sie nicht beißt. Auch in dieser Lesart ist ihr Name paradox. Galls Ich-Fixierung, durch das massenhafte Überleben noch gesteigert, geht soweit, dass er sich selbst von allen am liebsten hat (II, S. 56). Deshalb kann sich Monika, die ihren Mann vor anderen abfällig eine »leere gehässige Stange« (II, S. 43) nennt, über seine Widerstandskraft nicht freuen. Sie fürchtet sogar, er könne sie überleben. Ihr Name, der Name der Mutter des Augustinus, passt nicht zu dieser Furcht, die einmal mehr christliche Moralvorstellungen verkehrt. Davon abgesehen ist es denkbar, dass der Name in einer seiner möglichen Bedeutungen Monikas größten Wunsch verrät. Man kann ihn vom griechischen Wort für eins, »monos«, ableiten und mit »Einsiedlerin« übersetzen.72 Selbst wenn Canetti diese Etymologie nicht kannte (was nicht sehr wahrscheinlich ist), so war ihm doch die Monadenlehre des Gottfried Wilhelm Leibniz geläufig. Schon früh machte er sie sich auf seine Weise zunutze, indem er gleichsam nach dem Vorbild der Monaden eine Reihe von »gegeneinander abgeschlossen[en]« Figuren schuf (VIII, S. 300).73 Eine solche Figur ist auch Monika – und sie will || 72 Vgl. Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Anm. 6), S. 308. 73 Zur Bedeutung der Monadenlehre für Canettis Weltvorstellung vgl. Stefanie WieprechtRoth: »Die Freiheit in der Zeit ist die Überwindung des Todes«. Überleben in der Welt und im unsterblichen Werk. Eine Annäherung an Elias Canetti. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; 478) [zugl. Köln, Univ.-Diss. 2000], S. 60f. Zu den monadenhafte Figuren vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 45; Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 56f.; Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 6 und 159f.: Kiens Bibliothek als Monade.

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noch mehr sein: die Einzige. Im Drama selbst findet sich ein Hinweis darauf, dass diese Deutung nicht abwegig ist. Zu Horch sagt Monika, sie sei »keine gewöhnliche Frau«74, ihr gefalle sein Idealismus, und danach ergänzt sie: »Ich dürfte auch die einzige sein.« (II, S. 36) Auf einem anderen Gebiet zeigt sich hier, dass Monika beansprucht, die einzige zu sein. Diese fixe Idee, auf die ihr Name verweist, wird am Ende scheinbar Realität, als Monika phantasiert, ihr Mann sei tot (II, S. 61). Zwar will sie unter diesem Vorwand aus dem Haus gelangen, doch zugleich verrät der Trick ihren sehnlichsten Wunsch. Nach dem Tod ihres Ehemanns wäre sie die Einzige und besäße die »reichhaltige[] Apotheke« (II, S. 44). Wieder hat das Überleben einen ökonomischen Zweck. In einem der Kernsätze des Stücks formuliert Bock ausdrücklich, dass der Tod in der Welt der Hochzeit stets nur Mittel ist, das Werkzeug der Gier: »Ich möcht wissen, wozu die stirbt.« (II, S. 34 und 31, Hervorhebung – A.S.) In Anbetracht des Namens ist es hingegen eine groteske Pointe, dass Monika während der Hochzeitsfeier von gleich zwei Männern begehrt, ja geradezu belästigt wird. Nicht weniger grotesk, aber zugleich tragisch ist ihr Ende: Von ihrem eigenen Mann, dem angeblichen Schwächling, wird Monika erwürgt (II, S. 62). Sie stirbt als erste; sie wird niemanden überleben, nicht einmal ihren vermeintlich todkranken Ehemann. Die Einzige zu sein – gerade das bleibt Monika verwehrt. Von allen Figuren der Hochzeit hat Rosig als Sargfabrikant am meisten mit dem Tod zu tun: Er bestreitet seinen Lebensunterhalt durch ihn, und nicht erst seit kurzem. Von der Pike auf hat er in dieser Branche gearbeitet, sein beruflicher Werdegang ist eine beklemmende Erfolgsgeschichte75, eine Perversion des American Dream. Zunächst, vor seiner Karriere als Fabrikant, war Rosig acht Jahre lang als Leichenwäscher tätig, was er vehement bestreitet – aber vergeblich: Zu sehr legt seine Sprache Zeugnis von dieser für ihn peinlichen Vergangenheit ab. In einer erstaunlichen Zahl von Kombinationen stiehlt sich das Wort »waschen« in seine Rede, einmal als Adjektiv: »Das ist eine schmutziggewaschene Lüge von dir« (II, S. 55), einmal als Substantiv: »So was Dummgewaschenes wie den Gall gibt es auf der ganzen Welt nicht« (II, S. 43) und mal als

|| 74 Die Figuren der Blendung diffamieren andere Menschen, indem sie sie als gewöhnlich bezeichnen. So möchte Therese nicht länger bei einer »gewöhnlichen Familie« arbeiten und hält sich selbst für alles andere als »Gesindel« (I, S. 25). In den Augen des Hausbesorgers hingegen ist sie ein gewöhnlicher Mensch (I, S. 109). 75 Auch Rosig selbst versteht seine Biografie in diesem Sinne: »Der hat mir in meiner ganzen Praxis Summa summarum fünfhundert Leichen geschickt, davon wär ich nicht geworden, was ich jetzt bin, davon wär ich nicht fett geworden, davon wär ich am Bettelstab verhungert, davon wär ich verdurstet, nicht bloß verhungert. Ich hab ganz andere Lieferanten und Beziehungen. Da hat mir der Gall schon viel mehr vermittelt.« (II, S. 44)

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Verb: »[W]enn du frech wirst, wasch ich dich heute rot morgen tot« (II, S. 55).76 Alle diese Sätze belegen, wie sehr Rosig von seinen einstigen Erfahrungen beherrscht wird, genauer: von einer einzigen, vielfach wiederholten Erfahrung, der Erfahrung des Überlebens. Unzählige Male muss Rosig damals, an der Totenbahre stehend, jene »Kraft des Überlebens« (III, S. 274) in sich gespürt haben, die anderen (nach Canetti) entweder auf dem Schlachtfeld zuteil wird oder bei Hinrichtungen. Von dieser Kraft wünscht sich Rosig seitdem immer mehr, das Überleben ist zur Obsession geworden. Gerade darauf bezieht sich sein Name. Spöttisch nennt Segenreich Rosig einmal »Rosensarg« und »Sargrose« (II, S. 42). So eng diese Begriffe hier auch zusammen rücken, sie bleiben Gegensätze; ihre Verbindung ist ein Oxymoron. Während der Sarg den Tod versinnbildlicht, steht Rose, mit ihrem Anklang an Rosig, bei Canetti nicht etwa, in symbolgeschichtlich häufig belegtem Sinn77, für den Tod, sondern für Kraft und Leben. Eine Anmerkung aus dem Nachlass kann das bestätigen, Canetti beschreibt Rosig dort folgendermaßen: »Dicker, rosiger Sargfabrikant«78. Beide Adjektive charakterisieren ihn als Machthaber. Äußerlich erscheint Rosig wie der Antipode des abgezehrten, schwindsüchtigen Apothekers Gall: ein kräftiger, widerstandsfähiger Mann mit einem frischen, lebendigen, einem rosigen Teint. Während viele sterben werden und viele Särge zu zimmern sind, will Rosig nur eines: leben – überleben. Horch bringt dies in einem Satz auf den Punkt, dessen Metaphorik an Johannas Lieblingswendung erinnert und an die Einverleibung als den Kernvorgang der Macht: »Wer frißt sich an Särgen frisch und rund? Rosig!« (II, S. 56) Auf zweierlei Art wird deutlich, wie sehr Rosig vom Überleben besessen ist. Zum einen hat er als Mitglied des Trios Infernale um Dr. Bock massenhaft Menschen vor ihrer Zeit ums Leben gebracht; es ist die Rede von »fünfhundert Leichen« (II, S. 44). In ebensolcher Zahl hat ihn dieses Verbrechen den »Triumph« des Überlebens spüren lassen. Zum anderen möchte Rosig aber vor allem einen speziellen Menschen unter der Erde sehen: seine 54jährige Frau, die er in aller Öffentlichkeit – die fixe Idee des Waschens auf die Moral übertragend – als

|| 76 Weitere Beispiele: »[W]ie ein weißgewaschener Neger wett ich.« (II, S. 39) »Das ist ein runtergewaschenes Leben.« (II, S. 41) »Du hast dich heute rotgewaschen.« (II, S. 41) »Das ist eine weißgewaschene Lüge von ihm.« (II, S. 44) »Sie kommen sonst in einen schlechtgewaschenen Verdacht.« (II, S. 45) »Ich wasche den Bock von der Monika weg.« (II, S. 58) Donnenberg: Elias Canettis Drama Hochzeit (wie Anm. 8), S. 97 sieht in Rosigs stereotypen Wendungen zu Recht das »Engramm achtjähriger Tätigkeit als Leichenwäscher«. 77 Vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B1, Anm. 59), S. 630. 78 ZB 33.1a, ohne Datum (Kurzschrift).

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»Luder« und »alte Sau« verunglimpft (II, S. 39)79, da sie von ihm die Erfüllung der ehelichen Pflichten erwartet. Gesellschaftlich hat er sie damit schon getötet, und ohnehin verwehrt er ihr die Teilnahme am Leben, die Aktivität. In seiner Wohnung sperrt er sie ein wie in einen Sarg, sie soll schlafen. Das ist auch physisch die Vorwegnahme ihres Todes, den Rosig, wie unter einem Befehl stehend, kaum erwarten kann: »Ich muß meine Alte verscharren.« (II, S. 41 und 56) Rosig ist allerdings kein Misogyn, besonders die junge Monika Gall, die er für das Gegenbild seiner Frau hält, weckt seine Lust. Mit ihr vor Augen versteigt er sich zu einer Äußerung über die Rolle des Mannes an sich, die er sich autosuggestiv zu eigen macht: »Der bockigste Mann ist der anständigste Mann. Der Same des Mannes soll all's fließen, das haben schon die ollen Griechen gesagt.« (II, S. 40) Es könnte sein, dass Rosig auf das berühmte »Panta rhei« des Heraklit anspielt und dadurch seine mangelhafte Bildung ebenso verrät wie seine Sexualfixierung. Der Satz ist aber aus einem anderen Grund wichtiger. Denn in Masse und Macht zählt Canetti die Spermien zu den unsichtbaren Massen (III, S. 52). Der Hinweis ex post auf den fließenden Samen offenbart noch einmal, dass Rosig auf Massen – diesmal lebendige Massen – fixiert ist. Aber zu welchem Zweck? Wie bei allen seinen Gedanken steht auch hier das Überleben im Vordergrund. Denn in Masse und Macht heißt es: Alle diese Samenzellen gehen, sei es auf dem Wege zum Ziel, sei es später in seiner unmittelbaren Nähe, zugrunde. Ein einziger Same dringt in die Eizelle ein. Man kann ihn sehr wohl als den Überlebenden bezeichnen. Er ist sozusagen ihr Führer, und ihm ist gelungen, worauf jeder Führer offen oder heimlich hofft: es ist ihm gelungen, alle, die er geführt hat, zu überleben. (III, S. 291)

Von hier aus wird es bedeutsam, dass Rosig, der so lebenskräftig scheint, offensichtlich an Potenzproblemen leidet. Immerhin wird Monika für ihn zum Objekt der Begierde, weil er sie sexuell – wie er meint – nicht regelmäßig befriedigen müsste. Das jedoch ist eine genauso trügerische Projektion wie die Annahme, Monika sei an allen Stellen des Körpers »fest« und nicht »Brei« wie die eigene Ehefrau (II, S. 39). Nun erst ist auch Rosigs Fixierung ganz zu verstehen: Statt des Zeugungsaktes, der ihm nicht mehr möglich ist, richten sich seine Gedanken auf ein Surrogat: auf den Überlebenskampf nicht zwischen Spermien, sondern zwischen Menschen – einen Kampf, aus dem Rosig als Sieger

|| 79 Diesen Zusammenhang übersieht Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 113f., wenn er unter Bezugnahme auf Freud behauptet, das Wort »waschen« lasse sich mit Rosigs Kraftausdrücken nicht vereinbaren. Es deute wohl auf eine Neurose hin, die in Zusammenhang mit dem sexuellen Versagen beim ehelichen Verkehr stehe.

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hervorzugehen trachtet.80 Sein Anspruch auf Männlichkeit, der sich in seinem Namen manifestiert, und das tatsächliche Sein trennen gleichwohl Welten. Rosig täuscht sich über das eigene Selbst, indem er sich einredet, er verfüge zwar über genügend Manneskraft, wolle sie aber nach Belieben nutzen. Diese Freiheit ist – und das erinnert an Thut – eine Illusion.

2.3 Horch – Verführer, Verderber, Überlebenssüchtiger Wenigstens eine Figur scheint sich von dem Schreckensensemble der Hochzeit, jener Ansammlung von Erbschleichern, Sexsüchtigen und Machthabern angenehm abzuheben: Es ist Horch. Nicht nur heißt es im Nachlass über ihn, er stehe immer in einer Ecke abseits81, von allen Figuren des Stücks unterscheidet er sich außerdem dadurch, dass er über die mit Abstand variabelste Sprache verfügt82. Und mehr noch: Sein Name steht in klarem Gegensatz zum zweiten Verbalnamen des Stücks, dem Namen des selbsterklärten Tatmenschen Professor Thut. Während dieser lediglich sich selbst wichtig nimmt, scheint Horch über seinen Namen auf die übrigen Figuren hingeordnet, auf eine Welt außerhalb seines Kopfes, eine Welt überhaupt jenseits des bloß Materiellen, das Canettis erstes Drama so sehr dominiert. Vor allem die Frauen bezeichnen Horch, dem Personenverzeichnis entsprechend, mehrmals als einen Idealisten (II, S. 31, 36 und 46).83 Und Dr. Bock, immerhin selbst Akademiker, hält ihn sogar für den »einzige[n] gebildete[n] Mensch[en], den ich in meinem Leben kennengelernt habe […].« (II, S. 32) Ohne sich auf diese oder ähnliche Belege zu berufen, behauptet Stefan Strucken in seiner Dissertation, Horchs Name sei eine Aufforderung (an den Leser?), Strömungen und Stimmungen unter den Menschen wahrzunehmen.84 Eine oberflächliche Lektüre bestätigt diese Deutung: Von den Figuren, die sonst || 80 Seine Absichten entlarvt Rosig gegen Ende des Stücks. Plötzlich macht er sich Sorgen um seine Frau, die zu Hause eingeschlossen ist und sich ohne seine Hilfe vor dem Erdbeben nicht retten kann. Doch seine Verstellung hält nicht lange vor, die Maske des liebenden Ehemanns fällt noch, während er spricht: »Die ist kein solches Luder. Ich rette sie. Ich muß mich retten.« (II, S. 60) 81 ZB 33.1a, ohne Datum (Kurzschrift). 82 Vgl. Barnouw: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 136), S. 32. 83 In Die Fackel im Ohr erwähnt Canetti einen »Idealisten«. Es ist Mosche Pijade, der Bruder von Frau Sussin, »ein Revolutionär und Schriftsteller«, der in Belgrad im Gefängnis sitzt. »Schon als Bub zuhause«, erzählt Frau Sussin, »habe er nie gemerkt, wenn er hungrig war, denn er war immer mit seinen Idealen beschäftigt.« (VIII, S. 64f.) 84 Vgl. Strucken: Masse und Macht im fiktionalen Werk von Elias Canetti (wie Anm. 21), S. 236.

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kaum aufeinander hören85, verlangt Horch, inzwischen ›Präsident‹ der Hochzeitsversammlung, dass sie ihm zuhören, er werde ihnen ein Geheimnis verraten: »Hören Sie! Hören Sie! Doch erschrecken sie nicht! In vierzehn Minuten geht die Welt unter.« (II, S. 54) Gleich danach lässt er sie der Reihe nach vortragen, wen sie am liebsten mögen und was sie vor dem Untergang für diesen Menschen täten. Kurzum: Für einen Augenblick sollen sie, sein Vorbild nachahmend, von sich selbst absehen, sollen sie die Grenzen der eigenen Person überschreiten. Dabei zeigt sich erst recht, wie egoistisch die Figuren sind: Es kommt kein einziges Paar zustande, jeder liebt einen anderen und letztlich – wie die Katastrophe enthüllt – doch allein sich selbst; ihre Antworten sind nur weitere Verstellungen im fortwährenden Kampf um die alleinige Macht. Wie wir bereits nachgewiesen haben, verraten Horchs Fragen etwa an Marie und Schön, dass er die Masken und die fixen Ideen zumindest einiger Hochzeitsgäste durchschaut oder besser: erhorcht hat. Demgemäß attestiert Canetti ihm in einer nachgelassenen Notiz, eine »gewisse allgemeine Beobachtungsgabe, die Lust an den Dingen herumzuriechen und die innersten Partien von Menschen zu erhorchen.«86 In diesem Sinne lässt Canetti Bock und Rosig mit einer bekannten Redensart auf Horchs Namen anspielen: Rosig: Da kommt der Horcher an der Wand. Bock: Was hört er? Dem seine eigene Schand! (auf Gall zeigend) (II, S. 40)

Das Drama endet damit, dass durch Horchs wiederkehrende Frage: »Sehen Sie! Hören Sie! Was werden sie für Ihr Liebstes tun?« (II, S. 59–70) die Schande der Figuren auf noch einmal gesteigerte Art offenkundig wird.87 Die Andeutung der Möglichkeit echter Liebe, die in dieser Frage steckt, bildet einen scharfen Kontrast zum Kampf aller gegen alle im Angesicht des Untergangs. Was aber ist mit Horch? Ist er der einzig Klarsehende und Wahrhaftige? Oder täuscht auch er sich, wenn er sich seiner Fähigkeiten so sicher ist, dass er diese Frage an sich selbst sofort beantworten kann: »Wer wuchert mit Worten, wer kennt uns ge|| 85 Vgl. II, S. 51: »Christa: Mama, hörst du nicht? (Packt sie am Arm und redet eindringlich auf sie ein.)« 86 ZB 33.1a, ohne Datum (Kurzschrift). 87 In ihrer Wiederholung zielt die Frage nach Tschopp: Schreckliche Erkenntnis (wie Anm. 20), S. 53 zunehmend auf das Publikum ab. Hans Heinz Holz stellt in seinem Gespräch mit Canetti die These auf, »[…] daß in diesem Stück sozusagen alle Stadien der Uneigentlichkeit des Sprechens, alle Stadien dessen, was Sartre die ›mauvaise foi‹ nennt, angezielt und dargestellt werden […]«. Von hier aus deutet Holz die Frage folgendermaßen: »Damit werden die Menschen nun plötzlich mit einer Frage nach der Echtheit ihres Daseins konfrontiert.« (X, S. 225)

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nau? Horch« (II, S. 56)? Die Formulierung der Frage irritiert, in der Sprache des Idealisten blitzt plötzlich der Jargon der Ökonomie auf. Sollte Horch etwa doch kein Gutmensch sein? Trägt am Ende auch er eine Maske, die sein Geheimnis verbirgt? Ist auch er ein Machthaber, der überleben will, ein heimtückischer Mensch wie Therese in Die Blendung, die ihren eigenen Ehemann bespitzelt, indem sie hinter der Tür horcht88? Die Verben »herumriechen« und »aushorchen«, mit denen Canetti Horchs Verhalten beschreibt, bestärken diese Vermutung. Was ist aber mit dem Anklang des Namens an »gehorchen«? Gehorcht Horch selbst, oder müssen die anderen ihm gehorchen? Auf seinen Idealismus ist Horch nach eigener Aussage stolz (II, S. 36), doch zugleich scheint er nicht einmal zu ahnen, dass die anderen Figuren gerade dort seine Achillesferse sehen. Während er sie aushorcht, haben sie ihn anscheinend längst durchschaut. Dr. Bock meint zu wissen, wie Horch am besten zu täuschen sei, und so gibt er Christa, die den Idealisten in ihr Bett bekommen will, den folgenden Tipp: Dem kann man alles einreden. Greif ihn nur ruhig an, aber sag ihm, daß er ein Idealist ist, im selben Moment. Er läßt alles mit sich machen. Nur reden darf man nichts drüber. Geredet wird über Ideale. (II, S. 32)89

Nach diesen Worten wäre Horch das Gegenteil eines Machthabers – ein Narr, so sehr von seiner fixen Idee besessen, dass die anderen an ihm ihre Verstellungskünste erproben können. Von hier aus gerät Horchs erster Auftritt noch einmal in den Blick. Wie wir festgestellt hatten, scheint Horch die eigentliche Natur der Witwe Zart ebenso wenig durchschaut zu haben wie ihren Flirt. Die Witwe hat dafür eine jetzt kaum noch überraschende Erklärung: »Sie verstehen mich immer falsch, Horch. Sie sind ein Idealist.« (II, S. 31) Das ist Befund und Schmeichelei zugleich. Doch stimmt es denn? Canetti lässt Horch in der Szene direkt reagieren: »Und sie eine Mimose, gnädige Frau. Solange wir uns

|| 88 Vgl. I, S. 74: »Gewöhnlich stand sie hinter der Tür, die zu seinem Schreibtisch führte, und horchte.« Als Kien sie ertappt, ruft sie »frech vor Entsetzen. ›Man klopft, bevor man hereinkommt. Man könnte glauben, ich horche, in meinen Zimmern. Was hab' ich vom Horchen?‹« Auch Groß »horcht hinaus«, weil er wissen will, was der aufmüpfige Grob im Geschäft veranstaltet (Vgl. I, S. 85). Fischerle wiederum horcht unter dem Bett auf die Worte des Mannes, der gerade mit seiner Frau schläft, um herauszubekommen, ob dieser Schach spielt und also ein mögliches Opfer wäre (I, S. 193). Und der Hausbesorger, ein Gewaltmensch, horcht mit seinen »riesigen, dicken Ohren« auf den »zerbrechlichen Schritt der Tochter« (I, S. 403). 89 Horch ist insofern eine Komplementärfigur zur Witwe Zart, die von den Männern berührt wird und sich »Mimose« nennen lässt. Es ist deshalb kein Zufall, dass er seinen ersten Auftritt im Gespräch mit der Witwe hat.

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ferne stehen, passen wir ausgezeichnet zusammen.« (II, S. 31) Spätestens mit diesem Satz geht Horch, der den Figuren sonst so nahe rückt, bewusst auf Abstand.90 Trotz aller Tricks lässt er sich von der Witwe nicht erobern. Die Bezeichnung »Idealist« hat, anders als von Bock kalkuliert, keine Wirkung, sie treibt ihn nicht in die Falle. Der freie Raum, den Horch um sich schafft wie der Machthaber, verhindert, dass die Witwe ihn ergreifen, sich seiner bemächtigen kann. Auch von Monika, seiner zweiten Verehrerin, lässt sich Horch nicht übertölpeln, eine Bemerkung deutet sogar darauf hin, dass er ihre Verstellungstaktik gleich erkennt. Finanziell sei es ihr nie schlechtgegangen, sagt Monika, aber darauf komme es nicht an. Horch kommentiert diese Aussage wie folgt: »Ich glaube, es kommt gerade darauf an.« (II, S. 36) Man kann diesen Satz so verstehen, dass Horch bereits zu diesem Zeitpunkt weiß, was am Ende deutlich werden wird: Auch Monika will Geld. Die reichhaltige Apotheke zu erben – das ist ihr Ziel, alles andere ist Maske. So verdichten sich die Anzeichen, dass auch Horch, nicht anders als die übrigen Figuren der Hochzeit, ein Machthaber ist, ja dass er das verheerende Spiel aus Täuschung und Betrug geradezu meisterhaft beherrscht. Während er heuchlerische Zuschreibungen wie Mimose gezielt einsetzt, um sein Gegenüber besser aushorchen zu können91, fällt er umgekehrt auf ebensolche Zuschreibungen an seine eigene Person nicht herein. Bock täuscht sich also, wenn er annimmt, man könne alles mit ihm machen. Da Horch durchschaut und sich zugleich nicht durchschauen lässt, ist er, mehr noch als Bock, der Prototyp des Machthabers. Diese These lässt sich mit einem Hinweis auf Die Blendung stützen, wo »Horchen« und »Gehorchen« an einer Stelle antithetisch verbunden sind.92 Das aber heißt weiter, dass Horch keinesfalls zu den Idealisten gehört. Auch in diesem Sinne ist sein Kommentar zu verstehen: Geld ist wichtiger als Ideale. Tatsächlich verhält Horch sich ganz anders, als man es von einem Idealisten erwarten wird. Er ist nicht abgehoben oder vergeistigt, sondern den Freu-

|| 90 In seinem Essay Der Neue Karl Kraus diagnostiziert Canetti bei Karl Kraus einen »Hang zur Absonderung« (VI, S. 335). Wenn wir darüber hinaus bedenken, dass Canetti auch Kraus für einen »Horcher« gehalten hat, dessen Ohr jederzeit offen gewesen sei und der die Stimmen der Menschen als akustische Zitate in seine Werke einfügt habe (Karl Kraus, Schule des Widerstands; VI, S. 133–136), dann lässt sich die folgende These aufstellen: Die Idee, eine Figur wie Horch zu entwickeln, beruht auf Canettis Erfahrungen mit Karl Kraus. Sie ist ein Zeugnis für seine Distanzierung von dem einstigen Meister. 91 Vgl. dazu Canettis Kommentar zum Gespräch zwischen Horch und Monika: »[D]a hat Horch … [?] wieder jemand zum Aushorchen.« Zitiert nach ZB 33.1a, ohne Datum (Kurzschrift). 92 Vgl. I, S. 192: »Gehorchen und Horchen war hier [im »Idealen Himmel« – A.S.] für Kien eins. Seitdem der Kleine vom Schach sprach, war er der harmloseste Jude von der Welt.«

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den des Lebens zugetan. Und Ideale? Er kennt sie nicht. Vor der Institution Ehe beispielsweise hat er keinen Respekt, noch während der Hochzeit küsst er heimlich die Braut, mit einer solchen Leidenschaft, dass Christa – sonst nicht eben zimperlich – ihn zur Zurückhaltung ermahnen muss: »Sie küssen zu rasch, küssen Sie langsamer, großer Idealist […].« (II, S. 46) Verräterisch ist in diesem Zusammenhang eine Regieanweisung: Horch kehrt gerade von seinem Rendezvous im Nebenraum in die Gesellschaft zurück und erblickt das weinende Mariechen. Horch tritt ein, sieht sich mißtrauisch um und nestelt an seiner Krawatte. Er sucht den Ursprung der lauten Töne, findet ihn in Mariechen, geht, voller Freude, sofort eine Beschäftigung zu finden, rasch auf die Kleine zu und will sie trösten. (II, S. 47)

Seine Bemühungen um Mariechen dienen der Tarnung, Horch will mit seinem Übereifer vertuschen, was zwischen ihm und Christa geschehen ist. Er nimmt deshalb nicht wirklich Anteil an der scheinbaren Trauer des Mädchens, so wie er sich auch für die übrigen Gäste ohnehin nur insoweit interessiert, als er sie aushorchen, sich ihrer bemächtigen kann. Selbst die Katastrophe bereitet seinem Treiben kein Ende, im Nachlass heißt es – klarer als im publizierten Stück: »Bleiben Sie da, meine Herrschaften, ich flehe Sie an. Ich muss Sie sehen, wenn Sie sterben, ich muss Sie beobachten. Ich muss Sie sehen. Ich muss Sie hören. Schreien sie [sic] ein wenig.«93 Man erlebt Horch hier in einer Doppelrolle: als Überlebender und zusätzlich als Verführer und Verderber der Menschen: »Ich will Sie nicht länger aufhalten, aber hätten Sie mir nicht so lange gehorcht, so wären Sie vielleicht schon gerettet. Sehn Sie, dazu bin ich da auf der Welt, um die Menschen noch im Tod zu behorchen.«94 Für die Deutung seines Namens heißt das: Horch ist, in der Terminologie von Masse und Macht, eine Figur des Umschlags: Sein Name ist als einziger richtig – eine Parallele zu Freund in Die Befristeten. Doch die übrigen Figuren der Hochzeit verdecken die Wahrheit des Namens durch das Etikett »Idealist«. Ihnen gegenüber ist der Name eine Maske, die das Wesen verbirgt, anstatt es zu enthüllen. Horchs Prinzipienlosigkeit enthüllt sich wie bei den anderen Figuren des Stücks vollständig erst gegen Ende des Stücks. Da fragt er zunächst rhetorisch – das Unglück ist noch Gedankenspiel und nicht bereits Realität: »Wer hat da viel Zeit für sich, wer denkt lang an sich, wer weiß noch was von sich, wenn sein

|| 93 ZB 33.1c, ohne Datum (Kurzschrift). Dass Horch Menschen beim Sterben zusehen will, erinnert an den Zwerg aus Canettis früher Erzählung »Wolf«, der Selbstmörder, Gehenkte und Vergaste fotografiert, kurz nachdem sie gestorben sind. 94 Ebd. (Kurzschrift)

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Liebstes dem Tod schon im Maule hängt?« (II, S. 55) Kurze Zeit später, als das Haus zusammenbricht, zeigt sich, dass er, der Idealist, im Katastrophenfall ausschließlich an sich selber denkt; dass er nicht besser ist als die anderen, vor allem nicht besser als Gall, der genauso rücksichtslos und egoistisch aus dem Haus zu fliehen sucht wie er: »Ich küß rasch die Christa, bevor ich mich rette.« (II, S. 58) Hier fällt die Maske auch bei Horch, bei dem die motivische Verschränkung von Verstellung, Verkennung und Entlarvung ihren Höhepunkt erreicht: Er will überleben, der einzige sein. Horch ist somit eine viel negativere Figur als Freund und Fünfzig. Mit Canettis letztem Drama verbindet Hochzeit jedoch, dass die meisten Namen sich gegen den ersten Anschein als trügerisch erweisen. Anders als die Befristeten begreifen die Figuren der Hochzeit ihre Täuschung aber nicht, zumindest nicht in vollem Maße. Sie erkennen und erkennen nicht, sie sind Akteure im ewigen Spiel der Macht, das stets auf dem Ungleichgewicht des Durchschauens beruht (III, S. 346). Um dieses Spiel zu inszenieren und zu entlarven, hat sich Canetti in Hochzeit für paradoxe Namen entschieden – eine Variante der redenden Namen. Auch sie legen das Wesen des Benannten unverrückbar fest: Es ist das genaue Gegenteil dessen, was der Name verheißt.95 Zunächst aber führen sie in die Irre und verwickeln die Zuschauer dadurch so sehr in das Spiel der Macht, dass die Bühne gleichsam mit dem Zuschauerraum verschmilzt. Und trotzdem bleibt sie von ihm getrennt. Der Zuschauer ist den Figuren überlegen, aber er muss sich diese Überlegenheit erarbeiten. Denn die Deutung des je einzelnen Namens ist die Frucht eines Reflexionsprozesses, zu dem die Figuren der Hochzeit zum Teil nicht imstande, zum Teil nicht willens sind. Einige von ihnen durchschauen nicht einmal sich selbst. Das bezeugen vor allem jene Namen, die auf die Wunschvorstellung des Namensträgers, seine fixe Idee von sich selbst, verweisen. Diese paradoxe Namengebung ist literarhistorisch insofern höchst originell, als sie ein geläufiges Verfahren mit Canettis Namensmythologie und seinen erst in Masse und Macht ausformulierten, doch offenbar schon früh entwickelten Theorien über Nachahmung und Verstellung, Ergreifen und Einverleibung, Mutter und Kind verknüpft. Originell ist aber auch, dass einige täuschende Namen hier in gewissem Sinn zugleich richtig sind. Zur Erläuterung dieser These sei auf Canettis Gespräch mit Theodor W. Adorno verwiesen. Canetti hat sich darin gegen den Vorwurf verwahrt, in seiner Massentheorie herrsche »ein gewisser Vorrang des Imaginativen«. Zu diesem Zweck kommt er auf Massen zu sprechen, die er unsichtbar nennt, Teufel, Geister und Bazillen: »Ich || 95 Vgl. Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 48: indirekte Charakterisierung.

Horch – Verführer, Verderber, Überlebenssüchtiger | 259

würde sie aber trotzdem nicht als unreal bezeichnen, denn diese Menschen glauben ja an diese Massen, für sie sind sie etwas durchaus Reales.« (X, S. 144) Diese Aussage lässt sich auf die Namen übertragen, in denen die fixen Ideen ihrer Träger enthalten sind: Auch Imaginationen sind Realitäten, die in einem Namen zum Vorschein kommen können. Selbst wenn er nicht zur objektiven Wirklichkeit, dem Wesen des Benannten passt, so kann er doch dessen Denken und Fühlen widerspiegeln, die subjektive Wirklichkeit. In Canettis Der Ohrenzeuge, mehr als vierzig Jahre später entstanden, sind diese beiden Wirklichkeiten zur Deckung gelangt. Mit Die Befristeten wiederum hat dieses Buch gemein, dass Canetti dort keine Namen im herkömmlichen Sinn verwendet.

3 Der Ohrenzeuge 3.1 Namengebung und Namenänderung In den Aufzeichnungen des Jahres 1970 beschreibt Canetti einen Mann, der die Aufmerksamkeit möglichst vieler Menschen braucht wie die Luft zum Atmen. Jeden Tag durchkämmt er aufgeregt die Zeitungen, immer auf der Suche nach seinem Namen, an dessen öffentlicher Verbreitung er sich geradezu berauscht. »Jedes kleinste, aber auch jedes größte Stück Papier, auf dem sein Name steht, wird aufgehoben.« Deshalb sieht er es auch gar nicht gern, wenn die Menschen sich mit Erdbeben oder Kriegen oder – die Mondlandung liegt noch nicht lange zurück – mit dem Mond beschäftigen statt mit ihm. Nichts soll seinen eigenen Namen überstrahlen, nichts ihn aus dem Rampenlicht verdrängen. An manchen Tagen liest der Mann alles, was er über sich zu Hause archiviert hat, und erfreut sich daran. Am besten gefallen ihm ungewohnte Sätze, die auf niemand anderen passen als auf ihn, oder gleich vollkommen Neues, Nie-da-Gewesenes. Die vielen Komplimente machen ihn, der gegen Kritiker gerne die Todesstrafe verhängen würde, allmählich fetter und fetter; sie blasen ihn förmlich auf. Doch er hat Glück: Von etlichen Frauen wird er wegen dieser Leibesfülle sehr geliebt. Canetti nennt den Mann, der dem eigenen Namen als pars pro toto seiner selbst verfallen ist, »Der Lobsammler« (IV, S. 341). Vier Jahre später erscheint im Hanser-Verlag ein schmaler Band, der aus fünfzig solcher Porträts besteht.1 Er heißt – nach einem von ihnen – Der Ohrenzeuge.2 Die Vollendung, Einreichung und Publikation des Manuskriptes waren für Canetti allerdings bloß ein Einschnitt und kein Abschluss. In den folgenden Jahren notierte er auch weiterhin und meist spontan seine Ideen für Porträts oder Charaktere, wie er selbst sie nannte, in Anlehnung an Theophrast, das gattungshistorische Vorbild. Schon am 10. Oktober 1975 – er schrieb an Die gerettete Zunge – verspürte Canetti »[m]ehr und mehr Lust zu ›Charakteren‹«3. Einige Jahre später ist in seinen Aufzeichnungen erneut zu lesen: »Lust auf neue Charaktere. Böser, merkwürdiger, endgültiger.«4 Der Nachlass dokumen-

|| 1 In mindestens zwanzig der fünfzig Charaktere dieses schmalen Bandes erkannte sich Canetti wieder. Vgl. François Bondy: Canettis Charaktere. In: Weltwoche (26. Juni 1974), zitiert nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 604. Vgl. auch IV, S. 386. 2 Der Ohrenzeuge ist nach Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 213 »ein Konzentrat von Canettis Spracherlebnissen«. 3 ZB 57a. 4 ZB 19, 19. Januar 1982.

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tiert, dass Canetti dieser Lust immer wieder nachgegeben hat – vielleicht, wie Sven Hanuschek vermutet, um sich von der Arbeit an seiner Autobiografie zu erholen.5 Das Nachdenken über weitere Charaktere hätte ihn dann auf eine ganz ähnliche Art von der Konzentration auf ein monumentales Werk entlastet wie das Ventil der Aufzeichnungen während der Arbeit an Masse und Macht. Dafür spricht, dass sich Canetti bis Mitte der 1980er Jahre, also bis zum Abschluss des Augenspiels, über siebzig weitere Charaktere ausgedacht hat und danach sukzessive weniger.6 Die Zahl Fünfzig gewinnt so abermals symbolische Bedeutung. Sie weist über sich selbst hinaus und deutet an, dass die Grenze dieses Werkes fließend, die Auswahl der Charaktere dem Moment geschuldet ist. Entgrenzung prägte das Buch, wie Frieder von Ammon herausgearbeitet hat, auch auf formale Art: Canetti habe zwar etliche Charakter-Porträts entworfen, aber ohne ein ausgeprägtes Gattungsbewusstsein zu besitzen.7 Positiver ausgedrückt: Der Ohrenzeuge war für ihn ein Buch der Freiheit und Befreiung, in dem er assoziieren und experimentieren, sich anders als in seiner Lebensgeschichte ganz der Phantasie überlassen konnte. Von den später entstandenen Charakteren sind nicht viel mehr als ihre Namen bekannt. Nichts ist ausgeführt, nicht einmal angedeutet. Was hat man sich beispielsweise unter dem »Namenmacher« oder dem »Namenbrecher« vorzustellen, zwei Charakteren, die Canetti am 31. Dezember 1980 in den Sinn gekommen waren?8 Und was unter den »Namen-Schwenker[n]« in der Aufzeichnung vom 28. August 19819? Man kann nur spekulieren, dass diese Charaktere, wie schon »Der Lobsammler«, irgendwie mit dem Thema Ruhm zusammenhängen könnten, einem Lebensthema Canettis, und zwar genauer mit jenem Ruhm, der dem Namen als symbolischem Stellvertreter des Benannten zuteilwird. Ob es der eigene oder der Ruhm eines anderen gewesen wäre, lässt sich mit noch weniger Gewissheit sagen. Plausibel scheint die Annahme, dass der »Namenmacher« oder die »Namenschwenker« für die Verbreitung des Ruhms hätten sorgen sollen, nach Art eines Impresarios oder PR-Managers, der »Namenbrecher« hingegen für dessen Zerstörung – dann aber wohl kaum seines eigenen.

|| 5 Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 621. 6 Vgl. ebd., S. 605. Hanuschek nennt einige dieser Charaktere: »Der Verbinder«, »Der kleinste Aufmacher«, »Der Schmerzens-Leugner«, »Die Unverführbare«, »Der Eierklavier«, »Der Erbrochene«, »Der Bessertanz«, »Die Altclown«, »Der Wahnfranz«, »Die Sandselige«. 7 Vgl. Frieder von Ammon: Anthropologischer Heißhunger und homerisches Gelächter. Zu Canettis Der Ohrenzeuge. In: Hanuschek (Hg.): Der Zukunftsfette (wie Einleitung, Anm. 153), S. 137–158, hier S. 151. 8 Vgl. ZB 19. 9 Vgl. ebd.

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Nur in einem Fall hat Canetti mehr als den Namen festgehalten: »Der Zeitschriftenmacher frisst sich durch Berge von Gedanken und freut sich, wenn er das Gegenteil vom Vortag findet. (Charakter, ausführen).«10 Seinem Vorsatz zum Trotz entwickelt Canetti diesen Charakter nicht weiter, ebenso wenig wie all die anderen, die es auf dem Papier zu einem Namen gebracht haben. Der Seitenblick in den Nachlass verrät einiges über Canettis Arbeitsweise. Die Namen sind zuerst da, sie sind am wichtigsten; der Charakter selbst wird zunächst gar nicht entwickelt. Auch für die fünfzig in Der Ohrenzeuge versammelten Charaktere gilt: Sie sind aus ihrem Namen entstanden; er war die Quelle der dichterischen Inspiration. Denn bevor Canetti mit der Ausführung seiner Ideen begann, legte er sich Listen mit Namen an – so wie am 23. Januar 1971. Folgende Namen tauchen darin auf: »Der Hinterbringer«, »Der Höherwechsler«, »Der Bezweifelte«, »Der Kränze-Schinder«, »Der Strahlenreiche«, »Der Hosenhasser«, »Der Fensteröffner«, »Der Schuhmächtige«, »Der Knopfabschneider«, »Der Unterbreiter«, »Die Bitterwicklerin«, »Der Namenlecker«, »Der Wasserhehler«, »Der Wurmzehrer«, »Der Leichenschleicher«, »Die Königskünderin«, »Der Verbitter«, »Der Mutterbüsser«, »Die Bauchbläserin«, »Der Taubbettler«, »Der Ruhm(abschneider)prüfer«, »Die Unterbrecherin«, »Der Verdachtsäufer«, »Der Samenzähler«, »Die Tischtuchtolle«, »Der Speichelsammler«, »Der Ohrenstopfer«, »Der Hausküsser«, »Der Briefeinsammler«, »Die Verjüngerin«, »Der Schatzvisitant«, »Der Engelkenner«, »Die Lustdiebin«, »Der Heiratsstörer«, »Der Küchenidealist«.11 Die meisten der hier genannten Charaktere nahm Canetti später in Der Ohrenzeuge auf, manche kamen über den Namen indes erneut nicht hinaus. Für einige schließlich wie den »Ohrenstopfer« (»Ohrenzeuge«), vielleicht auch den »Hausküsser« (»Heimbeißer«), fand Canetti während der Arbeit an seinem Buch neue Namen. Und so entstanden etliche Listen mit vielen Namen und gelegentlichen Änderungen, ehe Der Ohrenzeuge abgeschlossen war.12 Die Namengebung dieser Charaktere orientiert sich an einem Grundsatz, den Canetti im Hinblick auf »Die Mannsprächtige« formuliert hat. Es handelt sich um eine heiß begehrte, doch unnahbare Schönheit, die entrückt wie eine antike Venus auf ihrem Sockel steht: »Im Privatleben heißt sie Frau Achselglanz, wann war je ein Name so angemessen.« (II, S. 270) Angemessene Namen – wie ein

|| 10 Vgl. ZB 19, 30. August 1981. 11 Vgl. ZB 57a. 12 Längere Listen legt Canetti z.B. am 5. und 10. Dezember 1972, am 5. und 6. Januar 1973, am 13. Dezember 1973, am 5. und 10. Februar 1974, am 10. Oktober 1975, am 26. März 1976 und am 8. November 1982 an.

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phantasievoller Spitzname bezeichnen sie das spezifische Merkmal des Charakters13, in die Terminologie von Masse und Macht übertragen: seinen ›Knotenpunkt‹. Sie täuschen nicht. Angemessen heißt nun aber wie gesagt nicht, dass Canetti seine Charaktere erst im Nachhinein benannt hätte. Das Gegenteil ist wahr: Ohne einen Namen konnte er nicht beginnen. Die Namengebung half ihm – wie im Kapitel zu Die Blendung noch genauer zu zeigen ist – seine Einbildungskraft, die Freiheit der unendlich vielen Möglichkeiten gewinnbringend einzuschränken. Und so überrascht es nicht, dass er sich mit den Namen große Mühe gab, manche verwarf und manche korrigierte. Dieses Wechselspiel zwischen Name und Charakter ist ein schöpferischer Prozess, ein gegenseitiges Anmessen, mit dem Ziel, ein Werk zu schaffen, in dem Name und Träger so vollkommen zueinander passen wie im Mythos. Da die Namen in Der Ohrenzeuge stets aus einem Artikel und einem Nomen bestehen, kommen für eine Änderung zwei Stellen in Betracht – allerdings auf je verschiedene Weise. Beim Artikel ist die Variationsbereite auf drei Möglichkeiten beschränkt, beim Nomen dagegen ist sie riesig. Aus dem Nachlass wissen wir, dass Canetti den Artikel, also das Geschlecht des Charakters, nur in wenigen Fällen zur Disposition gestellt hat; es ist zumeist unveränderlich. Am 5. Dezember 1973 hingegen dachte er daran, »Die Geworfene« in »Der Geworfene« umzubenennen. Drei Tage später, am 10. Dezember, entschied er sich für »Die Geworfene«14 – und dabei blieb es. Aus »Der Habundgut« wurde »Die Habundgut«15; aus »Dem Archäokrat« »Die Archäokratin«16. Diese Änderungen zu ausnahmslos weiblichen Charakteren lassen sich nicht etwa damit erklären, dass Canetti für sein Buch ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen angestrebt hätte. In Der Ohrenzeuge ist die Zahl der weiblichen Charaktere (21) noch immer deutlich geringer als die der männlichen (29). Über die Motive seiner Änderungen lassen sich, da entsprechende Aussagen fehlen, nur einige (begründete) Vermutungen anstellen: Bei »Die Geworfene« könnte die Passivität – es handelt sich ja um ein Partizip Perfekt Passiv – für die Namensänderung von Bedeutung gewesen sein. Vielleicht passte sie in Canettis Augen nicht zu den übrigen Männern, die er fast immer in Aktion, nicht selten als Helden und

|| 13 Vgl. ZB 20, 1. Februar 1983 (Hervorhebung im Original): »Namen: Spitznamen nach Eigenheiten: Plattnase, Dünner Oberschenkel, Langgenick, die Wollhaarige, der mit fehlerhaftem Nabel, die ins Bächlein Gefallene, die Träne. Gusinde heisst ›Bildfänger[‹] (weil er fotografiert).« 14 Vgl. ZB 57a. 15 Vgl. ZB 57a, 2. Februar 1974. 16 Vgl. ZB 57a, 13. Dezember 1973.

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Sieger zeigte.17 Bei »Die Habundgut« dürfte zudem eine Rolle gespielt haben, dass sie sich antipodisch zu einem anderen weiblichen Charakter des Ohrenzeugen verhält, und zwar zu »Die Selbstschenkerin«, der sie aber wiederum an einer Stelle verblüffend ähnelt: in ihrer Fixierung auf den Besitz.18 Die Änderung des Genus hätte dann vielleicht den Sinn gehabt, auf diese parallele und zugleich antithetische Korrespondenz hinzuweisen. Bei »Die Archäokratin« schließlich mag Canetti auf den Effekt der ungewöhnlichen Endung abgezielt haben. Die weibliche Form ist auch bei ähnlichen Begriffen wie Demokrat oder Aristokrat nicht verbreitet. So wird das ohnehin schon fremde Wort »Archäokratin« noch ein wenig fremder. Weitaus zahlreicher sind die Beispiele, in denen Canetti das Nomen verändert, den eigentlichen Namen des Charakters. Sehr oft kehrt er nach einer Phase des Experimentierens jedoch wieder zum einstigen Namen zurück. So scheint ihm »Die Müde«, die sich in der obigen Liste noch nicht unter den Charakteren findet, einen besseren Namen zu verdienen; er will sie »Die Müdeste« nennen, dann »Die Abermüde« oder »Die Immermüde«.19 Zu guter Letzt, nach einigen Tagen des Überlegens, rückt er von allen diesen Möglichkeiten ab und nennt den Charakter wie am Anfang: »Die Müde«. Ein ähnlicher Fall ist »Die Versuchte«, sie bringt es sogar zu einer noch größeren Zahl von alternativen Namen – letztlich ebenso folgenlos: »Die Nichtsoeine« (»Die Nicht-so-eine«), »Die Belästigte (die

|| 17 Tatsächlich sind alle weiteren Partizip Perfekt Passiv-Namen in Der Ohrenzeuge weiblich (»Die Versuchte«, »Die Verblümte«, »Die Geworfene«, »Die Erfundene«) – mit einer Ausnahme: »Der Vermachte«. Doch auch dieser Charakter, der zum Besitzstand einer Familie gehört, zeichnet sich dadurch aus, dass man ihn benutzt: »Der Vermachte hat immer dort gelebt, wo man ihn gebraucht hat und will auch weiterhin gebraucht bleiben.« (II, S. 297) 18 Immer wieder lassen sich zwischen den Charakteren Korrespondenzen feststellen, sei es, was die Ausrichtung ihrer Fixierung, sei es, was konkrete Details anbelangt. So gehören etwa »Der Namenlecker«, »Der Ruhmprüfer« und »Der Heroszupfer« und »Der Größenforscher« zusammen, weil es ihnen auf die Erhöhung der eigenen Person ankommt. Sie alle sind Machthaber, die niemanden, schon gar nicht eine Berühmtheit, neben sich dulden können und wollen. »Die Pferdedunkle« hingegen lebt, ihrem Namen entsprechend, genauso in der Dunkelheit wie »Die Sternklare«, die ihre Tage an »dunklen Orten« verbringt (II, S. 306 und 327). »Die Versuchte« schließlich schaut niemanden an, aber aus einem anderen Grund als »Der Blinde«, der seine Augen für seine eigentliche Wirklichkeit, die Fotos, schonen möchte: Sie fühlt sich von Männern verfolgt, will aber mit ihnen nichts zu tun haben (II, S. 258 und 309). Nach diesem Muster könnte man alle Charaktere des Ohrenzeugen, je nach Korrespondenz, in verschiedene Gruppen einteilen. Indem Canetti sie gerade nicht in Gruppen anordnet, betont er ihre Isolierung. 19 Vgl. ZB 57a, 5. Januar 1973 (Hervorhebung im Original): »Müdeste? Immermüde (besserer Name, aber in der Sache richtig)«. Siehe auch ZB 57a, 13. Dezember 1973.

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Verfolgte)«, »Die Aufreizende«.20 Keinen Bestand haben auch die Namen »Siebenwisser« für »Der Papiersäufer«, »Der Jammerprotz« bzw. »Der Seufzerkoch« für »Der Leidverweser21 und »Herospflücker« statt Heroszupfer«22. Canetti verwirft diese Namen nicht erst nach einer längeren Phase der Reflexion, sondern auf der Stelle. Auch »Der Unglücksfrische«, ein alternativer Name für »Der Schadenfrische«, gefällt ihm nicht.23 Für den »Geruchlose[n]« kommen Canetti erneut mehrere Namen in den Kopf: »Deodorator« und »Der Deodorant«.24 Im publizierten Band heißt dieser Charakter dagegen, kryptischer, »Der Geruchschmale.« So wie er tragen am Ende auch »Die Türkensüchtige«25 und »Die Zurücknehmerin« bzw. »Die Zurückholerin«26 einen neuen Namen; aus ihnen sind »Die Sultansüchtige« und »Die Selbstschenkerin« geworden. Wer auch hier nach den Gründen für die Umbenennungen fragt, muss sich vor einer schnellen und summarischen Antwort hüten. Jeder Fall ist einzeln zu prüfen. Schauen wir uns exemplarisch drei der endgültigen Namen etwas genauer an: »Die Tischtuchtolle«, »Der Leichenschleicher« und »Die Mondkusine«. Sofort fällt ins Auge, dass Canetti diese Namen aus je zwei Wörtern zusammensetzt. Nur im letzten Fall gehören sie derselben Wortart an. Bei den meisten Charakteren in Der Ohrenzeuge ist das anders: Ihre beiden Bestandteile stammen aus verschiedenen Wortarten. Damit dürfte klar sein, warum Canetti aus dem eingliedrigen Namen »Die Müde« vorübergehend »Die Immermüde« zu machen beabsichtigte: Es hätte besser zu den übrigen Namen gepasst. In einem Gespräch mit Alfred Holzinger erläutert Canetti, weshalb er in seinem Buch nach Möglichkeit solche zweigliedrigen Namen verwendet hat: »Man kann durch Wortzusammensetzungen – wie ich es zum Beispiel bei den Charakteren jetzt versucht habe – Dinge machen, die man englisch schwer kann oder französisch noch weniger.«27 Mit anderen Worten: Canetti wollte in Der Ohrenzeuge die Variabilität der deutschen Sprache nutzen, um ungewöhnliche Namen zu

|| 20 ZB 57a, 12. April 1974. Auch für den Charakter »Die Schuldige« hat Canetti mit mehreren Namen experimentiert, ohne einen besseren zu finden. Die Alternativen sind: »Die Überschuldige«, »Die Aberschuldige«, »Die Unschuldige«. Vgl. ZB 57a, 1. Februar 1974. 21 ZB 57a, 23. März 1974. 22 ZB 57a, 30. März 1974. 23 ZB 57a, 2. Februar 1974. 24 ZB 57a, 6. Januar 1973. 25 ZB 57a, 1. Februar 1974. 26 ZB 57a, 4. Februar 1971. Am 7. Dezember 1972 überlegt Canetti, sie »Die Eigenschenkerin« zu nennen. 27 Elias Canetti im Gespräch mit Alfred Holzinger. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 4), S. 9–15, hier S. 14.

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schaffen. Die meisten der bisher genannten Namen sind in der Tat alles andere als alltäglich. Es sind literarische Namen, z.B. onomatopoetische Namen wie »Der Leichenschleicher«28. Vor allem aber sind es verfremdete Neologismen29, vergleichbar den Namen »Polstersack«, »Teufelskammer«, »Schabenloch« und »Fallinsstroh« in Heinrich Wittenwilers Der Ring, nur nicht annähernd so derb und komisch.30 Aber warum dann doch »Die Müde«? Diese Frage ist im Hinblick auf »Die Müdeste« leicht zu beantworten. Es wäre der einzige Superlativ im gesamten Buch gewesen, eine Ausnahme, die Canetti offenbar nicht erwünscht war. Und die »Immermüde«? Wieso nicht dieser originelle Name? Nun, originell ist auch der Name »Die Müde«, allerdings auf seine Weise. Selbst alltägliche Bezeichnungen wie »Der Blinde« stehen in Der Ohrenzeuge nämlich für Neues. Canetti verwendet sie nicht in ihrer herkömmlichen Bedeutung, er konterkariert die Erwartungen des Lesers, die sich aus dem Namen assoziativ ergeben.31 So ist »Der Blinde« gar nicht blind, aber er sieht dennoch nichts von der Welt, weil er nur Fotos, die tote und nicht die lebendige Natur studiert. Er ist blind für Bewegungen und Veränderungen, mit einem Wort: für Verwandlung. Und »Die Müde«? Sie ist zwar tatsächlich müde, doch man darf sie deshalb nicht unterschätzen. Ihre Müdigkeit ist wie eine Maske, die sie bei Bedarf fallen lässt.32 Kaum läuft es in ihrem Restaurant nicht rund, so fährt sie hoch, kreischt und »[…] keift und keift unermüdlich weiter.« (II, S. 311) Auf diese heftige Gefühlsaufwallung,

|| 28 Zum »Leichenschleicher« vgl. Beda Allemann: Elias Canetti – Ein Ohrenzeuge. In: Hüter der Verwandlung (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 237–244, hier S. 239. 29 Vgl. dazu auch Ammon: Anthropologischer Heißhunger und homerisches Gelächter (wie Anm. 7), S. 142 und Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 187f. 30 Es handelt sich hierbei um die »bösen Nachbarn aus den Dörfern Nissingen, Säurensdorf und Rotzingen«, die »[…] ihr alle entsprechend ihren Namen beurteilen [sollt].« Die Zitate sind der folgenden Ausgabe entnommen: Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wiessner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hg. von Horst Brunner. Stuttgart: Reclam 1991 (RUB; 8749), S. 308ff. Ganz allgemein zur Namengebung im Ring vgl. Bruno Boesch: Die Namenwelt in Wittenwilers Der Ring und seiner Quelle. In: Rudolf Schützeichel und Matthias Zender (Hg.): Namenforschung. Festschrift für Adolf Bach zum 75. Geburtstag: Heidelberg: Winter 1965, S. 127–159. 31 Dazu auch Ammon: Anthropologischer Heißhunger und homerisches Gelächter (wie Anm. 7), S. 142. Ein weiteres Beispiel wäre »Der Verlierer«. Der Name bezeichnet keinen gesellschaftlichen Paria, sondern einen Mann, der möglichst viele Gegenstände verliert. 32 In Der Ohrenzeuge ist »Der Tückenfänger« auf die Demaskierung spezialisiert: »Der Tückenfänger sieht um Ecken herum und läßt sich nicht täuschen. Er weiß, was sich hinter harmlosen Masken versteckt, wie der Blitz fällt ihm ein, was einer von ihm will und bevor die Maske von selber fällt, reißt er sie rasch entschlossen herunter.« (II, S. 299)

Namengebung und Namenänderung | 267

die den Namen für einen Augenblick zu einer Lüge macht, folgt in einer genauen Verkehrung die Ernüchterung: die Müdigkeit. Es ist anzunehmen, dass Canetti keine Veranlassung mehr sah, den Namen durch einen Neologismus zu ersetzen, nachdem er den Charakter zu Ende gedacht hatte. Gegen die vertraute Bedeutung der Bezeichnung, die »Tyrannei festgefahrener Bahnen«, setzte er kurzerhand das Fremde, Merkwürdige, eine bislang unbekannte Bahn. Das gilt auch für »Die Versuchte«, die in ihrem Wahn, alle Männer seien ihr verfallen, entfernt an Therese aus Die Blendung erinnert, auch wenn sie die Versucher lieber ohrfeigt als sich von ihnen umschmeicheln lässt. Der Leser mag auch diesen Charakter aus dem eigenen Leben zu kennen vermeinen; er sieht sich aber rasch verunsichert – hier durch die radikale Typisierung, die den Namen mit einem neuen Inhalt erfüllt33, in anderen Fällen durch den nie gehörten Namen. Das trifft nicht zuletzt auf »Der Schadenfrische« zu, in dessen Namen Canetti auf die vertraute Sprachwendung von einem frischen Schaden anspielt. Die Möglichkeit einer solchen Anspielung mag ihn bewogen haben, den zweiten Namen »Der Unglücksfrische« zu verwerfen, obwohl in der Charakterskizze wiederholt von »Unglück« die Rede ist. »Der Schadenfrische« ist aber auf ein bestimmtes, ein materiell-physisches Unglück aus. Am liebsten, lieber noch als Krankheiten, hat er Unfälle mit schweren Verletzungen: »An den Unfällen der anderen weicht er dem aus, was ihn selber bedrohen könnte.« (II, S. 272) Der Zweitbestandteil des Namens gewinnt so einen ungewöhnlichen Sinn: Während die Welt und die Menschen ins Unglück stürzen, bleibt der Schadensfrische unverletzt und in gesteigertem Maße lebendig – ein Held, so wie Canetti ihn in Masse und Macht beschreibt (III, S. 268ff.). Für den Namen »Der Schadenfrische« mag zudem gesprochen haben, dass Canetti in Der Ohrenzeuge einen anderen Charakter auftreten lässt, den er »Die Schadhafte« nennt (II, S. 301f.). Sie ist mit dem Schadenfrischen insofern verwandt, als auch ihr Denken und Handeln permanent um Schäden kreist. Aber sie berauscht sich nicht an fremden Schäden, sondern sie sucht nach Fehlern an sich selbst. Ihre Aggressivität kehrt sich, anders als bei ihrem männlichen Pendant, gegen sie selbst; deshalb auch der Anklang an das Wort Schamhaftigkeit. Die bisherigen Einblicke in Canettis Namengebungsverfahren ermöglichen es, auch die verbliebenen Änderungen zu erklären. Bei »Der Jammerprotz« und »Der Seufzerkoch« – ein Name, der in der publizierten Charakterskizze sogar noch auftaucht – handelt es sich genauso um Neologismen wie beim endgülti-

|| 33 Nach Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 189f. erwartet der Leser allein schon aufgrund der zumeist ungewöhnlichen Namen des Ohrenzeugen auch von Namen wie »Der Blinde« oder »Die Müde« eine »gewisse sinnverfremdende Funktion«.

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gen Namen »Der Leidverweser«. Von allen dreien könnte Canetti dieser am besten gefallen haben, weil der Begriff »Leid« semantisch umfassender ist als »Jammer« und »Seufzer« und weniger auf die Gefühlsäußerung eines einzelnen Subjekts verweist. Wie wichtig das universale Moment gerade für diesen Charakter ist, verrät bereits der erste Satz: »Der Leidverweser hat einiges gesehen und alles Leid der Welt nicht ohne Grund für sich gepachtet.« (II, S. 336) Das globale »Leid« wird hier auf extreme Weise subjektiv eingegrenzt. Der Charakter sammelt das Leid der Welt, um sich vor Augen zu führen, dass nichts ihm etwas anzuhaben vermag. Im zweiten, doppeldeutigen Bestandteil des Namens klingt sogar das größte Leid an, der Tod, den der »Leidverweser« in vielfacher Form erlebte und – besiegte: als einziger Überlebender aus Pompeji und der Titanic, als derjenige, dem alle Frauen, Kinder, Enkel und Urenkel gestorben sind. Diese wiederholte Erfahrung des Überlebens, nach der er nicht weniger süchtig ist als »Der Schadensfrische« oder die hohen Namen in Die Befristeten oder Bock, Gall und Rosig in Hochzeit, macht ihn hartherzig: Er kann sich nicht in die Leidenden hineinversetzen, sondern verwaltet (verwest) fremdes Leid aus eigensüchtigen Motiven. Umkehrt verhält es sich mit dem Namen »Die Türkensüchtige«: Er ist zu allgemein und deutet nur schemenhaft an, dass es dieser Frau auf die Nähe des Mächtigsten ankommt – man denke etwa an Muhammad Tughlak, den grausamen Sultan von Delhi, von dem Canetti in Masse und Macht erzählt (III, S. 503–515). Dieser Mächtigste der Mächtigen, so die idée fixe der »Sultansüchtigen«, soll sich ihr, der selbsternannten Personifikation der Weiblichkeit, allein widmen, bis zu ihrem endgültigen Triumph: Ihr gemeinsamer Sohn soll seine Stiefbrüder töten, die Söhne der anderen Haremsdamen, und schließlich auch den Vater (II, S. 317f.). Diesen Sieg soll er weniger für sich als für sie, die Mutter, erringen, die sich durch die mangelnde Aufmerksamkeit des Sultans und die anderen Frauen seines Harems zurückgesetzt fühlt. Der Name »Heroszupfer« zielt auf eine ähnliche Umkehrung des Machtverhältnisses ab: Man stellt sich ein Kind vor, das am Heros zupft wie an der Hose des Vaters – was der Heroszupfer auch wirklich tut (II, S. 329). Doch er träumt davon, dass die Machtverhältnisse ganz auf den Kopf gestellt werden – im wörtlichen Sinne: »Der Heroszupfer« möchte sich hinaufschwingen und dem Denkmal des Großen auf den Kopf spucken. Diese Umkehrung wäre durch den Namen »Herospflücker« andeutend vorweggenommen. Da das Pflücken eine stärkere Form des Ergreifens und also der Bemächtigung ist als das Zupfen, könnte man ahnen, worauf die Charakterskizze hinausläuft; der Überraschungseffekt wäre dahin. Die Selbstschenkerin schließlich ist, auch was ihre Namensänderung anbelangt, ein paradigmatischer Charakter. Sie, die in anderen sich selbst beschenkt, verkörpert

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vielleicht am besten den Egoismus aller Charaktere des Ohrenzeugen. Deshalb steht zu vermuten, dass Canetti die beiden Namen »Die Zurückholerin« und »Die Zurücknehmerin« nicht von ungefähr zugunsten eines Namens verworfen hat, in dem das Reflexivpronomen enthalten ist. Darin liegt auch ein Vorteil gegenüber dem gleichfalls erwogenen Namen »Die Eigenschenkerin«. Die radikale Selbstbezüglichkeit des Charakters ist dem Namen abzulesen. Von ihm, wie übrigens von sämtlichen Namen des Ohrenzeugen, hoffte Canetti, sie mögen »zu einem Bestandteil der Sprache werden, so sehr, dass man den Autor darüber vergisst«.34

3.2 Vergleich mit Theophrast Die eminente Bedeutung der Namen für die Genese der fünfzig Charaktere, die sich in den genannten Änderungen niederschlägt, hat zwei Gründe. Canetti selbst gibt einen Fingerzeig auf den ersten Grund. In einem kurzen Kommentar, der die Schallplattenhülle einer seiner Lesungen aus Der Ohrenzeuge ziert, heißt es: Über einen einzelnen Menschen, wie er wirklich ist, ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Auch damit wäre er nicht erschöpft und käme man mit ihm nie zu Ende. Geht man aber dem nach, wie man über einen Menschen denkt, wie man ihn heraufbeschwört, wie man ihn im Gedächtnis behält, so kommt man auf ein viel einfacheres Bild: es sind einige wenige Eigenschaften, durch die er auffällt und sich besonders von anderen unterscheidet. Diese Eigenschaften übertreibt man sich auf Kosten der übrigen und sobald man sie einmal beim Namen genannt hat, spielen sie in der Erinnerung eine entscheidende Rolle. Sie sind, was sich einem am tiefsten eingeprägt hat, sie sind der Charakter […]. Wie viele Tiere, erscheinen die Charaktere vom Aussterben bedroht. Aber in Wirklichkeit wimmelt die Welt von ihnen, man braucht sie nur zu erfinden, um sie zu sehen. Ob sie bösartig sind oder komisch, es ist besser, daß sie nicht von der Erdoberfläche verschwinden.35

Canetti geht von der Wirklichkeit aus: von konkreten Menschen. Er beobachtet sie und hört ihnen zu – fast wie Horch; er stellt fest, welches ihre genuine und hervorstechende Eigenschaft ist, und gibt ihr einen Namen. Zum einen ist der Name also der Wirklichkeit abgeschaut und in der Tat schon da, bevor Canetti mit dem Schreiben beginnt. Doch zum anderen gehört er in die Welt der Dichtung. Dazu zwei Beispiele: Einen Charakter namens »Der Bartzwerg« ver-

|| 34 ZB 57a, 10. Oktober 1975. 35 Zitiert nach Barnouw: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 136), S. 106 und Göbel: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 153), S. 130.

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sieht Canetti in Klammern mit dem erläuternden Zusatz »Twrdy«.36 Er bezieht sich damit auf einen seiner Gymnasialprofessoren aus der Züricher Zeit – einen, wie es in Die gerettete Zunge heißt, »breite[n], bärtige[n] Zwerg«, der sich auf eine respekteinflößende Art über den Bart strich (VII, S. 130). An anderer Stelle erwähnt Canetti den Namen eines weiteren Charakters, »Der Mitleidskrumme«, und fügt hinzu: Er sei es selbst.37 Auch diese beiden Namen sind Neologismen. Sie zeigen, dass die Benennung der hauptsächlichen Eigenschaft des Charakters keine bloße Diagnose ist, sondern mehr als das: Die Wirklichkeit wird im doppelten Hegelschen Sinne aufgehoben. Indem der Name Anteil hat sowohl an der Literatur als auch am Leben, ist er eine Brücke, die Synthese zwischen diesen beiden Welten. In der Literatur, zumal in der Satire, ist die Brückenfunktion des Namens nichts Neues oder Ungewöhnliches: Auch Theophrast, von dem Canetti den Terminus »Charaktere« übernahm38, hatte typische Eigenschaften seiner Athe|| 36 Vgl. ZB 57a, 4. Dezember 1973. 37 Vgl. ZB 57a, 26. März 1976. Ein Charakter kann aber auch aus mehreren, einander ähnlichen Individuen gemischt sein, die Canetti persönlich kannte. Seine Erfahrungen mit dem Pariser Onkel Josef Canetti, einem fanatischen Fotografen, sind wahrscheinlich in den Charakter des »Blinden« ebenso eingeflossen wie die Erinnerungen an den Wiener Kommilitonen Franz Sieghart. Denn beide litten unter derselben fixen Idee: Sie waren süchtig nach Fotos. Der Onkel zeigte sich sogar davon überzeugt, dass nichts schöner sei, als denselben Menschen ständig zu fotografieren. In seiner jungen Frau, einer 18jährigen Pariserin, fand er das geeignete Objekt; von ihr besaß er Hunderte Fotos. Vgl. ZB 222, Unpubliziertes Kapitel »Besuche: Der Sänger heiratet.« Dazu Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm 3), S. 75. Über eine ähnlich hohe Anzahl an Aufnahmen – Aufnahmen von vielen Frauen – verfügte Franz Sieghart. Wie »Der Blinde« wollte auch er von Zeit zu Zeit die Fotos der anderen sehen, um zu beweisen, dass er noch immer die meisten Aufnahmen besitze. 38 Canetti hat in Erwägung gezogen, seine Sammlung »Der neue Theophrast« zu nennen. Siehe ZB 57a, 5. Dezember 1972. Der Vorabdruck einiger Charaktere in der Süddeutschen Zeitung trug diesen Titel noch. Siehe Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 602. Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden mit einem anderen kanonischen Text der Gattung, La Bruyères Die Charaktere, vgl. Adrian Stevens: Aufzeichnungen, Menschen und Fragmente. Zur Poetik der Charakterdarstellung bei Canetti, Aubrey und La Bruyère. In: Stieg und Valentin (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen« (wie Einleitung, Anm. 10), S. 207–224. Stevens weist auf ein weiteres Vorbild hin: John Aubreys Brief Lives – ein Buch, das Canetti tatsächlich gelesen hat. Vgl. dazu IV, S. 417: »Was er über Menschen verzeichnete, war immer ein Beginn, er ließ Platz für mehr, das später dazukommen konnte. Es blieb vielleicht bei einem Satz oder es wurden ihrer hundert, jeder gab etwas Konkretes und Merkwürdiges weiter. Was heute von jedem Dummkopf als Anekdote verächtlich gemacht wird, war Aubreys Reichtum.« Nicht überzeugend ist m.E. die These von Carol Petersen: Elias Canetti. Berlin: Colloquium 1990 (Köpfe des 20. Jahrhunderts; 114), S. 75, dass es Parallelen zwischen Der Ohrenzeuge und dem »Geist« der Galgenlieder Christian Morgensterns gebe. Petersen vergleicht Morgensterns »Zwölferl« und

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ner Landsleute zu den Namen seiner Charaktere gemacht. So trifft man in seinem Buch auf den Kleinlichen, der bei einem Gelage den Weinkonsum seiner Freunde überwacht, oder auf den Abergläubischen, der keinem Leichenzug begegnen kann, ohne sich nicht sofort mit Tempelwasser zu reinigen und bis zum Abend ein Lorbeerblatt im Mund zu behalten.39 Während Theophrast aber schlichte und durchsichtige Namen für seine Charaktere wählte, »Der Schmeichler«, »Der Flegel«, »Der Eitle« – Namen, die den psychischen Fehler klar bezeichnen –, setzt Canetti wie gesehen zumeist auf ungewöhnliche, auch befremdliche Namen, unter denen man sich auf Anhieb nichts vorzustellen weiß. Wer nämlich käme auf die Idee, dass »Die Tischtuchtolle« eine Ordnungsfanatikerin ist, »Der Leichenschleicher« ein begeisterter Besucher von Begräbnissen und »Die Mondkusine« eine Frau, die überall auf Verwandte stößt, sogar auf dem Mond? Rezeptionsästhetisch betrachtet, sollen solche Neologismen den Charakter zwar festlegen, aber zugleich den Leser neugierig machen. Sie sollen über sich selbst hinausweisen auf das Porträt des Charakters, ohne das man den Namen nicht verstehen kann. Poetologisch betrachtet, prägt hier die Konzeption des Grundeinfalls auch die Namengebung: Canetti greift nicht auf altbewährte, gattungserprobte Muster zurück, er erschafft völlig neue Charaktere.40 Im Unterschied zu Theophrast besitzt die Namengebung bei Canetti aber eine noch weitreichendere, anthropologische Bedeutung. So wie »Die Geworfene« immer der Treue den höchsten Wert beimisst (II, S. 332), bleibt sich in diesem || das »Nasobem« mit Canettis Kunstfiguren und kommt zu dem Ergebnis, dass sich in beiden Fällen eine strenge Komik zeige, »gepaart mit einer alles unterliegenden Menschlichkeit, jedoch auch bei Canetti nicht ganz ohne eine gewisse Zivilisationsskepsis und -schwermut.« Konkrete Belege für seine These bleibt Petersen schuldig. Zum Unterschied zwischen Canettis Komposita und Morgensterns Wortkombinationen vgl. Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 277: Während Morgenstern eine unwirkliche Welt aus der Wirklichkeit erschaffe, entwerfe Canetti eine »[…] sprachliche Eigenwelt, die sich selbst als Wirklichkeit erweisen soll.« 39 Vgl. Theophrast: Charaktere. Griechisch und Deutsch. Übersetzt und hg. von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2000 (RUB; 619), S. 29f. und 40f. 40 Die Namen weisen also auf die Literarizität der Figuren hin. Vgl. Ammon: Anthropologischer Heißhunger und homerisches Gelächter (wie Anm. 7), S. 142. Dieselbe Meinung vertritt Rudolf Hartung: Der Ohrenzeuge. Elias Canettis »Fünfzig Charaktere«. In: Ders.: Ein Rezipient und sein Autor. Eine Dokumentation. Hg. von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 1992 (Gesammelte Werke), S. 127–132, hier S. 130, wobei er vor allem die Unterschiede zu Theophrasts Charakteren betont. Für seine Sammlung hat Canetti übrigens kurzzeitig den Titel »Die Ungewohnten« in Erwägung gezogen. Vgl. ZB 57a, 22. März 1974. Das Wort »Grundeinfall« versteht Canetti in einem engen Sinn: Es seien »[…] die Grundideen, von denen die Dramen ausgehen.« (X, S. 235)

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Buch jeder Charakter gleich. Niemand verfügt über die (nach Canetti) grundlegendste menschliche Fähigkeit: die Fähigkeit zur Verwandlung, Die Charaktere wirken geradezu unmenschlich. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass Canetti zeitweise mit dem Gedanken spielte, seiner Sammlung den Titel »Unmenschen« zu geben.41 Bei sehr vielen Charakteren wird diese mangelnde Verwandlungsfähigkeit eigens angesprochen, und zwar sowohl in Bezug auf sie selbst als auch auf andere Menschen oder Dinge: »Der Unterbreiter« ist bereits »fix und fertig aus seiner Tasche […] ins Leben gesprungen«, er wird nicht älter, »weil er nie jünger war« (II, S. 253). Ähnlich ergeht es dem »Papiersäufer«, der nicht zu altern scheint: »Mit 17 sah er schon aus wie jetzt mit 47.« (II, S. 307) Auch »Der Wortfrühe hat sich noch nie geändert, denn es bleibt nichts an ihm hängen« (II, S. 282); Der »Saus und Braus«, der unablässig durch die Welt reist42, verspielt in ähnlicher Weise jede Chance zur Verwandlung: Er findet die Menschen »überall gleich« (II, S. 291). »Der Tückenfänger« ist zu Differenzierungen genauso wenig imstande, er erkennt, hierin ganz dem Typus des Machthabers entsprechend, in jedem Schuft immer denselben, nur in je anderen Verkleidungen (II, S. 300); »Der Schönheitsmolch« findet das Schöne immer schön (II, S. 268); »Die Schadhafte« wiederum, die ihre Haut nach Fehlern absucht, weiß: »Was sie einmal gefunden hat, das ändert sich nie, das bleibt und läßt sich immer finden.« (II, S. 301) Und der Gottprotz, ein Religionsfanatiker, meint, der Mensch brauche auf die wichtigen Fragen seines Lebens eine klare und gleichbleibende Antwort; er liest deshalb nur das »Buch der Bücher« (II, S. 321). »Der Papiersäufer« dagegen liest zwar Unmengen von Büchern, bleibt sich aber gleich, egal wie viel er liest (II, S. 307). Wohin man also schaut – überall Erstarrung. Darin erinnert Der

|| 41 Canetti hat diesen Titel erwogen, bevor er sich für Der Ohrenzeuge entschied. Vgl. ZB 57a, 22. März 1974. Zum Unterschied zwischen Theophrasts und Canettis Charakteren vgl. auch Mechthild Curtius: Einkreisung der Wirklichkeit. Die Rolle der extremen Charaktere für Canettis Dichtung. In: Literatur und Kritik 10 (1975), H. 93, S. 176–182, hier S. 179: »Theophrast malt Menschen mit Untugenden, Schrullen, Schwächen, die aber nicht geeignet sind, das gesamte Kommunikationsgefüge der so Gezeichneten und ihrer Gesellschaft zu sprengen. Die ›Entfremdung des Menschen von dem Menschen‹ hat bei ihm noch nicht stattgefunden. Die Menschlichkeit der theophrastschen Typen wird bestenfalls beeinträchtigt, nicht aber aufgehoben.« 42 Gerade Charaktere, die immer wieder auf Reisen gehen, wirken in Der Ohrenzeuge merkwürdig statisch. Den »Schönheitsmolch« trifft man niemals unterwegs an, obwohl er ständig reist, und »Der Leichenschleicher«, der ebenfalls häufig reist, verrät nicht, wo er gerade war (II, S. 268 und 265). »Der Ohrenzeuge« versteht sich sogar aufs plötzliche Verschwinden, so sehr, dass man glauben könnte, er sei überhaupt nie da gewesen (II, S. 286).

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Ohrenzeuge an Die Befristeten43 und – zumindest teilweise – an Hochzeit. Denn auch diese Erstarrung beruht auf der Herrschaft einer je individuellen fixen Idee, die sich im Namen offenbart. Doch hier ist es, anders als in den beiden bereits untersuchten Werken, keine Täuschung, sondern eine faktische Herrschaft der Idee über den Menschen, der durch seinen Namen in allen seinen Lebensäußerungen streng determiniert ist. Eine paradigmatische Figur ist in dieser Hinsicht »Der Demutsahne«: »Er ist der Überzeugung, daß der Mensch fürs Unvermeidliche da ist: eben das ist es, was ihn von den Tieren unterscheidet. Sie wissen nichts, immer sind sie auf der Flucht, als ob sie ihrem Schicksal entrinnen könnten.« (II, S. 315) Mit dem Namen, der der Charakterskizze wie eine Überschrift vorangestellt ist, wird in Der Ohrenzeuge fünfzigmal angezeigt, dass der poetische Kosmos hier, ähnlich wie im Mythos, dem Schicksal – oder besser: der fixen Idee eines Schicksals unterworfen ist. Was daraus literarisch entsteht, ist nun nicht – wie noch bei Theophrast – ein Durchschnittsmensch mit einem hervorstechenden Charakterfehler, sondern ein extremer Typus, eine groteske Figur44, jenen acht Irren ähnlich, die der junge Canetti 1929/30 für die geplante »Comédie Humaine an Irren« entworfen hatte. Nicht zufällig taucht das Adjektiv »toll« als einziges Wort in gleich zwei Namen auf: »Die Tischtuchtolle« und »Die Mannstolle«. Alle Charaktere des Ohrenzeugen sind mit ihren fixen Ideen geradeso wahnsinnig wie die Insassen der Irrenanstalt Steinhof, die Canetti beim Schreiben der Blendung vor Augen hatte. Ihren eigenen, engen Gesichtskreis vermögen sie nicht zu verlassen, da sie sich gegen (andere als die erwünschten) Einflüsse abgeschottet haben. Insofern gleichen sie dem »Papiersäufer«, dessen Äußeres Canetti wie folgt beschreibt: »Der Papiersäufer sieht wie ein Kasten aus, der sich nie geöffnet hat, um nichts zu verlieren.« (II, S. 307)45 Selbst »Die Sternklare«, von der man nicht weiß, wo || 43 Wie in Die Befristeten kommt auch in Der Ohrenzeuge dem Wissen der Charaktere eine besondere Bedeutung zu. Dass »Der Höherwechsler« der Meinung ist, er wüsste mehr als andere (II, S. 260), dass »Die Königskünderin« und »Der Ohrenzeuge« nichts vergessen können (II, S. 251 und 286), dass »Der Höherwechsler« ein »undurchlässiges Gedächtnis« besitzt (II, S. 260) – all das macht deutlich: Auch sie sind unfähig zu Verwandlungen, die auf das Nicht-Wissen und das Vergessen-Können angewiesen sind. 44 Dagmar Barnouw: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 136), S. 106 zitiert einen Brief vom 1. November 1978, in dem Canetti schreibt, dass die Charaktere des Ohrenzeugen am ehesten an Gogols Figuren erinnern. Vgl. dazu auch X, S. 341: »Die Charaktere des ›Ohrenzeugen‹ verdanken Gogol viel mehr als den griechischen ›Charakteren‹ von Theophrastos, was nur wenige Kritiker bemerkt haben.« 45 Physiognomisch schlägt sich die Kastenform auch bei »Die Tischtuchtolle« nieder: Sie hat eckige Augen (II, S. 278). Ob sich Canetti bei der Arbeit von Messerschmidts Charakterköpfen inspirieren ließ, die er im Barockmuseum des Unteren Belvedere gesehen haben könnte, wie

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sie beginnt und wo sie aufhört, »[…] wünscht sich das Verschlossene, auf das schwaches und geprüftes Licht fällt.« (II, S. 327) Ihre Faszination gilt deshalb, neben dem unendlichen Sternenhimmel und wie zum Ausgleich, den »[…] Kristalle[n], die nicht zu öffnen sind.« (II, S. 327)

3.3 Namen als Distanzlasten Die Verschlossenheit, mit Masse und Macht gesprochen: die Berührungsfurcht der Charaktere, zeigt sich sehr deutlich, wann immer sie sich außer Haus begeben. »Der Verschlepper« geht allen Menschen aus dem Weg, die irgendwelche verdrängten Erinnerungen in ihm wachrufen könnten (II, S. 313). »Die Selbstschenkerin« betritt zwar fremde Häuser, aber nur, weil sie dort ein Geschenk von sich, also einen Teil ihrer selbst, zu finden hofft (II, S. 254). Auf das Unbekannte lässt sie sich genauso wenig ein wie »Die Mondkusine« oder »Die Habundgut«, die mit ihren Nachbarn keinen Kontakt pflegt, da diese ihr nur die Schwelle abnutzen (II, S. 263). Auch »Die Granitpflegerin« hält ihre Türe geschlossen, kein Mann kommt ihr über die Schwelle (II, S. 323). Die Schwellen, die Canetti in Marrakesch aus Interesse an den Einheimischen häufig überschritten hatte, bleiben in Der Ohrenzeuge zumeist unberührt, ein unüberwindliches Hindernis zwischen den Charakteren. »Die Geruchsschmale« wagt es allerdings, eine fremde Schwelle zu überschreiten, doch mit äußerster Vorsicht, und »[d]ie Türe, durch die sie sich retten könnte, bleibt weit offen.« (II, S. 261) Sie, die sich sonst auf Distanz hält, verfügt sogar über eine regelrechte »Isolierschicht«, die jede Berührung verhindert. »Die Schadhafte« hätte gerne eine solche Isolierschicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt daher der Haut, der physischen Grenze ihrer Person, die sie sich intakt wünscht und systematisch auf Schäden hin untersucht (II, S. 301). Auch andere Charaktere des Ohrenzeugen bleiben auf sich konzentriert: »Die Verblümte« und »Die Archäokratin« wohnen beide allein (II, S. 321 und 304), »Der Heimbeißer« sucht ein Zimmer, in dem er allein sein kann (II, S. 295), »Die Mannsprächtige« glaubt sich – wie alles Vollkommene – zum Alleinsein verurteilt (II, S. 271), »Die Pferdedunkle« muss in Dunkelheit leben, ohne Menschen in ihrer Nähe (II, S. 306), »Die Sultansüchtige« sperrt sich im Harem ein (II, S. 318), »Der Maestro« hat auf seinen Reisen ein »Sonderabteil für sich« (II, S. 330), und auch »Der Mannstolle« versteht sich gut

|| Ammon: Anthropologischer Heißhunger und homerisches Gelächter (wie Anm 7), S. 140 behauptet, ist nicht zu beweisen; es bleibt (vorerst noch) Spekulation.

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darauf, allein zu sein (II, S. 334).46 Die Erfundene ist sogar »unerreichbar« (II, S. 338). »Der Schönheitsmolch« wiederum sieht derart hässlich aus mit seinen Glotzaugen, seinen Henkelohren und seinem Kropf, dass niemand mit ihm zu tun haben möchte; der pestilenzartige Gestank seiner verfaulten Zähne hält ohnedies jeden auf Abstand (II, S. 269). Darüber hinaus achtet er darauf, niemandem die Hand zu reichen, wie auch »Die Bitterwicklerin«, die obendrein in keine Wohnungen geht und keinem Manne traut (II, S. 289). Zum Händedruck ist »Die Verblümte« zwar grundsätzlich bereit, doch auch sie achtet auf Abstand: Ihre Handschuhe zieht sie niemals aus (II, S. 319). Bezeichnenderweise kommen Hände in Der Ohrenzeuge auch im Kampf zum Einsatz. Für zwei Charaktere spielt das Boxen eine besondere Rolle: »Die Granitpflegerin«, deren Vorliebe für das Steinharte auf »Die Sternklare« vorausweist, möchte, dass ihre Kinder das Boxen lernen und keinen »harmlosen Sport« (II, S. 323). Und »Der Mannstolle« machte die für ihn fundamentale Erfahrung als Zuschauer bei einem Boxkampf: Der Mensch braucht Waffen. Mit ihnen lässt sich besser töten als mit bloßen Händen (II, S. 334). Die Distanz zur Umwelt, in der die Charaktere des Ohrenzeugen leben, betrifft auch ihre Sprache.47 Während es dem »Fehlredner« meistens gelingt, unverstanden zu bleiben (II, S. 277), hat »Der Saus und Braus« seine ganz eigene Sprache (II, S. 291). Auch »Die Pferdedunkle« möchte nicht verstehen und nicht verstanden werden. Worte empfindet sie – die beiden Motive Stein und Schlagen werden nun verbunden – als »[…] rohe und gezielte Formeln, die ihr wie harte, kleine Steine aufs Gesicht prasseln und es verletzen.« (II, S. 305) Extreme Distanz auch auf der Ebene der Gefühle: Die »Begräbnisgelüste[]« des »Leichenschleichers« (II, S. 265), die unstillbare Sucht des »Schadenfrischen« nach Unglück, seinem »Manna des Himmels« (II, S. 272), die Mitleidlosigkeit und die scharfen Urteile der Granitpflegerin, die sich selbst die Nächste ist (II, S. 323) – all das erinnert an die emotionale Kälte der Befristeten. Man könnte deshalb – mit Blick auf »Die Silbenreine«, der es nicht darauf ankommt, was gesagt, sondern dass es »rein« gesagt wird – von einer Reinheit der Charaktere sprechen. Sie bleiben wie die Worte der »Silbenreinen« »klar umrissen« und »unvermischt« (II, S. 284), das Gegenteil einer Masse. Nicht von ungefähr achtet »Die Tischtuchtol|| 46 Wendelin Schmidt-Dengler: Ganz nah und dicht beisammen. Zum Ohrenzeugen. In: Aspetsberger und Stieg (Hg.): Blendung als Lebensform (wie Einleitung, Anm. 140), S. 80–87, hier S. 82 weist bereits darauf hin, dass fast jeder Charakter des Ohrenzeugen einen Raum für sich allein habe – so wie der Tränenwärmer das Kino. 47 Vgl. dazu Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 255: Die Charaktere des Ohrenzeugen versuchen, Gesprächssituationen zu vermeiden, ja sie sind zu einer funktionierenden Kommunikation überhaupt nicht in der Lage.

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le« – selbst blütenweiß – auf jeden Schmutzfleck (ein Pendant zu »Der Schadenfrische«). Findet sie einen, so fängt sie wie wild zu waschen an. Die alte Ordnung wird wiederherstellt, oder wie es in parodierender Anspielung auf die biblische Schöpfungserzählung heißt: »Da geht es zu wie vor Erschaffung der Geschöpfe. Da wird Licht und Finsternis getrennt.« (II, S. 279) Das ist mehr als nur Ironie. Es zeigt, dass sich »Die Tischtuchtolle« wie alle Charaktere des Ohrenzeugen so absolut setzt wie Gott48, ja dass sie sich selber eine Welt nach ihren Vorstellungen schafft. Für die Reinheit der Charaktere, die grundsätzliche Begrenztheit, sorgen in Der Ohrenzeuge die Namen. Zugleich gehören sie – einmal mehr – zu den Distanzlasten. Einen Hinweis darauf gibt eine Bemerkung in »Die Habundgut«; sie lässt sich auf einer metapoetischen Ebene lesen. »Die Habundgut« ist, ähnlich sehr vielen Charakteren des Buches49, besessen von ihrem Besitz, den sie – wie sich selbst – von anderen fernzuhalten sucht. Sie hasst es, wenn ihr Geld schmutzig wird, es soll immer sauber bleiben. Um sich an ihrem Besitz zu erfreuen, legt sie die blitzblanken Scheine manchmal »einzeln nebeneinander auf den Tisch, wie eine zahlreiche, sittsame Familie und gibt ihnen Namen.« (II, S. 263) Nichts anderes geschieht in Der Ohrenzeuge. Das Buch ist, gleichsam in travestierter aristotelischer Manier, ein Schachtelsystem aus »reinen« Charakteren, bei dem jede der fünfzig Schachteln den Namen desjenigen trägt, der darin zu finden ist. Ein anderer Vergleich drängt sich ebenso sehr auf: Der Ohrenzeuge als Fotoalbum. Denn auch »Der Blinde« legt seine Fotos nebeneinander – wie »Die Habundgut« ihre Scheine. Und wenn alles beisammen ist, »[…] gleich klein, gleich groß, immer viereckig, ordentlich, abgeschnitten, benannt, numeriert, bewiesen und vorgezeigt, dann sieht man's auf alle Fälle besser.« (II, S. 258) Da die Namen den Charakter fixieren wie der Fotograf den Augenblick, ist der Bestand des Systems gewährleistet. Wie »Die Schadhafte« lebt jeder Charakter ausschließlich für die »eigene Wahrheit«. Was Canetti für seine mehrbändige »Comédie Humaine an Irren« plante und letztlich doch nicht umsetzte: die Begegnung der verschiedenen Charaktere – das ist in Der Ohrenzeuge von

|| 48 Sehr zu Recht stellt Edgar Piel: Mikroskopie der Angst. Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. In: Patillo-Hess und Smole (Hg.): Canettis Aufstand gegen Macht und Tod (wie Kapitel A8, Anm. 50), S. 108–118, hier S. 111 fest: »Der Gottprotz ist in Canettis Gesamtwerk fast überall mit von der Partie.« 49 Vgl. dazu »Die Selbstschenkerin«, die sich ihren Besitz zurückholt: »›Meine Teekanne!‹ sagt sie und nimmt sie an sich. ›Mein Schal! Meine Blumen! Meine Bluse!‹« (II, S. 254) Im Gegenzug fürchtet sich »Der Wasserhehler« vor Einbrechern, die ihm das Wasser rauben (II, S. 280). »Der Leidverweser« schließlich betrachtet seine Leiderfahrungen als Besitz und geht gegen »Räuber« vor, die sie ihm entwenden wollen (II, S. 337).

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vorneherein ausgeschlossen. Jede Skizze wartet mit einem neuen Namen auf, der danach nicht mehr auftaucht. In nicht unbedeutendem Maße tragen Hierarchien zu dieser Trennung bei. Schon »Die Königskünderin«, mit der Canetti seinen Band nicht zufällig beginnt, hat »etwas Hoheitsvolles«. Sie ist verrückt nach Rangordnungen, verachtet Bettler und bejubelt Könige, selbst wenn diese inzwischen zu Bettlern geworden sind (II, S. 251). In »Der Namenlecker«, der folgenden und bereits sehr früh entworfenen Charakterskizze50, ist diese Rangordnung – wie in Die Befristeten – abermals an Namen geknüpft. Es sind prominente Namen, stellvertretend wieder für ihre Träger, die es dem »Namenlecker« so sehr angetan haben wie dem Lobsammler der eigene Name. Sobald ein Name erst einmal in aller Munde und aus den Zeitungen nicht mehr wegzudenken ist, wird das »Gelüste« des »Namenleckers« bald unwiderstehlich. Er möchte unbedingt in die Nähe dieses Namens kommen, er möchte ihn, den Berühmten, erkunden wie einst – so der in Der Ohrenzeuge gezogene Vergleich! – die reisenden Gelehrten, in genauer Umkehrung, den Nordpol erforschten: das Fremde und Unbekannte. Deshalb nimmt er alles Geld und reist dem Namen hinterher – voller Zuversicht, dass seine Mission gelingen wird. Denn er weiß: »Es schmeichelt Namen, daß man aus Lust nach ihnen verdursten könnte, die ganze große Welt eine Wüste und sie der einzige Brunnen.« (II, S. 252) Und tatsächlich: Er hat Erfolg. Er wird, wie erhofft, zu dem großen Namen vorgelassen und kann seine Lust befriedigen. Er nähert sich unverschämt und packt den Namen. Wenn er ihn lange und gründlich abgeleckt hat, fotografiert er ihn. Zu sagen hat er nichts, vielleicht stottert er etwas, das wie Verehrung klingt, aber niemand fällt ihm darauf herein, man weiß, daß es ihm nur auf Eines ankommt, die Berührung seiner Zunge. »Mit dieser eigenen Zunge« verkündet er später, streckt sie heraus und nimmt eine Ehrfurcht entgegen, wie sie noch keinem Namen je zuteil wurde. (II, S. 252)

»Der Namenlecker« ist kein Hund, der den Namen ableckt wie sein Herrchen, weil er ihm zugetan ist. Er ist gierig und auf sich fixiert. Die Passage schildert insofern nichts anderes als eine Bemächtigung, die nur einen einzigen Zweck verfolgt: die Umkehrung der Machtverhältnisse, den Sieg des Einzelnen über alle Übrigen.51 Bei »Der Heroszupfer« und »Die Sultansüchtige« ist uns || 50 Vgl. ZB 57a, 23. Januar 1972. 51 Für einige Charaktere ist »Sieg« das Schlüsselwort ihrer Existenz. »Der Mannstolle« schreit bereits bei seinem ersten Boxkampf voller Begeisterung für den Sieger und verlegt sich später aufs Töten. Er rüstet mit seinen Millionen eine Söldnertruppe aus, die er in den Krieg schickt, und zwar vornehmlich dorthin, wo es beste Aussichten auf einen Sieg gibt. Sein Weltbild ist sozialdarwinistisch: »Solange es Männer gibt, die ihren Namen verdienen, werden sie aufei-

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diese Umkehrung schon begegnet. Wie diese beiden, wie überhaupt jeder Machthaber setzt »Der Namenlecker« seine Kräfte ein, um sich von der Masse abzusetzen und der Einzige zu sein.52 Sein »Gelüste« ist kein Zeichen der Verehrung oder Demut, es dient der späteren Erhöhung seiner selbst.53 Insofern erinnert es an die Begräbnisgelüste des »Leichenschleichers«, der sich seines Triumphs über die Toten so oft versichern muss wie »Der Namenlecker« seines Triumphs über die großen Namen. Beide aber wollen dasselbe: lebendig bleiben, ebenso wie »Der Gottprotz«, um den herum Tausende gefallen sind, während er, der Überlebende, noch immer lebt und atmet (II, S. 321). Und tatsächlich wächst »Der Namenlecker«, der sich bald mehr bewundern lässt, als dass er selbst bewundert, den großen Namen im letzten Satz des Porträts über den Kopf. Da es auf ihn ankommt, sollen sie seinen Ruhm bekräftigen und vermehren. Das zeigt: Selbst wenn es in Der Ohrenzeuge zu einer Überschreitung der Grenzen, zu einem Kontakt zwischen den Menschen kommt, dann geschieht das im Zeichen der fixen Idee, die jedes gleichberechtigte Miteinander verhindert. So hören wir von der »Tischtuchtollen«: »[I]hre Raserei kennt keine Grenzen.« (II, S. 278) Die Entgrenzung ist allein dem Wahn vorbehalten. Canetti schneidet damit in seinem Buch früh ein Thema an, das leitmotivisch an vielen Stellen wiederkehrt, sei es im Charakter des »Maestroso«, der sich »Anbeter« sammelt, sei es in »Der Ohrenzeuge« selbst, der als »der Henker persönlich« darauf aus ist, die Menschen durch ihre eigenen Worte »ans Messer zu liefern« (II, S. 287). Es ist jenes Thema, das ihn einen Großteil seines Lebens beschäftigte: Masse und Macht. Ähnlich dem »Namenlecker«, schaffen sich viele Charaktere des Ohrenzeugen, um ihre Macht zu steigern, eine ihrem Wahn entsprechende Masse. Da ist etwa »Der Wasserhehler«, der für eine eventuelle Notzeit eine Unmenge von Wasserflaschen hortet (II, S. 280f.). »Der Papiersäufer« wiederum, an dieser Stelle ein Zwilling des »Namenleckers«, »[…] bewundert Leute, die ihn zum Übertreffen reizen [,] und wirft sie, übertroffen, zum

|| nander losschlagen. Das weiß man doch, daß es zuviel Menschen gibt, und Männer sind dazu da, die überflüssigen zu beseitigen.« (II, S. 335) 52 Ganz Machthaberin, möchte auch »Die Schuldige« die Einzige sein. Denn sie hält sich für den einzig klarblickenden Menschen (II, S. 275). 53 Eine solche Erhöhung aus der Erniedrigung heraus ist auch bei »Die Schuldige« zu beobachten. Sie nimmt zwar alle Schuld der Welt auf sich, möchte die Strafe für ihre eingebildeten Missetaten aber »hocherhobenen Hauptes« entgegennehmen (II, S. 275). Umgekehrt verhält es sich bei »Der Größenforscher«: Er glaubt, »persönlich das Zeug zum Genie« zu haben, entschließt sich jedoch zu einem (wie er meint) »härteren Dienst« (II, S. 326). Er prüft und begrenzt die Zahl der Genies und schweigt über die eigene Genialität, die weniger eine Tatsache als seine persönliche Überzeugung ist.

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alten Eisen.« (II, S. 308) Aufschlussreich ist auch »Der Unterbreiter«, die dritte Charakterskizze: »Zwar sucht er immer Namen, aber er will sie ganz, wen er einmal in der Tasche hat, der soll auch darin bleiben.« (II. S. 253) Auch »Der Ohrenzeuge« »steckt« sich die Worte, die er hört, sofort ein. Von daher lässt sich erklären, warum Canetti den zweiten Charakter den »Namenlecker« nennt. Die Berührung mit der Zunge markiert den Moment, dem nach Masse und Macht die Furcht des Menschen gilt, das délir de toucher. Es ist der Moment der Grenzüberschreitung, des Ergreifens, vergleichbar dem Zuschnappen des Tieres, das sich – wie der »Der Unterbreiter« und »Der Ohrenzeuge« – seine Beute aneignet. Dass »Der Namenlecker« die Namen zwar berührt und schmeckt, auf den letzten Schritt, die Einverleibung, aber verzichtet, steigert seine Macht über die scheinbar Mächtigeren, die großen Namen.54 Im Alter von zwei Jahren hatte Canetti eine vergleichbare Bemächtigung am eigenen Leib erfahren. Der maskenhaft lächelnde Mann, der in Karlsbad aus dem gegenüberliegenden Haus zu ihm kam, hatte jeden Tag von neuem das Messer an seine Zunge gelegt und sich damit seines Sprechvermögens bemächtigt. Hier wird nun umgekehrt die Zunge zum Instrument einer Bemächtigung – so wie in Die Fackel im Ohr bei Thomas Marek, der mit der Zunge die Seiten seiner Bücher umblättert. Als ›Eingeweide der Macht‹ hat die Zunge dieselbe Funktion wie der Finger, den »Der Blinde« auf seine Masse, die Fotos, legt, oder der Daumen und der Zeigefinger, mit denen »Der Ruhmprüfer« einen Namen packt, ihn sich zwischen die Zähne steckt und auf ihn beißt (II, S. 266).55 Indem nicht wenige Charaktere des Ohrenzeugen für das Überleben ihrer Person, ihres Namens und ihres Wahns kämpfen, zerstören sie die Namen anderer und scharen dergestalt eine namenlose Masse um sich. Sie selbst lassen sich aber nicht ergreifen, »Der Ohrenzeuge« bleibt »unberührt und abwesend« (II, S. 286). Als wäre es ein Kommentar dazu, ist in Masse und Macht zu lesen: Aller freie Raum, den der Machthaber um sich schafft, dient dieser zweiten Tendenz. Jeder, auch der niedrigste sucht zu verhindern, daß man ihm zu nahe kommt. Wo immer eine Form des Zusammenlebens sich zwischen Menschen etabliert hat, drückt sie sich in Abständen aus, die ihnen diese unablässige Angst des Gepackt- und Ergriffenwerdens benehmen. (III, S. 242)

|| 54 Auch »Die Archäokratin« ist, hierin ganz Machthaberin, auf Beute aus. Mit ihrer ›Wünschelrute im Herzen‹ sucht sie nach Fundstücken, die Jahrtausende in der Erde lagen. Sie möchte nämlich die erste sein, die nach ihnen greift und sie berührt (II, S. 303f.). 55 Zu den Zähnen vgl. III, S. 242. Vgl. dazu auch eine bezeichnende Bemerkung über die Frühgeburt des »Mannstollen«, des brutalsten Machthabers in Der Ohrenzeuge: »Als er dann endlich viel zu früh erschien, biß er sie, bevor er Zähne hatte.« (II, S. 334)

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Im letzten Charakter des Bandes kehrt die Verknüpfung von Macht und Name wieder. »Der Nimmermuß« weiß sich jeder Bemächtigung zu entziehen, da sein Name – es werden Erinnerungen an Odysseus' »Niemand« und Fünfzigs »Niemals« wach – eine klare Verneinung enthält. Wie Canetti, sein Schöpfer, und ganz anders als die übrigen Charaktere bewegt er sich ungezwungen umher, in Rösselsprüngen, befreit von der Last der Befehle, deren Stacheln er sich sogleich zu entledigen weiß. Überall ist er fremd, auch lebt er in völliger Ungebundenheit, ohne eine feste Adresse, unter der man ihn erreichen könnte (II, S. 339).56 »Der Nimmermuß hat endlich seinen Namen abgelegt und läßt sich nicht mehr nennen. Auf seinem Schachbrett springt er listig und leicht davon und niemand kann ihn rufen.« (II, S. 340) So endet das Buch, in dem Namen eine immense Bedeutung haben, in der Namenlosigkeit, sprich: in der Freiheit.57 Das allerdings ist in Canettis Werk der Einzelfall. Der Ohrenzeuge führt, wie Wolfgang Frühwald konstatiert, »ins Zentrum eines von Charakteren beherrschten Werkes«58, und das heißt: eines Werks, in dem die Figuren durch ihre Namen fixiert und begrenzt sind. Bei der Untersuchung eines solchen Werks ist der Namengebung äußerste Beachtung zu schenken. Denn sie öffnet einen Zugang. Nicht von ungefähr ließen sich Die Befristeten, Hochzeit und Der Ohrenzeuge durch eine onomastisch ausgerichtete Analyse bis ins Detail hinein erschließen. Auch hier ist in den Namen alles.

|| 56 In ihren Briefen an Canetti beklagt sich Marie-Louise von Motesiczky wiederholt darüber, dass sie nicht wisse, an welche Adresse sie die Briefe schicken könne. Vgl. dazu etwa LoA, S. 70: »Bissel kränkt's mich auch, dass Sie mir ihre Adresse nicht geben wollten. Das ist doch das allerallererste – dass ich Sie immer erreichen kann [,] wenn was los ist. […] (Es gibt nichts Unglücklicheres auf der Welt als ein ›Liebhaber ohne Adresse‹ [,] sagt Nestroy).« 57 Vgl. Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 334–336. Frieder von Ammon: Anthropologischer Heißhunger und homerisches Gelächter (wie Anm. 7), S. 152 hat zu Recht von einem signifikanten Abschluss des Bandes gesprochen, der die Emanzipation einer literarischen Figur von allen determinierenden Instanzen zeige. Zudem hat von Ammon auf die Korrespondenz zwischen dem ersten Charakter »Die Königskünderin« und dem letzten Charakter hingewiesen und dabei die folgende These zur Diskussion gestellt: Die Königskündung sei das Gegenstück zur Namensverweigerung des »Nimmermuß«. Diese These ist sehr plausibel, zumal in beiden Charakterporträts auf paradigmatische, antithetische Art der Zusammenhang von Namensnennung und Macht dargestellt wird. Hinzuweisen ist noch auf »Die Bitterwicklerin«, die aus Vorsicht ihren Namen ebenfalls nicht nennt (II, S. 290). Wie »Der Nimmermuß« möchte sie sich so dem Zugriff der Menschen entziehen. 58 Vgl. Wolfgang Frühwald: Spuren der Antike. Zu Elias Canettis Buch Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. In: Neumann (Hg.): Canetti als Leser (wie Einleitung, Anm. 128), S. 59–75, hier S. 73.

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Das scheint so sehr auf Canettis eigenen Gedanken in den Aufzeichnungen zu beruhen, dass es an der Zeit ist, sein Namengebungsverfahren genauer einzuordnen und zu bewerten als bisher. Punktuell, vor allem im Zusammenhang mit den paradoxen Namen, ist Canettis außergewöhnlicher Umgang mit gängigen Verfahren bereits hervorgehoben und auf die originelle Verknüpfung mit einigen erst später veröffentlichten Theorien hingewiesen worden. Auch die Analyse des Ohrenzeugen hat gezeigt, wie neuartig Canettis Namengebung ist, nicht zuletzt im Verhältnis zum historischen Vorbild dieses Buches. Doch das ist nur die eine Seite. Zugleich ist klar geworden, dass Canetti in allen diesen Werken an seine namensmythologischen Vorstellungen anknüpft; dass er, einfach ausgedrückt, ausschließlich redende Namen verwendet – selbst in Die Befristeten, wo er sich kritisch mit dem (eigenen) Schicksalsglauben auseinandersetzt. Das aber ist alles andere als innovativ. Über viele Jahrhunderte hinweg waren redende Namen bei den Dichtern sehr beliebt. Sie begegnen uns in allen Epochen: in der griechischen und lateinischen Dichtungen der Antike59, in den Epen des Mittelalters60, den Romanen der Aufklärung61, des Klassizismus62, mit Abstrichen auch in den realistischen Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts63 und in der

|| 59 Vgl. etwa schon Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage, Tübingen, Basel: Francke 1993, S. 486–490, Birus: Poetische Namengebung (wie Einleitung, Anm. 106), S. 15. 60 Vgl. Bruno Boesch: Über die Namengebung mittelhochdeutscher Dichter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 32 (1958), H. 2, S. 241–262, hier S. 247: »Im redenden Namen tun wir den umfassendsten Einblick in mittelalterliche Namenschöpfung [...].« Von den einschlägigen Einzelstudien sind beispielsweise die bereits erwähnte Studie von dems.: Die Namenwelt in Wittenwilers Ring und seiner Quelle (wie Anm. 30), S. 127–159 zu nennen, aber auch Werner Schröder: Die Namen im Parzival und im Titurel Wolframs von Eschenbach. Berlin, New York: de Gruyter 1982; Gisela Steinle: Hartmann von Aue. Kennzeichnen durch Bezeichnen. Zur Verwendung der Personenbezeichnungen in seinen epischen Werken. Bonn: Bouvier 1978 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik; 80). 61 Siehe dazu Birus: Poetische Namengebung (wie Einleitung, Anm. 106), S. 38: Für »weite Bereiche der Aufklärungsdichtung« könne man, so Birus, von einer »eindeutigen Dominanz der redenden Namen« sprechen. 62 Vgl. Gutschmidt: Eigennamen in der Literatur (wie Einleitung, Anm. 93), S. 26. Gutschmidt weist darauf hin, dass kritische Realisten wie Tolstoi und die polnischen »Positivisten« redende Namen vermieden haben. 63 Siehe dazu etwa die folgenden Einzelstudien: Bleiker: Gottfried Kellers Namengebung (wie Einleitung, Anm. 105); Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. In: Plett (Hg.): Theodor Fontane (wie Einleitung, Anm. 158), S. 96–118; Hans Otto Horch: Von Cohn zu Isidor. Jüdische Namen und antijüdische Namenspolemik bei Theodor Fontane. In: ebd., S. 174–186;

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Moderne64. Heute jedoch haben viele Autoren derart immense Vorbehalte gegen sie, dass sie auf ihren Gebrauch verzichten. Warum verweigerte sich Canetti diesem Paradigmenwechsel und verlieh Namen eine interpretatorische Schlüsselfunktion? Nur weil er selbst von ihnen besessen war? Oder aus einem anderen Grund? Und wäre er nicht in jedem Fall ein anachronistischer Dichter? Canetti hätte mit diesem Vorwurf leben können. Immerhin war er der Meinung, der Dichter müsse gegen seine Zeit stehen. Doch gleichzeitig forderte er, der Dichter solle seiner Zeit verfallen sein wie ein Hund. Welche Bedeutung hat diese Paradoxie für die Namengebung? Ist sie sowohl altmodisch als auch modern, sowohl regressiv als auch progressiv? Die Antwort auf diese Frage erfordert einen Perspektivwechsel: von der Praxis zur Theorie und vom einzelnen Werk zum Gesamtzusammenhang. Unter Rekurs auf die bisherigen Befunde ist zu klären, ob sich Canetti tatsächlich so stark von allen anderen Dichtern seiner Epoche unterscheidet, wie es bis hierhin den Anschein hat. Das ist der literarhistorische Fokus des folgenden Kapitels. Er muss sich mit einigen wenigen Schlaglichtern begnügen. Denn noch wichtiger ist der zweite, der poetologische Fokus. Es ist einmal ganz grundsätzlich zu fragen, wie der Rückgriff auf ein traditionelles Verfahren mit Canettis eigener Dichtungstheorie und seinem Anspruch auf Selbstdenken zu vereinbaren ist. Hat er die Verwendung redender Namen womöglich aus seinen Erfahrungen heraus begründet? Sowohl beim literarhistorischen als auch beim poetologischen Fokus geht es um Fundamentales: um Canettis Zeitgemäßheit und darum, ob er den eigenen theoretischen Vorgaben gerecht geworden ist.

|| Hans Blumenberg: Der Stechlin. Rebhuhnflügel oder Krammetsvogelbrüste. In: Ders.: Gerade noch Klassiker. Glossen zu Fontane. München, Wien: Hanser 1998, S. 7–11, hier S. 7, der Fontanes Roman als eine »Exploration über Namen« liest; Demetz: Zur Rhetorik Fontanes (wie Kapitel B1, Anm. 26), S. 193–203; Wolfgang Ertl: Die Personennamen in den Romanen Theodor Fontanes. In: Fontane Blätter 34 (1982), H. 2, S. 204–213; Heinz Rölleke: »Kann man das Wesen gewöhnlich aus dem Namen lesen?« Zur Bedeutung der Namen in der Judenbuche der Anette von Droste-Hülshoff. In: Euphorion 70 (1976), H. 4, S. 409–414. 64 Vgl. dazu vor allem Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Einleitung, Anm. 62), S. 150–179.

4 Namen und Figuren 4.1 Vor- und Nachteile redender Namen »Sogar die Kleinigkeit des Namen-Gebens ist kaum eine.«1 Von der Richtigkeit dieser These aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik waren nur wenige deutschsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts so überzeugt wie Thomas Mann. Er machte die Namengebung von einer Kleinigkeit zu einer großen Angelegenheit. Am 29. Juni 1918 teilte er seinem Freund, dem Kölner Literaturhistoriker Ernst Bertram, brieflich mit: »Ich brauche Namen!«2 Aus seinem Schreiben geht hervor, dass er sie im Moment für seine Erzählung Herr und Hund brauchte – aber nicht irgendwelche Namen: Er brauchte keine Anthroponyme und keine Ortsnamen, keine Fluss- und keine Landschaftsnamen, keine Therionyme, sondern die Namen von Pflanzen und Bäumen. Seine botanischen Kenntnisse waren allerdings ziemlich dürftig: Esche und Birke kenne er zwar, heißt es weiter in dem Brief, doch mehr auch nicht. Für das »Landschafts-Kapitel im BauschanIdyll«, später »Das Revier« genannt, genüge das natürlich bei weitem nicht. Er werde deshalb bald mit seinem Nachbarn Dr. Gruber spazieren gehen, einem Naturwissenschaftler, und von ihm verschiedene Namen erfragen. Wenn man diesen Kontext außer Acht lässt und den Satz für sich allein nimmt, sein Objekt also in einem allgemeinen Sinn versteht, dann eignet er sich als Motto für eine Studie über Thomas Manns Namengebung insgesamt.3 In der Tat: Er brauchte Namen, alle Arten von Namen, vor allem Anthroponyme, und wo er sie nicht fand, dort erfand er sie. Ingeborg Bachmann bezeichnete ihn deshalb sogar als den »letzte[n] große[n] Namenserfinder, ein[en] Namenzauberer«.4 Dass Thomas Mann der letzte große Namenserfinder war, lässt sich wie jede absolute Aussage bezweifeln; dass er ein Namenzauberer war, haben onomastische Untersuchungen bekräftigt.5 Ein Namenzauberer war Thomas Mann || 1 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Vorschule der Ästhetik, Levana oder Erziehlehre, Politische Schriften. München: Hanser 1963 (Werke; 5), S. 7–456, hier S. 270 (§ 74). 2 Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. In Verbindung mit dem Schiller-Nationalmuseum hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Inge Jens. Pfullingen: Neske 1960, S. 68. 3 In diesem Sinne setzt Tyroff den Satz seiner Untersuchung über die Namen bei Thomas Mann (wie Einleitung, Anm. 103) als Motto voran. 4 Bachmann: Der Umgang mit Namen (wie Kapitel A3, Anm. 9), S. 247. 5 Vgl. dazu die Arbeit von Tyroff, der zeigt, dass bei Thomas Mann »[…] nicht einfach eine Charakterisierung, eine naturalistische Erfassung des Wesens intendiert, sondern eine vielschichtige Thematisierung erreicht wird, die den Namen als sprachlichen Ausdruck am thema-

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indessen nicht, weil er sich immer wieder bewusst machte, dass er als Dichter auf Namen angewiesen ist – viele Dramatiker und Romanciers (gelegentlich auch Lyriker) brauchen Namen, weil sie ihre Figuren individualisieren, identifizieren und voneinander unterscheiden müssen.6 Ein Namenzauberer war Thomas Mann, weil er, so Ingeborg Bachmann, Namen sorgfältig bedachte und alles aus ihnen herauszuholen suchte.7 Das ging nicht ohne Arbeit. Manchmal, etwa im Fall von Herr und Hund, musste er sich das notwendige Expertenwissen erst aneignen. In seiner Abhängigkeit von Namen und seiner Akribie bei ihrer Vergabe ähnelt Thomas Mann seinem jüngeren Zeitgenossen Elias Canetti, einem (nach den bisherigen Erkenntnissen) nicht minder großen Namenzauberer. Zwar gebrauchte Canetti sehr ungewöhnliche und heterogene Namen: funktionelle Namen, Neologismen und sogar eine Reihe täuschender Namen – Namenmasken. Doch die Einzelanalysen haben übereinstimmend erwiesen, dass auch er alles aus ihnen herauszuholen suchte und sie entsprechend gründlich bedachte. Dieser Wille, die aktive Seite seiner Namensmythologie, bekundet sich schon in seinen Wiener Notizen und später in seinen Aufzeichnungen. Auch hier initiiert und steuert der Name einen Auslegungsprozess, der aber nicht allzu lange dauert. Bei der Arbeit an den fiktionalen Werken war das anders: Die meist erfundenen Namen beschäftigten ihn z.T. sehr intensiv, sei es, weil er aus ihnen einen Charakter entwickeln, sei es, weil er aus ihrem Zusammenstoß einzelne Szenen und das ganze Drama konstruieren wollte. Im Gegensatz zu Thomas Mann, der ausgerechnet den Hochstapler Felix Krull über die »geheimnisvolle Bedeutung« seines Vornamens räsonieren ließ8, vermied Canetti dabei einen ironischen Umgang mit dem Namengebungsverfahren. Seine Namen sind kreativ und effektvoll, vertraut und ungewöhnlich, aber es fehlt ihnen das Überkünstelte, die gelegentliche kalkulierte Lächerlichkeit des scheinbar Normalen bei Thomas Mann. Niemals hätte Canetti eine Helene Oelhafen oder eine Mada-

|| tischen Hauptgefüge beteiligt.« Zitiert nach Namen bei Thomas Mann (wie Einleitung, Anm. 103), S. 9; Hinweise auf weitere Literatur ebd., S. 18. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam vor Tyroff schon Rümmele: Mikrokosmos im Wort (wie Einleitung, Anm. 61), S. 239: Die Namen unterliegen bei Thomas Mann einer »mehrfachen Bestimmung« (im Original hervorgehoben). 6 Auch in der Literatur besitzen Namen vor allem eine »nominativ-identifizierende Funktion«. Siehe Gutschmidt: Eigennamen in der Literatur (wie Einleitung, Anm. 93), S. 12. 7 Vgl. Bachmann: Der Umgang mit Namen (wie Kapitel A3, Anm. 9), S. 247. 8 Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Roman. Hg. und textkritisch durchgesehen von Thomas Sprecher und Monica Bussmann in Zusammenarbeit mit Eckhard Heftrich. Frankfurt a.M.: Fischer 2012 (Große kommentiere Frankfurter Ausgabe; 12,1), S. 15.

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me Houpflé auftreten lassen, niemals einen Herrn Klöterjahn (wie überhaupt die Namen in Hochzeit nicht erfunden wirken). Dafür war es ihm – selbst in einer Komödie – denn doch zu ernst mit den Namen. Dieser Ernst, von dem auch die Aufzeichnungen zeugen, ist der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Namenzauberern. Dem mythischen Denken, dem geistigen Fundament des redenden Namens in der Literatur, steht Canetti damit wesentlich näher als Thomas Mann – ein Befund, der nach den Ergebnissen des ersten Teils dieser Arbeit kaum mehr überraschen dürfte. Im 20. Jahrhundert waren Canetti und Thomas Mann nicht die einzigen Dichter, die sich von Namen abhängig fühlten. Für sein Buch über die literarische Namengebung hat Friedhelm Debus 1995 eine größere Anzahl von Schriftstellern gefragt, nach welcher Methode sie ihre Figuren benennen. Das Ergebnis: Es gibt sie noch immer, die Zauberer, die Namen gewissenhaft bedenken, weil sie möglichst viel aus ihnen herauszuholen wollen, aber sie sind in der Minderheit. Die meisten Autoren machen sich nicht annähernd so viele Gedanken über Namen wie Canetti und Thomas Mann. Sie möchten nichts aus ihnen herausholen, ja sie halten redende Namen sogar für albern und manipulativ. Aus diesem Grund verwenden sie arbiträre Namen.9 Man sieht sie – wie Barbara König oder Uwe Pörksen10 – auf Friedhöfen, wo sie von den Grabsteinen zufällig ausgewählte Namen abschreiben: die künftigen Namen ihrer Figuren. Oder man sieht sie – wie Dieter Wellershoff – vor Mietskasernen, wo sie sich rasch, ohne zu überlegen, einige Namen von den Klingelschildern notieren. Mit Namenzauberei hat das alles wenig zu tun. Erstens sind die Schriftsteller nicht die Herren des Verfahrens. Zweitens haben sie mit dem Namen nicht die Macht über den Träger wie im Mythos oder Märchen. Und drittens gibt es für den Leser nichts zu staunen oder zu enträtseln. Denn die Namen enthalten nichts. Ob man diese Entmythologisierung der Literatur forcieren oder beklagen soll wie einst Ingeborg Bachmann, die von einer »bewußte[n] Schwächung der Namen« sprach, von einer »Unfähigkeit, Namen zu geben«, ist eine individuelle Entscheidung.11 Sie setzt eine bestimmte Poetologie voraus: Ist die fiktionale Welt das Abbild der Wirklichkeit oder folgt sie eigenen Gesetzen? Unterstützt sie die Entzauberung alles Seienden oder beschwört sie, gleichsam als Gegengewicht, den alten Zau|| 9 Vgl. Debus: Namen in literarischen Werken (wie Einleitung, Anm. 111), S. 78. Ähnlich auch Bruno Hillebrand in einem Brief an Debus vom 4. Juni 1991: »[...] die Bedeutung des Namens spielt heute keine nennenswerte Rolle mehr in der Epik.« Seine Begründung: »Das hängt mit dem Gesamtsyndrom des Subjektzerfalls zusammen.« (Ebd., S. 136f.) 10 Vgl. die entsprechenden Briefe in Debus: Namen in literarischen Werken (wie Einleitung, Anm. 111), S. 138f. und 142f. 11 Bachmann: Vom Umgang mit Namen (wie Kapitel A3, Anm. 9), S. 241f.

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ber? Sollen die Figuren frei agieren oder einer fremden, quasi göttlichen Macht gehorchen – und wenn ja, wieso? Sollen sie den Autor beherrschen oder er sie? Diese Fragen lassen sich zu einer einzigen Frage zusammenfassen: Welche Vorbzw. Nachteile haben redende Namen im Vergleich mit arbiträren Namen, sei es allgemein, sei es in einem speziellen Text? Die Antwort ist dem einzelnen Dichter überlassen, er kann sie sogar unterschiedlich beantworten, je nach Werk und Lebensperiode. Canetti hat seine Antwort früh gegeben und blieb dabei. Er hatte nicht das geringste Interesse an einer Entmythologisierung der Literatur. Ganz im Gegenteil: Er rückte das Drama an die Seite des Mythos (IV, S. 26) und hielt den Dichter für den »Hüter der Verwandlungen« (VI, S. 364). Zwar stellte er mit Fünfzig – verfremdet – den Typus des Aufklärers auf die Bühne, doch sein Kampf richtet sich gegen die Aufklärung selbst, so wie sie in Die Befristeten erscheint: eine Aufklärung, die ein System der Macht errichtet hat, beruhend auf einem scheinbar fortschrittlichen, in Wahrheit aber barbarischen Gesetz. Dieses Gesetz ist, da es keine Verwandlungen erlaubt, das Gegenteil eines Mythos. Selbst die Namen in Die Befristeten haben auf ihre Art noch einen Zauber. Auch sie bringen den Leser zum Nach- und Umdenken, wie alle Namen bei Canetti. Auch Jean Paul war von der Zeitlosigkeit redender Namen überzeugt. Er begründete diese Haltung psychologisch. In seiner Vorschule der Ästhetik riet er den Dichtern, bei der Namengebung zu beachten, dass sich der Mensch »[…] in der kleinsten Sache doch nach ein wenig Grund [sehne].«12 Diese Behauptung wird durch die Ergebnisse der Psychoonomastik bestätigt. Das bedeutet nun aber, dass der Dichter diese Sehnsucht für seine Zwecke nutzen kann. Der paradoxe Name bietet dazu eine einmalige Gelegenheit. Denn der Dichter kann mit ihm die Sehnsucht sowohl enttäuschen als auch befriedigen – wie in Die Befristeten und in Hochzeit. Auch die Kluft zwischen den Namenzauberern und ihren Gegnern kann Canetti wenigstens ein Stück weit schließen, indem er Namen aus fixen Ideen kreiert. Dadurch entzieht er die Figuren der Macht des Schicksals, aber er schenkt ihnen im Gegenzug nicht die Freiheit, sondern unterwirft sie einem neuen, je individuellen Zwang, den sie als Freiheit empfinden. Sein und Schein werden zu gleichberechtigten Polen menschlicher Existenz; mit der subjektiven Freiheit korrespondiert die objektive Unfreiheit. Vom klassischen namensmythologischen Verfahren, das auch bei paradoxen Namen nicht zwischen Realität und Imagination unterscheidet, hat sich Canetti damit entfernt – ein erstes Indiz dafür, dass der Widerspruch, der nach seiner Theorie zum Dichter gehört, auch seine Arbeit bestimmt. || 12 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 1), S. 270 (§ 74).

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So wie alle Namenzauberer musste sich Canetti vor der Ausführung eines Grundeinfalls oder eines Charakters überlegen, welche Form des redenden Namens seinen Absichten am besten nutzen werde. Trotz aller Originalität und Variationskunst hat er sich stets für die gleiche Form entschieden. Selbst bei den Zahlennamen kam es ihm einzig auf die Bedeutung an.13 Eine andere Form des redenden Namens favorisierte Jean Paul, auch er ein Namensverzückter. Wie Eduard Berend nachgewiesen hat, beurteilte Jean Paul Namen nach ihrem Klang.14 Dabei richtete er sich keineswegs nach kollektiven Geschmacksurteilen oder empirisch überprüfbaren psychischen Prozessen, sondern nach dem eigenen Sprachgefühl. Er achtete auf die Silbenzahl und einzelne Konsonanten wie »s«, einen Buchstaben, den er nicht mochte.15 Und vor allem achtete er auf Vokale: Figuren mit einem unangenehmen Charakter tragen einen Namen mit einem langen »ö« in der Tonsilbe, aber auch ein langes »ä« und »e« sollen den Namensträger diskreditieren, mitunter auch »eu« und »ei«.16 In Canettis Œuvre ist eine solche klangsymbolische Namengebung nirgends nachzuweisen. Der Klang des Namens spielte für ihn, sieht man von wenigen onomatopoetischen Effekten in Der Ohrenzeuge ab, eine geringe Rolle. Angesichts seiner Leidenschaft für die gesprochene Sprache ist diese Tatsache bemerkenswert. Doch sie lässt sich erklären: Nur über die Bedeutung konnte Canetti das Maximum aus einem Namen herausholen – und genau das war sein Ziel, wie die bisherige Untersuchung wiederholt erwiesen hat. Von Der Ohrenzeuge abgesehen, bevorzugte Canetti schlichte, aber inhaltsreiche Namen. In Hochzeit, wo er nicht selten auf einen (ablenkenden) Vor- bzw. Nachnamen verzichtete, beschränkte er sie meist sogar auf eine Silbe. Noch existentiell bedeutsamer sind die Zahlennamen in Die Befristeten. Sie entscheiden über Leben und Tod.

|| 13 Auch Jean Paul wusste um den komischen Effekt paradoxer Namen. So spielte er mit dem Gedanken, einem dummen Mann den Namen Fuchs zu geben Vgl. Berend: Namengebung bei Jean Paul (wie Einleitung, Anm. 108), S. 848. Nach der Analyse der Hochzeit ist klar, dass auch Canetti auf einen solchen Gedanken hätte kommen können. 14 Vgl. Berend: Die Namengebung bei Jean Paul (wie Einleitung, Anm. 108), S. 848. 15 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 1), S. 114 (§ 28); dazu Berend: Die Namengebung bei Jean Paul (wie Einleitung, Anm. 108), S. 837. 16 Vgl. Berend: Namengebung bei Jean Paul (wie Einleitung, Anm. 108), S. 842. Für Thomas Mann kommt Rümmele: Mikrokosmos im Wort (wie Einleitung, Anm. 61), S. 241f. zu einem ähnlichen Ergebnis. Sowohl das lange »ö« in der Tonsilbe als auch das betonte »ä« und oft auch die Diphthonge »ai«, »ei« und »ey« verwiesen auf das Unangenehme und Vulgäre des Namenträgers, vor allem, wenn sie mit den Konsonanten »k«, »r«, »g« und »s« als »unterstützende Stimmungsträger« verbunden seien.

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Dass neben dem Autor auch die Leser aus redenden Namen ein Maximum herausholen können, ist rezeptionsästhetisch der maßgebliche Grund für ihre Beliebtheit. Denn redende Namen sind, wie Dieter Lamping feststellt, »auf eine spezifische Weise ökonomisch«17. Mit ihnen kann der Dichter seinen Lesern auf kürzeste Art mitteilen, wie sie den Träger zu beurteilen, worauf sie zu achten, mit welcher anderen Figur sie ihn zusammenzusehen und an welche Vorbilder sie zu denken haben. Deshalb setzten bereits die alten Griechen redende Namen ein. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass die Namengebung in einer Komödie aufwendiger ist als in einer Tragödie. Während der Komödiendichter, wie Antiphanes sagte, sämtliche Namen erst erfinden und seinen Zuschauern dann auch noch nahebringen müsse, könne der Tragödiendichter bekannte Namen übernehmen und voraussetzen, dass das Publikum bei einem Mann namens Ödipus wisse, wer der Vater und die Mutter sei und was zwischen diesen dreien vorgefallen sei bzw. noch geschehen werde.18 Redende Namen nun boten dem Komödiendichter die Möglichkeit, seinem Publikum en passant ebenfalls einige wichtige Vorabinformationen über den Träger, sein Wesen, sein Handeln, seine Zukunft, zu geben. Als Lessing 1759 über eine kleinere und marginalere Gattung als die Komödie reflektierte, eine Gattung, für deren »Seele« er die Kürze hielt19, argumentierte er ähnlich wie die Griechen. In seiner Abhandlung Vom Gebrauche der Thiere in der Fabel schreibt er: Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser? Wer jener? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander? – Aber man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er höret, und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält. Diese Wörter, welche stracks ihre gewissen Bilder in uns erwecken, befördern die anschauende Erkenntnis, die durch jene Namen, bei welchen auch die, denen sie nicht unbekannt sind, gewiß nicht alle vollkommen eben dasselbe denken, verhindert wird.20

Dass der Wolf in der Fabel grausam und das Lamm friedlich, der Fuchs schlau und der Löwe mächtig ist und die Maus sich vor der Katze in Acht zu nehmen hat, weiß jedes Kind. Dieses Vorwissen beruht auf den bisherigen (Lektüre-)Erfahrungen. Bei einer noch unbekannten Fabel wird es durch den Titel aktiviert. Noch bevor der Leser ihren Inhalt kennt, setzt er schon voraus, dass die Tiere sich im Wesentlichen gleich bleiben; Lessing nennt das die »allgemei|| 17 Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 56. 18 Vgl. Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Einleitung, Anm. 62), S. 108. 19 Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1758–1759. Hg. von Günter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997 (Werke und Briefe in 12 Bdn.; 4/Bibliothek deutscher Klassiker; 148), S. 399. 20 Ebd., S. 381.

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ne[] Bestandheit der Charaktere«. Auch mit dieser Vorannahme kann der Dichter spielen, so wie Aesop in der Fabel Der Löwe und das Mäuschen, wo der Löwe von der Maus, der Mächtigste vom Schwächsten, aus einem Netz befreit wird. Eine ganz ähnliche Vorannahme macht der Leser von Ernst Sommers Roman Revolte der Heiligen. Wie in einer Fabel schließt auch er vom Namen Wolf, den einer der Protagonisten trägt, auf dessen Charakter. Da der Roman das Leid der Juden in einem Arbeitslager schildert, wird dieser Leser also unterstellen, dass sich Wolf seinen Unterdrückern nicht so widerstandslos fügen wird wie andere Figuren. Diese Annahme bestätigt sich: Wolf wird zum Anführer eines Aufstandes und schließlich, seinem Vornamen Sebastian gemäß, zum Märtyrer21. Wolf heißt auch die Hauptfigur in Ludwig Winders zwei Jahrzehnte zuvor erschienenem Roman Die jüdische Orgel: Hier weist der Name auf die animalische Triebhaftigkeit des Trägers Albert Wolf hin. Bei Wolf Wolf, seinem Vater, einem orthodoxen Rabbiner, hatte sich diese Triebhaftigkeit durch die Verdoppelung noch gleichsam aufgehoben. Er ist ein Feind aller Sinnenfreuden. Nicht so sein Sohn, der in Spelunken und Bordellen zu Hause ist. Nach einigen Jahren wendet freilich auch er sich von der »Dämonie des Fleisches«22 ab. Seinem Vornamen (Adalbert: edel, berühmt) entsprechend wandert er, ein zweiter Ahasver, als allerorts bekannter »Hausierer mit Reinheit«23 durch die Lande. Auf ein anderes Tier bezieht sich Eichendorff in seinem Erzählfragment Das Wiedersehen. Leonhardt, seinem Namen nach ein Löwe (leo: der Löwe; hart: hart, mutig, kühn), zieht mutig aus der Heimat in die Welt hinaus, kämpft in den Befreiungskriegen, wird »frei, größer und umfassender«, »seines Glückes würdiger Meister«. Sein Jugendfreund Ludwig dagegen beruhigt sein »wildes Herz« und begnügt sich mit einem kleinen, dem privaten Wirkungskreis.24 Schon diese wenigen Beispiele genügen, um nachzuvollziehen, warum Franz Grillparzer plante, »[…] in einem zu schreibenden Stücke die Charaktere der Personen sich unter dem Bilde von verschiedenen Tieren gegenwärtig zu halten. Löwe, Tiger, Fuchs, Wolf.«25 Der redende Name ist deshalb für viele Dichter noch immer so

|| 21 Vgl. Stefan Bauer: Ein böhmischer Jude im Exil: der Schriftsteller Ernst Sommer (1888–1955). München: Oldenbourg 1995, S. 218. 22 Ludwig Winder: Die jüdische Orgel. Hg. und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner. Salzburg, Wien: Residenz 1999 (Eine österreichische Bibliothek), S. 62. 23 Ebd., S. 105. 24 Joseph von Eichendorff: Das Wiedersehen. In: Ders.: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen I. Hg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (Werke in 5 Bdn.; 2/Bibliothek deutscher Klassiker; 8), S. 429–443, hier S. 434 und 436. 25 Zitiert nach Peter von Matt: Der Grundriss von Grillparzers Bühnenkunst. Zürich: Atlantis 1965 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte; 24), S. 110.

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attraktiv, weil er denselben Vorzug hat wie die Tierbezeichnung in Lessings Sinn: Er bringt, abbreviatorisch, die Eigenart des Benannten zum Vorschein, indem er Bilder erweckt, die anschauende Erkenntnis befördert. Dennoch gibt es vier entscheidende Unterschiede zwischen redenden Namen und Tieren in der Fabel. Erstens: Die Zahl redender Namen ist nicht auf das bereits Vorhandene beschränkt, der Dichter kann jederzeit neue Namen erfinden. Zweitens: Der Leser muss Wolf in Sommers und Winders Romanen und Leonhardt in Eichendorffs Erzählung erst als redende Namen identifizieren. Drittens: Diese Identifikation erfordert ein spezielles Wissen, bei Leonhardt z.B. etymologische Kenntnisse. Und viertens: Redende Namen sind nicht an einen Stoff oder eine Figurenkonstellation gebunden, nicht an Gattungskonventionen oder historische Vorbilder. Sie sind variabler als Tier- oder Tragödiennamen, variabler auch als die Masken der Commedia dell'arte. Da sie nicht zu den »symbolische[n] Conventional-Begriffe[n]«26 gehören, fehlt ihnen die Allgemeinheit, die für Lessing so bedeutsam war, aber nicht die Bestandheit. Auch redende Namen schaffen typisierte Figuren, nur unendlich zahlreicher als alle Masken, Tiere und Helden – ein Panoptikum der menschlichen Eigenschaften. Was redende Namen hingegen nicht schaffen, sind komplexe Charaktere, Individuen.27 Deshalb eignen sie sich gewöhnlich nicht so sehr für einen umfangreichen Roman, sondern eher für kleinere Texte, vor allem für Komödien und Satiren, die eine bestimmte Eigenschaft (Geiz oder Dummheit, Gier oder Lust, Feigheit oder Arroganz) in den Mittelpunkt stellen und dem Spott preisgeben. Freilich: Es gibt Ausnahmen. Anton Reiser, der Protagonist des gleichnamigen Romans von Karl Philipp Moritz, ist kein typisierter und flacher Charakter, auch wenn er einen redenden Nachnamen trägt. Seine spannende und wechselvolle

|| 26 Vgl. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell'arte und théâtre italien. Stuttgart: Metzler 1965 (Germanistische Abhandlungen; 8), S. 16: »Die künstlerische Ökonomie der Commedia dell'arte und ihre ›Glaubwürdigkeit‹ beruhen zu einem wesentlichen Teil auf der Vertrautheit des Publikums mit den Masken. Einmal bekannt, rufen sie bei ihrem Erscheinen sofort die Vorstellung ihres ganzen Charakters hervor und ersparen alle weitläufige Information; sie sind – um schon Gedanken Justus Mösers und Goethes vorwegzunehmen – ›symbolische Conventional-Begriffe‹, welche die ›Exposition‹ überflüssig machen. Vgl. auch Thies: Namen im Kontext von Dramen (wie Einleitung, Anm. 62), S. 109: Da die Charaktere der Figuren dem Zuschauer bekannt seien, könne er sich auf die Variation der Handlung konzentrieren. Den Zusammenhang zwischen der Commedia dell'arte und Canettis Masken erkennt auch Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 40. 27 Vgl. Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 51.

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Geschichte wird über mehrere Hundert Seiten hinweg erzählt.28 Gleiches gilt für Goethes Wilhelm Meister, den Prototyp aller Bildungsromane, und Fontanes Effi Briest. Der Gebrauch redender Namen hat auch einen produktionsästhetischen Vorteil. Ein Dichter, der davon zu berichten weiß, ist Tankred Dorst. In seinem Brief an Friedhelm Debus vom 27. Dezember 1995 erklärt er, dass es ihm schwer falle, »[…] eine Person zu schreiben, deren endgültiger Name noch nicht gefunden ist.« Denn: »Manchmal ändert sich die Wesensart einer Person bei den ersten Schreibversuchen und Skizzen so stark, wird diffus und nicht recht fassbar, erst der Name fügt das Angelegte zusammen, sondert das nicht Passende aus.«29 Dorsts Begründung erinnert daran, dass Canetti bei der Arbeit an Der Ohrenzeuge keine Skizze ohne Namen begann. Auch bei ihm gehört die Benennung an den Anfang, in die Phase der Konzeption. Sie erst ruft die Figur ins Leben – ganz so wie im mythischen Denken. Das gilt selbst für die Zahlennamen in Die Befristeten. Auch sie beschränken die Phantasie und befeuern sie zugleich, etwa indem sie die Frage nach dem Umgang mit der Prädestination aufwerfen. Einmal mehr brauchte Canetti zur Freiheit die Grenze und zur Wurzel das Gefäß. Beschränken und befeuern wollte er auch seine Leser. Darum präferierte er Namen, die sich, sei es wegen ihrer Einfachheit (Bock, Gall, Thut, Rosig, Schön, Zart, Horch, Segenreich), sei es wegen ihrer Originalität (»Der Wortfrühe«, »Der Gottprotz« etc.), direkt als redend zu erkennen geben. Doch nicht auf die bloße Identifikation hatte Canetti es abgesehen, sondern auf die daraus resultierenden Hypothesen. Diese Hypothesen machte er sich auf unterschiedliche Art zunutze: Bei den paradoxen Namen zwang er seine Leser dazu, die erste Annahme zu korrigieren, und ließ sie so den Widerspruch von Sein und Schein selbst erfahren. Und in Der Ohrenzeuge stellte er jedem Porträt einen befremdlichen oder allzu vertrauten, in diesem Zusammenhang aber unerwarteten Namen voran – als Angebot an die Leser, sich zunächst selber ein Bild von diesem

|| 28 Zum Namen vgl. das dritte Kapitel des Romans, wo von Reisers Abschied aus H… erzählt wird: »Dies war nun die erste sonderbare romanhafte Reise, welche Anton Reiser tat, und von der Zeit fing er eigentlich an, seinen Namen mit der Tat zu führen.« Zitiert nach Moritz: Anton Reiser (wie Kapitel A6, Anm. 20), S. 369. Vgl. dazu auch Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 52. 29 Das Zitat stammt aus Debus: Namen in literarischen Werken (wie Einleitung, Anm. 111), S. 133. Hinzuzufügen ist, dass die (Um-)Benennung einer direkt aus der Wirklichkeit übernommenen Figur mit bestimmten Charakterzügen oder Erlebnissen Teil des Aneignungsprozesses ist und letztlich auch der Rechtfertigung bzw. Suggestion der dichterischen Autonomie dient.

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Charakter zu machen. Dadurch versetzte er sie in dieselbe Lage, in der auch er sich während des Schreibens befunden hatte. Eine solche Einbeziehung des Lesers, die Anreicherung des Rezeptionsprozesses um kreative Momente30, geht über das bei redenden Namen sonst übliche Maß hinaus. Redende Namen besitzen allerdings einen Nachteil, der gerade Canetti nicht gleichgültig sein konnte. Zwei Namen aus dem Werk Thomas Manns machen diesen Nachteil sichtbar. Das vielleicht prominenteste Beispiel seiner »Charakterisierungskunst«31 durch Namengebung ist Tonio Kröger. Dessen existentieller Konflikt: der Antagonismus zwischen dem norddeutschen Vater und der südländischen Mutter, das Schwanken zwischen einem Leben als Kaufmann oder Künstler, ist bereits im Namen angezeigt. Indem die Erzählung diesen Konflikt schildert, ist sie, genaugenommen, die Entfaltung eines Namens. Er legt die Schranken des Charakters fest, ist ein Zwangskorsett. Solange Tonio Kröger diesen Namen trägt, wird er die innere Polarität nicht auflösen. Auch Gustav von Aschenbach kann seinem Schicksal nicht entkommen. Noch ehe er den ersten Todesboten getroffen hat, einer Mischgestalt aus Hermes und Teufel, ist er durch seinen Namen dem Tod überantwortet. So ist es bei fast allen redenden Namen: Sie betonen die Grenzen ihres Trägers wesentlich stärker als seine Entwicklungsmöglichkeiten; sie schaffen eine Welt der Folgerichtigkeit, einen Kosmos im wörtlichen Sinn, in dem die Figuren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht über allzu viele Optionen verfügen. So heißt es in Die Wahlverwandtschaften, einem Roman, der das »ganze Spektrum der Goetheschen Namengebung« enthält32, über eine Nebenfigur: »Diejenigen die auf Namenbedeutungen abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen.«33 Die Paradoxie von Nötigung und Selbständigkeit ist mehr als ein Scherz des Dichterfürsten. || 30 Vgl. Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 209. Die Charaktere des Ohrenzeugen seien »[…] lebendige schöpferische Metaphern, die außergewöhnlich und überraschend wirken, indem ihre inhaltliche Bestimmung durch Unkonventionalität der eingesetzten bildlichen Sprache erschwert wird.« Das nötige den Leser zu »eigenständigem und kreativem Denken«. 31 Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Einleitung, Anm. 62), S. 8. 32 Birus: Poetische Namengebung (wie Einleitung, Anm. 106), S. 41. 33 Johann Wolfgang Goethe: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814. Hg. von Christoph Siegrist u.a. München: Hanser 1987 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe; 9), S. 299. Zur Namengebung in Die Wahlverwandtschaften vgl. die beiden folgenden Studien: Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 7 (1972), S. 84–102; Waltraud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 1–64.

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Sie lässt selbst die Wahl als Zwang erscheinen – eine Kausalität im menschlichen Leben, die bei Goethe mit der Wirkung eines Naturgesetzes vergleichbar ist.34 Auch Eichendorffs Leonhardt wird sich nicht in sein Gegenteil, einen Philister, verwandeln, auch Sommers Wolf sich nicht wie die frommen Juden im Lager beugen, auch Bock auf seine alten Tage nicht sittsam werden. Im Hinblick auf die Ergebnisse des ersten Teils lässt sich zusammenfassen: Redenden Namen in der Dichtung fehlt das Rätselhafte, das Canetti an Namen in Erstaunen versetzte. Sie sind berechenbar, zwingen ihrem Träger eine Entwicklungsrichtung auf und hindern ihn weitaus mehr an Verwandlungen als die Menschen in der Wirklichkeit. Das gilt selbst noch für Angelika Klüssendorfs April, die sich mit ihrem selbstgewählten Namen einer Lebensaufgabe widmet, der sie in Freiheit treu bleibt: der Emanzipation von der Macht der Männer und des Staates. Dass auch Canetti seinen Figuren mit ihren Namen ein Zwangskorsett anlegt, wird nirgends deutlicher als in Die Befristeten. Die Kapsel symbolisiert die ganze Eingeschlossenheit des menschlichen Lebens. Doch auch die Figuren der Hochzeit und die Charaktere des Ohrenzeugen können sich nicht entwickeln, nicht einmal innerhalb der Schranken, die ihnen der eigene Name setzt. Sie können sich nur verstellen oder eine andere Figur nachahmen, innerlich aber bleiben sie sich gleich. Selbst die Befristeten greifen nach ihrer ›Erlösung‹ auf bekannte Verhaltensmuster zurück und verspielen so die gerade errungene Freiheit. Warum betont Canetti in seinen fiktionalen Werken freilich so einseitig die Schranke? Und warum fixiert er das Wesen seiner Figuren so radikal wie sonst nie? Die Antwort ergibt sich aus seiner Poetologie.

4.2 Name, akustische Maske, Privatmythos Einer der wichtigsten Texte, in denen Canetti seine Poetologie entfaltet, ist das Gespräch mit Manfred Durzak aus dem Jahr 1975. Darin findet sich die Lösung unseres Problems. Denn Canetti spricht sich hier gegen jede Form der Entwicklung im Drama aus. Mit anderen Worten: Er will die Konstanz der Charaktere, will auch die Schranke des Namens. Das Drama spielt in seinen Augen nämlich jenseits der Zeit, und das bedeutet: Falls überhaupt, ereignen sich die Verände|| 34 Während Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Gesammelte Schriften. I.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 123–201, hier S. 135 den Namen Mittler als »eine Wendung [versteht], die das Wesen des Trägers unvergleichlich sicher bezeichnet«, erkennt Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe (wie Einleitung, Anm. 25), S. 237–239 (mit nur teilweise überzeugenden Argumenten) bei Goethe ein ironisches Spiel mit diesem Namen.

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rungen der Figuren nicht kausal (das nämlich wäre eine zeitliche Entwicklung), sondern überraschend, in Maskensprüngen (X, S. 316). Dieser Neologismus verknüpft das Starre der Maske mit der Bewegung des Springens. Doch das Springen, das Canetti meint, hat nicht viel mit Freiheit zu tun, so wie in den Aufzeichnungen, es meint den Übergang von einem fixen Zustand in einen anderen. Bei einem weiteren Kernbegriff seines Denkens ist selbst die Vorstellung von Bewegung ausgeschlossen. Er ist so eng mit dem Begriff der Maske verbunden, dass Canetti beide Begriffe in Masse und Macht gemeinsam behandelt. Für seine Anthropologie ist dieser Begriff von ebenso fundamentaler Bedeutung wie für seine Dramentheorie und die dichterische Praxis.35 Einmal notiert Canetti sogar, in verblüffender, aber zufälliger syntaktischer Übereinstimmung mit Thomas Manns Formulierung: »Ich brauche Figuren.« (V, S. 349) Was er unter einer Figur versteht, erläutert Canetti in Masse und Macht: Ein Endzustand der Verwandlung ist die Figur. Es gehört zu ihr, daß sie eine weitere Verwandlung nicht mehr gestattet. Die Figur ist in allen ihren Zügen begrenzt und klar. Sie ist nicht natürlich, ein Geschöpf des Menschen. Sie ist eine Rettung aus der unaufhörlichen Fluidität der Verwandlung. (III, S. 442)

Die Urbilder der Figur erkennt Canetti in den Göttern der Ägypter, Sechmet, Anubis, Thot und Hathor, und in den mythischen Ahnen, den Totems der Australier. Aus dem Fluss unzähliger Verwandlungen greifen sie einige Verwandlungen heraus und frieren sie im Stadium des Übergangs gleichsam ein. So entsteht eine Doppelfigur, die beides zugleich ist: Mensch und Tier oder Mensch und Pflanze. Wie Canetti wenig später ausführt, schafft auch die Maske einen Endzustand, eine Figur, weil sie das Mienenspiel verdeckt, in dem sich die »unaufhörliche Verwandlungsbereitschaft des Menschen« ausdrückt (III, S. 443). Daraus lässt sich schließen, dass Canetti mit dem Begriff der Figur die physische Seite dessen beschreibt, was er Charakter nennt.36 Beide, Charakter und

|| 35 Marek Przybecki hat ganz recht, wenn er Masse und Macht als Schlüssel zu Canettis Dramentheorie begreift. Vgl. Przybecki: Ein Augenblick entlarvter Macht (wie Kapitel B 1, Anm. 6), S. 118. 36 Vgl. IV, S. 385: Der Charakter besteht aus einigen wenigen Eigenschaften. Nicht überzeugend ist die Abgrenzung der Begriffe bei Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 169: Während der Charakter die Eigenschaften eines einzigen, konkreten Menschen übertreibe, versuche Canetti mit den methodisch konstruierten Figuren den Bestand an überlieferten Charakteren um neue, unverbrauchte und auch der Zeit angemessene Schöpfungen zu erweitern, ohne sich dabei auf einen bestimmten Menschen aus seiner Umgebung zu beziehen. Diese These wird durch eine Aufzeichnung aus Die Fliegenpein widerlegt: »In Zeiten starken Mißtrauens schafft man aus den Menschen, die man gut kennt oder mit

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Figur, sind starr und begrenzt – oder wie Rudolf Hartung, eine Aussage Canettis über Mythen zitierend, gesagt hat37: Sie sind überschaubar. Die Unfähigkeit zu Verwandlungen, die Erstarrung des Menschen zur Figur, faszinierte Canetti, wie er in Die Provinz des Menschen schrieb, nicht weniger als das Gegenteil: ein verwandlungsreiches Leben. »Mich interessieren lebende Menschen und mich interessieren Figuren. Ich verabscheue die Zwitter aus beiden.« (IV, S. 250) Am deutlichsten wird seine Vorliebe für Figuren in Hochzeit. Man erinnere sich an die puppenhafte Pepi Kokosch, die zu keiner Verwandlung, keinem Mienenspiel im Stande ist. An einer anderen Stelle des Stücks werden sogar alle Hochzeitsgäste als Puppen bezeichnet. Es heißt dort wörtlich: »Alle Puppen sind wieder Puppen und schweigen, sie sind aus Holz.« (II, S. 59) So entsteht – nicht nur in Hochzeit, sondern auch in Die Befristeten und Der Ohrenzeuge – eine verkümmerte, eine unmenschliche Welt. Sie ist ein grelles Abbild der Gegenwart, so wie Canetti sie erlebt hatte: als die »verblendeste aller Welten«, eine Welt, die sich in »linearer Beschränkung« übt und »Verwandlung mehr und mehr verbietet« (VI, S. 366). Kein Benennungsverfahren dürfte Canetti darum aktueller erschienen sein als die alte Namenzauberei. Das ist das zweite Indiz dafür, dass der Gebrauch redender Namen bei Canetti sowohl der Zeit entspricht als auch ihr entgegensteht. Die Arbeit des Dichters ähnelt nicht nur einem Spieler, der Marionetten auf der Bühne bewegt, sondern auch einem Bildhauer. Nicht von ungefähr hat Canetti Fritz Wotruba als seinen Zwilling betrachtet. Denn wie er erschafft auch der Dichter Figuren. Während der Bildhauer sie mit Hammer und Meißel aus dem Stein herausschlägt, erschafft er sie mit und aus der Sprache. Im übertragenen Sinn behandelt er seine Einfälle aber ebenfalls wie einen unbehauenen Stein. Er entfernt alles Störende, lässt diese und jene Idee fallen, präzisiert und korrigiert, bis die endgültige Gestalt vor ihm steht.38 Der Name der Figur dient ihm dabei als Orientierungspunkt. Einmal gefunden, lässt sich mit seiner Hilfe –

|| denen man zuletzt gesprochen hat, geheimnisvolle und gefährliche Figuren.« Zum Schluss heißt es in dieser Aufzeichnung: »Sobald aber der wirkliche Mensch, dem die Figur ihren Namen verdankt, einem entgegentritt, zergeht sie in nichts, und für den Augenblick ist man froh und beruhigt.« (V, S. 12f.) Von ihrer These zeigt sich Helwig im Übrigen selbst nicht recht überzeugt: Später spricht sie plötzlich von fließenden Übergängen zwischen Charakter und Figur (S. 173f.). 37 Vgl. Rudolf Hartung: Der Ohrenzeuge und andere Charaktere. In: Göpfert (Hg.): Canetti lesen (wie Einleitung, Anm. 1), S. 86–90, hier S. 87. 38 Siehe dazu auch ebd.: »Wie mit einer Schere wird von einer komplexen Erscheinung das Zufällige und Nebensächliche weggeschnitten, bis die ›reine‹ Figur mit scharfen Umrissen übrig bleibt.«

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wie Tankred Dorst es beschrieben hat – das Unpassende aussondern. Die Figur, zunächst noch diffus, wird allmählich fassbarer, wird »Der Namenlecker«, »Der Ohrenzeuge«, »Die Sultansüchtige«. Wie wichtig dieser Selektionsvorgang ist, lässt sich einer weiteren Bemerkung aus dem Gespräch mit Manfred Durzak ablesen: »Das Stück muß ganz fest gefügt sein, es darf nichts Überflüssiges darin sein, Es muß eine feste Form haben wie ein körperlicher Gegenstand.« (X, S. 308)39 Wir verstehen nun noch besser, warum Canetti in seinen Werken ausschließlich redende Namen gebraucht. Sie allein haben nichts Überflüssiges in sich; sie allein, auch in paradoxer Form, gehören so sehr zu ihrem Träger, dass man sie nicht beliebig vertauschen kann. Damit tragen sie maßgeblich zur festen Form des Stückes bei. Der Vergleich zwischen Dichter und Bildhauer hat allerdings seine Grenze. Die dramatischen Figuren besitzen eine Fähigkeit, die den Skulpturen fehlt: Sie denken und sprechen. In Hochzeit ist beides, wie die Analyse einer weiteren Szene in Kürze zeigen wird, besonders für die Namen von eminenter Bedeutung. In einer längeren Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen, geschrieben 1942, dachte Canetti darüber nach, wie wichtig die Sprache für die Figuren ist. Da er seine angekündigte dramentheoretische Abhandlung nicht verwirklicht hat, ist diese Aufzeichnung einer der ersten Anhaltspunkte, um zu begreifen, was er in seinen Stücken mit der Sprache anzustellen beabsichtigte. Es wird mir langsam klar, daß ich im Drama etwas verwirklichen wollte, was aus der Musik stammt. Ich habe Konstellationen von Figuren wie Themen behandelt. Der Hauptwiderstand, den ich gegen die »Entwicklung« von Charakteren empfand (so als wären sie wirkliche, lebende Menschen), erinnert daran, daß auch in der Musik die Instrumente gegeben sind. Sobald man sich einmal für dieses oder jenes Instrument entschieden hat, hält man daran fest, man kann es nicht, während ein Werk abläuft, in ein anderes Instrument umbauen. [...] Die Zurückführung der dramatischen Figur auf ein Tier läßt sich mit dieser Auffassung sehr wohl vereinen. Jedes Instrument ist ein ganz bestimmtes Tier oder zumindest ein eigenes und wohlabgegrenztes Geschöpf, das mit sich nur auf seine Weise spielen läßt. Im Drama hat man die göttliche und über alle anderen Künste erhabene Möglichkeit, neue Tiere, also neue Instrumente, neue Geschöpfe zu erfinden, und je nach ihrer thematischen Fügung eine immer wieder andersgeartete Form. (IV, S. 19)

Schon hier wendet sich Canetti gegen die Entwicklung von Charakteren. Sie sollen sich so gleich bleiben wie ein Instrument, mit dem man zwar verschiedene Melodien zu spielen vermag, das aber immer an seiner typischen Klangfarbe

|| 39 Vgl. dazu auch das Gespräch über Hochzeit mit Hans Heinz Holz: »Nicht nur ist es für die Absicht dieses Stückes sehr notwendig, zu einer klaren Begrenzung zu gelangen, das war mir besonders wichtig; es ist auch so, daß ich nichts Überflüssiges drin haben wollte.« (X, S. 223)

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zu erkennen ist. Gleiches gilt seiner Auffassung nach für die Tiere. Im zweiten Teil seiner Aufzeichnung bezieht er sich wahrscheinlich auf Animal Language, zwei Schallplatten und ein Büchlein, zusammengestellt von Julian Huxley, dem berühmten englischen Biologen.40 Was er auf der ersten Platte zu hören bekam, waren afrikanische Tiere bei Nacht: […] einen Löwen, der auf Raub ausgeht, dann seine Begegnung mit seinem Beutetier, einem Zebra, das er erbeutet. Man hört also das Keifen eines Zebras und dann alle möglichen Tiere, die hinzukommen, Vögel, Elefanten, dann um die Leiche des Zebras die Aastiere. Da kommt nun die Stimme eines Tigers, eines Servals, eines Schakals, verschiedene Hyänen; wobei die eine Hyäne – sie hat eine Stimme wie ein Lachen – lacht. Die Platte endet dann mit dem wirklichen Lachen eines Irrsinnigen, der die Stimme dieser Hyäne ist. Das hat nicht nur als Ereignis die Form eines Dramas, denn es ist eine Jagd, die Erlegung eines Tieres, sondern ist auch stimmlich ganz das. Ich hatte das Gefühl, das ist das größte Dokument, das mir je untergekommen ist für das, was ich eigentlich will. Die vielen Stimmen, die da sind in dem afrikanischen Dschungel, sind eigentlich für mich das Vorbild für das, was ich mit einem Drama – das muß natürlich übersetzt werden und ist viel komplexer – will. (X, S. 306)

Auch in Das Augenspiel weist Canetti auf den Zusammenhang zwischen Tierstimmen und Drama hin. Er erzählt von einer Lesung aus seinem zweiten Stück – einem Stück, das man, wie er meinte, unbedingt hören müsse, um es zu erfassen. Einer der Gäste, niemand Geringeres als Franz Werfel, hatte bald genug gehört. Er sprang auf, nannte Canetti, dessen Vortragskunst ihn als Schüler seines Erzfeindes Karl Kraus verraten hatte, einen Tierstimmenimitator – und verließ demonstrativ den Saal. Was den Vortragenden vernichten sollte, bewirkte das Gegenteil: Es bestärkte ihn, auch wenn er sich über Werfel deshalb nicht weniger empörte. Denn »[…] das war es ja genau, was ich vorhatte, jede Figur sollte gegen die andere so klar abgesetzt sein wie ein besonderes Tier und an ihren Stimmen sollte es zu erkennen sein, die Geschiedenheit der Tiere übertrug ich in die Welt der Stimmen und es traf mich, als ich seine Beschimpfung aufnahm, wie der Blitz, daß er etwas Richtiges erkannt hatte, allerdings ohne eine Ahnung davon zu haben, wozu diese ›Tierstimmenimitation‹ diente.« (IX, S. 118)41 Jedes Tier ist unterscheid- und identifizierbar: Canetti argumentiert hier ähnlich wie Lessing in seiner zweiten Fabelabhandlung, aber mit einem Unterschied: || 40 Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 308. Animal Language findet sich heute unter der Sigle CAN 13731 in Canettis Bibliothek. 41 Vgl. ZB 3, September 1934: Es sei »das Ehrenvollste« für einen Dramatiker, als »Tierstimmen-Imitator« bezeichnet zu werden. »Denn der Anfang eines Dramas ist das Spielen eines Tieres, sobald viele Menschen ringsum zusehen, ohne dieses Tier zu jagen und ohne ihm zu entfliehen.«

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Die Stimmen gewinnen bei ihm, wie der Vergleich mit den Instrumenten zeigt, eine alles überragende Bedeutung. Canettis Bemerkungen über Instrumente und Tierstimmen eröffnen eine neue Perspektive auf die behandelten Texte. Denn immerhin sind uns in Hochzeit zwei Figuren mit einem Tiernamen begegnet: Sie sind die Übersetzung des tierischen Vorbilds in einen konkreten Text. Darüber hinaus haben wir festgestellt: Bei allen Unterschieden in Konzeption und Ausführung sind sich Canettis Figuren stets gleich und meist auch strikt voneinander getrennt geblieben, so wie eine Geige nicht mit einer Gitarre, ein Löwe nicht mit einer Hyäne zu verwechseln ist. Vieles, nicht nur die Namen, trägt dazu bei: die Hierarchie in Die Befristeten und die Schwellen in Der Ohrenzeuge, der radikale Egoismus der Hochzeitsgäste, die nur sich selbst lieben und einander jagen wie die Tiere. Diese Gemeinsamkeiten bestätigen Canettis eigenen Eindruck. Alle seine Werke sind im Kern dramatischer Natur (X, S. 171). Und mehr noch: Sie sind satirisch. Aufgabe der Satire sei es nämlich, so Canetti in Die Fackel im Ohr, die Menschen zu peitschen »für ihre Schlechtigkeiten, die zu Raubtieren heranwachsen und sich fortpflanzen« (VIII, S. 286f.). Was aber ist mit der Sprache? Wie trägt sie, das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen, zur Trennung der Figuren bei? Und was ist mit den paradoxen Namen, die Teil dieser Sprache sind? Sollen sie die Trennung auf eine besondere Art akzentuieren? In einem Interview für die Wiener Zeitschrift Sonntag aus dem Jahre 1937 erklärt Canetti: Das »wichtigste Element dramatischer Gestaltung« ist die akustische Maske.42 Da dieser Begriff ein Novum in der Geschichte der Poetik ist, ein

|| 42 Sigurd Paul Scheichl: Ohrenzeugen und Stimmenimitatoren. Zur Tradition der Mimesis gesprochener Sprache in der österreichischen Literatur. In: Ders. und Stieg (Hg.): Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Einleitung, Anm. 63), S. 57–95, hier S. 59 weist darauf hin, dass Canetti in diesem Interview vor allem von der Realität und nicht von einem literarischen Text spricht. Es sei zu unterscheiden zwischen der in Wirklichkeit aufgenommenen akustischen Maske und der akustischen Maske einer Figur im literarischen Text. Die Differenz zwischen der gefundenen und der erfundenen akustischen Maske, auf die Scheichl zu Recht hinweist, spricht Canetti im Interview mit dem Sonntag selber an: »Es soll nun damit nicht gesagt sein, daß der Dramatiker als wandelnder Phonograph zu existieren habe, der die Sprechweise möglichst vieler Menschen registriert und dann, je nach Bedarf, aus der vorhandenen Kollektion von akustischen Masken Dramen zusammensetzt […] Aber hören muß der Dramatiker schon können; er muß ein gerüttelt Maß sprachlichen Lebens ins sich haben; in ihm muß sich das Gehörte gründlich mischen und gründlich wieder sondern, damit die Gestalten, die zu ihrer Zeit entstehen, eben in ihrer akustischen Maske deutlich und wirksam sind.« (X, S. 138) Die akustischen Masken in Canettis Dramen erscheinen Steppa Belloin: Elias Canetti Komödie der Eitelkeit: Versuch einer Interpretation. In: Recherches Germaniques (1982), Nr. 12, S. 152–169, hier S. 156 als die »moderne Fassung des Leitmotives«.

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Ergebnis seines eigenen Denkens, expliziert ihn Canetti – in Form einer Versuchsanordnung zur quasi experimentellen Überprüfung seiner These. Man solle, so Canetti, irgendein Volkslokal aufsuchen, dort einen Fremden in ein Gespräch verwickeln und ihm aufmerksam zuhören: Da werden Sie nun finden, daß Ihr neuer Bekannter eine ganz eigentümliche Art des Sprechens an sich hat. Es genügt nicht festzustellen: er spricht Deutsch oder er spricht im Dialekt, das tun alle oder die meisten Menschen in diesem Lokal. Nein, seine Sprechweise ist einmalig und unverwechselbar. Sie hat ihre eigene Tonhöhe und Geschwindigkeit, sie hat ihren eigenen Rhythmus. Er hebt die Sätze wenig voneinander ab. Bestimmte Worte und Wendungen kehren immer wieder. Überhaupt besteht seine Sprache nur aus fünfhundert Worten. Er behilft sich recht gewandt damit. Es sind seine fünfhundert Worte. Ein anderer, auch wortarm, spricht in anderen fünfhundert. Sie können ihn, wenn Sie ihm gut zugehört haben, das nächste Mal an seiner Sprache erkennen, ohne ihn zu sehen. Er ist im Sprechen so sehr Gestalt geworden, nach allen Seiten hin deutlich abgegrenzt, von allen übrigen Menschen verschieden, wie etwa in seiner Physiognomie, die ja auch einmalig ist. Diese sprachliche Gestalt eines Menschen, das Gleichbleibende seines Sprechens, diese Sprache, die mit ihm entstanden ist, die er für sich allein hat, die nur mit ihm vergehen wird, nenne ich seine akustische Maske. (X, S. 137f.)

Die akustische Maske hat vieles gemeinsam mit den Masken der Naturvölker, auf die sich Canetti in Masse und Macht hauptsächlich bezieht. Vor allem ist sie starr und konstant. Es sind stets dieselben Wörter, die der Sprecher gebraucht, seine ›parole‹43. An diesen Wörtern, ihrem Rhythmus und ihrer Tonhöhe, kann man ihn erkennen, sogar mit geschlossenen Augen; es sind – mit Jean Paul gesprochen – die »Wurzelworte des Charakters«44. Auch die akustische Maske ist demnach ein Endzustand, auch sie schafft eine Figur. Da ihre Worte sowohl zur langue gehören als auch zum persönlichen Besitz eines Menschen, da sie erfüllt sind mit seinen Vorstellungen und Hoffnungen, stellt sie die tiefste Form der Trennung in der Sprache dar.45 Denn die Menschen sprechen mit den || 43 Vgl. dazu Harry Timmermann: Tierisches in der Anthropologie und Poetik Elias Canettis mit Beispielen aus dem Gesamtwerk. In: Sprache im technischen Zeitalter 93 (1985), S. 99–126, hier S. 102: Der Dichter sei ausschließlich an der ›parole‹ und nicht an der ›langue‹ interessiert. 44 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 1), S. 227 (§ 61). 45 Treffend die Pointierung bei Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 109: »Individuell ist nur die Wortwahl, der Sprachgestus dagegen ist kollektiv […].« Vgl. auch Canettis Ausführungen in Karl Kraus, Schule des Widerstands: »Aber dieselben Worte, die nicht zu verstehen sind, die isolierend wirken, die eine Art von akustischer Gestalt schaffen, sind nicht etwa rar oder neu, von diesen auf ihre Vereinzeltheit bedachten Geschöpfen erfunden: es sind Worte, wie sie am häufigsten gebraucht werden, Phrasen, das Allerallgemeinste, hunderttausendfach Gesagte, und dieses, genau dieses, benutzen sie, um ihren Eigenwillen zu bekunden. Schöne, häßliche, edle, gemeine, heilige, profane Worte, alle geraten in dieses tumultuöse

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gleichen Wörtern eine je andere Sprache. Sie verstehen sich nicht und können sich überhaupt nicht verstehen; sie sind Monaden ohne prästabilisierte Harmonie. Diese Erkenntnis, die Frucht zweier Berliner Aufenthalte, bestimmte Canettis Arbeit seit dem Ende der 1920er Jahre. Es entstand der Plan zu einer »Comédie Humaine an Irren«, bestehend aus acht Romanen um acht Figuren, von denen jede in ihrer eigenen Welt und ihrer eigenen Sprache leben sollte. Ich empfand das Erbarmungslose dieses Lebens: daß alles aneinander vorbeilief, daß nichts sich wirklich mit dem anderen auseinandersetzte. Es war in die Augen springend, nicht nur, daß niemand den anderen verstand, sondern auch daß keiner den anderen verstehen wollte. (VIII, S. 300)

Das Nicht-Verstehen-Können und Nicht-Verstehen-Wollen thematisiert Canetti auch in Hochzeit, dem »Drama der Sprache«46. Dabei spielt das Wort »Herz« eine zentrale Rolle47. Canetti legt es mehreren Figuren in den Mund. Da ist Thut, dem die Nachtruhe seines Kindes »über alles ans Herz gewachsen ist« und der trotzdem das Schlafzimmer zu Spionagezwecken in eine unruhige Ecke der Wohnung verlegt hat (II, S. 15); da ist seine Frau Leni, die ihm vorhält, er habe »kein Herz«, weil er für seinen Sohn nicht alles täte (II, S. 16); da ist Johanna, die sich Michel gegenüber als »Schwiegermama mit dem jungen Herzen und den blühenden Formen« anpreist (II, S. 29); und da ist Max, der meint, || Reservoir, und jeder fängt sich heraus, was seiner Trägheit paßt; und wiederholt es, bis es nicht zu erkennen ist, bis es etwas ganz anderes, das Gegenteil von dem sagt, was es einmal bedeutete. Die Entstellung der Sprache führt zum Tohuwabohu der geschiedenen Figuren.« (VI, S. 136f.) 46 Burgstaller: Zur Behandlung der Sprache in Elias Canettis frühen Dramen (wie Einleitung, Anm. 17), S. 114. Hochzeit, so Burgstaller, sei der »Schlüsselpunkt in Canettis Behandlung der Sprache und seiner Stellung zur Sprache überhaupt« (Ebd., S. 116). 47 »Herz« gehört in Die Blendung auch zu Thereses Lieblingsworten. Vgl. I, S. 107, 126f., 151, 174 und 231. Der Möbelverkäufer Grob benutzt das Wort, um die Kundinnen für sich einzunehmen und so zum Kauf zu animieren, wobei sich sein eigentliches Interesse, das Interesse an Geld, im vorangestellten Adjektiv verrät: »Daran erkennt man das goldene Herz, Gnädigste. Der Herr Gemahl sind zu beneiden.« (I, S. 81; vgl. auch S. 83 und 85) Wenig später, als Therese Grob zum Mittagessen einladen will, zitiert er einen Schlager, um sie an ihren Ehemann zu erinnern und sie sich so vom Hals zu schaffen: »Kennen Gnädigste das Lied vom armen Gigolo, schönen Gigolo? ›Wenn das Herz dir auch bricht…‹ bleiben wir bei diesem!« [bzw. ›Wenn das Herz ihr auch bricht, ich erlaub' es ihr nicht.‹] (I, S. 86) Besonders gut zeigt sich der Missbrauch des Wortes zu Beginn des Kapitels »Großes Erbarmen«, wo die christliche Ethik ins Gegenteil verkehrt und die Pfandleihanstalt als »wahres Fürstenherz« bezeichnet wird: »Die Leute werfen sich ihr [der Anstalt – A.S.] zu Füßen und bringen wie zu alten Zeiten einen Zehnten dar, der aber nur so heißt. Denn für das Fürstenherz ist er ein Millionstel, für die Bettler das Ganze.« (I, S. 223)

Name, akustische Maske, Privatmythos | 301

Gretchen und er seien »ein Herz« – was diese sofort vervollständigt: »und eine Seele!« (II, S. 68) In allen diesen Fällen soll das Wort eine emotionale Bindung schaffen oder bekräftigen; doch das Gegenteil geschieht: Die sprachliche und geistige Isolierung der Figuren wird mehr denn je offenkundig, da dasselbe Wort, Bestandteil ihrer Kollektivsprache, einen je anderen Sinn hat, der vom Gesprächspartner nicht verstanden wird. Und noch dazu ist es ein Instrument im Machtkampf der Figuren: Thut inszeniert sich als liebenden Vater und kaschiert zugleich seine Selbstsucht; Leni benutzt dasselbe Wort wie er, um ihm seinen mangelnden Mut (animus: Herz und Mut) vorzuhalten; Johanna setzt es als Lockmittel ein, um ihren wesentlich jüngeren Schwiegersohn ins Bett zu bekommen, und Max täuscht sich über die Niederlage im Verhandlungspoker mit Gretchen hinweg, indem er am Ende der Szene ihre Zusammengehörigkeit sprachlich inszeniert. Aus der Isolierung entsteht so, im dialektischen Umschlag, ein heilloses Durcheinander, ein zweites Babel.48 Ums Nicht-Verstehen geht es programmatisch schon im ersten Bild des Stücks: Die Gilz gibt vor, sie sei so taub, dass sie ihre Enkelin nicht gut hören könne: »I kann di gar net verstehn. I her nix.« (II, S. 11) Das Nicht-VerstehenKönnen ist hier ein Nicht-Verstehen-Wollen, denn bis dahin hatte die Gilz keine Probleme mit ihrem Gehör. Anders ist es später, im Gespräch zwischen Horch und der Witwe Zart: »Sie verstehen mich immer falsch, Horch. Sie sind ein Idealist.« (II, S. 31) Wer hier freilich nicht versteht, ist die Witwe selbst. Sie fällt auf Horchs Maske herein. Beide Stellen veranschaulichen noch einmal pointiert, worum es in Hochzeit geht: um Verstellung und Verkennung. Die Großmutter verstellt sich; sie vernimmt sehr wohl, dass Toni das Haus bekommen möchte, aber sie leugnet es, weil es gegen ihre eigenen Absichten geht. Und die Witwe Zart verkennt, dass Horch ihre Verstellung durchschaut hat und nur so tut, als verstehe er sie falsch. Vor diesem Hintergrund wird klar, wie modern die Funktion der paradoxen Namen in Hochzeit ist. Canetti hatte es nicht auf ihre althergebrachte komische Wirkung49 abgesehen, zumindest nicht in erster Linie, er

|| 48 Vgl. dazu auch die Interpretation von Helwig in: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 203f. Im Gespräch mit Hans Heinz Holz stimmt Canetti der assoziativen Verknüpfung seines Stücks mit der Geschichte vom Turmbau ausdrücklich zu: »[…] aber besonders gefällt mir auch Ihre Verbindung zur babylonischen Sprachverwirrung, denn natürlich steckt das hinter dem Stück.« (X, S. 223) 49 Vgl. zur komischen Wirkung von Namen Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 89–97. Ein schönes Beispiel dafür ist der Name »Lastersak« aus Wittenwilers Ring. Es ist der Name eines Tugendpredigers. Vgl. dazu Boesch: Die Namenwelt in Wittenwilers Ring und seinen Quellen (wie Kapitel B3, Anm. 30), S. 157; ders.: Über die Namengebung mittelhochdeutscher Dichter (wie Kapitel B3, Anm. 60), S. 252.

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wollte vielmehr eine chaotische Welt auf die Bühne bringen, ein zweites, gegenwärtiges Babel. Da redende Namen einen Einblick in das Wesen ihres Trägers gewähren, unterstreicht gerade ihre Paradoxie, wie sehr sich die Figuren in Hochzeit missverstehen. Die Wahrheit liegt vor ihnen, aber sie begreifen nicht. Im Gegensatz zum Leser ist ihnen der Name kein Zugang zum Benannten, sondern allenfalls ein Gegenstand des Spotts. So bleibt das mythische Denken zwar der außertextliche Bezugspunkt für Canettis Namengebung, aber es wird transformiert, mit seinen Erfahrungen, seiner Anthropologie und Sprachkritik angereichert. Wie die Analyse des Stücks nachgewiesen hat, missverstehen sich die Figuren allerdings auch selbst. Darauf weist sowohl ihre akustische Maske als auch ihr Name hin. Um den Zusammenhang zwischen Sprache und Name zu verstehen, muss zunächst der Unterschied zwischen den beiden Formen der Maske herausgearbeitet werden, von denen Canetti in Masse und Macht erzählt, der Unterschied zwischen der akustischen und der archaischen Maske: Denn gleich hinter der Maske beginnt das Geheimnis. In den strengen, voll ausgebildeten Fällen, von denen hier die Rede ist, also dort, wo die Maske ernst genommen wird, darf man nicht wissen, was sich hinter ihr befindet. […] Sie droht mit ihrem Geheimnis, das sich hinter ihr staut. Da ein fließendes Ablesen wie von einem Gesicht von ihr nicht möglich ist, vermutet und fürchtet man Unbekanntes dahinter. (III, S. 445)

Das Geheimnis beginnt bei der akustischen Maske (sofern es sich um Wörter aus der eigenen Sprache handelt) keineswegs erst dahinter, im Verborgenen, Ungefähren, sondern es ist ein integraler Teil der Rede selbst. In Die Provinz des Menschen schreibt Canetti 1942, nur wenige Jahre nach dem Interview im Wiener Sonntag, über das Geheimnis in der Sprache: Im Gebrauch ihrer Lieblingswendungen und –worte sind die Menschen geradezu unschuldig. Sie ahnen nicht, wie sie sich verraten, wenn sie am harmlosesten daherplappern. Sie glauben, daß sie ein Geheimnis verschweigen, wenn sie von anderen Dingen reden, doch siehe da, aus den häufigsten Wendungen baut sich plötzlich ihr Geheimnis drohend und düster auf. (IV, S. 17)

Von den fünfhundert Worten, die der Mensch gebraucht, verraten einige wenige Lieblingswendungen, wovon er besessen ist. Sie sind, wie Heide Helwig formuliert, ein »akustische[r] Identitätsausweis«50. In einem extremen Sinn sind also auch für Canetti die »Grenzen meiner Sprache« »die Grenzen meiner Welt«,

|| 50 Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 154.

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wie es in Wittgensteins Tractatus heißt.51 Besonders gut zu beobachten ist diese Selbstanprangerung bei Rosig. Indem er unzählige Komposita des Verbs »waschen« benützt, enthüllt er, ohne es zu wollen, dass er vor Jahren als Leichenwäscher gearbeitet hat und diese Erfahrung ihn noch immer beherrscht. Sie ist die Schranke seiner Welt und der Fixpunkt seines Denkens. Eines der ökonomischsten Mittel, um die fixe Idee einer Figur aufzudecken, wesentlich kürzer und semantisch dichter als die akustische Maske52, ist der Name. Er ist das Geheimnis, das sich in der akustischen Maske offenbart: Bock, der sich sexuellen Erfolg wünscht, Rosig, der überleben möchte, Segenreich, der möglichst viele Enkel um sich versammeln will – sie alle sind in ihrem Wirkungsradius beschränkt, sind in sich selber verkapselt, nicht weniger als die Sultansüchtige oder der Mannstolle, nicht weniger auch als die Befristeten. Die geistige und seelische Vereinzelung der Figuren bringt Canetti zur Sprache, indem er ihre fixen Ideen als »Privatmythen« bezeichnet.53 Er meint damit eine persönliche und geradezu pathologische54 Form der Wirklichkeitserklärung,

|| 51 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969 (Schriften; 1), S. 64 [5.6.]. 52 Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 150f. weist etwa auf Hans Asriels »Natürlich« und »Selbstverständlich« hin (Vgl. VIII, S. 74). Ihre Schlussfolgerung: Der persönliche Hauptsatz oder auch nur ein Hauptwort vertrete »in komprimierter Form« die spezifische Problematik eines Menschen. 53 Vgl. X, S. 208: »Ich glaube, daß jeder Mensch aus einer Art Privatmythos heraus lebt, der ihn treibt, der ihn vorwärts treibt.« Vgl. dazu Zepp: Privatmythos und Wahn (wie Einleitung, Anm. 35), S. 5: »Mit dem Begriff ›Privatmythos‹ kennzeichnet Canetti den Aufbau einer individuellen Mythologie, die gleichsam das Energiepotential und die Wirksamkeit des Kollektivobjektes Mythos in die Existenz des Einzelnen verlagert und mit den Korrelationen von Ich und Masse verzahnt.« Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 511 weist darauf hin, dass sich der Privatmythos der Allgemeinverbindlichkeit des Mythos entzieht und gerade den »totalen Solipsismus des Individuums und seine unbeirrte Distanz zur Masse« zum Ausdruck bringt. Vgl. darüber hinaus Heike Knoll: »Das Individuum ist für Canetti stets Exponent des Irrsinnigen.« Die Kritik des Individuums bei Elias Canetti. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 25 (1995), H. 97, S. 146–151, hier S. 149: Akustische Maske und Privatmythos verhalten sich zueinander wie Form und Inhalt. Manfred Schneider bevorzugt den Ausdruck »Individualmythos« Vgl. Die Krüppel und ihr symbolischer Leib. Über Canettis Mythos. In: Hüter der Verwandlung (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 22–41, hier S. 24. Zum Zusammenhang von Privatmythos und Traum vgl. X, S. 235: Jeder Mensch hat einen wiederkehrenden Traum, von dem er getrieben wird und der ihn von anderen Menschen unterscheidet. Diesen Traum kann man seinen Privatmythos nennen. 54 Vgl. dazu Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 229: »Der Zwang, der von sprechenden Namen ausgeht, erscheint bei den numerisch Bezeichneten reduziert auf eine Dimension, den Tod.«

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häufig in Gestalt von Träumen, die weder der objektiven Wahrheit noch der intersubjektiven Wahrnehmung entspricht und dennoch universale Gültigkeit beansprucht. Ähnlich wie die akustische Maske ist diese Art des Wahnsinns in Canettis Werken kollektiv und subjektiv zugleich. Kollektiv ist die Existenz von Privatmythen, in Die Befristeten der Glaube an die Prädestination; subjektiv ist der Inhalt des Privatmythos, in Die Befristeten der Glaube an die Wirkkraft des eigenen Namens. Durch dieses konsequente Zusammenspiel von Name und Privatmythos wirkt Canettis Verfahren noch moderner als ähnliche Ansätze in der Namengebung. In Thomas Manns früher Erzählung Der kleine Herr Friedemann (1897) etwa weist der Name der Hauptfigur ebenfalls auf eine Sehnsucht hin. Sie steht wie bei Segenreich im Zentrum ihres gesamten Denkens und Handelns.55 Der stark verwachsene Kaufmann Johannes Friedemann, ein gesellschaftlicher Außenseiter, möchte abgeschirmt von den Menschen in Frieden leben. An seinem dreißigsten Geburtstag, zu einem Zeitpunkt, wo nach biblischer Vorstellung die öffentliche Aktivität des Menschen beginnt, erreicht er diesen Zustand erhoffter Glückseligkeit: Er sitzt mit einem Buch in der Hand und einer Zigarre im Mund in seinem privaten Paradies, einem grauen Gartenzelt, lauscht dem Gezwitscher der Vögel und sagt zu sich selbst: »Nun kommen vielleicht noch zehn, oder auch noch zwanzig [Jahre – A.S.], Gott weiß es. Sie werden still und geräuschlos daherkommen und vorüberziehen, wie die verflossenen, und ich erwarte sie mit Seelenfrieden.«56 Doch das Schicksal, das seine Macht bewiesen zu haben scheint, als Friedemann einst, im Säuglingsalter, durch einen Unfall zum Krüppel wurde, hat offenbar Anderes mit ihm vor. Eines Tages tritt Gerda von Rinnlingen in sein Leben, die verführerische Gattin des neuen BezirksKommandanten, eine Personifikation des Lebens als Macht57: »Da war diese || 55 Zu einer anderen Deutung kommt Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Einleitung, Anm. 103), S. 78: »Der Name signalisiert den gestörten Frieden des Helden. Er erwiese sich als irreführend in seiner harmonischen Struktur, wäre nicht das Attribut ›klein‹ als störendes Element, wie die Negation vor einer Klammer in mathematischer Sprache, determinativ beigegeben.« 56 Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann. In: Ders.: Frühe Erzählungen 1893–1912 (wie Einleitung, Anm. 122), S. 87–119, hier S. 94. 57 Vgl. dazu Thomas Manns Kommentar in On Myself: »Die Hauptgestalt ist ein von der Natur stiefmütterlich behandelter Mensch, der sich auf eine klug-sanfte, friedlich-philosophische Art mit seinem Schicksal abzufinden weiß und sein Leben ganz auf Ruhe, Kontemplation und Frieden abgestimmt hat. Die Erscheinung einer merkwürdig schönen und dabei kalten und grausamen Frau bedeutet den Einbruch der Leidenschaft in dieses behütete Leben, die den ganzen Bau umstürzt und den stillen Helden selbst vernichtet.« Zitiert nach Thomas Mann: Nachträge. Frankfurt a.M.: Fischer 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bdn.; 13), S. 135.

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Frau gekommen, sie mußte kommen, es war sein Schicksal, sie selbst war sein Schicksal, sie allein!«58 Sein Vorname Johannes – traditionell ein Dienstbotenname – gewinnt nun, mythisch gesehen, die Oberhand59: Friedemann muss Gerda, muss dem Schicksal gehorchen, weil er von dessen Macht überzeugt ist. Das kann nicht gut gehen. Am Ende der Erzählung liegt er »zitternd und zuckend«60 vor Gerda auf den Knien und bettelt um ihre Gunst. Nachdem sie ihn höhnisch von sich gestoßen hat, nimmt er sich im Fluss das Leben. Erst jetzt, im Tod, findet er seinen Frieden. Während das Verhältnis von Wirklichkeit und Einbildung in dieser Erzählung ungeklärt bleibt, überwiegt in Canettis bisher analysierten Dramen die letztere. Von der mythischen Schicksalsmacht ist eines übriggeblieben: der Zwang. Seine Figuren haben diesen Zwang verinnerlicht. Nicht die anderen Menschen, nicht Gott, nicht irgendeine transzendente Macht, sie selbst sind sich zum Schicksal geworden, jeder von ihnen ein Herrscher über die eigene separate Welt.

4.3 Zur Vertiefung – Peter Hell und Anita Überprüfen und vertiefen lassen sich die bisherigen Erkenntnisse über das Gefüge aus Name, akustischer Maske und Privatmythos an einem weiteren Beispiel. Zwei Nebenfiguren aus Canettis Hochzeit sind zu diesem Zweck bisher nicht besprochen worden. Laut Szenenanweisung handelt es sich um einen jungen Herrn und ein »bessere[s] Mädchen« (II, S. 17). Sie heißen Peter Hell und Anita und haben ihren ersten Auftritt im dritten Bild des Vorspiels. Zu Beginn der Szene tritt Peter Hell »über die Schwelle« in Anitas Jungmädchenzimmer, mit einem »lächerlich großen Blumenstrauß« in der Hand. Er möchte ihr seine Liebe gestehen und sie um ihre Hand bitten. Denn sie ist die Einzige, wie ihm scheint, die ihn versteht und die wiederum auch er versteht, seine Seelenverwandte (II, S. 17). »Verstehen«, aber auch »missverstehen« sind die zentralen

|| 58 Mann: Der kleine Herr Friedemann (wie Anm. 56), S. 111f. 59 Wieder nicht überzeugend ist die Deutung von Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Einleitung, Anm. 103), S. 26: »Bei Johannes Friedemann dient der Vorname zur Verstärkung des Wortelementes Friede (und erinnert an Johannes, den Lieblingsjünger Jesu). Der Name steht im Widerspruch zu dem leidenschaftlichen, inneren Ausbruch des Krüppels und seinem Suizid.« 60 Mann: Der kleine Herr Friedemann (wie Anm. 56), S. 118. Siehe dazu Gerhard Kluge: Das Leitmotiv als Sinnträger in Der kleine Herr Friedemann. Ein Versuch zur frühen Prosadichtung Thomas Manns. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), S. 484–526, hier S. 494: Die alliterierende Doppelung dokumentiere die »totale Überwältigung des Menschen« durch die anonyme Macht.

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Wörter seiner akustischen Maske, so wie das Verb »waschen« bei Rosig. Auf knapp drei Druckseiten gebraucht er beide Wörter neunzehn Mal, an einigen Stellen unmittelbar hintereinander: »Mißverstehst du mich? Du mißverstehst mich nicht, Anita.« (II, S, 18) Und wenig später: »Verstehst du mich? Du verstehst mich.« (II, S. 18) Sein Privatmythos, die Sehnsucht nach einer gelingenden Kommunikation, spiegelt sich im Nachnamen. Hell möchte möglichst luzide reden, also nicht dunkel wie Heraklit oder Laotse; man soll ihn auf Anhieb verstehen. Seine andauernden Nachfragen: »Verstehst Du mich?« dienen der Absicherung gegen seine größte Angst: das Nicht-Verstanden-Werden. Der enge Zusammenhang zwischen Name und akustischer Maske ist gerade bei ihm nicht zu übersehen. Während der Arbeit an seinem zweiten Drama hat Canetti diesen Zusammenhang selbst hergestellt: Die Gefahr von Namen liegt hauptsächlich darin, dass sie mehr ausdrücken als da sein soll. Belanglose Namen sind das Verwischendste, ausgeprägte dagegen verleihen viel zu viel Charakter. Namen müssen den Menschen so exakt gegeben werden wie ihre ganz eigene Sprache.61

Peter Hells Nachname entspricht dieser Vorgabe: Er ist ihm so exakt angepasst wie die Sprache. Allerdings zeigt er nicht nur an, worauf Hell so sehr fixiert ist, dass er immer davon reden muss, sondern auch, nach welchem Prinzip er seine Welt konstruiert. Denn Peter Hell täuscht sich, die Kommunikation im dritten Bild ist gestört, sie findet überhaupt nicht statt. Während seines Auftritts spricht Hell ausschließlich mit sich selbst, unterbrochen von einigen knappen Äußerungen Anitas62, die er zweimal mit dem verräterischen Satz kommentiert: »Entschuldige, du hast mich unterbrochen.« (II, S. 18f.). Ohne Anitas Antworten abzuwarten, dekretiert er, dass sie ihn verstehe. Was er indes übersieht: Sie versteht ihn nicht und will ihn auch nicht verstehen, er ist ihr gleichgültig, denn sie liebt ihn nicht. Als er ihr sein Geheimnis, seine Liebe gesteht, hört sie nicht einmal auf, sich zu schminken. Und auf der Hochzeitsfeier, für die sie sich hergerichtet hat, wirft sie sich dem lüsternen Bock an den Hals. Erst als das Erdbeben das Haus erschüttert, erinnert sie sich an Peter – aber nicht um seiner selbst willen. Sie instrumentalisiert ihn für ihren Fluchtplan: Sie müsse sofort zu ihm, sagt sie, ihrem Bräutigam »[s]eit jetzt« (II, S. 62). Doch der Plan misslingt. Segenreich lässt sie nicht hinaus, und Peter Hell kann nicht in die Wohnung hin-

|| 61 ZB 33.3, ohne Datum. 62 Vgl. dazu ZB 33.1a, ohne Datum (Kommata der Apposition fehlen im Original): »Er der liebende Teil darf nur Unsinn reden, blauen Dunst, Lächerlichkeiten, sie, die Nichtliebende, muss in kürzesten Sätzen ihre dreckige Wahrheit zum Besten geben.«

Zur Vertiefung – Peter Hell und Anita | 307

ein. »Wir sind getrennt. Wir können nicht zueinander.« (II, S. 63) Dieses Ende ist symptomatisch für ihre »Beziehung«. Obwohl Peter Hell zuvor über die Schwelle in Anitas Zimmer eingetreten ist, ist die Grenze zwischen ihnen nie verschwunden. Das gilt für sämtliche Figuren in Canettis Dramen und in Der Ohrenzeuge: Sie können nicht zueinander. Auch im Hinblick auf dieses Ende ist Peter Hells Name exakt angemessen. Sein Vorname leitet sich ab vom griechischen »petros«, der Fels. Sein Privatmythos macht ihn so starr und scharf umrissen wie einen Stein. An einem konkreten Beispiel bestätigt sich damit die Analogie von Bildhauer und Dichter: Canetti schafft eine versteinerte Figur – aber nicht nur hier. Bei der Analyse der Blendung werden wir auf den Namen Peter zurückkommen. Das Maß der Täuschung ist bei Peter Hell aber noch größer, es betrifft Anitas Wesen: Heute nacht lag ich lange wach. Ich konnte keinen Schlaf finden. Da zauberte ich dein Bild vor meine Seele. Plötzlich, ich weiß gar nicht wie, warst du da, du selbst. Ich darf dich versichern, daß keine andere Frau zwischen dich und mich treten könnte. Als Erste, als Allererste, meine Allererste bist du ja, erschienst du und wir sprachen miteinander. […] Du sagtest: ich bin so glücklich. Da stand ich auf, schloß dich in meine Arme und sagte: ich bin noch viel glücklicher. Glaube mir. Du sagtest: ich verstehe dich. Ich küßte dich und hauchte dir ganz leise ins Ohr: ›Mutter meiner Kinder.‹ […] Da sah ich, wie du errötet bist. Soll ich dir die Wahrheit gestehen! Ich hatte dich auf die Probe gestellt. Ich wollte sehen, ob du errötest. Errötest du nicht, dachte ich mir, dann muß ich auf der Hut sein, dann muß ich dir mißtrauen […]. (II, S. 19)

Hell unterscheidet nicht zwischen der ›realen‹ Anita und seinem Bild von ihr. Sie ist es selbst, die ihm nachts im Traum begegnet, die Illusion ist Wirklichkeit. Wegen dieses Irrtums, den nur der Zuschauer als Irrtum erkennt, ist er zu ihr gekommen, der wirklichen Anita, um sich zu bedanken, dass sie errötet sei: »Du hast mir Vertrauen zu meiner Familie, zu meinen Kindern, zu meinen Erben gegeben. […] Mein Leben hat Sinn bekommen.« (II, S. 19) Diese Täuschung, die extreme Verwechslung von Bild und Realität, hat sich symbolisch angedeutet: Anita sitzt vor dem Spiegel und bemerkt den eintretenden Peter Hell, so die Regieanweisung, aber sie dreht sich nicht um, sucht nicht den Augenkontakt (II, S. 17). Hell spricht in der Szene demnach die ganze Zeit zu ihrem Spiegelbild, so wie er in der Nacht zuvor sein Traumbild für sie selbst genommen hatte. Hinzu kommt, dass Anita sich schminkt. Sie täuscht auf ihre Weise, indem sie ihre Erscheinung verändert. Diese Szene lässt eine Inspirationsquelle für Canettis Namengebungsverfahren erahnen. Peter Hell erinnert an Don Quichote, der seine Traumfrau eben-

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falls mit einer realen Person identifiziert. Sie trägt allerdings einen Namen, der ihm nicht gefällt: Aldonza Lorenzo. Er suchte nun einen Namen, der dem seinigen etwas entspräche und der auch Fügung und Richtung zu einer Prinzessin und Herrscherin nähme, und er nannte sie daher Dulcinea von Toboso, denn sie war aus Toboso gebürtig: ein Name, nach seinem Urteil, musikalisch, fremdtönend und bezeichnend wie alle übrigen, die er zu seinem Gebrauche erfunden hatte.63

Dieser Name, in dem das lateinische dulcis (süß) anklingt, passt nicht zu Aldonza Lorenzo, einem plumpen Bauernmädel mit dicken Armen und einem hässlichen Gesicht. Der Name, nicht von ungefähr zum Eigengebrauch erfunden, verrät dem Leser mehr über Don Quichote, seine Ritterphantasien, seine Verwechslung von Wunsch und Realität, seinen Wahnsinn, als über sie. Insofern ist Cervantes, den Canetti zu seinen liebsten Autoren rechnete, auch auf dem Gebiet der Namengebung sein Ahne. Allerdings geht Canetti über die Inspirationsquelle hinaus, da die Benennung nicht auf der persönlichen Wahl seiner Figuren beruht und oft auch der Namenträger ein irriges Bild von sich selber hat. Die Verblendung, von der die Namen zeugen, ist in seinen Werken – anders als bei Cervantes – individuell und kollektiv. In Hochzeit kommt es an verschiedenen Stellen und bei verschiedenen Figuren zu folgenschweren Verwechslungen von Wunsch und Realität. Es sei erinnert an Toni und die alte Gilz, an Segenreich und seine drei Kinder, an Thut, an Bock und Rosig. Die Szene mit Peter Hell und Anita hat deshalb Schlüsselcharakter für das gesamte Stück. Canetti selbst kommentiert das dritte Bild wie folgt: »In der Szene Liebe muss besonders deutlich werden die Hohlheit jeder Fixierung. Der Esel liebt die Jungfrau in ihr. Sie ist die grösste Hure, Er wartet auf sie während sie ihn betrügen geht.«64 Deutlich wird Canettis Absicht bereits im Szenenkommentar: Ein besseres Mädchen, wie es dort heißt, ist Anita nicht; auch der Zuschauer sieht sich getäuscht, nicht anders als Peter Hell. Selbst ihr Name, eine Kurzform von Anna, dem hebräischen Wort für Anmut und der Name von Marias Mutter, täuscht: Anmutig und heilig, eine Unbefleckte, ist sie nicht. Doch Anita ließe sich auch von dem spanischen »ana« herleiten, was so

|| 63 Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Don Quixote von la Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck. Mit 363 Illustrationen von Gustave Doré. Wiesbaden: Vollmer 1975, S. 14. 64 ZB 33.1a, ohne Datum. Das Komma fehlt im Original.

Zur Vertiefung – Peter Hell und Anita | 309

viel bedeutet wie »schlecht«65. In diesem Fall hätten wir es nicht mehr mit einem paradoxen Namen zu tun, sondern mit einem redenden Namen im klassischen Sinn. Canetti könnte sich für einen zugleich täuschenden und passenden Namen entschieden haben, um zu zeigen, wie leicht sich Hell von seinem Privatmythos blenden lässt. Er will und kann nicht sehen, er schaut nach innen und nicht nach außen. Die Wahrheit aber ist direkt vor ihm, sie spricht sich im Namen aus. So zwiespältig wie dieser Name erscheint freilich auch Canettis Verfahren: Es fixiert die Figuren durch ihre Sprache und ihre Namen, um die Hohlheit jeder Fixierung zu erweisen. Seine poetologischen und wirkungsästhetischen Implikationen ließen Canetti keine andere Möglichkeit, als dieses Dilemma wenigstens an dieser Stelle in Kauf zu nehmen. Was Peter Hell in seinem Inneren sieht und fälschlicherweise mit Anita identifiziert, ist das Bild einer keuschen Jungfrau (Jungfrau ist Anitas »Naturell«, II, S. 18), die eine treue Gattin wäre, ein Bild von Tugendhaftigkeit. »Du bis eben rein, Reinheit erwirbt man nicht. Mit Reinheit kommt man auf die Welt. Diese Reinheit hat mit Seife gar nichts zu tun.« (II, S. 18) Wie einige der Charaktere des Ohrenzeugen ist auch Hell von einem Reinheitswahn besessen, es geht ihm allerdings um moralische Reinheit. Auch in diesem Sinne lässt sich sein Nachname deuten: Er weist auf seine puritanische Haltung hin, die Verabsolutierung sexueller Enthaltsamkeit. Diese Verabsolutierung treibt ihn in die Irre. Hell hält ausgerechnet die sich schminkende Anita für ein sittsames, nicht an Männern interessiertes Mädchen, während er ihre Freundinnen für rundum verdorben erklärt. Der Nachname enthält seine beiden wesentlichen Fixierungen zugleich und ist also mehrdimensional. Aus diesem Grund mag Canetti den zeitweise erwogenen Namen Peter Leer66 aufgegeben haben. Mit dem Namen »Leer« hätte er wohl andeuten wollen, dass Hell Anita wie eine Leinwand behandelt, auf die er die eigenen Vorstellungen projiziert. Der Name Hell ist zweideutiger, aber auch nicht zu kompliziert. Er verleiht seinem Träger nicht zu viel Charakter. Peter Hell bleibt ein Typus im Endzustand, eine Figur. In unserer Untersuchung ist bis dato ein Problem unberücksichtigt geblieben, dem sich Canetti mit ziemlicher Sicherheit stellen musste. Wir haben nachweisen können, dass einige seiner Thesen zur Macht sowohl in Die Befristeten als auch in Hochzeit und Der Ohrenzeuge eingegangen sind. Und im direkten Anschluss daran haben wir sodann gezeigt, dass diese Thesen die Namen-

|| 65 Beide Namensetymologien bei Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Kapitel B2, Anm. 6), S. 200. Die zweite Namensdeutung übersieht Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 117, Anm. 30. 66 ZB 33.1b, ohne Datum.

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gebung erheblich beeinflusst haben. Was aber ist mit der Masse? Canettis Begriffe »Figur« und »akustische Maske«, der Zusammenhang zwischen den redenden Namen und der jeweiligen akustischen Maske, die Hierarchien in Die Befristeten, die verschiedenen Formen von Täuschung, die Privatmythen, die unüberwindlichen Schwellen – all das bedeutete immer nur Trennung. Oder anders gesagt: Von Ausnahmen wie Freund und Fünfzig abgesehen, die am Ende bezeichnenderweise miteinander brechen, kamen die Figuren in Canettis Werken nicht zueinander. Die Masse hingegen, so wie Canetti sie verstand, überwindet alle Trennungen. Hier presst sich Körper an Körper, hier befreit der Einzelne sich von sämtlichen Distanzlasten, auch von seinem Namen, und hier werden die Menschen, aus ihrer existentiellen Isolierung vorübergehend befreit, einander gleich und so gemeinsam zu einem einzigen, namenlosen Körper. Nun verhält es sich keineswegs so, dass Massen in den besprochenen Werken keine Rolle spielen. Man braucht nur an die (bewusst namenlose) Umkehrungsmasse in Die Befristeten zu denken und an die Fotos des Blinden in Der Ohrenzeuge. Aber auch in Hochzeit begegnen wir verschiedenen Gruppen67 (Canetti hätte später wohl von Meuten gesprochen, da die Figuren sich kennen und ihre Zahl nicht allzu groß ist). Die erste Gruppe erinnert an eine Festmasse, es ist die Hochzeitsgesellschaft.68 Canetti schreibt über eine solche Form der Masse: Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht, Leben und Genuß während des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Die Atmosphäre für den einzelnen ist eine der Lockerung und nicht der Entladung. (III, S. 70)

In Hochzeit sind es die Gesetze der christlichen Moral, die auf eine weitgehende, den Zuschauer schockierende Weise aufgehoben sind: Annäherungen

|| 67 Bernhard Greiner spricht in seinem Buch: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. 2., aktualisierte und ergänzte Auflage, Tübingen, Basel: Francke 2006 (UTB; 1665), S. 369 ganz allgemein von einer »sexualisierte[n] Masse«. Der Begriff ist zwar durchaus treffend, aber er verschließt den Blick für die Tatsache, dass wir in Hochzeit ganz verschiedenen massenähnlichen Gebilden begegnen. 68 Ich schließe mich der Deutung an, die Dieter Dissinger in seinem Buch: Elias Canettis Roman Die Blendung und seine Stellung im Werke des Dichters. Bristol, Univ.-Diss. 1969 [Masch.], S. 428 vorgeschlagen hat. Allzu pauschal ist der Widerspruch von Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 286, Anm. 33: »Canettis Beschreibung der Festmasse […] steht dem entgegen.« Donnenberg: Elias Canettis Drama Hochzeit (wie Kapitel B2, Anm. 8), S. 99 fragt sich, ob man die Gesellschaft nicht als Vermehrungsmeute begreifen könne, die in Umkehrung begriffen sei.

Zur Vertiefung – Peter Hell und Anita | 311

zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn, Inzest und Päderastie sind möglich. Und es kommt in der Tat zu Übergriffen, wenn auch verdeckt, hinter Vorhängen und in Nebenräumen. Allerdings ist die Befriedigung der Bedürfnisse, anders als bei einer Festmasse, nicht mehr gewährleistet: Der Tisch ist beinahe leergegessen, es ist nicht mehr »sehr viel vorhanden auf einem beschränkten Raum«, keine Berge von Früchten, keine Gefäße mit den beliebtesten Getränken (III, S. 70). Die Hochzeitsgesellschaft erinnert aber zeitweise auch an eine »rhythmische Masse«69. Bevor die Bühne Segenreichs Wohnung zeigt, ist von dort eine tobende, dann eine »bald lärmende, bald anmutige Musik« (II, S. 25f.) zu hören, die aber allmählich leiser wird und vorübergehend verstummt (II, S. 32). Das deutet darauf hin, dass diese Gruppe im Zerfall begriffen ist. So heißt es denn auch in der Szenenanweisung: Die Hochzeitsgesellschaft sei »in kleine Gruppen aufgelöst« (II, S. 26). Segenreich konstatiert später ebenfalls: »Wir separieren uns zu sehr. Wir sind jeder für sich und wir sollen alle zusammen sein, weil sich das so schickt auf meinem großen Tag.« (II, S. 48) Für einige Zeit bildet sich daraufhin wieder eine zusammenhängende Gruppe: Die Gäste stehen, von Maries Weinen angelockt, »nah beieinander«, die Musik spielt, und durch Horchs Frage, die sich an jeden und an alle zugleich richtet, erhält die Versammlung eine Richtung70: Für einen Augenblick konzentrieren sich die Gedanken der Figuren auf die dieselbe Frage, dasselbe Ziel. Doch bald, infolge des Erdbebens, zerfällt auch diese dritte Gruppe. Es entsteht eine vierte Form, ähnlich einer Fluchtmasse, in der »[g]anz sonderbare und gegensätzliche Geschöpfe« (III, S. 59) zusammenfinden, und zuletzt fünftens eine Panik, die Canetti in Masse und Macht als einen »Zerfall der Masse in der Masse« beschreibt (III, S. 28). Jeder wendet sich gegen jeden, der Egoismus der Figuren triumphiert – und mit welchen Folgen: Rosig geht Gall an die Gurgel, der kurz darauf seine eigene Frau ermordet. Christa fordert Michel, ihr menschliches Werkzeug, dazu auf, ihren Vater, der mit seiner breiten Gestalt den Ausgang versperrt wie eine »große steinerne Figur« (II, S. 69)71, einen Sessel über den Schädel zu schlagen, damit sie sich

|| 69 Zur rhythmischen Masse vgl. III, S. 32–36. 70 Vgl. Donnenberg: Elias Canettis Drama Hochzeit (wie Kapitel B2, Anm. 8), S. 91. 71 Indem Segenreich die Flucht der Gäste verhindert, bewirkt er den Umschlag der ›Fluchtmasse‹ in eine ›Panik(-Masse)‹. Vgl. dazu III, S. 60: »Am häufigsten kommt es zu einem Umschlag, wenn die Richtung der Flucht wiederholt gestört wird. Es genügt, der Masse den Weg abzuschneiden, damit sie in eine andere Richtung ausbricht. Schneidet man ihr den Weg immer wieder ab, so weiß sie bald nicht mehr, wohin sich wenden. Sie wird an ihrer Richtung irre und damit ändert sich ihre Konsistenz. Die Gefahr, die bis jetzt eine beschwingende und vereinigende Wirkung hatte, stellt einen als Feind gegen den anderen auf, und jeder versucht, sich für sich selbst zu retten.«

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retten könne. Canettis Bemerkungen zur Panik in Masse und Macht lesen sich wie ein erweiterter Kommentar zum Schlusstableau seines ersten Dramas: Der einzelne fällt von ihr [der Masse – A.S.] ab und will ihr, die als Ganzes gefährdet ist, entkommen. Aber da er noch physisch in ihr steckt, muß er gegen sie angehen. Sich ihr jetzt zu überlassen, wäre sein Untergang, da sie selber vom Untergang bedroht ist. In einem solchen Augenblick kann er seine Eigenheit nicht genug betonen. Durch Schläge und Stöße weckt er Schläge und Stöße. Je mehr er austeilt, je mehr er bekommt, desto klarer fühlt er sich, desto deutlicher sind die Grenzen seiner eigenen Person auch für ihn wieder gezogen. (III, S. 28)

Wenn man diese Abfolge betrachtet, lässt sich festhalten: Canetti führt dem Leser locker strukturierte (Ausnahme: die nur kurzfristige Fluchtgemeinschaft) oder sich auflösende Gruppen vor: Gebilde, in denen der Einzelne wieder auf Distanz zu den Anderen geht. Da der Macht und ihren Erscheinungsformen in Hochzeit die entscheidende Bedeutung zukam, musste Canetti die Namen nicht auch im Hinblick auf diese Gruppen motivieren. Das sollte sich ändern. Bereits in seinem zweiten Drama gewinnt die Polarität von Masse und Macht eine tragende, sogar konzeptuelle Funktion. Der Name des Dramas, bei dem Canetti am längsten und gründlichsten über Namen nachgedacht hat, spiegelt das allerdings nicht wider; er erweckt den entgegengesetzten Eindruck. Das Drama heißt Komödie der Eitelkeit.

5 Komödie der Eitelkeit 5.1 Name und Masse Die Regierung, eine namenlose Macht, die den faschistischen Diktaturen Deutschlands und Italiens ähnelt, hat entschieden und macht dem ganzen Volk bekannt: In Anbetracht der »furchtbare[n] Zunahme an Eitelkeit auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens« (II, S. 89) darf bei Todesstrafe niemand mehr einen Spiegel besitzen oder benutzen, niemand mehr Fotos schießen oder betrachten, niemand mehr Porträts oder Selbstbildnisse zeichnen oder in Auftrag geben. Alles muss verbrannt, vernichtet, für immer aus der Welt befördert werden. Der Spiegel als Dingsymbol für die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, für radikale Vereinzelung und perspektivische Verengung1 – auf diesem »Grundeinfall«, einer persönlichen Erfahrung zugleich2, beruht Canettis zweites Drama Komödie der Eitelkeit. In Hochzeit ist dieser Einfall szenisch vorweggenommen. Anita vor dem Spiegel: das ist der weibliche Narziss, das stolze, sich selbst genügende Individuum, das andere Menschen nur benutzt. Die verordnete Gleichschaltung muss gerade dieses Individuum in Schwierigkeiten bringen. Denn sich erlöst zu fühlen in der Masse, gerade das vermag es nicht; die Berührungsfurcht ist zu groß. Lieber möchte es allein bleiben, versunken in seliger Betrachtung seiner selbst, nach dem Vorbild seines Ahnherrn Narziss.3 Begrenzung oder Entgrenzung, Ich oder Wir, Abstand oder Nähe – das sind für Canetti die Extreme in einem Konflikt, den die Figuren im Drama stellvertretend auszutragen haben. Das Drama symbolisiert den ewigen Kampf zwischen Masse und Individuum. Die Tragödie endet mit dem Sieg der Masse. Das Individuum wird gefressen. In der Komödie gelingt es dem Individuum zu entwischen. Schon seine Flucht wäre lächerlich. Aber dass es einer

|| 1 Der Spiegel gleicht darin dem Dingsymbol der Kapsel in Die Befristeten. 2 Vgl. ZB 59, 18. August 1979: Canettis »erste Irritation an Spiegeln« hatte mit dem Verhalten seiner Frau Veza zu tun, »[…] wenn sie mitten in einem Gespräch auf der Strasse stehen blieb und sich im Spiegel eines Geschäfts besah. Diese Verfallenheit an Spiegel hing aber keineswegs mit Eitelkeit zusammen, sie fürchtete immer, dass an ihren Haaren etwas nicht in Ordnung war, und das hing mit ihrer Behinderung zusammen (sie konnte den linken Arm nicht gebrauchen.)« Vgl. dazu auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 302. Zu einer weiteren Inspirationsquelle äußerst sich Canetti in seiner Autobiographie; vgl. dazu Anm. 122. 3 Vgl. Ov.met. III, 354f: »sed fuit in tenera tam dura superbia forma:/nulli illum [Narcissum – A.S.] iuvenes, nullae tetigere puellae.« Zitiert nach der bei Reclam erschienenen Ausgabe mit der Übersetzung von Michael von Albrecht (wie Kapitel A7, Anm. 13), S. 148.

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besonderen Kraft und ihrer Steigerung zu dieser Flucht bedarf: der Kraft des Geschlechtes nämlich, das verdoppelt die Komik. Es ist ein Irrtum, den Kampf überhaupt für etwas Dramatisches zu halten. Alle alten Epen – Homer, das Mahabharata u.s.w. wimmeln von Kämpfen – und doch sind sie undramatisch.4

Diese unveröffentlichte Notiz aus dem Jahre 1932 hilft zu verstehen, warum Canetti seine wenig später entstandene Komödie der Eitelkeit antithetisch konstruiert hat.5 Es ist jener Kampf zwischen Individuum und Masse, der dem Stück seine Struktur verleiht: eine Struktur mit insgesamt zwei Umschlägen, aber ohne Synthese.6 Der erste Teil zeigt, darin dem expressionistischen Stationendrama verwandt7, mehrere Menschengruppen auf ihrem Weg in Richtung eines Platzes, wo ein riesiges Feuer lodert: das Symbol der Masse.8 Auf Geheiß der Regierung sollen alle Bürger ihre Bilder und Fotos in dieses Feuer werfen, eine Anspielung ebenso auf die Verbrennung der »Eitelkeiten« unter dem Florentiner Dominikanermönch Savonarola gegen Ende des 15. Jahrhunderts wie auf die nicht lange zurückliegende Bücherverbrennung durch die Nazis.9 Vernichtet werden sollen aber auch sämtliche Spiegel. Gleich neben dem Feuer, in einer

|| 4 ZB 5a, Über das Drama, ohne Datum (Hervorhebungen im Original). 5 Canetti orientiert sich dabei an einem dramatischen Prinzip, das er während der Arbeit an seinem zweiten Stück selber formulierte. Es solle im Drama nur Umschläge geben, aber keine Entwicklung. Vgl. ZB 33.2b, Januar 1932 (Kurzschrift). Vgl. auch X, S. 316. Vgl. dazu schließlich Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 140: Das Drama beginnt mit dem »Wir«-Ruf eines Einzelnen und endet mit dem disharmonischen »Ich«Geschrei aller Figuren. 6 Vgl. dazu ZB 33.2a, Januar 1932 (Kurzschrift): »Eigentlich ist also der dritte Akt eine Zusammenfassung des zweiten ins Massenhafte und darum eine Rückkehr zum ersten.« 7 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 66. 8 Vgl. IX, S. 89f. und X, S. 108. Den Aufbau des ersten Teils kommentiert Canetti noch ausführlicher in einer früheren Fassung des Anfangs von »Geschenk eines Zwillings«: »Als allmähliche Annäherung an das Feuer dachte ich mir diesen ersten Teil wie eine Spirale. Er beginnt mit längeren Szenen, in denen die Figuren des Stückes sich vorstellen. Die Szenen werden kürzer, je näher man zum Feuer kommt. […] Von Szene zu Szene rückt man näher an die spiegel- und bildlose Welt heran. Die Szenen werden kürzer und kürzer, wodurch man die Beschleunigung in der Massenbildung erlebt, bis im höchsten und kürzesten Punkt, im Versuch einer Selbstaufopferung, das Feuer erreicht ist.« Zitiert nach Privatbesitz K 28, Frühere Fassung des Kapitelanfangs von Geschenk eines Zwillings (Hervorhebung im Original). 9 Vgl. IX, S. 87 und 111: die Komödie als »legitime Entgegnung auf die Bücherverbrennung«. Vgl. auch X, S. 107. In seinem Gespräch mit Friedrich Witz bezeichnet Canetti das Stück als »Satire auf die Nazizeit« (X, S. 216) und in den Briefen an Georges als »Persiflage auf alles, was unter Hitler geschehen ist« (BG, S. 137). Siehe dazu Gerald Stieg: Die Masse als dramatische Person. Überlegungen zu Elias Canettis Drama Komödie der Eitelkeit. In: Kaszyński (Hg.): Elias Canettis Anthropologie und Poetik (wie Einleitung, Anm. 59), S. 87–115, hier S. 101f.

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eigens dazu errichteten Bude, können die Menschen mit Bällen auf sie werfen und so symbolisch ihr eigenes Gesicht zerschmettern, in dem sich ihre IchIdentität, der Hauptwiderstand gegen die Masse, physisch manifestiert.10 Das Klirren der Spiegel befriedigt zugleich die Zerstörungssucht der Masse, die sich am Lärm berauscht.11 Der erste Teil kulminiert darin, dass eine der neunundzwanzig Figuren nicht nur die symbolische, sondern die tatsächliche, die körperliche Vereinigung mit der Masse sucht; sie läuft wild schreiend auf die Flammen zu. Der zweite Teil spielt zehn Jahre später. Er stellt dar, welche Strategien die Menschen entwickelt haben, um die Rechte der eigenen Person gegenüber der Masse zu behaupten, ja zu stärken: Sie wohnen in Häusern mit verschiedenen Farben; sie benutzen Pfützen und Seen, sogar das menschliche Auge als Spiegel; und neben der eigenen akustischen Maske verfügt nun beinahe jeder über ein persönliches Lied, eine Art Individualhymne12. Am Schluss des dritten Teils erfolgt der erneute Umschlag. Wieder bildet sich eine Masse, sinnbildlich brechen die Wände des Spiegelsaals zusammen (II, S. 177). Mit dem für die Masse paradoxen Slogan »Ich! Ich! Ich! Ich!« stürzen die Figuren, von allen Barrieren befreit, nach draußen auf die Straße. Dort entsteht ein »schwarzer Strom«, und noch immer kommen weitere Menschen hinzu. Aus ihren Rufen wird allerdings »kein rechter Chor« (II, S. 178). Der künftige Umschlag ist dadurch schon angedeutet, der Kampf zwischen Individuum und Masse ist nicht beendet. Welche Funktion könnten Namen in diesem Kampf besitzen? Diese Frage zu beantworten, scheint nicht schwer. Bekanntlich gehören Namen für Canetti zu den Distanzlasten, derer sich der Mensch in der Masse vorübergehend entledigt. In den bisher analysierten Werken trennen gerade sie die Figuren so strikt voneinander, dass sich nur selten und kurzfristig eine Masse oder massenähnliche Gruppe bildet. So gesehen, müssten Namen im zweiten Teil der Komödie, der meist in engen, geschlossenen Räumen spielt, eine große Bedeutung gewinnen: als sprachliches Analogon zur räumlichen Verengung und Trennung13, als Kristallisationspunkt der Eitelkeit. Und wenn man genau bedenkt, dann dürften sie

|| 10 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 157. 11 Vgl. III, S. 18: Die Masse zerstöre am liebsten Häuser und Gegenstände, darunter Scheiben, Spiegel, Töpfe, Bilder und Geschirr. 12 Vgl. ZB 33.3a, ohne Datum (Kurzschrift): »Da die Lieder einander stören, was bei den Spiegelbildern nicht der Fall war, ergeben sich daraus die schwersten Konflikte. Das Optische war verträglich. Das Akustische ist Kampf.« Den Zusammenhang zwischen akustischer Maske und Lied erkennt schon Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 179. 13 Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 199 spricht treffend von einer »Zersplitterung der szenischen Handlungsorte«.

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hier eigentlich erst eingeführt werden. Die Figuren des ersten Teils, die Massenmenschen, müssten entweder namenlos sein, oder sie müssten ihre Namen allmählich ablegen oder vergessen oder vertauschen, zum Zeichen ihrer Entgrenzung. Wie der Nachlass verrät, kamen diese Optionen für Canetti niemals in Frage. Aber warum nicht? Eine plausible Annahme mag sein, dass Canetti die spätere Inszenierung nicht erschweren wollte. Es ist indes zu prüfen, ob es nicht einen weiteren, einen onomastisch motivierten Grund für seine Entscheidung gegeben hat. War es ihm vielleicht gelungen, den Widerspruch zwischen Name und Masse, zwischen Distanzlast und Distanzlosigkeit, zu beseitigen? Das ist nicht die einzige onomastisch relevante Frage, die an Komödie der Eitelkeit zu stellen ist. Denn während der Vorarbeiten hat Canetti diese Überlegung festgehalten: »In einer Komödie der Eitelkeit sollte es eigentlich so zugehen dass keiner weiß wie der Andere heisst.«14 Obwohl Canetti diese Idee nicht weiter verfolgt hat, ist es aufschlussreich, sich vorzustellen, wie er andernfalls mit Namen hätte umgehen müssen. Zwei Optionen kommen in Betracht: Entweder hätte er jede Anrede vermeiden, die Figuren zugleich aber über ihren eigenen Namen monologisieren lassen müssen; oder er hätte gut daran getan, vor allem im zweiten und dritten Teil auf Namen ganz zu verzichten. Beides scheint nicht praktikabel, und schon die adverbiale Einschränkung deutet an, dass in dieser Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen war. In der Tat: Die Figuren sind im zweiten und dritten Teil nicht namenlos; sie sprechen sich mit ihren Namen an, machen sich sogar Gedanken über die korrekte Anrede. »Namen, Namen, Namen, nichts als Namen«15 – so heißt es im Nachlass, kurz nach der soeben zitierten Überlegung und lange vor Vollendung des Stücks. Die emphatische Wiederholung lässt erahnen, wie stark Canettis Denken inzwischen um Namen kreiste, wie sehr sie ihn ergriffen hatten. Es dauerte nicht lange, bis er wusste, wie er sie einzusetzen hatte: »Namen sind entscheidend und die Beziehung einer Gestalt zu ihrem Namen klarzulegen, ist keineswegs Künstelei.«16 Canetti nimmt sich hier vor, ein weiteres Mal das klassische Namengebungsverfahren anzuwenden. Wieder soll der Name nicht zufällig sein, wieder in einer Beziehung zu seinem Träger stehen. Das bedeutet, dass Canetti irgendwann zu der Überzeugung gelangt war, die Eitelkeit seiner Figuren ließe sich mit einem exakt angepassten Namen deutlicher machen als ohne Namen. Verschärft sich dadurch aber nicht der Kontrast zwischen Name und Masse? Und hieße das nicht von neuem: keine Namen im ersten Teil? Die folgende Analyse

|| 14 ZB 33.2b, ohne Datum. Die Kommata fehlen im Original. 15 ZB 33.3a, ohne Datum. 16 Ebd., ohne Datum.

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soll auf diese Fragen antworten. Sie muss sich dazu zwei Ziele setzen: Zum einen ist erneut zu klären, in welcher Beziehung die Namen zu ihren Trägern stehen. Und zum anderen ist zu ergründen, wie sich Name und Masse in Komödie der Eitelkeit zueinander verhalten. Die erste Figur auf der noch leeren Bühne heißt in den ersten Entwürfen »Der Ausrufer«17. Diese Bezeichnung war provisorisch, wenngleich die Figur im Personenverzeichnis des gedruckten Stücks noch immer als »Ausrufer« apostrophiert wird. Sie trägt nun freilich nicht mehr ausschließlich einen funktionellen, sondern auch einen ›richtigen‹ Eigennamen: Wenzel Wondrak. Bereits die ersten Sätze des einführenden Monologs geben einen Hinweis auf die dramaturgische Funktion dieses »rote[n], hektische[n]« Mannes18, der sich selbst als »Bajazzo« bezeichnet (II, S. 73): Und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, wir haben etwas vor. Was haben wir vor? Etwas Kolossales haben wir vor, etwas großartig Kolossales, ganz großartig kolossal, und wir, meine Herrschaften, wir sind ganz kolossal, wir haben etwas vor. (II, S. 73)

Wenzel Wondrak soll den Menschen, die nach seinem Auftritt in Gruppen erscheinen, eine gemeinsame Richtung weisen, ihnen das Ziel vergegenwärtigen: die Befreiung von ihren Distanzlasten, die Entladung in der Masse, dem »Wir«. Durch seinen Auftritt steht der erste Teil von Anfang an im Zeichen der Masse. Wie ein Leitmotiv ertönt Wondraks Ruf, verkürzt auf: »Und wir, und wir, und wir, und wir, meine Herrschaften!« zwischen den einzelnen Szenen (II, S. 79 und 81). Erst am Ende des ersten Teils, dem Kristallisationspunkt der Masse, rückt Wondrak wieder ins Zentrum. Er steht auf dem Platz, in der Nähe des Feuers, wo sich »sehr viel Menschen« versammelt haben (II, S. 91). Dort, am Ziel || 17 ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift). Wondraks Auftritt mag auch eine Reminiszenz an Büchners Woyzeck sein. Denn im abgebrochenen »Teilentwurf I« betritt zu Beginn ebenfalls ein Ausrufer die Bühne. Es handelt sich um einen Marktschreier, der wie später Wondrak vor einer Bude steht. Vgl. Georg Büchner: Dichtungen. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. 5. Auflage, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2015 (Deutscher Klassiker-Verlag im Taschenbuch; 13), S. 177. Der Ausruf des Marktschreiers »Meine Herren! Meine Herren!« entspricht Wondraks wiederholtem »meine Herrschaften«. Während Canettis Ausrufer freilich die Menschen animiert, ihr Bild zu zerstören, zerstört Büchners Marktschreier das Bild des Menschen als eines aus der Natur herausgehobenen Wesens, indem er ein Pferd als »verwandler Mensch« vorführt (Ebd., S. 178). Zu Canettis enthusiastischer WoyzeckRezeption vgl. IX, S. 14–18. 18 ZB 33.3b, ohne Datum (Kurzschrift): »Der Ausrufer ist ein roter, hektischer Mann, er überschreit sich sehr, er hat das eingefallene Gesicht eines Verbrechers, der viel erlebt hat, viel herumgeschlagen wurde.«

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des Weges, befindet sich sein Arbeitsplatz: die Spiegelbude. Wondrak, dessen rote Farbe auf die Masse verweist, gibt sich nun als ausführendes Organ der sonst abstrakten Regierung zu erkennen; er hilft dabei, ihre Bestimmungen umzusetzen. Dass der erste Teil mit der erneuten Wiederholung seines Rufes endet, ist ein Signal: Die Masse ist geschlossen wie ein Kreis, sie wächst nicht mehr. Seiner Aufgabe wird Wondrak auf zweierlei Art gerecht: Erstens treibt er die Massenbildung voran, und zwar, während sich die Figuren noch auf dem Weg zu ihrem Sammelpunkt befinden. Mit dem Kernwort seiner akustischen Maske »Wir« (vgl. X, S. 108) formt er aus den separierten Individuen ein Kollektiv. Wir: das ist in Komödie der Eitelkeit jenes Ziel, »das außerhalb jedes einzelnen liegt und für alle zusammenfällt« (III, S. 31); seine Dingsymbole sind das Feuer und der Platz. Wondrak verwirklicht so bereits im Vorgriff die ersehnte Entladung, die Befreiung von den Distanzlasten. Und er verwirklicht sie in der Sprache. In seiner Rede – sie umfasst kaum mehr als eine Druckseite – taucht das erste Pluralpronomen wie eine Beschwörungsformel einundvierzigmal auf. Seine verkürzten Rufe, die die Szenen des ersten Teils zu einer Einheit verbinden, haben einen einzigen Inhalt: das »Wir«. Der Massenbildung dient auch Wondraks Selbstvorstellung als Bajazzo: Die Menschen, sagt er in seinem einleitenden Monolog, könnten noch immer lachen, das Lachen sei gestattet, ja man solle sogar lachen (II, S. 73).19 Zweitens jedoch treibt Wondrak die Massenbildung voran, indem er den Größenwahn des Einzelnen auf die Masse überträgt.20 Dazu benutzt er abermals die Sprache, das Wort als Phrase. Sein bevorzugtes Mittel ist eine teilweise tautologische Wendung: Die Menschen, die sich zum »Wir« zusammenschließen, haben etwas »großartig Kolossales« vor, ja sie selbst sind »ganz kolossal« (II, S. 73). || 19 In dieser Aussage steckt mehr als nur die Idee, ein gemeinsames Lachen erzeuge eine (temporäre) zwischenmenschliche Bindung. Denn für Canetti gehören Lachen und Entladung zusammen. Auch Peter Kien, die Hauptfigur der Blendung, lacht, als er mit seiner Masse, den Büchern, verbrennt; er lacht, wie er noch nie gelacht hatte (I, S. 510). Als die Menschen zu Beginn des dritten Teils beisammen stehen, um Karten für den Spiegelsaal zu kaufen, heißt es: »Es ist, als hätten alle schwarze Kleider an und lösten sich Karten zu einem Begräbnis.« Später, im Spiegelsaal, wird es plötzlich dunkel, und die Gäste heulen vor »Hunger und Angst« wie »lauter Wölfe« (II, S. 160 und 164f.). Szenisch ist dies die genaue Umkehrung von Wondraks einleitender Rede (Lachen vs. Trauer), eine Umkehrung jedoch mit demselben Ergebnis: Eine Masse entsteht, indem das Individuum gleichsam begraben wird. 20 In Die Blendung betätigt sich der – übrigens ebenfalls rote – Hausbesorger Benedikt Pfaff als Ausrufer seiner selbst: »Als er noch aktiv diente, verhaftete er, um Aufsehen zu erregen, und stand wegen seiner Praxis mit den Vorgesetzen auf schlechtestem Fuße. Er rief seine Tat so lange aus, bis ein gaffender Haufe von Menschen ihn umgab.« (I, S. 311)

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Dass die Form für Wondraks akustische Maske von erheblich größerer Bedeutung ist als ihr Inhalt, zeigt sich daran, dass der Konsonant »w« in seiner Rede ständig wiederkehrt: eine »massenhafte« Alliteration. »Wer wird denn abergläubisch sein, meine Herrschaften, wer wird, wer wird, wer wird denn abergläubisch sein!« (II, S. 73) Oder gegen Ende des ersten Teils: Weg, weg, weg, aus dem Weg, meine Herrschaften, und wir, und wir, und wir, hier wird geschossen, hier wird gezielt, hier wird gezielt, hier wird geschossen, und wer nicht aus dem Weg geht, der sinkt doppelt tot zu Boden. Und wir, und wir, und wir, meine Herrschaften, und wir… (II, S. 98)

Diese von zahlreichen Wiederholungen geprägte Wortkaskade erhellt, in welcher engen Beziehung Name und Träger stehen. Denn sowohl Wenzel als auch Wondrak beginnen mit dem Lieblingsbuchstaben des Ausrufers, dem »w«. Indem die beiden Bestandteile des Namens so klar aufeinander verweisen, wird im Ureigenen, Trennenden, der Distanzlast, eine Grenze transzendiert. Die für Wondrak typische Alliteration, die im Namen wiederkehrt, überwindet eine weitere Grenze: die Grenze zwischen den Wörtern. Die Rede wird zu einem einzigen, vorwärtsdrängenden Fluss. Bei Wondrak ist der Vorgang der Entgrenzung, ohne den sich keine Masse bilden kann, im Namen und in der Sprache also symbolisch bereits vollzogen. Das ist Canettis erste Strategie zur Versöhnung von Name und Masse. Zugleich ist es aber ein Indiz dafür, dass Name und Sprache in Canettis zweitem Drama wieder gemeinsam der Charakterisierung dienen. Einen Hinweis auf die Masse enthält auch der ursprünglich für den Ausrufer vorgesehene Name. Wie der Nachlass verrät, nannte Canetti ihn anfangs Pilger und gab ihm später kurzfristig den Vornamen Ludwig.21 In diesem Zusammenhang ist nur der Nachname von Bedeutung; denn er deckt auf, welche Art der Masse Canetti im ersten Teil vorführen wollte. Es ist, in seiner Terminologie ausgedrückt, eine langsame Masse, und zwar in ihrer zweiten Form. Diese Masse lässt sich mit einem Flusssystem vergleichen. Als »vielleicht das eindrucksvollste Beispiel« einer solchen Masse (III, S. 43), die sich auf ihrem Weg zum Ziel dauernd verbreitere (wie es in Masse und Macht heißt), galt Canetti die Pilgerfahrt nach Mekka: Von den entferntesten Teilen der islamischen Welt ziehen Karawanen mit Pilgern aus, alle in der Richtung auf Mekka zu. Manche beginnen vielleicht klein, andere, die von Fürsten mit großem Glanze ausgestattet sind, sind von Anfang an der Stolz der Länder, aus denen sie ih-

|| 21 ZB 33.3a, ohne Datum.

320 | Komödie der Eitelkeit

ren Ursprung nehmen. Aber alle stoßen im Verlaufe ihrer Wanderung auf andere Karawanen, die dasselbe Ziel haben, und so wachsen sie mehr und mehr an und werden in der Nähe ihres Ziels zu mächtigen Strömen. Mekka ist ihr Meer, in das sie münden. (III, S. 43f.)

In Komödie der Eitelkeit entsprechen die Gruppen, die im ersten Teil alle zum Feuer ziehen, den Pilgern auf ihrer Fahrt nach Mekka. In beiden Fällen kommt es auf das Ziel an. Zu Beginn des Stücks liegt dieses Ziel noch fern, aber es rückt näher, ebenso wie die Möglichkeit zur Entladung, die einer langsamen Masse sonst nicht gegeben ist. Eine starke Vorstellung von dieser Entladung sei, so Canetti, in den Köpfen der Pilger dennoch stets verankert (III, S. 45). Genau diese Vorstellung entwirft Wondrak; es ist die Vision des »Wir«. So wie die einzelnen Pilgerströme in ein riesiges Meer münden, indem sie sich in Mekka vereinigen, so gehen in Canettis Drama die Menschen in Flammen auf – nicht sie selbst, sondern ihre (mythischen) Repräsentanten: die Bilder, derer sie sich gemeinsam entledigen. Die Eitelkeit verschwindet dadurch aber nicht aus der Welt, sondern sie wird übertragen und verliert ihre separierende Wirkung. Eitel ist jetzt das Kollektiv, die ›großartig kolossale‹ Masse, die »Herrschaften«. Auch das versinnbildlicht der Fluss: »Der Fluß ist die Masse in ihrer Eitelkeit, die Masse, die sich darstellt. Das Element des Gesehenwerdens ist nicht weniger bedeutend als die Richtung.« (III, S. 96) Ein einziger Name aus dem Nachlass erleichtert somit das Verständnis des gesamten ersten Teils. Dass Canetti ihn gleichwohl aufgegeben hat, ist nachvollziehbar: Erstens ist der Ausrufer kein Pilger, er zieht nicht mit der Masse, sondern befindet sich am Ziel der Reise, in der Nähe des Feuers. Und zweitens kam es Canetti wohl bald stärker als zu Beginn auf die Verknüpfung von Name und akustischer Maske an, insbesondere auf die Grenzüberschreitung im Namen selbst. Auf dem Platz wird die Masse von einer weiteren Figur erwartet, die sich dem Bereich der Religion zuordnen lässt. Es handelt sich um einen »vierschrötige[n] Prediger mit dickem Gesicht« (II, S. 92). Auch sein Name bezieht sich auf die Masse, und auch für ihn sind mehrere Namen überliefert: Wie Wondrak trägt er zuerst einen schlichten funktionellen Namen: Prediger22; dann heißt er Theobald Brot23, Theodor Brotesser bzw. nur Brotesser24, danach Daniel Brosam25 und schließlich: der Prediger Brosam. Mehr als die Funktionsbezeichnung, die sich auch auf einen islamischen Prediger beziehen könnte, weisen die beiden Vornamen ihn als Repräsentanten der jüdisch-christlichen Tradition || 22 ZB 33.2a, ohne Datum. Siehe auch ZB 33.3a, ohne Datum. 23 ZB 33.3a, ohne Datum (Kurzschrift). 24 ZB 33.3b, ohne Datum. 25 ZB 33.2a und 33.3b, ohne Datum.

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aus26; der Name Daniel mit seiner Bedeutung »Gott ist Richter« ist seinem apokalyptisch geprägten Weltbild angemessen. In der Nachfolge der alttestamentlichen Propheten und des Asketen Savonarola bricht Canettis Prediger den Stab über die eigene Zeit, fordert auch er die Hörer zum Umdenken auf, zu einem gottgefälligen Leben. In seinen (paulinisch-lutherisch geprägten) Ressentiments gegen die Eitelkeit, für ihn die Ursache allen Übels, stimmt Brosam mit der totalitären Regierung überein, die in ihrem Dekret gegen die Verschönerung des Menschen polemisiert: »Kein Mensch mehr lebt, dessen oberstes Ziel es nicht wäre, sich gut anzuziehen und auszusehen wie ein verkleideter Fürst.« (II, S. 89) Das tertium comparationis der beiden Nachnamen, die interpretatorisch interessanter sind als die Vornamen, ist das Brot. Für die akustische Maske des Predigers ist dieses Wort von zentraler Bedeutung.27 Denn seine Gedanken kreisen zwanghaft um den Vorgang der Einverleibung.28 Canetti karikiert damit religiös motivierte Speisevorschriften, die ihm als Juden – wie er in seiner Autobiografie schreibt – von Kindheit an geläufig waren, wahrscheinlich aber zusätzlich auch die Kommunion, eine Vermehrungshandlung.29 Zumeist hat Brosam jedoch nicht die tatsächliche, sondern eine metaphorische Einverleibung im Sinn. Sie ist, in verschiedener Ausprägung, sein Privatmythos: »Aber ein Vieh weiß ich, das ist dreckiger als alle andern. Täglich führt ihr es im Munde, und es mundet euch täglich.« (II, S. 94) Brosam meint hier die Eitelkeit, die er, die Anordnungen der Regierung ideologisch stützend und sich ihrer Verkleidungs-Metaphorik bedienend, als geschminkte »Sau« verunglimpft: grob, stinkend und dreckig. Wie der Ausrufer spricht auch er von einem Kollektiv, einem allerdings negativ konnotierten »Wir«:

|| 26 Als Brosam im zweiten Teil um Marie wirbt, die ihm tugendhaft erscheint, beinahe wie Maria (vgl. die Szene mit Peter Hell und Anita in Hochzeit), sieht er seine künftige Aufgabe als ihr Ehemann darin, »das tägliche Brot« herbeizuschaffen (II, S. 138). Er setzt sich dabei, gar nicht unbescheiden, sogar an die Stelle Gottes; denn Gott ist es, von dem sich die Menschen das tägliche Brot erhoffen. Im Kapitel über Therese Krumbholz (B6.5) wird gezeigt werden, dass Peter Kien denselben Fehler wie Peter Hell begeht und in seiner sexbesessenen Wirtschafterin Maria zu erkennen meint. 27 Die veraltete Form Brosam passt zu der mit altertümlichen Wörtern durchsetzten Sprache des Predigers. Zur akustischen Maske Brosams vgl. Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 255. 28 Nicht von ungefähr hat Brosam dem Teufel – wie er sagt – in »all seine feurigen Taschen« gegriffen und seinen »Bosheitskoffer« durchsucht (II, S. 92). Und nicht von ungefähr steckt er sich, in genauer Verkehrung seiner Predigt, später achtlos selbst einen Spiegel und eine Taschenlampe ein (II, S. 131). 29 Zur Kommunion vgl. III, S. 133–135.

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Satan hat uns in seinen grünen Krallen. Da hält er uns und frißt an uns wie an einem harten Brocken Brot. Da würgt er und spuckt er und kriegt uns nicht hinunter. Schaut hin, lieben Brüder, wir sind dem Satan zu giftig! Er würgt und würgt, und seine rote Fratze wird grün wie seine Krallen. Da faucht er, da fletscht er, aber kein Teufel hilft, denn er selbst ist der Teufel, und er muß uns fressen. So sind wir dem Teufel seine giftigste Speise. (II, S. 92)

Brosam will aus den vereinzelten Menschen eine Masse schaffen, die den Versuchungen der ›Sau‹ Eitelkeit widersteht. Dazu ist, angesichts der bisher dominanten Ich-Sucht, die Bildung einer Umkehrmasse erforderlich. Aus diesem Grund macht Brosam seinen Zuhörern Angst, ähnlich wie die Prediger der Revivals, von denen Canetti in Masse und Macht erzählt, die der Menge mit schlimmsten Höllenstrafen drohen, mit Feuer und Schwefel und Gottes Zorn (III, S. 67f.).30 Anders als Wondrak, seine Parallel- und Kontrastfigur, erzeugt Brosam in den Hörern kein befreiendes Wir-Gefühl, sondern er präsentiert ihnen die in düsteren Farben gehaltene Negativfolie der paradiesischen Vision, ihren erlösungsbedürftigen Ist-Zustand: »Der Teufel ist verworfen, der Teufel ist schlecht, aber er trägt kein Spiegelchen in der Tasche bei sich, er hat kein Bildchen und er hat kein Bild.« (II, S. 92) Die Metapher für die (aus der Sicht des Predigers) moralisch verkommene civitas der Sünder ist das Brot, genauer: ein stinkender Brocken, der bei Genuss selbst den Teufel vergiftet. Die Erregung eines allgemeinen Schuldgefühls in der Umkehrungsmasse ist indes kein Selbstzweck; sie unterstützt das eigentliche Ziel: die Bildung einer Verbotsmasse.31 Canetti beschreibt auch sie in Masse und Macht: »Viele zusammen wollen nicht mehr tun, was sie bis dahin als einzelne getan haben.« (III, S. 62) Die Verbotsmasse, so Canetti weiter, sei eine negative Masse. »Widerstand macht sie aus: das Verbot ist eine Grenze und ein Damm; nichts kann jene überschreiten, nichts diesen durchdringen.« (III, S. 62) Auf ein solches Verbot hat Brosam es abgesehen: Niemand, sagt er, solle sich vor eine Kamera stellen, sonst sei er verdammt und isoliert, nicht einmal in der Hölle gebe es für diesen Sünder noch einen Platz (II, S. 92). Nicht von ungefähr steht er in der Nähe des Feuers, wo sich, anders als sonst bei einer langsamen Masse, deren Ziel in weiter, uner-

|| 30 Belloin: Elias Canetti: Komödie der Eitelkeit (wie Kapitel B4, Anm. 42), S. 161 sieht in Brosams Rede eine Parodie der Predigten Abraham a Santa Claras. So auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 303. 31 Vgl. dazu Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 134. Kritisch, aber ohne stichhaltige Argumente gegen diese Deutung, Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 109, Anm. 48.

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reichbarer Ferne liegt, die Entladung ereignet. Seine Predigt dient der Stabilisierung der Masse, die mit der Entladung zu zerfallen droht. Diese Befunde erklären, warum Canetti den Prediger Brosam tauft, obwohl das Wort meist im Plural verwendet wird.32 Der Name deutet auf die Gefahr hin, vor der Brosam warnt und die als fixe Idee in seinem Kopf herumgeistert: die Vereinzelung. Zu Marie, mit der er, der Junggeselle, ein Eigenbrötler im ursprünglichen Sinn, sich später verloben wird, sagt Brosam denn auch im zweiten Teil: »Ein Mensch allein irrt fürchterlich durch die Nacht. Ein Mensch allein ist eitel.« (II, S. 138) Zum anderen weist der singularische Name jedoch über sich selbst hinaus auf etwas Größeres: auf viele weitere Brosamen – auf die zu verwirklichende Masse.33 Das ist Canettis zweite Strategie zur Versöhnung von Name und Masse. Kurzum: In den beiden Anthroponymen Wondrak und Brosam transzendiert Canetti – auf je andere Art – die Grenzen des Namens. Die Masse gehört nun selbst zum Inhalt des Namens. Entweder verweist der Name symbolisch auf andere Figuren, eine Einheit aus verschiedenen Teilen, wie bei Brosam, oder aber auf andere Wörter wie bei Wondrak.34 Dass Masse und Religion in Komödie der Eitelkeit einander zugeordnet sind, so wie später in Masse und Macht, ist besonders gut an der Figur Therese Kreiss zu erkennen. Sie, die Blindgläubige, hängt Brosam förmlich an den Lippen, und ihre Angst vor dem Teufel hat – mehr noch als bei ihm – pathologische Züge. Therese Kreiss ist es daher auch, die sich stellvertretend für das ›schuldige‹ Kollektiv, zu dem sie vor allem sich selbst und ihre Tochter Milli zählt35, »unter

|| 32 Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 25., durchgesehene Auflage, bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin, New York: de Gruyter 2011, S. 153. 33 Vgl. III, S. 259: »Am stärksten ist der Zusammenhang, der zwischen Essenden entsteht, wenn sie von einem Tier genießen, einem Leib, den sie auch lebend als Einheit gekannt haben, oder von einem einzigen Laib Brot.« Nicht zu überzeugen vermag Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 180: Brosams Worte im zweiten Teil, so Feths allzu allgemeine Namensdeutung, seien wie Brosamen, die vom Tisch der Reichen und Mächtigen fielen. 34 Beim Namen des Predigers ist noch etwas anderes mitzudenken: Die Menschen, die den Anordnungen der Regierung gehorchen und zur Masse werden, liefern sich einer fremden Macht aus. Es ist diese Macht, die Macht an sich, von der Brosam fasziniert ist. Exemplarisch zeigt sich diese Faszination in der Szene, in der er – ein zweiter Jesus – einem scheinbar Leidenden begegnet. Brosam fallen an diesem Mann vor allem die starken Zähne auf, die die Macht physisch repräsentieren und der Einverleibung dienen: »So, jetzt machen sie mal schön den Mund auf! Diese Zähne! Ein Labsal, ein wahres Labsal! Ich kann den Herrgott lange bitten, daß er mir solche Zähne schenkt, es nutzt nichts, bei mir ist es vorbei. Aber Sie! Diese Zähne! Einer schöner wie der andere und keiner fehlt. Eine Pracht! Eine Labsal! Das blühende Leben!« (II, S. 133) 35 Vgl. II, S. 93: »Weil die Hoffart steckt in dir wie der Holzwurm im Stamm.«

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gellendem Geschrei« in die Flammen zu stürzen versucht (II, S. 100f.): »Ich bin eine Sau! Ich bin eine Sau! Ich bin eine Sau!« (II, S. 98) Die Szene ist der Höhepunkt des ersten Teils, der Augenblick der Entladung. Es gibt zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr, der sich der Masse entziehen könnte.36 Stellvertretend entledigt sich der muskelstarke Packer Barloch seiner verbliebenen Distanzlast und legt den neuen Rock ab (II, S. 101). Selbst Direktor Garaus, der etwas abseits steht, den Flammen sogar den Rücken zuwendet, ist rot vom Feuer, das er bezeichnenderweise als »zudringlich« empfindet (II, S. 95). Und allenthalben herrscht ein ohrenbetäubender Lärm: die Stimmen der Menschen, die klirrenden Spiegel, das Geräusch der Zerstörung. Dieser Lärm, der Canettis Theorie zufolge der Masse ihre Verstärkung verheißt (III, S. 18), verschmilzt mit Wondraks Rufen und den Schreien der Therese Kreiss. Ihr Nachname, der das Verb »kreißen«, schreien, enthält37, referiert auf die Geräuschkulisse. Über eine klangliche Assoziation erinnert er überdies an ihren Beruf. Denn Therese Kreiss besitzt eine kleine Greißlerei38, eine Gemischtwarenhandlung. In einem ähnlichen, nur geräumigeren Laden, dem Kolonialwarengeschäft seines Großvaters, war der junge Elias Canetti auf seine erste Masse gestoßen: Alles fand sich in großen Mengen und schön verpackt, es wurde nicht einzeln verkauft wie in gewöhnlichen Läden, die offenen Säcke am Boden gefielen mir auch darum besonders, weil sie nicht zu hoch für mich waren und ich beim Hineingreifen die vielen Körner, auf die es ankam, fühlen konnte. (VII, S. 14)

Vielleicht sollten die Leser aber auch an die Bewegung der Geissler denken, über die Canetti in Masse und Macht und in Das Augenspiel geschrieben hat.39 Der Vorname jedenfalls ordnet Therese dem Christentum zu, er ruft so bedeutende Heilige in Erinnerung wie Theresa von Avila oder Therese von Lisieux, denen Canettis Therese spirituell und intellektuell allerdings bei weitem nicht gewachsen ist. Doch ihr Name ist mehr als nur paradox; es wäre möglich, dass Canetti ihn (etymologisch falsch40) für eine Ableitung des griechischen Wortes für Tier gehalten hat, »ther«, ein Wort, das auch einen tierhaften Menschen

|| 36 Garaus attestiert dem Feuer deshalb sogar einen Appetit (II, S. 95). 37 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 180. 38 Vgl. ZB 33.3a, ohne Datum. 39 Vgl. III, S. 21. und IX, S. 65. 40 Vgl. Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Kapitel B2, Anm. 6), S. 340. Die etymologische Bedeutung des Namens ist »Frau von Thera« oder womöglich auch »die Schützerin«.

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bezeichnen kann.41 Leider lässt sich nicht mehr klären, ob und – wenn ja – wo Canetti auf diese falsche Etymologie gestoßen sein könnte. Nur so viel lässt sich sagen: Therese fühlt sich in ihrer Ekstase als Sau, auch sie gehört zu den animalischen Figuren, die Canetti, der Tierstimmenimitator, in seinen frühen Werken auftreten lässt. Doch mehr noch: In seinem Roman Die Blendung hat er dem Psychiater Georg Kien eine Massentheorie in den Mund gelegt, in der die Masse als »höhere Tiergattung« bezeichnet wird: »Sie [die Masse – A.S.] brodelt, ein ungeheures, wildes, saftstrotzendes und heißes Tier in uns allen, sehr tief, viel tiefer als die Mütter. Sie ist trotz ihrem Alter das jüngste Tier, das wesentliche Geschöpf der Erde, ihr Ziel und ihre Zukunft.« (I, S. 449) Therese vollzieht nicht nur den Ausbruch der Masse aus dem Gefängnis des Individuums, sie ist die Verkörperung des Massenmenschen. Ihre Identität, ihr Schicksal ist die Masse.

5.2 Formen der Figurenverknüpfung Dass die bisherige Analyse der »Namenlandschaft«42 nicht an Canettis Stück vorbeigeht, belegt eine Tatsache, die von der Forschung völlig übersehen worden ist. Zwischen den Namen in Komödie der Eitelkeit bestehen Korrespondenzen verschiedener Art. Da gibt es nahezu gleiche Vornamen. Drei der neunundzwanzig Figuren tragen einen von »Franz« abgeleiteten Namen: François Fant, Franzl und Franzi Nada. Eine solche Form der Namengebung ist aus anderen Werken der Weltliteratur bekannt. Genannt seien Goethes Die Wahlverwandtschaften, wo die Namen der vier Hauptfiguren den gemeinsamen Namen »Otto« enthalten43, und Prousts A la recherche du temps perdu, wo wiederum vier Figuren – Charles, Charlie, Charlus und Rachel – die Buchstabenkombination »Char« im Namen tragen44. Diese Korrespondenzen bedeuten nicht, dass || 41 Vgl. Wilhelm Gemoll: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. 9. Auflage, durchgesehen von Karl Vretska. Mit einer Einführung in die Sprachgeschichte von Heinz Kronasser. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky; München: Oldenbourg 1997, S. 374. 42 Den Begriff habe ich übernommen aus Gutschmidt: Eigennamen in der Literatur (wie Einleitung, Anm. 93), S. 20. Siehe auch ders.: Bemerkungen zum Gegenstand und zu den Aufgaben der poetischen (literarischen) Onomastik (wie Einleitung, Anm. 61), S. 426. 43 Vgl. Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften (wie Kapitel B4, Anm. 33), S. 86. Schlaffer zeigt, dass Goethe das zusammenhängende Schicksal der vier wahlverwandten Personen durch den gemeinsamen Namen Otto, ein Palindrom, von Anfang an sichtbar macht. Dabei beziehe Goethe sich auf eine magisch-kabbalistische Vorstellung. Eine Formel, die als Palindrom gesprochen oder geschrieben wird, gilt danach als unaufhebbar (Vgl. ebd., S. 89). 44 Vgl. Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 65.

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der Verfasser keine Lust gehabt hätte, sich mehrere verschiedene Namen zu überlegen, sondern sie verfolgen einen Zweck. Mehrere Figuren werden auf diese Weise zu einer Gruppe zusammengefasst: Entweder gehören sie – wie in Die Wahlverwandtschaften – schicksalhaft zusammen, oder sie besitzen – wie bei Proust – dieselbe Vorliebe, dasselbe plaisir45. Kaum anders ist es in Komödie der Eitelkeit. Auch hier schafft die Gleichnamigkeit eine Gruppe innerhalb des Figurenensembles, das alle Generationen und Schichten umfasst. Da Franzl und Franzi Nada, zwei steinalte Dienstleute, dem jungen François Fant zur Hand gehen, ist die Namensgleichheit von größter Symbolkraft für die Masse, so wie Canetti sie definiert: als einen Zustand vollkommener Gleichheit und Dichte. Die Namenskorrespondenzen zersprengen die Hierarchie, die die Entstehung einer Masse behindert. Sie nähern die Figuren einander an. Zu dieser These passt denn auch, dass in einer Regieanweisung ein Hausmädchen mit dem typischen Dienerinnennamen Marie ausdrücklich zur Familie Kaldaun gezählt wird (II, S. 90). Zur Verknüpfung der Figuren bedient sich Canetti einiger weiterer und sehr ähnlicher Strategien. So beginnen zahlreiche Namen mit demselben Anfangsbuchstaben oder derselben Kombination. Zur Gruppe aus François, Franzl und Franzi kommen Fritz Schakerl und Fritz Held hinzu, ein weiteres Paar, diesmal mit exakt demselben Vornamen. Das doppelte »w« im Namen findet sich ebenfalls nicht nur bei Wenzel Wondrak, sondern auch bei Witwe Weihrauch. Mit einem »b« beginnen Barloch und Brosam, mit »h« Heinrich, Hedi und Held, mit »k« Kaldaun und Kreiss, mit »m« Marie, Mai46 und Milli und mit »l«: Luise, Leda, Lya, Lizzi und Lori. Die beiden zuletzt Genannten, zwei achtjährige Mädchen, sind erbitterte Feindinnen, ein weiterer Beleg dafür, dass Namen in Komödie der Eitelkeit die Distanz selbst zwischen antipodischen Figuren

|| 45 Vgl. ebd. 46 Vielleicht erinnert der Name auch an die Wiener Mai-Aufmärsche, bei denen Canetti die Masse studieren konnte. In den Entwürfen zu Die Fackel im Ohr findet sich dazu die folgende gestrichene Passage: »Der Justizpalast war gleich beim Ring, in nächster Nähe des Parlaments, man kann sagen im Zentrum der Stadt, denn seit der Ring bestand, seit er der Ort aller grossen Aufmärsche war, war er wirklich zum Massenzentrum geworden. In den platzartig weiten Teil des Rings zwischen Rathaus und Burgtheater hatten alle Mai-Aufmärsche gemündet. Man war es gewohnt, dort sehr grosse Massen zu sehen. Da das Rathaus von den Sozialdemokraten beherrscht war, die die Mehrheit in Wien gewonnen hatten, endeten diese Aufzüge am passenden Ort. Es waren Festmassen, die dem Rathaus, denen, die in ihm regierten, huldigten.« Zitiert nach ZB 223, Gestrichene Passage aus Der 15. Juli (Kurzschrift). Vor diesem Hintergrund scheint der Name Mai auch inhaltlich auf die Masse hinzuweisen. Zu einer alternativen Namensdeutung siehe weiter unten, S. 363 und 369.

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überbrücken – ein ganz anderer Effekt als in Eichendorffs Die Wiederkehr, wo die beiden Freunde Ludwig und Leonhardt zwar über eine Alliteration verbunden sind, sich aber räumlich, beruflich und intellektuell voneinander entfernen. Der Name Hedi verweist wiederum auf ein anderes Gegenstück, auf einen Mann: Es ist der Frisör Fritz Held. Auch diese Alliteration dient der Annäherung. Sie bringt die Doppelmasse von Männern und Frauen zusammen, die sonst »durch einen klaren Abstand« getrennt ist. Eine dritte und letzte Möglichkeit der Verbindung ist der Reim.47 So reimt sich der Name Therese Kreiss auf S. Bleiss, der als Hausierer wie sie mit Waren handelt; sein Name leitet sich eventuell von der Händlersprache Bleisle ab.48 Der Vorname Leda indes reimt sich auf den Nachnamen Nada, eine junge Ärztin rückt so an die Seite zweier alter Dienstleute. Und schließlich reimt sich der Name Garaus, wenigstens in seinem ersten Glied, auf Barloch. Diese zahlreichen formalen Korrespondenzen verstärkt Canetti, indem er zusätzliche Zusammenhänge schafft: Er führt uns Eheleute und Verlobte vor; er zeigt Eltern mit ihrem Kind (ihren Kindern), zwei echte und zwei vermeintliche Zwillinge, drei beste Freundinnen und sechs kleine Mädchen, die alle Diminutivnamen tragen wie etliche Figuren des Stücks. Niemand bleibt dadurch in Komödie der Eitelkeit allein. Und trotzdem sind die Figuren mit ihren verschiedenen, wenn auch zum Teil nur geringfügig variierten Namen noch immer »im weiten Maße Individuen« (III, S. 44) – wie die Pilger auf der Fahrt nach Mekka. Die beiden Merkmale der langsamen Masse: die Separierung bei gleichzeitiger Zusammengehörigkeit, sind sämtlichen Namen in Canettis Komödie zu Eigen. Am besten lässt sich die wechselseitige Annäherung zweier Figuren an Heinrich Föhn und Leda Frisch studieren. Noch ehe diese beiden ein einziges Wort miteinander gewechselt haben, sind sie durch ihre Namen als antitheti-

|| 47 Auch das gehört zu den traditionell verwendeten Mitteln eines Dichters, der zwischen den Figuren eine formale Korrespondenz herzustellen beabsichtigt. Beispiele aus der deutschen Literaturgeschichte sind Walt und Vult Harnisch in Jean Pauls Flegeljahre, Fabian und Sebastian in Raabes gleichnamiger Erzählung und Hertha und Bertha Jahnke in Fontanes Effi Briest. Vgl. Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 66. 48 Diese Sprache wurde im Killertal und im Zollernalbkreis entwickelt und gesprochen. Vgl. dazu Dieter Bertsch: Fallstudie: Das Bleisle, die Händlersprache des Killertals/Zollernalbkreis und die Reste des Jenischen im Killertal. In: Christian Efing und Corinna Leschber (Hg.): Geheimsprachen in Mittel- und Südeuropa. Frankfurt a.M.: Lang 2009, S. 193–208. Allerdings könnte der Name auch auf Bleiss' blasse Hautfarbe hinweisen (ZB 33.3b, ohne Datum). Canetti nannte übrigens die Witwe Weihrauch zeitweise Witwe Blass. Siehe ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift).

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sche Charaktere identifiziert: Wärme steht gegen Kälte.49 Dies bestätigt sich während ihres ersten Auftritts: Leda, die Frische, bezeichnet Heinrich Föhn, den Frauenhasser, als »Feuerkopf« (II, S. 89). Ihre akustischen Masken liefern den endgültigen Beweis: Heinrich und Leda passen nicht zusammen. FÖHN: Verzeihen Sie, Gnädigste, gerade darum geht es gar nicht. Es handelt sich hier nicht um kleinliche Maßnahmen, die uns von einem Tage bis zum andern tragen. Wir wollen nicht immer halb sein. Wir haben uns zwar an das Halbe gewöhnt wie an Tag und Nacht, aber das muß sich ändern. LEDA (sehr kühl): Ja, eigentlich las ich das gestern auch. Sie werden eigentlich recht haben. (II, S. 87)

Auf Föhns flammende Begeisterung, seinen intellektuellen Radikalismus, der sich mit Halbheiten nicht zufrieden geben will, reagiert Leda, in kalauernder Anspielung auf ihren Namen, »sehr kühl«. Überdies hat sie eine Schwäche für das einschränkende Adverb »eigentlich«; es ist das Schlüsselwort ihrer akustischen Maske. Am Ende der Szene kommt jedoch heraus, dass Föhn nicht Ledas Gegner ist, sondern ihr Verlobter (II, S. 90). Im zweiten Teil sind sie ein Ehepaar, und Leda trägt den antithetischen Namen Föhn-Frisch.50 Auch diese Verknüpfung scheinbar unvereinbarer Pole zu einem einzigen Namen ist nicht neu, sie ist – zumal in der deutschen Dichtung – wohlbekannt, allerdings weniger in Form eines Bindestrichnamens denn als Kombination von Vor- und Nachname wie bei Thomas Manns Tonio Kröger oder Fontanes Alonzo Giesshübler. Auch die beiden Anthroponyme Föhn und Frisch erhalten ihre Bedeutung – nicht ausschließlich, aber zu einem erheblichen Teil – als reziproke Verweise. Der Bindestrich nimmt den beiden Namen den Charakter einer Distanzlast. Aus zwei Individuen wird, was Föhn sich nicht nur für seine Ehe, sondern für die Menschheit insgesamt erhofft: »eine Ganzheit in viel höherem || 49 Im Nachlass bezeichnet Canetti die beiden an einer Stelle als Henri Einmann und Sesa Zweimann. Vgl. ZB 33.2b, ohne Datum. Der Name Sesa ist ungewöhnlich und nirgendwo sonst belegt. Deshalb lässt sich über seine Bedeutung nur spekulieren. Vielleicht soll der Name mit seinen nur geringfügig verschiedenen Silben auf das echohafte Wesen der Namensträgerin verweisen, ihre letztlich paradoxe Natur: Sie imitiert Heinrich, bleibt dabei aber doch sie selbst. 50 Zum antithetischen Namen vgl. Demetz: Zur Rhetorik Fontanes (wie Kapitel B1, Anm. 26), S. 198; Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 54: Der antithetische Name besteht meist aus einem Vor- und einem Familiennamen, zwischen denen eine deutliche Spannung herrscht. Diese Spannung, bei Tonio Kröger etwa die für Thomas Mann typische Spannung zwischen Nord und Süd, prägt den Charakter der Figur. Vgl. zur antithetischen Namengebung Thomas Manns auch Rümmele: Mikrokosmos im Wort (wie Einleitung, Anm. 61), S. 270.

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Sinne« (II, S. 87). Da Leda aber ihren alten Namen behält, bewahrt der Bindestrich einen Rest der alten Spannung.51 Ihr Name besitzt dieselbe Paradoxie wie alle Namen in Komödie der Eitelkeit: Er separiert und verbindet. Der Ausgleich zwischen den scheinbar unvereinbaren Polen, die Heinrich Föhn und Leda Frisch personifizieren, findet, von den Namen abgesehen, auch in der Sprache statt: FÖHN (huldvoll zum Alten): Sie ist verhaftet worden. (Zu Leda Frisch) Mir… LEDA (Heinrich nachahmend, zum Alten): Wegen verbotenen Bildern. (Zu Heinrich) Mich… (II, S. 97)

Leda hat den Satzbau ihres Verlobten übernommen. Wie er bricht auch sie ihre Aussage nach dem Pronomen ab. Grammatisch jedoch variiert sie dieses Pronomen – ein Rest Individualität. Auf ihr eigenes Lieblingswort verzichtet sie außerdem nicht, es bleibt Bestandteil ihrer Sprache. Im dritten Teil des Stücks wird Leda, die inzwischen als Psychologin arbeitet, in Verkehrung ihrer bisherigen Sprachmaske, dagegen von sich behaupten, sie wisse viel, vielleicht alles (II, S. 135). Bald weicht die adverbiale Einschränkung der Hybris: »Ich weiß alles!« (II, S. 155 und 172)52 Leda hat auch diese Formulierung ihrem Gatten abgelauscht. Schon im ersten Teil ist Föhn von seiner Allwissenheit überzeugt: »Ich kenne alles. Ich kenne alles.« (II, S. 90) Es ist in der Forschung mehrfach behauptet worden, Canetti kritisiere durch Leda Freuds Psychoanalyse.53 Diese These ist keinesfalls von der Hand zu wei-

|| 51 Für Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 164 bilden Heinrich Föhn und Leda Frisch eine »falsche-wahnhafte Einheit, in der die Spaltung der Geschlechter in ihrer Vermischung fortbesteht.« Die Voranstellung des männlichen Namens im gemeinsamen Ehenamen lässt sich im Anschluss an Sänger als Hinweis auf die »Omnipotenz des männlichen Ich« deuten (Ebd., S. 163). 52 Vgl. dazu auch II, S. 172: »Sie werden noch drauf kommen, daß ich immer recht habe«; II, S. 173: »Sie fangen an, sich vor mir zu fürchten, weil ich alles weiß.« Vgl. dazu im dritten Teil auch Wondrak: »Weiß ich, meine Herrschaften, weiß alles, ich weiß.« (II, S. 161 und 164) Auch in Die Blendung sagt Georges' Vorgänger zu den Patienten, die ihm ihre Geschichte immer wieder erzählen wollen: »Ich weiß alles.« (I, S. 433) Ebenso der Kommandant: »Zuhören soll er bei jedem Verhör. Er tut das aus Prinzip nicht, weil er eh schon alles weiß.« (I, S. 350) Der Kanalräumer wiederum, eine der Paria-Figuren in Canettis Roman, sagt über seine Frau: »Sie wußte alles. Drum verehrte er sie.« (I, S. 279) 53 Vgl. Gerald Stieg: Canetti und Brecht oder »Es wird kein rechter Chor daraus…«. In: Durzak (Hg.): Zu Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 129), S. 138–150, hier S. 145; Franz Schuh: Der Dichter als Vorbild und Konkurrent. In: Hüter der Verwandlung (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 65–84, hier S. 77f; kritisch Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 119, der es ablehnt, die Szene ausschließlich als Parodie zu begreifen. Canettis Verhältnis zu

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sen54, sie lässt sich sogar (wenn auch nur schwach) onomastisch stützen. Ledas Name stammt ebenso aus den griechischen Mythen wie der Name des Ödipus, des Liebhabers seiner Mutter, an dessen Schicksal Freud seine Theorie des Ödipus-Komplexes illustriert hat; im dritten Teil des Dramas wird Leda diese Theorie selbst anwenden, eine Theorie, die Canetti für nicht mehr hielt als eine Ideologie.55 Zweifelhaft ist, ob der Name Leda eine intertextuelle Anspielung auf Freuds Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci ist, da wir nicht wissen, ob Canetti diesen Text gelesen hat. Dort heißt es, Leonardo habe auf dem Gesicht seiner Leda das »selig verzückte Lächeln« der eigenen Mutter wiedererschaffen, die den Sohn anstelle ihres verstorbenen Gatten mit Zärtlichkeiten überschüttet habe.56 Das Verhältnis der beiden Verlobten gleicht nun gewiss nicht der ödipalen Beziehung zwischen Mutter und Sohn, auch wenn Leda sich sehr für Heinrichs Kindheit interessiert, vor allem für seinen Wissens-Triumph über den eigenen Vater. Und doch will auch Föhn ein Ideal erschaffen wie Leonardo: die perfekte, aber gerade nicht zärtliche Frau. Dieses Ideal ist sein Spiegelbild. Auch er führt eine Ehe mit sich selbst und ist, was er seiner eigenen Theorie nach nicht sein darf: ein verweiblichter Mann. Denn nicht nur Leda

|| Freuds psychoanalytischen Theorien untersuchen Lothar Hennighaus: Tod und Verwandlung. Elias Canettis poetische Anthropologie aus der Kritik der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1984 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 767) und Zepp: Privatmythos und Wahn (wie Einleitung, Anm. 35), S. 75–87. Speziell zu Canetti und Freud: Lothar Hennighaus: Canetti und Freud. Polemische Bemerkungen zum Beginn einer »Todfeindschaft«. In: Austriaca 11 (1985), Nr. 21, S. 41–48; Achim Geisenhanslüke: Wolfsmänner. Canetti und Freud. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 313–333. 54 Vgl. dazu vor allem die Anspielungen auf den Ödipus-Komplex in II, S. 172: »Erinnern Sie sich, einmal, da waren Sie schon ein großer Bub, und da hatten Sie was angestellt, etwas Schreckliches, etwas ganz Schreckliches, vor dem Papa hatten Sie Angst, überhaupt gegen den Papa hatten Sie manchmal einen solchen Haß, da kamen Sie zur Mutter und legten den Kopf auf ihren Schoß und beichteten.« 55 Sie bedarf allerdings einer nicht unwichtigen Ergänzung: Leda verliert ihre Zweifel erst durch rhetorische Nachahmung, sie ähnelt, mythologisch gesehen, der in Narziss verliebten Echo, die keine eigenen Worte formulieren, nur stumpf wiederholen kann. Anders ausgedrückt: Die Psychoanalyse ist in Canettis Augen bloßes Nachplappern. Sie ist, da Leda einen Ideologen und Politiker imitiert, keine Wissenschaft, sondern eine Ideologie. Insofern entspricht sie dem religiösen Fanatismus der Therese Kreiss, die zwar nicht die Nähe eines glühenden Menschen sucht, wohl aber die Nähe des Feuers. 56 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. In: Ders.: Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt a.M.: Fischer (Studienausgabe; X), S. 87–159, hier S. 141.

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imitiert Heinrich, die Psychologin den Ideologen57, die Frau den Mann, sondern auch umgekehrt. Ohne es zu merken, übernimmt Heinrich an einer Stelle im zweiten Teil Ledas ihm verhasstes Lieblingswort »eigentlich« (II, S. 137). Einmal mehr hat sich die Verschiedenheit der akustischen Masken verringert. Die trennende, von Einflüssen abgedichtete ›parole‹ ist durchlässig geworden; in der Sprache findet eine wechselseitige Osmose statt. Die Figuren gleichen sich zunehmend an, im ersten ebenso wie im zweiten Teil. Leda Frisch und Heinrich Föhn sind keinesfalls die einzigen, deren Sprachmasken sich punktuell überschneiden. François Fant und Franzl Nada, die durch ihren Vornamen zusammen gehören, verwenden im ersten Teil kurz hintereinander beide das Leibwort Wenzel Wondraks »kolossal« (II, S. 80). Föhn wird dieses Wort später genauso für sich entdecken (II, S. 169). Auch das Ehepaar Kaldaun teilt sich manche Floskel.58 Lya, die Frau, verwendet wie selbstverständlich die typischen Phrasen ihres Gatten: »Ganz einfach«, »Ich bin nicht gesonnen« und »Ich bin sprachlos« (II, S. 116). Das Einfache hat auch im Denken des stotternden Lehrers Schakerl seinen Platz, der im Namen der Regierung verkündet: »Zur Einfachheit bringt niemand mehr Mut und Widerstandskraft auf.« (II, S. 89) Garaus' Lieblingswendung »Ich finde« taucht wiederum – reflexiv ergänzt und darin das Motiv des Spiegelbildes fortführend – in Föhns Rede auf: »Ich habe mich gefunden.« (II, S. 136)59 Und als Höhepunkt des Wechselspiels beginnt Hedi, eines der sechs kleinen Mädchen, im zweiten Teil an einer Stelle sogar zu stottern wie ihr Freund Schakerl (II, S. 151). Es ließen sich eine Reihe weiterer Beispiele anführen, speziell aus der Szene im Vorraum des Spiegelbordells.60 An dieser Stelle genügt ein summarischer Befund: Die Charakteristika

|| 57 Vgl. dazu Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 223: »In diesem ›Paar‹ fusionieren Psychoanalyse und Politik. Die Psychoanalyse erscheint als die Suggestion der Unschuld, die ihr politisches Korrelat im ungehemmten Machtwahn findet.« 58 Dazu auch Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 237, die sogar von einer »weitgehende[n] Identität« der beiden Sprachmasken spricht. 59 Vgl. auch II, S. 136: »Heute bin ich so gefestigt, daß mich nichts aus meiner Bahn schleudern kann – es sei denn eine Sonne, die mächtiger ist als ich, und die müße [sic] ich erst finden.« 60 Dazu noch zwei Beispiele: »DER MANN MIT DER NÜCHTERNEN STIMME: Braucht man sich das gefallen zu lassen?« (II, S. 161) Vgl. dazu die Sprachmaske Egon Kaldauns: »Ich brauch mir das nicht gefallen zu lassen.« (II, S. 115) Kurz danach fährt eine Dame die Fant an: »Unerhört! Wir haben unsere Zeit nicht gestohlen.« (II, S. 162) Vgl. dazu die folgende Stelle: »DIE FANT: »Ich hab meine Zeit nicht gestohlen.« (II, S. 86) Das sprachliche Wechselspiel steht hier im Gegensatz zur körperlichen Distanz: Die Figuren sind alle in schwarze Kleider gehüllt, und sie halten ihre Gesichter verborgen, sei es mit einem Hut, einem Schal, einem Mantelkragen oder mit einem Taschentuch: »Jeder ist für sich allein da.« (II, S. 160) Der zentrale Satz aus der akusti-

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einzelner akustischer Masken werden in allen drei Teilen der Komödie als Phrasen zum gemeinsamen Besitz. Ohne es zu ahnen oder zu wollen, streben die Figuren im Sprechakt zueinander wie die Körper in der Masse, wie Echo zu Narziss. Das Ich, das Subjekt in etlichen dieser Phrasen, die trennende Instanz, ist semantisch variabel, geradezu austauschbar geworden. Die Figuren, die sich, von ihrer Eitelkeit angestachelt, gegen die Masse wenden, erkennen allerdings nicht, dass sie auch zehn Jahre nach der Entladung teilweise noch immer einem Kollektiv angehören: mit ihrer vermeintlich eigenen Sprache nicht weniger als mit ihrem Namen. Die Masse ist nicht völlig verschwunden, und es wird zu klären sein, was das für die Struktur des Dramas bedeutet. Zuvor aber muss untersucht werden, wie weit die Annäherung der Figuren geht, und wie groß umgekehrt, trotz aller Nähe, ihre Distanz ist.

5.3 Zwei Prinzipien – Annäherung und Abstoßung Die alte Franzi Nada ist von allen Figuren des Stücks am deutlichsten jemand anderem zugeordnet: ihrem Bruder, bei dem es sich wahrscheinlich um ihren Zwilling handelt.61 Beide sind von kleiner, gebückter Statur und nicht sonderlich intelligent; beide arbeiten als Dienstleute62; und beide tragen wie die nordischen Zwillingsgötter Freyr und Freya fast den gleichen Namen: Franzi und Franzl Nada. Ihrer Sprache ist darüber hinaus eine Fülle von verneinenden Partikeln gemein: net, nix, nimmer, no, nein, na – alle diese Adverbien tauchen permanent in ihren Sätzen auf, sie sind die Erkennungsworte ihrer gemeinsa-

|| schen Maske der Emilie Fant begegnet uns schon in Die Blendung; er gehört zu Thereses Sprachmaske: »›Die Herren Chefs glauben, man hat sein Geld gestohlen!‹« Beide Figuren gleichen einander in ihrer Fixierung auf Geld und Besitz. Zu dieser Gruppe lässt sich auch Fischerle zählen: ein Dieb. »Dazu ist Fischerle erstens sein Geld zu lieb, zweitens hat er es nicht gestohlen.« (I, S. 368) 61 Vgl. dazu ZB 4, Juni 1937: »Zwillinge und Spiegelbilder müssten in der Geschichte der Menschheit einen deutlichen Zusammenhang haben; zu untersuchen.« Ideale Zwillinge tragen häufig die männliche bzw. weibliche Form desselben Namens. Vgl. dazu Eithne Wilkins: Gestalten und ihre Namen im Werk Robert Musils. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik 21/22: Robert Musil. München: Edition Text + Kritik 1968, S. 48–58, hier S. 52. Wilkins nennt einige weitere Paare: Georg und Georgine, Amandus und Amanda, Paul und Pauline. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 194, Anm. 168 spricht lediglich von einer »der Zwillingshaftigkeit angenäherte[n] Parallelität«. 62 In Thomas Manns Erzählung Der Tod (1897) tritt der »alte Franz« auf. Nach Tyroff: Namen bei Thomas Mann (wie Einleitung, Anm. 103), S. 77 handelt es sich um einen »typische[n] Dienername[n]«.

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men akustischen Maske. Auch ihr Name enthält eine Verneinung: das spanische Nada, nichts.63 Selbst die im Nachlass überlieferte Alternative Martinek64 ist kein besserer Spiegel ihrer verbalen Manie als diese vier Buchstaben – und wurde von Canetti vermutlich deshalb ausgetauscht. Zwar enthält der Name Martinek eine scheinbar verneinende Nachsilbe, aber er ist keineswegs so kurz, inhaltlich so auf das Nichts selbst reduziert wie Nada. Name und Sprache legen also nahe, dass wir es mit ein und demselben Charakter zu tun haben, gesplittet in Mann und Frau. Und doch gibt es ein Problem mit den beiden Nadas. Sie haben sich vor dreißig Jahren das letzte Mal gesehen und suchen sich tagaus, tagein, ohne sich zu finden.65 Sie, die als ihre eigenen Spiegelbilder zur Welt gekommen sind, erkennen sich nicht: weder an ihrem Aussehen noch an ihrer echohaften Sprache noch an ihrem Verhalten. Zwar laufen sie sich mehrmals über den Weg, aber sie begreifen nicht, dass der jeweils andere der lang gesuchte Bruder, die lang gesuchte Schwester ist. Im zweiten Teil geraten sie sogar in einen heftigen Streit, beschimpfen und denunzieren sich (II, S. 154), während François Fant, ihr Vornamensvetter, sehr belustigt daneben steht und sie auch noch anfeuert: »Nur so weiter! Nur so weiter! Freßts euch einander auf.« (II, S. 154) Man kann in dieser Szene eine Parodie auf den Mythos von den Kugelmenschen sehen, den Aristophanes in Platons Symposion erzählt, eine der amüsantesten und wirkmächtigsten Ätiologien der Liebe.66 Gemeint wäre bei Canetti die Liebe zwischen zwei Geschwistern, eine Liebe mit dennoch erotischen Zügen; die beiden Nadas können nämlich nur an den jeweils anderen denken und haben anscheinend nie geheiratet. Canetti hätte die Sehnsucht nach dem Mitgebore-

|| 63 Vgl. Belloin: Elias Canetti Komödie der Eitelkeit (wie Kapitel B4, Anm. 42), S. 166. Ohne den Zusammenhang zwischen Name und akustischer Maske zu berücksichtigen, vermutet Rudolf Schier in seinem Aufsatz: La Dispute und die Komödie der Eitelkeit. Spiegelungen zwischen Marivaux und Canetti im Lichte von Hobbes und Rousseau. In: Orbis Litterarum 56 (2001), H. 2, S. 138–154, hier S. 149 Nada heiße deshalb Nada, weil er das Nichts darstelle, das fehlende Spiegelbild. Zugleich aber ersetze Nada das Spiegelbild, indem er den Passanten mit immer denselben Worten sage, was sie in einem Spiegel zu sehen erwarteten. 64 ZB 33.3b, ohne Datum. 65 Gerald Stieg: Die Masse als dramatische Person (wie Anm. 9), S. 105 spricht in diesem Zusammenhang von einer »tragische[n] Abwesenheit der Anagnorisis«. 66 Canetti bezog sich auf den Kugelmenschenmythos im Juni 1933, nachdem er sich in Anna Mahler verliebt hatte. Er lehnte allerdings die Vorstellung ab, dass Liebende »zwei Kugelhälften« seien, da diese Hälften »für ewig und in unglücklicher Vollkommenheit aneinander geschweisst« blieben. Eher seien sie »zwei Komplementärfarben«. Zitiert nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 271.

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nen (»to syngenes«), von der Platons Aristophanes spricht67, demnach wörtlich genommen – und sie, ebenso wörtlich, ins Nichts laufen lassen. Die ausbleibende Anagnorisis muss eine zeichenhafte Bedeutung in einem Drama haben, das im ersten Teil und am Ende des dritten Teils eine Masse zeigt. Die Gleichheit, eine der vier Eigenschaften dieser Masse, ist in den beiden Nadas physisch auf kaum zu überbietende Weise realisiert; doch das »Gleichheitserlebnis« (III, S. 30) bleibt ihnen versagt, wiewohl Franzi der festen Überzeugung ist: »Wissen S', für den Franzl hab ich so ein gutes Gspür, sonst net, für ihm hab ich das gute Gspür.« (II, S. 142) In Wirklichkeit halten sich die Nadas allerdings für grundverschieden, nehmen sich als Konkurrenten wahr, als Feinde sogar. Hinzu kommt: Ihr gesellschaftlicher Status verbessert sich zu keinem Zeitpunkt. Sowohl im ersten als auch im zweiten Teil stehen sie am unteren Ende der sozialen Hierarchie. Sie bleiben Dienstleute, nur ihre Dienstleistung ändert sich. Und François bleibt trotz seines annähernd gleichen Vornamens ihr Herr, ein Despot, dem ihre Sorgen und Wünsche so gleichgültig sind, als wären sie seine Sklaven. Auch auf diese Konstellation weist – neben Franzis kriechendem Gang – der Name Nada hin: Seine beiden Träger sind, gesellschaftlich gesehen, ein Nichts68, sie entsprechen keineswegs dem Typus der göttlichen Zwillinge. Das bringen auch ihre Vornamen zum Vorschein, zwei Diminutive. Wie stets bei Canetti exponieren sie die (hier tatsächlich) fehlende Macht des Namensträgers. Es ist insofern bezeichnend, dass Franzi nicht einen einzigen Zahn besitzt (II, S. 142); sie hat das »auffälligste Instrument der Macht« vollständig verloren (III, S. 236). Um einen sogar ganz fundamentalen Teil ihrer

|| 67 Vgl. Plat. symp, 189d–193e. Zitiert nach Platon: Symposion. Griechisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Franz Boll, bearbeitet von Wolfgang Buchwald, neu bearbeitet und hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler 2000 (Tusculum Studienausgaben), S. 51–61. In seinem Buch: Über die platonischen Mythen. München: Kösel 1965, S. 30 zählt Josef Pieper die Rede des Aristophanes zu den wenigen, im strikten Sinne mythischen Geschichten in Platons Gesamtwerk. Solche Mythen im strikten Sinn seien Erzählungen von der Entstehung des Kosmos, von der urzeitlichen Heils- und Unheilsgeschichte des Menschen, vom Schicksal der Toten, von Gericht und Vergeltung im Jenseits (Vgl. ebd., S. 20). Aristophanes bietet seinen Zuhörern jedoch mehr als nur eine mythische Geschichte. Wegen der zahlreichen witzigen Einfälle, die Platon dem Komödiendichter eingegeben hat, spricht Gerhard Krüger von einem tragikomischen Mythos. Vgl. dazu seine Ausführungen in: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens. 3., durchgesehene Auflage, Frankfurt a.M.: Klostermann 1963, S. 128. 68 Vgl. Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 192; Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 150, Anm. 40. Vgl. dazu auch eine Stelle aus dem Nachlass, an der Canetti die beiden Nadas »Opfer« nennt. Siehe ZB 33.2a, ohne Datum (Kurzschrift).

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Identität ist eine weitere Figur aus dem niederen sozialen Milieu beschnitten, obwohl gerade sie mit ihren Seifen, Strümpfen, Bändern und Spiegeln der eigentliche »Agent« des Individuums in der Masse ist: Gemeint ist der Hausierer Bleiss, dessen Vorname nur aus einem Initial besteht.69 Diese Befunde lenken den Blick nun mehr und mehr auf die zweite Kraft im dramatischen Konflikt, von der Masse zu den Individuen. Das Schicksal der beiden Nadas hat exemplarisch vor Augen geführt, dass es neben der Annäherung von Anfang an, also schon im ersten Teil, eine zweite Bewegungstendenz zwischen den Figuren gibt: die Abstoßung. Sie macht sich hier aber lange nicht so bemerkbar wie im zweiten und dritten Teil, wo der Hausierer vor dem Packer um sein Leben bettelt und die Figuren im Spiegelkabinett schließlich nebeneinander mit zugekehrten Ellenbogen sitzen (II, S. 165). François ist nicht nur die Kontrastfigur zu den Nadas, er ist auch ein Snob, ein Aufschneider. Gern lässt er es sich gefallen, dass seine Freundin Puppi ihn zum »schönste[n] Mann von der Welt« erklärt (II, S. 121). Denn wie kaum eine zweite Figur in Canettis Drama personifiziert er die auf den eigenen Körper gerichtete Eitelkeit. An die Seite zu stellen sind ihm seine Mutter Emilie, eine Bordellbesitzerin, die »grell geschminkt, über und über mit Schmuck behangen« aufzutreten pflegt (II, S. 84), und der Frisör Fritz Held, der sich beruflich um die physische Verschönerung kümmert. Fants Aussehen, er ist jung und elegant; sein dandyhaftes Verhalten, er tänzelt heran; seine Sprache70, er hat eine Vorliebe für ausdrucksstarke Fremdwörter wie (seinem Äußeren entsprechend) »elegant« (II, S. 80, 98, 124, 129, 152 und 154), »imposant« (II, S. 98, 125 und 129), »impertinent« (II, S. 122 und 123) und »maliziös« (II, S. 122) – all das entschlüsselt die Beziehung zwischen Name und Figur: Das Wesen ist wieder mit dem Namen eins.71 Nicht nur der extravagante Vorname François, sondern auch der Nachname Fant, die umgangssprachliche Bezeichnung für einen Geck, deuten auf die Unfähigkeit des Namenträgers hin, den Glauben an die Vorzüge des eigenen Körpers aufzugeben und sich der Masse anzuschließen. Fant muss

|| 69 In den Entwürfen bezeichnet Canetti Bleiss als »Agent« (ZB 33.2b und 33.3b, ohne Datum). Der verkürzte Vorname könnte also ursprünglich die Funktion gehabt haben, die Identität seines Trägers wenigstens ein Stück weit zu verbergen. Auch im publizierten Stück agiert Bleiss stets im Dunklen und Verborgenen, am Schluss des zweiten Teils kommt er z.B. gerade »von seinem Nachtgeschäft heim« (II, S. 159). 70 Vgl. X, S. 301: François Fant, »[…] dieser ungeheuer arrogante und verwöhnte Mensch. Das war ein sehr schlechter Wiener Schriftsteller Namens Paul Frischauer.« Vgl. auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 305. Mit den ersten beiden Buchstaben dieses Nachnamens beginnt Fants Vorname. 71 So auch Belloin: Elias Canetti: Komödie der Eitelkeit (wie Kapitel B4, Anm. 42), S. 166.

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herausragen, er muss der Schönste sein, sein Verhalten strebt nach Wirkung.72 Für die langsame Masse im ersten Teil, die »Masse in ihrer Eitelkeit«, für die das »Element des Gesehenwerdens« so wichtig ist, stellt Fant dennoch keine Bedrohung dar; die individuelle und die kollektive Eitelkeit fallen hier nämlich ebenso zusammen wie die Richtung der Masse und des Einzelnen. Fant tut, was er soll, ja mehr noch: Er übererfüllt die staatlichen Bestimmungen – nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Eitelkeit. In seinem Umgang mit den Nadas wird aber ein Problem der Masse antizipiert: Unter der Oberfläche der Namensgleichheit bleibt die Hierarchie erhalten. Die Individuen sind sich nicht in ihrem Stande und ihrem Aussehen gleich geworden, sondern lediglich in ihrer Orientierung auf dasselbe Ziel. Wenn der eitle Fant die Nadas auf dem Weg zu diesem Ziel erniedrigt, dann kämpft er aber schon jetzt gegen seinen eigenen Vornamen, der ihn an sie, die hässlichen Diener, bindet. Im ersten Teil gelingt ihm die Emanzipation von seinen Korrespondenzfiguren nicht: Immer sieht man ihn zusammen mit den Nadas oder mit seiner Mutter Emilie. Im zweiten Teil des Dramas dagegen liefert François den schmeichelnden Franzl Nada an die Behörden aus und befreit sich so von seinem Namensvetter. Denn sämtlichen Schmeichlern droht per Gesetz der Tod (II, S. 154f.). Diese radikale Form der Abstoßung, die erst im zweiten Teil erfolgreich ist, lässt vermuten, dort müssten weitere onomastisch zugeordnete Figuren aufgrund ihrer gesellschaftlichen Kluft miteinander in Konflikt geraten. Überprüfen lässt sich diese Vermutung an der Begegnung zwischen Garaus und Barloch. Wie anhand der Nachnamen gezeigt, bilden auch sie, der Direktor und der Packer, ein Paar. Ihre Zusammengehörigkeit wird bekräftigt durch ihre Vornamen und ihr Äußeres: Beide heißen Josef und sehen sich »sehr ähnlich« (II, S. 145). Als sie sich im zweiten Teil begegnen, stellen sie mit Verblüffung fest, wie sehr sie einander Abbild sind, einer des anderen Spiegelbild. Beinahe alles stimmt, die Zähne, der Kopf, selbst die Konstitution. Nur die Kleider passen nicht; sie bringen die soziale Differenz zum Vorschein: Barloch ist arm und abgerissen, Garaus elegant und gepflegt. Doch nach einem teilweisen und symbolischen Kleidertausch73 – Barloch bekommt Hut und Mantel seines Gegen-

|| 72 Fant ähnelt dem Kommandanten in Die Blendung, der eine Vorliebe für Krawatten hat, sich selbst für den Größten, den Sieger, hält und meint, das Leben sei elegant (I, S. 345). Allerdings ist der Körper des Kommandanten mit einem Makel behaftet: einer allzu kleinen Nase. 73 Für Garaus spielen Kleider eine große Rolle. Denn sie schaffen Distanz und schützen ihn vor Berührung. Er ist »sehr komplett angezogen« (II, S. 112) und erscheint noch vor dem Spiegelbordell »wohlverpackt in Mantel und Hut« (II, S. 163). In einer Szene (II, S. 112f.) lässt er sich von Luise sogar eine zweite Garnitur hinterhertragen, bestehend aus Mantel und Schal, Stock

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übers – ist diese Differenz ausgeglichen: »Identisch« konstatiert Garaus (II, S. 146). Diese Szene erinnert erneut an Platons Symposion, zumal die beiden Männer zur selben Einsicht gelangen: dass ihre bisherigen Beziehungen auf einer falschen Wahl beruhen. Man solle nicht heiraten, sondern Junggeselle bleiben; im Gegenzug könne man sich von jetzt an öfters treffen (II, S. 147). Um es mit Aristophanes zu sagen: Die Suche nach dem verlorenen Gegenstück (»symbolon«) scheint vorbei, anders als bei den Nadas. Sogar der Abstand zwischen den Klassen, zwischen Befehlsgeber und -empfänger ist aufgehoben. Doch das ändert sich bald: Garaus verlangt Hut und Mantel zurück, seine Distanzlasten, und droht seinem Zwilling sogar mit der Polizei. Denn inzwischen kennt er Barlochs Beruf. Die physische Ähnlichkeit, derselbe Vorname – all das ist nun ganz ohne Bedeutung für Garaus, der an einer Stelle in den Entwürfen »Grossartig« heißt.74 Er, der schon im ersten Teil allein ist (II, S. 94); er, der sein Geld lieber für sich ausgeben will als für andere (II, S. 96); er, der streng hierarchisch denkt wie die Befristeten, ist von Canetti mit diesem Namen nicht nur als arrogant und eitel charakterisiert, sondern auch als Machthaber. Deshalb interessiert sich Garaus auch zunächst für Barlochs Zähne, das Zeichen der Macht75, und dann für seine Gesundheit (II, S. 146); er sucht sich selbst im anderen. Dass Garaus den Zwilling trotz allem von sich stößt, bedeutet insofern nichts Geringeres als den Sieg des Individuums – und das heißt genauer: des Machthabers – über die tatsächliche und verordnete Gleichheit in der Masse. Zwar ist Barloch ein Muskelpaket, Repräsentant der rohen Gewalt; aber er ist eben doch nur ein Arbeiter. In der Hierarchie der Mächtigen hat er seinen Platz – Macht ist bei Canetti keineswegs an Stand gebunden –, allerdings einen Platz an unterster Stelle. Das allein reicht Garaus für die Abstoßung. Auch der Sinn des Namens Barloch lässt sich von hier aus bestimmen: Der erste Teil »bar«, »nackt«, weist auf seine physische Kraft hin, insbesondere auf seine Neigung, sich beim Muskelspiel zu entblößen (II, S. 103). Der zweite Teil ist schwerer zu deuten, er dekuvriert den Packer aber wohl nun umgekehrt als einen Untertanen. Im Spiegelkabinett betätigt Föhn eine Apparatur, sodass ein heftiges Klatschen zu hören ist; es dringt aus vielen Löchern an der Wand (II, S. 169). Das Loch ist also Dingsymbol für einen Menschen, der gemeinsam mit anderen den obersten Machthaber zu bejubeln hat, auch wenn er selbst sich zu den Mächti-

|| und Hut. Auf offener Bühne zieht er sich dann tatsächlich um. Indem er später Hut und Mantel dem Packer Barloch überlässt, legt er – wenn auch nur für kurze Zeit – seine Distanzlast ab. 74 ZB 33.3b, ohne Datum. 75 Später möchte Garaus Föhn – aus Wut über die Störung durch dessen Rede – alle Zähne kaputt schlagen und ihn so seiner Macht für immer berauben (II, S. 175).

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gen zählt und sogar de facto zu ihnen gehört. Nicht von ungefähr wirft Barloch am Feuer seine Distanzlast von sich und steht plötzlich – seinem Namen gemäß – nackt vor allen da (II, S. 101), herausgehoben und doch mitten in der Masse. Nähe und Distanz, Annäherung und Abstoßung, die beiden Prinzipien im Kampf zwischen Individuum und Masse, bleiben, auf die Silben seines Namens verteilt, bis zuletzt in Spannung zueinander. Darin ähnelt Barloch Leda FöhnFrisch. Wir werden aber noch eine andere mögliche Namensdeutung kennen lernen. Eine solche Spannung enthält der Name Garaus nicht, den Canetti aus Vezas Erzählung Geduld bringt Rosen übernommen hat.76 Er erinnert vielmehr an den Tod, den Triumph des Überlebens als den eigentlichen Augenblick der Macht. Da Garaus im weiteren Verlauf des Dramas tatsächlich zu einem Überlebenden wird, lässt sich sein Name als »zukunftsgewisse Vorausdeutung«77 begreifen. Gegen Ende des zweiten Teils fällt Schwester Luise unter seiner Faust zu Boden und ist auf der Stelle tot. Allerdings ist es nicht klar, ob der Hieb ihren Tod bewirkt oder womöglich ein Herzschlag, verursacht durch Luises Scham über einen vermeintlichen Fehler. Wie dem auch sei: Der Name deutet zumindest an, dass Garaus sich selbst für den Täter hält. Aber wie kommt es zu dieser Katastrophe? Trotz seines Vorsatzes, für immer allein zu bleiben, hat Garaus Schwester Luise geheiratet. Freilich behandelt er sie anders als ein Mann seine Ehefrau, anders auch, als sie es sich erträumt. Zwar ist Luise über die Kernphrase ihrer Sprachmaske »Aber bitte« als Dienerin charakterisiert, sie steht also gesellschaftlich nicht auf einer Stufe mit dem »Herrn Direktor«. Doch sie selbst erinnert sich gern an zwei frühere Herren, die den Abstand zwischen Patient und Pflegerin auf je andere Weise verringert, ja sogar geschlossen haben: Fliegerhauptmann von Rönnetal78, sagt sie, habe immer zärtlich werden wollen, und

|| 76 Vgl. Göbel: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 153), S. 57. 77 Vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 9., unveränderte Auflage, Stuttgart: Metzler 2004 (Metzler Studienausgaben), S. 143–175; Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 184. Auf den Überlebenden bezieht die Figur auch Belloin: Elias Canetti Komödie der Eitelkeit (wie Kapitel B4, Anm. 42), S. 160. 78 Über den ersten Bestandteil des Namens Rönne, der an ein altes, angesehenes Adelsgeschlecht erinnert, und den Offiziersdienstgrad »Fliegerhauptmann« ist Rönnetal als Machthaber ausgewiesen. Vermutlich hat er den Triumph des Überlebens schon mehrfach erlebt. Der zweite Bestandteil des Namens –tal steht dazu im Gegensatz. Diese Antithese weist auf die Hinwendung des Hohen zum Niedrigen hin, die (keineswegs selbstlose) Annäherung des Machthabers an die untergeordnete Frau.

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der ›edle‹ Mensch Theodor Buch79, sexuell ein Asket (Namensübereinstimmung mit dem ursprünglichen Vornamen des Predigers Brosam), habe ihr alles gebeichtet (II, S. 77). Garaus hingegen, der Machthaber mit seinem Hang zur Grausamkeit80, macht Luise die Distanz mehr denn je bewusst. Er spricht in einem unverschämten Ton mit ihr und erteilt ihr, die lediglich ein Schatten ihrer selbst noch ist, bleich und mager (II, S. 156), eine Tote fast, ununterbrochen Befehle.81 Zu Beginn der Szene, in der Luise sterben wird, steht Garaus in seinem Badezimmer. Er ist der Wanne entstiegen. Bereits in der Regieanweisung setzt Canetti zwei Signale, die Garaus als Machthaber identifizieren. Zum einen heißt es, die Wanne sei in den Boden eingelassen, damit nichts die »Gleichmäßigkeit« der Kacheln störe (II, S. 155). Die Kacheln sind eine Metapher für die Masse, die sich in einem »Zustand absoluter Gleichheit« befindet (III, S. 30). Doch nicht die Kacheln reibt Garaus »behutsam und zärtlich« ab, sondern seine eigene Haut, mit der er sogar ein angeregtes Gespräch führt (II, S. 155). Dieser Vorgang veranschaulicht weniger das »Massengefühl der Haut« (III, S. 427), das der Paranoiker besonders stark empfindet, als den Narzissmus des Machthabers. In seiner Eitelkeit wird er sich selbst zum Gegenüber, der einzig angemessene Adressat. Dies bestätigt sich, als Luise ihrem Mann einen Spiegel bringt, verpackt, als wäre es ein Säugling (II, S. 157).82 Sein Nachkomme, den Garaus – ähnlich wie in Hochzeit Johanna ihren Schwiegersohn Michel – am liebsten fressen würde, ist das eigene Abbild – eine Anspielung auf den ersten Schöpfungsbericht im Buch Genesis. Zum anderen jedoch erteilt Garaus auch seinem zweiten Ich, dessen Fragen er imaginiert, auf gewohnte Art Befehle: »Kusch!« (II, S. 156) Nicht zuletzt verrät Garaus' Monolog eine starke Fixierung auf den Tod und das eigene Überleben – auch das ja ein Charakterzug des Machthabers. Garaus ähnelt darin dem Charakter des »Leichenschleichers«, den er aber noch übertrifft. Denn seine ›Begräbnisgelüste‹ richten sich nicht auf einen einzelnen Toten, er interessiert sich vielmehr für ein Unglück mit über 98 Toten, die, wie er aus der Zeitung erfährt, zusammen eingeäschert werden (II, S. 156). Diese Unglücksopfer sind ein imaginäres Surrogat für die von jedem Machthaber ersehnte Toten-

|| 79 Theodor Buch verkörpert den Typus des Gelehrten, der im Gegensatz zu Fliegerhauptmann von Rönnetal den Sinnenfreuden nichts abgewinnen kann. Diesem Typus sind Brosam, der ursprünglich den Vornamen Theodor trug, und vor allem Dr. Peter Kien zuzuordnen, Hauptfigur der Blendung und Besitzer einer 25.000 Bände umfassenden Bibliothek. 80 Vgl. ZB 33.2b, ohne Datum. 81 Für Emilie Fant, deren Spiegelbordell Garaus regelmäßig besucht, sind seine Wünsche geradezu »Befehl« (II, S. 148). 82 In Die Blendung trägt der Kanalräumer das Bücherpaket, für das er Geld zu bekommen hofft, »wie den kostbarsten Säugling reichster Eltern« (I, S. 246).

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masse; sie werden durch das Feuer endgültig entindividualisiert und zugleich massensymbolisch repräsentiert. Bevor Garaus also in Wirklichkeit zu einem Überlebenden wird, ist er es bereits in seiner Vorstellung – nicht als Held auf dem Schlachtfeld, sondern als Privatmann, der ohne Gefahr für das eigene Leben im heimischen Badezimmer sitzt und sich am massenhaften Tod berauscht. Der spätere Schlag auf Luises Kopf ist die notwendige Folge seiner Sucht nach dem Triumph des Überlebens, dem Augenblick der Macht, den er nun in einem Einzelfall erlebt. Die Ursache seines Schlages ist eine Lappalie: Ein kleiner Sprung im Spiegel genügt Garaus, dem Machthaber, um Luise – wenn nicht tatsächlich, so doch der Absicht nach – den Garaus zu machen. Diese Szene verdeutlicht am drastischsten, wie sehr die Beziehungen zwischen Mann und Frau im zweiten Teil der Komödie pervertiert sind. Ebenso wenig wie die Masse gibt es jetzt noch eine andere Form von Gemeinschaft, nicht einmal die kleinste, das Paar. Einen Hinweis auf die Gefährdung des Kollektivs von Anfang an, auf die der Masse widerstrebenden individualistischen Tendenzen, die zum Durchbruch gelangt sind, liefert erneut die Sprache. Garaus' Lieblingswendung ist: »Ich finde.« Im Mittelpunkt dieses Satzes steht nicht das »Wir«, nicht das »Du«, sondern das »Ich«. Das Objekt wird nicht genannt, der Satz bricht ab, ausschließlich auf das Subjekt kommt es an. Es ist ein egoistisches Subjekt, das nicht erkennt und vor sich selbst verleugnet, wie leicht der Referent in dieser Phrase auszutauschen ist. Der Egoismus des gegen die Masse kämpfenden Individuums führt in Komödie der Eitelkeit, wie so häufig bei Canetti, zu einer physischen oder geistigen Besitzergreifung. Auch auf diese Weise zieht Garaus einen Trennungsstrich zwischen sich und den übrigen Menschen. Selbst das Wasser, das Luise ihm herbeizubringen hat, ist »mein Wasser« (II, S. 156).83 Kaum anders verhält sich Emilie Fant, die, ihrem Modell Alma Mahler entsprechend84, vielerlei und sogar

|| 83 Zu Garaus' Sprachmaske vgl. Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 187. 84 Vgl. dazu Canettis Äußerungen über die Figur der Emilie Fant im Gespräch mit Manfred Durzak: »Das war die akustische Maske der Alma Mahler […]: eine vulgäre, ordinäre Person; nun ist sie natürlich im sozialen Stand ein ganz anderer Mensch geworden, aber sie kam mir wirklich wie eine Bordellmama vor.« (X, S. 301) Der verfremdende Vorname »Emilie« stammt wie der Name ihres Sohnes François aus dem Französischen. Die familiäre Zusammengehörigkeit wird also auch durch die Vornamen angezeigt. Die gemeinsamen Konsonanten bewahren den Zusammenhang zwischen der wirklichen Alma (Mahler) und der erfundenen Emilie (Fant). Über die weitere Bedeutung des Vornamens lassen sich nur Vermutungen anstellen. Es wäre z.B. möglich, dass Canetti ihn sich von einer anderen Wiener femme fatale geliehen hat: Emilie Flöge. Ebenso wie Alma Mahler war sie mit Gustav Klimt liiert. Hanuschek: Elias Canetti (wie

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Menschen als ihren Besitz begreift: mein Kind, meine Fotografien (Bilder), meine (vierzehn) Spiegel, meine Mädchen, meine Zeit (II, S. 85f.). Auffällig sind schließlich die Parallelen zwischen Garaus und Kaldaun. Dessen Lieblingssatz »Ich bin nicht gesonnen« erinnert syntaktisch an die akustische Maske des Direktors. Eine weitere Parallele besteht in ihrer beider Fixierung auf die Distanzlast Kleidung. So beschwert sich Kaldaun im ersten Teil über seine angeblich nicht gebügelten Hosen (II, S. 90). Im zweiten Teil ist es die Hemdbrust, die Kaldaun nicht hinreichend gestärkt erscheint, während seine Frau Lya einen Fleck auf ihrem braunen Kleid moniert und damit den Reichlichkeitswahn des Machthabers verrät (II, S. 115) Im Gegensatz zu Garaus und zu allen anderen Figuren des Stücks trägt Kaldaun einen Vornamen, der den Leser direkt auf seine Ich-Fixierung stößt; er heißt, in Anspielung auf das erste lateinische Singularpronomen: Egon.85 Doch nicht nur dieser Name und nicht nur seine von diesem Pronomen übersättigte Sprache zeugen von Kaldauns Egoismus, sondern auch ein beklemmendes Detail: Am Feuer sind Egon und Lya (die mit ihrem ungewöhnlichen Namen ebenfalls aus der Masse herausragt) so sehr auf ihre Wirkung bedacht, dass sie den Wagen mit ihrem Kind vergessen, ihn nah, allzu nah am Feuer stehen lassen (II, S. 100).86 Im zweiten Teil kommt heraus, dass sie sich selbst füreinander erst zu interessieren beginnen, sobald sie sich vom je anderen geschmeichelt fühlen (II, S. 116f.). Auch ihre Beziehung verdient den Namen nicht. Allenfalls

|| Einleitung, Anm. 3), S. 304f. irrt leider, wenn er annimmt, das reale Vorbild des François Fant sei Anna Mahler. Er beruft sich dabei auf eine Stelle aus dem Nachlass; Canetti habe Annas Kosenamen Gucki (den sie von Oskar Kokoschka erhalten hatte) dort durch François ersetzt. Davon kann freilich nicht die Rede sein. An der betreffenden Stelle tauscht Canetti keinen Namen aus, er legt vielmehr fest, dass Gucki, die spätere Puppi, im zweiten Teil mit François ein Paar bilden soll und Gretl mit Fritz. Vgl. ZB 33.4, ohne Datum (Kurzschrift). Demnach ist Anna Mahler das Vorbild für Puppi, in deren Augen sich sowohl die Mädchen als auch François Fant zu spiegeln wünschen. Bestätigt wird das durch eine Bemerkung Canettis über Anna Mahler in Das Augenspiel: »Sie bestand aus Augen, was immer man sonst in ihr sah, war Illusion.« (IX, S. 70) 85 Etymologisch ist diese Ableitung falsch. Egon ist eine Kurzform von Eckehard, dessen erster Bestandteil eine Schwertspitze (»ecko«) bezeichnet, während »hard« so viel bedeutet wie »kühn«. Um 1900 tauchte Egon in vielen Zeitungs- und Zeitschriftenromanen als Adelsname auf. Auch dieser Umstand qualifiziert ihn zur Benennung eines Machthabers. Zur Namensdeutung vgl. Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Kapitel B2, Anm. 6), S. 45 (Egon) und 42 (Eckehard). 86 In Anbetracht dieses Versäumnisses erweist sich der schwedische Name Lya als paradox. Denn er bedeutet »Schutz«. Vgl. Das große Buch der Vornamen. Redaktionelle Leitung: Beate Varnhorn. Gütersloh, München: Bertelsmann 2008, S. 99.

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verhalten sich Egon und Lya noch wie Eheleute, wenn sie (wie die Masse) eine gemeinsame Richtung besitzen. In diesem Fall herzt Lya ihren Mann sogar mit zwei Kosenamen: »Egon, Egon. Schlecksi, mein Süßes […].« (II, S. 117) Nicht weniger als an ihren Vornamen lässt sich der Charakter der beiden Eheleute an ihrem Nachnamen ablesen. Aus dem Nachlass wissen wir, dass sie freilich zunächst ganz anders hießen als Kaldaun. Eine Zeit lang trugen sie den Namen »Zweifel«. Zufrieden war Canetti damit nicht, ebenso wenig wie mit einigen anderen Namen. In einer längeren Aufzeichnung nahm er sich deshalb vor, verschiedene Figuren neu zu benennen. Darin findet sich auch die (niemals verwirklichte) Überlegung, die Zweifels »Demut« zu nennen.87 Diese beiden Alternativen legen die Vermutung nahe, Canetti habe dem Ehepaar ursprünglich einen antithetischen Namen geben wollen. Gegen den Egoismus, die Sucht nach Wahrnehmung und Anerkennung, habe er ein Gegengewicht setzen wollen. Bei »Demut« könnte das stimmen, aber es könnte sich ebenso gut um einen paradoxen Namen handeln. Mit dem länger beibehaltenen Namen »Zweifel« verhält es sich dagegen anders. Noch im publizierten Text sehen wir die Kaldauns, je für sich, von starken Zweifeln umgetrieben. Vor allem Lya stellt ihrem Mann ständig Fragen: »Was soll ich heut opfern, Egon?« »Kann man denn überhaupt so gehn?« (II, S. 90) »Egon, soll ich schon werfen?« (II, S. 100) Was soll ich mir heute anziehen, Egon?« »Was soll ich tun?« »Was soll ich Ihnen noch sagen?« (II, S. 116f. mit Variationen) Diese Fragen bringen nicht etwa ihre Verunsicherung zum Ausdruck, sie dienen der Selbstvergewisserung: Das Ich erhebt sich durch den Zweifel zur einzigen Größe, an der nicht zu zweifeln ist. Canetti dachte dabei wohl an Descartes' bekanntes Wort aus La Recherche de la verité: »dubito, ergo sum, vel, quod idem est, cogito, ergo sum«.88 Schon in Die Blendung lässt er den Büchermenschen sagen: »Die Grundlage alles wahren Wissens ist der Zweifel. Das hat schon Cartesius bewiesen.« (I, S. 426) Warum aber dann Kaldaun? Auch hier haben wir es mit einem redenden Namen zu tun: Kaldaunen oder Kutteln ist die Bezeichnung für ein Gericht aus dem Pansen und dem Gedärm eines Rindes, eines Kalbs oder eines Schafs. Im Namen Kaldaun klingen somit Canettis Gedanken zur Psychologie des Essens an (wie bei Brosam), dem Zusammenhang von Macht und Verdauung, den er erst mehr als zwei Jahrzehnte später in Masse und Macht darstellen wird. Auch die Kaldauns sind ihrem Charakter nach zwei Machthaber, die über Menschen

|| 87 Vgl. ZB 33.2a, ohne Datum (Kurzschrift). 88 René Descartes: La recherche de la vérité par la lumière naturelle. Hg. in der französischen und lateinischen Fassung, ins Deutsche übersetzt und eingeleitet von Gerhart Schmidt. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989 (Elementa-Texte; 3), S. 76.

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bestimmen wollen; die sie erniedrigen, sie zum Tier herabstufen89, sie aussaugen, sich einverleiben und verdauen (III, S. 246).90 Nicht von ungefähr empfängt Lya die Bewerberinnen um die Stelle als Hausmädchen im Speisezimmer des Hauses (II, S. 139). Es ist der genius loci, der die Szene prägt, jede Handlung wird an diesem Ort zu einer Bemächtigung. Im Fall der jungen Milli Kreiss, einer der Bewerberinnen, verläuft diese Bemächtigung über einen Namenswechsel: Milli, so Lya Kaldaun, sei ein »Brechmittel von einem Namen«, jeder zweite Dienstbote heiße heute so (II, S. 140). Die Metapher vom Brechmittel veranschaulicht, dass Lya eine unumkehrbare Einverleibung im Sinn hat. Zugleich jedoch sucht sie, die selbst einen ungewöhnlichen Namen trägt, auch bei ihrer Angestellten das Extraordinäre; in jeder Beziehung, auch als Dienstherrin, möchte sie sich von der Masse abheben. Nicht eine gütige Fee habe Milli den Namen in die Wiege gelegt, mutmaßt sie, sondern ein »Waschweib wohl« (II, S. 140). Doch welchen Namen soll das Hausmädchen bekommen? Nach einigen Schmeicheleien Millis einigt man sich auf den Namen Mary, die englische Form des typischen Dienstbotennamens Marie, den auch das bisherige Mädchen der Kaldauns trägt.91 Der Name der Angestellten bleibt also der gleiche, er wird nur ein wenig fremder, interessanter, mondäner, so wie François, Leda und Lya. Der Abstand zwischen Herrin und Dienerin verringert sich indessen nicht. Über den gleichsam funktionellen Namen Mary erhält Milli – mythisch gedacht – die Identität einer Untergebenen, einer Befehlsempfängerin. Auf diese Art versöhnt der neue Name Lyas divergente Wünsche: Er ist ungewöhnlich und traditionell, eine Auszeichnung ihrer eigenen Person und eine Degradierung ihres Gegenübers. Der zwischenzeitlich erwogene Name Leonie dagegen ist Lya »zu hoch« (II, S. 141), und zwar wahrscheinlich aus zwei Gründen. Zum einen stellt er über denselben Anfangsbuch-

|| 89 Bezeichnenderweise sagt Lya zu Milli: »Ich möcht mir nämlich jemand abrichten. Für mich persönlich.« ( II, S. 140) 90 Auch das Essen ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in Komödie der Eitelkeit. Doch stets haben nur die Männer Hunger, sie sind die Mächtigen, ihre Frauen hingegen sind zumeist reduziert auf die Rolle einer Köchin. Vgl. dazu im ersten Teil den Dialog zwischen Fräulein Mai und Luise. »MAI: Was so ein Mann alles zusammenessen kann!« LUISE: Fliegerhauptmann von Rönnetal hatte auch immer Hunger. Immer wenn er zärtlich war, hatte er Hunger.« (II, S. 101) Im zweiten Teil schickt Barloch Anna am Ende der ersten Szene in die Küche zum Kochen: Fräulein Mai kommentiert seinen Befehl wie folgt: »Was so ein Mann alles braucht! Unsereins könnt rein verhungern.« (II, S. 108) Canetti charakterisiert Barlochs Frau im Nachlass dementsprechend als ebenso schwächlich wie Schwester Luise: Sie ist »sehr mager, sehr abgehärmt«. Siehe ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift). 91 Auch das Dienstmädchen der Metzgers in Die Blendung heißt Marie. Vgl. I, S. 8.

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staben eine Verbindung her zwischen ihr und der künftigen Angestellten, einen Zusammenhang, der nicht existieren darf und soll. Und zum anderen verweist er auf ein mächtiges Geschöpf: den Löwen, den König der Tiere. Mit diesem Namen bekäme Milli – wieder mythisch gedacht – eine Macht, die sie weit über die Hausherrin heben würde. Trotz desselben Anfangsbuchstabens hat Lya demnach auch mit Schwester Luise, gleichfalls einer Angestellten, nichts Wesentliches gemein. Eher ähnelt sie Leda, besonders in der verbalen Nachahmung ihres Mannes. Dass in Komödie der Eitelkeit einige Figuren dem Typus des Machthabers entsprechen, verdeutlicht Canetti ebenfalls an Namen. Alle männlichen Machthaber, abgesehen von Egon Kaldaun, tragen Namen römisch-deutscher Könige oder Kaiser.92 Es sind Fritz Held und Wenzel Wondrak, François (Franz) Fant, Heinrich Föhn, Josef Garaus und Josef Barloch (ohne »ph« allerdings) sowie Fritz Schakerl. Auch diese Herrschernamen schaffen einen formalen Zusammenhang; gleichzeitig jedoch vereinzeln sie den Namensträger auf radikale Weise. Sie ordnen die Figur einer Gruppe zu, die gar keine Gruppe ist. Jeder Machthaber möchte sich von anderen Menschen fernhalten. Im Vorgriff auf den zweiten Teil bezeugen die Herrschernamen den Willen ihres Trägers zur Macht, seine Entschlossenheit, auf Dauer niemanden neben sich zu dulden. In diesen Namen wird, trotz aller Annäherung, die Abstoßung zum herrschenden Prinzip. Diese Abstoßung äußert sich speziell in den Vorbehalten der Machthaber gegen die vertrauliche Anrede. Nicht nur Emilie Fant, selbst Schwester Luise muss Garaus, inzwischen ihr Ehemann, »Herr Direktor« nennen (II, S. 148 und 157). Mit »Herr Fant« wiederum möchte François von Therese Kreiss angesprochen werden (II, S. 124). In beiden Fällen soll das vorangestellte »Herr« die Ehrfurcht, die geradezu religiöse Verehrung bekunden, die die Frau für den (übergeordneten) Mann zu empfinden hat.93 Dementsprechend verbietet Schakerl sogar seiner Freundin Hedi den Gebrauch des Kosenamens Fritz, einer Verkleinerungsform; sie soll den vollen Herrschernamen Friedrich verwenden (II, S. 122). Und Wondrak befiehlt Fräulein Mai in harschem Ton, ihn künftig nicht mehr zu duzen: »Hier wird nicht geduzt, hier wird gesiezt, gesiezt, gesiezt wird hier und nicht geduzt! Fertig.« (II, S. 114) Auch Heinrich Föhn lehnt das Duzen ab; seiner eigenen Gattin, seinem alter ego, macht er den folgenden Vorschlag:

|| 92 Selbst der zunächst für Wondrak vorgesehene Vorname Ludwig fügt sich in dieses Schema ein. 93 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 133: »Herr« bezeichne ein »elementares Herrschaftsverhältnis«. »Die Anreden sind Attribute der Macht, die den Anderen zur Unterwerfung zwingen.« (Ebd., S. 132)

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Ich möchte dich bitten, mich nicht mehr zu duzen. Es stört mich in meiner Entwicklung. Ich bin nicht irgendein Mann, dem das gleichgültig ist. Es gibt mir jedesmal einen Stich, wenn du mir »Du« sagst. Ich brauche dann Zeit und Nervenkraft, um mich davon zu erholen. Es wirft mich oft um Wochen und Monate zurück. Ist das nicht sinnlos? Eigentlich ist ja das »Du« eine Anmaßung, in solchen Ausnahmefällen meine ich. Du brauchst mir aber drum nicht »Sie« zu sagen. Man kann das ja umschreiben. Einverstanden? (II, 137)

Die Machthaber grenzen sich aber keineswegs nur vom ›schwachen‹ Geschlecht ab, sondern auch untereinander. Föhn beispielsweise nennt Direktor Garaus einen »Trottel« (II, S. 171). Der hält ihn wiederum für ein »grüne[s] Bürscherl« und einen »Dreckfink« (II, S. 174f.) und Held für einen »ordinäre[n] Angestellte[n] (II, S. 166). Der Friseur ist nicht besser, er bezeichnet François als »Taugenichts« (II, S. 167). Auf der Sitzung der Viertschaft vermeidet es schließlich Schakerl, seine Mitstreiter Wondrak, Fant und Held mit Vor- oder Nachnamen anzusprechen. Er bevorzugt Titel, funktionelle Namen94, die, dem militärischen Rangsystem entsprechend, ihre Stellung in der Hierarchie anzeigen und fixieren. Diese interne Ordnung macht die Viertschaft zum Gegenteil einer Masse, obwohl sie eigentlich als Massenkristall gedacht ist95. Schakerl selbst ist der höchste, der Viertschaftsführer, Wondrak ist sein Stellvertreter, Fant Viertschaftsschatzmeister und Held Viertschaftsschlichter (II, S. 128ff.). Bemerkenswert ist, dass Schakerl die Titel als einziger verwendet; die Feststellung der Unterschiede ist ihm besonders wichtig. Schon vor der Sitzung versucht er, für sich eine größere Sitzkiste zu organisieren als für die drei anderen zusammen (II, S. 126). Im Verlauf der Debatte ermahnt er, der Lehrer, ausgerechnet seinen Stellvertreter Wondrak dreimal wie einen Schüler: Er möge die Geschäftsordnung respektieren und sich regulär zu Wort melden (II, S. 129f.). Dahinter steht die Angst vor dem Verlust der Position, die Angst des paranoischen Machtha-

|| 94 Es wäre falsch, mit Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 245 von einem Wechsel zur »Anonymität ihrer Positionen« zu sprechen. Die Rangbezeichnungen verstärken vielmehr einen Effekt, der sonst allein von den Namen ausgeht: Sie identifizieren, indem sie unterscheiden. Gerade in einem totalitären System, das die absolute Verfügungsgewalt über den Einzelnen beansprucht, ist der Sprung in die Anonymität ein schweres Vergehen. 95 Wie Canetti in einem »Versuch über Masse und Macht« schreibt, kommen dem Massenkristall eine Uniform (hier: schwarze Brillen) und ein »bestimmtes Verrichtungslokal« (hier: Hinterzimmer der Gemischtwarenhandlung, die alles in massenhafter Form anbietet) sehr zustatten. Zitiert nach ZB 34.1, ohne Datum.

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bers.96 Gerade diese Position untergräbt Wondrak mit seinem zügellosen Dazwischenreden und seiner Großsprecherei. Der Name Fritz Schakerl enthüllt, wieso sein Träger so sehr auf Rang bedacht ist. Es handelt sich um einen antithetischen Namen, der dem janusköpfigen Wesen, der inneren Zerrissenheit seines Trägers vollkommen entspricht. Der Königsname wird konfrontiert mit einem verkleinernden Nachnamen; denn Schakl ist das Wiener Dialektwort für Jacques, den Diener97. Schakerl ist in der Tat beides – Herr und Knecht – und will doch ausschließlich eines: Macht über die Menschen. Als Lehrer ist er seinen Schülern hierarchisch zwar übergeordnet98, als Stotterer ist er für sie jedoch zugleich eine Witzfigur, ein »Sprechkrüp-

|| 96 Vgl. III, S. 517: »Dieses Positionsgefühl des Paranoikers ist von wesentlicher Bedeutung: Immer geht es darum, eine exaltierte Stellung zu verteidigen und zu sichern. Auch beim Machthaber kann es, der Natur der Macht nach, nicht anders sein: Das subjektive Gefühl, das er für seine Position hat, unterscheidet sich in nichts von der des Paranoikers.« Am Ende des zweiten Teils fühlt sich Schakerl, der eine verbotene Spiegelscherbe bei sich trägt, wie wild verfolgt; er hört Stimmen hinter sich: »›Halt!‹ ›Was tun Sie da?‹ ›Wollen Sie leugnen?‹ ›Hüten Sie sich!‹ Diese Stimmen stottern. […] Die Stimmen von überall schwellen an zu stotternden Chören.« Schließlich hetzt Schakerl davon, »von Stimmen erkannt« (II, S. 158). Zur Bestimmung Schakerls als Paranoiker vgl. Feth: Elias Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 153–156; Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 147; Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 150; Strucken: Masse und Macht im fiktionalen Werk von Elias Canetti (wie Kapitel B2, Anm. 21), S. 246. 97 Vgl. Wehle: Sprechen Sie Wienerisch? (wie Kapitel B2, Anm. 68), S. 259. Nicht restlos zu überzeugen vermag die Namensdeutung von Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 149, der den Namen als eine »dialektale Verballhornung« von Schakal versteht. Mit diesem tierhaften Name verweise Canetti auf das »Belauern des Anderen« und die »Plötzlichkeit seiner Gegenwart«. Beides ließe sich allerdings über jedes Raubtier sagen. Es wäre deshalb besser, die These auf andere Art zu begründen, nämlich damit, dass Schakerl trotz seiner Ansprüche den Mächtigen in Komödie der Eitelkeit so untergeordnet ist wie die Schakale den Großraubtieren, von deren Beuteresten sie sich ernähren. Untergeordnet sind sie auch in Kafkas Schakale und Araber, einer Erzählung, die Canetti zu diesem Zeitpunkt aber wohl nicht kannte. Alle diese Assoziationen verleihen dem Namen ebenfalls einen antithetischen Sinn. 98 Später, in Die Stimmen von Marrakesch, wird Canetti gerade einen Lehrer als Machthaber identifizieren: Dieser Lehrer, ein Jude aus der Mellah, ist ein starrer und verwandlungsunfähiger Mann, »der arme und traurige Herr dieser Schulabteilung«. In einem »ohrenbetäubenden Lärm« unterrichtet er »unzählige[] Kinder« im Hebräischen. Dabei trägt er, gut sichtbar, einen Ledergurt zum Schlagen bei sich, der an den Stock des brutalen Kameltreibers erinnert. In Gegenwart seines Gastes zwingt dieser Lehrer die Schüler zur Rezitation hebräischer Silben. Diese Silben fallen, so Canetti, auf die Masse anspielend, »wie Regentropfen ins wildbewegte Meer der Schule«. Vgl. VI, S. 41f.

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pel«99. Das ist die Wurzel eines Minderwertigkeitskomplexes, mit dem Schakerl erst als Amtsträger und Sprachrohr der Regierung fertig wird. Plötzlich, da die höchste Macht hinter ihm steht, die Macht über Leben und Tod, spricht er so sicher und flüssig, wie er es sich seit jeher erhofft. Dem Anschein nach wird er sogar physisch größer, während er spricht, wächst er zu maximaler Größe an wie der byzantinische Kaiser auf seinem nach oben schnellenden Thron100. Fängt er aber wieder an zu stottern, fällt er zusammen, wird so klein und machtlos wie einst (II, S. 87).101 Diese Ambivalenz hätte Canetti mit dem im Nachlass zunächst dokumentierten Nachnamen »Hüter«102 kaum so exakt verdeutlichen können wie mit dem Namen Schakerl. Doch schon dieser erste Name weist, neben dem Beruf (Hüter einer Klasse, dann auch Kontrolleur der Masse), auf die Paranoia seines Trägers hin. Er hat sich zu hüten: vor Feinden, vor Angriffen auf seinen Rang. Die Namensänderung belegt, wie sehr es Canetti auf die onomastische Spannung angekommen ist. Ein weiterer Vorteil des endgültigen Namens || 99 Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 149. 100 Vgl. III, S. 475f. Zu Beginn heißt es dort: »Immer hat plötzliches Wachsen auf Menschen einen gewaltigen Eindruck gemacht. Mehr als bleibende, körperliche Größe, mehr als rasches Sich-Erheben von einem Sitze wurde die kleine Gestalt angestaunt, die vor den Augen der Zuschauer ins Riesenhafte wuchs.« Dazu passt, dass Schakerls riesiges Bett aussieht, als wäre es noch nie benutzt worden (II, S. 149). Er scheint niemals zu liegen. In Masse und Macht ist zu lesen, dass dem Machthaber das Liegen nicht angemessen sei: »An dem einen Pol, wie wir sahen, sind der Stehende, der Größe und Selbstständigkeit, und der Sitzende, der Schwere und Dauer ausdrückt; am anderen Pol ist der Liegende; seine Ohnmacht, besonders wenn er schläft, ist vollkommen.« (III, S. 464) 101 Im Nachlass findet sich die folgende Überlegung: »Er [Schakerl – A.S.] hat sich, seit er das Stottern verlernt hat, einen neuen Namen geben lassen, vielleicht heisst er jetzt Fritz Schaka.« Zitiert nach ZB 33.3a, ohne Datum (Kurzschrift). Die Streichung des Diminutivaffixes erinnert an Fischerles Bemühungen, das –le von seinem Namen zu entfernen. Canetti hat Schakerls Namensänderung allem Anschein nach verworfen, weil auch in »Schaka« noch immer der Diener steckt. Die Änderung hätte keinen Effekt gehabt. 102 Vgl. ZB 33.3, ohne Datum. Vgl. dazu auch ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift): »Fritz Schakerl geht als Hüter überall auf (und) ab und droht den Leuten, die Scherben auflesen mit der Anzeige.« Vgl. auch II, S. 128, wo Schakerl die Sitzung der Viertschaft mit diesen Worten einleitet: »Noch immer greift das Unwesen um sich. Zu Hütern und Wächtern gegen das Verbrechen aus freien Stücken bestellt, sind wir verpflichtet, unseren Mann zu stellen.« An einer Stelle im Nachlass erwägt Canetti, dem Lehrer denselben Namen zu geben wie zunächst dem Frisör, nämlich Tag. Vgl. ZB 33.2b, ohne Datum. Hans Feth: Elias Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 167 hat Schakerl mit jenem Typus des Politikers verglichen, den Hitler in Mein Kampf vom Programmatiker abgrenzt. Er kommt zu dem Ergebnis: »Man mag Hitler in Schakerl wiedererkennen. Doch Canetti will weder den Hitlerschen ›Programmatiker‹ noch seinen ›Politiker‹ zeigen, auch wenn […] Föhn und Schakerl viele Züge mit diesen gemein haben.« (Ebd., S. 168)

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ist, dass diese Spannung sich bereits im Vornamen bemerkbar macht, einem Herrschernamen im Diminutiv. So spiegelt sich im kleinsten Detail, dem Namen, die agonale Struktur des Dramas im Großen.

5.4 Machthaber und Massenbildung Wenn die Namen die Figuren einander zuordnen und doch einige von ihnen als Machthaber dekuvrieren, wenn Annäherung und Abstoßung in allen Teilen der Komödie zu beobachten sind – dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Masse und Machthaber, von Kollektiv und Individuum, mit einem Mal ganz neu. Wie kann sich im ersten Teil überhaupt eine Masse bilden, wo einzelne Figuren schon hier mit aller Macht darauf versessen sind, sich von anderen abzuheben? Müsste es nicht, statt nur eines Kampfes zwischen den konträren Hoffnungen und Wünschen im Menschen selbst, ein (wie auch immer geartetes) Zusammenspiel zwischen Masse und Machthaber geben? Und könnten Namen auch dabei eine deiktische Funktion besitzen? Nehmen wir zunächst die Szene mit den sechs Mädchen in den Blick. Da möchte Lizzi zunächst, dass alle zu ihr kommen und sich ihre Bilder anschauen (II, S. 81f.). Auf ihren Befehl hin scharen sie sich auch sofort um sie. Weil aber Lizzi nur drei Fotos bei sich hat, ihre Rivalin Lori dagegen dreiundzwanzig, ist sie bald wieder allein. Die vier Mädchen haben sich Lori zugesellt, die ihren Besitz verteilt und ihnen verspricht, sie dürften die Bilder später eigenhändig ins Feuer werfen. Jeweils ein einziges Mädchen sammelt also eine Vierergruppe um sich, sei es durch Verführung, sei es durch Befehl. Lizzi und Lori lassen sich damit, obgleich noch Kinder, dem Typus des Machthabers zuordnen – nicht zufällig beginnen ihre Namen mit demselben Buchstaben wie die Namen der beiden mächtigsten Frauen Leda und Lya. Freilich: Sind die übrigen Mädchen so etwas wie eine Masse? Sind sie einander gleich? Wie die Entwürfe belegen, hat Canetti nicht nur über die sechs Namen nachgedacht103, sondern auch über ihr Aussehen, ihre Herkunft, ihren Charakter104:

|| 103 ZB 33.3, ohne Datum: Hansi heißt zwischenzeitlich Edith. Die weiteren Änderungen sind im Haupttext verzeichnet. 104 In den Nachlassmaterialien zu Die gerettete Zunge zählt Canetti die besten Freundinnen der Mutter während ihrer Zeit im Pensionat Szanto auf. Darunter befinden sich Grete Kanfler, eine blonde und fade Frau, sowie Mizzi Cohen, die durch ihren Namen als Jüdin identifiziert ist. Der Sohn der wichtigsten Wiener Freundin Alice war Hans Asriel, mit dem Canetti später eine Zeit lang befreundet war. Vgl. ZB 58, 14. September 1973. Die beste Freundin der Mutter schließlich war Russin und hieß Olga. Es besteht also Grund zu der Annahme, dass sich Canetti

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Die sechs Mädchen: Lizzy, ein verzogenes, prahlerisches, freches, jüdisches [?] Kind [...], ihre Mutter ist die zweite Frau des Vaters, viel jünger als er und mit allen Koketterien und Schwindeleien junger Ehefrauen begabt. Gretl, die immer mit ihr streitet und sie beneidet, ist aus einer kleinbürgerlichen Umgebung, ähnlich etwa jener der Therese Kreiss. Sehr lebhaft, frech, schnippisch. Olga, das einzige Kind vielleicht einer Witwe, sehr selbstbewusst, mächtig, die Freundin ihrer Mutter. dunkle [sic] Augen Gucki, vielleicht aus einer Künstlerfamilie, grosse Augen, still, sehr verschüchtert, wird bald von dieser, bald von jener geschickt [?]. Blaue Augen Hedi, ein sehr ruhiges Proletarier-Kind, aber nüchtern, sie könnte ein Kompromiss aus Anna und Josef Barloch sein, also deren Kind. Hansi. Ist das Pendant zu Lizzy. Bürgerfamilie. Phantasielos105

Die sehr stark betonten Eigenheiten spielen im publizierten Text keine wesentliche Rolle mehr. Im Gegenteil: Mindestens drei der sechs Mädchen sind sich derart ähnlich, dass sie kaum mehr als verschiedene Figuren fassbar werden.106 Selbst ihre Sprache liefert keine Differenzierungsmöglichkeit, Hansi, Gretl und Hedi verwenden bald sogar identische Sätze (»Ich auch.« – II, S. 83). In ihrer Fixierung auf dasselbe Ziel haben sie sich – auch und gerade verbal – zu einer homogenen Gruppe zusammengeschlossen, einem Seitenarm der langsamen Masse.107 Doch das Ziel, das ihnen gemeinsam vor Augen steht, ist nicht bloß das Feuer und die Entladung, ist nicht allein die Masse und der Platz, zu dem sie nicht einmal gelangen werden; es ist zuallererst ein Mensch, ein Mädchen aus ihrer Mitte, das sie für seinen Besitz bewundern und dessen Gunst sie sich erhoffen. Die beiden Kontrahentinnen Lizzi und Lori ragen so deutlich aus der Gruppe heraus, dass sich ihre Eigenschaften noch am ehesten, wenn auch nicht zur Gänze, in ihrem Verhalten niederschlagen. Dieses Verhalten hat nur einen Zweck: Macht über die anderen Mädchen zu gewinnen. Oder mit anderen Worten: im Konkurrenzkampf der Machthaber ein dienstbares Kollektiv hinter sich zu versammeln. Nicht Einordnung, sondern Anerkennung, nicht Masse, sondern Macht – darum ist es Lizzi und Lori zu tun. Dazu aber benötigen sie das Bilderverbot; es gibt ihnen erst die Möglichkeit, zu strahlen, die anderen, besitz-

|| die Namen teilweise von den Freundinnen seiner Mutter geliehen hat. Der Name Gucki verweist, wie bereits in Anm. 84 dargelegt wurde, auf Anna Mahler. 105 ZB 33.4, ohne Datum. 106 Vgl. dazu auch ZB 33.2a, ohne Datum (Kurzschrift): »Gespräch Hedi – Gretl (proletarisch, mehr auf gleicher Stufe)«. 107 Vgl. III, S. 43. Das Motiv des geöffneten Bilderpakets hat in dieser Szene eine ähnliche Funktion wie zuvor in der Szene zwischen Barloch und den drei Freundinnen. Um die anderen Mädchen für sich zu gewinnen, löst Lori das Päckchen aus ihrer Bluse und überreicht jedem der Mädchen zwei Bilder (II, S. 83). Wie bei der Kommunion erhalten sie so Anteil an ihr.

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losen Mädchen zu überstrahlen. Das deutet nun darauf hin, dass Masse und Macht im ersten Teil keinesfalls in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinander stehen. Auch zwei Namen hatten nicht bis zum Ende Bestand. Aus Olga, der Siegerin im Kampf um die Macht, wird Lori. Sie trägt jetzt einen Namen mit demselben Anfangsbuchstaben wie ihre Rivalin. So ist es auch bei Hedi und Hansi, laut Nachlass immerhin die Namen eines Proletarier- und eines Bürgerkinds. Bei den beiden zuletzt Genannten lässt sich diese Übereinstimmung leicht erklären, sie gehören zu denen, die sich – ihrer unterschiedlichen Herkunft zum Trotz – gleichermaßen unterordnen und der neu geschaffenen Gruppe anschließen. Bald gilt das aber auch für Lizzi und Lori.108 Schon in der nächsten Szene kommt es zum Umschlag: Lizzi und Lori müssen sich mit denen zusammentun, die sie zu dominieren suchten. Von Schakerl eingeschüchtert und sogar geschlagen, drücken sich alle sechs Mädchen eng aneinander (II, S. 84), ihre interne Hierarchie ist durch den äußeren Druck beseitigt. Gemeinsam, als Gruppe, stehen sie nun einem anderen, höheren Machthaber gegenüber. Die Konstellation hat sich verändert, das Zusammenspiel von Masse und Machthaber entfaltet aber nach wie vor seine Wirkung. Denn auch Schakerl will zum Feuer, und er entreißt den Mädchen alle ihre Bilder, ihre symbolische Masse. Canetti hat ein weiteres Mädchen umgetauft, obwohl der zuerst vorgesehene Name Gucki zu ihren großen Augen nicht besser passen könnte. Der neue Name Puppi hebt sich so sehr von den seinerzeit geläufigen Namen der fünf übrigen Mädchen ab, dass man ihn sofort als redend durchschaut. Er charakterisiert die Figur (wie schon Puppi und die anderen Figuren der Hochzeit) als Puppe, derer sich die Machthaber nach Lust und Laune bedienen können, etwa (wie im ersten Teil) um eine Masse auszulösen. Puppis Funktionalität zeigt sich noch eindrucksvoller im zweiten Teil: Sie, die anfängliche Außenseiterin, hat ihr Ziel scheinbar erreicht. Unter den Mädchen ist sie inzwischen äußerst beliebt; denn alle wollen sich in ihren grauen Augen spiegeln. Doch deshalb gehört sie nicht schon zu den Mächtigen. Wie zehn Jahre zuvor ist sie auch jetzt eine Befehlsempfängerin (II, S. 117f.), ein Gegenstand, um den sich die Mädchen balgen und streiten wie um eine Puppe und den sie nach der ihnen erwiesenen

|| 108 Lizzi hat auch das extravagante »y« am Ende verloren. Ihr Name endet genauso wie die Namen der anderen Mädchen, von Gretl abgesehen. Bei der Deutung dieses Namens ist zu berücksichtigen, dass Gretl in der Szene zu bestimmen versucht, wer mit zum Feuer gehen darf, und Puppi dabei aus der Gemeinschaft ausschließt. Ihr eigener Name jedoch, der als einziger nicht mit einem »i« endet, schließt sie – unter onomastischer Perspektive – selbst aus der Mädchengruppe aus.

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Gefälligkeit wieder fallen lassen. Gerade diese Passivität mag Canetti dazu genötigt haben, den Namen Gucki aufzugeben, der immerhin aus einem aktiven Verb gebildet ist. Im zweiten Teil ist Puppi, der Massenmensch des ersten Teils, außerdem mit einem Machthaber, einem Tatmenschen liiert – ein Kontrast, der ihre Passivität unterstreicht: Es ist François Fant. Puppi bewundert ihn, indes als einzige; die Gruppe von einst ist zerfallen und findet nicht mehr zusammen. Doch François heuchelt Puppi seine Liebe nur vor, in Wahrheit nutzt auch er sie schamlos aus. Um sich in ihren Augen zu spiegeln, lässt er sich sogar küssen (II, S. 123).109 Was für Narziss das Wasser, das ist für ihn ein Mensch: ein Spiegel, ein »optischer Reflektor des gewünschten Selbstbildes«110. Der intimste Augenblick ist zugleich der Augenblick größtmöglicher Verkennung und Entfremdung. Doch gibt es eine solche Verkennung, eine Täuschung über die Wirklichkeit, vielleicht auch bereits zehn Jahre zuvor? Oder macht sie den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil? Die zweite Szene des Dramas führt am eindrucksvollsten vor, wie ein Teil der langsamen Masse entsteht. Es betreten die Bühne: Fräulein Mai, Witwe Weihrauch und Schwester Luise. Als beste Freundinnen gehören sie eng zusammen, enger noch als sechs Mädchen. Aber auch eine biografische Analogie macht sie einander gleich: Alle drei sind unverheiratet. Trotz allem ist ein Konkurrenzkampf zwischen ihnen entbrannt. Sie wollen herausfinden, wer am meisten Bilder ins Feuer werfen wird. Und so zählen sie die Fotografien, die sie bei sich haben, die Bilder von Angehörigen, Freunden und selbst die Fotos von Filmstars. Eine jede zählt ihren persönlichen Besitz und, um einen Betrug zu verhindern, den der anderen gleich noch mit. Sie zählen sehr langsam, weil sie die Bilder lieben, aber auch sehr schnell, so heißt es in der Anweisung, um möglichst bald bei einer hohen Zahl anzugelangen (II, S. 76). Indem sie sich der größten Masse zu versichern suchen, agieren sie, obwohl befreundet, strikt gegeneinander, wie Machthaber. Einen ähnlichen Konkurrenzkampf schildert Canetti in Die Fackel im Ohr, wo die beiden Fotografen Hund und Sieghart, zwei Kommilitonen aus dem Chemischen Laboratorium, erbittert darüber streiten, wer die größere Anzahl Bilder besitzt. Auch der Blinde in Der Ohrenzeuge prahlt mit der Masse seiner Bilder. Eine Regiebemerkung aus dem Nachlass hilft, die Interpretation der Bilder als persönliche Masse zu präzisieren: »Die Fotografien

|| 109 Im Wienerischen wird ein hübsches Mädchen als Pupperl bezeichnet. Vgl. Wehle: Sprechen Sie Wienerisch? (wie Kapitel B2, Anm. 68), S. 247. Im zweiten Teil umschmeicheln sowohl François als auch die anderen Mädchen Puppi. Sie geben ihr das Gefühl, eine Schönheit zu sein, allerdings nur, damit sie ihnen ihre Augen als Spiegel zur Verfügung stellt. 110 Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 126.

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breiten sich unmerklich auf dem Boden aus, die Pakete der drei drohen ineinanderzufliessen. Hie und da grenzt sich eine, besonders die mittlere, die es am schwersten hat, gegen die andern ab.«111 Während die verschiedenen Pilgerströme sich zu einem breiten Fluss vereinigen, bleibt hier jedes Konvolut noch getrennt und unvermischt: eine geschlossene Masse. Im publizierten Stück sind die Pakete mit den Fotos dann »vielfach und sehr fest gebunden« (II, S. 76). Und von den drei Damen vernimmt man beim Zählen ein »ungleichmäßiges Summen« (II, S. 76), eine Vorausdeutung auf die späteren Individualhymnen. Von den drei Freundinnen ist die Witwe bereits durch ihren Familienstand als Machthaberin gekennzeichnet. Wie bei der Witwe Zart aus Hochzeit liegt auch hinter ihr der »Triumph« des Überlebens. Ihr zwanzig Jahre älterer Mann ist zwei Monate nach der Hochzeitsnacht gestorben, und ihr Schwager Otto hat sich, anscheinend aus unerwiderter Liebe zu ihr, die Pulsadern aufgeschnitten (II, S. 76). Hans Feth deutet auch den merkwürdigen Nachnamen als Hinweis auf die Machtgelüste der Witwe: Sie beweihräuchere sich selbst, indem sie glaube, jeder Mann liebe sie heiß und innig.112 Diese Deutung ist richtig und doch einseitig. Denn die Figur erinnert an eine Witwe, bei der Canetti in Wien eine Zeit lang zur Untermiete wohnte. In Die Fackel im Ohr gibt er ihr den Namen Weinreb; der gleiche Anlaut im ersten und zweiten Glied und die Assonanz zu Beginn sind, wenn nicht alles täuscht, eine Reminiszenz an Weihrauch. Wie sie verehrt nämlich auch die Witwe Weinreb ihren älteren Mann auf abgöttische Weise, selbst über dessen Tod hinaus. Immer spricht sie mit höchster Achtung von ihm, nennt ihn – man fühlt sich an die Anredeformeln in Canettis Komödie erinnert – ehrfürchtig nur Dr. Weinreb. Und noch dazu hat sie in jedem Zimmer sein Porträt aufgehängt, Fotos, die sie nachts reihum in die Hand nimmt, beschnüffelt und ableckt wie ein Hund seinen Herrn (VIII, S. 172ff.). Auch die Witwe Weihrauch huldigt ihrem verstorbenen Gatten, auf eine allerdings nicht annähernd so bizarre Weise: Sie nennt ihn »Seliger«, einen sehr feschen Mann (II, S. 76), und gegen Ende des ersten Teils behauptet sie: »Der Mann hat immer recht.« (II, S. 100) Insofern verweist der Name Weihrauch113 nicht ausschließlich

|| 111 ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift). Der im Nachlass für die Witwe überlieferte Name »Mass« [ZB 33.2a, ohne Datum (Kurzschrift)] könnte auf ihren Ordnungssinn verweisen. Sie ist nämlich die mittlere, die sich besonders abgrenzt, indem sie darauf achtet, dass die Bilder nicht durcheinander geraten. 112 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 179f. 113 Bei der Benennung der Witwe hat Canetti verschiedene Alternativen erwogen. Der Name »Witwe Bass« [ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift)] steht im Zusammenhang mit ihrer Stimme. Im dritten Teil tritt sie im Vorraum des Spiegelkabinetts als »eine grosse starke Frau mit sehr männlicher Stimme« auf (II, S. 161). An anderer Stelle überlegt Canetti, ob die Witwe nicht

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auf ihren eigenen Willen zur Macht, der sich gegenüber ihren Freundinnen durchaus bemerkbar macht, sondern ebenso sehr auf das Gegenteil: ihre Ehrfurcht vor dem Gatten, einem Gott beinahe. Sie bleibt ihm – auch das gehört zur Symbolik des Weihrauchs114 – über das Diesseits hinaus verbunden. Und dennoch möchte sie nicht allein bleiben. Sie sucht aber keinesfalls nach irgendeinem Mann, sondern nach einem gesunden und potenten Ebenbild des Verstorbenen, einem feschen Herrn, der über ein gutes Herz verfügt und sie sexuell mehr als nur einmal, der sie auf »ewig« (ein Kernwort ihrer Sprachmaske wie bei Segenreich) befriedigen kann. Von ihm möchte sie erwählt werden, ihm würde sie sich fügen wie ihrem »Seligen«. Der Name zusammen mit der Angabe ihres Familienstandes bringt die Ambivalenz ihres Wesens zum Vorschein, und die Alliteration unterstreicht ihre Unauflösbarkeit. Auch die beiden Freundinnen haben eine konkrete Vorstellung, wie ein Mann auszusehen und sich zu verhalten hat. Fräulein Mai träumt von einem zweiten Rudolfo Valentino, gut gewachsen und mit feurigen Augen (II, S. 76). Ihr Name verweist – wie in Hochzeit – auf diesen Privatmythos: Sie sehnt sich nach dem unbeschwerten Glück im Mai.115 Schwester Luise schließlich sucht zwar einen Mann zum Pflegen, das ist ihr Beruf, vor allem aber wünscht sie sich jemanden, der zärtlich ist. Mit ihrem Namen spielt Canetti vermutlich auf Luise von Marillac an, die Gründerin des Ordens »Barmherzige Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul«, der heute größten Ordensgemeinschaft der Welt – immerhin ist seine Luise ebenfalls eine Pflegeschwester und außerdem sehr religiös.116

|| vielleicht »Rumpf« heißen könne. Vgl. ZB 33.2a, ohne Datum (Kurzschrift). Das könnte zum einen auf ihren nicht unbeträchtlichen Körperumfang verweisen, zum anderen auf ihre Leidenschaft für starke Männer. 114 Vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B1, Anm. 59), S. 821. 115 Vgl. Feth: Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 180. Mehrmals wird in Komödie der Eitelkeit das Lied vom Glück erwähnt (II, S. 103 und 167). Gemeint könnte der gleichnamige Spielfilm aus dem Jahre 1933 sein, eine Regiearbeit Carl Boeses mit Herbert Ernst Groh, Paul Kemp und Ilse Strobrawa in den Hauptrollen. 116 Das zeigt vor allem ein Satz aus Luises Sprachmaske: »Gütiger Heiland, hab Erbarmen mit uns!« (II, S. 104 und – variiert – 107). Vgl dazu auch ihren Kommentar zum unverhofften Aufritt des Hausierers Bleiss: »So plötzlich. Wie ein Apostel.« (II, S. 104) Der Name Luise ist aber gleichzeitig ein Tribut an das wahrscheinliche Vorbild der Figur, Lucile, eine Freundin Vezas. Sie hatte ihren Mann bis zu dessen Tod gepflegt und war »[…] besessen von ihrem PflegeDasein, vielleicht auch von den Gesprächen mit dem schwerkranken Mann, der ein Philosoph war und seit Jahren an einem Werk über die Segnungen des Todes arbeitete.« Zitat nach ZB 223, Unpubliziertes Kapitel »Austreibung der Seligen«. Ob der Name Rönnetal über die Alliteration an Rilke erinnern soll, den Lucile für den einzig wahren Dichter des Jahrhunderts hielt, lässt sich nicht entscheiden.

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Doch sie ist alles andere als keusch, wenigstens in ihrer Phantasie. Sie will von einem Mann geliebt werden, das Alleinsein, ein nicht freiwilliges zölibatäres Leben, ist nichts für sie. Im Nachlass betont Canetti die Sehnsucht der Schwester noch stärker als im publizierten Stück; sie heißt hier kurz einmal Liebhantiger.117 Der Andere, auf den die drei Freundinnen warten, bekommt in der folgenden Szene einen Namen und ein Gesicht. Es ist der Packer Barloch. Sein forscher Auftritt – er stößt mit seinen dicken Fäusten einen »ungeheuren Ballen« vor sich her (II, S. 77) – ist derart beeindruckend, dass sie das Zählen glatt vergessen und nur noch staunen. Als erste fasst sich die Witwe Weihrauch, die in Barloch das kräftige Ebenbild ihres Mannes gefunden glaubt: »So ein fescher Mann!« (II, S. 78). Indem sie ihre Bilder auf Barlochs Ballen legt, schließt sie sich ihm symbolisch an, unterstellt sie sich mit ihrer Masse einem Mächtigeren, einem muskelstarken Mann, der sich zuvor als »der große Held« bezeichnet (II, S. 77). Auch Luise projiziert ihre fixe Idee auf Barloch, das Indiz ist ein Zucken (II, S. 78), das bei ähnlichen Projektionen im Drama leitmotivisch wiederkehren wird (II, S. 176f.).118 Allerdings muss sich Luise die Realität stärker als die Witwe Weihrauch nach ihren Vorstellungen zurechtbiegen, und zwar nicht nur, weil Barloch gewiss keine Pflege braucht; immerhin traut er sich zu, allein die ganze Stadt zusammenzuschlagen (II, S. 77). Auch sein Verhalten ist alles andere als zärtlich: Während er die Witwe grob an Schultern und Rücken packt und dabei verächtlich auf seine Frau blickt, eine weinerliche und dünne Nebenfigur mit dem palindromischen (also vertauschbaren) Allerweltsnamen Anna119, erblickt Luise mit feuchtem Auge ihr Wunschbild: »Bitte, er wird zärtlich.« (II, S. 78) Nur

|| 117 ZB 33.2b, ohne Datum (Kurzschrift). Ob Canetti mit dem »Tiger« am Ende des Namens (erinnert sei an Leonie) bewusst einen Kontrapunkt zur Liebe setzen wollte, ist nicht abschließend zu klären. In Die Blendung fühlt sich Kien bei Therese allerdings an einen Tiger erinnert, der sich als Frau verkleide, einen Mann heirate und ihn dann töte (I, S. 165). 118 Dass eine Masse durch Projektion verschiedener fixer Ideen auf dasselbe Ziel entsteht, zeigt sich andeutungsweise auch in der Szene, in der sich viele Menschen unter Föhns Zimmer versammeln, um seinen Worten zu lauschen. Die Szene endet mit der folgenden Regieanweisung und dem anschließenden Zerfall der Masse: »Er [Föhn – A.S.] geht ans Fenster und schließt es. Er zieht die Vorhänge darüber. Es sieht jetzt aus wie eine leere Filmleinwand.« (II, S. 137) 119 Wenn man von der hebräischen Wortbedeutung (»Gnade«, »Huld«) ausgeht, handelt es sich bei diesem Namen einerseits um einen paradoxen Namen. Denn Barlochs Huld gilt nicht mehr seiner Frau, sondern der Witwe Weihrauch. Andererseits ist festzustellen, dass sich der Name im zweiten Teil erfüllt: Anna lebt mit ihrem Mann und der Witwe in einer Wohnung zusammen – eine groteske Variante der Anna Selbdritt. Bei Thomas Mann, so Rümmele: Mikrokosmos im Wort (wie Einleitung, Anm. 61), S. 272, tragen vor allem bescheidene, benachteiligte und unglückliche Frauen den Namen Anna – eine erstaunliche Parallele zu Canetti.

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Fräulein Mai sträubt sich gegen Barloch, zu wenig entspricht er dem Typus des Filmschönlings: »Er ist doch nicht gut gewachsen und feurige Augen« (II, S. 78). Bald jedoch ist auch sie »bezwungen«: »Gut gewachsen und feurige Augen.« (II, S. 79) Die drei Frauen, die sich soeben noch im Wettbewerb miteinander befanden, haben nun dasselbe Ziel. Ihre je verschiedenen Wünsche richten sich auf ein und dieselbe Projektionsfläche: Barloch. Die bisherige Deutung dieses Namens bedarf deshalb einer Ergänzung: Loch könnte nicht nur auf den Beifallsapparat, sondern auch auf ein Kameraobjektiv anspielen. Denn vor allem bei der Witwe Weihrauch entspricht der Vorgang der Projektion auf verblüffende Weise dem Akt des Fotografierens, so wie Föhn ihn beschreibt: Die Fotografie sei »ein Kompromiß zwischen der Eitelkeit des Photographen und der des Photographierten« (II, S. 88). Da die beiden Freundinnen dem Vorbild der Witwe Weihrauch folgen, ermöglicht dieser Kompromiss den Zusammenschluss der Figuren zu einer homogenen Gruppe und langfristig die Bildung einer Masse. Die Fotos erweisen sich nun als Hinweis auf die folgende Projektion, die an die Szene mit Peter Hell und Anita erinnert. Die drei Frauen sehen die Wirklichkeit so wenig wie der Blinde in Der Ohrenzeuge, der um der Kamera willen die Welt bereist (II, S. 258). Durch eine gemeinsame Projektion, eine willentliche Täuschung, sind die drei Freundinnen zu einem Seitenarm der langsamen Masse geworden. Zeichenhaft kommen ihre Pakete zu den Ballen des Packers hinzu, mit ihnen zusammen werden sie im Feuer landen. In der Regieanweisung zu dieser Szene heißt es: »Man hört viele Menschen sich nähern und glaubt, dem Lärm ein Gemurmel wie Barloch, Barloch zu entnehmen.« (II, S. 78) Komplementär zur Masse steht auch in dieser Szene ein Machthaber. Er, das Ziel der Wünsche, strebt im ersten Teil aber selbst zu einem Ziel: dem Feuer. Es scheint, als habe Canetti damit Freuds Massentheorie persifliert. Denn in Massenpsychologie und IchAnalyse hatte Freud am Beispiel der beiden künstlichen Massen Kirche und Heer versucht zu zeigen, dass die Masse eine libidinöse Struktur besitzt: Die Bindung jedes einzelnen an den Führer (Christus oder den Feldherrn), von dem angenommen wird, er liebe alle »mit der gleichen Liebe«, sei die Ursache der Bindung untereinander.120 In Komödie der Eitelkeit ist der Führer jedoch selbst ein Geführter. Die Richtung der Masse, die seiner eigenen inneren Richtung entspricht, ist entscheidend – ganz so, wie es Canettis Freud-Kritik entspricht. Nichts anderes lässt sich über die sechs Mädchen sagen: Auch Lizzi und Lori wollen zum Feuer, wo sie sich, wie ihre Begleiterinnen, den großen Auftritt erhoffen. Auf diesen Auftritt spekuliert auch der Packer Barloch. Das Feuer ist || 120 Vgl. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (wie Kapitel B2, Anm. 32), S. 89.

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seine Projektionsfläche, und was er sich erträumt ist eine Umkehrung der sozialen Hierarchie.121 An dieser Illusion, nicht etwa an der Illusion der gleichmäßigen Liebe des Führers, wie es bei Freud heißt, hängt im ersten Teil des Dramas alles. Ein Machthaber wie Barloch wird mit den anderen Figuren nur vorübergehend zusammenbleiben. Dann wird er, gerade er, wieder auf Abstand gehen. Das bestätigt sich in der ersten Szene des zweiten Teils. Zwar lebt Barloch inzwischen mit zwei Frauen unter einem Dach; doch er schickt beide weg: die eine zum Kochen und die andere zum Spaziergang mit ihren Freundinnen. »I will jetzt meine Ruh haben. I hab das satt, die Weiber.« (II, S. 108) Eine Projektionsfläche für Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte ist auch der Frisör Fritz Held122, ein Don Juan von kleinbürgerlichem Format, der es auf »[e]in kleines Techtel, ein kleines Mechtel« abgesehen hat (II, S. 127 und 166). Im Unterschied zu dem Haudrauf Barloch, der die Muskeln gleichermaßen vor Männern und Frauen spielen lässt, hat er eine ausgefeiltere Manipulationsstrategie entwickelt, die optimale Flirttechnik in bilderloser Zeit. Er bezirzt die Frauen mit übertriebenen Schmeicheleien, nennt sie »Gnädigste« und »schöne Frau« (II, S. 93 und 110f.). Vor allem aber präsentiert er ihnen sein Foto, sodass sie ihm, selbst nach anfänglichem Widerstand, mit Haut und Haar verfallen. Seine Verführungskunst erprobt er zuerst an Milli, dann an deren späterer Herrin Lya. Beide Male hat er Erfolg. Milli zeigt sich sehr angetan von dem Bild, das Held ihr am Feuer offeriert. Denn Therese hat das Foto ihres geliebten Fritzl gerade zerrissen und den Flammen übergeben (II, S. 93). Die Verwirrung um Helds Vornamen, das Leitmotiv dieser Szene, verrät, was zwischen den beiden geschieht und warum Milli sogar bereit ist, mit ihrem neuen Verehrer »auf die Seite« zu treten (II, S. 94). Mehrmals weist Held Milli während des Gesprächs darauf hin, dass er nicht Fritzl, sondern Fritz heiße (II, S. 93). Doch sie hört nicht, sie spricht auch weiterhin von Fritzl. Selbst zehn Jahre später – die bei-

|| 121 Das deckt sich mit der Deutung von Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 109: Das Feuer illuminiere das Szenario, in dem sich die Figuren ihren Phantasmen vollkommen überlassen. 122 Canetti ist auf den Grundeinfall für Komödie der Eitelkeit in einem Frisörsalon gekommen: »Wenn ich im Frisörsalon saß, wo einem die Haare geschnitten wurden, war es lästig, immer auf das eigene Bild vor sich zu schauen, dieses immerselbe Gegenüber empfand ich als Zwang und Beengung. So irrten meine Blicke nach rechts und links ab, wo Leute saßen, die von sich fasziniert waren. […] Es war besonders die Unersättlichkeit in dieser Befassung mit sich, was mich frappierte; und einmal, bei der Betrachtung zweier grotesker Exemplare, fragte ich mich, was die Folge wäre, wenn Menschen dieser teuerste aller Augenblicke plötzlich verboten würde.« (IX, S. 88)

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den sind mittlerweile ein Paar, wobei Milli aber auch mit Wondrak zusammen ist – nennt sie ihn nicht bei seinem richtigen Namen (II, S. 126). Fritz ist für sie zu Fritzl geworden, damals am Feuer, in eben jenem Moment, in dem sie sein Foto gesehen hatte. Das ist eine noch radikalere Überblendung der Wirklichkeit als bei Barloch und den Freundinnen, und sie ist motivisch wieder mit einem Foto verknüpft. Diese Überblendung deutet sich an, als Milli eine Bemerkung Helds wie folgt kommentiert: »Wir werden beobachtet. Hat der Fritzl auch immer gsagt.« (II, S. 94) Während Fritzl Milli aber wegen ihrer Bilder liebte, liebt sie Fritz umgekehrt wegen seines Bildes, eine Gunst, die sie bereits am Feuer, dem Symbol der Masse, aus der Masse herauslöst. Auf dieselbe Form der Erwählung, jene Erwählung, die auch Puppi sich ersehnt, hoffen – je für sich – die drei besten Freundinnen, als sie gemeinsam mit Barloch zum Feuer ziehen. Eine gleichmäßig verteilte Liebe wie in Freuds Massentheorie gibt es in Canettis Komödie der Eitelkeit nicht. Bei Lya macht sich der notorisch untreue Held im zweiten Teil ganz bewusst zur Projektionsfläche weiblicher Phantasie. Sein Nachname weist – wie in Hochzeit – auf die Maske hin, mit der er Lya nun entgegentritt: Ganz im Stile eines Filmstars spielt er den Helden, der eine Dame auf Händen trägt. Die Männerwelt, säuselt er Lya ins Ohr, sei ihr zu ewigem Dank verpflichtet, so schön sei sie; er könne deshalb gar nicht anders, als ihr sein Herz zu Füßen zu legen. Lya hört diese Worte mit Verzückung, aber sie hat Bedenken, man könne sie erwischen. Auch jetzt fällt Held keineswegs aus seiner Rolle, er sieht sich vielmehr animiert, die Inszenierung noch weiter zu treiben: Er selbst habe niemals Angst (II, S. 110). Auf diese Art hat sich Held seine eigene Masse geschaffen, eine Vorausdeutung auf die erneute Massenbildung am Schluss: »Ich habe schon viele Damen geliebt […].« (II, S. 111) Der ursprünglich für Held vorgesehene Name »Tag«123 ruft in Erinnerung, wie wichtig das Licht für seine Inszenierung ist. Licht und Dunkelheit sind im zweiten und dritten Teil der Komödie symbolische Kontraste.124 Das Licht erst ermöglicht es den Figuren, sich selbst zu sehen: sich selbst im Spiegel und sich selbst im anderen. Der endgültige Name »Held« hat trotzdem einen Vorteil: Er zeigt nicht nur Helds Rolle an, sondern er enthüllt auch sein Selbstverständnis. Wie Barloch begreift sich Held als Machthaber. Die Frauen, mit denen er flirtet, hebt er aus der Masse herauf zu sich, so wie sie es

|| 123 ZB 33.3a, ohne Datum. 124 Vgl. dazu vor allem die Szene »Die Straße bei Nacht« (II, S. 132–137). Siehe auch Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 201: Der Gegensatz von Hell und Dunkel strukturiert den zweiten und dritten Teil szenisch mit.

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sich wünschen, aber mit dem einzigen Ziel: sich selbst noch stärker von der Masse abzuheben. Dies alles bringt zum Vorschein, dass die Privatmythen in Canettis Komödie der Eitelkeit mehr sind als nur die Bedingung der Möglichkeit zur Massenbildung. Sie lauern zugleich als »Feind im Keller« der Masse und fördern ihren Zerfall. Nach Masse und Macht appelliert der Angriff auf die Masse gerade an diesen »Feind«, die individuellen Gelüste (III, S. 23). Eines der wichtigsten Gelüste ist die Eitelkeit, sie prägt die Figuren der Komödie von Anfang an.125 Die einen zwingt sie im ersten Teil zu Projektionen, die anderen macht sie zu Machthabern, die sich bewundern und von der Menge feiern lassen wollen. Beide aber bringt sie dazu, sich der »Masse in ihrer Eitelkeit« zur Verfügung zu stellen. Der zweite Teil präsentiert uns – eine Folge des Zerfalls der Masse – ausschließlich monadische Figuren, sich nah und doch so fern, gefangen in ihren je eigenen Imaginationen, die keine gemeinsame Projektionsfläche mehr finden. Eine Szene führt den Zusammenprall der unvereinbaren Wahnvorstellungen und Selbsttäuschungen eindrucksvoll vor. Von allen Frauen in Komödie der Eitelkeit hat Fräulein Mai die größte Erfahrung mit Projektionen, mit den Illusionen der Traumfabrik Hollywood. Vor dem Erlass der Regierung lief sie allabendlich ins Kino und schaute sich jede Vorstellung fünfmal an (II, S. 75). Im zweiten Teil hat sie Wenzel Wondrak zu sich eingeladen, den einstigen Ausrufer und heutigen »geheimnisvolle[n] Portier« (II, S. 114)126, dem sie in ihrer Wohnküche ein Mahl bereitet. Ihr Wunschbild von einem Mann, das vor zehn Jahren Barloch zu verkörpern schien, hat sie inzwischen auf Wondrak projiziert, er wirkt auf sie wie ein Filmstar: »Gut gewachsen und feurige Augen.« (II, S. 114) Zwar lädt Wondraks selbstdiagnostiziertes »Geheimnis« zu solchen Projektionen ein, doch Luise ist wie Puppi mit ihrer Bewunderung allein. Ein gemeinsames Ziel für verschiedene Projektionen wie im ersten Teil gibt es auch für sie nicht mehr. Während Fräulein Mai ihren Gast bei Tisch bedient, singt sie die Titelzeile eines bekannten Liedes: »Für dich, mein Schatz, hab ich mich schön gemacht.« (II, S. 114) Dieses Lied stammt aus der Operette Der Orlow von Bruno Gra-

|| 125 Diese Befund deckt sich mit der These von Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 112f., dass die Figuren ihre fixen Ideen niemals vergessen, auch am Feuer nicht. Allerdings übersieht Steussloff, wie sehr diese Ideen zur Massenbildung im ersten Teil beitragen. 126 Geheimnisvoll ist auch der Hausierer S. Bleiss, dessen Identität sich wenigstens zum Teil hinter einer Initiale verbirgt.

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nichstaedten (1925), die mehrmals verfilmt wurde, auch zur Entstehungszeit des Dramas. Die Hauptrolle in der Verfilmung von 1932 spielte eine Schauspielerin mit der gleichen Vokalfolge im Namen wie Mai; es war Liane Haid.127 Diese Assonanz und der Refrain weisen darauf hin, dass sich Fräulein Mai das Beisammensein mit Wondrak, ihrer fixen Idee und ihrem Namen gemäß, als Filmszene imaginiert, ein Leinwandglück mit ihrer Küche als Kulisse. Weiter kann die Illusion nicht gehen. Das Leben wird zu einem Schauspiel und Fräulein Mai zur Hauptdarstellerin. Das Gegenüber ist nicht viel mehr als ein Statist. Fräulein Mai achtet nicht auf Wondraks Worte, sie nimmt diese nur mechanisch auf und fügt sie – mit einer anderen Bedeutung – in ihre eigene Rede ein. Als Wondrak sagt: »Solang ich iß, bleib ich da.«, bemerkt sie: »Es ist noch da« – und meint damit das Essen. Umgekehrt ist es genauso: Zunächst ruft Fräulein Mai: »Ich bin schon da. Ich bin schon da.« Und daraufhin Wondrak: »Also, das da iß ich noch auf.« (II, S. 114) Fräulein Mais »Du« hat sich endgültig als eine Fiktion erwiesen; die Kommunikation ist ein verunglücktes Drehbuch, weniger ein Dialog als zwei separate Monologe mit gelegentlich denselben, aber missverstandenen Wörtern. Wie alle Männer des Stücks ist Wenzel Wondrak kein Gentleman und kein Held und erst recht kein Schatz. Er verachtet das Fräulein und behandelt sie schlechter als die geringste Dienerin.128 Sie sei eine Drecksau, brüllt er, meschugge und wohl hundertfünfzig Jahre alt. Wegen des kalten Essens droht er ihr, in einem scherzhaft-bösen Wortspiel, sogar mit dem Tod: »Und dich mach ich kalt.« (II, S. 114) Dieses »Ich«, der pronominale Gegensatz zum »Wir« im ersten Teil und zum »Du« des Liedes seiner Gastgeberin, ist das neue Leibwort seiner Sprache, die sich emphatisch gar zu ihm verknappt: »Achtung, jetzt komm ich, ich, ich. (Er ißt und grölt zwischen jedem Bissen) Ich! Ich! Ich!« (II, S. 113) An

|| 127 Auch die beiden Lieder von Marie und François Fant stammen aus bekannten Operetten. Maries »In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht« (II, S. 143) ist ein Chanson aus der Berliner Operette Die Kinokönigin (1913) von Jean Gilbert (Komposition), Georg Okonowski und Julius Freund (Text). Fants »Ich küsse Ihre Hand, Madam!« (II, S. 152) ist das Titelstück der 1929 verfilmten Operette Ich küsse Ihre Hand, Madame von Ralph Erwin (Komposition) und Fritz Rotter (Text). Das Lied passt auch deshalb zu Fant, weil im Refrain eines seiner Lieblingswörter auftaucht: »Ich küsse Ihre Hand, Madame, / und träum', es wär ihr Mund. / Ich bin ja so galant, Madame, / doch das hat seinen Grund …« 128 Kurz vorher erteilt er seinem Namensvetter, dem Dienstmann Franzl Nada, einen Befehl: »Geh kusch!« (II, S. 110) Diese Art des Befehls, die den Menschen zum Tier erniedrigt, erinnert an Garaus' Umgang mit Luise, aber auch an das infernalische Trio Bock, Segenreich und Rosig aus Hochzeit. Auch in Die Blendung ist diese Form der Demütigung von großer Bedeutung. So gehört etwa der Befehl »Kusch!« zu akustischen Maske des Hausbesorgers.

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Wondrak gewinnt der Umschlag von der Masse zum Individuum somit exemplarische Gestalt.129 Er, der Bajazzo, gibt sich als sein eigener Antipode zu erkennen: als Machthaber und Profiteur der veränderten Lage, die er vor zehn Jahren mit herbeigeführt hatte. Und auch er versichert sich seiner Macht im Triumph über eine Frau.130 Das Partizip des englischen Verbs »win« steckt nicht ohne Grund in seinem Nachnamen: Es bezeugt sein neues Selbstverständnis. Der Name Wondrak ist aber überdies eine Reminiszenz an das konkrete Vorbild der Figur, den Bildhauer Fritz Wotruba.131 Wie Wondrak im zweiten Teil entspricht er dem Typus des Meistessers132, den auch Barloch verkörpert. Es ist kein Zufall, dass Wondrak der Meinung ist: »Solang ich iß, bleib ich da.« (II, S. 114) Zusammen mit dem mehrmaligen Hinweis auf Fräulein Mais angeblich weit vorgerücktes Alter entlarvt diese Bemerkung: Wondrak will überleben, nicht anders als Garaus. Zumindest im Privatleben nimmt er sich Rechte heraus, die er sich vorher verbieten musste. Der Feind im Keller hat selbst in ihm gesiegt, kolossal ist nicht mehr die Masse, sondern er, er allein. Doch auch das ist lediglich eine || 129 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 130f. 130 Vgl. ebd., S. 196: »Die Negation der Gleichheit des Anderen, die den Figurenkonstellationen in Canettis Frühwerk zugrundeliegen [sic], richtet sich vor allem gegen die Frau.« In diesem Zusammenhang sind auch Heinrich Föhns Invektiven gegen die Frau an sich anzuführen, die Brosams christlich geprägtes Zerrbild des ewig lockenden Weibes aufnehmen und weiterführen: »Wir sind verweiblicht. Das ist unser Unglück. Der Spiegel, ein Apparat aus dem Berufsleben der Frau, hat von uns allen, auch von uns Männern, im eigentlichen Sinn des Wortes Besitz ergriffen. Wir stürmen nicht mehr vorwärts wie ehedem […].« (II, S. 87) Barbara Bauer: »Unter dem Eindruck der Ereignisse in Deutschland«. Ideologiekritik und Sprachkritik in Elias Canettis Komödie der Eitelkeit. In: Neumann (Hg.): Canetti als Leser (wie Einleitung, Anm. 128), S. 77–111, hier S. 84f. sieht in diesen Worten eine Karikatur von Kenneth Burkes polemisch analysierter »Leistung« Hitlers als Religionsstifter. Föhn ersetze einfach »das Judentum« durch »das Weib«. Canetti konnte dieses Buch allerdings nicht kennen, da es erst viel später erschienen ist. 131 Vgl. dazu ZB 22, 24. Dezember 1959: »Wenzel Wondrak ist Fritz Wotruba, jedes Wort in Wenzels Munde ist von Wotruba geliehen [...].« Vgl. auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 305. In Das Augenspiel berichtet Canetti an zwei Stellen, wie Wotruba ein riesiges Schnitzel verschlingt (IX, S. 92 und 100). Gerade beim zweiten Mal wirkt Wotruba wie ein Tier, das seine Beute zerfleischt (Canetti vergleicht ihn vorher mit einem Panther): »Dann beugte er sich über sein Fleisch und aß es wortlos in großen, quadratischen Bissen auf. Er ließ es nicht einmal aus den Augen und nahm, solange etwas auf dem Teller war, mit keiner Silbe und keiner Geste am Gespräch teil.« (IX, S. 100) 132 Zum Meistesser vgl. III, S. 257f. Im selben Kapitel finden sich auch einige Bemerkungen über das Lachen (für Canetti ein symbolischer Akt: der Verzicht auf eine Einverleibung), das Wondrak, als Bajazzo, im ersten Teil seinen Zuhörern ausdrücklich gestattet. Das zeigt, wie sehr Canetti die Figur nach Einsichten gestaltet, die später auch in Masse und Macht eine Rolle spielen.

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fixe Idee, eine Täuschung: Mit ihren kollektiven Floskeln und ihren scheinbar privaten Hymnen, bei denen es sich in Wahrheit um Schlager und Operettenlieder handelt, gleichen sich die Figuren im zweiten und dritten Teil mehr, als sie ahnen.133 Sinnfällig wird die Gemeinsamkeit der Täuschung im zweiten Teil an der nur im Verborgenen kursierenden Spiegelscherbe. Sie verbindet einzelne Figuren, indem sie nacheinander in ihren Besitz gelangen.134 An ihr erweist sich, dass niemand eine realitätsgetreue Vorstellung von sich selber hat; auch darin sind sich die Figuren gleich. Schakerl beispielsweise erwacht aus seinem apathischen Zustand erst, als Franzi ihm einen Spiegel direkt vor seine Augen hält und Hedi im selben Moment nicht wie zuvor »Burschi« ruft, sondern: »Friedrich! Friedrich! Friedrich!« (II, S. 149 und 151)135 Was Schakerl im Spiegel erblickt, ist aber keineswegs er selbst, es ist sein Wunschbild: der Machthaber Friedrich und nicht der »Sprechkrüppel« Fritz. Als er wenig später dieselbe Scherbe vom Boden aufhebt, ohne dass jemand seinen vollen Namen dabei nennt, beginnt er deshalb wieder zu stottern (II, S. 155). Diese Deutung bestätigt sich am Ende des zweiten Teils: Schakerl hat die Scherbe vergraben, und an eben dieser Stelle hat sich eine Pfütze gebildet. Zu dieser Pfütze, einem Spiegelersatz, starren alle hinüber (II, S. 159), eine Masse mit abermals demselben Ziel. Das verdeutlicht, dass auch das Individuum einen »Feind im Keller« hat. Es ist die Masse, oder wie Canetti damals noch meinte: der Massentrieb. An die Spitze der Hierarchie setzt sich zuletzt allerdings nicht Schakerl, nicht Wondrak und nicht Garaus, sondern Heinrich Föhn. Doch wer ist dieser Mann? Nur ein Intellektueller, ein Ideologe, oder mehr? Die bereits erwähnte Bitte an Leda, sie möge seinen Namen zu umschreiben suchen, enthüllt es: || 133 Schon in Die Blendung fungiert der Schlager als Kristallisationspunkt individueller Wünsche. »Alle Männer sangen, die wirklichen Worte des Liedes waren ihnen fremd, jeder sang, was er sich für sein Leben gern wünschte.« (I, S. 377) Dieser Zusammenhang zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven ist einer der Erträge aus der Beschäftigung mit dem Werk von Karl Kraus. Vgl. dazu VI, S. 136: »Aber dieselben Worte, die nicht zu verstehen sind […]: es sind Worte, wie sie am häufigsten gebraucht werden, Phrasen, das Allerallgemeinste, hunderttausendfach Gesagte, und dieses, genau dieses, benutzten sie, um ihren Eigenwillen zu bekunden.« 134 Noch weiter geht Canettis eigene Deutung: »In der Komödie will jeder sich. Das ist mehr als Gier, denn jeder meint sich als ein Unverwechselbares, und wie immer er sich darüber täuscht, wie verwechselbar er gerade im Bilde von sich ist, er hält es für einzigartig. Im zweiten Teil entsteht aus ihnen allen zusammen ein einziges Wesen, das alle sein kann, der Spiegelscherben.« Zitiert nach ZB 57, Anfang Januar 1934, (Hervorhebung im Original). 135 Vgl. dazu Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 131: Erst die »Namenganzheit«, so Sänger, bewirke bei Schakerl das Wiedererkennen des eigenen Ich.

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Allein der Name Gottes, das Tetragramm, darf nicht ausgesprochen und muss deshalb durch andere Formeln ersetzt werden. Föhn fordert von Leda also göttliche Verehrung. So aber, als Frau eines Gottes, wird sie ihrer mythischen Namensvetterin gleich, die den in einen Schwan verwandelten Göttervater Zeus empfing. Kein Wunder, dass Föhn im Spiegelbordell mit donnernder Stimme spricht, genauso wie der mächtigste aller Olympier (II, S. 168). Föhn selbst bezeichnet sich jedoch nicht ausdrücklich als Gott. Wenn er von sich spricht, benutzt er eine in der Komödie gängige136, bei ihm verräterische Metapher: »Diese Menschen wissen zwar nicht, wer hier wohnt. Aber sie ahnen es. Ich bin ihre Sonne. Ich leuchte. Ein Leuchten geht von mir aus.« (II, S. 136)137 Von alters her ist die Sonne ein Symbol für Christus, er gilt den Gläubigen als die wahre Sonne, der eigentliche Sol Invictus.138 Im Johannes-Evangelium verkündet Jesus den Jüngern: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.« (Joh 8,12) Mit seiner Selbsterhöhnung139, seinem Anspruch, die Sonne der Menschen zu sein, tritt Föhn in Konkurrenz zu Christus, dem Erlöser.140 In Wahrheit ähnelt er allerdings auf verblüffende Weise Adolf Hitler: die Berührungsfurcht, die Neigung zu Abstand und Selbstverheimlichung, auch gegenüber Angehörigen und Freunden, das Fehlen alles Persönlichen, der Glaube an die eigene Erwählung und Mission, der Größenwahn und die Stilisierung ins Monumentale – all das war jenem Mann zu Eigen, der nicht lange vor Entstehung der Komödie die Macht im Deutschen Reich errungen hatte.141

|| 136 Held beispielsweise bedient sich der Sonnenmetaphorik, um Lya zu umschmeicheln: »Eine schöne Frau ist wie die Sonne. Scheint die Sonne nicht für jedermann?« (II, S. 110) 137 Es wäre möglich, dass der ursprüngliche Name des Lehrers »Tag« die Hierarchie der Machthaber in der Komödie widerspiegeln sollte: Der Tag wird erst durch das Sonnenlicht zum Tag. 138 Zur Sonnensymbolik vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B1, Anm. 59), S. 686f. Zu weiteren Konnotationen der Licht- und Sonnenmetaphorik vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 169f. 139 Vgl. dazu auch Feth: Elias Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 154. 140 Auch Garaus versteht sich in gewissem Sinne als Gott, wenn er, in säkularisierter Anspielung auf die Schöpfung des Menschen in der Genesis, behauptet: »Ein Mensch ist sein Ebenbild.« (II, S. 155) Sein Name bekommt dadurch eine zusätzliche Nuance: Garaus hält sich für einen Gott, damit auch für den Herrn über Leben und Tod – und er bringt Luise in der Tat den Tod. Das deckt sich mit Canettis Deutung Gottes als eines Machthabers, der ein Todesurteil über die ersten Menschen und alle folgenden Generationen gesprochen habe. 141 Vgl. Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a.M., Berlin und Wien: Propyläen 1973, S. 29. Zum Zusammenhang zwischen Macht und Sonne vgl. auch ZB 34.1, ohne Datum (»Versuch über Masse und Macht«): »In sehr vielen Bildern wird das Ausstrahlen der Macht

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Im dritten Teil verkündet Föhn sein Evangelium.142 Es ist eine Frohbotschaft aus phrasenhaften und heterogenen Versatzstücken, die er so ungeniert zusammenzwingt wie Hitler die Früchte seiner Lektüre. Gerade deshalb jedoch fühlen sich die Zuhörer mit ihren verschiedenen Privatmythen gleichermaßen angesprochen. Die Masse der Sätze löst die menschliche Masse aus. Das Verhalten der Figuren wird gleich, da die Privatmythen wieder eine gemeinsame Projektionsfläche gefunden haben.143 Schakerl zuckt, weil Föhn erklärt, jeder könne eines Tages Wirtschaftsführer sein, der es heute noch nicht sei; Fräulein Mai zuckt, als er behauptet, selbst die schönsten Männer seien durch Pflege und gute Küche gewonnen worden; die Witwe Weihrauch zuckt, als er versichert, die Menschen liebten, solange sie lebten (II, S. 176). Und die beiden Frischvermählten, Brosam und Marie, zucken zueinander hin. In diesen Bewegungen rekonstituiert sich das Kollektiv des Anfangs144, doch an die Stelle des Feuers tritt ein neues Ziel: die Sonne. Föhn kann nun – wie der Ausrufer zu Beginn – von einem »Wir« sprechen: »Reichen wir uns die Hände!« (II, S. 177) Föhns Nachname entfaltet jetzt erst seinen Sinn. Während die beiden ursprünglich vorgesehenen Namen »Glut(h)« und »Flamm«145 ihn als einen feurigen Redner ausweisen, ebenso sehr aber seine Funktion als Führer einer Masse antizipieren sollten (nach dem »Urbild« Ernst Fischer146), verweist der endgülti-

|| wie jenes der Sonne beschrieben. Der zwiespältige Charakter dieser Strahlen, ihre Wohltat, ihre Gefahr macht diese Gleichsetzung besonders eindrucksvoll.« Über die gleiche Ambivalenz verfügt auch der endgültige Name Föhn. 142 Unter Verweis auf Joh 1,9f. und die Confessiones des Augustinus schreibt Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 170: »In der Symbolsprache vom Göttlichen sind Licht und Wort aufeinanderbezogene Äußerungsformen […].« 143 In Die Fackel im Ohr erzählt Canetti von seinem Vetter Bernhard Arditti, einem feurigen Redner, der der Meinung ist, dass der Mensch entweder ein Tropfen sei, der in der Masse aufgehe, oder » […] der, der sich darauf versteht, ihr eine Richtung zu geben.« (VIII, S. 92) In Komödie der Eitelkeit ist Föhn am Ende derjenige, der den Menschen mit seiner Rede die Richtung vorgibt. 144 Vgl. dazu auch Föhns kurze Lobrede auf das Alte: »Und das Alte, das man erledigt und abgetan glaubte, kehrt siegreich und strahlend wieder. Verachtet mir das Alte nicht!« (II, S. 177) 145 ZB 33.2a und 2b, ohne Datum (Kurzschrift), 33.3a und 3b, ohne Datum (Kurzschrift), 33.4, ohne Datum (Kurzschrift). 146 In einem unpublizierten Kapitel zu Das Augenspiel (»Ernst Fischer«) schildert Canetti, wie Ernst Fischer ihm seine rhetorische Strategie erläuterte: »Das Wichtigste sei, Gefühle, die man einmal geweckt habe, nicht mehr loszulassen, sie zu steigern, indem man sie von verschiedenen Seiten her schüre, ein Feuer verbreite, zum Entflammen bringe und dann immer wieder nähre. […] Ich achtete auf die Art der Bilder, die bei ihm die häufigsten waren und siehe da: Feuer und Meer, die ich als Massensymbole erkannt hatte, hatten ihre wichtige Stelle, beson-

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ge Name »Föhn« auf das Massensymbol des Windes (III, S. 99f.).147 Wie der Wind, ein allerdings erhitzter und krankmachender Wind148, gibt Föhn den Figuren eine gemeinsame Richtung. Lärmend und wild, geradezu entfesselt, drängen sie hinaus auf die Straße, wo sie mit demselben Schlachtruf auf den Lippen zu einer Masse werden. Diese Masse unterstellt sich dem neuen Machthaber, dessen Denkmal sich auf einer vor ihrer Zerstörungswut geschützten Insel zum Himmel erhebt (II, S. 178).149 Erneut kristallisiert sich die Masse an einem Machthaber. Das Alte, Verdrängte ist zurück, gleich und doch verschieden, wie der neue Slogan »Ich« beweist – so gleich und verschieden wie die Massensymbole Feuer und Wind. Auch diese Masse wird einige Zeit bestehen. Denn wer wie die Figuren gleichsam in die Sonne selbst geschaut hat, der ist noch stärker als zuvor geblendet.150 Die Blendung ist nun freilich auch der Titel von Canettis erstem und einzigem Roman, einem Gipfelpunkt der Gattung im 20. Jahrhundert. Wie die wenige Jahre später entstandene Komödie der Eitelkeit schildert Canetti in seinem Debüt den Kampf zwischen Masse und Individuum. Und ebenso wie bei seinem zweiten Drama handelt es sich bei diesem Buch, einem (an den Kategorien des Dichters gemessen) dramatischen Roman, um ein »›Lehrstück‹ der Bewegung von Masse und Macht«.151 Diese Bewegung spiegelt sich schon hier in den Figurennamen wider. Sie sind, stärker als in Canettis späteren Werken, antithetisch konstruiert: Namen im Widerspiel.

|| ders auf Feuer kam er immer wieder, wenn er zu erklären versuchte, wovon seine Rhetorik sich nähre.« Zitiert nach Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel »Ernst Fischer«. 147 Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 159. 148 Vgl. Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 256. 149 Vgl. dazu Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 171: »Die Revolte, die seine Rede auslöst, erscheint als Erlösung zum Ich-Kult, der in ihm [Föhn – A.S.] steinerne Gestalt annimmt.« 150 Trügerisch ist deshalb Föhns phrasenhafte Aufforderung: »Der Mensch soll seine Augen offen haben!« (II, S. 177) Schon im zweiten Teil ist Marie unfähig, Vision und Realität übereinzubringen. Beim Blick in den Spiegel stellt sie fest: »Falsch ist er! Dreck ist er! Spiegel das? Dreck das? Brauch ich nicht Dreck! Falsch brauch ich nicht! Glaubst, schau ich so aus! Gar nie schau ich so aus!« (II, S. 144) 151 Feth: Elias Canettis Dramen (wie Einleitung, Anm. 99), S. 168.

6 Die Blendung 6.1 Von Brand zu Kant 6.1.1 Die Bedeutung der Namen für die Genese des Romans Zweimal zog es Canetti gegen Ende der zwanziger Jahre nach Berlin: zunächst von Mitte Juli bis Mitte Oktober 1928 und dann wieder von Mitte Juli bis September 1929. Diese nicht mehr als achtzehn Wochen veränderten sein Leben.1 Bei der Rückkehr aus dem Lärm der deutschen Hauptstadt in die ›ruhige Provinz‹ Wien war er beide Male gehörig durcheinander, »voll von Fragen und Chimären, Zweifeln, bösen Ahnungen, Katastrophenängsten« (VIII, S. 295); den 13. bis 25. Juli 1929 empfand er sogar als »die dreizehn scheusslichsten Tage meines Lebens«2. Doch auch in Wien kam er nicht zur Ruhe. Bis in den Schlaf verfolgten ihn die Erinnerungen an das Chaos in der Millionenmetropole, den Kampf aller gegen alle, die Raserei, das Triebhafte, die Rücksichtslosigkeit, die fehlende Intimität. Christoph Menke hat deshalb zu Recht von einer »Berliner Erkenntniskrise« gesprochen.3 Diese Krise wollte Canetti aus eigener Kraft in den Griff bekommen; er wollte verstehen, was er in Berlin beobachtet und erfahren, was ihn fasziniert, aber auch abgestoßen hatte. Noch ein halbes Jahrhundert später attestiert er sich für die damalige Zeit einen »unheimlich starken Willen, [s]ich zurechtzufinden, die Dinge auseinanderzunehmen, ihre Richtung zu bestimmen und sie dadurch zu überschauen.« (VIII, S. 295) Was kann ein Mensch mit diesem Willen in einer solchen Krise tun? Canettis Antwort ist eigenwillig wie immer: Er muss seinen Blick vom verwirrenden Zentrum der Wirklichkeit abwenden und auf die Ränder richten, wo nichts mehr wild durcheinander geht und nichts in trügerischer Harmonie verbunden ist. Wie »harte Kristalle« (VIII, S. 296) stehen die Ausgestoßenen, die Randexistenzen, dort nebeneinander: einzelne Irre, in denen Canetti die »neuen Wirklichkeiten« verkörpert sieht. Von diesen Rändern aus, wo »bestimmte Phänomene der Zeit« durch ihre Übertreibung überhaupt erst sichtbar werden (X, S. 164),

|| 1 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 2: »Das Erlebnis der Stadt, in der sich einerseits die Menschen zu Massen ballen und doch andererseits zu keiner echten Kommunikation mehr gelangen, kann als das Urerlebnis Canettis bezeichnet werden.« 2 ZB 2, Juli 1929. 3 Christoph Menke: Die Kunst des Fallens. Canettis Politik der Erkenntnis. In: Krüger (Hg.): Einladung zur Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 12), S. 38–67, hier S. 44.

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heißt es dann zurückzublicken auf das Chaos in der Welt und seinen Widerschein im eigenen Inneren. Unter den extremen Perspektiven, die Canetti sich durch Verwandlung sukzessive anzueignen beabsichtigt, wird es sich erhellen wie unter wechselndem Scheinwerferlicht (VIII, S. 296f.; X, S. 164), sich überschauen und gliedern lassen.4 In der einen und scheinbar einzigen Wirklichkeit werden die verschiedenen und sich überschneidenden Wirklichkeiten erkennbar – so wie ja auch ein einziges Wort von den diskrepanten Wahnideen seiner Benutzer erfüllt ist.5 »Ein wenig war es so«, schreibt Canetti im zweiten Band seiner Autobiografie, »als hätte man einen Urwald, in dem alles verschlungen durcheinanderwuchs, zu entwirren, jedes Gewächs vom anderen zu lösen, ohne es zu beschädigen oder zu zerstören […].« (VIII, S. 297) Was Canetti also dringend brauchte, um seine Berliner Erkenntniskrise zu meistern, waren »harte Kristalle«: konstant, begrenzt und luzide. Canettis Lösung zeugt ebenso sehr von seiner Vorliebe für griffige Metaphern wie von seiner Prägung durch die Chemie und seiner Sehnsucht nach Durchschaubarkeit. Der Wille zur Bestimmung der Richtung, der sich, verändert, auch in seiner Massentheorie bemerkbar macht, ist das Gegengewicht zu den Gedankensprüngen in den frühen Notizen und vor allem in den späteren Aufzeichnungen, die unter dem Druck der Konzentration auf Masse und Macht wichtig wurden, das Gegengewicht auch zum planlosen und eher episodischen Schreiben in der unmittelbaren Folgezeit6. Freiheit und Enge, Dichtung und Wissenschaft gehörten für ihn nicht erst später, sondern bereits in dieser frühen Zeit unmittelbar zusammen. Die Literatur war nichts anderes als ein GedankenLaboratorium; sie diente der Erkenntnis, auf ihre Art kaum weniger als die Stu-

|| 4 Rudolf Hartung kommt es vor, als schicke Canetti das Normale in seinem Roman wie das Licht durch ein Prisma, das es in seine verschiedenen Farben zerlege. Vgl. X, S. 236. 5 Zu dieser Auffassung kommt unter kommunikationstheoretischer Perspektive auch Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. 14. Auflage, München: Piper 2014, S. 7. Es gebe nicht nur eine Wirklichkeit, sondern »zahllose Wirklichkeitsauffassungen […], die sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis von Kommunikation und nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten sind.« Die verschiedenen Wirklichkeiten, die Canetti in seinen Texten entwirft, beruhen allerdings nicht auf Kommunikation, sondern auf dem streng isolierten, gar nicht kommunikationsfähigen Privatmythos. Vgl. dazu auch Beatrix Bachmann: Wahn und Wirklichkeit. Der Diskurs des Wahnsinns am Beispiel von Elias Canettis Roman Die Blendung. Mainz: Gardez!– Verlag 1994 (Germanistik im Gardez!; 2) [zugl. Mainz, Univ.-Diss. 1993], S. 17: »Wahn ist die Realität des Einzelnen, und ›die Realität‹ ist der Wahn vieler.« 6 Auch dafür verwendet Canetti das Wort »Sprung«: »Es war ein weiter Sprung vom ›TodFeind‹ zum ›Verschwender‹ und weiter von diesem zum ›Büchermenschen‹, aber der Weg war frei, sie selber verstellten ihn nicht.« (VIII, S. 339)

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dien für Masse und Macht.7 Canetti ergänzte die Innensicht auf die Masse um die Außenperspektive auf die Welt. Er beobachtete nicht mehr nur wie in Berlin, er analysierte, komprimierte, übertrieb, entwarf zugespitzte Figuren, die jeweils einen Aspekt, eine der vielen neuen Wirklichkeiten verkörperten; sie sollten das »sinnlos Zerstreute« sammeln und ihm einen Leib geben (VIII, S. 298). Kurzum: Er selbst schuf die Kristalle, die er brauchte: acht Scheinwerfer zur Durchdringung der Wirklichkeit. Im »ausschweifendste[n] Jahr« seines Lebens (VIII, S. 300) entstanden so, gleichzeitig und doch je für sich8, die Figuren der »Comédie Humaine an Irren«.9 Ihrer separaten Genese zum Trotz haben sie dennoch eines gemeinsam, auch mit den Figuren der beiden frühen Dramen und den Charakteren des Ohrenzeugen: Ihnen fehlt die Fähigkeit zur Verwandlung.10 Das erst macht sie zu Kristallen. Anders als ihr Schöpfer, der Verwandlungskünstler, können sie die Welt nur unter ihrem eigenen, dem immer gleichen Blickwinkel betrachten. Damit Canetti erkannte, durften sie nicht erkennen, damit er die Welt verstand, mussten sie sich und andere missverstehen. Ihr reales Urbild war Canettis Cousine Mathilde mit ihren äffischen Zügen und ihrer starren Mimik, »[...] die als Irre galt und nach der ordinären Auffassung der Welt es auch wirk-

|| 7 Ähnlich äußert sich Schößler: Musik und Narzissmus (wie Kapitel A7, Anm. 32), S. 77 über Canettis Dramen: Canetti begreife »[…] das Theater im Anschluss an Aristophanes als Laboratorium, als Experimentierraum, um neue Welten zu erschaffen, um in Rivalität zu Gott zu treten.« Vgl. auch Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 38: Das Experiment sei »eine signifikante Vorgehensweise für Canettis literarische Schöpfung selbst«. Für Klaus Weimar: Blendung als tödliche Beschädigung von Selbstwahrnehmung und Selbstbewußtsein. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 97–108, hier S. 107 ist der Roman das »[…] in sich konsistente und konsequente Durchspielen einer Versuchsanordnung namens ›Kien‹.« Bereits Hans Daiber hatte in seiner Rezension zu Canettis Roman die These aufgestellt, dass Die Blendung ein »Vorspiel« der Arbeit über Masse und Macht sei. Vgl. Die Blendung. In: Neue Deutsche Hefte 11 (1964), H. 97, S. 133–135, hier S. 135. Zu den Einwänden gegen eine solche Sicht vgl. die entsprechenden Ausführungen in der Einleitung. 8 »Eine Gliederung, etwas was man den Beginn einer Ordnung nennen könnte, begann in der Aufteilung auf Figuren.« (VIII, S. 299) 9 Zum Zusammenhang zwischen dem Berlin-Erlebnis und der Entstehung extremer, voneinander isolierter Figuren vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 11. 10 Vgl. VI, S. 332: »Da ich an all diesen Entwürfen zugleich schrieb, hatte ich es mir angewöhnt, mich in verschiedenen Welten, die nichts miteinander gemein hatten, die bis ins Letzte auch ihrer Sprache voneinander gesondert waren, simultan zu bewegen, von einer in die andere zu springen.«

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lich war«11. Von ihr, die mit ihrer Mutter Bellina nur eine Viertelstunde entfernt von der Hagenberggasse wohnte, will Canetti in dieser Zeit am meisten gelernt haben. Seine Einsichten vertiefte er 1929, spätestens 1930, bei einem Besuch in der Irrenanstalt Steinhof12. Bald gab ihm aber auch der gelähmte Philosophiestudent Thomas Marek, den er im Frühjahr 1930 näher kennenlernte, »eine Art Sicherheit über die Möglichkeit extremer Menschen«.13 Wer als Dichter extreme Figuren zu schaffen sucht, der kann auf Namen nicht verzichten – erst recht nicht, wenn er ihnen eine solche Macht über den Träger zuschreibt wie Canetti bereits in seinen frühen Wiener Notizen. Denn als Verwandlungsbarrieren garantieren gerade sie die Konstanz des Benannten, das Luzide seines Denkens und Handelns, und zudem die feste Form des gesamten Werks. Zehn Jahre nach Vollendung seines Romans notierte Canetti, unter Verwendung derselben Metapher wie in seiner Autobiografie: »Er kann jetzt das Dickicht in seine dornigen Namen zerlegen.«14 Wir wissen nicht, ob Canetti sich in dieser Aufzeichnung auf Anthroponyme bezog oder auf Begriffe; vielleicht dachte er an die Terminologie seines Massebuchs. Was wir der Aufzeichnung aber entnehmen und für die Untersuchung des Romans fruchtbar machen können, ist erstens: Mit dem Wort »Name« bezeichnet Canetti ein Instrument zur (sprachlichen) Ordnung eines erneut metaphorisch gefassten Durcheinanders, wobei das Adjektiv verdeutlicht, wie schmerzhaft und schwierig es ist, diese Ordnung herzustellen. Und zweitens: Die Fähigkeit, Ordnung durch Namen zu schaffen, muss sich entwickeln. Die Aufzeichnung verschweigt indes, ob Canetti sie auf einen Geistesblitz zurückführte oder ob er sie für das Ergebnis eines Denkprozesses hielt; sie verschweigt, ob man sie geschenkt bekommt oder aktiv erwerben muss. Da bei seiner Arbeit an der »Comédie Humaine an Irren« ein Jahr bis zur Namengebung verging, scheint die zweite Alternative die bessere zu sein. Doch die Antwort ist komplexer. Einen ersten Hinweis liefert die Autobiografie: Ich scheute davor zurück, ihnen Namen zu geben, sie waren nicht etwa Individuen wie der und jener, den man kannte, jede von ihnen wurde aus ihrem Hauptanliegen heraus er-

|| 11 ZB 59, 22. November 1978. Vgl. dazu auch ZB 59, 29. November 1979: »Am nächsten kam ich den Insassen meiner Stadt in Herbert [Patek; in der Autobiografie: Thomas Marek – A.S.] und Mathilde.« 12 Vgl. ZB 59, 30. Juli 1979. 13 ZB 59, 21. Februar 1979. Marek war allerdings mehr als eine Figur. »Selbst in seiner Lage war er zu Verwandlungen fähig, die nicht vorauszusehen waren, das war es, womit er mich am meisten überraschte.« (VIII, S. 341) 14 ZB 6, 6. Mai 1942.

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funden, eben dem, was sie weiter und weiter trieb. […] Jede wurde mit einem großen Buchstaben bezeichnet, es war der Anfangsbuchstabe des Anliegens oder auch der Eigenschaft, die ihn beherrschte. (VIII, S. 299)

Der »Wahrheitsmensch« bekommt die Sigle »W«, der religiöse Fanatiker ein »R«, der Sammler ein »S«. Mit einer Sigle aus zwei Buchstaben, die aber einem einzigen Laut entsprechen, versieht Canetti den Phantasten, »Ph«. Eine Abkürzung aus drei Buchstaben, die wieder nur einen einzigen Laut bezeichnen, erhält der Schauspieler: »Sch«. Zu diesen Fünfen kommen der Verschwender15 und der Todfeind hinzu, die ohne Sigle bleiben. Mit einem »B« schließlich bezeichnet Canetti den Büchermenschen, der den spätestens mit Sebastian Brants Das Narrenschiff (1494) in der europäischen Literatur etablierten Typus des Bibliomanen verkörpert und radikalisiert.16 Canettis Figur ist ein Wahnsinniger, der geradezu aus Büchern besteht, sie sogar über Menschen stellt und am Ende zusammen mit sich verbrennt. Er, ein extremer Nachfahre des bücherverrückten Ritters Don Quichote17, macht das Ensemble der »Comédie Humaine an Irren« komplett. Diese Bezeichnungen und ihre Siglen erfüllen dieselbe Funktion wie einige der redenden Namen in den bisher besprochenen Werken. Sie definieren das Wesen des Bezeichneten, indem sie seine Leidenschaft benennen. Sie weist der Figur die Richtung, eine im Gegensatz zur Masse höchst individuelle Richtung, und ist ihr ›bestimmter Kanal‹ (vgl. VIII, S. 299). Alle Figuren der geplanten menschlichen Komödie, so Canetti mit einer aufschlussreichen Metapher, seien »lebende Ein-Mann-Raketen«, die »ganz aus Grenze und innerhalb dieser Grenze aus kühnen, überraschenden Gedanken« bestünden (VIII, S. 300). Bereits bei seinem ersten größeren dichterischen Vorhaben entwarf Canetti also Figuren, Schachfiguren geradezu18, die der später formulierten Theorie entsprachen.

|| 15 Die Figur sollte wohl einen Paralytiker darstellen, dem Canetti später in Masse und Macht eine »Tendenz zur Verschwendung« attestierte (III, S. 479). 16 Vgl. Alexander Košenina: »Buchstabenschnüffeleien« eines Sinologen. China-Motive in Elias Canettis Gelehrtensatire Die Blendung. In: Orbis Litterarum 53 (1998), H. 4, S. 231–251, hier S. 232. 17 Vgl. dazu schon Manfred Moser: Elias Canetti Die Blendung. Wien, Univ.-Diss. 1968 [Masch.], S. 137f. Vgl. auch Rita Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes. Über Canettis Roman Die Blendung. In: Patillo-Hess und Smole (Hg.): Canettis Aufstand gegen Macht und Tod (wie Kapitel A8, Anm. 50), S. 9–29, hier S. 19. Vgl. schließlich Christine Meyer: Don Quichotte dans Auto-da-Fé. In: Stieg und Valentin (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen« (wie Einleitung, Anm. 10), S. 85–97. 18 Vgl. Barbara Meili: Erinnerung und Vision. Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Elias Canettis Roman Die Blendung. Bonn: Bouvier 1985 (Studien zur Germanistik, Anglistik, Kompa-

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Seine »Kristalle« sind überspitzte, beschränkte und doch nicht ganz berechenbare Verkörperungen menschlicher Existenzmöglichkeiten. Einige Namen (Sammler, Verschwender, Schauspieler, Büchermensch) verraten, dass ihre Träger dennoch, trotz ihrer strikten charakterlichen Begrenzung, von Massen besessen sind. Aus Canettis Aussagen geht hervor, dass er selbst die Bezeichnungen und Siglen sogar als doppelte Grenze nutzte.19 Zum einen gaben sie ihm die Möglichkeit, gleichzeitig an allen Romanen zu schreiben, ohne je den Faden zu verlieren.20 Denn was für die Figuren galt, galt ebenso für ihn, der sich in sie verwandelte: »Solange sie keine Eigennamen hatten, bemerkten sie einander nicht.« (VIII, S. 339) Auch bei der weiteren Ausarbeitung blieben sie getrennt, der zwischenzeitliche Plan, sie in einem Pavillon der Irrenstadt Steinhof zu versammeln und miteinander sprechen zu lassen (VIII, S. 301), war bald vom Tisch. Zum anderen jedoch begrenzten die Buchstaben wie später bei der Arbeit an Der Ohrenzeuge seine Phantasie, die »Masse« seiner Ideen: »Sobald solche Anfangsbuchstaben auf einer Seite oben standen, fühlte ich mich eingegrenzt und schoß wütend in dieser einzigen Richtung los. Die unendliche Masse von Dingen, von denen ich erfüllt war, sortierte sich, legte sich auseinander.« (VIII, S. 300) Gegenüber einem ›klassischen‹ Eigennamen hatten die Bezeichnungen in dieser noch experimentellen Phase drei Vorzüge: Sie waren so schlicht, dass sie die Kreativität stimulierten, ohne sie zu verbrauchen; sie waren so allgemein, dass sie der Figur kühne, überraschende Gedanken erlaubten; und sie waren doch so präzise, dass sie die Aufteilung in Figuren ermöglichten, »den Beginn einer Ordnung« (VIII, S. 299). Ohne diese Ordnung, eine wenigstens rudimentäre Form der Benennung, konnte Canetti nicht schreiben. Dass er die eigentliche Namengebung auf einen späteren Zeitpunkt verschob, anders als bei Der Ohrenzeuge, hat einen nachvollziehbaren Grund. Es hing wohl damit

|| ratistik; 115), S. 144. Im Roman träumt Fischerle davon, jeden Tag dreißig Simultanpartien zu spielen. »[…] mit lebenden Figuren, denen er zu kommandieren hat.« (I, S. 218) Bei der Arbeit an der »Comédie Humaine an Irren« hat sich dieses Machtverhältnis jedoch umgekehrt. Canetti wird von den Figuren beherrscht. 19 Zur begrenzenden Funktion der Bezeichnungen vgl. auch ZB 223, Frühere Fassung von »Kant fängt Feuer«: »Keine der Figuren hatte bis jetzt einen Namen gehabt, ich hatte eine grosse Scheu davor, sie zu benennen: die Anfangsbuchstaben, die ich für sie setzte, waren mir neutral genug und brachten nichts Fremdes in sie hinein, solange ich mich an diese Buchstaben hielt, blieb jede der Figuren von Schlacken frei und keine von ihnen gewann ein Übergewicht über die anderen.« 20 Canetti erinnert darin an den Büchermenschen, der sogar an zehn Abhandlungen zugleich arbeitet (I, S. 470). Für diesen sind Grenzen so wichtig, dass er sie verabsolutiert.

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zusammen, dass acht ganze Romane und nicht nur kurze Porträts zu schreiben waren. Canetti musste seine Ideen erst einmal sammeln, ausarbeiten, prüfen, präzisieren und korrigieren, um die Namen möglichst exakt anmessen zu können. Nach ungefähr einem Jahr bekam allerdings nur eine einzige dieser acht Figuren einen Namen – eine Tatsache, die Canetti aus dem Rückblick für ihre Rettung verantwortlich machte. Während die übrigen der »Selbstauflösung« zum Opfer fielen, blieb der Büchermensch am Leben (VIII, S. 342). Die Bezeichnungen waren demnach nicht stark, ihre Grenzen nicht hermetisch genug, um die Diffusion des Charakters für immer zu verhindern. Und sie waren auch nicht stark genug, um zu verhindern, dass der Büchermensch, sobald er benannt war, die volle Aufmerksamkeit seines Schöpfers absorbierte. Wie schon als Kind konnte sich Canetti dem Zauber eines Namens abermals nicht entziehen. Und doch war die Selbstauflösung bei einigen dieser Figuren nur vorübergehend. Sie gingen entweder in den Roman ein wie der Schauspieler (Georges)21; oder sie tauchten in einem späteren Buch wieder auf wie der Typus des religiösen Fanatikers (Therese Kreiss); oder sie wurden irgendwann erneut zum Gegenstand eines eigenen Projekts. So plante Canetti bereits im Januar 1931, noch während der Arbeit an Die Blendung, eine Novelle über den Schauspieler22, und in den späten dreißiger Jahren fertigte er Skizzen zur Figur des Verschwenders an23. In den siebziger Jahren schließlich kam er auf die Figur des Todfeindes zurück, die er nun mit seinem Antipoden, dem Todfreund, zu konfrontieren beabsichtigte.24 Alle diese Vorhaben kamen über die Idee und einige wenige Entwürfe nicht hinaus. Die einzige Figur aus der »Comédie Humaine an Irren«, die es zu einem eigenen Werk brachte, war diejenige mit einem Namen.

|| 21 Vgl. dazu auch X, S. 165: »Es schien mir, als seien die Säfte der anderen geplanten Romane alle in dieses Buch gegangen, und ich ließ sämtliche übrigen Entwürfe verächtlich liegen.« 22 Vgl. ZB 3. 23 Vgl. etwa ZB 5a, 17. August 1939. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der Roman über den Verschwender »zu großen Teilen« verwirklicht worden ist, wie Durzak: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 165), S. 197 behauptet. 24 Vgl. ZB 18, 27. März 1976: Canetti nennt den Todfreund in dieser Aufzeichnung Bend und den Todfeind Kant. Vgl. auch eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1943. Darin heißt es: »Seit vielen Jahren hat mich nichts so sehr bewegt und erfüllt wie der Gedanke des Todes. Das ganz konkrete und ernsthafte, das eingestandene Ziel meines Lebens ist die Erlangung der Unsterblichkeit für die Menschen. Es gab Zeiten, da ich dieses Ziel der zentralen Figur eines Romanes leihen wollte, die ich bei mir den ›Todfeind‹ nannte. Während dieses Krieges wurde es mir klar, daß man Überzeugungen von solcher Wichtigkeit, eigentlich eine Religion, unmittelbar und ohne Verkleidung aussprechen müsse.« (IV, S. 56)

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Gleich mehrmals erzählt Canetti von dieser Namengebung: sehr komprimiert in seinem Essay Das erste Buch. Die Blendung und ein wenig ausführlicher im zweiten Band seiner Autobiografie. Auch im Gespräch mit Manfred Durzak geht er auf sie ein.25 Diese Offenheit ist bemerkenswert, für Canetti sogar exzeptionell. Der Büchermensch ist die einzige Figur in seinem gesamten Œuvre, über deren Namengebung er sich geäußert hat, ein Faktum, das ihren Sonderstatus noch einmal unterstreicht. Da Canetti wie zum Ausgleich fast alle seine Entwürfe vernichtet hat, ist die Forschung auf diese Zeugnisse mehr denn je angewiesen. Die Benennung des Büchermenschen beendete nach Canettis Darstellung die Phase des ersten Jahres, die Zeit der ausschweifenden Entwürfe, des exzessiven Schreibens an acht Büchern zugleich, und leitete über zur nächsten Phase: der konzentrierten Niederschrift eines einzigen Romans. Diese Phase begann im Frühherbst 1930 (VI, S. 323 und 331) und dauerte kaum länger als ein Jahr; dann war der Roman fertig (VI, S. 327 und 333). Einige Bindeglieder zwischen diesen beiden Phasen, kurze Notizen, auf denen der Büchermensch bereits einen Namen trägt, sind erhalten; zwei davon seien zitiert. Die erste stammt aus dem Herbst 1930, sie spielt noch mit dem Gedanken, zwei der Figuren könnten sich begegnen: »R. besucht vielleicht den blinden Brand – (weil er von seiner Einsamkeit gehört hat).«26 Wenig später, im Dezember 1930, hat auch »R« sich ›aufgelöst‹, und Canetti bringt eine kurze Inhaltsangabe seines geplanten Romans zu Papier: Brand und die Verfolgung der chinesischen Kultur. Ein Unglück zu Hause – just die Chinesen fehlen. Der Bruder kommt mit einem Telegramm in der Hand, er verlässt ihn in der festen Überzeugung, einen Gesunden vor sich zu haben. Der Kampf zwischen Wissenschaft und Wahn. Von den Stärken eines Wahns, wie er die Wissenschaft überrumpelt. […]27

In Die Fackel im Ohr behauptet Canetti, er sei auf den Namen »Brand« durch eine Eingebung gekommen. Mehrmals habe er seinem an den Rollstuhl gefesselten Freund Thomas Marek berichtet, wie er den 15. Juli 1927 erlebt habe. Dabei habe er ihm auch von jenem Beamten erzählt, der im Angesicht des Grauens

|| 25 Die Welt ist nicht mehr so darzustellen wie in früheren Romanen. Gespräch mit Elias Canetti. In: Manfred Durzak: Gespräche über den Roman mit Joseph Breitbach u.a. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976 (suhrkamp taschenbuch; 318), S. 86–102, hier S. 94. 26 ZB 2. 27 ZB 2, Ende Dezember 1930.

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verzweifelt gerufen habe, als sei ihm das Schicksal der Menschen gleichgültig: »Die Akten verbrennen! Die ganzen Akten!« (VIII, S. 341; vgl. auch VI, S. 326) Da habe Marek gelacht und immer lauter gelacht, die »kräftigen Stöße« seines Lachens hätten sogar den Rollstuhl in Bewegung gebracht (VIII, S. 342). Dieses Detail ist wichtig, denn es stellt einen Zusammenhang zwischen einem äußeren und einem inneren Vorgang her. Mareks Bewegung, hervorgerufen durch die »treibende[] Kraft« seines Lachens, gibt auch Canetti einen Anstoß: den Anstoß zur Namengebung: In diesem Augenblick sah ich den ›Büchermenschen‹, eine der acht Figuren vor mir, an die Stelle des Akten-Jammerers sprang plötzlich er, er stand am Feuer des brennenden Justizpalastes, und es traf mich wie ein Blitz, daß er mit all seinen Büchern zusammen verbrennen müsse. ›Brand‹ murmelte ich, ›Brand‹. Thomas, als sein Wagen zum Stehen gekommen war und sein Lachen endlich aufhörte, wiederholte: ›Brand! Das muß ein Brand gewesen sein!‹ Er wußte nicht, daß das Wort jetzt für mich ein Name geworden war, der Namen [sic] ebendes Bücherhelden, der von nun an so hieß […]. (VIII, S. 342)28

»Brand« ist ein redender Name, der das Ende seines Trägers vorwegnimmt. Das entspricht Canettis selbstgesetzten Vorgaben: Er wollte in der »Comédie Humaine« nicht nur zeigen, wie Menschen und Verhaltensweisen ihm erschienen waren, sondern auch, was aus ihnen werden musste. Alles sollte ›weiterwachsen‹ gemäß seiner inneren Notwendigkeit – ein Gedanke, der an die Metapher vom Namen als einer Wurzel erinnert. Die konsequente Entwicklung der Figur bis zum Äußersten lag Canetti derart am Herzen, dass er mit dem Namen »Brand« sogar seinem ärgsten Feind Macht über die Figur gab: dem Tod. Zuvor, in der ersten Phase, hatte er das Ende der Figuren noch ausgeschlossen, sie sollten erhalten, ihr Schicksal für alles offen bleiben (Vgl. VIII, S. 301). Warum er sich dann anders entschieden hatte, konnte er später nicht mehr sagen, vor allem nicht, ob das »Schicksal« in den Namen »geraten« sei, wie er sich ausdrückte, oder ob erst der Name die Figur zur Verbrennung verurteilt habe.29 Beide Möglichkeiten setzen die magische Kongruenz von Name und Schicksal voraus. Und in beiden Fällen ist der Mensch nicht »Herr seines Schicksals« –

|| 28 Dieser Augenblick ist an zwei Stellen im Roman präsent. Zum einen hallt das Lachen Mareks im Lachen des Büchermenschen nach, der sich am Ende zusammen mit seinen Büchern verbrennt. Und auch die Akten tauchen im Roman auf. Bei der Trauung schaut der Büchermensch nicht auf seine Frau, nicht auf den Standesbeamten oder die Zeugen, sondern lediglich auf die Akten (I, S. 50). 29 ZB 223, Frühere Fassung von »Kant fängt Feuer«.

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was Canettis Büchermensch nicht wahrhaben will (I, S. 57).30 Doch indem er sich und seine Bücher den Flammen preisgibt, verwirklicht er keineswegs einen eigenen Entschluss, sondern sein vorgegebenes Schicksal. Nur im zweiten Fall jedoch hat der Name von Anfang an Macht über seinen Träger. Wenn wir nach dem Datum dieses werkgenetisch entscheidenden Augenblicks fragen, so finden wir im Nachlass keinen Hinweis auf Tag und Stunde, wohl aber eine aufschlussreiche Notiz. Dort heißt es: »Büchermensch: Brand von Alexandria. (Irrsinn im Tod)«31 Diese Notiz aus dem Mai 1930 ist deshalb so aufschlussreich, weil sie uns verrät, dass die Verknüpfung zwischen den beiden zentralen Motiven32: der Büchersucht und dem Feuer, zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen ist. Die Figur heißt indes noch immer »Büchermensch«. Diese Tatsache spricht dafür, dass das Schicksal in den Namen »geraten« ist, der als Appellativ schon präsent ist. Dieser Befund wirft neues Licht auf die Autobiografie. Da Canetti Thomas Marek erst ab Mai 1930 regelmäßig besuchte (VIII, S. 339), müsste das Gespräch am Anfang ihrer Freundschaft stattgefunden haben. Canetti, der poeta doctus, hätte anschließend gleich nach intertextuellen Bezügen gesucht und sie, wie die Notiz belegen würde, bald gefunden. Es wäre allerdings auch möglich, dass die Notiz dem Gespräch vorausging. In diesem Fall hätte Canetti den Büchermenschen assoziativ mit dem berühmtesten aller Bibliotheksbrände in Verbindung gebracht, ihn vielleicht sogar zum Flammentod verurteilt, ehe er Marek von seinen Erlebnissen am 15. Juli und dem jammernden Beamten berichtete. Die Reaktion seines Freundes hätte seine Idee dann nur bestärkt. Die Verwendung des Appellativs zusammen mit der Bezeichnung »Büchermensch« in der überlieferten Notiz stützt eher die zweite Hypothese, ebenso wie die Entwürfe zu Die Fackel im Ohr. Dort nämlich lesen wir, dass Canetti erst im Juni 1930, nach sechs Begegnungen mit Marek, einen längeren Eintrag über ihn in sein Tagebuch geschrieben hat – und den nächsten im August, einige Zeit bevor er sich auf die Figur des Büchermenschen fokussierte33. Dass Canetti zu Marek im

|| 30 Der Büchermensch hat eine ambivalente Beziehung zum Schicksal, die sich je nach seinen Bedürfnissen verändert. Während des Verhörs behauptet er z.B., überhaupt nicht ans Schicksal zu glauben (I, S. 346). 31 ZB 2. 32 Vgl. VI, S. 323: »Drum hieß er Brand, und so waren die beiden frühesten Bezeichnungen für ihn, ›Büchermensch‹ und ›Brand‹, das einzige, was von allem Anfang an über ihn selber feststand.« 33 Vgl. ZB 59, 21. Februar 1979. Im Gespräch mit Horst Bienek datiert Canetti diese Entscheidung allerdings, recht allgemein, auf den Sommer 1930. Vgl. X, S. 165. Diese Datierung spricht für die hier entwickelte These (Namensgebung im August), sofern man annimmt, dass Canetti

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Mai 1930, nach wenigen Begegnungen, über sein prägendstes Massenerlebnis gesprochen hat, ist möglich, aber nicht allzu wahrscheinlich, vor allem, wenn man bedenkt, dass er den ersten Gesprächen nur eine summarische Notiz gewidmet hat. Bei derzeitigem Kenntnisstand ist es deshalb am plausibelsten anzunehmen, dass Canetti dem Büchermenschen erst im August den Namen »Brand« gegeben hat. Selbst in diesem Fall dauerte es bis zum Beginn der zusammenhängenden Niederschrift noch einige Wochen. Ein unmittelbarer Konnex zwischen der Namengebung und der Konzentration auf den Büchermenschen, eine unverzügliche Verdrängung der übrigen Figuren, ist demnach auszuschließen – was auch der vorgestellte Besuch R.s bei Brand belegt. Es scheint, als habe Canetti, vermutlich um des Effektes willen, einen längeren Zeitraum zu einem einzigen Augenblick komprimiert. Es ist ein Augenblick, in dem die »disparaten Elemente«, die verstreut herumliegen, wie es in der Rede zur Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises heißt, »plötzlich zu einem unsichtbaren Kristall zusammenschießen« (X, S. 67). In Die Fackel im Ohr schildert Canetti mehrere solcher Augenblicke. Die These vom Widerstreit zwischen Massen- und Persönlichkeitstrieb führt er ebenfalls auf einen Geistesblitz zurück. Und auch dabei spielt das Motiv der Bewegung – Canetti stolpert immer wieder – eine zentrale Rolle (VIII, S. 119f.). Wenn man zudem berücksichtigt, dass Canetti vor Marek bewusst stolpert, um seine physische Überlegenheit zu vermindern, mit einem Wort, seine Macht, dann wird klar, dass die Stöße des Lachens die äußere Entsprechung einer inneren Bemächtigung sind: Beide, Marek und er, sind nicht mehr Herren ihrer selbst. Eine ähnliche Bemächtigung beschreibt Canetti kurz zuvor: Nach seinem Berliner Aufenthalt wollte er sich an das ruhigere Leben in Wien gewöhnen und nahm sich deshalb vor, zu einem »gehende[n] Wesen der Vorzeit« zu werden, »das vor nichts davonrennt, in nichts hineinrennt, nicht ausweicht, nicht stolpert, nicht anstößt, nicht drängt«. Doch die Figuren aus der Berliner Zeit ließen sich nicht verdrängen, sie waren plötzlich da und ergriffen ihn: »[…] ein Schlag auf die Augen, ein Stein auf den Kopf, unabweisbar, denn er kam von innen.« Aus diesen ›Überfällen‹ entstanden Sätze, Episoden, Literatur, »[…] was in der Bewegung passiert war, setzte sich um in geschriebene Worte.« (Alle Zitate VIII, S. 298) Von hier aus lässt sich erst wirklich ermessen, wie viel Canetti dem Zauber des Namens verdankte: Auch wenn die anderen Figuren noch eine Weile in seinem Kopf blieben, hätte er sich ohne den Namen »Brand« niemals dauerhaft

|| die Benennung und den Beginn des Romans aus der Rückschau miteinander assoziiert hat. Für die These spricht aber auch, dass Canetti seine Figur noch im Juni/Juli 1930 Büchermensch nennt. Vgl. ZB 2.

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auf eine einzige Figur fokussieren können. Doch die Wirkung des Zaubers war abhängig von Erfahrungen, Studien, bisherigen Entwürfen und Plänen. Die oben skizzierte Alternative greift darum zu kurz: Die Namengebung brauchte eine Vorbereitung34 ebenso wie eine Eingebung; sie wurde erarbeitet und geschenkt. Obwohl der Büchermensch nach kurzer Zeit wieder anders hieß, sind in Die Blendung mehrere Anspielungen auf seinen ursprünglichen Namen erhalten. So werden einige berühmte Brände (Brand von Alexandria, Bücherverbrennung unter Kaiser Shi-Hoang-Ti und Minister Li-Si, Brand Roms) erwähnt, vor allem im Kapitel »Mobilmachung« (I, S. 94f.)35, ebenso ein Holzschnitt aus dem Mittelalter, der die Verbrennung von dreißig Juden zeigt, Michelangelos »Jüngstes Gericht« (I, S. 41) und – in einem Traum des Büchermenschen – der Krater des Vesuv (I, S. 153). Auch Vulkan und Prometheus, Zoroaster und besonders der Teufel spielen eine zumeist aber marginale Rolle (I, S. 94 und 270: »Torteufel[]«, S. 418 und 447).36 Auffällig ist schließlich die Häufung und grafische Hervorhebung von Wörtern wie »brennen«, »schwelen«, »Feuer«, »Feuerfrass«, »Feuertod«, »Feuersnot«, »Feuersbrunst« und »Brand« im letzten Kapitel des Romans »Der rote Hahn«37. Die Angst des Büchermenschen vor einem Brand der eigenen Bibliothek oder (im zweiten Teil) vor einem Brand des mit Büchern vollgestopf-

|| 34 Das galt bei Canetti auch für wichtige Beziehungen, ihnen ging eine längere Periode der Bekanntschaft voraus: »So war es bei Veza – vom April 1924 bis zum September 1925 war ich in Abwehr gegen sie, obschon ich mehr und mehr mit ihr beschäftigt war. So geschah es mit Patek, hier gingen drei Jahre der Freundschaft voraus. So war es mit Dr. Sonne, den ich lange im Café Museum betrachtete, bevor ich überhaupt wusste, wer er war. So ging es – viel später – mit Hera, die ich 1957 kennen lernte, gleich sehr mochte, ohne mich vor dem Sommer 1961 zu erklären, also wieder drei Jahre.« (ZB 59, 21. Februar 1979) 35 Manfred Moser: Die Blendung (wie Anm. 17), S. 85 sieht im Kapitel »Mobilmachung« zusammen mit »Liebste Gnädigste« und »Der Tod« das »Schwerezentrum« des ersten Teils. 36 Beide repräsentieren im Roman den Typus des Erniedrigten und Beleidigten. Hephaistos wird von seiner eigenen Ehefrau betrogen, Fischerle bezeichnet Krüppel, einmal auch die Polizei, als »arme Teufel« (I, S. 222 und 365). Diese Bezeichnung, die auch in Die Befristeten Verachtung ausdrückt (II, S. 183), ist Teil seiner Täuschungsstrategie. Einerseits dient sie Fischerle dazu, andere Menschen abzuwerten. Dadurch dass er gelegentlich auch sich selbst als »armen Teufel« bezeichnet (z.B. I, S. 231), versucht er aber andererseits Mitleid zu erregen und sein Gegenüber zu manipulieren. Der Teufel kann allerdings auch für das Gegenteil stehen, so wie der »Machtteufel« Shi-Hoang-Ti, der 213 v. Chr., beeinflusst von seinem »noch weit teuflischeren Berater[]« Li-Si, die große Bücherverbrennung angeordnet hat (vgl. I, S. 94). 37 Der »rote Hahn« ist ein Symbol des Feuers. Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 68; Roger Hillman: Der Wiener Karneval – Elias Canettis Die Blendung. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Experte der Macht (wie Einleitung, Anm. 81), S. 91–101, hier S. 99.

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ten Theresianum (I, S. 225) verkehrt sich hier in ihr Gegenteil. Selbst einen Kalauer hat Canetti bei der Überarbeitung nicht gestrichen: Vor seinen Büchern hält der Büchermensch eine engagierte Rede; es ist eine »Brandrede« (I, S. 98).38 Trotz solcher Verweismöglichkeiten ist der Name »Brand« von Anfang an mit einem Makel behaftet. Sein »Flackern« (VIII, S. 344) passt nicht zu einer Pedanten-Figur, die selbst der eigene Bruder als »trockenen Fisch« bezeichnet (I, S. 489). Wie Canetti versichert, habe dieser Gegensatz ihn allerdings nicht gestört. Das ist auch kaum verwunderlich, gebrauchte er doch wenig später, in seinem Drama Hochzeit, ganz selbstverständlich paradoxe Namen. Dennoch musste er sich fragen, ob ein zugleich richtiger und paradoxer Name seinen Absichten in diesem Roman gerecht würde. Wir wissen nicht, ob er sich in dieser frühen Phase darüber den Kopf zerbrochen hat. Sicher ist hingegen, dass er aus einem anderen Grund unter dem Namen zu ›leiden‹ begann. Nachdem die sieben übrigen Figuren der »Comédie Humaine« sich aufgelöst hatten, wurde der Zauber des Namens nur noch stärker und beschränkte die Einbildungskraft mehr, als es dem Schreiben dienlich war: »[…] aber als die Eigenschaften alle hart und unverrückbar da waren, begann der Name auf Kosten der Figur sich auszubreiten.« (VIII, S. 344) Im dialektischen Gegensatz zu dieser Ausbreitung erweist sich der Name inhaltlich jedoch bald als zu begrenzt: Immerhin begann mich der Name Brand während der Niederschrift des Romans zu beengen. Es geschah noch so viel, und das Ende, an das man gar nicht denken sollte, schien in diesem Namen überdeutlich. (VI, S. 326f.)

Der Vorteil ist zum Nachteil geworden. Indem der Name »Brand« den Dichter stets ans Ende denken lässt, treibt er die Figur auf direktem Wege ins Feuer. Dadurch entwertet er die Geschichte des Büchermenschen, seine Odyssee aus der Gelehrtenstube in den Dschungel der Welt und wieder zurück. Die Grenze ist zu eng gezogen; anders als die Bezeichnungen lässt sie kaum Platz für Sprünge und Überraschungen, fürs Erzählen. Der Name »Brand« hätte insofern besser zu einer Dramenfigur gepasst, die nur in wenigen Szenen auftritt; er passt aber nicht zu einer Figur, die im Mittelpunkt eines dreiteiligen Romans mit über fünfhundert gedruckten Seiten steht.

|| 38 Ob der Name auf Ibsens Brand (1866) anspielt, ein Buch über einen religiösen Ideologen, wie Friedhelm Aspetsberger: Weltmeister der Verachtung. Zur Blendung. In: Ders. und Stieg (Hg.): Blendung als Lebensform (wie Einleitung, Anm. 140), S. 101–125, hier S. 104 und Strucken: Masse und Macht im fiktionalen Werk von Elias Canetti (wie Kapitel B2, Anm. 21), S. 167 behaupten, ist zweifelhaft. Denn es gibt keinen Hinweis darauf, dass Canetti das Buch kannte und sogar gelesen hatte.

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Ein neuer Name musste also her, und Canetti hat ihn schnell gefunden.39 Es handelt sich um einen verkörperten Namen (»embodied proper name«)40: den Namen des Philosophen Kant. Der Roman, unter dem Titel »Brand« begonnen, hieß nun vier Jahre lang bis kurz vor seiner Drucklegung »Kant fängt Feuer« (VI, S. 323). Dieser unglückliche und zu Recht verworfene Titel41 zeigt, dass Canetti das Ende noch immer wichtig war. Mit dem Namen »Kant« wollte er es aber relativieren, der Figur mehr Raum verschaffen.42 Freilich ist dieser Namenswechsel nur dann sinnvoll und nicht vielmehr naiv, wenn Canetti seine Leser dazu ermutigen wollte, den Büchermenschen mit dem Königsberger Philosophen zu vergleichen: mit seinen Eigenschaften und Absichten, seinen Gedanken und Taten. Deshalb ist zu fragen, welche »Kontiguitätsassoziationen«43 zum historischen Kant sich bei der Lektüre des Romans einstellen (sollen). Da Canetti den Namen während des gesamten Schreibprozesses beibehalten hat, ist die Arbeit mit dem heute vorliegenden Text methodisch legitim.

6.1.2 Canettis Kant und die Transzendentalphilosophie Dieter Dissinger, einer der kundigsten Erforscher der Blendung, hat vor über vierzig Jahren behauptet, der Büchermensch sei eine »einseitige und bösartige || 39 Da Kant mit der Abhandlung »De igne« (1755) promoviert wurde, ist das Feuer ein tertium comparationis zwischen den beiden Namen »Brand« und »Kant«. Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 128. 40 Zur Terminologie siehe Alan Gardiner: The Theory of Proper Names. A Controversial Essay. 2nd Edition, London, New York und Toronto: Oxford University Press 1954, S. 9. Vgl. auch Gutschmidt: Eigennamen in der Literatur (wie Einleitung, Anm. 93), S. 30; Birus: Poetische Namengebung (wie Einleitung, Anm. 106), S. 35. 41 Anderer Meinung ist Jean Améry: »Hätte ich zu verfügen, ich würde der ›Blendung‹ ihren ursprünglichen Namen zurückgeben und würde den Sinologen, Professor Kien, guten Gewissens wiederum mit Kant ansprechen, denn ein ›Kopf ohne Welt‹ war wohl auch der kleine Herr aus Königsberg, der die Metaphysik in ihre Schranken weisen wollte und ihr dennoch nicht unwiderruflich die Gefolgschaft aufkündigte.« Zitiert nach: Begegnungen mit Elias Canetti. In: Merkur 28 (1973), H. 3, S. 292–295, hier S. 292. In seiner Darstellung bezeichnet E. A. Ch. Wasianski Kant tatsächlich als »ganz Kopf«. Siehe Siegfried Drescher (Hg.): Wer war Kant? Drei zeitgenössische Biographien von Ludwig Ernst Borowski, Reinhold Bernhard Jachmann und E. A. Ch. Wasianski. Pfullingen: Neske 1974, S. 236. 42 Der Name ließe sich auch auf das englische »cant« beziehen; er würde dann noch immer die Selbsttäuschung beinhalten. Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 130. 43 Hendrik Birus: Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (1987), H. 67: Namen, S. 38–51, hier S. 45.

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Karikatur Kants«.44 Leider ist die Forschung dieser These bisher kaum gründlich nachgegangen – wenn man von Katrin Schneiders (im Einzelnen problematischer) Dissertation absieht.45 Das ist seltsam; denn etliche Stellen weisen explizit auf den berühmten Philosophen hin. Da ist etwa Georgs Bemerkung, der Bruder glaube nur an den kategorischen Imperativ und nicht an Gott (I, S. 487). Oder da ist die Stelle, wo der Büchermensch einem mittellosen Studenten eine Schiller-Ausgabe abkauft, damit sie nicht ins Pfandhaus gelange, und ihm zum Abschied nachruft: »›Warum gerade Schiller? Lesen Sie doch das Original! Lesen Sie Immanuel Kant!‹« Der Student antwortet grinsend, sodass er allein es hören kann: »›Selber Original‹« (I, S. 234). Das ist richtig und falsch zugleich: Natürlich ist der Büchermensch nicht das Original, aber wie wir sehen werden, ähnelt er Kant, ohne dabei eine bloße Kopie zu sein. Damit nicht genug: Sogar Kant kommt in Canettis Roman zu einem (satirischen) Auftritt. Als der Büchermensch die Bibliothek für den Krieg zu rüsten beginnt, äußert neben anderen Philosophen auch er seine Bedenken; er tritt, so heißt es wörtlich, »[…] kategorischer als bei Lebzeiten für einen Ewigen Frieden ein.« (I, S. 100) Doch seine Stimme existiert nur im Kopf des Büchermenschen, eine verrückte Sinnestäuschung. Diese Stellen deuten darauf hin, dass sich Canetti in seinem Roman eines schematischen Kant-Bildes bedient. Wieder scheint er eine komplexe Philosophie auf Spielkartengröße zu verkleinern: auf einige geflügelte Worte, die im

|| 44 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 128. Karl Markus Michel spricht in seinem Aufsatz: Der Intellektuelle und die Masse. Zu zwei Büchern von Elias Canetti. In: Neue Rundschau 75 (1964), H. 2, S. 308–316, hier S. 310 etwas allgemeiner von einer »konventionelle[n] Gelehrtenkarikatur«. Auch Maria Cristina Puricelli interpretiert den Büchermenschen als Kant-Karikatur, wobei sie sich vor allem auf die Ethik konzentriert. Vgl. Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz (wie Einleitung, Anm. 140), S. 34–39 und 127–150. 45 Katrin Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod«. Elias Canettis Die Blendung und die abendländische Philosophie. Heidelberg: Winter 2010, S. 259–275. Eine der wenigen weiteren Ausnahmen ist der Aufsatz von Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Anm. 17), S. 12, wo es freilich recht lapidar heißt: »Gemeinsam ist ihnen [Kien und Kant – A.S.] dieselbe verhuschte, graue Gestalt, beide sind nur noch die Schatten eines Körpers, beide erlegen sich eine strenge Tagesordnung auf, die ganz auf die Erfordernisse der intellektuellen Tätigkeit abgestimmt ist, und verkörpern darin den asketischen Gelehrten.« Auf die biografische Parallele beschränkt sich Christine Meyer: Comme un autre Don Quichotte. Intertextualités chez Canetti. Lyon: ENS 2001, S. 45. Den Spuren Kants in Die Blendung geht auch Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 33–40 nach.

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kollektiven Gedächtnis unter dem Namen »Kant« gespeichert sind.46 Mit den Schlagworten »Kategorischer Imperativ« und »ewiger Frieden« zitiert er dabei zwei Begriffe, die nicht auf den »eleganten Magister« der frühen Zeit zurückgehen, sondern auf den Kant der Kritischen Periode, einen Mann, der fast zwanzig Jahre älter ist als der Büchermensch. Canetti trägt auf diese Weise der größeren philosophiegeschichtlichen Bedeutung Kants nach 1781 Rechnung. Und er stellt sich in die Reihe derer, die zur Durchsetzung eben jenes schematischen KantBildes beigetragen haben, das er seinem Roman an vielen Stellen zugrunde legt. Dieses Bild, mehr Zerrbild als Porträt, besteht aus wenigen, zumeist biografischen Versatzstücken, eine Collage, die uns niemand anderen zeigt als den älteren, bereits greisen Kant. Das ist in erster Linie ein Tribut an die Quellen. Denn Kants zeitgenössische Biografen Borowski, Jachmann und Wasianski konzentrierten sich in ihren Werken auf die letzten zwanzig Jahre im Leben des Philosophen, über die sechzig Jahre davor berichten sie wenig, fast nichts.47 Eine Sammeledition dieser drei Schriften, herausgegeben von Siegfried Drescher, befindet sich in Canettis Bibliothek (CAN 15796), sie stammt allerdings aus dem Jahr 1974.48 Ob Canetti die Biografien in der Edition von Felix Groß aus dem Jahr 1912 für seinen Roman konsultierte, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, obschon es doch wahrscheinlich ist.49 Vielleicht hatte er seine Kenntnisse zum Teil aber auch aus Kuno Fischers Immanuel Kant und seine Lehre50. In der Auflage von 1882 steht es bis heute in seiner Bibliothek, wenn|| 46 Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 271 spricht von der Reduktion auf einen »verstümmelten Kern«. 47 Vgl. Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. 5. Auflage, München: Beck 2004, S. 23. Vgl. dazu auch Otfried Höffe: Immanuel Kant. 7., überarbeitete Auflage, München: Beck 2007 (Beck'sche Reihe; 506: Denker), S. 20f. Höffe sieht »[…] die Gefahr, die Persönlichkeit Kants zu stark vom Alter her und dessen Hang zu Starre und Pedanterie zu beschreiben.« 48 Canetti zitiert in den Aufzeichnungen des Jahres 1982 aus Wasianskis Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren (vgl. IV, S. 490). 49 Der satirische Effekt der Bemerkung des Studenten: »›Selber Original‹« entfaltet seine volle Bedeutung erst, wenn man weiß, dass Jachmann Kant als »originelle[n] Denker« im eigentlichsten Sinn des Wortes bezeichnet. Auch die Angewohnheit des Büchermenschen, ganze Passagen aus dem Gedächtnis zu zitieren, korrespondiert mit dem Kant-Porträt Jachmanns, der dem Philosophen ein »seltenes Sach- und Wortgedächtnis« attestiert. Vgl. Drescher (Hg.): Wer war Kant?, S. 141 und 139. 50 Vgl. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 260, Anm. 46. Bei Schneider fallen einige Ungereimtheiten auf. Zunächst ordnet sie Fischers Kant-Buch der »Zeit der Jahrhundertwende« zu; in einer anderen Anmerkung heißt es nur wenig später, Canetti habe sich das Buch in der Ausgabe von 1882 gekauft. Diese Ungereimtheiten lassen sich schnell erklären: Schneider zitiert nicht aus Fischers Immanuel Kant und seine Lehre,

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gleich ohne Anstreichungen oder Notizen (CAN 06189 und 06190).51 Aus dem Nachlass wissen wir schließlich, dass Canetti während seines Studiums u.a. Wilhelm Windelbands und Karl Vorländers zweibändige Philosophiegeschichten gelesen hat.52 Da sowohl Fischer als auch Windelband und Vorländer den Neukantianern zuzurechnen sind, ist anzunehmen, dass Canetti Kants Denken nicht zuletzt aus dem Blickwinkel einer philosophischen Richtung wahrgenommen hat, die sich, bei allen Unterschieden, die Parole »Zurück zu Kant« auf die Fahnen geschrieben hatte. Anders als bei seinen Biografen und Verehrern, anders auch als bei Windelband und Fischer, erscheint Kant bei einem seiner Zeitgenossen als ein gelehrter Sonderling mit komischen Marotten. Es ist Theodor Hippel. Mit dem zweiten Band seiner Lebensläufe nach aufsteigender Linie (1779) beginnt eine gleichsam subversive biografische Tradition. Hier begegnet Kant uns als »Großvater Professor«, eine liebenswert-lächerliche Figur.53 Geistreicher äußert sich eine Generation später Heinrich Heine über den berühmten Königsberger Philosophen. Seine Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ist heute wesentlich bekannter als Hippels Skandalwerk. Auch Canetti könnte sie gelesen haben, eher jedenfalls als Hippels Lebensläufe; denn Heine zählte zu Vezas Lieblingsautoren.

|| sondern aus der 2. Auflage eines anderen Buches desselben Autors, nämlich Kant's Leben und die Grundlagen seiner Werke (1906). Wir wissen nicht, ob Canetti dieses Buch kannte; besessen hat er es jedenfalls nicht. 51 Kuno Fischer: Immanuel Kant und seine Lehre. 3., neu bearbeitete Auflage, München: Bassermann 1882 (1. Theil); Heidelberg: Winter 1889 (2. Theil) (Geschichte der neuern Philosophie; 3+4). 52 Wilhelm Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften. 2 Bde. 5., durchgesehene Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1911. Die beiden Bände stehen in der 6., unveränderten Auflage von 1919 in Canettis Bibliothek (CAN 06194 und 06195); allerdings ist nur der erste Band mit Anmerkungen versehen. Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. 2 Bde. 5. Auflage, Leipzig: Meiner 1919. Das Buch findet sich im Katalog der Züricher Canetti-Bibliothek nicht verzeichnet. Zu Canettis Lektüre während des Studiums, zu der auch die ebenfalls zweibändige Philosophiegeschichte von Julius Bergmann gehörte, vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 116. Hinzu kommt, dass Karl Kraus ein »begeisterter Kantianer« mit einer besonderen Vorliebe für Kants ethischen Imperativ war. Vgl. Puricelli: Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz (wie Einleitung, Anm. 140), S. 28. 53 Dazu Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 274.

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Im dritten Buch seiner Schrift behauptet Heine, Kant habe im »höchsten Grade« den »Typus des Spießbürgertums«54 verkörpert. Sein äußeres Leben habe in einem eigenartigen Kontrast gestanden zu seinen »zerstörenden, weltzermalmenden Gedanken«55 auf dem Felde der Vernunftkritik. Dieser Befund ist zum Topos der Kant-Forschung geworden. Eine ähnliche Diskrepanz macht auch Canettis Büchermenschen aus: Als eine der Koryphäen auf seinem Gebiet führt er ein ereignisarmes Leben, gewidmet den Büchern, dem Schreiben und der Wissenschaft. Dabei geht es ihm aber nicht um Zerstörung und Zermalmung, sondern um Komposition, die Wiederherstellung eines alten, verderbten Textes, seine Form von Kritik56. Diese höchst spezialisierte Tätigkeit zeigt, wie sehr der Büchermensch dem ›normalen‹ Leben entfremdet ist. Er ist ein Elfenbeinturmbewohner, der nichts von den Herausforderungen weiß, die die zerfallende Welt gerade ihm, dem Wissenschaftler, stellt. Verantwortlich für diese (exklusive) Weltfremdheit ist nicht zuletzt sein Arbeitsgebiet, die Sinologie, eine »abgelegene Wissenschaft« (I, S. 11)57. Sie erinnert zugleich an den historischen Kant, den Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse abschätzig den »Chinese[n] von Königsberg«58 genannt hatte. Das ist reine Polemik. Obwohl Kant in seinem Leben kaum über die Grenzen Königsbergs hinausgekommen, geschweige denn je nach China gereist ist, besaß er profunde Kenntnisse über Land und Leute. Sie stammten aus Büchern, wahrscheinlich aus den verfälschenden Berichten der Jesuiten, wirkten aber so lebendig, dass Kant von einem seiner Gäste gefragt || 54 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. 3. Band. Hg. von Karl Pörnbacher. München: Hanser 1971, S. 505–641, hier S. 595. 55 Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 40: »Kaum ist je unter einem so weithin leuchtenden Namen ein so stilles und einfaches Leben geführt worden.« 56 Vgl. Jean Grondin: Immanuel Kant zur Einführung. 5., korrigierte Auflage, Hamburg: Junius 2013, S. 20. Bei Kant wirkte noch die Bedeutung nach, die der Begriff »Kritik« seit der Renaissance besaß (Erstellung, Edition und Berichtigung alter Schriften). 57 Vgl. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 248. Vgl. auch Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 51: »philologische Exklusivität« der chinesischen Sprache und Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 30: Liebe zu China als »psychopathologisches Symptom für seine [Kiens – A.S.] problematische Einstellung gegenüber dem Leben und der Welt«. In einer späten Aufzeichnung über Kant aus dem Jahr 1993 betont Canetti Kants Willen zur Absonderung: »Es ist viel Ordnung in Kant, viel private Sitte, die sich der größeren der Allgemeinheit nicht widersetzt, aber hartnäckig von ihr absondert.« (V, S. 454) Als Spezialist verstößt Canettis Kant aber gerade gegen die chinesische Tradition, in der die Abneigung gegen das Spezialistentum weit verbreitet ist (Vgl. X, S. 262). 58 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (wie Kapitel A6, Anm. 3), S. 144.

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wurde, wann er in China gewesen sei.59 Auch Canettis Kant bezieht sein Wissen aus Büchern – und zwar so ausschließlich, dass er gurrende Tauben, in allerdings nicht Kantischer, sondern (parodierter) platonischer Manier60, mit ihrem »Urbild im Druck« vergleicht. Selbst den Wohlgeruch der Rosen vermeint er, aus persischen Liebesgedichten zu kennen (I, S. 129 und 269). Vor Jahren hatte er, der zweite Kant, zudem eine Abhandlung über Arbeit und Pflicht bei Kant und Konfuzius geschrieben (I, S. 469).61 Der unbedingte Einsatz für die Wissenschaft und die Leidenschaft für China sind nicht die einzigen Parallelen zwischen Kant, dem Büchermenschen, und Kant, dem Philosophen. Wir werden im Folgenden auf verschiedene Parallelen eingehen, sowohl auf Parallelen in Charakter und Alltagsleben als auch auf Parallelen in den philosophischen Überzeugungen. Beides ist in Die Blendung vermischt. Gleichzeitig haben wir auf Widersprüche zwischen den beiden Kants zu achten und gegebenenfalls ihre Funktion zu klären. Dabei wird sich zeigen, dass die Bezüge zwischen den beiden Kants keineswegs so unbedeutend sind, wie William Collins Donahue in seinem Buch über Die Blendung behauptet62. Zu den unverzichtbaren Bestandteilen jeder Kant-Karikatur gehört der Hinweis auf die mathematisch-genaue Tageseinteilung des Philosophen.63 Wie so oft bei Kant steht dahinter eine Maxime, nämlich sich niemals zu verspäten. Auch diese Maxime hat Kant erst im Alter gefasst; vermutlich, so sein moderner Biograf Manfred Kühn, hat er sie von seinem Freund Green übernommen.64 || 59 Vgl. Immanuel Kant in Rede und Gespräch. Hg. und eingeleitet von Rudolf Malter. Hamburg: Meiner 1990 (Philosophische Bibliothek; 329), S. 465. Zur China-Schwärmerei in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. die konzentrierten Ausführungen bei Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 249f. Zu Kants fehlender Reiselust siehe auch Windelband: Geschichte der neueren Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 11. Es sei hier allerdings auf eine Stelle hingewiesen, an der Jachmann Kant als das Gegenteil eines Gelehrten darstellt, der sich nur für Bücher interessiert: »Mehr aber als der tote Buchstabe, war der lebende Mensch ein Gegenstand seines sorgfältigen Studiums. Sein Wissen war nicht bloß eine Büchergelehrsamkeit, sondern es war aus dem Leben selbst geschöpft.« Zitiert nach Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 149. 60 Zur Platon-Rezeption in Die Blendung vgl. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 103–143. Sehr instruktiv ist Konrad Kirsch: Zwei Blendungen in der Blendung: Canetti, Platon und Sophokles. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 549–573. 61 Zu Kant vgl. Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 158f.: »Ihn [Kant – A.S.], der eine uneingeschränkte Herrschaft über seine Neigungen und Triebe ausübte, konnte nichts in der Welt von seiner erkannten Pflicht abwendig machen.« 62 Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 97. 63 Vgl, dazu Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 95. 64 Vgl. dazu etwa die Schilderung Borowskis: »Bei denen [,] die K. achten sollte, forderte er auch Pünktlichkeit, genaues Worthalten, auf die Stunde und den Augenblick, für welche man

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Dennoch hielten die Nachgeborenen, unter ihnen vor allem Kuno Fischer65, sie für den hervorstechendsten Charakterzug des Philosophen, sein Unverwechselbares. Noch heute wird gerne kolportiert, Kant sei so pünktlich gewesen, dass die Königsberger ihre Uhren nach ihm hätten stellen können. Heine hat Kants vielleicht bekannteste Maxime benutzt, um mit geringem Aufwand das Bild eines skurrilen Junggesellen, gar eines menschlichen Automaten, zu entwerfen: Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben, in einem stillen, abgelegenen Gäßchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, daß die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte, wie ihr Landmann Immanuel Kant. Aufstehn, Kaffeetrinken, Schreiben, Kollegienlesen, Essen, Spazierengehn, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbaren wußten ganz genau, daß die Glocke halb vier sei, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustüre trat, und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt.66

Auch Canettis Kant hat seinen Tag genau strukturiert67, und auch er geht einmal am Tag spazieren. Sechs Uhr aufstehen, waschen und einige Bücher aus der Bibliothek für den Spaziergang zusammensuchen, von sieben bis acht der Spaziergang selbst, dann bis zwölf Uhr nachts die Arbeit an den Texten, jeden Tag zur selben Zeit (dreizehn und neunzehn Uhr) unterbrochen von einem Mittag- und einem Abendessen (I, S. 68 und 27: »Das Essen war immer pünktlich fertig.«). Die Pünktlichkeit68, eine ausgesprochen bizarre Form von Herrschaft

|| sein Wort gegeben hatte.« Zitiert nach Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 78. Zu Kant und Green vgl. Kühn: Kant, S. 186: Für Hippels Der Mann nach der Uhr war vermutlich Green das Vorbild. Zur Kritik am Kant-Klischee vgl. ebd., S. 29: »Alle Behauptungen über die fast mechanische Regelmäßigkeit, die Kants Leben beherrschte […], registrieren in Wirklichkeit mehr die Zeichen seines fortgeschrittenen Alters und das Nachlassen seiner Kräfte, als daß sie den Charakter des Menschen enthüllen, der die Werke konzipierte und schrieb, für die er heute bekannt ist.« Bei Kant bewirkte die ungestörte Regelmäßigkeit des Tagesablaufs eine Steigerung der Produktivität. Von Canettis Kant heißt es, seine Arbeit erlaube ihm »keine Abschweifungen« (I, S. 10). 65 Vgl. dazu Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 261. 66 Vgl. Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (wie Anm. 54), S. 594f. 67 Kant stand bereits um 5 Uhr morgens auf und behielt sich den Spaziergang für den frühen Nachmittag vor. Vgl. Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 447–449. 68 Vgl. dazu auch I, S. 120: »Was die Pünktlichkeit betraf, war er [Pfaff – A.S.] mit dem Herrn Professor ein Herz und eine Seele.«

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über die Zeit69, offenbart zum einen, wie sehr der Büchermensch von der Macht besessen ist. Das »Zeitnetz«, so Canetti in einem »Versuch über Masse und Macht«, sei ein »[…] Machtnetz. Pünktliche Völker sind Völker, denen es um Macht besonders zu tun ist. Die Uhr ist eine Hierarchie von zeitlichen Befehlen. Menschen, die genau nach der Uhr leben, sind, ohne sich dessen bewusst zu sein, von Befehlen völlig zerschnitten.«70 Wenn man Hartmut und Gernot Böhme glaubt, dann schützt die präzise Zeiteinteilung zum anderen aber vor dem »Überwältigtwerden durch mächtige sinnliche Antriebe«71. Die Pünktlichkeit des Büchermenschen ist eine Art Gegenmacht gegen das Chaos, die eigenen unsteten Neigungen, und sogar mehr als eine Maxime. Canettis Kant glaubt nämlich fest daran, dass er einen »Uhrzeiger in seinem Hirn« habe (I, S. 166f. und 172). Wie zur Bestätigung dieser kühnen These erhebt er sich nach seinem Krankenlager pünktlich wie immer morgens um sechs, und zwar, ohne davor auf irgendeine Uhr geschaut zu haben (I, S. 124). Damit gleicht Canettis Kant, dem Unpünktlichkeit »Brechreiz« verursacht (I, S. 21), auf verblüffende Weise Heines Karikatur – ja er übertrifft sie sogar: Der Büchermensch wirkt wie eine leibhaftige Uhr, ein lebendiger Präzisionsapparat. Daher wundert es nicht, dass er, ein Un-Mensch wie so viele Figuren Canettis, anstelle eines Mundes über einen »Automatenschlitz« verfügt (I, S. 188). In Canettis Roman tauchen Uhren leitmotivisch immer wieder auf. Bereits im ersten Kapitel orientiert sich der neunjährige Franz Metzger an der »ungeheure[n] Uhr« über dem Laden eines Uhrmachers72, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Sie ist ein materieller Stellvertreter jener »peinlichste[n] Ordnung, im Raum wie in der Zeit«, an die der Büchermensch die Jugend gewöhnt sehen möchte (I, S. 10). Als er selbst sich später von der anstrengenden Arbeit des Bücherumdrehens ausruht, kommt eine zweite Uhr ins Spiel: seine Taschenuhr. Mit ihr überprüft er die Dauer seiner Pause, die nicht länger als drei Minuten

|| 69 Vgl. III, S. 471: »Man könnte sagen, daß die Ordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei.« Canetti bezieht sich an dieser Stelle auf die Einführung einer bestimmten Zeitrechnung, mit der die Machthaber sich selbst im kollektiven Gedächtnis zu verankern suchen. Bei dem Büchermenschen ist davon nur eine persönliche Ordnung übrig, mit der er mehr die Zeit als die Menschen beherrschen will. 70 ZB 34.1. Vgl. dazu auch I, S. 172: Kien bezeichnet hier den »Uhrzeiger in seinem Hirn« als den »letzte[n] Rest eines gelehrten Netzes über der Zeit«. 71 Hartmut und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 542), S. 439. 72 Vgl. dazu Meili: Erinnerung und Vision (wie Anm. 18), S. 20: Die Uhr mache deutlich, so Meili, dass Kiens Zeitbewusstsein »rigoros und allgegenwärtig« sei.

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dauern soll (I, S. 101). In Pfaffs Kabinett nimmt er sich schließlich vor, mit jedem Auge nur fünf Minuten durch das Guckloch zu schauen, um eine Überanstrengung zu vermeiden. Zur Kontrolle benutzt er erneut seine Taschenuhr und »richtet[] sich streng nach ihr«, solange bis ihm die Intervalle in Fleisch und Blut übergegangen sind (I, S. 415). Beide Szenen verdeutlichen, dass sein angeblich untrügliches Zeitgefühl nicht immer von selbst funktioniert. Die lebendige Uhr bedarf einer Überprüfung. Damit zieht Canetti den Pünktlichkeitswahn des Büchermenschen und seines historischen Vorbilds ins Lächerliche. Das ist ein erster Hinweis auf die Funktion der intertextuellen Verweise. Der Ausdruck »Raum und Zeit«73 ist so geläufig, dass man ihn zunächst nicht weiter hinterfragen wird. Das jedoch ist ein Fehler. Denn in der Verknüpfung von Raum und Zeit klingt eine der zentralen Thesen des »große[n] Zerstörer[s] im Reiche der Gedanken«74 an. Im zweiten Abschnitt seiner Kritik der reinen Vernunft, der von der transzendentalen Ästhetik75 handelt, erläutert Kant, es gebe zwei ursprüngliche oder reine Formen sinnlicher Anschauung, die zwar keine absolute, aber eine empirische Realität besäßen. Sie seien »[…] eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung, (welche jederzeit sinnlich ist, d.i. sofern wir von Gegenständen afficirt werden) und an sich, außer dem Subjekte, nichts.«76 Diese »reinen Formen« sind Raum und Zeit: der Raum als Form der Anschauung aller äußeren und die Zeit als Form der Anschauung aller inneren Empfindungen, damit aber wiederum mittelbar auch aller äußeren. Nach Kants Theorie bringen diese beiden apriorischen Formen – eine von konkreten sinnlichen Erfahrungen unabhängige, allgemeinmenschliche Matrix – das »Mannigfaltige der Erscheinungen«77, man könnte wertend auch sagen: das Chaos in eine Ordnung. Oder wie Kuno Fischer zusammenfasst: »Wir empfangen die Eindrücke und machen aus ihnen Erscheinungen, indem wir sie anschauen oder, was dasselbe heißt, in Raum und Zeit ordnen.«78 Diese Ordnung hat je-

|| 73 Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 40 arbeitet terminologisch unsauber, indem sie »Raum« und »Zeit« als »Kategorien« bezeichnet; beide gehören nämlich für Kant keineswegs zu den Kategorien. Auch ihre Behauptung, der Büchermensch mystifiziere die Zeit zu seinem Gott, ist nach genauer Lektüre nicht aufrecht zu erhalten: Kien vergöttlicht nicht die Zeit insgesamt, sondern einen bestimmten Abschnitt, und zwar die Vergangenheit, in der – wie er hofft – dereinst alle Zeit aufgehen werde (I, S. 169). 74 Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (wie Anm. 54), S. 595. 75 Auf die transzendentale Ästhetik weist auch Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 262 hin. 76 AA III, S. 60f. 77 AA III, S. 50. 78 Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 344.

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doch eine Kehrseite. Die Menschen schauen nach Kant niemals die Dinge »an sich«, sie verfügen nur über die ihrem Wahrnehmungsvermögen bereits eingepassten Erscheinungen. Diese erkenntnistheoretische Konnotation scheint »Raum« und »Zeit« im ersten Kapitel zu fehlen. Es ist zwar von Ordnung die Rede, aber von einer moralphilosophischen Ordnung, die dem Menschen nicht apriorisch gegeben ist, sondern um die er sich zu bemühen hat. Überhaupt schätzt der Büchermensch Kant vor allem als Moralphilosophen, was mit seinem »alteingewurzelten Pflichtgefühl« gegenüber den Büchern zu tun hat (I, S. 156). Mit anderen Worten: Er nutzt Kant zur Apologie des eigenen Handelns.79 Angesichts der Berliner »Erkenntniskrise« und des endgültigen Titels Die Blendung überrascht es, dass sich die Hauptfigur für Kants Erkenntnistheorie kaum zu interessieren scheint. Spielt diese Theorie, die von den Neukantianern in ihrem Kampf gegen die Positivisten breit rezipiert wurde80, in Canettis Roman etwa keine Rolle? Aus dem Nachlass wissen wir, dass sich Canetti mit Kants Transzendentalphilosophie beschäftigt und sie mehr als ein Jahrzehnt nach dem Abschluss seines Romans kritisiert hat: »Zeit und Kausalität sind durch Kant (und seine Vorgänger) mit der Ordentlichkeit des Raumes angesteckt worden, die ihnen von Hause aus gar nicht gemäss ist.«81 Ausgehend vom Begriff der »Ordentlichkeit«, der für den Büchermenschen von größter Bedeutung ist, lässt sich zeigen, dass Canetti bereits im ersten Kapitel auf die erkenntnistheoretische Konnotation des Raum-Begriffes anspielt. Denn der Büchermensch ist der Meinung, die »hartnäckige Gewöhnung an peinlichste Ordnung, im Raum wie in der Zeit« sei nur an einem bestimmten Ort möglich: in einer bedeutenden Privatbibliothek wie der seinen. Sie ist für ihn der überhaupt einzige geordnete Raum: eine »ungeheure Kabine«, die gegen »alles bloß materielle Beziehungswesen« mit Büchern (die auf paradoxe, d.h.: materielle Weise den Geist symbolisieren) verbarrikadiert ist – »so groß, daß sie für das Wenige ausreichte, welches an der Erde mehr als Erde und mehr als Staub ist, zu dem das Leben wieder zerfällt« (I, S. 68f.).82 Das ist ein implizit markierter intertextueller Verweis sowohl auf Pla-

|| 79 Vgl. dazu Puricelli: Fachmenschen ohne Geist (wie Einleitung, Anm. 140), S. 131. Bei Canettis Kant treten individuelle Obsessionen an die Stelle des allgemeinen Vernunftgesetzes. 80 Nach Hans-Ludwig Ollig: Der Neukantianismus. Stuttgart: Metzler 1979 (Sammlung Metzler; M 187: Abt. D, Literaturgeschichte), S. 4 ist für den Neukantianismus gerade der »Primat der Erkenntnistheorie« charakteristisch. 81 ZB 34.3, 28. Juni 1944 (Kurzschrift). 82 Vgl. I, S. 21: »Die Seitenfenster waren vor Jahren nach hartem Kampf mit dem Hausbesitzer zugemauert worden. […] Die Versuchung, das Treiben auf der Straße zu beobachten – eine zeitraubende Unsitte, die man offenbar mit auf die Welt bekommt – fiel mit den Seitenfenstern

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tons Ideenhimmel als auch auf Leibniz' Monaden83. Dass Canettis Büchermensch die »Möbelreinheit« seiner Kabine erhalten will (I, S. 68)84, bezieht sich dagegen, in satirischer Verfremdung, auf Kants transzendentale Ästhetik. Die Bibliothek, die bis auf ein Oberfenster gegen die Außenwelt abgeschottet ist, repräsentiert eine der beiden reinen Formen sinnlicher Anschauung: den Raum. Dieser Raum ist (weitgehend) leer, und das heißt: ohne Erscheinungen.85 Das erinnert an die Substanz- oder Behälterauffassung, die Kants transzendentale Ästhetik so auslegt, dass Raum und Zeit selbst dann noch vorhanden sind, wenn die materiellen Dinge es nicht sind.86 Doch nicht nur der Raum ist so gut wie leer, sondern auch der Kopf des Büchermenschen. Da die Materie der Erscheinung aus der Bibliothek, sprich: dem Geist, ausgeschlossen ist, haben seine Gedanken (mit Kant formuliert) keinen Inhalt. Umgekehrt (und wieder mit Kant gesprochen) sind seine Anschauungen außerhalb der Bibliothek blind, da der Büchermensch weder über die angemessenen Begriffe verfügt noch die einzelnen Wahrnehmungen nachvollziehbar miteinander verknüpfen kann. Die Zahl seiner Fehlurteile ist deshalb enorm, wobei ein fataler Hang zu Verallgemeinerungen auffällt87: »Der Alltag war ein oberflächliches Gewirr von Lügen. Soviel Passanten, soviel Lügner.« (I, S. 13) In einem Streitgespräch zwischen dem Büchermenschen und Fischerle parodiert Canetti sogar das syllogistische Verfahren der reinen Vernunft88, das nach Kant in Paralogismen endet. Das || weg. Täglich, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, segnete er Einfall und Konsequenz, denen er die Erfüllung seines höchsten Wunsches dankte: den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek […].« 83 Vgl. Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 6 und 159f. 84 Die Wohnung der Pensionistin stellt sich der Büchermensch dagegen als die Kontrafaktur seiner eigenen Bibliothek vor. Sie ist »bücherrein« (I, S. 201). 85 Drei der vier Bibliotheksräume sind leer, im vierten Raum, dem Arbeitszimmer, stehen außer dem Schreibtisch nur noch zwei Stühle und ein Diwan, »[…] den Kien gern übersah, weil er auf ihm bloß schlief.« (I, S. 22) Später allerdings schrumpft der Raum zusammen, da Therese drei Zimmer und dann auch die Hälfte des vierten Zimmers für sich reklamiert. Das mag eine Parodie auf Kants Behauptung sein, dass einzelne Räume nur Ausschnitte des einen Raumes sind. 86 Vgl. Holm Tetens: Kants Kritik der reinen Vernunft. Ein systematischer Kommentar. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB; 18434), S. 50. 87 Vgl. Michael Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Thomas Bernhards Frost, Arno Schmidts Erzählung Aus dem Leben eines Fauns und Elias Canettis Roman Die Blendung. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 1190) [zugl. Bonn, Univ.-Diss. 1990], S. 190. 88 An einer anderen Stelle wendet Fischerle dieses Verfahren an, wobei er auf den Mittelteil des Syllogismus jedoch verzichtet. »›Erstens gibt es keinen ehrlichen Menschen‹, erklärte er, ›außer uns zwei natürlich, und zweitens gibt es keinen ehrlichen Hausbesorger.‹« (I, S. 288)

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Verfahren scheitert an den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs »Mensch«. Im Gegensatz zu Fischerle fasst Canettis Kant diesen Begriff moralisch und negativ auf. [B.] »Sie sind kein Mensch«, haucht er liebevoll. [F.] »Ein Krüppel ist kein Mensch, kann ich was dafür?« [B.] »Der einzige Krüppel ist der Mensch« […]. »Nein«, sagt Fischerle, »der Mensch ist kein Krüppel, sonst wär' ich ein Mensch!« (I, S. 267)89

Pünktlichkeitswahn und Sinnenfeindschaft machen Canettis Kant zu einer ambivalenten Figur. Wenn Kuno Fischer (zu Recht oder zu Unrecht) feststellt, Kant habe sein Leben reguliert, »als ob er es zur reinen Vernunft selbst machen wollte«90, so gilt das im selben Maße für Canettis Büchermenschen. Er repräsentiert sowohl den historischen Kant als auch die reine Vernunft selbst. Kurzum: Der Name ist doppelt besetzt. Die Schlüsse des Büchermenschen beruhen darum nicht von ungefähr auf einer Logik des Scheins. Denn die Vernunft zielt nicht nur auf das Absolute und Unbedingte, der Erfahrung Unzugängliche, sondern sie hat auch die Tendenz, sich selbst zu täuschen, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft am Beispiel der transzendentalen Ideen Gott, Welt und Seele nachzuweisen sucht. Einer solchen Selbsttäuschung unterliegt, in banalisierter und gleichsam geerdeter Form, auch der Büchermensch, dessen transzendentale Idee, das Unbedingte seines Denkens, der eigene Privatmythos ist. Wenn er die Gegenwart dabei nur unter der Voraussetzung für erträglich hält, dass der Mensch keine Sinne habe (I, S. 169), dann bestätigt dies zum einen nochmals die These, dass er die reine Vernunft repräsentiert. Denn sie geht nach Kant »niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand«.91 Zum anderen negiert der Büchermensch damit allerdings den Grundgedanken der transzendentalen Ästhetik. Während Kant die Sinne und den Verstand zu gleichberechtigen Quellen der Erkenntnis erklärte, schlägt der Büchermensch sich auf die Seite der Rationalisten. Zwar glaubte Kant nach Wilhelm Windelband an den »prinzipiellen Gegensatz[] von Sinnlichkeit und Vernunft« und verlangte die »schärfste Sonderung ihrer Erkenntnisgebiete«92,

|| 89 Vgl. zu dieser Szene auch Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 87), S. 259. Später beschimpft Fischerle mit diesem Begriff die Frauen. Seine Beschimpfung gibt er als allgemeingültiges Urteil aus: »›[…] alle Weiber sind Krüppel!‹« (I, S. 362) 90 Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 88. 91 AA IV, S. 193. 92 Windelband: Geschichte der neueren Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 36 und 34.

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aber wie Karl Vorländer betont93, nur zum Zweck ihrer wissenschaftlichen Erörterung. Indem der Büchermensch diese Sonderung von der Theorie ins Leben überführt und auf Kosten des ersten Erkenntnisgebiets ins Extreme übersteigert, entfernt er sich, als verkörperte reine Vernunft, von seinem historischen (Namens-)Vorbild. Diese Ambivalenz unterscheidet ihn von späteren Figuren wie Segenreich und Thut: Er ist wie Kant, da er dessen Verhalten imitiert, und er ist zugleich nicht wie Kant, da er dessen Denken und Verhalten radikalisiert und keine Vernunftkritik mehr zulässt. So wird Kant, der in Logik und Moral keine Widersprüche gelten lassen wollte, bei Canetti zu seinem eigenen Widerspruch. Das ist eine Parodie auf die von Kant diagnostizierte Antinomie der reinen Vernunft. In ihrem Totalitätsanspruch widerspricht sie sich ebenso sehr wie ihr fiktiver Repräsentant, der zuerst die Existenz (eine Missachtung von Kants Beweis der Unmöglichkeit eines Gottesbeweises) und nur wenig später die NichtExistenz eines Gottes für erwiesen hält (I, S. 169f. und 176). Der Büchermensch, die Verkörperung der reinen Vernunft, versteht unter Reinheit freilich nicht dasselbe wie Kant. Der Begriff ist bei ihm konkreter und zudem moralisch konnotiert: Während eine Anschauung für Kant rein ist, wenn sie es ermöglicht, synthetische Urteile a priori zu verifizieren, ist der Büchermensch von der ganz und gar unphilosophischen Angst besessen, jemand könne seine Bücher beschmutzen. Es beeindruckt ihn darum ganz besonders, dass sich Therese zum Lesen weiße Handschuhe anzieht. Vor Schmutz will er auch den jungen Franz Metzger bewahren, er soll vor den schlechten Büchern, dem gedruckten Schund in den öffentlichen Buchhandlungen die Augen verschließen, um sich seinen »vielleicht schon lesehungrigen Geist« nicht zu verderben (I, S. 10). Das aber ist kein erkenntnistheoretisches, sondern ein moralisches Ziel. Diese Kombination von Moral und Erkenntnistheorie ist ein Charakteristikum des Büchermenschen und die Grundlage seines elitären Bewusstseins. Der Reinheitskult, der den Büchermenschen zu einem Vorgänger Rosigs, Lyas, der Silbenreinen und der Tischtuchtollen macht, verweist zwar auf Kants dualistisch angelegte Erkenntnistheorie94, hat aber eine andere Quelle: Es ist der metaphysische Dualismus, wie er bei Platon und, noch radikaler, bei den Gnostikern zu finden ist. Sein Kennzeichen ist die Abwertung der Materie, vor allem des menschlichen Körpers, und das Fehlen einer Synthese. In der Tat verachtet der Büchermensch, ein strenger Asket, den eigenen Körper, den er sich nie anzusehen pflegt (I, S. 188). Auch Essen und Trinken, Schlafen und Sport sind ihm zuwider. Der Zwerg Fischerle ist für ihn ein »reiner Geist« in || 93 Vorländer: Geschichte der Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 196. 94 Vgl. Windelband: Geschichte der neueren Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 154.

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»elendem Körper«, der sich seit zwanzig Jahren über den »Schmutz seiner Umgebung« zu erheben suche (I, S. 201). Diese Einschätzung, eine Parodie des gnostischen Dualismus, verdankt sich weniger der Realität als einer fixen Idee: einer geschichtsklitternden Projektion des eigenen Ich-Ideals auf Fischerle, der von seinem missgebildeten Körper förmlich besessen ist. Da der Büchermensch nichts sieht oder nur, was er sehen will, da er in einem privaten Mythos gefangen ist, wäre er für Kant ein Phantast.95 Phantastisch ist es zweifellos, dass er seine Bibliothek mit imaginären Gestalten belebt und aus den Büchern die Stimmen ihrer Verfasser zu hören vermeint. Während sie, die Repräsentanten der geistigen Welt, ihm realer als wirkliche Menschen erscheinen, weigert er sich später umgekehrt, seine eigene Frau zu sehen, weil er an ihren Tod glaubt. Das ist, wie das ganze Konzept des Privatmythos, eine spezielle Form des Perspektivismus, wie ihn Nietzsche unter Berufung auf Kants Erkenntnistheorie vertreten hat.96 An die Stelle der reinen Vernunft, die nach der Einheit aller Erfahrung strebt, tritt der (nach innen) einheitsstiftende und (nach außen) isolierende Irrsinn. Der Büchermensch selbst wird sich im Gespräch mit seinem Bruder einen Irren vorstellen, der die Welt in grüne Farbe getaucht sieht (I, S. 472). Das ist ein impliziter Verweis auf Kleists berühmten Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801, in der er Kants transzendentale Ästhetik folgendermaßen zusammenfasst: Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.97

Dieser implizite Verweis enthüllt zum einen den Irrsinn des Büchermenschen, der überall nur blau sieht und nicht erkennt, dass er selbst von einer Farbe besessen ist (I, S. 479). Zum anderen enthüllt die Stelle, in welcher Lesart Canetti Kants Transzendentalphilosophie in seinem Roman rezipiert.

|| 95 Vgl. AA II, S. 265f. Kant definiert den Verrückten als einen »Träumer im Wachen« (Vgl. AA II, S. 265). Das ist eine verblüffende Parallele zu Canettis Roman, in dem der Privatmythos der Figuren in ihren (Wach-)Träumen enthüllt wird. 96 Vgl. Grondin: Immanuel Kant (wie Anm. 56), S. 44. 97 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Bd. 2. 9., vermehrte und revidierte Auflage, München: Hanser 1993, S. 634.

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Erst im fünften Kapitel des Romans, »Blendende Möbel«98, erhalten »Raum« und »Zeit« ausdrücklich eine erkenntnistheoretische Konnotation. Der Büchermensch sucht hier nach einer Waffe »gegen Raum und Zeit« und findet sie in der »Blindheit« (I, S. 73) – für ihn ein kosmisches Prinzip. »Raum« und »Zeit« sind nun negativ konnotiert, Canettis Kant macht sie, als die beiden Ermöglichungsformen sinnlicher Anschauung, in absurder Weise verantwortlich für die »Sinnesexzesse[]«, vor denen er sich zu schützen sucht (I, S. 73). Man kann diese Kehrtwende nur verstehen, wenn man ihren Kontext berücksichtigt. In die »reine« Welt des Geistes, die Bibliothek, ist inzwischen, wie bereits angedeutet, die Materie eingedrungen: in Gestalt von Möbeln. Der Büchermensch möchte diese »Verschmutzung« des reinen Raums nicht akzeptieren, darum wird er die Möbel später aus der Wohnung befördern lassen, so wie Kant die Empfindung in der Theorie aus der sinnlichen Vorstellung entfernte. Zunächst fasst der Büchermensch allerdings den Entschluss, sein sinnliches Vermögen möglichst weitgehend und realiter auszuschalten. Dieser Plan steht im Widerspruch zu Kants Theorie, obwohl auch er die Aufhebung der »subjektiven Beschaffenheit der Sinne«, sogar des Subjekts selbst99 für denkbar hielt. In der Kritik der reinen Vernunft ist seine Schlussfolgerung nachzulesen: Wir haben also sagen wollen: […] daß, wenn wir unser Subject oder auch nur die subjective Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objecte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existiren können.100

Kant erläutert nicht, wie diese Aufhebung vor sich gehen soll. Sie war ein Gedankenspiel ohne praktische Relevanz. Anders ist es in Canettis Roman: Um nicht wahrnehmen zu müssen, was ihn verstört, erinnert sich der Büchermensch an eine »alte Gewohnheit« (I, S. 71), die er auch dem jungen Metzger schmackhaft hatte machen wollen. Er schließt die Augen und lässt sich von den Gegenständen nicht mehr affizieren. Unter Berufung auf Berkeleys »esse [est] percipi« behauptet er, dass nicht existiere, was er zu sehen sich weigere (I,

|| 98 Unter philosophischem Blickwinkel bildet dieses Kapitel das »Kernkapitel«. Vgl. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 194. Nach Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 87), S. 202 findet hier die eigentliche Blendung statt. 99 Vgl. Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der Kritik der reinen Vernunft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 119. 100 AA III, S. 65.

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S. 73).101 Einige Monate später wird er die Wissenschaft sogar als »Kunst des Übersehens« definieren (I, S. 423) – eine These, die das Ergebnis seiner Übung im Blindgehen ist. Damit treibt er Kants ›kopernikanische Revolution‹102 auf die Spitze: Die Gegenstände sollen sich nach dem Menschen richten und nicht umgekehrt, allerdings in abstruser Form. Dass Raum und Zeit keine absoluten, sondern empirische Realitäten seien, nimmt der Büchermensch wörtlich. Das ist mit Kants Erkenntnistheorie nicht vereinbar, und zwar aus vier Gründen. Erstens bedeutet die Aufhebung der subjektiven Beschaffenheit der Sinne auch das Ende des erkennenden Bewusstseins. Zweitens gehören Raum und Zeit, gegen die der Büchermensch seine »Waffe« richtet, für Kant nicht selbst zu den Erscheinungen, die man wahrnehmen oder nicht wahrnehmen kann wie ein Möbelstück. Drittens zählt für Kant zur Sinnlichkeit auch der »innere Sinn« – und das sind: Vorstellungen, Träume, nicht zuletzt Körpergefühle wie Hunger und Durst, Lust und Unlust103, die sich nicht beseitigen lassen, indem man einfach die Augen schließt. Tatsächlich verfügt der Büchermensch noch über mindestens ein seelisches Gefühl: Er gewinnt seinen geschlossenen Augen Lust ab (I, S. 71). Und viertens entscheidet bei Kant die sinnliche Affizierbarkeit des Subjekts keineswegs über das Sein oder Nicht-Sein der Objekte. Seiner Theorie nach existieren zumindest die »Dinge an sich« unabhängig vom Erkenntnisvermögen des Menschen, unabhängig von »Raum« und »Zeit«. Der Büchermensch, vormals Rationalist, beruft sich deshalb auf den Empiristen Berkeley, der Raum und Zeit für Einbildungen hielt. Dieser These konnte Kant nichts abgewinnen, wenngleich Christian Garve ihn in seinem Verriss der ersten Vernunftkritik als berkeleyschen Idealisten identifiziert zu haben wähnte.104

|| 101 Berkeley überliefert den folgenden Einwand gegen seine Theorie: »Wenn ich die Augen schließe, wird das ganze Mobiliar im Zimmer auf nichts reduziert; erst wenn ich sie wieder öffne, wird es neu erschaffen.« Zitiert nach George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Übersetzt und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart: Reclam 2005 (RUB; 18343), S. 60. Berkeley entkräftet diesen Einwand, indem er darauf verweist, dass es einen anderen Geist geben könne, zuletzt den Geist eines ewigen Wesens, der die Möbel wahrnehme, wenn wir dies nicht täten. 102 Vgl. AA III, S. 11f. Dazu Höffe: Immanuel Kant (wie Anm. 47), S. 56. Auch das Prädikat »Revolutionär« wird in Die Blendung in einen lächerlichen Kontext gesetzt: Der Büchermensch, gierig nach neuen Büchern, von denen er sich neue Gedanken verspricht, verlässt in dem Augenblick, in dem er die Bibliothek des alten Silzinger zu erwerben hofft, »[…] die konservative Form der Evolutionstheorie, der er bisher angehangen hatte, und ging mit flatternden Blättern ins Lager der Revolutionäre über.« (I, S. 146) 103 Vgl. Tetens: Kants Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 86), S. 69. 104 Vgl. Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 349. Zu Kant und Berkeley siehe auch Höffe: Immanuel Kant (wie Anm. 47), S. 86f und 136.

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Doch der Büchermensch biegt sich auch Berkeleys »dogmatischen Idealismus« nach seinen Bedürfnissen zurecht. Indem er die Dinge durch ihre NichtWahrnehmung zu vernichten sucht, maßt er sich eine Position an, die Berkeley keinem Menschen, sondern dem ewigen Wesen, Gott, vorbehalten hatte.105 Das verweist auf ein zentrales Thema in Die Blendung: den Hochmut. Mit diesem Hochmut, der uns weiter beschäftigen wird, ist der Büchermensch, an Kants Maßstäben gemessen, ein Narr.106 Doch damit nicht genug: Er entzieht Berkeleys Empirismus das erkenntnistheoretische Fundament, indem er sich blind durch sein Arbeitszimmer tastet und dabei auch noch glaubt, man bräuchte nichts zu sehen, um sich in der Welt zurechtzufinden.107 Schon im ersten Kapitel begründet er seinen Aversion gegen die Masse mit einem Vorurteil, das sich als apriorisches Urteil tarnt: »Das wußte er zum vorhinein, Erfahrung war hier überflüssig.« (I, S. 13f.) Auch an dieser Stelle vermischen sich Moral und Erkenntnistheorie, Wissenschaft und Ideologie. Georg hat im negativen Sinne Recht, wenn er zu seinem Bruder anerkennend sagt: »Aus einem uferlosen Überlieferungsstoff zitierst du, was in deine Beweisführung paßt.« (I, S. 478) Diese Skrupellosigkeit im Umgang mit Texten, die als Steinbruch entweder zur Rechtfertigung eines Vorurteils oder eines Vorteils herhalten müssen108, dekuvriert erneut den Irrsinn des Büchermenschen – jedenfalls wenn man die Definition seines Bruders zugrunde legt. Wie ein Irrer wendet Canettis Kant »[…] mehr Scharfsinn auf, seine Bahn zu erklären und zu schützen, als wir alle zusam-

|| 105 Nach Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 87), S. 203 erweitert Canetti Berkeleys Philosophie damit um eine negative Komponente. Vgl. zur Fehlinterpretation Berkeleys durch den Büchermenschen auch David Darby: »›Esse percipi.‹ Sein ist Wahrgenommenwerden.« Perception and perspektive in Berkeley and Canetti. In: Neophilologus 75 (1991), S. 425–432, hier S. 431. 106 Alle Narrheit, so Kant in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes, beruhe auf zwei Leidenschaften: Hochmut und Geiz. Der Hochmütige äußere »[…] eine unverdeckte Anmaßung des Vorzuges vor anderen durch eine deutliche Geringschätzung derselben.« Zitiert nach AA II, S. 262. 107 Canetti selbst steht Berkeley durchaus positiv gegenüber: »Der Gedanke Berkeleys, dass die Materie nicht existiert, hat für mich etwas Berauschendes. Nichts kann meinen innersten Wünschen so entgegenkommen. Seine Abneigung gegen Abstraktionen, sein tiefer Empirismus sind wie aus meiner eigenen Seele geschöpft. Die Verbindung von Empirismus mit einer solchen Verachtung für die ›Tatsachen‹ – soweit sie wirklich als Sachen gelten – habe ich immer als die eigentlichste Achse meiner Natur gehalten.« ZB 6, zitiert nach Kratochwill: Experte der Lüge (wie Einleitung, Anm. 153), S. 205. 108 Vgl. I, S. 72f.: »Sobald er aber sein Vorurteil gegen einen Vorteil umtauschte, fand sich die entsprechende Philosophie von selbst.«

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mengenommen an die unsre.« Für Georges, den Psychiater, führen aus diesem Grund nur die Verrückten »ein Leben reiner Geistigkeit« (I, S. 444). Die bisherige Analyse hat bereits ein gutes Stück weit enthüllt, warum der Büchermensch den Namen Kant erhalten hat. Es ging Canetti um eine satirische Abrechnung mit Kants Transzendentalphilosophie, insofern sie die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis rechtfertigt und dazu der Sinnlichkeit vorgeordnete Formen annimmt. Canetti entwirft in seinem Roman eine Figur, die ihre Urteile »s c h lec h t er d i n g s von aller Erfahrung unabhängig«109 trifft, die allein auf den Verstand als Ermöglichungsgrund synthetischer Urteile a priori vertraut und wie die reine (theoretische) Vernunft nicht auf die empirischen Gegenstände rekurriert. Mit anderen Worten: Der Büchermensch radikalisiert die von Kant vorgenommene Trennung der Erkenntnisstämme, indem er die Sinnlichkeit abspaltet, ihr Zusammenwirken mit dem Verstand verhindert und nur noch nach apriorischer Erkenntnis trachtet. Das führt im Roman nun aber gerade nicht zu einer Erweiterung des Wissens, sondern zu Verblendung und Aporie. Durch dieses Negativbeispiel, ein weltloses transzendentales Subjekt110, das sich selbst anprangert, erteilt Canetti dem Streben nach universaler und notwendiger, kurzum: nach reiner Erkenntnis eine Abfuhr. In der zerfallenen Welt, die er in seinem Roman entwirft, gibt es keine (wissenschaftlich objektiven) allgemeingültigen Urteile, sondern lediglich gemeinsame Vorurteile, wie die MassenSzene vor dem Theresianum demonstriert. Diese literarische Kritik an einer begrifflichen Codierung der Erfahrung ist von einem phänomenologischen Standpunkt aus formuliert. Schon Husserl hatte seinen Appell »Zurück zu den Sachen selbst!« gegen die Parole der Neukantianer »Zurück zu Kant« gerichtet.111 »Die wahre Methode«, so schreibt er in seinem Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, »folgt der Natur der zu erforschenden Sachen, nicht aber unseren Vorurteilen und Vorbildern.«112 Ca-

|| 109 AA III, S. 28 (im Original kursiv). 110 Treffend ist der Befund von Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem (wie Einleitung, Anm. 6), S. 31: Canettis Büchermensch sei eine »groteske Variante des Kantschen Transzendentalsubjekts«. 111 Vgl. Daniel O. Dahlstrom: Kant und die gegenwärtige Phänomenologie. In: Dietmar H. Heidemann und Kristina Engelhard (Hg.): Warum Kant heute? Berlin, New York: de Gruyter 2004 (de Gruyter Studienbuch), S. 100–125, hier S. 101. 112 Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Ders.: Aufsätze und Vorträge (1911–1921). Mit ergänzenden Texten hg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Den Haag: Nijhoff 1987 (Husserliana; XXV), S. 3–62, hier S. 26. Husserl kannte deshalb auch nicht Kants Begriff einer reinen, von der Sinnlichkeit losgelösten Vernunft. Vgl. Ivo Kern: Husserl und

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nettis phänomenologisch ausgerichtete Kant-Kritik hat deshalb auch eine positive Botschaft. Sie weist in die Richtung, die er später mit den Aufzeichnungen und Masse und Macht einschlagen wird: Wer zu tragfähigen Erkenntnissen über die Welt kommen möchte, der braucht die Sinne; der muss – wie er selbst bei der Arbeit an Masse und Macht – die Phänomene beobachten, die Wirklichkeit, wie sie sich in der Erfahrung zeigt, und aus diesen Beobachtungen die Theorien aposteriorisch ableiten, statt sie apriorisch vorauszusetzen. Das ist nicht nur ein Widerspruch gegen eine Transzendentalphilosophie, die die Welt als Produkt unserer Konstruktion begreift und jene Rätselhaftigkeit, ja Undurchdringlichkeit negiert113, die Canetti im Umgang mit Namen immer wieder erfahren hatte; es ist auch ein Widerspruch gegen die eigene Zeit: gegen die Flucht in einen reaktionären Idealismus, der bei den einfachen Rezipienten der neukantianischen Schulen weit verbreitet war.114 Den Phänomenologen gibt Canetti mit seinem Roman allerdings zu bedenken, ob das Sehen mit den eigenen Augen – anders als Husserl meinte115 – nicht doch unverzichtbar ist. Denn sein Büchermensch ist ein Geblendeter, nicht nur, weil er voller Vorurteile ist, sondern auch weil er die Augen von den Phänomenen abwendet. Canettis Kritik an Kants Erkenntnistheorie geht nicht an allen Stellen des Romans über das Spielkartenformat hinaus. Es finden sich auch plakative Verweise auf Kants Kritik der reinen Vernunft, wie im Kapitel »Das Krankenlager«. Dort wird das »Ding an sich« zur »Faust an sich«, ein Begriff, mit dem der Büchermensch den muskelstarken Hausbesorger bezeichnet, die Inkarnation der rohen Gewalt (I, S. 118). Einer der bekanntesten Termini der Kantischen Transzendentalphilosophie erscheint in dieser skurrilen Konkretion kaum weniger lächerlich als die platonische Ideenlehre, die Canetti zuvor in die Niederungen der Alltagssprache gezogen, mit der Sphäre der Körperausscheidungen assoziiert (»Bedürfnis«, I, S. 49116) und zugleich als Quasi-Religion geoutet hat. Später

|| Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus. Den Haag: Nijhoff 1964 (Phaenomenologica; 16), S. 64. 113 Vgl. Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger (wie Einleitung, Anm. 42), S. 39. 114 Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 99. 115 Vgl. Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft (wie Anm. 112), S. 61: »Es bedarf nicht der Forderung, mit eigenen Augen zu sehen, vielmehr: das Gesehene nicht unter dem Zwange der Vorurteile wegzudeuten.« 116 Diese Verknüpfung wiederholt sich, als Therese in die Bibliothek einen Nachttopf stellen lässt (I, S. 67). Dass Fischerle seine frisch gekaufte Wäsche später in einer »Bedürfnisanstalt« anzieht und bereits von seinem neuen Leben träumt (I, S. 384), weist auf den engen Konnex zwischen dem scheinbar Niedrigsten und dem Privatmythos hin. Beide Male muss der Mensch einem inneren Drang nachgeben. Der solide Herr, der jeden Montag Fischerles Frau besucht,

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ironisiert er auch mit dem (für eine heruntergekommene Spelunke) paradoxen Namen »Zum Idealen Himmel«117 Platons Erkenntnistheorie, das zweite Hauptziel seines Angriffs118. Auch dieser Angriff ist phänomenologisch motiviert. Denn anders als Platon und Kant ist die Phänomenologie antispekulativ und antimetaphysisch. Sie verwirft die Zwei-Welten-Lehre, den Dualismus der Idealisten, und unterscheidet nicht zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt an

|| verrichtet deshalb nach dem Geschlechtsakt auf der Straße sein »Bedürfnis« (I, S. 387). Man beachte in diesem Zusammenhang die syntaktische Parallele zwischen dem Satz des Schusters »Bin bei einem Bedürfnis.« und Thereses Nachricht »›Bin in der Kirche, Therese‹ […].« (I, S. 140) Die Sehnsucht des Schusters nach dem Hochzeitskuss, die der an der Tür aufgehängte Zettel verrät, hat insofern geradezu religiöse Züge. In einem Traum nennt sich Fischerle, seinem Privatmythos entsprechend, auf einer am Portal hängenden Tafel Weltmeister Fischer (I, S. 218). 117 Das Lokal ist nach Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 87), S. 235 das »Sinnbild der gesamten Romanwelt«. Bei seiner Beschreibung erzielt Canetti eine komische Wirkung, indem er den Namen zugleich appellativisch verwendet: »Der ideale Himmel war sehr niedrig und hing voll schmieriger, graubrauner Wolken. Hie und da durchbrach der Rest eines Sterns die trüben Schichten. Vor Zeiten war der ganze Himmel mit goldenen Sternen übersät. Die meisten waren vom Rauch ausgelöscht worden; die übrigen krankten an Lichtschwund. Klein war die Welt unter diesem Himmel.« (I, S. 189) Am Beginn der Szene persifliert Canetti den Aufstieg der Philosophen in Platons Höhlengleichnis. Wie die Philosophen sieht auch der Büchermensch zunächst nichts, da die dicke Luft seine Augen zum Tränen bringt. Erst nach einer Weile lichtet sich der Nebel, und er begreift, in welch schäbigem Etablissement er sich befindet. Das reale Vorbild des Lokals ist ein Café in der Praterstraße, direkt neben dem Carl-Theater, das Canetti meist in der Nacht von Samstag auf Sonntag besuchte, um zwei oder drei Stunden an einem der runden Marmortische zu sitzen und seine Beobachtungen aufzuschreiben. Dieses Café nannte er für sich »Zum seltsamen Leben«. In den Entwürfen zum zweiten Band seiner Autobiografie beschreibt Canetti es folgendermaßen: »Ich ging nach Mitternacht hin, eine für mich ungewöhnliche Zeit, die Besucher waren so, wie es sich für diese Zeit gehörte: Strassenmädchen, Chauffeure der Taxis, die in nächster Nähe auf der Praterstrasse standen, Zuhälter, einige Gäste, die auf Unterhaltung aus waren. Es war kein sehr grosses Lokal, aber es bot Platz für ein Klavier, das etwas abseits stand und für die Schlagermusik, die auf ihm gespielt wurde.« Zitiert nach ZB 59, 2. September 1977 (Kurzschrift). 118 Vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 145: Die Blendung als »antiplatonischer Roman«. Im Dezember 1930 schreibt Canetti: »Platons Ideenleere – gegen die Sinne gerichtet – in Wahrheit der letzte Triumph des A u g e s . Die Tätigkeit des Auges auf ihr [sic] reinste und allgemeinste Form gebracht, das Bild, die Bilder, der Urgrund der Welt.« Vgl. ZB 2, Dezember 1930, zitiert nach Kratochwill: Experte der Lüge (wie Einleitung, Anm. 153), S. 30. Zur Platon-Rezeption in Die Blendung vgl. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 97–143. Zum Zusammenhang zwischen Platon und Kant vgl. Windelband: Geschichte der neueren Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 40, der Kant eine »platonisierende[] Weltanschauung« unterstellt. Vgl. auch Vorländer: Geschichte der Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 185: Kant als »Erneuerer und Vollender Platos«.

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sich.119 Andere, immer wieder genannte Bezüge zu Kants Kritik der reinen Vernunft hat Canetti erst Jahrzehnte nach der Publikation seines Romans registriert – so z.B. die »Nullen der Therese«, die Manfred Schneider an einen Satz aus dem dritten Hauptstück erinnert haben120. Beim Schreiben hatte er sie nicht im Sinn, vielleicht kannte er sie nicht einmal mehr. Was Canetti zu einer Zeit, als er sich mit den Mechanismen der Macht zu beschäftigen begann121, an Kants kritischer Transzendentalphilosophie außerordentlich missfallen haben muss, ist die darin behauptete Dominanz der Vernunft über die Natur, die ein halbes Jahrhundert nach der Publikation der Blendung auch Hartmut und Gernot Böhme in ihrem Buch über das Andere der

|| 119 Vgl. Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger (wie Einleitung, Anm. 42), S. 15. 120 Es geht hier um folgende Passage aus der Kritik der reinen Vernunft: »Es ist also an dem so berühmten ontologischen (cartesianischen) Beweise vom Dasein eines höchsten Wesens aus Begriffen alle Mühe und Arbeit verloren, und ein Mensch möchte wohl eben so wenig aus bloßen Ideen an Einsichten reicher werden, als ein Kaufmann an Vermögen, wenn er, um seinen Zustand zu verbessern, seinem Gassenbestande einige Nullen anhängen wollte.« (AA III, S. 403) Vgl. dazu Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53): »Im Kontext Kants heißt Thereses Nullen-Schreiben ein widersinniges Beschwören von Gottes Gegenwart. […] Kiens im Kopf und auf dem Papier entstehender absoluter Text löscht den Namen, das Werk und die Macht Gottes aus […]. Dagegen verschafft sich die Geldjägerin Therese einen wirklichen Gott mit Hilfe künstlicher Zahlenproduktion.« Canetti stieß auf die angegebene Stelle aus Kants Kritik der reinen Vernunft, als er sich 1980 ein Exzerpt aus einem unbekannten Buch anfertigte. Sein kurzer Kommentar dazu ist im Nachlass erhalten: »Die Nullen der Therese«. Siehe ZB 19, 2. September 1980. Wir wissen nicht, ob Canetti die Kritik der reinen Vernunft in den 1920er und 1930er Jahren im Original gelesen hat oder ob er die wichtigsten Gedanken nur aus der Sekundärliteratur kannte. Und wir wissen auch nicht, ob ihm die Analogie zwischen dieser Passage und der Szene des Romans erst im Nachhinein aufgegangen ist oder ob er sich wieder daran erinnerte, dass er vor fünfzig Jahren auf diese Stelle angespielt hatte. Möglich ist auch, dass er sich zur Entstehungszeit der Blendung hauptsächlich mit dem ersten Teil des Buches über die sinnliche Wahrnehmung beschäftigt hatte und nun mit Verwunderung die Analogie zwischen den Nullen des Kaufmanns und den Nullen der Therese feststellte. 121 Vgl. dazu ZB 20, 26. Oktober 1984: »Der Roman, von Tacitus geprägt, und niemand weiss es.« Erst die Lektüre der Tiberius-Vita des Tacitus regte Canetti dazu an, sich neben Masse auch mit Macht zu beschäftigen. Vgl. IV, S. 533. Siehe auch ZB 60, 28. Juni 1981: »Ein intimeres Verständnis für Macht bekam ich durch die Lektüre des Tacitus. Im Sommer und Herbst des Jahres 1930, als ich mich unter den entworfenen Romanen mehr und mehr auf den ÜberBüchermenschen zu konzentrieren begann, waren die Annalen eine meiner wichtigsten Lektüren.« In einem kleinen Text »Zu Masse und Macht« führt Canetti sein Interesse an der Macht hingegen auf die Lektüre des Sueton und der Biografie des Filippo Maria Visconti zurück (X, S. 61).

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Vernunft scharf kritisiert haben.122 Doch schon Husserl hätte Kant an diesem Punkt widersprochen, denn er war davon überzeugt, dass das Konstituierende und das Konstituierte in einer reziproken Beziehung zueinander stehen.123 Canetti fand den Anknüpfungspunkt für seine Kritik aber nicht bei Husserl oder bei einem anderen Phänomenologen, sondern gerade in den Überblicksdarstellungen der Neukantianer, die er während der Arbeit an seinem Roman studierte. Bei Kuno Fischer z.B. konnte er über Kants Theorie in prägnanter Gegenüberstellung lesen, dass die Erfahrungsobjekte überhaupt nicht von außen gegeben seien, sondern dass sie von den beiden in der Einbildungskraft vereinigten Grundvermögen Verstand und Sinnlichkeit erst erzeugt würden.124 Der Mensch als Erzeuger der Objekte musste Canetti – nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen mit Namen – als Machthaber erscheinen. Kants eigenes Vokabular stammt teilweise noch deutlicher als Fischers Resümee aus dem Wörterbuch des Machthabers.125 Wilhelm Windelband attestiert ihm deshalb einen »unerschütterliche[n] G la u b e[ n ] an d i e M ac h t d er V er n u n f t«126. Für Canettis Missfallen an dieser (umgekehrten) ›kopernikanischen Revolution‹ spricht, wenn auch nur implizit, dass er in seinem Roman den für Kant so bedeutsamen Begriff »Subjekt« persifliert, indem er ihn zuerst dem primitiven Hausbesorger in den Mund legt, einer weiteren hochmütigen Figur, später auch Fischerle und dem Kommandanten. Alle drei bezeichnen andere Menschen hochnäsig als »Subjekte« (I, S. 88, 109, 249, 327, 329, 332, 405, 408 und 415; Georg: S. 498).127 || 122 Böhme und Böhme: Das Andere der Vernunft (wie Anm. 71), S. 74 sprechen von einer »herrschaftliche[n] Geste«, mit der die Menschen der Natur Bedingungen für das Erscheinen setzen. Kants berühmte Formulierung, der Verstand schreibe der Natur die Gesetze vor, kommentieren die beiden Autoren wie folgt: »Der Herrschaftsanspruch, der sich in den Kantischen Formulierungen äußert, ist total. […] Die Herrschaft ist ins Innere der Natur vorgedrungen – behauptet Kant jedenfalls –; die Natur, [sic] kann sich nicht mehr anders verhalten als nach den Gesetzen, die wir ihr vorschreiben.« An anderer Stelle wird Kants Theorie als »Ausdruck menschlicher Hybris« gewertet. Vgl. ebd., S. 305 und 77. 123 Vgl. Fellmann: Phänomenologie zur Einführung (wie Einleitung, Anm. 50), S. 39. 124 Vgl. Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 374. 125 Vgl. z.B. AA III, S. 12: Die Gegenstände müssen sich nach der Erkenntnis richten. Weitere zentrale Begriffe sind »nötigen« oder »Leitfaden«. 126 Windelband: Geschichte der neueren Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 3. 127 Gerald Stieg hat gezeigt, dass Canettis Hausbesorger den Begriff »Element« in derselben pejorativen Bedeutung benutzt wie die Polizei und ihr Präsident Schober sowie – neben einigen Sozialdemokraten – vor allem konservative und präfaschistische Politiker. Mit dieser negativen Konnotation spielt Karl Kraus im »Schoberlied«. Nach Stieg haben die Begriffe »Subjekt« und »Individuum« in der Sprache der Polizei dieselbe Bedeutungsumkehrung erfahren. Allerdings bietet Stieg dafür keine Belege – was keineswegs heißen muss, dass es diese Bedeutungsumkehrung nicht gegeben hat. Dennoch verweist auch Stieg auf Kants Erkenntnistheorie,

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In dieser alltagssprachlichen Zuspitzung enthüllt der Begriff seine eigentliche Funktion: Er dient der Durchsetzung und Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen und lässt sich ebenso gut auf die Mächtigen anwenden (bei Kant: das ordnende Subjekt) wie auf die Ohnmächtigen. Kurz und gut: Er ist ein Instrument der Macht wie (nach Canetti) die meisten Begriffe. Eine »[…] bedruckte Seite, so klar und gegliedert wie nur irgendeine, ist in Wirklichkeit ein höllischer Haufe rasender Elektronen.« (I, S. 73) Dieses »Gewühl von Erscheinungen«128 versucht Kant durch Begriffe und Kategorien, durch Systematisieren und Benennen ebenso beherrschbar zu machen wie der Büchermensch, der in Pfaffs Kabinett, dem Wahnsinn verfallen, die Leistung der Wissenschaft preist: Kaum nennt man die Dinge beim richtigen Namen, so verlieren sie ihren gefährlichen Zauber. Der primitive Mensch benannte alles und jedes falsch. Ein einziger furchtbarer Zauberbann umgab ihn, wo und wann war er nicht gefährdet? Die Wissenschaft hat uns von Aberglauben und Glauben befreit. Sie gebraucht immer die gleichen Namen, mit Vorliebe griechisch-lateinische, und meint damit die wirklichen Dinge. Mißverständnisse sind unmöglich. (I, S. 421)

In Die Blendung widerlegt der Büchermensch diese These durch sein eigenes Handeln. Er, der Wissenschaftler, versteht die anderen Figuren nur halb oder falsch und erfüllt die Wörter je nachdem, wie es ihm dienlich ist. Einmal fürchtet er sich vor der Blindheit, und einmal übt er sich in ihr. In der babylonischen Welt des Romans ist er nach seiner eigenen Definition ein Verrückter, der das Widersprüchlichste tut, aber für alles dieselben Worte verwendet. Allerdings täuscht er sich nur allzu gern darüber hinweg, dass Wort und Welt auseinander gefallen sind, indem er unbeirrt an die Wahrheit wissenschaftlicher Begriffe glaubt. Doch selbst Georges' Vorgänger, der Irrsinn zu einer Strafe für Egoisten erklärt (I, S. 433), nutzt die Macht wissenschaftlicher Begriffe zur Durchsetzung egoistischer Ziele. Zur Strafe für ein amouröses Abenteuer diagnostiziert er bei seiner Gattin Irrsinn und steckt sie als »unheilbar egoistisch« in die Anstalt (I, S. 433). In seinem Wunsch nach Bestrafung der eigenen Frau gleicht er dem irren Jean Préval, der wiederum Ähnlichkeiten mit dem Büchermenschen hat129. Wie wenig die Menschen ihre Wirklichkeit durch Sprache ordnen können, zeigt die Szene, in der die Buchstaben vor Therese zu tanzen be|| der Büchermensch sei das »Kantische[] ›Subjekt‹ par excellence«. Vgl. Frucht des Feuers (wie Anm. 137), S. 104–106 und 127. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Canetti sowohl den alltäglichen als auch den philosophischen Gebrauch des Wortes persiflieren wollte. 128 AA IV, S. 84. 129 Vgl. Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 170: Jean Préval als »Doppelgänger« des Büchermenschen.

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ginnen und sich dann, gegen ihren sehnlichsten Wunsch, zu »Groß & Frau« fügen (I, S. 299). Das Werkzeug der Macht kehrt sich gegen den, der es verwendet. Doch Canettis Kritik an philosophischen Bemächtigungsversuchen und speziell an Kants Erkenntnistheorie reicht über eine Begriffskritik weit hinaus. Indem er den Büchermenschen als »Kopf ohne Welt« entwirft, wertet er das passive Ich der Sinnlichkeit zugunsten des aktiven Ichs des Verstandes eindeutig ab.130 In den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können hatte Kant dieses Ich als Gesetzgeber der Natur identifiziert: »[D]er Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«131 Mit der Figur des Büchermenschen nimmt Canetti besonders diese These aufs Korn. Der gesetzgebende Verstand erschafft, ebenso wie die reine Vernunft, ein täuschendes System von Vorannahmen und Dogmen, eine Ordnung ohne angemessenen Bezug zur vielfältigen, sich verwandelnden Erscheinungswelt. Während des Verhörs z.B. schaut der Büchermensch, in seinem Wahn gefangen, nicht auf seinen Anzug, den man ihm als Beweismittel vorhält; denn er nimmt an, es handele sich um Thereses Kleidung (I, S. 341). Auch das ihm selbst vernünftig erscheinende Urteil über das scheinbare Trugbild seiner angeblich verstorbenen, tatsächlich aber quicklebendigen Ehefrau (I, S. 333) ist das Produkt seines Hirngespinstes. Diese Vermischung von Vernunft und Wahn ist keinesfalls eine präfigurierte (und gar noch übersteigerte) Form des radikalen Konstruktivismus, wie ihn Paul Watzlawick vertritt. Zwar erkennt auch Watzlawick in jeder Verabsolutierung der eigenen Ordnung (Interpunktion) bereits Züge des Irrsinns. Doch zwischen den beiden Wirklichkeiten, von denen er in seinem Bestseller Wie wirklich ist die Wirklichkeit? spricht, der Wirklichkeit des wissenschaftlich Feststellbaren und der Wirklichkeit der subjektiven Sinngebung, besteht in einer an Cervantes geschulten Gelehrtensatire wie Canettis Die Blendung kein Unterschied.132 Hier

|| 130 Zu dieser Unterscheidung vgl. Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. 4. Auflage, München: Beck 2004, S. 81. 131 AA IV, S. 320 (im Original hervorgehoben). 132 Vgl. Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (wie Anm. 5), S. 143. Die Parallelen zwischen Canettis Roman und Watzlawicks Jahrzehnte später geschriebenem Buch sind dennoch erstaunlich. Die verschiedenen Wirklichkeitsauffassungen, so Watzlawick, seien das Ergebnis von Interpunktionen, mit denen die einzelnen Menschen den Tatsachen eine je persönliche Bedeutung zuschrieben, im Glauben, dass nur die eigene die richtige Wirklichkeitsauffassung sei. Im Falle eines Konflikts sei es deshalb so, als sprächen die Menschen verschiedene Sprachen (S. 74; bei Canetti: zweiter Sündenfall). In Canettis Roman repräsentiert der

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sind Wissenschaft und Wahn verwandte, bald deckungsgleiche und gleichermaßen ungeeignete Mittel zur Machtgewinnung über das Chaos. Denn die ordnungsstiftenden Maßnahmen des Büchermenschen verleihen ihm nur eine scheinbare Macht über die angsterregende Natur, die ihn außerhalb der Bibliothek bedrängt. In Wahrheit sind sie zwanghaft und abenteuerlich133, das Ergebnis einer wissenschaftlich verbrämten Kausalitätssucht. Für einen Schreibfehler, die Verwechslung von fünf und sieben, findet der Büchermensch zum Beispiel diese Begründung: »Vielleicht weil beide Primzahlen sind, diese geistvolle Erklärung, die einzig mögliche, weil fünf und sieben sonst nichts miteinander gemein haben, besänftigte ihn.« (I, S. 136) Mit dieser zunächst nur vermutenden, dann aber doch akzeptierten und schließlich sogar glorifizierten Deutung versucht der Büchermensch, die eigene Souveränität wiederherzustellen, in einem Moment, in dem sie in Frage steht.134 Gerade das von Kant zur notwendigen Bedingung des Denkens erhobene Kausalprinzip führt ihn dabei in die Irre. Canetti mag an dieser Stelle auf die Einleitung der ersten Vernunftkritik anspielen, wo Kant anhand der Addition von 5 und 7 zu zeigen versucht, dass alle arithmetischen Sätze synthetisch seien.135 Ein solches Erweiterungsurteil gelingt dem Büchermenschen nicht, er kommt im Denken niemals über sich hinaus – wie alle Machthaber. Das jedoch macht ihn zu einem Irren, ohnmächtiger als alle, die sich selbst mitunter in Frage stellen. Im Kapitel »Blendende Möbel« lässt Canetti sogar das zunächst abgewertete passive Ich der Sinnlichkeit auf aberwitzige Weise nach einer aktiven Rolle

|| auktoriale Erzähler als einziger die Welt der Tatsachen bzw. die absolute Wirklichkeit, die Watzlawick negiert. 133 In Masse und Macht erkennt Canetti in der »Kausalitätssucht«, »die man in diesem Maße sonst nur bei Philosophen findet«, eine »Passion« des Paranoikers. »Es geschieht nichts ohne Grund, man muß nur danach fragen. Man findet immer einen Grund. Jedes Unbekannte wird auf ein Bekanntes zurückgeführt. Das Fremdartige, das an einen herantritt, wird als geheimes Eigentum entlarvt. Hinter der Maske des Neuen steckt immer ein Altes, man muß sie nur ohne jede Scheu durchschauen und herunterreißen.« (III, S. 537) Bei Kien zeigt sich dieser »Denkzwang« darin, dass er den Hausbesorger, das Neue, als Altbekanntes, einen Landsknecht, identifiziert. Doch seine »Kausalitätssucht« ist zu Beginn des Romans schon spürbar: in den ersten Worten, die er mit Franz Metzger wechselt. Gleich zweimal fragt er den Jungen nach dem »Warum« seines Verhaltens. Nachdem Franz Metzger sein Interesse an Büchern bekundet hat, hält Kien die Frage für beantwortet: »›Deshalb stehst du also da.‹« (I, S. 7) Das Verhalten seiner Frau ist mit dieser »Kausalitätssucht« jedoch nicht in den Griff zu bekommen: »Therese ließ sich in der Geschichte sämtlicher Kulturen und Unkulturen, soweit er mit ihnen vertraut war, nirgends unterbringen.« (I, S. 120) 134 Vgl. dazu auch I, S. 428: »Alles gelingt ihm, was er anpackt, fügt sich seinen Beweisen.« 135 Vgl. AA III, S. 37.

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streben. Denn der Büchermensch definiert alles Sein nun als »Wahrgenommenwerden«, übt sich im Blindgehen und erhebt die Blindheit zum »herrschende[n] Prinzip im Kosmos« (I, S. 73). Unter dem Ansturm der Erscheinungen, vor denen er sich ängstigt, ist sie sein bevorzugtes Organon der Macht.136 Es soll ihn von den »schwachen Geschöpfen« absondern und ihm die Masse der Objekte vom Leib halten (I, S. 73). »Die Möbel existieren für ihn so wenig, wie das Heer von Atomen in ihm und um ihn.« (I, S. 73) Aus denselben Gründen träumt er zuvor von Lidern an den Ohren.137 Der Name Kant verweist insofern auch auf die »Kante«138. Sie versinnbildlicht – wie die Ellenbogen im Spiegelbordell – den Abstand des Büchermenschen zu Menschen und Gegenständen. Ohne diesen Abstand, auf den wir noch genauer eingehen werden, kann der Machthaber nicht (über)leben. Kant, der Name des »größte[n] Philosoph[en] der Aufklärung«139, vielleicht des größten modernen Philosophen überhaupt, sollte im Roman als Chiffre für diesen Typus des (intellektuellen) Machthabers fungieren. Er sollte zu einer Figur passen, die nicht nur das oberste Erkenntnisvermögen selbst repräsentiert, sondern die sich auch für den ersten Sinologen ihrer Zeit hält, einen von den obersten Tausend, den »Herr[n] im Hause« und – nicht zuletzt – den Herrn über das Leben der eigenen Frau (I, S. 130, 147 und 336). Zugleich sollte er durchblicken lassen, wie wenig Macht der Büchermensch tatsächlich besitzt und wie wenig er obendrein einem Namensahn entspricht, dem »Hochmut und Größenwahn« (V, S. 454) fremd waren und der auch den gemeinen Verstand zu schätzen wusste.140 Darin zeigt sich erneut die Ambiva-

|| 136 Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 198. Peter von Matt: Denker aus Leibeskräften. Eine Gedenkrede In: Ders.: Der Entflammte (wie Kapitel A1, Anm. 53), S. 46–54, hier S. 48 sieht in »Blendung« deshalb zurecht das »Gegenwort« zu »Verwandlung«. 137 Das Verschließen des Ohres erscheint auch in einem anderen Zusammenhang als Gestus der Macht. Nach dem Massen-Auflauf vor dem Theresianum lassen sich die Beamten anders als sonst dazu herab, »[…] selbst mit armen Teufeln einige Worte über die Ereignisse zu wechseln. Sie nahmen Meinungen von Menschen entgegen, denen das Ohr zu verschließen ihre heiligste Pflicht war.« (I, S. 324) 138 Vgl. dazu etwa I, S. 171: »Er gedachte der Kanten seines Körpers. Stein ist gut, Steinkanten sind besser.« 139 Windelband: Geschichte der neueren Philosophie 2 (wie Anm. 52), S. 2. 140 Vgl. AA XX, S. 44: »Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. […] Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte [sic] der Menschheit herzustellen.« In diesem Zusammenhang fordert Kant auch,

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lenz des Namens. Es wird vor diesem Hintergrund nicht mehr überraschen, dass Canetti für seinen Roman im September 1931 sowohl den Titel »Die Allmacht des Geistes« als auch die »Ohnmacht des Geistes« erwogen hat.141 Zwischen den beiden Kants gibt es eine weitere Parallele, die Dieter Dissinger sogar für die »auffallendste Gemeinsamkeit«142 gehalten hat. Es ist die Ordnungsliebe, das tertium comparationis von Leben und Wissenschaft, Pünktlichkeit und Erkenntnistheorie. Der Büchermensch ist sogar fest davon überzeugt, dass Wissenschaft nichts anderes als Ordnung sei (I, S. 331) – eine Meinung, der Kant vermutlich zugestimmt hätte. Immerhin gab er seinen Werken einen »systematischen und architektonischen Aufbau«143 und mühte sich, eine begriffliche Ordnung zu schaffen und zu wahren.144 So definiert er im ersten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft zunächst, was Sinnlichkeit und was Empfindung, was Erscheinung, was die Form der Erscheinung und was transzendentale Ästhetik sei.145 Auch Canettis Kant strebt auf seinem Gebiet nach der größtmöglichen Ordnung, es geht ihm dabei nicht ums Definieren, aber doch wie Kant um Verlässlichkeit. Er emendiert strittige Wörter und Passagen und stellt ein (in seinen Augen) unumstößliches Textcorpus her. Ordnen und klassifizieren möchte er selbst noch, als er längst nichts mehr zu lesen hat, allerdings auf ungewohntem Terrain. Vor dem Theresianum teilt er die Menschen »[z]ur besseren Übersicht« apriorisch in drei Gruppen ein und hofft, dass niemals jemand komme, der seine Bücher mit Lust versetze (I, S. 238f.). Und in Pfaffs Kabinett plant er, vor dem Guckloch kniend, eine »systematische Bearbeitung, die Bestimmung von Menschen nach Hosen« (I, S. 422). In wilder Entstellung ähnelt die Durchführung dieses Vorhabens den systematischen Forschungen eines Empirikers, der, so die implizite Kritik, immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wahrnimmt, für Canetti eine Form von Blindheit. Bei seinen Forschungen scheitert der Büchermensch freilich gerade dort, wo in der »reinen« Bibliothekswelt seine Stär-

|| dass man die Jugend lehren solle »[…] den gemeinen Verstand in Ehren zu halten aus so wohl moralischen als logischen Gründen.« 141 ZB 3. 142 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 127. 143 Stefan Gerlach: Immanuel Kant. Tübingen, Basel: Francke 2011 (UTB; 3485: Profile), S. 9. 144 Vgl, dazu auch die folgende Einschätzung aus Jachmanns drittem Brief: »Die hervorstechendste Kraft des Kantischen Geistes aber war, Begriffe zu zergliedern und sie in ihre einfachsten Bestandteile und Merkmale zu zerlegen.« Jachmann spricht wenig später von der »besondere[n] Eigentümlichkeit des Kantischen Geistes«: »[…] daß sich einzelne Begriffe in ihm so fest fixierten, daß er unablässig und oft unwillkürlich auf sie zurückkam.« Zitiert nach Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 140. 145 Vgl. AA III, S. 4f.

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ke liegt: bei der Ergänzung. Hier ist es die Ergänzung der Hosen zu Gestalten (I, S. 415). Canetti parodiert damit die kategorisierende Wissenschaft, zu der er sowohl Aristoteles als auch Kant rechnete.146 Darüber hinaus zieht er die Transzendentalphilosophie an einem trivialen Beispiel erneut ins Lächerliche. Der Büchermensch, dem die Ausschaltung der Sinne nie gelungen ist, gibt seinen Eindrücken eine geistige Ordnung: eine Ordnung nicht nach Begriffen oder Kategorien, sondern nach Hosen; sie ist sinnlos. Genauso sinnlos, eine Persiflage der komparativen Geschichtswissenschaft, ist die Zuordnung der Menschen zu Typen, »seine historische Methode« (I, S. 120). Sie offenbart, dass dem Büchermenschen auch die (reflektierende) Urteilskraft fehlt, »das Vermögen unter Regeln zu s u b s u m i r en «147. Für Canettis Büchermenschen gilt allerdings ebenso wie für Kant, dass nicht nur die wissenschaftliche Arbeit, allgemeiner noch: das Denken, sondern auch das alltägliche Leben einer strikten Ordnung unterworfen ist. Die Pünktlichkeit ist nur die überlieferungsgeschichtlich prominenteste Form dieser Ordnung. Mit »unerschütterliche[r] Festigkeit«, heißt es in den beiden Biografien von Jachmann und Wasianski übereinstimmend bis in die Wortwahl hinein, habe Kant seine Maximen befolgt.148 Sein Leben sei dadurch, so Jachmann, zu einer einzigen »Kette von Maximen«149 geworden. Wasianski weiß überdies zu berichten: Er war an den kleinsten Umstand durch seine ordentliche und gleichförmige Lebensart eine lange Reihe von Jahren hindurch so gewöhnt, daß eine Schere, ein Federmesser, die nicht bloß zwei Zoll von ihrer Stätte, sondern nur in ihrer gewöhnlichen Richtung verschoben waren, ihn schon beunruhigten, die Versetzung größerer Gegenstände in seinem Zimmer, als eines Stuhles, oder gar die Vermehrung oder die Verminderung der Anzahl derselben in seiner Wohnstube, ihn aber gänzlich störte, und sein Auge so lange an die Stelle hinzog, bis die alte Ordnung der Dinge wieder völlig hergestellt war.150

Ein solcher Ordnungswahn bestimmt auch das Verhalten des Büchermenschen. Schon als Kind fand er Unordnung »gemein«. In der größten Buchhandlung der Stadt, in der er sich mit neun Jahren über Nacht heimlich hatte einschließen lassen, hatte er jedes Buch erst wieder an seinen Platz zurückgestellt, bevor er zum nächsten gegriffen hatte (I, S. 12). Noch als Erwachsener, mit vier|| 146 Vgl. dazu ZB 14, 13. November 1962: »Mit der Hypertrophie der Einteilungen beginnt die Entartung des Geistes.« 147 AA III, S. 131. 148 Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 159 und 251. 149 Ebd., S. 157. 150 Ebd., S. 254f.

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zig Jahren, liegt ihm die Ordnung seiner Bücher derart am Herzen, dass er – als wäre es eine Maxime – nach jedem Spaziergang überprüft, ob inzwischen nichts durcheinander gekommen ist (I, S. 22). Und nach seiner Genesung freut er sich keineswegs darauf, endlich schreiben zu können, sondern darauf, seine durcheinandergeraten Papiere ordnen zu müssen (I, S. 124). Diese pathologische Pedanterie führt dazu, dass er sich auf folgenschwere Weise in seiner Haushälterin täuscht so wie Toni in ihrer Großmutter und Segenreich in seiner Frau und seinen Kindern: Ordnung müsse sein, sagt Therese während des Bewerbungsgesprächs, wobei sie aber – ein Beispiel für den zweiten Sündenfall, die babylonische Sprachverwirrung des Romans – nicht seinen Begriff von Ordnung im Kopf hat. Doch dem Büchermenschen genügt das Stichwort, der Anschein, wie später auch den Figuren in Hochzeit, und »[e]r war entwaffnet.« (I, S. 26) Seine Blindheit ist gerade keine Waffe, sondern Ursache seines Niedergangs. Acht Jahre später erscheint die geldgierige Wirtschafterin ihm als »[…] das beste Mittel, um meine Bibliothek in Ordnung zu halten.« (I, S. 47) Das bringt ihn dazu, sie zu ehelichen, nicht aus Neigung oder sexuellem Begehren, sondern aus Pflicht gegenüber seinen Büchern. Wie Kant erhofft er sich von der Ehe zudem einen finanziellen Vorteil.151 Während Kant die Mitgift im Auge hatte, nimmt der Büchermensch sich von Thereses vermeintlicher Erbschaft im Geiste rund eine Million für die Bibliothek (I, S. 145). Dennoch verstößt er sowohl mit seiner Heirat als auch mit der Instrumentalisierung des Todes gegen Kants praktischen Imperativ152: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«153 Selbst am Tag der Hochzeit, der entscheidenden Zäsur seines Lebens, bleibt der Büchermensch seinen Gewohnheiten treu. Auf dem Standesamt erscheint er gekleidet wie an einem Werktag, mit zerschlissenem Anzug und schiefen Sohlen. Und »[u]m zu betonen, daß ein Tag

|| 151 Vgl. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 263. 152 Den Tod erklärt er sogar zu etwas Sinnvollem: »Der Platz dieses Menschen war sein Tod.« (I, S. 145) Dass auch Fischerles Frau, die Pensionistin, ihren Mann zum bloßen Objekt degradiert, verrät die folgende Stelle: »Hatte er sechs Stunden lang spielend gesiegt und fand sich zufällig ein weiterer Anwärter auf Niederlagen, so legte sich die Frau ins Mittel und zwang ihn aufzuhören, er wurde ihr sonst zu frech.« (I, S. 192) Die Pensionistin ist auf der einen Seite zwar stolz auf Fischerles Ansehen im »Idealen Himmel«, ein Ansehen, das auch auf sie zurückfällt, macht ihn andererseits aber zu einem Objekt ihrer Macht, zum Kind. Ihre ambivalente Haltung verdeutlicht die folgende Passage: »Sie stellte sich selber vor, indem sie mit der Schulter auf Fischerle hinunterwies und nicht ohne Anflug von Stolz hinzufügte: ›Mein Mann.‹« (I, S. 197 – Hervorhebungen A.S.) 153 Das Zitat stammt aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zitiert nach AA IV, S. 429 (im Original hervorgehoben).

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wie der andere sei, auch dieser«, nimmt er nach der Trauung mit seiner Frau den Bus (I, S. 50). Seine Empfindlichkeit gegenüber Störungen übertrifft diejenige Kants154 bei weitem und macht sie somit lächerlich. Auch als Repräsentant der praktischen Vernunft, die das Handeln des Menschen steuern soll, wird der Büchermensch zu seinem eigenen Widerspruch.

6.1.3 »Der Spaziergang« Die bisherigen Parallelen zwischen Kant und Canettis Büchermenschen sind über den ganzen Roman verteilt. Im ersten Kapitel, das den Protagonisten in seinen wesentlichen Zügen vorstellt und auf das wir en passant schon eingegangen sind, tauchen sie allerdings in solch geballter Form auf wie später nicht mehr.155 Bereits die Überschrift, »Der Spaziergang«, scheint auf die Spaziergänge des Philosophen anzuspielen.156 Der Spaziergang, von dem das Kapitel erzählt, ist indes außergewöhnlich, eine Ordnungsstörung.157 Ganz »gegen seine Gewohnheit« beginnt der Büchermensch ein Gespräch mit dem neunjährigen Franz Metzger, der die Auslage im Schaufenster einer Buchhandlung studiert (I, S. 11). Da er ihm gute Bücher nahebringen möchte, zieht er aus seiner Tasche, in der Manier eines Verführers, das Buch des chinesischen Philosophen Mong und erklärt dem Knaben, wer Mong war, wann er lebte und wie man seinen Namen schreibt. Das geschieht nicht ohne Hintergedanken: »Gelegentliche Stöße, unerwartet empfangen, geben Menschen ihre Richtung fürs Leben.« (I, S. 11) Dass Canettis Kant, der bisher noch jede akademische Lehrtätigkeit abgelehnt hat,

|| 154 Vgl. Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 94: »Alles, was seinen gewohnten Lebenskreis unterbrach und veränderte, war ihm störend.« 155 Dieter Dissinger: Der Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 134), S. 30 hat den Anfang der Blendung treffend als »Quintessenz der ganzen Romanform« bezeichnet. 156 J. M. Paul: Rationalität und Wahnsinn in Canettis Roman Die Blendung. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), H. 3/4: Special Elias Canetti Issue, S. 111–131, hier S. 111 meint, dass der Spaziergang des Sinologen genauso durch ein einmaliges Ereignis unterbrochen werde wie Kants Spaziergang einst durch die Nachricht von der Französischen Revolution. Beide Ereignisse sind allerdings schlecht miteinander zu vergleichen. Denn Canettis Kant ist in das Ereignis unmittelbar involviert. Ohne Begründung stellt Martin Bollacher die These auf, es handele sich bei diesem Kapitel um eine »subtile Travestie von Robert Walsers gleichnamiger Erzählung«. Vgl. Elias Canetti. Die Blendung (1935/36). In: Michael Paul Lützeler (Hg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein i.Ts.: Athenäum 1983, S. 237–254, hier S. 244. 157 Sie setzt sich darin fort, dass dem Büchermenschen in der Bibliothek das Buch des Philosophen Mong zu Boden fällt (I, S. 22).

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hier unversehens seine pädagogische Ader entdeckt, erinnert an sein Vorbild. Denn Kant, der spätere Professor, war nach seinem Studium mehrere Jahre lang als Hauslehrer tätig und beabsichtigte, ein Lehrbuch der Physik für Kinder zu schreiben.158 Canettis Kant hat begrenztere Ambitionen: Er möchte dem Jungen seine eigene Wissenschaft nahebringen und ihn von dem ganzen »niederträchtigen Zeug« in den öffentlichen Buchhandlungen abbringen (I, S. 10). Damit sind wahrscheinlich Romane gemeint; denn in einem späteren Kapitel möchte der Büchermensch sie von Staats wegen verboten sehen (I, S. 42), so wie Platon die Dichtung im idealen Staat. Doch auch Kant wandte sich in seiner Schrift Über Pädagogik gegen Romane: Ihre Lektüre schwäche das Gedächtnis, behauptet er, darum müsse man sie den Kindern aus den Händen reißen.159 Das ist eine weitere Parallele zwischen Geschichte und Fiktion. Der historische Kant, der über ein exzellentes Erinnerungsvermögen verfügte160, hielt das Gedächtnis ebenso sehr für den Ermöglichungsgrund geistiger Leistungen wie der Büchermensch. Dieser attestiert sich ein »wahrhaft phänomenales Gedächtnis« (I, S. 18)161 und meint, er trage »gleichsam eine zweite Bibliothek im Kopf«, genauso zuverlässig wie die erste (I, S. 18) – auch das eine Form von Ordnung. In der erwähnten Abhandlung Über Pädagogik vertritt Kant die Auffassung, dass die Jugend, »sobald sie sich in die Geschäfte der Welt einlasse[]«, allerlei Stöße hierhin und dorthin erhalte.162 Damit keine Konfusion entstehe, müsse sie möglichst früh dazu erzogen werden, nicht jeder Anregung nachzugeben. Der erste Anstoß ist für Kant deshalb entscheidend: Er soll den noch wilden Menschen auf Disziplin und Selbstbeschränkung verpflichten, ihn das Fokussieren lehren. Der Büchermensch hat diesen Gedanken auf seine Weise verinnerlicht. Da er sich bei seiner Arbeit keine »Abschweifungen« erlaubt (I, S. 10), möchte er auch Franz Metzgers »Empfänglichkeit« beschränken, dem Leben des Knaben eine feste Richtung geben: nicht hin zu Fußball, Geld, Sexualität oder Liebe, sondern zur Sinologie. »[S]o hatte er einen Namen im Kopf, der sich schwer

|| 158 Vgl. Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 148. Kants Verhältnis zu Kindern skizziert Jachmann wie folgt: »Bis zum Entzücken liebenswürdig erschien der große Mann noch in seinem Greisenalter durch sein liebreiches Betragen gegen ganz junge Kinder.« Zitiert nach Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 151. 159 Vgl. AA IX, S. 473. 160 In Über Pädagogik zitiert Kant den Ausspruch: »tantum scimus, quantum memoria tenemus« Siehe AA IX, S. 472. 161 Für den Büchermenschen ist das »Gedächtnis die »Voraussetzung zu wissenschaftlicher Exaktheit«. (I, S. 336) 162 AA IX, S. 442.

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vergaß: den des Philosophen Mong.« (I, S. 11) Der Zögling, so ließe sich der pädagogische Grundsatz des Büchermenschen formulieren, soll aufnehmen und nachahmen, sich an Gehörtes erinnern und es repetieren, oder wie Kant zusammenfassend schreibt: »der Leitung eines Andern folgsam sein«163. Er soll aber keine Fragen stellen, das ist das Privileg seines Lehrers. Der Büchermensch nutzt dieses Privileg, um sich des Knaben bereits über die direkte Anrede zu bemächtigen (»mein Junge« – I, S. 7164). Wie später bei Segenreich und Christa, Leni und Thut in Hochzeit, Schakerl in Komödie der Eitelkeit und dem Lehrer in der Mellah ist das Objekt auch seines Machtwillens ein Kind. Das Gespräch zwischen dem Büchermenschen und dem Jungen ist zugleich ein Vorgriff auf Masse und Macht, ein literarisches Exerzierfeld für Canettis Theorien über Frage und Antwort.165 Der Büchermensch ähnelt dabei dem (nach Canetti) größten Machthaber: dem Gott des Alten Testaments. Er, der keine Kinder zeugen will, erschafft durch Projektion das »Ebenbild seiner Jugend«, einen Menschen nach seinem Abbild. Das ist Hybris166, die Ursünde des Machthabers. || 163 AA IX, S. 475. Vgl. dazu die Kritik an Kants Pädagogik in Böhme und Böhme: Das Andere der Vernunft (wie Anm. 71), S. 434: »Erziehung ist die Produktionsmaschine der Vernunft, die Menschen hervorbringt.« »Der aufgeklärte Prometheus verwandelt Menschenbildung in eine Protofabrik nach dem Muster totaler Organisationen: der uniforme Mensch ist das Ziel.« 164 Vgl. dazu I, S. 344: »Wenn er [der Kommandant – A. S.] ›meine Herren‹ sagt, wissen die Herren, daß er den Sieg in Händen hält und überschütten ihn mit bewundernden Blicken.« Fischerle gebraucht die Anrede, um seine ›Angestellten‹ zu täuschen und loszuwerden, nachdem er den Büchermenschen fast um das gesamte Geld gebracht hat – auch das ein Triumph: »›Meine Herren‹, weinte er, ›ich bin ruiniert.‹« (I, S. 362) Später gibt er einigen Jungen mit derselben Anrede das Gefühl, sie seien Männer, und lässt sich von ihnen im Triumph auf den Schultern tragen (Vgl. I, S. 391). 165 Vgl. III, S. 338: »Denn die Wirkung der Fragen auf den Fragenden ist eine Hebung seines Machtgefühls; sie geben ihm Lust, noch mehr und mehr zu stellen. Der Antwortende unterwirft sich um so mehr, je häufiger er den Fragen nachgibt.« Auch die Erörterungen zur »Doppelfrage« im selben Kapitel lassen sich mit dem Roman verknüpfen. Man kann vor ihrem Hintergrund die These aufstellen, dass sich der Büchermensch sein »Ebenbild« zum Teil herbei phantasiert. In Masse und Macht heißt es: »›Was möchtest du lieber, einen Apfel oder eine Birne?‹ Das Kind wird schweigen oder es wird ›Birne‹ sagen, weil dies das letzte Wort ist. Aber eine wirkliche Entscheidung, die eine Trennung zwischen Apfel und Birne wäre, fällt ihm schwer, im Grunde möchte es beides.« (III, S. 341) In Die Blendung nimmt der Büchermensch die Antwort auf seine Doppelfrage für bare Münze: »›Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?‹ ›Ein Buch.‹ ›Wirklich? Das ist schön von dir. Deshalb stehst du also da.‹« (I, S. 7) Vgl. auch Johan Potgieter: Elias Canetti: Individuum versus Masse. Eine sprachrealistische Veranschaulichung seiner Philosophie in Die Blendung. In: Modern Austrian Literature 27 (1994), H. 3/4, S. 71–81, hier S. 75. 166 In seinem Gespräch mit Friedrich Witz attestiert Canetti dem Büchermenschen vor allem eine Eigenschaft: Hochmut. Vgl. X, S. 207f.

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Die »erzieherischen Gefühle[]« (I, S. 11) des Büchermenschen sind allerdings selbst nicht mehr als eine Laune. Sie taugen nicht zur Maxime.167 Da sein »Mitleid«, wie er es abschätzig nennt, sehr schnell verflogen ist, verwehrt er dem Knaben in der Folge zweimal den Zutritt zur Bibliothek und schlägt ihn schließlich brutal zu Boden168 – eine Verwirklichung seiner Gewaltphantasien, die der eigenen Frau gelten und einen Schwächeren treffen. Wie die Verzögerungstaktik unmittelbar nach seiner Offerte zeigt, hat er keineswegs die Absicht, den Jungen in seine Bibliothek zu lassen. Sein Angebot ist, mit Kant gesprochen, ein falsches Versprechen – und damit ein Verstoß gegen den Allgemeinheitsgrundsatz des Kategorischen Imperativs.169 Im Unterschied zum historischen Kant ist der Büchermensch an Kindern, auch an seinem scheinbaren »Ebenbild«, nur aus flüchtiger Neigung interessiert und nicht aus vernunftbegründetem Pflichtgefühl. Darum nimmt er in Kauf, dass Franz nicht ihm nacheifert, dem Gelehrten, sondern dem Vater, einem »gewöhnliche[n] Arbeiter« (I, S. 35). Der Name des Knaben bringt zum Vorschein, wie schwer die Schuld des Büchermenschen wiegt. Denn namensmythologisch gesehen kann der Junge sich in zwei verschiedene Richtungen entwickeln.170 Während sein Vorname an Franz von Assisi erinnert, den Typus des Asketen und Geistmenschen, bezeichnet der Nachname dessen Gegensatz: das Animalische (Fleischerhund), den Typus des Wüstlings und Sinnesmenschen.171 In Canettis Roman verkörpern ihn der namenlose Fleischer, ein Schürzenjäger, der vor Jahren

|| 167 Nachdem er einem Jungen die Tasche mit den geliebten Büchern über den Kopf gehauen hat, ein »großes Opfer« für den Blinden, den der Junge mit einem Knopf betrogen hatte, möchte der Büchermensch auf die »viel tiefere Ebene des Mitleids« zurückkommen und gibt dem Bettler deshalb sein ganzes Geld (I, S. 20). 168 Diese Brutalität kündigt sich gerade dort an, wo der Büchermensch sich für den Blinden einsetzt und einen anderen Jungen schlägt (I, S. 20). Die Szene erinnert an eine Episode, von der Borowski erzählt. Während er einen Betteljungen mit Geld loswerden wollte, schlug Kant diesen Jungen mit dem Stock in die Flucht. Vgl. Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 83. 169 Vgl. etwa AA IV, S. 421: »[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« 170 Darauf deutet auch hin, dass Franz Metzger Kien als »Junge mit den starren Augen und dem beweglichen Kopf« erscheint (I, S. 11). Während die starren Augen ein typisches Merkmal des verwandlungsunfähigen Menschen sind, steht der bewegliche Kopf metonymisch für das Gegenteil. 171 Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 89 hält den Nachnamen zu Recht für einen »Kontrollmechanismus«, der die Entwicklung des Knaben so steuern und beschränken soll, dass er in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Auf den Vornamen geht Yau-Chin allerdings nicht ein.

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mit Therese im Bett landete (I, S. 65f.), ein ebenfalls namenloser Viehhändler, der zu den Freiern der Pensionistin gehört (I, S. 194), Sergeant Delboeuf (Rind), mit dem Jeanne ihren (namensmythologisch: wesensverwandten) Mann Jean betrügt (I, S. 445), und nicht zuletzt der Vater des Knaben selbst. Zwar heißt er ebenfalls Franz Metzger, doch im dualistischen Spiel der Kräfte hat er dem Zauber seines Vornamens gleichsam widerstanden. Wie bereits nachgewiesen wurde, hat sich auch der Büchermensch den Dualismus von Körper und Geist zu Eigen gemacht. Alle Fleischhacker, Bäcker und Schneider gehören seiner Meinung nach zu den Barbaren, den Affen, dem »Analphabetengesindel« (I, S. 47), mit Kant könnte man auch sagen: zu den Wilden. Markus Fauser hat darauf hingewiesen, dass man sich in China einst erzählte, der Philosoph Mong wäre Metzger geworden, hätte sich seine Mutter nicht um die Erziehung gekümmert.172 Gerade das versäumt der Büchermensch. Während der Philosoph Kant sich für einen miserablen Erzieher hielt173, ohne es gewesen zu sein, ist der Büchermensch es in Wirklichkeit. Durch sein rüdes Vorgehen gegen den Jungen wird er sogar zum Barbaren. Später, als er in Therese eine ›spätlernende Greisin‹ zu erkennen glaubt (I, S. 38), wiederholt sich sein Verhalten in groben Zügen, abgesehen vom finalen Gewaltexzess. Er verspricht ihr ein Buch, ärgert sich über sein Versprechen und rückt nur einen Roman von Willibald Alexis heraus, den schmutzigsten Band der Bibliothek. Sein Titel Die Hosen des Herrn von Bredow verweist auf den Schneider und enthüllt, für wie dumm der Büchermensch seine Wirtschafterin hält; später wird er auch ihr Analphabetismus unterstellen (I, S. 133). Obendrein nennt der Titel aber – zeichenhaft – eine Distanzlast. Auch wenn die spätere Heirat ohne das Buch undenkbar ist, bleiben Lehrer und Schülerin, Mann und Frau voneinander getrennt. Beides zeigt symbolisch, dass die Figuren des Romans so isoliert sind, wie es die Figuren der »Comédie Humaine an Irren« sein sollten. Nach seiner Begegnung mit dem jungen Metzger erinnert sich der Büchermensch daran, dass er im selben Alter, mit neun, zum ersten Mal gelogen hatte. Er wollte der Mutter verheimlichen, dass er sich mit Absicht in einer Buchhandlung hatte einsperren lassen. Sofort versichert er sich aber, dass er die Lüge immer verabscheut und nie wieder gelogen habe, auch das eine Parallele zu Kant, der die Lüge in Die Metaphysik der Sitten die »größte Verletzung der

|| 172 Markus Fauser: Eremiten in der Bibliothek. Canettis Büchermensch im Hinblick auf seine Verwandten bei Unamuno und Nabokov. In: Euphorion 88 (1994), H. 2, S. 184–209, hier S. 194. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Kants Antipode an der Universität den Namen Metzger trug. Vgl. Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 19. 173 Vgl. Fischer: Kant 1 (wie Anm. 51), S. 53.

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Pflicht des Menschen gegen sich selbst«, ein »Widerspiel der Wahrhaftigkeit«, genannt hatte.174 Diese Ansicht prägte auch Kants Alltagsleben, wie Jachmann zu berichten weiß: »[E]s ist kein Betrug in seinem Munde erfunden; denn wenn je ein Mensch der Wahrheit huldigte, diese Huldigung durch sein ganzes Wesen offenbarte und auch an andern über alles schätzte, so war es Kant.«175 Canettis Kant will mit seinem ganzen Wesen ebenfalls der Wahrheit huldigen, gegen Ende hält er sich gar für die Wahrheit selbst (I, S. 493). Auch als Forscher sieht er sich in den Dienst der Wahrheit gestellt: »Wissenschaft und Wahrheit waren für ihn identische Begriffe.« (I, S. 13)176 Der Weg zur Wahrheit führt ihn indes nicht in die Welt hinein, sondern aus ihr heraus: »Man näherte sich der Wahrheit, indem man sich von den Menschen abschloß. Der Alltag war ein oberflächliches Gewirr von Lügen.« (I, S. 13) Die Folgen dieser Haltung, die wieder auf größtmögliche Ordnung abzielt, zeigt Canetti in einer Szene, bei der die Rollen von Fragendem und Antwortendem – verglichen mit dem einleitenden Gespräch – vertauscht sind: Nun wird der Büchermensch gefragt. Ein Mann will von ihm wissen, wo die Mutstraße sei; doch der Büchermensch bezieht die Frage nicht auf sich. Er schweigt, während der Mann ihn dreimal um Auskunft bittet. Bald ist er so verärgert, dass er sein stummes Gegenüber als »Skelett« beschimpft (I, S. 15). Es spricht vieles dafür, dass Canetti in dieser Szene einige zentrale Gedanken aus Kants Schriften herausgelöst und in einen trivialen Zusammenhang gestellt hat, offensichtlich, um ihre mangelnde Praxistauglichkeit zu demonstrieren. Da wäre z.B. der vielzitierte erste Satz aus der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.177

Auch der Büchermensch, die Verkörperung der reinen theoretischen Vernunft, wird von einer Frage belästigt, die sich nicht abweisen lässt; denn der Fragende beharrt auf einer Antwort. Es ist aber keine schwierige metaphysische || 174 AA VI, S. 429. Ohne konkrete Belege macht auch Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 206 auf diese Parallele aufmerksam. 175 Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 153. 176 Siehe dazu auch die Beteuerung des Büchermenschen während des Prozesses: »Glauben Sie mir, die Wissenschaft verpflichtet mich zur Wahrheit.« (I, S. 347) Der Büchermensch ist jedoch nicht der einzige, der sich der Wahrheit verpflichtet glaubt. Auch Therese behauptet, sie liebe die Wahrheit über alles (I, S. 103 und 135). 177 AA IV, S. 7.

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Frage, die das Vermögen der Vernunft bei weitem übersteigt, sondern die einfache Bitte um Auskunft. Und es ist nicht die »Natur der Vernunft« selbst, die diese Frage stellt, sondern – wie grotesk! – ein kleiner, dicker Mann. Doch der Büchermensch bleibt bei seinem Schweigen, eine Parodie auf die »philosophiegeschichtliche[] Person« des schweigenden Kant.178 Die personale Erzählweise179 gibt dem Leser allerdings einen Einblick in seine Gedanken: Der Büchermensch preist den Schweiger insgeheim als einen »Charakter« unter Tausenden von charakterlosen Menschen (I, S. 14). »Charakter« bedeutet für ihn: den eigenen Maximen treu zu bleiben und sich nicht auf andere Menschen einzulassen. Mit Spannung verfolgt er, ob der Angesprochene antworten, sich als ›gewöhnlicher‹ Mensch erweisen werde. In diesem Fall, so seine eitle Hoffnung, bliebe er selbst »[…] unbestritten das, wofür er sich hielt: der einzige Charakter, der hier spazierenging.« (I, S. 15) Dieser Schluss ist zirkulär, eine Persiflage des kategorischen Imperativs.180 Denn der Büchermensch verlangt, alle Menschen sollen handeln wie er (eine Variante seines quasi-göttlichen Schöpfungsanspruchs), und kann nicht einmal eine Alltagssituation meistern. Sein Wunsch, der einzige zu sein, entlarvt dabei erneut seine Machtgier. Dass er zuvor, im Gespräch mit dem Knaben, gegen die eigene Maxime verstoßen hatte, blendet er ohnehin aus. Nach seinen strengen Maßstäben wäre er überhaupt kein Charakter. Der Büchermensch gebraucht das Wort »Charakter« in einem ähnlichen Sinn wie Kant. Für beide gehört zu einem Charakter vor allem Beständigkeit, die innere Unabhängigkeit vom verwirrenden Wechselspiel der Neigungen. Im zweiten Teil der Anthropologie heißt es:

|| 178 Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie. 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 143. Vgl. dazu auch III, S. 349: »Das Schweigen isoliert: Wer schweigt, steht mehr allein als die Sprechenden. So schreibt sich ihm die Macht der Vereinzelung zu. Er ist der Hüter eines Schatzes, und der Schatz ist in ihm.« 179 Zur Erzählperspektive vgl. etwa Dieter Liewerscheidt: Ein Widerspruch in der Erzählkonzeption von Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Wirkendes Wort 28 (1978), H. 5, S. 356–364, hier S. 359. Eine wichtige Differenzierung findet sich bei Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 87), S. 255: »Der Erzähler ist nicht nur in der Figurenperspektive anwesend, indem er sie negiert, sondern er greift kommentierend in die Romanhandlung ein; das für die Blendung in der Forschungsliteratur konstatierte personale Erzählverhalten nähert sich mithin dem auktorialen Erzählverhalten an.« So auch Paal: Die Figurenkonstellation in Canettis Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 94), S. 105. 180 Das Adjektiv wird in Die Blendung mehrmals lächerlich gemacht. Fischerle erklärt »kategorisch«, seine Firma sei eine Branche, weil er seine »Geschäftsgeheimnisse« nicht verraten will (I, S. 244). Auch hier ist es einem Machthaber zugeordnet. Persifliert wird Kants berühmter Begriff auch, indem die Pensionistin, aus Ärger über ihren Mann, »kategorisch« erklärt, »[…] jetzt müsse alles anders werden oder sie nehme sich einen anderen.« (I, S. 194)

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Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Principien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.181

Kant war der Meinung, der Mensch komme erst mit seinem vierzigsten Lebensjahr so zur Ruhe, dass er einen Charakter ausbilden könne.182 Canettis Büchermensch ist exakt vierzig Jahre alt, was ihn selbst allerdings nicht an Kant, sondern an Konfuzius denken lässt (I, S. 46). Kants Ansicht über das vierzigste Jahr spielt trotz allem in den Roman hinein – umso mehr, als der Büchermensch Kants Definition des Charakters nicht gerecht wird. Das liegt keineswegs nur an einem singulären Verstoß gegen die eigene Maxime, sondern an seiner gesamten Lebensweise. Denn an anderer Stelle heißt es in der Anthropologie: »Darum aber darf der Vernunftmensch doch auch nicht Sonderling sein; ja er wird es niemals sein, weil er sich auf Principien fußt, die für jedermann gelten.«183 Canettis Kant, der sich für einen Vernunftmenschen hält, ist ein Sonderling: zum einen, weil er vor der Welt in seine Bibliothek flüchtet, und zum anderen, weil seine Grundsätze in ihrer irren Übersteigerung keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können.184 Wie kurz darauf erneut deutlich wird, hat er keine Prinzipien. Auf dem Nachhauseweg zieht er ein Buch aus der Tasche, in das er alle »Dummheiten« einzutragen pflegt (I, S. 19)185. Auch das erinnert an Kant, der nach der Entlassung seines langjährigen Dieners in ein Notizbuch geschrieben haben soll: »Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.«186 Canettis

|| 181 AA VII, S. 292. 182 Vgl. Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 174. 183 AA VII, S. 293. 184 Es ist deshalb konsequent, dass Georges die Irren in seiner Anstalt gerade wegen ihrer »vollendete[n] Einseitigkeit« für »wahre Charaktere« hält (I, S. 435). Auch der Blinde meint, er sei ein Charakter (I, S. 282). Peter selbst betrachtet den Charakter sogar (ganz gegen Kant) als die Grundlage für die Ausbildung eines Wahns (I, S. 479). 185 Während der gelehrte Büchermensch andere für dumm hält, ist er nach Kants Maßstäben selbst ein Dummkopf, da er keine Urteilskraft besitzt. Vgl. AA III, S. 132: »Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jener (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.« 186 Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 257. Konrad Kirsch: Canetti und Rousseau. Sulzbach: Konrad Kirsch-Verlag 2002, S. 3 sieht hier eine dezente Anspielung auf Rousseaus Les rêveries du promeneur solitaire.

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Kant hält es genauso187 – ein Widerspruch zu seinem phänomenalen Gedächtnis, das jede Kleinigkeit angeblich für immer aufbewahrt: »Alles, was er vergessen wollte, trug er da ein.« (I, S. 19) In diesem Fall notiert er: 23. September, ¾ 8 Uhr. Auf der Mutstraße begegnete mir ein Mensch und fragte mich nach der Mutstraße. Um ihn nicht zu beschämen, schwieg ich. Er ließ sich nicht beirren und fragte noch einige Male; sein Benehmen war höflich. Plötzlich fiel sein Blick auf ein Straßenschild. Er bemerkte seine Dummheit. Statt sich in aller Eile zu entfernen, wie ich es an seiner Stelle getan hätte, überließ er sich einem maßlosen Zorn und beschimpfte mich auf das gröblichste. Hätte ich ihn nicht geschohnt, so wäre mir die peinliche Szene erspart geblieben. Wer war der Dümmere? (I, S. 19)

Dieser Bericht ist falsch. Kein Wort darüber, dass der Büchermensch sich vor dem Stoß nicht mit dem Schweiger identifiziert hatte. Und kein Wort darüber, dass der Mann ihn nicht beschimpft hatte, weil er die eigene Dummheit eingesehen und die Mutstraße selbst gefunden hätte, sondern weil der Gefragte so unhöflich war, ihm dreimal die Antwort zu verweigern: »Sie haben kein Benehmen! Ich hab' Sie in aller Höflichkeit gefragt! Was bilden Sie sich denn ein! Sie Grobian! Sind Sie stumm? […] Sie werden sich entschuldigen! Ich pfeife auf die Mutstraße! Die kann mir jeder zeigen! Aber Sie werden sich entschuldigen!« (I, S. 15)

Canettis Kant verdreht die Erinnerung in seinem Sinn. Der letzte Satz, mit dem er zu beweisen meint, dass er auch bei sich mit Kritik nicht Halt macht (I, S. 19), ist eine rhetorische Frage. Denn die vorangestellte Schilderung zielt bereits darauf ab, den Mann als den Dümmeren zu diskreditieren. Das aber zeigt: Der Büchermensch lügt. Er lügt, obwohl er sich der Wahrheit verpflichtet fühlt – was diese Verpflichtung nun wiederum selbst zu einer Lüge macht. Sein »Widerspiel der Wahrhaftigkeit« unterscheidet ihn von Kant, der absolute Ehrlichkeit bei allen Erklärungen forderte.188 Auch die eigene pädagogische Maxime befolgt der Büchermensch nicht, weil er sich selbst für gefestigt erachtet. Der Stoß, den er in der Mutstraße erhält, gibt ihm keine neue Richtung fürs Leben, auch spätere Stöße verändern ihn nicht. Der Büchermensch wohnt zwar in der

|| 187 Vgl. Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 36 (ohne die Kant-Parodie zu erkennen). Josef Fürnkäs: Geschichte oder Tradition? Die Gegenwart des Vergangenen bei Elias Canetti. In: Stieg und Valentin (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen« (wie Einleitung, Anm. 10), S. 61–81, hier S. 62 sieht auch »formale Anleihen bei der barocken Emblematik, deren dreiteiligen didaktischen Aufbau seine [des Büchermenschen – A.S.] Notizen parodieren«. 188 Vgl. AA VI, S. 429.

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Ehrlichstraße189, aber die subjektive und die objektive Wahrheit fallen bereits im ersten Kapitel auseinander: »Alles ist Lüge, es gibt keinen Glauben.« (I, S. 176) Wie sehr sich Canettis Figur an Kant orientiert und wie wenig sie ihm im Einzelnen entspricht, enthüllt zu guter Letzt ein unscheinbares und doch nicht unbedeutendes Detail. Es ist der Name der Straße, die der kleine, dicke Mann vergeblich sucht: die Mutstraße. Es handelt sich hierbei um einen redenden Namen190, der auf verschiedene Stellen im Roman verweist. Sie haben nicht alle mit Kant zu tun, führen aber doch wieder zu ihm hin. Kurz vor seinem Heiratsantrag zitiert der Büchermensch eine Sentenz des Konfuzius: »›Das Rechte sehen und es nicht tun, ist Mangel an Mut‹« (I, S. 48), ohne zu begreifen, dass gerade er das Rechte nicht gesehen hat. Viel später, als er im »Idealen Himmel« an einem Einzeltisch Platz genommen hat, fragt er sich aus Furcht vor den zwielichtigen Gästen: »Wer hatte den Mut, einem solchen Nebenmenschen auf die Zehen zu treten?« (I, S. 189) Beide Passagen weisen zurück auf die Episode in der Mutstraße. Der Büchermensch hat hier, am Beginn des Romans, die Gelegenheit, zu erkennen, wie er sich richtig zu verhalten habe. Doch er belügt sich selbst, hat nicht den geringsten Mut, das Rechte zu sehen, geschweige denn zu tun; er ist ein miserabler Schüler des Konfuzius.191 Wichtiger als das Rechte zu erkennen oder sich um diese Erkenntnis zu bemühen, erscheint ihm, die eigenen Vorurteile zu konservieren, sich selbst zu loben und die Nebenmenschen zu verunglimpfen, kurzum: sich nicht berühren zu lassen. Im ersten Kapitel tritt || 189 Auch hier handelt es sich um einen paradoxen Namen. Zwar gibt es in Wien tatsächlich eine Ehrlichstraße (XIX. Wiener Gemeindebezirk), allerdings kein Haus mit der Nummer 24. Vgl. dazu Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 45 und 50: »Die verlogenen, sadistischen und grotesken Vorkommnisse in diesem Gebäude [...] kontrastieren sinnfällig mit dem Namen der Strasse.« Vgl. auch Carolina Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung. Eine Studie zur Intertextualität mit einem Verzeichnis der Bibelstellen. Innsbruck: Innsbruck University Press 2006 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe; 70), S. 74. Wie der Büchermensch lügt auch Therese, meint aber zugleich, sie liebe die Wahrheit über alles (I, S. 135). Pfaff, der dem Büchermenschen Thereses Speisen als Restaurantessen verkauft und ihm die geforderte Zeche mit Gewalt abnimmt, nennt sich »seiner Ehrlichkeit wegen« eine Seele (I, S. 425). 190 Es gibt in Wien keine Mutstraße, sondern nur eine Muthgasse im Stadtteil Heiligenstadt. Vgl. Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Anm. 189), S. 74, Anm. 17. Vgl. auch schon Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 173. 191 In den Entwürfen zu Das Augenspiel hebt Canetti hervor, dass der Büchermensch mit Konfuzius nichts gemein hat. »Denn Konfuzius ist ein Lehrer der Menschen und will auf einen einwirken, er führt das Leben eines Wanderlehrers. K., meine Hauptfigur [,] ist von solcher Verachtung für die Menschen erfüllt, dass er sie nicht einmal etwas lehren möchte. Er weigert sich, eine Lehrkanzel anzunehmen, er hat nie Studenten, seinen Hochmut lebt er völlig allein und meidet Berührung mit andern.« Siehe ZB 60, 11. Juni 1981.

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ihn einer dieser verachteten Nebenmenschen nun gleichsam auf die Füße. Er besitzt eben jenen Mut, der dem Büchermenschen fehlt. Es ist allerdings nicht der Mut, von dem Konfuzius spricht. Das Wort meint im Roman nicht etwa ein beherztes Handeln, mit dem der Mensch seine Einsichten in die Tat umsetzt; mutig ist vielmehr derjenige, der sich einem überlegenen Gegenüber aggressiv nähert, es erniedrigt und beleidigt, so wie der Mann in der Mutstraße. Diesen Mut besitzt auch Fischerle, der beim Anblick seiner reumütig schluchzenden Frau, die ihn als »Krüppel« beschimpft hat, »neuen Mut« fasst und sie seinerseits demütigt (I, S. 200).192 Der Büchermensch aber, bei Therese selbst ohne Mut, verlangt von seinen Büchern ein »mutiges Herz«, damit sie sich zum »Heiligen Krieg« erheben (I, S. 97). Obwohl die Sprache in der babylonischen Welt des Romans nicht weniger durcheinander geraten ist als in der Welt des Konfuzius193, ist der Büchermensch kein Edler im Sinne seines Meisters. Denn ein

|| 192 In Die Blendung ist der Komplementärbegriff zu »Mut« die »Frechheit«. Während das Wort »Mut« die Perspektive des Unterlegenen voraussetzt, bezeichnet »Frechheit« umgekehrt den Angriff auf den Mächtigen. Die Stellen, an denen dieses Wort auftaucht, sind so zahlreich, dass zum Nachweis dieser These wenige Beispiele genügen müssen. Therese: »Frech sind die Kinder, es ist nicht zum glauben [sic].« (I, S. 35) Kien zu Franz Metzger: »›Was! […] frech wirst du auch noch!‹ Der Bengel verhöhnte ihn.« (I, S. 56) Für die Pensionistin ist die Königin beim Schach ein »freche[s] Weib«, das »genommen« werden muss (I, S. 198f.). Auch dem Mann in der Mutstraße unterstellt Kien »Frechheit«: »Ein fetter Wicht, dessen Höflichkeit nach einigen Augenblicken in Frechheit umschlug, konnte ihn nicht beleidigen.« (I, S. 15) Fischerle attestiert sich vor dem Theresianum zunächst selbst Frechheit: »Diese Frechheit, sich unter Leute zu trauen, die ihn erkannten!« (I, S. 356) und moniert nur wenig später, dass die Vier ihm gegenüber frech seien: »Er preßte die Arme eng an sich, empört über die Frechheiten, die sich Chefs von ihren Angestellten heute gefallen lassen, er nicht […].« (I, S. 358) 193 Obwohl im »Idealen Himmel« Namen ein »Fetisch« sind (I, S. 194), stimmt der Name des Lokals nicht mit dem Benannten überein. Wie sehr die Sprache im »Idealen Himmel« durcheinander geraten ist, zeigt sich daran, dass Fischerle das Wort »Stipendium« fälschlicherweise aus dem Französischen ableitet und mit »Kapital« übersetzt. Kien reagiert darauf peinlich berührt, ohne die Konsequenzen aus seiner anschließenden Einsicht zu ziehen: »An ihrer Etymologie sollt ihr sie erkennen.« (I, S. 196) Die Welt des Konfuzius war nach der Schwächung der herrschenden Zhou-Dynastie von einer »eigentümliche[n] Spaltung« gekennzeichnet: »Auf der einen Seite stand eine Dynastie ohne Macht, aber mit noch weiterbestehender, wenngleich lädierter Legitimation; auf der anderen Seite gab es eine Reihe unterschiedlicher Herrscher ohne Legitimation, aber ausgestattet mit genügender Machtfülle, um wenigstens kurzfristig die Führung des Landes zu übernehmen.« Vgl. dazu Wolfgang Bauer: Geschichte der chinesischen Philosophie. Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus. Hg. von Hans van Ess. München: Beck 2006 (Beck'sche Reihe; 1700), S. 51–53, hier S. 52. Für Konfuzius war die Krise des Reiches vor allem eine Krise der Namen, sprich: der ethischen und sozialen Nomenklatur. Er forderte deshalb die Richtigstellung der Namen

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Edler muss »[…] die Begriffe und Namen korrekt benutzen und auch richtig danach handeln können. Er geht mit seinen Worten niemals leichtfertig um.«194 Dass er sich trotzdem auf Konfuzius beruft, bestätigt seine grundsätzliche Ambivalenz. Noch mehr als für Konfuzius ist Mut für Kant ein Schlüsselwort. Denn es benennt den Kernvorgang der Aufklärung, die sich gegen die Bevormundung des Menschen durch vermeintliche Autoritäten richtet. Berühmt sind die Anfangssätze seiner Beantwortung der Frage, was Aufklärung sei. Sie könnten Canetti inspiriert haben, der Straße diesen Namen zu geben195: AUFKLÄRUNG IST DER AUSGANG DES MENSCHEN AUS SEINER SELBST VERSCHULDETEN UNMÜNDIGKEIT. UNMÜNDIGKEIT ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. SELBSTVERSCHULDET ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.196

Bereits im ersten Kapitel präsentiert Canetti einen selbstverschuldet unmündigen Kant, einen Sklaven der eigenen, radikalen Überzeugungen, der sein Verhalten nur zum Schein hinterfragt. Am deutlichsten wird diese Unmündigkeit im Kapitel »Verhungert«: Auf seinem Posten im Theresianum ist der Büchermensch plötzlich »[…] zu jedem Mut bereit, weil er fremden Befehlen gehorchte.« (I, S. 278) Der Satz verkehrt Kants These in ihr Gegenteil und ist auch mit dem Spruch des Konfuzius nicht vereinbar: Mutig ist derjenige, der sich lenken lässt. So wie das Heer der Bücher zuvor dem Büchermenschen gehorchen sollte, so möchte er nun den Befehlen Fischerles folgen, ohne selbst Verantwortung zu tragen. Das ist mehr als eine Verkehrung seiner Rolle, es erweist ihn ein weiteres Mal als Verkehrung seiner selbst. Er ist der Antipode des historischen Kant, der nichts schrecklicher fand, als dass ein erwachsener Mensch

|| (»zheng ming«). Vgl. dazu Heiner Roetz: Konfuzius. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, München: Beck 2006 (Beck'sche Reihe, Denker; 529), S. 50. 194 Gespräche 13,3. Zitiert nach Konfuzius: Gespräche (Lun-yu). Aus dem Chinesischen übersetzt und hg. von Ralf Moritz. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB; 9656), S. 79. 195 Ohne sich auf Kant zu beziehen, erkennt auch Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 52, dass der Name der Straße auf Kiens Mangel an Mut anspielt. 196 AA VIII, S. 35. Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 269f. sieht in diesem Text einen »zentrale[n] Kantbezug« des Romans. Im Dialog zwischen dem Büchermenschen und Therese persifliere Canetti zentrale aufklärerische Ziele wie selbstständiges Denken, Mündigkeit und die Alphabetisierung der Gesellschaft.

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nach dem Willen eines anderen zu handeln gezwungen sei197. In diesem Zusammenhang gewinnt das titelgebende Motiv der Blindheit eine zusätzliche Bedeutung. Michael Mack hat nachgewiesen, dass das Licht in Die Blendung das Gegenteil von Aufklärung (Enlightment) symbolisiert: Es erleuchtet nicht, sondern es blendet, in etwa so wie Thereses Handschuhe oder ihr blendend weißer Rock.198 Wie der historische Kant hat auch der Büchermensch eine Abneigung gegen Blinde (I, S. 20f.).199 Doch er selbst, der Geistmensch, dessen Name zu Recht als »Metapher für das aufgeklärte Denken« verstanden worden ist200, gehört zu den Geblendeten, den Leuten der Masse, den unaufgeklärten Menschen, die sich ihres Verstandes nicht zu bedienen wissen. Damit erweist sich Canettis Roman endgültig als Einspruch gegen eine Überschätzung der Rationalität des Menschen, die der Aufklärung als Gefahr innewohnt.201 Indem Canettis Kant, der von Therese »Aufklärung« verlangt und selbst eine »aufklärende Mission« verfolgt (I, S. 125 und 153), an seinen eigenen Ideen und Maximen zuschanden geht, wird er zum Veto gegen die möglichen Verirrungen einer ganzen Epoche.202 Ein »Zurück zu Kant« nach dem Muster des Büchermenschen darf es nicht geben.

6.1.4 Warum nicht mehr Kant? Nachdem die zahlreichen Bezüge des Romans auf Leben und Werk des historischen Kant gesammelt und gedeutet worden sind, überrascht es, dass Canetti den Namen der Hauptfigur unmittelbar vor der Publikation noch einmal geändert hat. Ist »Kant« nicht der Musterfall eines polyvalenten redenden Namens? || 197 Vgl. Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. 9. Auflage, München, Wien: Europaverlag 2000, S. 713. 198 Vgl. Michael Mack: Die Blendung as a Negative Poetics. Positivism, Nihilism, Fascism. In: Orbis Litterarum 54 (1999), S. 146–160, hier S. 149. 199 Bei dem wissbegierigen Baczko machte Kant allerdings eine Ausnahme. Vgl. Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 250. 200 Schneider: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Anm. 45), S. 259. 201 Vgl. dazu die Ansicht Georgs: »Beides zusammen, Gefühlsgedächtnis und Verstandesgedächtnis, denn das ist das deine, ermöglichen erst den universalen Menschen.« (I, S. 478) Peter von Matt hat den Büchermenschen deshalb sehr treffend als einen »Dinosaurier der reinen Gehirnexistenz« bezeichnet. Vgl. Der weise Komödiant. Ein Nachruf (1994). In: Ders.: Der Entflammte (wie Kapitel A1, Anm. 53), S. 37–45, hier S. 42. 202 Vgl. Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 129: »Canetti setzt durch die ›Blendung‹ seine Unterschrift unter ein Dokument, das die Niederlage der Aufklärung besiegelt.«

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Warum sollte man ihn austauschen? Canetti zufolge gab wieder ein äußerer Anstoß den Ausschlag. Er kam von Hermann Broch. Mit einer »ungewöhnlichen Hartnäckigkeit« habe der ihn beschworen, den Namen aufzugeben (VI, S. 334).203 Diese Hartnäckigkeit hatte damit zu tun, dass Broch den Philosophen sehr verehrte. Besonders Kants Erkenntnistheorie hatte ihn beeindruckt, kaum weniger seine Moralphilosophie.204 In einem Essay mit dem Titel Ethik (1914) bezeichnete Broch Kants »heroische Skepsis« sogar als die »größte philosophische Weltanschauung«.205 Mit seinem Einspruch wollte Broch also verhindern, dass sein Idol der Lächerlichkeit preisgegeben werde. Canetti gab diesem Einspruch statt, nicht jedoch, weil er mit Broch einer Meinung gewesen wäre206, sondern weil er von Anfang an eine erneute Namensänderung im Sinn gehabt hatte: »Aber ich hatte Bedenken wegen der Namensgleichheit mit dem Philosophen und wußte, daß es bei diesem Namen nicht bleiben würde.« (VI, S. 333) Diese Aussage ergibt nur dann einen Sinn, wenn auch »Kant«, ähnlich wie »Brand« und später die Namen des Ohrenzeugen, zunächst eine produktionsästhetische Aufgabe erfüllen sollte. Der Name sollte Canettis Phantasie lenken und begrenzen; später aber, nach getaner Arbeit, sollten die Spuren der Inspiration verwischt werden. Einen Namen, dessen Zauber an eine historische Figur gebunden ist, wollte Canetti seinen Lesern niemals zumuten. Wahrscheinlich fürchtete er, der Name könnte die Rezeption allzu sehr bestimmen – so wie ihn beim Schreiben. Für diese These spricht, dass Canetti den Namenswechsel erst nach dem Abschluss seines Romans vollzog, als er keine Grenzen mehr benötigte. Weniger wichtig für den Namenswechsel dürfte gewesen sein, dass der historische Kant einige Merkmale und Eigenschaften besaß, die der Büchermensch weder besitzt noch besitzen will. Drei der wichtigsten seien genannt. Erstens: Kants Geselligkeit, sein »warmes Gefühl für Freundschaft«207, das sich von der

|| 203 Vgl. auch Gespräch mit Elias Canetti. In: Durzak: Gespräche über den Roman (wie Anm. 25), S. 94. 204 Vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 60. Schon als Student belegte Broch ein Kant-Seminar bei Hans Eibl; im Frühjahr 1908 las er das Kant-Buch von Houston Stuart Chamberlain (Vgl. ebd., S. 97 und 49). 205 Hermann Broch: Philosophische Schriften 1, Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 (Kommentierte Werkausgabe; 10/1), S. 244. 206 In zwei wahrscheinlich nicht abgeschickten Briefen, geschrieben allem Anschein nach gegen Ende 1935, wird Canetti sich selbst und Broch später zwei diametral verschiedene Kunstauffassungen attestieren. Vgl. ZB 60, 19. März 1981. 207 Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 161. Vgl. auch Kühn: Kant (wie Anm. 47), S. 316. Diesen Unterschied zwischen Kant und dem Büchermenschen erkennt bereits Nikolas Immer: ›Gelegentliche Stöße, unerwartet empfangen…‹ Ungesellige Geselligkeit in Elias Canet-

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Menschenscheu des Büchermenschen deutlich unterscheidet. Statt sich den ganzen Tag in seine Gelehrtenstube zurückzuziehen, umgab sich der Philosoph mit Bekannten und Freunden, lud sie zu sich an die Mittagstafel oder besuchte sie in ihrem Haus. Zweitens: Im Gegensatz zum Büchermenschen, der sein Gesicht am Beginn seiner Irrfahrt durch die Welt zum ersten Mal länger betrachtet (I, S. 187f.), war Kant das eigene Aussehen nicht egal: »Es hat vielleicht nie ein Mensch gelebt, der eine genauere Aufmerksamkeit auf seinen Körper und auf alles, was diesen betrifft, angewandt hat als Kant […].«208 Von Herder, seinem zeitweiligen Schüler, erfahren wir Näheres über das Gesicht: Kants Stirn sei offen, zum Denken gebaut, »ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude«209. Ganz anders die Stirn des Büchermenschen, die uns später noch beschäftigen wird: »eine zerrissene Felswand« (I, S. 187). Und dann vor allem drittens: Kant fehlte eine fetischisierte Beziehung zu Büchern. Zwar bekleidete er ab 1766 den Posten eines Unterbibliothekars an der Königlichen Schlossbibliothek, doch Bücher waren für ihn nicht mehr als Bücher. Er brauchte sie zum Arbeiten, stellte sie aber niemals über Menschen. In seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes, einer »kleine[n] Onomastik der Gebrechen des Kopfes«, warnte er sogar vor der »Büchersucht«210. Herder ermahnte er bei dessen Abschied aus Königsberg, er möge sich nicht in Büchern vergraben, sondern sich den Menschen zuwenden, nach seines Lehrers Beispiel.211 Es lässt sich nicht mit vollkommener Gewissheit herausfinden, welche Merkmale und Eigenschaften Canetti bekannt gewesen sind. Da sie nicht so sehr im kollektiven Gedächtnis verankert sind wie Kants Pünktlichkeit oder der kategorische Imperativ, hatten sie nicht das Zeug dazu, die Ambivalenz des Namens zu durchkreuzen. Dennoch gab es einen zweiten, einen zwingenden Grund für die Namensänderung. Spätestens als das Manuskript, nach vier Jahren der Bewährung, veröffentlicht werden sollte, dürfte Canetti aufgefallen sein, dass der Name »Kant« nicht weit genug ist, um der thematischen und motivischen Komplexität seines Romans gerecht zu werden. Trotz seiner vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten rückt er mindestens ebenso einseitig den Ordnungsfanatismus des Büchermenschen und dabei vor allem die erkenntnistheoretische Dimension in den Vordergrund wie »Brand« zuvor den Tod. Noch schwerer dürfte ins Gewicht

|| tis Roman Die Blendung. In: Andrea Heinz, Jutta Heinz und ders. (Hg.): Ungesellige Geselligkeit. Festschrift für Klaus Manger. Heidelberg: Winter 2005, S. 271–290, hier S. 284. 208 Drescher (Hg.): Wer war Kant? (wie Anm. 41), S. 196. 209 Malter (Hg.): Immanuel Kant in Rede und Gespräch (wie Anm. 59), S. 57. 210 AA II, S. 260 und 262. 211 Malter (Hg.): Immanuel Kant in Rede und Gespräch (wie Anm. 59), S. 77.

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gefallen sein, dass der Name zu wenig von jener Spannung enthält, die Canetti ab Sommer/Herbst 1930 zu erforschen begonnen und unterdessen in zwei Dramen thematisiert hatte: der Spannung zwischen Masse und Macht. Bereits in seinem ersten Buch ist sie ein wesentliches »dramatisches Element«212. Ein Beispiel ist die zwiespältige Beziehung des Büchermenschen zu seinen 25.000 Büchern, die er liebt und besitzt, benutzt und doch nicht begreift.213 Während er die Leute der Masse gering schätzt (vgl. I, S. 96), fühlt er sich umgekehrt in der Büchermasse frei und ist sogar von seiner Berührungsfurcht erlöst.214 Bei seinen Spaziergängen hält er die mit mehreren Bänden gefüllte Aktentasche eng an sich gepresst, auf eine spezielle Weise, »um möglichst viel von seinem Körper mit ihr in Berührung zu bringen« (I, S. 9). Wohl aus demselben Grund geht er in der Bibliothek meist nah an der Wand entlang (I, S. 33). Manchmal, zu besonderen Gelegenheiten, erscheint ihm selbst die »hergebrachte Grenze« zwischen Organischem und Anorganischem »[…] künstlich und überholt […], wie alle menschlichen Grenzen.« (I, S. 69) Noch am Hochzeitstag fließt er, der seine Frau fürchtet und verachtet, von »Liebe und Ergebenheit« für die Bücher förmlich über (I, S. 59). Am Tag der Mobilmachung, »im Taumel der Freude und späten Vereinigung«, gesteht er ihnen seine Liebe, tastet ihre Rücken zärtlich ab, steigt auf eine Leiter, »so daß sein Rücken Regale, sein Kopf die Decke, seine verlängerten Beine – die Leiter nämlich – den Boden, seine Augen den ganzen, einheitlichen Raum der Bibliothek berührten« und hält eine »Ansprache an seine Geliebte«. (I, S. 92 und 93). Zugleich jedoch möchte er über den »Wald von Blättern« (I, S. 97)215 herrschen wie ein Machthaber. Dieser Wunsch muss in jener Nacht entstanden sein, da er sich, eingeschlossen in der größten Buchhandlung der Stadt, aus Furcht vor Tausenden von Gespenstern auf ebenso vielen Büchern »ganz klein« gemacht hatte (I, S. 13).216 Wie zur Kompensation || 212 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 155. Vgl. auch Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 107f. Den »Zwang zur Grenzziehung« betont ein wenig zu einseitig Gerald Stieg: Früchte des Feuers. Der 15. Juli 1927 in der Blendung und in den Dämonen. In: Aspetsberger und Stieg (Hg.): Blendung als Lebensform (wie Einleitung, Anm. 140), S. 143–175, hier S. 170. 213 Vgl. dazu I, S. 97: »Wollt ihr [die Bücher – A.S.] aus eurer Heimat in alle Welt zerstreut werden, als Sklaven […], die man besitzt, aber nicht liebt, die man verkommen läßt oder mit Gewinn weiterverkauft, die man benützt, aber nicht begreift […].« 214 Diese Furcht gilt auch dem Regen, dessen Tropfen bereits in Die Blendung wohl als Symbol der Masse fungieren: »Ein zartes Geräusch verriet fallende Tropfen. Ganz von ferne nahm man sie auf, sie berührten einen nicht.« (I, S. 68) 215 Zum Wald als Massensymbol vgl. III, S. 97f. 216 Dass er damals noch nicht nach der Macht über die Bücher strebte, zeigt diese Bemerkung: »Die Vorstellung, als ihr Besitzer darin [in einer Buchhandlung – A.S.] auf und ab zu

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dieser Ohnmachtserfahrung sollen die Bücher nun ihm, dem Besitzer der größten Privatbibliothek der Stadt, einem Mann mit einem »berühmten Namen«, zu Willen sein. Dadurch dass er jeden Morgen einige von ihnen mit sich nimmt, verleibt er sich die Bibliothek für die Dauer seiner Abwesenheit metonymisch gleichsam ein (wie in Der Ohrenzeuge der Unterbreiter). Ein Buch, »das nicht folgen wollte«, zerrt er aus dem Regal und gibt ihm sogar »einen starken Klaps« (I, S. 33). Bei der Mobilmachung versucht er, im »Kommandoton«, mit einer Rede, die sein »Machtgefühl« stärkt (I, S. 98f.), ein Heer aufzustellen: seinen Teil der Doppelmasse gegen Thereses Möbel217. Indem er die Bücher anschließend mit dem Rücken zur Wand dreht, beseitigt er die letzte Distanzlast zwischen ihnen und verstößt sie »in die Namenlosigkeit eines kriegsbereiten Heeres« (I, S. 99). Die Leiter, die ihm dabei als »Aushilfsfigur« zu Diensten ist (I, S. 101), verschafft ihm nicht nur die Möglichkeit, auch an die Bücher im obersten Regal zu kommen, sondern bringt ihn der Büchermasse insgesamt überhaupt erst ganz nah218; sie ist ein Symbol seiner inneren Zerrissenheit zwischen Masse und Macht. Ein exakt angepasster Name müsste deshalb antithetisch sein. Er müsste jene Wechselwirkung von Grenzziehung und Grenzüberschreitung, Masse und Macht zum Ausdruck bringen, die sogar in einem marginalen Namen nachzuweisen ist wie Dr. Maximilian Bücher, dem Namen

|| gehen, erschien ihm damals frevelhaft.« Die Machtgier ist dennoch bereits in ihm angelegt: »Ein Buchhändler ist ein König, ein König kein Buchhändler. Für einen Angestellten kam er sich zu klein vor.« (I, S. 11) Die Halluzinationen in dieser Nacht deuten auf ein Delirium hin, bei dem es vorkommen kann, dass der Kranke Hunderte von Personen sieht (vgl. III, S. 427). Allerdings sind die Größenverhältnisse umgekehrt. Während im Delirium dem Menschen eine Masse von kleinen Geschöpfen gegenüber steht, macht sich der Büchermensch in der Buchhandlung selbst ganz klein. 217 Vgl. dazu ZB 57, November 1949 (Hervorhebung im Original): »Die Masse symbolisch: Kiens Bücher; sein vergeblicher Versuch, sie zur Armee zu formen.« Michael Mack spricht von einer Hetzmasse. Vgl. Die Blendung as a Negative Poetics (wie Anm. 198), S. 155. 218 In der Buchhandlung kletterte Kien, darin den künftigen Machthaber verratend, auf der Leiter herum, um zu erfahren, »[…] ob die oben Geheimnisse versteckten.« (I, S. 12) Als er von der Leiter fällt, meint er, auf Büchern gelandet zu sein. Während der Mobilmachung springt die Leiter aus der Schiene, behandelt ihn »lieblos und feindlich«, als wolle sie Kien an seine Liebe zu den Büchern erinnern (I, S. 101). Schließlich fällt er sogar von der Leiter. Das deutet gleichsam auf einen Machtkampf hin. In einem Bericht von Bleuler, den Canetti in Masse und Macht paraphrasiert, halluziniert ein Schizophrener, seine Verwandten würden »[…] auf Leitern gelockt und in den Burgraben geworfen, wo man sie schreien und röcheln hörte.« (III, S. 434) Zur doppelten Symbolik der Leiter vgl. auch die parodierte Liebesszene zwischen Therese und Pfaff, die an Kiens frühes Erlebnis erinnert: »Sie schrie auf und stürzte sich von der Leiter in seine Arme. Er ließ sie ruhig zu Boden fallen, brach ihr den harten Rock herunter und nahm sie.« (I, S. 308)

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eines Spezialarztes für Nervenkrankheiten (I, S. 366; Maximilian: Macht; Bücher: Masse).219 Im Namen Kant aber ist sie höchstens angedeutet. Canetti hatte demnach 1935, kurz vor der Drucklegung, mit einem ähnlichen Problem zu kämpfen wie 1933/34, bei der Arbeit an Komödie der Eitelkeit. Wie konnte er die Figur onomastisch am besten zwischen den beiden Polen Masse und Macht positionieren? Es dauerte nicht lange, bis er die Lösung hatte: Er gab seiner Figur den Nachnamen Kien, der wie »Brand« die »Entzündbarkeit der Welt [bezeugt], deren Bedrohung ich fühlte« (VIII, S. 344f.) und den Vornamen Peter, den er bereits in Hochzeit verwendet hatte. Unter diesem Namen ist der Büchermensch in die Weltliteratur eingegangen.220 Der Wechsel zog bald auch eine Änderung des Titels nach sich. Anstelle des Namens verweist nun er auf die erkenntnistheoretische Dimension des Romans, der seitdem, zumindest im Deutschen, Die Blendung heißt.221

|| 219 Antithetisch ist auch der Name des Frauenarztes Dr. Ernst Flink. Beide Bestandteile des Namens sind in adjektivischer Form auch dem Büchermenschen zugeordnet. Er ist zum einen ein »ernster Mensch«, mit einem »Ernst fürs Große«, wie sein Bruder meint (I, S. 488 und 468), zum anderen aber »flink wie ein Affe« (I, S. 336). Während »Ernst« den Machthaber bezeichnet (Ernst Fischer), steht »Flink« für dessen Gegenteil, das Tier (bzw. die Masse und die Sinnlichkeit). Zugleich aber bezeichnet »flink« auch das Unseriöse; denn Fischerle, der Dieb, zählt »flink« das Geld in Kiens Brieftasche (I, S. 206). 220 Den Prager Dichter und Künstler Peter Kien hat Canetti vermutlich nicht gekannt. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Is Peter Kien a Jew? A Reading of Elias Canetti's Auto-da-fé in its Historical Context. In: Hans Jürgen Schrader, Elliot M. Simon und Charlotte Wardi (Hg.): The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Tübingen: Niemeyer 1996 (Conditio Judaica; 15), S. 159–170, hier S. 162. Vgl. auch Atze: »Ortlose Botschaft« (wie Kapitel A8, Anm. 46), S. 75. 221 Veza hielt Die Blendung für einen »miserable[n] Titel« und bevorzugte stattdessen das englische Tower of Babel. Vgl. BG, S. 144, 155 und 254.

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6.2 Peter Kien 6.2.1 Eine gepanzerte Figur An dem winzigen Kakteengeschäft in der Passage vom Kohlmarkt zum Café Pucher ging Canetti lange achtlos vorüber, bis er eines Tages stehen blieb und durch das Schaufenster ins Innere blickte: auf viele Kakteen und, dahinter, den Besitzer des Ladens. Da wurde ihm schlagartig bewusst, wie der Büchermensch auszusehen hätte. Dass die Figur neben ihrem Namen auch ein Gesicht bekam, eine unverwechselbare Identität, dürfte ihre Anziehungskraft verstärkt haben1; sie war nun endgültig nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. In Die Fackel im Ohr erinnert sich Canetti an das physische Vorbild seines einzigen Überlebenden aus der »Comédie Humaine an Irren«, einen »lange[n], dürre[n] Mensch[en]«2: Er war um einen Kopf größer als ich und blickte über mich weg, aber er hätte auch durch mich hindurchgesehen, ohne mich zu bemerken. Er war so abwesend, wie er dürr war, ohne die Stacheln der Kakteen hätte man nicht auf ihn geachtet, er bestand aus Stacheln. (VIII, S. 343)

Auch Kien ist lang und dürr3, genau einen Kopf größer als Therese (I, S. 335), und auch er schaut niemandem ins Gesicht. »Da er nicht die geringste

|| 1 In einer früheren Fassung des Kapitels »Kant fängt Feuer« schreibt Canetti: »Solange ich noch nichts über sein Aussehen wusste, verdankte er dieses Übergewicht [über die anderen Figuren – A.S.] der Tatsache allein, dass er einen Namen hatte […].« Siehe ZB 223. 2 Eine der ersten Spuren des späteren Büchermenschen findet sich auf einem Notizblock aus der Berliner Zeit. Im August 1929 schreibt Canetti über einen blinden Bibliomanen, der aus riesigen Bücherhaufen das richtige ›heraus schnüffeln‹ konnte. Zurzeit war er damit beschäftigt, Stellen herauszusuchen, die Gottes Analphabetentum beweisen. »Immer, wenn er das Wort Buch oder Bücher aussprach, schnappte seine Stimme über und klang wie die einer Hysterischen im Augenblicke höchster Zärtlichkeit.« Siehe ZB 2, Berlin 1929 und ZB 59, 30. Juli 1979 (Kurzschrift). 3 Kien sollte physisch auch Don Quichote ähneln. Vgl. Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 241; Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 19. Schon für Cervantes gehörte Dürre zu den physischen Kennzeichen eines Asketen und Narren. Vgl. Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 137f. Zu den Parallelen zwischen Kien und Don Quichote vgl. Tania Hinderberger-Burton: The Quixotic in Canetti's Die Blendung. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), H. 3/4: Special Elias Canetti Issue, S. 165–176. Vgl. auch Christine Meyer: Don Quichotte dans Auto-da-fé (wie Kapitel B6.1, Anm. 17). In einem Brief vom 24. Mai 1976 an Armin Ayren schreibt Canetti, dass die Parallelen zwischen Die Blendung und Don Quichote nicht zufällig seien, sondern »sûrement en partie conscients«. Zitiert nach Le Roman-

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Lust verspürte, Menschen zu bemerken, hielt er die Augen gesenkt oder hoch über sie erhaben.« (I, S. 14) Der aufmerksame Franz Metzger, darin sein Gegenbild, hat es erlebt: »Sie sehn immer weg, wenn jemand über die Stiege geht.« (I, S. 8) Selbst vor dem einleitenden Gespräch hatte Kien noch genauso über den Jungen hinweg gesehen wie der Kakteenverkäufer über Canetti (I, S. 10). Auch die sinnbildliche Funktion der Kakteen ist, wenngleich verfremdet, im Roman erhalten geblieben. Sie besteht darin, dass die Kakteen den Inhaber des Geschäftes abweisend, ja feindselig erscheinen lassen. Das erinnert an Canettis Phänomenologie der Macht: Die Stacheln, aus denen der Mann zu bestehen scheint, schützen ihn vor Berührungen. Sie verstärken die sonstigen Distanzen, Mauer, Scheibe und Kleider, sind ein Dingsymbol für die Schranke zwischen Mensch und Mensch, Ich und Welt, Subjekt und Objekt. Diese Schranke unterscheidet den Kakteenverkäufer von den Frauen in der Djema el Fna, deren Formen etwas von den runden Broten angenommen haben, die sie anbieten – eine Verwandlung, die ihre Anziehungskraft erhöht. (VI, S. 70f.) Kien achtet ebenfalls auf Distanz. Wie sein Makrokosmos, die Bibliothek, will er, der Mikrokosmos, von der Außenwelt abgesondert, ihr vollkommen entzogen sein. »Persönlich verkehrte er mit niemandem.« (I, S. 16) Seinen Bruder hat er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen, ihm auch seit acht Jahren keinen einzigen Brief geschrieben; die Kollegen hingegen müssen mit bloß Geschriebenem vorlieb nehmen, da Kien ihre Gesellschaft unerträglich findet. Seine Frau Therese wiederum empfindet er geradezu als Bedrohung, da sie ihm näher als alle kommt, und möchte sie in die »alten Schranken« weisen (I, S. 124). Bald glaubt er, ein »untrügliches Gefühl« für ihren Abstand zu haben (I, S. 173). Seine Gier nach neuen Büchern führt er umgekehrt auf mangelnde Quarantäne zurück: Er sei über Monate hinweg mit Therese »zusammengesperrt« gewesen und habe sich von ihrem Irrsinn anstecken lassen (I, S. 186). Von daher lässt sich auch sein Widerwille gegen die Lehre von der Seelenwanderung erklären, die er, im Jargon des Machthabers, als »Unverschämtheit« bezeichnet (I, S. 349). Er will keine Überwindung der Schranken, alles soll getrennt bleiben. An seinem Bruder kritisiert er: »In deinem Kopf sieht es aus wie in einem Kaleidoskop. Formen und Farben schüttelst du nach Belieben zusammen.« (I, S. 471) Bei seiner Odyssee durch die Buchhandlungen der kopflosen Welt redet er sich megalomanisch sogar ein, er sei den Angestellten wie alle Großen »zu fremd und zu fern« (I, S. 182).

|| cier Elias Canetti. In: Austriaca 4 (1977), S. 103–114, hier S. 105. Sigurd Paul Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 159 fühlt sich bei Kiens Größe an Simson erinnert.

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Obwohl Kien Kleider verachtet, sind sie neben den »Bollwerken seines Gedächtnisses« ein »wichtiger Schutz« für ihn: ein ›Panzer‹ (I, S. 489 und 167).4 Dieser Panzer genügt ihm freilich nicht; er verstärkt ihn durch seine Aktentasche. Die darin enthaltenen Bücher sind die (Bildungs-)Schranke, die ihn von der »gewöhnlichen« Welt trennt, sein Schutz vor Neuem, besonders vor der Verlockung, durch die offene Tür in eine Buchhandlung zu gehen (I, S. 9). Auch den Diwan, den Ort des gefürchteten ehelichen Verkehrs, panzert Kien mit seinen Büchern, der »letzten Schranke« (I, S. 59).5 Die Bücher sind insofern mehr als ein »symbolischer Leib«6, wie Manfred Schneider meint; sie sind eine besondere Form von Stacheln.7 Die »physische Präsenz« von Büchern, so Canetti in einem unpublizierten Kapitel des Augenspiels, sei dem Büchermenschen »so notwendig […] wie anderen die Kleider«.8 Nach der Vertreibung aus seiner Bibliothek versucht Kien vergeblich, das Fehlen dieses Panzers durch die Körperhaltung zu kompensieren. Während des Verhörs steht er, noch in seinen Kleidern, »eckig« da (I, S. 325)9, wahrscheinlich wie die Figuren im Spiegelbordell

|| 4 Vgl. dazu auch Kiens Monolog über Oktavian und Kleopatra: »Ein Mann, dieser Oktavian, ein herrlicher Mann, die Haut schützt er durch seinen Panzer, die Augen, indem er sie niederschlägt! Auf ihren Sirenengesang soll er kein Wort erwidert haben. Ich hab' ihn im Verdacht, daß er sich die Ohren verstopft hatte wie Odysseus seinerzeit.« (I, S. 490f.) Als ›gepanzertes Subjekt‹ bezeichnen Böhme und Böhme: Das Andere der Vernunft (wie Kapitel B6.1, Anm. 71), S. 85 Immanuel Kant. David Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 13 sieht in Kien hingegen das »Urbild des starr gepanzerten Charakters«, wie in Wilhelm Reich beschrieben hat. Es lässt sich allerdings nicht nachweisen, ob Canetti Wilhelm Reich gelesen hat. Es ist deshalb unklar, wie Dagmar C. G. Lorenz zu der Einschätzung kommt, Canetti sei »[u]ndoubtedly familiar with the phenomenon of the authoritarian personality discussed by Wilhelm Reich« gewesen [Introduction. In: Dies.: (Hg.): A Companion to the Works of Elias Canetti. Rochester, NY, Woodbridge, Suffolk: Camden House 2004 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 1–21, hier S. 14]. Kiens Abneigung gegen Kleider dürfte damit zu tun haben, dass sie ihn von seinen Büchern trennen. 5 Der Diwan ist nach Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 68 eine »Allegorie des Animalischen«. Während der Mobilmachung bezeichnet Kien die Bücherdeckel ausdrücklich als Panzer. Vgl. I, S. 97. 6 Vgl. Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 32. Vgl. dazu I, S. 93: Kien und die Bücher als ein Leib und ein Leben. 7 Zu dieser Ambivalenz vgl. auch Steussloff: Autorschaft im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 34: Die Bücher sind einerseits »geistiges Bollwerk gegen die empirische Realität« und andererseits eine »Masse symbiotischer Objekte«, in der Kien aufzugehen wünscht. Als Grenze versteht die Bücher auch Claudio Magris: Die rasenden Elektronen. In: Göpfert (Hg.): Canetti lesen (wie Einleitung, Anm. 1), S. 35–47, hier S. 39. 8 Vgl. K 28, Unpubliziertes Kapitel »Geburt eines Zwergs«. 9 Auch seine Schrift ist, wie er selbst, hoch und eckig. Vgl. I, S. 183.

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zur Abwehr von Berührungen. Und doch kann er nicht verhindern, dass man ihn ein zweites Mal durchsucht. Kien ist aber nicht die einzige gepanzerte Figur in Canettis Roman, zu dessen Schlüsselwörtern das Adjektiv »privat« gehört (Privatgelehrter, Privatbibliothek, Privatwohnung, Privatbüro, Privateigentum, Privatvergnügen). Therese hat eine »harte Schale« wie eine Muschel, ihren gestärkten Rock. Auch ihr genügt diese »Festung« (I, S. 54) nicht. Gegen Ende des ersten Teils versucht sie, sich auf aberwitzige Weise von ihrem Mann abzugrenzen. Sie zieht einen Strich zwischen seinem und ihrem Teil des Ganges, stellt in sein Arbeitszimmer eine spanische Wand, hinter der sie zu schlafen beabsichtigt, und wirft ihn endlich, nach einem Wutanfall, mitsamt Mantel, Hut und Tasche aus der Wohnung hinaus. Selbst als sie, in einer bizarren Liebesszene, ihren Rock vor Grob fallen lässt und sich mit Gewalt in seine Arme zwängt, bleiben beide einander fremd und fern (I, S. 300). Auch Fischerles Buckel, in den er sich von Zeit zu Zeit zurückzuziehen scheint wie in ein Schneckenhaus (I, S. 191), hält die Menschen auf Abstand, da sie ihm entweder nicht nahe kommen können oder wollen. Dieser Buckel, der Fischerle einem »Höckerreptil« (I, S. 208) ähnlich sehen lässt, ist ebenso sehr eine »gefährliche Drohung« (I, S. 199) wie die Fäuste des Hausbesorgers, an dem alles »fest« zu sein scheint; selbst sein Bart wirkt »steif« und »gefroren« (I, S. 289 und 502).10 Doch nicht allein diese vier Protagonisten, auch beinahe alle Nebenfiguren des Romans gehören zu den »erfrorene[n] Festungen«, von denen Georges spricht: »wandelnde Zustände«, streng begrenzt, denen nichts zufließt und die nichts zum Überfließen bringt (I, S. 457). Sogar die butterweiche Stimme des Möbelverkäufers ist eine Täuschung. Wie bei allen diesen einander entfremdeten Figuren weist bei Kien, ihrem wichtigsten Repräsentanten11, der materielle Panzer über sich hinaus auf den geistigen, den eigentlichen Panzer. Seine Bildung ist »ein Festungsgürtel des Individuums gegen die Masse in ihm selbst« (I, S. 449).

|| 10 Der Hausbesorger geht mit dröhnenden Schritten über die Treppe (I, S. 462). Auch Kien ist es gewohnt, besonders fest aufzutreten (I, S. 22). 11 Manfred Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 32 nennt den Dieb, den Bettler, den Hausierer und den Hausbesorger die »Trabanten und Varianten von Peter Kien«. Für Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Kapitel B6.1, Anm. 87), S. 182 repräsentiert Kien die »erzählerische Mitte« des Romans.

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6.2.2 Versteinerung – Peter als paranoischer Machthaber Das Leitmotiv der »Separatheit«12, das in der Festungs-Metapher bereits anklingt, ist der Stein.13 Als Therese zum Missfallen ihres Mannes einen Tisch mit einer »kalten Marmorplatte« kauft, wünscht er »[…] nichts mehr mit ihr gemein zu haben.« (I, S. 67) Im Lokal »Zum idealen Himmel«, einer »Weltallegorie«14, ist die »Separation« sogar zum allgemeinen Prinzip erhoben: Die Gäste sitzen an Tischen aus »harte[m] Marmor«, von denen jeder »ein gesondertes Planetendasein« führt (I, S. 189). Der Buckel Fischerles, der zu diesen Gästen gehört, scheint sich wie ein »unerbittlicher Berg« über dem »niederen Vorgebirge der Schultern [zu erheben] und strotzt von Härte.« (I, S. 221) Der Hausbesorger Benedikt Pfaff dagegen fühlt sich Kien so sehr verbunden, dass er in der »ersten Glücksaufwallung« über sein künftiges Douceur, »die Mauern des Kabinetts mit seinen rothaarigen Fäusten« zerdreschen möchte (I, S. 89) – ohne es dann allerdings zu tun. Die Stelle weist zurück auf das erste Kapitel, in dem Kien und der junge Metzger durch eine imaginäre Mauer getrennt sind.15 Sie ist nicht we-

|| 12 Vgl. ZB 57, November 1949. 13 Die Schuhe und Füße des Hausbesorgers scheinen sogar aus Stein zu sein (I, S. 462). Auch Thereses Rock wirkt auf Kien wie »Granit«, »steif starr ein Fels zum Himmel« (I, S. 418). Dissinger: Der Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 134), S. 31 weist darauf hin, dass die chinesische Mauer bei Frisch, Kafka, Kästner und Karl Kraus ein »Sinnbild vornehmlich des Inhumanen« sei. Bei Canetti symbolisiere sie »Kiens Spezialistentum im besonderen und das Thema menschlicher Abkapselung im allgemeinen«. Vgl. auch ders: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 72 und Wu: Canetti und China (wie Kapitel A1, Anm. 45), S. 73f. Leitmotive, so Sigurd Paul Scheichl: Der Möbelkauf. Zur Funktion eines Handlungsstrangs in der Blendung. In: Aspetsberger und Stieg (Hgg.): Blendung als Lebensform (wie Einleitung, Anm. 140), S. 126–142, hier S. 134, werden in Die Blendung »so konsequent, so vielseitig und so vieldeutig« eingesetzt wie in kaum einem anderen Buch. 14 Fauser: Eremiten in der Bibliothek (wie Kapitel B6.1, Anm. 172), S. 190. In seiner Schrift Das Ende aller Dinge listet Kant einige oft gebrauchte »Gleichnisse« für die Welt auf: das Wirtshaus, das Zuchthaus, das Tollhaus, die Kloake. Vgl. AA VIII, S. 331. In Die Blendung bedient sich Canetti aller dieser »Gleichnisse«: Wirtshaus (»Zum Idealen Himmel«), Zuchthaus (Pfaffs Kabinett als Gefängnis), Tollhaus (Georges' Anstalt), Kloake (die gesamte Welt des Romans). 15 Das Bild der chinesischen Mauer kennt Canetti seit seinem zehnten Lebensjahr. Vgl. ZB 19, 13. Dezember 1980. In Masse und Macht verwendet Canetti die Mauer als Bild, um das Schicksal des Soldaten zu beschreiben, ein Leben in ständiger Befehlserwartung: »Die Sphäre des NichtErlaubten […] erweitert sich für den Soldaten ins Riesenhafte. Mauern über Mauern werden um ihn errichtet; man leuchtet sie für ihn ab, man läßt sie vor ihm wachsen. […] Das Eckige des Soldaten ist wie das Echo seines Körpers auf ihre Härte und Glätte; er bekommt etwas von einer stereometrischen Figur. Er ist ein Gefangener, der sich seinen Mauern angepaßt hat; ein Gefangener, der es zufrieden ist; der sich gegen seinen Zustand so wenig wehrt, daß die Mauern ihn

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niger groß und dick als die chinesische Mauer, über die nach Ansicht des Jungen niemand hinüber kann (I, S. 7). Auch ihnen gelingt es nicht. Zwar spricht Kien mit dem Knaben, zeigt ihm ein Buch und belehrt ihn über den Philosophen Mong; doch er versteht ihn nicht, kann und will ihn auch nicht verstehen, genauso wenig wie in Hochzeit Peter Hell die reale Anita. Da er in Franz Metzger das »Ebenbild seiner Jugend« erkennt (wie Hell in Anita das Ebenbild seines Traums), ist er unfähig, ihn als eigene Person zu akzeptieren, ist unfähig zu einer Grenzüberschreitung, zu Empathie. Er sieht nur, was die eigene Besessenheit ihm erlaubt, so wie der Hausbesorger durch das Guckloch in der Mauer seines Kabinetts nichts anderes sieht als Röcke und Hosen – seine separate Welt16. Von einem Dialog, einem (wörtlich genommen) Hinübersprechen, kann keine Rede sein; es handelt sich vielmehr, wie Dieter Dissinger feststellt, um die »Perversion des Dialogs und damit der Sprache schlechthin«.17 Sie ist von Anfang an als Mittel der Kommunikation diskreditiert.18 Dass Kien den Hausbesorger an eine Posaune erinnert (I, S. 91), ist deshalb eine (auktoriale) Ironie. Im Gegensatz zu den musizierenden Israeliten vor Jericho bringt er keine Mauern zum Einsturz.19 Noch in Die Stimmen von Marrakesch, entstanden über zwanzig Jahre später, fungieren Mauern als Zeichen der Separation. Hier, wo die Häuser wie Mauern sind (VI, S. 32), finden die Menschen allerdings im Unterschied zu den Figuren der Blendung ihren Weg zueinander. Dass die Figuren der Blendung durch Missverständnisse und Überblendungen voneinander getrennt sind wie durch eine Mauer, bestätigt sich in den folgenden Kapiteln mit beklemmender Regelmäßigkeit, etwa als Kien sich von

|| formen. Während andere Gefangene nur einen Gedanken kennen: wie sie ihre Mauern übersteigen oder durchbrechen könnten, hat er sie als eine neue Natur, als natürliche Umgebung anerkannt, der man sich anpaßt, zu der man selber wird.« (III, S. 368f.) 16 Vgl. I, S. 88: »Die Welt bestand für ihn aus Hosen und Röcken.« 17 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 71. Potgieter: Individuum versus Masse (wie Kapitel B6.1, Anm. 165), S. 76 spricht von »zwei parallelisierte[n] Monologe[n]«. Vgl. dazu auch I, S. 340: »Dialoge waren ihm [Kien – A.S.] zuwider; er war es gewohnt, seine Ansichten in längeren Abhandlungen zu entwickeln.« 18 Vgl. dazu Canettis Brief an seinen Bruder Georges vom 18. November bzw. 5. Dezember 1935. Im zuletzt geschriebenen Teil heißt es: »[…] das Aneinandervorbeireden der Personen ist mir vielleicht das Allerwesentlichste an dem Buch; es mag manchmal überspitzt scheinen, aber das nur, weil man von alten und schlechten Romanen her gewöhnt ist, dass Menschen sich verstehen. Das aber ist eine der läppischsten Illusionen. In Wirklichkeit versteht kein Mensch den andern […].« Zitiert nach BG, S. 50. 19 Zugleich mag die Posaunen-Metapher Pfaffs Ruhmsucht offenbaren. Denn in Masse und Macht heißt es: »Auf seinem Wege in die Himmel, in die er hinaufgezogen wird, kommt er an Posaunenchören vorbei, die seinen Ruhm ausrufen.« (III, S. 436f.)

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Therese eine Millionenerbschaft erträumt, die überhaupt nicht existiert, oder als er gegen jeden Beweis an ihren Tod glaubt. Selbst ihre einfache Aussage, »Kinder kommen zuletzt«, erscheint ihm rätselhaft: »Wenn man wüßte, was sie wirklich gemeint hat. Sphinx« (I, S. 53). Dennoch glaubt er im zweiten Teil, er habe sich so sehr in Fischerle eingefühlt wie noch nie in einen Menschen (I, S. 202). Das ist ein Irrtum, eine Variation der ersten Szene: Kien erklärt sich und den Zwerg zu »gleichgesinnte[n] Naturen« und will ihn davor bewahren, sich »sein bißchen Geist« an großen Büchermengen zu verderben (I, S. 211). Doch wie bei dem jungen Metzger20 stellt er lediglich Vermutungen an (»vielleicht«), zieht falsche Schlüsse und begreift nicht, dass der Zwerg so geldgierig ist wie Therese.21 Fischerle selbst ist sogar die eigene Frau »gleichgültig wie ein Stein« (I, S. 192).22 Auch Therese verwendet die Stein-Metapher, um den Gegensatz von Distanz und Mitgefühl auszudrücken: »Ein Mensch hat ein Herz. Ist sie ein Stein?« (I, S. 174)23 Emotional versteinert, unfähig zu Empathie, ist auch Benedikt Pfaff. Nach dem Tod seiner Tochter lässt er das Hinterzimmer der Wohnung zumauern, um nie mehr an den Raum erinnert zu werden, in dem sie ihr Gemüt verloren zu haben scheint. Dass sein brutales Verhalten die Schuld an der gegenseitigen Entfremdung und, mittelbar, auch an ihrem Tod trägt, begreift er nicht (I, S. 413). Kaum weniger gefühllos ist das »Fürstenherz« mit seinen »prächtigen, dicken Mauern«: die staatliche Pfandleihanstalt Theresianum, in der, eine Verkehrung christlicher Moral und der Herz-Metapher24, arme Menschen ausgebeutet werden (I, S. 223). Sogar hinter doppelten Mauern leben die Irren, die Kiens Bruder Georges anvertraut sind: hinter den Mauern ihrer Anstalt und in den »fest ummauerte[n] Städte[n]« ihres Wahns (I, S. 452). Darin spiegelt sich die Entstehungsgeschichte des Romans. Wann immer Canetti zu Hause arbeitete, sah er, || 20 Vgl. I, S. 10: »Vielleicht übte er sich im Lesen. Vielleicht lernte er die Titel auswendig. […] Kien tat er leid. Da verdarb er an diesem niederträchtigen Zeug seinen frischen, vielleicht schon lesehungrigen Geist.« 21 Die Verba »verstehen«, »begreifen« und »durchschauen« tauchen immer dann in Canettis Roman auf, wenn die Figuren aneinander vorbeireden und das Verhalten des anderen falsch deuten, so z.B. während des Verhörs, als der Kommandant meint, er durchschaue Kien (I, S. 341). 22 Er behandelt sie damit, nach den Maßstäben von Kiens Moral, wie ein Tier: »›Es handelt sich ja nur um Tiere. Die müssen einem gleichgültig sein.‹« (I, S. 235) 23 Dieser Gegensatz ist noch in Die Stimmen von Marrakesch mit der Stein-Metapher verbunden. Dort heißt es über die blinden Bettler, die zehntausendmal am Tag nach Alláh rufen: »Es ist ein schrecklicher Trotz darin, Gott kam mir wie eine Mauer vor, die sie an immer derselben Stelle berennen. Ich glaube, die Bettler halten sich mehr durch ihre Formeln als durch das Erbettelte am Leben.« (VI, S. 22) 24 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 21: Der Roman entfaltet eine »groteske Inversion aller ethischen Wertbegriffe«.

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am Fenster seines Zimmers sitzend, weit entfernt die Mauer des Steinhofs und die Pavillons der Irren. Kein Wunder, dass er den Stein noch in seinem Essay über Fritz Wotruba als das »sicherste und unauflöslichste Gefängnis« bezeichnete, einen Kerker, »[…] aus dem es keine Entlassung gibt.« (X, S. 53) Der Büchermensch und die anderen Figuren des Romans, auch die Figuren aller seiner Dramen und die Charaktere des Ohrenzeugen, sind Gefangene: seltener Gefangene hinter tatsächlichen Mauern wie Pfaffs Tochter, die »Arrestantin«, sondern immer Gefangene ihres eigenen Selbst.25 In Die Blendung verhalten sie sich zueinander wie die vier Kanarienvögel, drei Männchen und ein Weibchen, die in ihren Käfigen einander gegenüberhängen – eine Allegorie für das Verhältnis des Hausbesorgers zu seiner Tochter.26 Kien hat also Recht, wenn er in der Welt ein »Zuchthaus« erkennt; doch er übersieht, dass auch seine Bibliothek kein Raum der Freiheit ist (I, S, 57). Bei Kien ist das Kainsmal der Vereinzelung die felsenartige Stirn. Sie erinnert an den Propheten Ezechiel, der von Gott mit einer Stirn »härter als Kieselstein« gegen das verstockte Volk gerüstet wurde.27 Das Volk ist auch Kien ein Dorn im Auge. Sein Abscheu vor der breiten Masse macht sich vor allem gegenüber Therese bemerkbar, die er, sich selbst schuldlos wähnend, am liebsten mit dem ersten Stein bewerfen würde (I, S. 160). Sie erscheint ihm nämlich als die größte Sünderin: der »Stein am Geiste der Menschheit«, der »leibhaftige Irrsinn« (I, S. 186).28 Seine felsenartige Stirn verrät indes, von ihm unbemerkt, die Quelle seines eigenen Irrsinns29: Es ist die sinnenfeindliche Rationalität, sie macht ihn zu einem Sünder wider die Gemeinschaft, zu einem beziehungslosen Wesen, das in bloß imitierter stoischer Apathie am liebsten schweigt: »[…] Stein ist stumm.« (I, S. 176) Doch auch onomastisch ist der Stein in Canettis Roman

|| 25 Vgl. I, S. 68: Kien preist die Gefangenen glücklich und beginnt ihr Elend erst zu begreifen, als er von drei Vierteln seiner Bibliothek getrennt ist. 26 Kien verliert nach seiner Heirat drei Räume seiner Bibliothek an Therese und hat nur noch einen Raum, sein Arbeitszimmer, für sich. Vgl. I, S. 61f. 27 Ez 3,9. Vgl. Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 73. 28 Die Figuren der Blendung erklären einander gerne für verrückt, so z.B. Fischerle vor dem Theresianum: »›Lassen Sie mich los! Ich bin der Wärter!‹ Er zeigt auf Kien und wiederholt immer wieder: ›Sie müssen wissen, er ist verrückt. Verstehn Sie, ich bin der Wärter. Passen Sie auf! Er ist gefährlich. Sie müssen wissen, er ist verrückt. Ich bin der Wärter.‹« (I, S. 319) Dass diese Diagnose stets auch eine Selbstdiagnose ist, verdeutlicht eine symbolische Geste während des Verhörs. Jemand sagt: »›Bei dem [Kien – A.S.] rappelt's!‹ und zeigte auf die eigene Stirn.« (I, S. 330) 29 Einen Hinweis auf den Zusammenhang von Rationalität und Irrsinn gibt auch diese Stelle: »Kien fuhr sich über die Stirn. ›Ich bin in einer Irrenanstalt!‹ […].« (I, S. 157)

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von höchster Bedeutung. Denn Peter heißt bekanntlich »der Fels«.30 Es ist also kein Zufall, dass Canetti gerade auf diesen Namen gekommen ist. Er passt so gut in das Motivgeflecht des Romans, dass man wie schon bei »Brand« sagen kann: Canetti war innerlich auf ihn vorbereitet, ehe er ihn fand und vergab. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass er ausgerechnet im Vornamen auf das Leitmotiv der »Separatheit« verweist. Denn während der Nachname seinen Träger der Familie zuordnet, hebt ihn der Vorname aus diesem Kollektiv wieder heraus. Wie bei Peter Hell symbolisiert der Stein auch bei Peter Kien die extreme Distanz zu den übrigen Figuren, das Nicht-Fluide ihres Wesens. Beide sind Musterfälle der »Separatheit«. Oder um es mit Worten aus Masse und Macht zu sagen: Der Vorname charakterisiert Kien als »[i]n seinen Distanzen erstarrt und verdüstert« (III, S. 17).31 Da das Personal der Blendung überwiegend aus solchen erstarrten Figuren besteht, scheint auch der Roman in der Gefahr der Stagnation zu schweben. In seinen retrospektiven Notizen zu Die Blendung vom November 1949 legt Canetti allerdings Wert darauf festzuhalten, dass keine Separatheit nur statisch sei; die einzelnen Separatheiten griffen vielmehr ineinander wie bei einem Zahnrad und erzeugten so eine Bewegung.32 Für Die Blendung heißt das konkret: Die akustischen Masken überschneiden sich wie in Komödie der Eitelkeit, ohne ineinander überzugehen, sodass sich die Figuren bald anziehen und bald abstoßen. Weil Kien und Therese z.B. beide vom Wert der Bücher überzeugt sind, lassen sie sich aufeinander ein und bemerken erst zu spät, dass sie unter diesem Begriff Verschiedenes verstehen. Im letzten Kapitel des ersten Teils will Peter Kien sogar leibhaftig zu einem Stein werden. Damit Therese ihn nicht noch einmal verprügeln kann, soll sein Körper härter werden als eine Muschelschale, so felsenfest wie seine Stirn und so belastbar wie ein auf festem Fundament gebautes Haus (I, S. 165). Er übt sich deshalb in der Technik des Erstarrens. Was sein Name ihm vorgibt, soll buchstäblich Wirklichkeit werden. Er preßte die dürren Beine eng aneinander. Seine Rechte legte sich zur Faust geballt aufs Knie. Unterarm und Oberschenkel hielten einander in Ruhe. Mit dem linken Arm verstärkte er seine Brust. Leicht hob sich der Kopf. Seine Augen blickten ins Weite. Er versuchte sie zu schließen. An ihrer Weigerung erkannte er sich als ägyptischen Priester aus Granit. Er war zur Statue erstarrt. (I, S. 171)

|| 30 Die wesentlichen Bedeutungsfelder des Namens: Erstarrung, Härte des Charakters, Petrus, Passion, Nachfolge Christi hat bereits Martin Bollacher in seinem Aufsatz: Elias Canetti Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 156), S. 248 benannt, ohne sie allerdings zu untersuchen. 31 So auch Potgieter: Individuum versus Masse (wie Kapitel B6.1, Anm. 165), S. 73. 32 Vgl. ZB 57, November 1949.

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Bei dieser Übung, die Kien drei Wochen lang jeden Tag trainiert, kommt es auf die »geheimen Ecken« an, die »harten scharfen Spitzen und Kanten«. Wie die Stacheln der Kakteen33 sollen sie den notwendigen Abstand schaffen, zum Schutz vor Therese, die »[…] es gewagt [hatte], ihn zu berühren, als wäre er ein gewöhnlicher Mensch.« (I, S. 171)34 Zugleich sind sie auch das Mittel künftiger Bestrafung im Falle einer Annäherung, eines erneuten Bemächtigungsversuchs – eine »steinerne[] Qual« (I, S. 175). »Man züchtigte sie [Therese – A.S.], indem man sich selbst in einen Stein verwandelte. An dessen gewaltiger Härte wurden ihre Pläne zuschanden.« (I, S. 171) Während Kien Thereses steifen Rock nach der Hochzeit eigenhändig zerschmettern wollte wie die Schale einer Muschel, wartet er nun darauf, dass sie sich selbst, durch ihre eigene Unvorsichtigkeit, an ihm zerstört. Erstarrung und Verwandlung sind in Masse und Macht allerdings nicht komplementäre, sondern antithetische Begriffe.35 Selbst wenn man unterstellt, || 33 Zum Motiv der Schärfe vgl. I, S. 18: »Selbst seine Träume hätten eine schärfere Fassung als die bei den meisten Menschen übliche. Unplastische, farblose, verschwommene Visionen seien den Träumen, die er bis jetzt berücksichtigt habe, fremd.« Auch sein Bleistift ist »scharf« gespitzt (I, S. 19), seine Schrift exakt (wie die Träume), hoch und eckig (I, S. 183). Als Kien den »Idealen Himmel« betritt, heißt es: »Seine scharfe Gestalt durchschnitt, ein Messer, die dicke Luft.« (I, S. 188) 34 In Masse und Macht führt Canetti das Sitzen auf seinen Ursprung zurück: die Auszeichnung. »Wer saß, hatte sich auf den anderen niedergelassen, die seine Untertanen und Sklaven waren.« (III, S. 462) 35 Vgl. dazu auch ZB 20, 12. Juli 1984: »Manches verwandelt sich nicht mehr und bildet in dir einen Teil der Steinwüste.« In einer längeren Aufzeichnung hat Canetti den Zusammenhang zwischen dem Kapitel »Die Erstarrung« und Kafkas Die Verwandlung betont, auf den er auch in seinem Gespräch mit Horst Bienek eingeht (X, S. 172): »Im Winter 1930/31, während ich an der ›Blendung‹ schrieb, – sie hatte damals natürlich noch keinen Namen – stiess ich zuerst auf ihn. Ich kaufte mir, in der Buchhandlung Lanyi, die ›Verwandlung‹ und den ›Hungerkünstler‹. Von der ›Verwandlung‹ war ich verzaubert; sie schien mir vollkommen. Ausser Stendhals ›Rot und Schwarz‹, das ich damals deutsch las, ging mir in jenem Winter kein andres literarisches Werk so nahe. Ich glaube, die Lektüre der ›Verwandlung‹ erfolgte, als ich bei Kiens – damals ›Kants‹ – Krankenlager angelangt war. Sie hat auf die weitere Entwicklung des ersten Teils des Romans zweifellos Einfluss gehabt. Ich war mir dieses Einflusses, auf eine dunkle Weise, immer bewusst; da ich aber sonst nur den ›Hungerkünstler‹ kannte, weder den ›Prozess‹ noch das ›Schloss‹, ärgerte ich mich immer, wenn man von einem solchen Einfluss sprach und leugnete ihn kurzerhand ab. Heute fühle ich, dass Kien ohne die ›Verwandlung‹ nie zu Stein erstarrt wäre; sein letztes Abenteuer mit Therese in der Wohnung hätte sich auf irgendeine andre Weise abgespielt. Aus der Sammlung ›Der Hungerkünstler‹ entsinne ich mich nur an die eine Geschichte, die dem Bändchen den Titel gegeben hat. Ich las sie Veza vor, der sie wenig Eindruck machte. Die Leisheit des Hungerkünstlers gegen Ende der Erzählung kommt in der ›Blendung‹ vor; es ist die Leisheit Kiens nach der gewalttätigen Leibesvisitation im Idealen

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Canettis Terminologie sei in dieser frühen Zeit noch nicht so differenziert wie dreißig Jahre später, in seiner großen Studie36, kann Kiens Verwandlung in einen Stein nicht ohne Erklärung bleiben. Denn es geht hier um nichts Geringeres als die Verwandlung in einen Endzustand, von dem aus keine weiteren Verwandlungen mehr möglich sind; die Verwandlung richtet sich folglich gegen sich selbst. Als einen solchen Endzustand definiert Canetti in Masse und Macht bekanntlich die Figur; sie sei eine »Rettung aus der unaufhörlichen Fluidität der Verwandlung« (III, S. 442). Als Beispiel nennt er u.a. die Götter der Ägypter. Auch in Die Blendung ist das Ziel der Verwandlung in den Endzustand eine »monumentale Figur aus dem alten Ägypten« (I, S. 172). Kien will zur granitenen Statue eines ägyptischen Priesters werden. Das ist mehr als eine Rettung aus der Wirklichkeit in das Gefängnis des Steins; es ist die Verwandlung in einen Toten. Denn um zu erstarren, wird Kien kalt und immer kälter (I, S. 172). Es sei daran erinnert, dass der Büchermensch dem Mann in der Mutstraße wie ein Skelett erschienen ist – ein Eindruck, den andere Figuren teilen.37 Über das Skelett ist aus Kiens eigenem Mund zu hören: Das Skelett, als Bild des Gespenstes, wurde für unzählige Völker zum Inbegriff des Todes. Seine Beweiskraft ist vernichtend, es ist das schlechthin Toteste, das wir kennen. [.…] Und

|| Himmel, als man ihn enttäuscht und noch immer nach seinen Geldscheinen begierig, am Boden liegen lässt. Ich würde sagen, dass dieser Einfluss Kafkas nicht gross sein konnte. Er hat mich vielleicht in einer Genauigkeit und Dichte ermutigt, in die ich durch meine eigene Pedanterie von selber geraten war. Es war wohl ein Glück für mich, dass ich damals weder den ›Prozess‹ noch das ›Schloss‹ hernahm; denn davon wäre ich kaum mehr losgekommen.« Zitiert nach ZB 9, 6. Juli 1947. Für David Roberts: Verwandlung, Masse und Macht: Kafka durch Canetti gelesen. Elias Canetti zum achtzigsten Geburtstag. In: Sprache im technischen Zeitalter 93 (1985), S. 86–97, hier S. 94 ist Die Blendung ein »Gegenentwurf« zu Die Verwandlung. 36 Wie in den übrigen Werken lässt sich auch in Die Blendung an vielen Stellen nachweisen, dass Canetti einzelne Gedanken für Masse und Macht in dieser Zeit schon entwickelt hat. Ihre Untersuchung wäre eine eigene Arbeit wert. Sie müsste wesentlich tiefer gehen als die Dissertation von Stefan Strucken über Masse und Macht im fiktionalen Werk von Elias Canetti (wie Kapitel B2, Anm. 21). Hier seien, ergänzend zum Haupttext, nur zwei weitere Beispiele genannt. Vor dem Theresianum beschreibt Canetti eine rhythmische Masse (vgl. I, S. 322: Therese tanzt, »gewaltiger Rhythmus«, »Schwung der Bewegung«), die auch die massentypische Zerstörungslust offenbart (zugleich ein Zeichen ihres Wachstums). »Gleich zu Beginn des Andrangs zerbricht die Scheibe der Glastür in tausend Splitter.« (I, S. 319) Auch die Entladung der Masse findet sich dargestellt. Denn zum Schluss »entlädt sich die Masse« über dem Buckel der Fischerin (I, S. 361). 37 Vgl. z.B. im Kapitel »Privateigentum«, wo sich Erzähler- und Figurenrede vermischen: »Alle dachten, der Rote wolle auf den Liegenden losschlagen. Niemand hätte was dagegen gehabt, das hilflose Skelett am Boden wirkte aufreizend.« (I, S. 326)

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bezeichnen wir einen durchaus lebenden Menschen als Skelett, so meinen wir damit: er ist dem Tode nahe. (I, S. 347)

Die Verwandlung in einen Stein soll Kien die endgültige Unveränderlichkeit verschaffen, die er als lebendiger Mensch trotz seiner rigorosen Maximen nicht erreichen kann, aber doch so sehr ersehnt. Bereits im ersten Kapitel heißt es, er habe mit höchstem Ehrgeiz an der »Hartnäckigkeit des Wesens« gearbeitet: »Nicht bloß einen Monat, nicht ein Jahr, sein ganzes Leben blieb er sich gleich.« (I, S. 14) Während die kleinste Ordnungsstörung dieses Wesen jedoch erschüttert, stellt Kien, als Erstarrter, bei der »Härteprobe« zufrieden fest: Seine Fußsohlen sind »steinhart«, »Härtegrad 10, Diamant, schärfste Kanten, zerschneidend« (I, S. 175). Wie bei jedem Machthaber lässt auch diese Verwandlung den »inneren Kern, seine eigentliche Gestalt, immer und vollkommen intakt« (III, S. 441). Kiens bisheriges Leben ist nur eine Vorbereitung auf diesen Endzustand einer »fatalen Erstarrung«, aus dem sich sein Schöpfer einige Jahre später durch Einübung ins Gedankenspringen zu befreien wusste (IV, S. 5). Auch die von Kien verachteten Menschen sind alles andere als erstarrt. Sie verändern fortwährend ihr Gesicht, wie er beobachtet und moniert, nicht einen Tag »verharrten« sie bei derselben Rolle (I, S. 13); selbst dem eigenen Bruder Georg unterstellt er Wankelmut (I, S. 51). Da sich nach Masse und Macht im Mienenspiel »die unaufhörliche Verwandlungsbereitschaft des Menschen« ausdrückt (III, S. 443), lässt sich annehmen, dass Kiens Kritik an der wechselnden Mimik seiner Menschen und sein Desinteresse am eigenen Gesicht verrät, wie wenig er bereit ist, die eigene Verwandlungsfähigkeit auszubilden.38 Sein Ziel ist auch hier ein Endzustand: die Maske. Die fehlende Verwandlungslust offenbart sich nicht zuletzt in Kiens Geschichtsphilosophie. Gegenwart und Zukunft sind ihm suspekt, da sie noch alle Möglichkeiten, viele unvorhersehbare Verwandlungen, in sich tragen. Er schätzt deshalb die Vergangenheit, die Zeit des irreversibel Geschehenen, auch sie ein Endzustand.39 Mehr noch: Er erhebt sie sogar zu seinem Gott und entwickelt eine Eschatologie, nach der eine Zeit kommen werde, »[…] da die Menschen ihre Sinne zu Erinnerung und alle Zeit zu Vergangenheit umschmieden

|| 38 Dazu trägt auch sein Schweigen bei. Vgl. III, S. 349: »Das Schweigen wirkt der Verwandlung entgegen. Wer auf seinem inneren Posten steht, kann sich nicht davon entfernen. Der Schweigende kann sich verstellen, aber auf eine starre Weise. Er kann eine bestimmte Maske tragen, aber an ihr hält er fest. Die Fluidität der Verwandlung ist ihm versagt. […] Man schweigt überall dort, wo man sich nicht verwandeln will. Im Verstummen reißen alle Anlässe zur Verwandlung ab. Durch Sprechen spinnt sich alles zwischen Menschen an, im Schweigen erstarrt es.« 39 Vgl. auch Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 23.

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werden.« (I, S. 169) Dieses Umschmieden hat dasselbe Ziel wie die Versteinerung: die Erstarrung. Auch als Wissenschaftler ist Kien ein Freund von Endzuständen: Seine Konjekturen sollen Werke von steinerner Qualität schaffen, eine unangreifbare Edition. Dazu reduziert er die »Überfülle« an Kombinationen, die ihm zu Gebote stehen (I, S. 16; eine Analogie zu den menschlichen Verwandlungsmöglichkeiten) auf eine einzige »Wahrheit«: den gesicherten Text.40 So wie die Quellen soll auch die Forschung erstarren. Kien hat seiner Meinung nach dazu den Grund gelegt. Jede seiner Abhandlungen sei ein »Fundament« für hundert andere, deren Ergebnisse deshalb, wie er meint, auf viele Jahre hinaus feststünden: »Sätze, die er einmal niedergeschrieben hatte, galten als entscheidend und bindend.« (I, S. 16) Die Philologie der Zukunft soll also, um Whiteheads berühmtes Diktum über die europäische Philosophie und Platon aufzugreifen, aus Fußnoten zu seinem Werk bestehen. Bindend, sogar die letzte Arbeit überhaupt zu ihrem Thema, soll auch seine geplante textkritische Untersuchung der Evangelien werden (I, S. 261). Selbst die Phantasie, bei anderen Menschen eine subversive Kraft, erscheint Kien genauso »exakt« wie das Gedächtnis, das ihm seine wissenschaftlichen Leistungen ermöglicht (I, S. 336). Sie lässt keinen Raum für Changierendes, Ungewisses, Auszudeutendes: keinen Raum für Verwandlung. Noch nie, konstatiert Kiens Bruder Georg, sei ihm ein Mensch begegnet, der sich so »folgerichtig entwickelt« habe wie er (I, S. 468). Peters Hirn sei bleiern, »[…] aus gegossenen Lettern, kalt, starr und schwer.« (I, S. 493) Schon Dieter Dissinger hat auf die Gemeinsamkeiten zwischen Kien und dem ehemaligen Dresdner Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber, hingewiesen: »Bei beiden ist die Erstarrung Ausdruck ihrer sich selbst zugeschriebenen Einzigkeit und ihrer Verwandlungsunfähigkeit. […] Einzigkeit und Verwandlungsunfähigkeit haben die Paranoiker mit den Machthabern gemein.«41 Aus

|| 40 Vgl. dazu auch IV, S. 67: »Die Wahrheit ist ein Meer von Grashalmen, das sich im Winde wiegt; sie will als Bewegung gefühlt, als Atem eingezogen sein. Ein Fels ist sie nur für den, der sie nicht fühlt und atmet; der soll sich den Kopf an ihr blutig schlagen.« Auf den Zusammenhang zwischen Kiens Vornamen und dieser Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen weist bereits Kirsch: Zwei Blendungen in der Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 60), S. 557 hin. 41 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 193. Vgl. auch Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 107; Meili: Erinnerung und Vision (wie Kapitel B6.1, Anm. 18), S. 36; Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 66; Bachmann: Wahn und Wirklichkeit (wie Kapitel B6.1, Anm. 5), S. 133; Bernd Widdig: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 178; Meidl: Soziale Kritik im Werk von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 139), S. 67: Kien als »Muster eines paranoischen Machthabers«; Yau-Chin: Minder-

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den Aufzeichnungen geht zwar hervor, dass Canetti die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken erst 1949 gelesen hat, fast zwei Jahrzehnte nach dem Abschluss seines Romans (IV, S. 161). Dennoch sind die Parallelen zwischen Kiens »Verwandlungsschwund« (III, S. 539) und Schrebers Paranoia verblüffend – was Canetti während seiner Lektüre der Denkwürdigkeiten selbst bemerkte.42 »Da ist die Schilderung einer Periode der ›Unbeweglichkeit‹ [vgl. III, S. 544f.], sie erinnert an das entsprechende Kapitel ›Die Erstarrung‹ aus der ›Blendung‹. Auch die Gespräche mit erdichteten Gestalten könnten aus der ›Blendung‹ stammen.« (IV, S. 161)43 Wie Kien verfällt Schreber in einen Zustand der »absolute[n] Passivität« (III, S. 544). Er bleibt den ganzen Tag auf einem Stuhl im Arbeitszimmer oder Garten sitzen, da die Stimmen in seinem Kopf ihm befohlen hatten, er solle sich wie eine Leiche (bzw. Mumie) verhalten. In seiner soeben zitierten Aufzeichnung über Schreber und später auch in Masse und Macht skizziert Canetti die Paranoia überdies als eine Form der Erstarrung; dabei bedient er sich der Metaphorik des Steins44 und der Antithese von fest und flüssig: »[…] nirgends Türen; alles fest verschlossen; vergeblich hält man nach etwas Flüssigem Ausschau, in das man untertauchen kann, mit dem man forttreiben könnte; selbst wenn es sich fände, wäre es ausgesperrt; alles ist wie Granit; alles ist finster, und wie natürlich geht diese harte Finsternis auf einen über.« (IV, S. 161; vgl. III, S. 448: Paranoiker als »erstarrter Machthaber«) Es ist möglich, dass Canetti || wertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 12; Manfred Schneider: Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 189–213, hier S. 202. 42 Da ist auch noch die Verknüpfung von Erstarrung und Tod. Schreber jedoch wird nicht aus Gründen des Selbstschutzes zur Leiche, besser: zur Mumie, sondern aus Gottesliebe. Er hört Stimmen, die ihm jede noch so kleine Bewegung untersagen. »Er erklärte sich diese Forderung damit, daß Gott mit lebenden Menschen nicht umzugehen wisse. Er sei nur den Verkehr mit Leichen gewöhnt. So wurde ihm das ungeheuerliche Ansinnen gestellt, daß er sich beständig wie eine Leiche verhalten solle.« (III, S. 545) Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Kapitel B6.1, Anm. 87), S. 204f. weist darauf hin, dass die Petrifikation auch bei Schizophrenen vorkomme, und meint, in Die Blendung die »exakte Wiedergabe einer schizophrenen Psychose« gefunden zu haben. Angesichts der übrigen Äußerungen Canettis liegt jedoch die Diagnose »Paranoia« näher. 43 Vgl. dazu auch IV, S. 84: »In der Bewegung ist zweifellos ein Heilmittel für beginnende Paranoia gegeben. Die Intensität dieser Art von Verwirrung geht aufs Statische. Man benimmt sich so, als ob ein bestimmter Platz bedroht wäre, der, auf dem man selber steht, und man kann um keinen Preis von diesem Platz weg.« Zum »Positionsgefühl« des Paranoikers siehe genauer III, S. 517. 44 Bachmann: Wahn und Wirklichkeit (wie Kapitel B6.1, Anm. 5), S. 247 identifiziert Kiens Erstarrung mit dem von Ronald D. Laing beschriebenen Zustand der Petrifikation. Vgl. auch Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (wie Kapitel B6.1, Anm. 87), S. 204.

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hier bewusst Motive seines Romans verwandte, weil er sich jetzt, Jahre später, an ihn erinnert fühlte. Da er aber schon zu Beginn der vierziger Jahre begonnen hatte, sich gründlich mit Paranoia zu beschäftigen45, und da zudem Schakerl in Komödie der Eitelkeit ein Paranoiker zu sein scheint, ist zu fragen, wie weit sein Studium zurückreicht. Hatte er sich bereits zur Entstehungszeit der Blendung mit der Paranoia auseinandergesetzt, die ihm selbst nicht fremd war?46 Und hatte er in der Erstarrung damals eines ihrer Hauptmerkmale erkannt? Für Canettis frühes, wenn auch wahrscheinlich nicht allzu intensives Studium der Paranoia chronica47 spricht trotz mangelnder Exzerpte, dass er sie als einzige Wahnkrankheit in seinem Roman genauer beschreibt. Zwar fehlt unter den aufgezählten Symptomen gerade die Bewegungslosigkeit (I, S. 444), doch die stattdessen genannten Symptome – Besessenheit von eigenen Erfahrungen, Erklärungssucht, Glaube an das Täuschungswerk der Sinne – entsprechen dem Verhalten Kiens, dem Canetti in einem Gespräch mit Friedrich Witz selbst (wenngleich retrospektiv) einen »paranoische[n] Wahn« attestiert (X, S. 209). Auch die »extremste Tendenz der Paranoia« zu einem »kompletten Ergreifen der Welt durch Worte« (III, S. 537) ist dem Philologen zu Eigen. Hinzu kommen die Parallelen zum Fall des Jean Préval, der in seinem Wahn das eigene Haus anzündet wie Kien die Bibliothek. Kurz zuvor hatte er seine Kinder erwürgt, drei Jungen und ein Mädchen, so wie Kien die vier Kanarienvögel im Kabinett des Hausbesorgers (I, S. 446 und 430). Vor allem verrät sich Kiens Paranoia freilich in der Art, wie er seine Feinde demaskiert: »Er reißt ihnen die Maske vom Gesicht herunter, und es stellt sich heraus, daß es im Grunde immer ein und derselbe Feind ist.« (III, S. 448) Auch Kien hat einen Feind in vielen Gestalten: die Frau. Selbst sein eigener Bruder ist für ihn ein »Weib« (I, S. 479). Verantwortlich für die äußere Versteinerung ist bei Peter Kien und Jean Préval die innere: eine »felsenfeste Überzeugung« (I, S. 386).48 Spätestens seit der verunglückten ›Hochzeitsnacht‹ kreisen Kiens Gedanken wahnhaft um Therese, die ihm mit einem Mal lüstern, geldgierig und böse erscheint, eine gefährliche Feindin. Zur Kompensation seiner (paranoiden) Angst erprobt er verschiedene Strategien. So macht er sie im Geiste mehrfach nieder, ohne seine Angst || 45 Im Nachlass existiert ein Konvolut zu Macht und Paranoia aus den Jahren 1941–1947. Vgl. ZB 40.2. 46 Vgl. BG, S. 78 und 82: »Er [Canetti – A.S.] bezeichnet seinen Zustand mit Paranoia« und ZB 60, 1. Mai 1981: »Sie [Veza – A.S.] hat mich früher schon gerettet, als Wien besetzt wurde und ich in einer akuten Form von Paranoia lebte.« Siehe auch Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 285. 47 Erst im August 1939 nimmt sich Canetti ein genaues Studium der Paranoia vor. Vgl. ZB 33.4. 48 Vgl. dazu schon Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 129.

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aber zu verlieren. Auch die Vorstellung, er habe sie in der Wohnung eingeschlossen, hilft nur vorübergehend. Selbst die Nachricht von ihrem angeblichen Tod vermag es nicht, die alte Angst zu besiegen. Kien spricht nun sogar betont leise, als wäre Therese noch da, und glaubt mehr denn je, dass alle Menschen ebensolche Angst vor ihr haben wie er. »Ihr Name verbreitete Schrecken, es genügte, ihn zu hören, um zu Stein zu erstarren.« (I, S. 285) Das ist eine groteske Anspielung auf die schlangenköpfige Medusa. An die Stelle ihres schrecklichen Hauptes tritt, als Stellvertreter der Person, ein anderer Zauber: der Name. Als Kien während des Verhörs die Totgeglaubte bemerkt, bohren sich seine Augen in sie hinein und werden »sonderbar starr« (I, S. 329). Als er dann auch ihre Stimme hört, erstarrt er, »die Finger beider Hände krampfhaft ausgestreckt« (I, S. 338). Zuletzt dreht er ihr den Rücken zu und leugnet, in bereits erprobter Weise, ihre Existenz (I, S. 352). Kiens Bemerkung weist aber auch zurück auf jene erste Erstarrung und enthüllt, wie wenig sie mit der mythischen Urszene gemein hat. Kien fühlt sich nicht in Stein verwandelt, weil er der Gefahr ins Auge geschaut hätte wie die unvorsichtigen Krieger in der Sage, sondern weil er sich dem Zugriff des Feindes zu entziehen sucht. Die Erstarrung zerstört nicht seine Macht, sie soll sie retten. Eine ähnliche Absicht führt auch bei Schreber zur Erstarrung. Er, der sich von Feinden umstellt sieht, will die göttliche Essenz in sich erhalten und bewegt sich deshalb nicht (III, S. 546).49 So wie Kien reagiert auch Fischerle auf eine drohende Gefahr: »Manchmal wird der Buckel zum Schild, hinter dem er verschwindet, zum Schneckenhaus, in das er sich zurückzieht, zur Muschelschale, die sich um ihn schließt.« (I, S. 317) In Masse und Macht arbeitet Canetti an verschiedenen Beispielen heraus, dass gerade die paranoischen Machthaber nach einem sicheren Schutz verlangen. Sie heuern Soldaten an oder erbauen Festungen (III, S. 517). In Die Blendung, einem Pandämonium der Paranoiden50, werden die Figuren zu ihrer eigenen Festung. Noch deutlicher als bei Kien wird der Zusammenhang von äußerer und innerer Erstarrung, von »Separatheit« und Paranoia, bei Fischerle und Pfaff. Als Fischerle von einer besonders kühnen Kampfansage an Capablanca träumt und sich auch sonst so mächtig fühlt wie nie, sitzt er auf einem »trockenen Stein«51 || 49 In Die Blendung glaubt Kien, Therese wolle ihn aus dem Stein herauslocken. »Doch er bewahrte sein kaltes Blut und gab keinen Hauch von sich.« (I, S. 175 – Hervorhebung A.S.) 50 Manfred Schneider hat Die Blendung in seinem Aufsatz: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 23 ein »Pandämonium[] der Mißgestalten« genannt. 51 Die Szene ist eine Parodie des Reichstons, in dem es heißt: »dô dâhte ich mir vil ange, /wie man zer welte sollte leben.« Das lyrische Ich kommt zu dem Ergebnis, dass Ansehen, Besitz und die Gnade Gottes in einem Herz zusammenkommen. Zitiert nach Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweitere Aufla-

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und vermeidet, »trotz der Kälte«, »[h]eftige Bewegungen« (I, S. 379f.). Mit demselben Stein streicht er später das gestohlene Geld glatt (I, S. 382), welches ihm die Verwirklichung seines Lebenstraums von der Schachweltmeisterschaft ermöglichen soll. Bereits im »Idealen Himmel« hatte er in seiner unersättlichen Geldgier eine Hundertschillingnote mit harten und unempfindlichen Fingern festgehalten (I, S. 204). Zugleich sieht Fischerle, paranoid wie Kien, in der Welt überall Feinde und wähnt, er habe ihre Absichten mit seinen Sprachkenntnissen durchkreuzt (I, S. 394). Pfaff dagegen blickt »starr und verzückt« auf seinen Teller und richtet seine Augen »starr und stier auf ein- und ausgehende Beine« (I, S. 404 und 409). Beides, Essen und Hosen, sind die Grundelemente seines Privatmythos. Zugleich ist er besessen von der Vorstellung, man könne ihn für den Tod seiner Tochter belangen. Als Therese auch ihn des Einbruchs beschuldigt, fürchtet er, die Polizei werde nun gegen ihn ermitteln und sein Geheimnis lüften. Und »[d]er Hausbesorger erstarrt.« (I, S. 316) Diese Erstarrung wird genauer beschrieben: »Der Hausbesorger steht mit gespreizten Beinen da, ein Fels, die Augen starr auf die totgeprügelte Tochter gerichtet.« (I, S. 317) Die Metapher des Steins, die starren Augen und der Hinweis auf die fixe Idee des Hausbesorgers – all das steht hier, in nur einem Satz, nicht zufällig beisammen. Es zeigt, dass Separation und Erstarrung Merkmale des Wahnsinns sind.52 Der Vorname charakterisiert Kien insofern nicht nur als einen isolierten Menschen, der auf fast allen Gebieten nach Unangreifbarkeit strebt, sondern auch als einen Paranoiker. Es gehört zu den satirischen Effekten in Die Blendung, dass zunächst, aus der personalen Perspektive, beschrieben wird, wie Kien drei Wochen lang täglich erstarrt, und dass dann beschrieben wird, wie er im entscheidenden Augenblick versagt. Erst einmal sieht es aber nicht danach aus: Er hörte Therese kommen. Er unterdrückte eine freudige Regung, sie hätte seiner Kälte geschadet. Drei Wochen lang hatte er geübt. Der Tag der Enthüllung war da. Nun wird sich die Vollkommenheit seiner Figur erweisen. Er war ihrer gewiß wie kein Künstler vor ihm. Er schickte rasch vor dem Sturm einige überschüssige Kälte durch den Leib. Er preßte die Fußsohlen gegen den Boden: sie waren steinhart, Härtegrad 10, Diamant, schärfste Kan-

|| ge der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, S. 12. In Die Blendung ist der transzendente Bezug weggefallen. Fischerle träumt nur mehr von Ansehen (Schachweltmeister) und Besitz (Ehemann einer Millionärin). 52 Diesen Zusammenhang bestätigt Pfaffs Tätigkeit im Kabinett. Er kniet hinter der trennenden Mauer und schaut starr durch sein Guckloch.« (I, S. 409)

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ten, zerschneidend. Auf der Zunge, weitab vom Schlag, kostete er ein bißchen der steinernen Qual, die er für das Weib bereithielt. (I, S. 175)

Auf diese längere Passage in erlebter Rede folgt ein lapidarer Satz, der – noch immer aus Kiens Perspektive (wie das Adverb verrät) – andeutet, dass seine Fähigkeiten in der »Kunst« des Erstarrens begrenzter sind, als er sich erhofft: »Therese packte ihn bei den Stuhlbeinen und schob ihn schwer auf die Seite.« (I, S. 175) Trotz dieser ersten Niederlage hat Kien keine Zweifel an seinem Sieg. Um den Machtkampf zu seinen Gunsten zu entscheiden, lässt er, dessen Leben aus einer »ununterbrochene[n] Kette« von (Sünden-)Fällen besteht (I, S. 119)53, sich auf Therese fallen, um sie mit seinem Gewicht zu zertrümmern. Dass er sich dabei als Tafel der Zehn Gebote fühlt54, bestätigt, dass auch dieser Fall in Wahrheit eine hybride Erhebung ist. Kien meint, Therese verstoße gegen göttliches, nämlich sein Gebot, indem sie vor seinen Augen den Schreibtisch durchwühlt und die Papiere zerreißt. Von diesem Angriff unbeeindruckt, greift Therese nach seinem Kopf, der eben jene Erstarrung ersonnen hat, die sich nun als Wahn entpuppt, und beginnt, Kien ein zweites Mal zu verprügeln. »Er spürt alles. Es tut weh. Er ist kein Stein. Da er nicht zerbricht, zerbricht seine Kunst. Alles ist Lüge, es gibt keinen Glauben.« (I, S. 176)55 Kurze Zeit später ist diese Erkenntnis von einer neuen, selbstbetrügerischen Illusion verdrängt: »Natürlich konnte er sich nicht in konkreten Stein verwandeln. Aber es genügte, daß sie ihn dafür hielt. Sie fürchtete sich vor dem Stein und machte einen Bogen darum.« (I, S. 187) Dieser Trick habe ihm die nötige Ruhe verschafft, um sich von dem ersten Übergriff zu erholen und die Flucht aus der Bibliothek vorzubereiten. Während des Verhörs, nach einigen Wochen ohne Therese, fühlt Kien sich

|| 53 Dass Kien mehrmals zu Boden stürzt, weist auch auf seine fehlende Macht hin. In Masse und Macht heißt es über den »unfreiwillig Liegenden«: »Der Sturz des Menschen, der tiefer fällt, scheint noch mehr Verachtung und Abneigung auszulösen als der Sturz des Tieres. Man könnte sagen, daß der Anblick des Getroffenen für den Aufrechten beides in sich vereinigt: den natürlichen und gewohnten Triumph über das getroffene Tier, den peinlichen Eindruck des gestürzten Menschen.« (III, S. 465) 54 Kien möchte den Frevel sühnen, dass Therese den Inhalt der letzten Lade zerrissen hat. Diese Lade erinnert an die Bundeslade, in der Gottes Gesetz bewahrt wird. Vgl. Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 214. 55 In Die Blendung werten die Figuren ihre Tätigkeit auf, indem sie sie als Kunst bezeichnen. So begreift der Pass-Koch seine Fälschungen als Kunst und hofft, man werde ihn dereinst als den »größten modernen Maler« feiern (I, S. 373 und 378), während der Schneider allein »aus Liebe zur Kunst« arbeitet (I, S. 383). Auch Fischerle sieht sich als Künstler (Vgl. I, S. 392). Sie alle sind indes, nach Canettis Kunst-Verständnis (vgl. X, S. 296), schon deshalb keine echten Künstler, weil sie sich auf ein einziges Metier spezialisiert haben.

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dann wieder so hart, dass ihn selbst Halluzinationen nicht zerbrechen könnten (I, S. 336). Die Wochen der Erstarrung erscheinen ihm rückblickend, gegen seine damalige Intention, als »Zeit meiner tiefsten Erniedrigung« (I, S. 346). Kien weiß indes nicht, dass Therese ihn nie für einen Stein gehalten hat. »Von einem Stück Holz, was er die meiste Zeit über war, fürchtete sie keinen Widerstand.« (I, S. 173f.) Sie stellt sich sogar vor, dass er verbrennt. Diese Umkehrung, bei der das Holz an die Stelle des Steines und die Wärme des Feuers an die Stelle der inneren Kälte tritt, darf bei der Namensdeutung nicht unbeachtet bleiben: Die Vorstellung, er könne zu Stein erstarren, ist Kiens fixe Idee; sie hat mit der Realität nichts zu tun. Sein Vorname ist ebenso paradox wie die Namen in Hochzeit. Da Kien sich aber separiert, seine Verwandlungsfähigkeit verkümmern lässt und seine Paranoia sich weiter verschlimmert, passt der Name gleichzeitig zu ihm. Wie schon »Kant« ist »Peter« ambivalent.

6.2.3 Der Büchermensch als Petrus »Romane sind Keile, die ein schreibender Schauspieler in die geschlossene Person seiner Leser treibt. Je besser er Keil und Widerstand berechnet, um so gespaltener läßt er die Person zurück.« (I, S. 42) Kaum weniger wichtig als die räumliche Distanz ist Kien die Abgeschlossenheit seiner Person, ihr intakter steinerner Kern. Bekanntlich verschließt er vor der Wirklichkeit Augen und Ohren, in der irren Überzeugung, man nähere sich der Wahrheit am besten, indem man sich von den Menschen abschlösse (I, S. 13; siehe auch S. 70ff., 115 und 327). Einmal wünscht er sich sogar, Gott hätte Adams Rippe verschlossen, ihm keinen Gefährten, erst recht keine Frau, gegeben (I, S. 486). So überrascht es nicht, dass Kien ein besonderes Interesse an Schlössern und Verschlüssen hat. Neben den vermauerten Fenstern garantieren sie die Reinheit seiner »nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek« (I, S. 21) – zumal, wenn er sich nach draußen begibt. Aus Angst um seine Bücher prüft er jeden Morgen, ob die Aktentasche, die die (aktuelle) Quintessenz seiner Bibliothek enthält, so fest verschlossen ist, dass nichts auf die Straße fallen kann. Nach dem Gespräch mit Franz Metzger, der eines dieser Bücher zu sehen bekommt, verschließt er die Tasche deshalb gleich wieder (I, S. 8). Verschlossen ist auch sein Schreibtisch, den Schlüssel trägt Kien in der Hosentasche (I, S. 108). Im Kampf mit Therese, deren Wünsche die »Möbelreinheit« der Bibliothek gefährden, kündigt er später an, die Türe zu ihren Zimmern künftig geschlossen zu halten, und verbietet ihr ausdrücklich, das Arbeitszimmer in seiner Anwesenheit zu betreten (I, S. 68). Auch die Türe des Hotelzimmers, in dem er nach seinem Hinauswurf eine Nacht verbringt,

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sperrt er ab und verstopft das Schlüsselloch mit Papier (I, S. 185). Die Türe seiner eigenen Wohnung ist sogar durch »drei komplizierte Schlösser« und »breite, schwere Eisenstäbe« gesichert (I, S. 21 und 502). Als zusätzliches (menschliches) Schloss fungiert der Hausbesorger, der niemanden über die Schwelle lässt und dafür von Kien entlohnt wird (I, S. 288). Selbst seine Erstarrung ist eine Form der Abschließung.56 Sie kulminert im letzten Kapitel, als sich Kien hinter der stählernen Tür seiner Wohnung verbarrikadiert. Die Fetischisierung von Verschlüssen, ein klares Merkmal der Paranoia, muss ein weiterer Grund dafür gewesen sein, dass Canetti den Büchermenschen Peter genannt hat. So wie der Apostel Petrus nach Mt 16,19 die Schlüssel des Himmelreiches besitzt, verfügt Kien über die Schlüssel zum »Bibliothekshimmel«. Und so wie Petrus, der Fels, von Jesus zum Fundament der Kirche bestimmt ist, will Kien das Fundament seiner eigenen Wissenschaft sein.57 Kein Wunder, dass Georg seinen Bruder und sich selbst in einem Traum als Hähne imaginiert (I, S. 458). Der Hahn ist, neben Buch (!), Fisch und Schlüsseln, eines der wichtigsten Attribute des Petrus.58 Zugleich verweist er auf das Feuer, das man im Volksmund »der rote Hahn« nennt.59 Im Verlauf des ersten Teils verliert Kien allerdings seine Schlüsselgewalt. Dieser Verlust wird im ersten Kapitel symbolisch vorweggenommen. Kien erinnert sich daran, beobachtet zu haben, wie der Lehrjunge irgendeiner Buchhandlung in seinem (Über-)Eifer seit sieben Uhr vor der verschlossenen Tür gewartet habe, um dem »ersten Angestellten« die Schlüssel »feierlich« abzunehmen (I, S. 9).60 Bei

|| 56 Vgl. dazu I, S. 155: »Er sperrte sich, wie es Sitte ist, ein, was ihn vor ihren Handgreiflichkeiten rettete.« Dasselbe Ziel verfolgt er auch mit seiner Erstarrung. 57 Die Parallele zu Petrus sieht bereits Dissinger: Der Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 134), S. 37. Vgl. auch Bollacher: Elias Canetti Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 156), S. 248 und Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 77. Der Beiname Petrus bezeichnet zunächst ausschließlich die Festigkeit des Apostels. Gemeint ist kein Fundament, sondern ein einzelner Felsbrocken, vielleicht sogar ein Edelstein. Vgl. Christfried Böttrich: Petrus. Fischer, Fels und Funktionär. 2. Auflage, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013 (Biblische Gestalten; 2), S. 44. Die Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 328 deutet den Beinamen Petrus übrigens falsch, und zwar als »der Erkennende«. Falls Canetti diese Etymologie gekannt haben sollte, wäre der Vorname des geblendeten Büchermenschen nicht nur ein richtiger, sondern auch ein paradoxer Name. 58 Vgl. Böttrich: Petrus (wie Anm. 57), S. 11. 59 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 68; Hillman: Der Wiener Karneval (wie Kapitel B6.1, Anm. 37), S. 99. 60 Ein weiterer Hinweis ist die Szene, in der Kien beobachtet, dass ein Mädchen aus dem vierten Stock eines Hauses (auch die Bibliothek liegt im vierten Stock) einem Burschen ein Päckchen mit einem Schlüssel zuwirft (I, S. 129). Bereits zuvor hat Therese Grob in Aussicht

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ihm, dem »wohl größte[n] Sinologen« seiner Zeit (I, S. 291), ereignet sich diese Schlüsselübergabe, ein Machtwechsel zugleich, schleichend und zunehmend gegen seinen Willen. Als er in die Küche eilt, um Therese einen Antrag zu machen, greift er zunächst selbst so heftig nach der Tür, dass die Klinke abbricht (I, S. 48). Von nun an, so die Symbolik dieser Szene, wird er Therese, die Welt des Körpers (Küche), aus seinem vergeistigten Leben nicht mehr ausschließen können. Immer wieder erscheint sie auf der Schwelle zu seinem Arbeitszimmer, rückt näher und näher. Einmal stößt er, der sonst nie über eine Schwelle tritt (wie die späteren Charaktere des Ohrenzeugen), dort sogar mit ihr zusammen (I, S. 136). Damit nicht genug: Nach der Hochzeit bemerkt Kien, dass er zum ersten Mal überhaupt seine Wohnungsschlüssel vergessen hat. Doch Therese hat ihre dabei und öffnet die Tür (I, S. 56f.). Das ist nicht nur eine erneute Ordnungsstörung, sondern bedeutet auch, dass sie von jetzt an über die Bibliothek bestimmt.61 In der Tat hat sie sich diese bald zu zwei Dritteln angeeignet. Die Schlüssel zu ihren Zimmern verleibt sie sich, eine »handgreifliche Person« (I, S. 143), förmlich ein wie eine Beute. Sie bewahrt sie – darin Kien durchaus ähnlich – in einer geheimen Tasche auf, »[…] die sie eigens zu diesem Zweck in den Rock hineinnähte.« (I, S. 113f.) Als Kien sie aus dem Arbeitszimmer werfen will, hält sie ihm triumphierend entgegen: »Das Zimmer bleibt offen. Die Schlüssel hab' ich. Erst muß der Mann die Schlüssel haben, dann kann er absperren. Die Schlüssel kann er lange suchen. Die Schlüssel sind hier!« – sie klopft auf den Rock […]. (I, S. 126)

Therese übersieht indes, dass Kien den Schlüssel zu seinem Zimmer niemals an sie abgetreten hat. Und sie übersieht auch die Ungerechtigkeit ihrer Forderung, die für Kien gelten soll, aber nicht für sie. Denn in ihrer Empörung über das Testament und ihrer Wut auf den scheinbaren Betrüger sperrt sie ihre drei Zimmer von Kiens Arbeitszimmer ab (die Verteilung erinnert an die Kanarienvögel), nicht einmal die Türschnalle darf Kien berühren. Das ist in mehrfacher Hinsicht eine Umkehrung. Erstens wird Kien, der sich sonst freiwillig von der Welt abschließt, nun unfreiwillig von seinen Büchern abgeschlossen. Zwei-

|| gestellt, sie werde jeden Tag um 12 ¼ mit dem Haustorschlüssel hinunter kommen und ihn einlassen (I, S. 103). 61 Vgl. Márta Horváth: Abwehrstrategien gegen den Riß im Netz. Raumkonstitution in Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Dies. und Erzsébet Szabó (Hg.): Netz-Werk. II. Symposion der ungarischen Nachwuchsgermanisten. Lektoriert von Robert Steinle. Szeged: o.V. 1999 (Acta Germanica; 9), S. 58–63, hier S. 61f.; Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 102.

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tens wird der scheinbare Raum der Freiheit dadurch unversehens zum Gefängnis. Und drittens erlebt Kien die eigene Isolation zum ersten Mal in seinem Leben als bedrückend und beginnt, wie er meint, das »Elend von Gefangenen zu begreifen« (I, S. 68). Das hält ihn aber nicht davon ab, sich zum Schutz vor Therese selbst einzuschließen und sich zu suggerieren: »Man gebe ihm erst die Schlüssel in die Hand und er schlägt sie wie nichts zu Boden.« (I, S. 157) Am Ende des ersten Teils ist freilich sie es, die ihn zu Boden schlägt und zuletzt ohne Schlüssel aus der Wohnung jagt.62 Auch über Pfaffs Kabinett hat Kien keine Schlüsselgewalt. Er durchsucht deshalb die ganze Wohnung – vergeblich: »Einen Schlüssel! Einen Schlüssel! Was gäbe er für einen Schlüssel!« (I, S. 426) Beide Szenen enthüllen erneut eine Paradoxie des Namens. Der Himmelspförtner verliert in Die Blendung nicht nur seine Schlüssel, sondern auch den Himmel. Er, der entscheidende und bindende Sätze schreibt, erinnert zwar an jenen Mann, der von Jesus die Bindegewalt im Himmel und auf Erden übertragen bekommen hat (Mt 16,19); aber er findet sich auch selbst mit einem Strick ans Bett gebunden und fühlt sich von Thereses Wortschwall wie gefesselt (I, S. 113 und 158). Doch nicht Gott befreit ihn wie Petrus aus dem Kerker, sondern Therese selbst. Als Besitzerin der Schlüssel, ausgestattet mit realer Bindegewalt, ist sie die Nachfolgerin Petri.63 Es ist wohl auch kein Zufall, dass Therese wie der Papst ein weißes Gewand (Unterrock) und rote Pantoffeln trägt (I, S. 64). Während Petrus freilich u.a. die Metzger schützen soll64, gehen beide gegen den jungen Metzger vor. Die Kehrtwende des ersten Teils ähnelt der Vertreibung Adams aus dem Paradies.65 Als neuer Adam ist Kien

|| 62 Später hängt der Schlüsselbund direkt an der Tür (I, S. 298). 63 Die Schlüssel sind für Therese ein Fetisch: »Ihre Hand ließ sich schwer darauf [auf den Schlüsseln – A.S.] nieder, täschelte sie, spielte mit ihnen, nahm sie einzeln zwischen die Finger und bedecke sich vor Freude mit großen, schimmernden Schweißtropfen.« (I, S. 168) Sie hat es sogar gern, wenn sie »den Druck der harten Schlüssel im Fleisch« spürt (I, S. 167). 64 Böttrich: Petrus (wie Anm. 57), S. 11. 65 Gerade als Kien aus dem Bibliothekshimmel von Therese vertrieben wird, die hier gleichsam die göttliche Gewalt repräsentiert, kommt Kien die Erkenntnis, dass es keinen Gott gebe. Wie es scheint, verarbeitet Canetti in der Szene auch ein biografisches Erlebnis: die Vertreibung aus dem Zürcher Paradies durch die Mutter.

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aber zugleich, wie sich an vielen Stellen des Romans zeigt66, eine (travestierte) Christusfigur.67 Uwe Sänger hat zahlreiche Anspielungen auf die Passionsgeschichte im Kapitel »Privateigentum« entdeckt: Kien, der verhaftet und verhört, verkannt, verraten und seiner Kleider beraubt wird, gleicht hier dem historischen Jesus.68 Vor den Anwesenden, die ebenso sehr die zwölf Jünger repräsentieren wie die zwölf Geschworenen in einem Gerichtsprozess, steht er da wie Jesus vor den Juden – eine Parodie des »Ecce homo« (Joh 19,5). Als Heilsgestalt erscheint Kien jedoch bereits im ersten Kapitel des Romans:69 Die Abgeordneten der wissenschaftlichen Kongresse warten seit Jahren vergeblich auf seine ›Parusie‹ (I, S. 17). Doch statt seiner persönlichen Anwesenheit bekommen sie nur seine Botschaft. Sie ergeht an »irgendeinen Bevorzugten«, der Kiens überraschende Erkenntnisse vor versammelter Menge zu Gehör bringt (I, S. 17). Später identifiziert Kien sich selbst mit dem »Zahnweh-Christus« und fragt sich, für wen er (Christus bzw. Kien) gestorben wäre, »wenn er am Kreuz an seine Einsamkeit gedacht hät|| 66 Nach Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 121 ähnelt Kiens Verfolgung durch die Masse, von der er »geschlagen, gestoßen und getreten« wird (I, S. 321), an den Leidensweg und die Verurteilung Jesu. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Kien Thereses Arm bei der Rangelei vor dem Theresianum »wie eine Dornenkrone« trägt (I, S. 312). 67 So zuerst Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 129. Als »Travestie von Christus« wird Kien von Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 176 bezeichnet. Dass Kien meint: »Ich lebe für die Wahrheit« und zu Georg sagt, er sei die Wahrheit selbst (I, S. 333 und 493), erinnert an Jesus, der von sich selbst sagt: »›Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.‹« (Joh 14,6) 68 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 23f. Die Fingernägel des Kommandanten, mit denen er gegen Kiens Augen knipst, verweisen nach Sänger auf die Kreuzesnägel. Später heißt es: »Er hatte Lust, ihn zwischen den Nägeln zu zerquetschen.« (I, S. 339) – ein Satz, mit dem sich der Kommandant als Machthaber verrät. Überzeugend ist auch Sängers Hinweis darauf, dass Kien wie Jesus am Kreuz zu Trinken bekommt. Allerdings reicht man Jesus nicht (wie Sänger behauptet) Wasser, sondern einen Schwamm mit Essig (Mk 15,36par). Auch wird Kien nicht verspottet: Da er den Anwesenden zuwider ist, unterlassen sie selbst die Späße über sein Gewicht (I, S. 326). Sänger übersieht zudem Kiens Sturz, der an den Kreuzweg erinnert. Auch Kiens anfängliches Schweigen während des Verhörs erinnert an Jesus, der Herodes nach Lk 23,9 auf keine Frage geantwortet haben soll. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 197 sieht in dem Kommandanten eine Travestie des Pilatus, da er Kien zu guter Letzt für unschuldig halte, genauso wie Pilatus Jesus. Für Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 121 scheint Georg in dem Moment, als er seine Hände an einem Taschentuch abwischt, in die Rolle des Pilatus zu schlüpfen. 69 Darauf weist in dem entsprechenden Abschnitt (I, S. 17) vor allem die theologisch aufgeladene Sprache hin (»Gelübde«, »der »gläubigere Teil«).

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te« (I, S. 129f.).70 Im zweiten Teil des Buches hat er die Antwort gefunden; sie ist in seinem Jaguar-Traum präfiguriert (I, S. 38f.). Kien wird zum Retter der Bücher aus der »Auktionshölle[]« (I, S. 226; vgl. auch S. 262) im sechsten Stock des Theresianums – seine, wie es im Nachlass heißt, »religiöse Phase«71. Er lehnt dort an einem eisernen Geländer, an dem er bisweilen wütend zerrt, »in der heimlichen Hoffnung, das ganze Gebäude zu Fall zu bringen«. Sobald aber jemand das Pfandleihhaus mit einem Stoß Bücher betritt, stellt er sich quer über die Treppe, um ihm die Bücher abzukaufen und ihm die Umkehr zu ermöglichen (I, S. 226 und 233).72 So wird Kien zu einer pervertierten Mischgestalt – eine Pervertierung, die durch die Verkehrung der christlichen Moral zu Beginn des Kapitels vorbereitet worden ist.73 Er ist Simson, Petrus und Christus in einem. Doch anders als Simson (Ri 16,30) gelingt es ihm nicht, das auf »solidem Erdboden« errichtete Gebäude (I, S. 224) zum Einsturz zu bringen.74 Anders als Petrus bewacht er die Tür zur (Bücher-)Hölle. Und anders als Christus opfert er sich nicht für Menschen, sondern für Bücher. Diese Bücher treten in seiner Fiktion an die Stelle des jüdischen Volkes. Schon während seiner Brandrede ruft Kien den Büchern ihre »Leidensgeschichte« unter Kaiser Shi-Hoang-Ti in Erinnerung und warnt sie wie ein Prophet vor ihrer Zerstreuung in alle Welt und einem babylonischen Exil (I, S. 94 und 97f.).75 Selbst in dieser Verzerrung, als BücherMessias, ähnelt er dem historischen Jesus, der Händler und Geldwechsler aus

|| 70 Der anschließende Wechsel in der Bezugsrichtung des Personalpronomens: »Ja, er war wirklich sehr einsam, sein Bruder schrieb ihm nicht mehr« (I, S. 130) signalisiert die Identifikation. Vgl. Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 100. 71 ZB 57, 7. Oktober 1963. Vor dem Theresianum sieht Kien sich veranlasst, in Gleichnissen zu reden, und fühlt, »[…] daß seine augenblickliche Verfassung der Christi verwandt war.« (I, S. 261) Schon Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 23 stellt fest, dass sich Kiens Gefühl der Verwandtschaft mit Christus vor allem in der Rolle des Retters äußere. 72 Vgl. dazu auch I, S. 240: »Ein reuiger Sünder, sagt er, sei mehr wert als tausend Gerechte.« Das parodiert Lk 15,7 (Gleichnis vom verlorenen Schaf): »Ich sage euch: Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.« Die Erhöhung der Zahlenangabe zeigt, dass auch Kien von der »Wollust der springenden Zahl« besessen ist. 73 Das Theresianum ist ein Ort, an dem die christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit nicht mehr gilt, auch wenn sie vorgetäuscht wird (I, S. 223). 74 Zu Kien und Simson vgl. Schutti: Die Bibel in Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 87–94. Vgl. auch I, S. 267f., wo sich Kien mit »Schultern, Rippen und andere[n] Knochen« gegen die Säule lehnt. Nur wenig später hat Fischerle Angst davor, die Kirche könne durch Kiens Anklagen einstürzen. 75 Vgl. dazu auch Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 25.

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dem Tempel vertrieb.76 Er selbst vergleicht seine »barmherzigen Werke[]« (I, S. 331) mit dem in China und Japan beliebten Brauch des »Loskauf[s] von Tieren«. Da es ihm aber um »kluge« Bücher und nicht um »lächerlich dumme Tiere« geht, attestiert er seinem »Erlösungswerk« den »höchsten sittlichen Wert« (I, S. 270 und 235): Er bessere »den Irregeleiteten, der seine Zuflucht zur Hölle gesucht hat« und entreiße dessen Opfer der Hölle, er »erlöse Bücher vom Feuertode« (I, S. 331). Das soteriologische Verdienst überwiegt das ethische: »In erster Linie war es ihm um das Loskaufen der armen Bücher, in zweiter um die Besserung der Menschenbestien zu tun.« (I, S. 238) Kiens Wortwahl erinnert an die neutestamentliche Deutung des Todes Jesu mit Hilfe der rechtlichen Termini Loskauf (Röm 3,24f.; Eph 1,7; Hebr 9,15) und Lösegeld (Mk 10,45; Mt 20,28).77 Für eine Spende von 30 Schillingen, die zu diesem Loskauf beitragen soll, ist Kien sogar fast bereit, seinem Judas78 Fischerle »die himmlische Seligkeit in Aussicht zu stellen.« (I, S. 238) Therese hingegen glaubt er auf ewig vom Himmel ausgeschlossen. Ihre vermeintliche Selbstverspeisung begreift er ebenfalls soteriologisch: als »[…] endgültige Erlösung der furchtbar verfolgten Menschheit.« (I, S. 349) Das ist nicht nur eine groteske Variante des Sühnetodes, sondern auch ein Widerruf der christlichen Auferstehungshoffnung.79 Als Messias ist Kien, der

|| 76 Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 197; Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 83, Anm. 128; Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Kapitel B 6.1, Anm. 189), S. 101. 77 So auch ganz allgemein Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 101, Anm. 27. Zu den neutestamentlichen Deutungsmustern vgl. Ruben Zimmermann: ›Deuten‹ heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als zentrale Sprachformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu. In: Jörg Frey und Jens Schröter (Hg.): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament. Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 315–373, bes. S. 357. 78 In Die Blendung gibt es mehrere Judas-Figuren, da in der fiktionalen Welt des Romans Verrat allgegenwärtig ist. Fischerle betrügt Kien nicht nur um sein Geld, sondern er hat auch eine krähende Stimme (Vgl. z.B. I, S. 234), was an Jesu Verrat durch Petrus erinnert (vgl. dazu auch die sprechende Ergänzung zum Mythos von Vulkan, Mars und Venus in Canettis Roman: Ein Hahn verrät den Fehltritt der Göttin; I, S. 447). Für den Fall, dass die Polizei ihn erwischt, beabsichtigt er, sich aufzuhängen (I, S. 220). Während des Verhörs übernimmt Therese die Rolle des Judas (»Therese zeigte auf Kien […]« – I, S. 325; vgl. dazu auch I, S. 353, wo Therese beschließt, Kien zu verraten). Sie selbst glaubt hingegen, in der Judas-Figur auf der Kopie des letzten Abendmahls ihren Mann zu erkennen (I, S. 141). Diese Figur jedoch, dick und mit rotem Bart, erinnert an Pfaff, der Kien tatsächlich hintergeht: Er schläft mit dessen Frau und versetzt die Bücher. Nach seiner Verhaftung will Pfaff sich sogar aufhängen wie Judas einst, falls Kien ihn verlasse (I, S. 319). Zur Bedeutung der Judas-Figur für Die Blendung vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 267–270. 79 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 25f.

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Idealist, dem Diesseits verpflichtet, und das Fundament seines Glaubens ist ein Wahn. Kiens Messianismus ist von eminenter Bedeutung für die Interpretation seines Vornamens. Denn Petrus steht ebenso sehr wie Simson in enger Beziehung zu Christus. Während Simson nach typologischer Lesart als Vorläufer Jesu gilt80, machen die Evangelisten, allen voran Lukas, Petrus zum »Prototyp des Nachfolgers«81. Zwar rückt Petrus schon bei Leo I. in eine beinahe christusgleiche Position, doch ohne selbst zum Erlöser der Menschen zu werden. Auch jenes berühmte »vicarius Christi«, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts verbreitet und von Innocenz III. der päpstlichen Titulatur hinzugefügt, besagt nichts anderes, als dass der Papst, der Nachfolger Petri, der Stellvertreter Christi sei.82 In Die Blendung dagegen beansprucht Kien die Rolle des Messias selbst.83 Das ist ein Zeichen seiner Hybris, eines Sündenfalls, der für den Privatmythos des Einzelnen charakteristisch ist. Denn er findet »seinen ›höchsten‹ Ausdruck in dem Traum vom Selbst als dem Erlöser«84. Damit aber widerspricht Kiens Verhalten der Demut Petri, der sich nach dem Zeugnis des Hieronymus mit dem Kopf zur Erde habe kreuzigen lassen, weil er meinte, er sei nicht wert, zu sterben wie der Herr.85 Sein fiktionaler Namensnachfahre beansprucht demgegenüber die höchste Macht. Das Jüngste Gericht des Michelangelo bewundert er, weil Christus darauf, »gar nicht christlich«, die Menschen mit »hartem, wuchtigem Arm« verbannt. So rückt Christus, in dem Kien sich selbst sieht, in die Nähe der herzlosen Teufel (I, S. 41) – eine der vielen Inversionen des Romans. Zu ihnen gehört auch Kiens Auferstehung: Drei Tage nach Georgs Intervention kehrt er aus seinem »Sarg«, der Hölle des Kabinetts, in den Bibliothekshimmel zurück (I, S. 120 und 499) und macht ihn, nun selbst ein Teufel, durch sein Autodafé zur Hölle. || 80 Vgl. Detlev Krumme: Die Bestrafung der Unkeuschheit. Elias Canettis Romanheld Peter Kien als moderner Simson. In: Sprache im technischen Zeitalter 93 (1985), S. 148–154, hier S. 153. 81 Böttrich: Petrus (wie Anm. 57), S. 57. 82 Beide Hinweise aus ebd., S. 264 und 267. 83 Vgl. dazu I, S. 290: »Er nahm kein Jota von seiner Tat zurück.« Kien begründet hier, warum er gegen das »Gesetz« gehandelt und Therese nicht in eine Anstalt eingeliefert habe. Das erinnert an Mt 5,18: »Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.« 84 Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 176. Gott im Himmel sei ein Symbol für das »absolut egoistische Individuum«, dessen geistige Welt von der Masse bevölkert sei und ein »monomanisches Gedankensystem« bilde (Ebd., S. 165). 85 Vgl. Böttrich: Petrus (wie Anm. 57), S. 226. Dies wird auch in Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 334 überliefert. Dort sagt Petrus: »›Also, da ich unwürdig bin, am Kreuze zu hängen wie mein Herr ist gehangen, so kehret das Kreuz um und kreuziget mich, das Haupt nach unten.‹«

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Der Wächter des Himmels vernichtet den Ort, dessen Schlüssel ihm anvertraut sind. Das ist eine weitere Paradoxie des Namens Peter, dessen Polyvalenz erstaunlich ist.86

6.2.4 Kien – Schöpfer, Hund, Entflammter Auf Kiens Selbstvergottung scheint noch klarer sein Nachname87 hinzuweisen: Denn im I Ging ist »Kiän« das erste Zeichen für das Schöpferische; sein Bild ist der Himmel.88 Die Bedeutung dieses Zeichens wird wie folgt erklärt: Auf das Weltgeschehen angewandt, ist in dem Zeichen das starke schöpferische Wirken der Gottheit ausgedrückt. Auf die Menschenwelt angewandt, bezeichnet es das schöpferische Wirken des Heiligen und Weisen, des Herrschers und Führers der Menschen, der ihr höheres Wesen durch seine Kraft weckt und entwickelt.89

Obwohl Kien den »Himmelsgott der Chinesen« (I, S. 11) preist, beansprucht er die schöpferische Kraft für sich, und zwar sowohl im makrokosmischen Sinn als auch im Hinblick auf ihre Wirkung in der Menschenwelt. Schon im ersten Kapitel geriert er sich als Herrscher und Führer der Menschen, indem er das höhere Wesen des jungen Metzger zu wecken und seine Entwicklung zu steuern sucht. Freilich hat er bisher noch jeden Lehrstuhl abgelehnt, weil er sich zu den »eigentlichen, wirklichen, schöpferischen Forscher[n]« zählt, die sich ihrer Arbeit und nicht der Wissensvermittlung zu widmen haben (I, S. 16). Auf diese Weise erhöht er sich zu einem großen Mann, zu jenem Edlen, der, wie es im ersten Abschnitt des I Ging heißt, »den ganzen Tag schöpferisch tätig« sei.90 || 86 Zur Paradoxie des Namens zählt auch, dass Kien die altera pars Petri fehlt. Denn er ist unfähig zu treffenden Urteilen, ein beschränkter Mensch. 87 Der Name ist in Wien nicht gerade selten. Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 203. 88 Vgl. ebd., S. 203; Fauser: Eremiten in der Bibliothek (wie Kapitel B6.1, Anm. 172), S. 196; Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 404. 89 I Ging. Das Buch der Wandlungen. In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. Neugesetzter, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Jena 1924, Wiesbaden: Marix 2004, S. 25. Canetti besaß das Buch in der Übersetzung von Richard Wilhelm. Die beiden Bände seiner Ausgabe, die 1924 im Jenaer Diederichs-Verlag erschienen sind, stehen in seiner Zürcher Bibliothek. Sie tragen die Signaturen CAN 02735 und CAN 02736. Wie Canetti Stephan Wiesehöfer mündlich mitteilte, hatte er vor Abfassung der Blendung einige der von Richard Wilhelm besorgten Bände aus der Reihe »Die Religion und Philosophie Chinas« gelesen. Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst, S. 206f. 90 I Ging (wie Anm. 89), S. 30.

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Auch die Eigenschaft der Beharrlichkeit, die das I Ging der Weisheit zuordnet91, kommt Kien (in groteskem Maße) zu. Seine schöpferische Arbeit ist allerdings, im makrokosmischen Sinn, eine Parodie der göttlichen Schöpfung, ja des Schöpferischen überhaupt. Aus dem Tohuwabohu der Lesarten erschafft Kien einen geordneten Text; das ist sein (jämmerliches) Schöpfungswerk. Die göttliche Schöpfung hingegen, sich selbst und den Makrokosmos Bibliothek, löscht er aus. Wie Uwe Sänger nachgewiesen hat, ereignet sich im letzten Kapitel die »Umkehrung der Schöpfungswerke Gottes«: Die Überschwemmung des Küchenbodens macht die in Gen 1,9 erzählte Scheidung von Land und Meer rückgängig, das Löschen des Lichtes stürzt die Welt in Finsternis92, die Erinnerung an den Vogelmord widerruft die Schöpfung der Vögel. Dass Kien das Feuer auf der sechsten Stufe der Leiter sitzend erwartet, verweist nach Sänger auf den sechsten Schöpfungstag, auf die Erschaffung des Menschen, die durch die Selbstverbrennung revoziert werde.93 Das ist eine sehr überzeugende Deutung – die sich aber ergänzen lässt. Denn auch im I Ging spielt die sechste Stufe eine wichtige Rolle. Sie markiert den Erfolg des schöpferischen, großen Mannes, der im Augenblick seiner Vollendung auf sechs Stufen zum Himmel emporsteigt.94 Es wird noch zu diskutieren sein, ob Kien am Ende einen solchen Erfolg erringt. Soviel jedoch ist sicher: Während der Himmel im I Ging das Ziel allen Strebens ist, wird er in Die Blendung vernichtet. Kien, der »Anti-Demiurg«95, wird dem Zeichen für das Schöpferische, das seinen Namen bildet, gerade nicht gerecht.

|| 91 Vgl. ebd., S. 27. 92 Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 48. 93 Vgl. ebd., S. 51. Weniger überzeugend ist die nicht weiter explizierte Deutung von Edward A. Thomson: Die sechste Stufe markiere in der Schlussszene die vorletzte vor dem Nirwana. Vgl. Elias Canetti's Die Blendung and the Changing Image of Darkness. In: German Life and Letters 26 (1972/73), H. 1, S. 38–47, hier S. 46. 94 Vgl. I Ging (wie Anm. 89), S. 26. Vgl. auch Fauser: Eremiten in der Bibliothek (wie Kapitel B6.1, Anm. 172), S. 198. Dass gerade die sechste Stufe das Erkennen und Verwirklichen des Sinnes bezeichnet, macht deutlich, wie wenig Kiens Autodafé den Gedanken des I Ging entspricht. Das Klettern auf die sechste Stufe ist, in Georgs Worten, eine »plötzliche Verkehrung des Sinnreichsten ins Sinnloseste« (I, S. 474). Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 404 weist darauf hin, dass das grafische Zeichen für Kiän gerade die »Leiter« aus sechs übereinander geordneten Strichen sei. 95 Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 49. Es wäre vor diesem Hintergrund zu diskutieren, ob die Handlung des Romans nicht etwa, wie Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 64 behauptet, bereits im März endet, sondern erst im April. Das Ende des Romans erschiene dann als Kontrafaktur des Schöpferischen und, ganz speziell, des Osterfestes.

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Seine Kraft ist nicht Bewegung, nach dem I Ging die Kraft des Schöpferischen96, sondern Erstarrung, Tod. Schöpferisch erscheint vielmehr seine Gegen- und Komplementärfigur, der Gorilla, der seine Stirn am Hinterkopf zu tragen scheint (I, S. 439) und eigentlich zu einer (nach damaligem Kenntnisstand) bloß imitierenden Spezies gehört97: »Er schuf, was er brauchte, und fand sich nach seinen sechs Tagen am siebten darin zurecht. Statt zu ruhen, schenkte er der Schöpfung eine Sprache.« (I, S. 441) Darüber hinaus erscheint Kien, der jene höchste Kraft beansprucht, die der Gorilla besitzt, den anderen Figuren hilflos und schwach, das genaue Gegenteil eines Machthabers. Schon in der Schule habe ihn niemand wegen seiner »lächerlichen Figur« geachtet (I, S. 119). Trotzdem verstößt Kien gegen die Warnung, die das I Ging an die Adresse des Menschen richtet: Wer titanisch emporstrebe, dem sei der Sturz in die Tiefe bestimmt98 – ein Sturz, der sich in Die Blendung, wie zur Erinnerung an diese Warnung, mehrfach ereignet. Sowohl der Vor- als auch der Nachname sind folglich ambivalent. Sie kennzeichnen Kien als Machthaber, der sich über seine Umgebung erhebt, und verpflichten ihn gleichzeitig zur Demut. Und doch stehen sie, wenigstens dieser Deutung zufolge, nicht in einem antithetischen Verhältnis. Aber im Namen Kien klingt auch »chien«, das französische Wort für Hund, an.99 Das ist keine willkürliche Assoziation; denn Hunde spielen in Die Blendung eine wichtige Rolle. Der Blinde z.B. lässt sich von einem »lange[n], magere[n] Hund« (I, S. 248) durch die Menge zu seinem angestammten Platz führen. Lang

|| 96 Vgl. I Ging (wie Anm. 89), S. 25. 97 Vgl. III, S. 438: »Affen und Papageien ahmen nach, es ist anzunehmen, daß sie bei diesem Prozesse sich in keiner Weise verändern. Man könnte sagen, daß sie nicht wissen, was es ist, das sie nachahmen; sie haben es nie von innen her erlebt.« Vgl. dazu auch ZB 6, 7. November 1942: »Der Schritt von der Nachahmung zur Verwandlung ist der Schritt vom Affen zum Menschen.« 98 Vgl. I Ging (wie Anm. 89), S. 31. 99 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 129. Vgl. auch ders.: Der Roman Die Blendung (wie Einleitung Anm. 134), S. 37. Nach Dissinger klingt sowohl in Kant als auch in Kien der Name Canetti an. Canetti ähnelte darüber hinaus dem lateinischen canis, Kien dem französischen chien. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass der Protagonist in Veza Canettis Schlüsselroman Die Schildkröten, ein kaum verhülltes Porträt ihres Mannes, den Namen Kain trägt. Michael Rohrwasser hat in seinem Aufsatz: Der Prophet Elias. Elias Canettis Selbstinszenierung als Autor der Blendung. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 19–37, hier S. 34–36 zudem überzeugend herausgearbeitet, dass einige Szenen des Romans auf den Propheten Elias verweisen, so etwa der Jaguar-Traum oder das Schlusskapitel: So wie im Muspilli das Blut des Elias die Welt in Brand setze, so setzten in Kiens Albtraum die Bluttropfen den Bibliothekskosmos in Brand. Auch vergieße Kien wie Elias vor seinem Selbstopfer Wasser.

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und mager wie dieser Hund ist aber auch Kien, der seine philologischen Forschungen (mit Georgs Ausdruck) als »Buchstabenschnüffeleien« charakterisiert (I, S. 470). Wenn man bedenkt, dass Canetti vom Dichter in seiner Rede zum 50. Geburtstag Hermann Brochs nur wenige Jahre später fordert, er solle seiner Zeit verfallen sein, in ihr gleichsam mit der »feuchte[n] Schnauze« wühlen wie ein Hund (VI, S. 102)100, dann muss der Eindruck entstehen, der Name Kien sei in dieser zweiten Lesart ausschließlich paradox. Denn Kien, der die Vergangenheit vergöttlicht und sich in alte Texte versenkt wie der Erhabene, der Antipode des Hunde-Dichters (VI, S. 101), ist an der Gegenwart, seiner Umgebung, den Menschen, denen er begegnet, nicht im Geringsten interessiert. Er ist kein »Hund seiner Zeit«. Auch wenn er die tot geglaubte Therese während des Verhörs aus nur zwei Zentimeter Entfernung anschaut und sie sogar mit der Nase beschnuppert wie ein Hund (I, S. 334), bleibt er doch blind für die Wirklichkeit, die er gegen seinen Augenschein zu einer Halluzination erklärt.101 Wie der Erhabene ist er, der Sinologe, »[…] noch ohnmächtiger als der experimentelle Physiker, der zwar auf einem Teilgebiet seiner Wissenschaft herumhantiert, dem aber immer die Möglichkeit der Kontrolle bleibt.« (VI, S. 101) Gerade deshalb passt der Name aber wiederum zu ihm. Untersucht man den Gebrauch des Wortes »Hund« im Roman nämlich genauer, so zeigt sich, dass »Hund« auch eine Metapher für den Ohnmächtigen ist.102 Der Blinde etwa, der sich nur blind stellt, begegnet seinem »Chef« Fischerle mit »hündische[r] Ergebenheit in den Augen« (I, S. 252). Der Möbelverkäufer Grob hält seinen Chef Herrn Groß zwar für nicht annähernd so mächtig wie dessen Mutter, aber er sei auch kein Hund (I, S. 86). Georg dagegen sieht sich von den dankbaren Patienten auf der Straße »[…] umarmt und beinahe zu Boden geworfen, als wäre er der Herr eines großen Hundes und kehrte nach langer Abwesenheit heim.« (I, S. 442) Kien schließlich glaubt, der Hausbesorger habe Thereses Sarg »aus Treue gegen seinen angestammten Herrn« wie ein Hund als einziger begleitet (I, S. 286). Dass Hunden selbst nur ein kurzes Leben beschieden ist, wie Kien eigens betont (I, S. 30), macht sie zu Antipoden des Überlebenden. Nicht von ungefähr will Fischerle

|| 100 Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 91 bezeichnet die Rede für Hermann Broch als »Schlüssel zum dichterischen Selbstverständnis«. Eine literaturhistorische Einordnung der Rede und ihrer zentralen Metapher findet sich bei Reiner Wild: »Der Hund seiner Zeit«. Zu Elias Canettis Selbstverständnis als Dichter. In: Sprachkunst 18 (1987), H. 1, S. 73–92. 101 Den Erhabenen attestiert Canetti in seiner Rede »viele Blindheiten«. Vgl. VI, S. 101. 102 Vgl. dazu allgemein Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 66: Indem sich die Figuren gegenseitig als Tiere bezeichneten, drückten sie ihre Verachtung aus (z.B. I, S. 257: Kien als »blöde[r] Hund«) und bekundeten zugleich die eigene Überheblichkeit. Die Tier-Metapher sei deshalb das »markanteste Stilmittel des Romans«.

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den Schachweltmeister Capablanca kaputt machen wie den »letzten Hund« (I, S. 367). Auch in den Aufzeichnungen erscheint der Hund als Gegentypus des Machthabers. So heißt es in einer Notiz vom 5. Dezember 1944: »Alle Namen von Machthabern nur noch für Hunde, Gott inbegriffen.«103 Wenn die Figuren der Blendung jemanden als Hund bezeichnen, dann entlarvt sich darin nicht zuletzt ihre Tendenz, den Nebenmenschen zum Tier herabzustufen – eine für den Machthaber typische Form der Degradierung, auf die wir auch in Hochzeit gestoßen sind. Dass Kien mehr als alle Figuren in Canettis Roman mit den Attributen des Hundes versehen ist (vgl. auch I, S. 257 und 266), passt zu seiner körperlichen Schwäche. Im Kapitel »Die Erstarrung« ›lappt‹ er sein »Futter« mit seiner »gierigen Zunge« sogar aus einer Schüssel, ein von Therese »verprügelter Hund« (I, S. 164). Doch die Metaphorik des Hundes ist ambivalent. Denn der Blindenhund ist sowohl Führer als auch Diener; er weist den Weg, indem er seinem Herrn (wie Kien formuliert) mit den Augen aushilft (I, S. 30). Kien, der Tiere verachtet, durchschaut seine eigene Tierhaftigkeit indes nicht und irrt wie ein Blinder ohne Hund durch die »kopflose Welt«. Zugleich steht der Hund aber auch – wie später in der Geburtstagsrede – für die (von Kien unterdrückte) Sinnlichkeit. So bezeichnet Fischerle die Zuhälter im »Idealen Himmel« (zu denen er selbst gehört) beispielsweise als Hunde (I, S. 379). Und der Blinde bemängelt, die anderen Menschen seien wie Hunde, da sie überall miteinander verkehren könnten und nicht wie er auf ein »anständiges Bett« angewiesen seien (I, S. 253). Unterwerfung und Sinnlichkeit, die wichtigsten Charakteristika des Hundes in Die Blendung, vereinigen sich in der Figur der Helena, die Kien sich »hündisch äugelnd«, eine lockende Schmeichlerin, an der Seite ihres Gatten Menelaos vorstellt (I, S. 482). Es ist dennoch kein metaphorischer Bruch, dass Kien in seinem Wahn phantasiert, ausgerechnet ein Fleischerhund sei auf Thereses Sarg gesprungen, habe ihn zu Boden gestürzt, den gestärkten Rock herausgezerrt und zerbissen (I, S. 286). Dieser Hund ist sein imaginierter Stellvertreter. Er verkörpert zum einen die verdrängte Sinnlichkeit, den Hass des Degradierten auf die eigene Frau, deren gestärkter Rock, das Zeichen ihrer Macht, er nicht von ungefähr in kleinste Stücke zerbeißt. Durch den Namenszusatz »Fleischer« rückt der Hund zum anderen aber, gegen seine zuvor behauptete Natur, in die Rolle des Überlebenden. Er erfährt an Kiens Stelle den elementaren Triumph. Der Aufstand der Ohnmächtigen gegen die Mächtigen, den der Fleischerhund auf diese zweifache Weise versinnbildlicht, ereignet sich

|| 103 ZB 8. Vgl. dazu ZB 15, 7. März 1967: »Unterschriften: ›Robert Walserchen‹ oder ›Ihr allezeit treues Hundeli Robert Walser![‹]«

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aber nur in Kiens Kopf.104 Als Machthaber und Ohnmächtiger, Mensch und Hund zugleich ähnelt Peter Kien deutlicher als das Personal von Komödie der Eitelkeit den Doppelfiguren der Ägypter und Australier.105 Sein Name hat die Aufgabe, die Bestandteile dieser »menschlich-tierische[n] Doppelform« zu fixieren (III, S. 442). Selbst die Polyvalenz der beiden Glieder steht im Dienste dieser Fixierung. Kiens Machtlosigkeit kommt auch zum Vorschein, wenn man seinen Familiennamen anders deutet, und zwar als Anagramm sowohl von »kein« als auch »Knie«. Bereits in den Wiener Notizblöcken, wenige Monate nach dem Abschluss der Blendung, erkennt Canetti eine Analogie zwischen Knien und Buckel.106 Auch wenn er diese Analogie nur vage spezifiziert, ist es für unseren Zusammenhang von einiger Bedeutung, dass er das Knie ausgerechnet mit dem körperlichen Stigma der Paria-Figur Fischerle verbindet. Über das Knie schreibt Canetti 1949, in einer Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen: »›Gnade‹ wie || 104 Problematisch ist die These von Katrin Schneider, die bei Kien einen Wandel vom platonischen Philosophen zum Kyniker diagnostiziert und deshalb einen Gleichklang zwischen den beiden Namen Kien und Kyniker zu hören vermeint. Vgl. »Viele Philosophen sind des Dichters Tod« (wie Kapitel B6.1, Anm. 45), S. 15 und 158. Die Begründung ist verworren. So behauptet Schneider, dass Kien im zweiten Teil immer häufiger mit den Attributen des Hundes versehen werde, eine Tatsache, die seine Wandlung erkennen lasse (S. 293). Eine genaue Lektüre kann diese Behauptung nicht bestätigen. Noch problematischer ist die Deutung des vermeintlichen Wandels: Der Kynismus markiere »[…] den Positionswechsel des Protagonisten von einem Philosophen Platon'scher Provenienz zu einem Vertreter des Realismus.« Kiens abschließendes Lachen zeuge von »[…] seiner neuen materialistischen Geisteshaltung, die er aus der Auseinandersetzung zwischen der kynisch-realistischen Lehre und einem als inhaltsleer entlarvten Idealismus gewonnen hat.« (Ebd., S. 185f. und 213) Schneider übersieht dabei, dass Kien, der angebliche Realist, als Wahnsinniger stirbt. Wie erzwungen ihre Argumentation ist, verrät sich beispielsweise an der Stelle, wo sie Kiens Begegnung mit dem Blinden und seinem Hund interpretiert: »Wenn also Kien als großer Gelehrter von zu viel Lektüre erblindet ist, die Ideenschau ihm das Augenlicht genommen hat, wird ihm ein Kyniker zur Verfügung stehen, um ihn durch die Welt zu führen. Damit nehmen die ersten Seiten des Romans bereits sein Ende vorweg, an dem der Idealismus scheitern wird.« (Ebd., S. 170) Fischerle hingegen, der Kien durch die Welt geleitet, möchte gerade nicht als Hund gesehen und behandelt werden. Insgesamt versäumt Schneider es, die Hunde-Metaphorik sowohl im Roman als auch im Gesamtwerk zu analysieren, sodass ihre Thesen über die Rolle des Kynismus in Die Blendung nicht genügend abgesichert sind. 105 Katri Soe: Das Prinzip Kien. Versuch über den Bruderkonflikt in Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Triangulum 2 (1995), S. 74–93, hier S. 75 hat also unrecht, wenn sie behauptet: »Es darf keinen Widerspruch in der Figur geben, sondern sie muß konsequent in eine Richtung getrieben werden, in eine Richtung denken.« 106 Vgl. ZB 3, Januar 1932. Canetti vermutet, diese Entsprechung sei in einem Ausgleich der Bewegung begründet.

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›Knie‹ enthalten die Beugung des ›n‹.« (IV, S. 163) Diese Aufzeichnung fasst in äußerster Kürze die Gedanken zusammen, die Canetti in Masse und Macht ausformulieren wird. Dort heißt es: Die Gebärde des Kniens ist als ein Flehen um Gnade zu deuten. […] Wer sich scheinbar darein ergibt, getötet zu werden, schreibt dem, vor dem er kniet, die größte Macht zu, nämlich die über Leben und Tod. Einem so Mächtigen muß es auch möglich sein, allerhand anderes zu gewähren. Die Gnade des Angeflehten soll der Wehrlosigkeit des Knienden gleichkommen. (III, S. 467)

In Canettis Roman hat das Knien genau diese Funktion, wie am eindrücklichsten eine Szene zwischen Georg und dem Hausbesorger zeigt, der sich seiner Schuld überführt glaubt: »Benedikt Pfaff, der starke, rote Lümmel, zog seine Muskeln ein, kniete nieder, faltete die Hände und bat den Herrn Präsidenten um Vergebung.« (I, S. 498)107 Kien wiederum malt sich aus, dass Fischerle, beim Diebstahl der (imaginären) Bücher ertappt, vor ihm auf die Knie fallen und ihn weinend um Verzeihung bitten werde (I, S. 230). Während Kien sich hier die Rolle des Machthabers zuschreibt, von dem Strafe oder Verzeihung, Tod oder Leben abhängen, merkt er nicht, dass er bereits dabei ist, seiner »ergebenen Kreatur« (I, S. 229) auf den Leim zu gehen. Fischerle wird ihn fast um sein gesamtes Vermögen bringen und träumt selbst davon, dass die Menschen vor ihm knien und ihn anflehen (I, S. 216). Im dritten Teil ist es nun Kien, der in Pfaffs Kabinett »auf den Knien« vor dem Guckloch liegt (I, S. 415).108 Knien und Liegen sind nicht zufällig verknüpft. In Masse und Macht definiert Canetti das Liegen als Position vollkommener Ohnmacht (III, S. 464); Kiens Haltung kennzeichnet ihn insofern gleich doppelt als Ohnmächtigen. Tatsächlich ist er dem Hausbesorger, seinem ›Gastgeber‹, in allen Belangen ausgeliefert. Aus Angst vor dessen Lachsturm drückt er sich »ängstlich in eine Ecke« (I, S. 417). Später muss er zusehen, wie Pfaff einen Teil seines Geldes widerrechtlich »pfändet« und ihn selbst einsperrt. Kien im Kabinett des Hausbesorgers – das ist die Antithese zum wahnsinnigen Gorilla, der in seinen Zimmern die »Herrschaft über seine Pflegerin« führt (I, S. 437). Während der Vorname den Büchermenschen vor allem als Machthaber kennzeichnet, streicht der Nachname demnach eher seine Ohn-

|| 107 Vgl. dazu auch Kiens Suada gegen Eva: »Mit einem Fuß erst steht sie auf der Erde, der andere steckt noch in Adams Seite. Bevor sie zu knien vermag, faltet sie schon die Hände. Ihr Mund murmelt eine Schmeichelei. Schmeicheleien an Gottes Adresse nennt man Gebete.« (I, S. 486) 108 Im ersten Teil kniet Kien bereits in Gedanken nieder und betet zu seinem Gott, der Vergangenheit (Vgl. I, S. 169).

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macht heraus.109 Auch dem Namen der Mittelpunktsfigur ist jene Antithetik zu eigen, die Alfons-M. Bischoff zu Recht für ein zentrales Stilprinzip der Blendung hält110. Bei der Namensdeutung ist allerdings zu beachten, dass Kien nicht vor dem Hausbesorger kniet, sondern vor dem Guckloch, durch das er Hosen und nichts als Hosen sieht. Mit unglaublicher Macht ziehen diese Hosen ihn, der sonst so sehr auf Distanz bedacht ist, in ihren Bann: Es war, als hätte man ihm durch jede Pore seiner Haut eine Schnur gezogen; als hätte jemand aus all diesen Schnüren ein Seil gewunden und das starke, dicke, ungefüge Ding reichte durchs Guckloch auf den Korridor hinaus, wo ein ganzes Regiment von Hosen daran zerrte. »Ich will ja, ich will ja«, stöhnte Kien, »man hindert mich!« (I, S. 426)

Canetti deutet diese Szene in seinen Paralipomena zu Die Blendung wie folgt: In der »Zwangsjacke des Kabinetts« habe Kien seine Büchermasse durch die Masse des Hausbesorgers ausgetauscht.111 Indem Kien vor dem Guckloch kniet, unterwirft er, der »wohl größte Sinologe«, sich demnach der Masse. Dadurch kommt eine dritte Lesart des Nachnamens ins Spiel, die einzige, die Canetti selbst entwickelt hat. Wenn er retrospektiv feststellt, »Kien« bezeuge auf ähnliche Weise die »Entzündbarkeit der Welt« wie »Brand«, dann muss er bei der Namengebung den Kienspan vor Augen gehabt haben. Der neue Name sollte, nach dem langen Kant-Intermezzo, abermals auf die Möglichkeit der Entzündbarkeit selbst des trockensten Gelehrten hinweisen, der wie eine »Pappel« aussieht (I, S. 185).112 Diese Möglichkeit wird im Roman bereits früh angedeutet: Nach dem Krankenlager kommt es Kien so vor, als knistere es in seinem Kopf »wie in trockenem Holz« (I, S. 167). Auch der wütenden Therese erscheint er wie ein »lange[s] Stück Holz«, das sie gerne ins Feuer werfen würde (I, S. 174). Die Identifizierung mit einem Kienspan macht klar, wie wenig Kien sich von anderen Figuren des Romans unterscheidet. Der Hausbesorger mit seinen roten Haaren wirkt, gleich ihm, wie ein lebendiges Zündholz. Die Pensionistin ist an ei-

|| 109 Dazu passt auch, dass Kien Sigurd Paul Scheichl an Kohn erinnert, »perhaps the most stereotyped of all Jewish names« Zitiert nach: Is Peter Kien a Jew (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 162. Wie im Abschnitt über Fischerle gezeigt werden wird, gebrauchen die Figuren in Die Blendung das Wort »Jude« als Schimpfwort. 110 Vgl. Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 62. 111 ZB 57, November 1949. 112 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 128. Kiens Aussehen mag auch die Tatsache persiflieren, dass Kant nicht mehr nachdenken konnte, seitdem einige zu hochgewachsene Pappeln den gewohnten Blick auf den Löbenichter Turm störten. Vgl. dazu Fischer: Kant 1 (wie Kapitel B6.1, Anm. 51), S. 95.

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nem Zündholz zu erkennen, welches sie, eine exzessive Raucherin, immer in die Höhe hält (I, S. 395). Und die vermeintlich verstorbene Therese, deren Nachname bereits das »Holz« enthält, erscheint Kien in seinem Wahn so dünn wie ein Zündholz (I, S. 346). Da alle diese Figuren nicht mit Kien zusammen im finalen Weltenbrand untergehen, muss das Feuer auch eine übertragene Bedeutung haben. Es ist wie in Komödie der Eitelkeit wieder das Symbol der Masse, ebenso »ansteckend und unersättlich« wie jedes Feuer, von dem Canetti in Masse und Macht schreibt: »Was aber gesondert war, wird vom Feuer in kürzester Zeit verbunden. Die isolierten und unterschiedlichen Gegenstände gehen alle in gleichen Flammen auf. Sie werden so sehr gleich, daß sie ganz verschwinden […].« (III, S. 87) Als »kleinen Überrest« des domestizierten Feuers, heißt es später, trage heute jeder Mensch eine Zündholzschachtel in der Tasche: »Sie stellt, schön gleichmäßig, einen Wald von einzelnen Stämmen vor, jeder mit einem brennbaren Haupt versehen.« (III, S. 90) Auch die separierten Figuren der Blendung sind einander gleich wie Zündhölzer: Sie alle sind entflammbar für die Masse, fühlen sich mit ihr verbunden wie Kien mit den Hosen und haben sogar die Neigung, selbst zum Feuer zu werden wie in der Komödie die Greißlerin Therese. Während nach Masse und Macht nur das Lebloseste, die Mineralien, dem Feuer gewachsen sei (III, S. 87), stirbt in Die Blendung sogar der steinerne Kien in den Flammen, die sein eigenes, inneres Feuer, der irre Drang, mit der Büchermasse zu verschmelzen, am Ende des Romans erzeugt. Sein antithetischer Name, die Konfrontation von Stein und Holz, zeigt, dass Canetti auch in Die Blendung den Kampf zwischen Individuum und Masse inszeniert.113 Zu diesem Kampf, auch zur Ersetzung der einen durch eine andere Masse, kann es nur kommen, weil Kien im Laufe des Romans den Kontakt zu seinen Büchern immer mehr und schließlich ganz verliert. Das aber ist seine größte Angst, wie der Jaguar-Traum bezeugt. Er führt Kien, gerade als Therese ein Buch aus der Bibliothek von ihm verlangt, den Vorgang der Separierung sinnbildlich vor Augen: Aus der geöffneten Brust eines Mannes springen unzählige Bücher hervor und gehen in Flammen auf.114 Diese Angst, ein wesentlicher Teil seines

|| 113 Auch Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 405 versteht den Namen Peter Kien in diesem Sinn: Canetti schreibe seinem Protagonisten mit diesem Namen den »Antagonismus von Erstarrung und Verwandlung, Individuum und Masse, Tod und Leben« ein. So spiegle sich in diesem Namen nicht nur Canettis anthropologische These, dass der Mensch von einem Massen- und einem Persönlichkeitstrieb bestimmt sei, sondern er bringe auch Orient (Kiän) und Okzident (Peter) zusammen. 114 Vgl. X, S. 235. Man könnte, so Canetti, den Traum eines Menschen, der immer wiederkehrt, der ihn antreibt und von anderen Menschen unterscheidet, seinen Privatmythos nennen. Siehe dazu auch Zepp: Privatmythos und Wahn (wie Einleitung, Anm. 35), S. 153: »Man könnte

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Privatmythos, bewirkt seit jeher, dass Kien sich nicht einmal für die Dauer eines Spaziergangs von seinen Büchern zu trennen vermag. Im Falle einer Erblindung ist er sogar fest entschlossen, zu handeln wie Eratosthenes, der seine »Trennung von den Büchern« nicht habe ertragen können und sich in wenigen Tagen zu Tode gehungert habe (I, S. 21). Er selbst sieht sich bald von immerhin drei Vierteln seiner Bibliothek getrennt. Denn bis auf sein Arbeitszimmer gehören nun alle übrigen Zimmer der Wohnung Therese, die die Bücher einschließt und, eine zweite Grenze ziehend, allmählich in ihren Besitz überführt (I, S. 114 und 127)115. Diese Trennung deutet Kien mit Worten, die die Bücher als Masse kennzeichnen (so wie Canetti sie in Masse und Macht beschreibt)116: als Zerschneidung eines »einheitlichen Organismus« oder als Zerstückelung eines einzigen Leibes (I, S. 69 und 93). Dadurch wird offenbar, dass Kien die Bücher nicht nur als Schranke benötigt, sondern auch, selbst nur mehr ein Kopf, als (symbolischen) Leib; dass er sie nicht nur beherrscht, sondern auch von ihnen beherrscht wird. Wie nach einer Amputation spürt er sie noch immer hinter der Schranke, eine Qual: »[…] [E]r hätte sie durch hundert Türen hindurch gespürt; aber nur zu spüren, woran er früher rührte, fand er bitter.« (I, S. 69) Dieses Gefühl kehrt im Kabinett des Hausbesorgers wieder, durch die zwischenzeitlichen Erfahrungen in der »kopflosen Welt« verstärkt und auf die Hosen übertragen. Bereits seit dem Verlust des Großteils seiner Bibliothek ist Kiens Ziel die Wiedervereinigung mit dem Bücherleib. Während Thereses Möbelkauf ist es soweit, wenn auch nur für kurze Zeit: »Eine gute Luft wehte durch die wiedervereinigten Glieder eines Leibes. Sie freuten sich, endlich einander zu gehören. Der Leib atmete, auch der Herr des Leibes atmete tief.« (I, S. 92f.) Im »Taumel der Freude und späten Vereinigung« versucht Kien, sämtliche Schranken in seiner Wohnung zu beseitigen, und hebt mit erstaunlicher Kraft die Türen aus den Angeln (I, S. 93). Doch sein Leitersturz beendet die Wiedervereinigung,

|| den Privatmythos statt als persönlichen Lebenstraum des Menschen – wie es Canetti getan hat – auch als dessen isolierte Religion charakterisieren.« Auffällig ist, dass zuvor auch die Manuskripte, die Kien zerreißt, um Hilfe schreien, so wie im Traum die Bücher (I, S. 31 und 39). Das weist voraus auf das Ende, wo Kien die Bücher und sich verbrennen lässt, um jede weitere Trennung zu verhindern. Anders als im Traum hat er dabei, wie bei der Vernichtung der Manuskripte, eine aktive Rolle inne. 115 Diese Besitzergreifung vollzieht sich in drei Schritten: als Ergreifen, sprachliche Aneignung und Einverleibung: »Sie nahm eines [ein Buch – A.S.] in die Hand, las den Namen, sprach ihn laut aus und schrieb ihn auf einen der langen Papierstreifen nieder.« (I, S. 121) Diese Streifen verstaut sie in ihrer Rocktasche und wundert sich, dass Kien noch immer von seiner Bibliothek spricht: »Wo sie doch das Inventar in der Tasche hatte!« (I, S. 149) 116 In der Masse, schreibt Canetti, geht alles »wie innerhalb eines Körpers vor sich« (III, S. 14).

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auch sein Kommando über die Büchermasse. Als Kien aus der Ohnmacht erwacht, findet er sich erneut von seinen Büchern getrennt. Auch die nächsten Versuche scheitern: Kien erhascht zuerst nur einen kurzen Blick ins Nebenzimmer, ohne die Bücher zu erreichen, und bricht beim zweiten Mal, von seinem Sturz noch geschwächt, just auf der Schwelle zusammen (I, S. 113). Im Gegenzug entwickelt er wenig später, im Irrglauben an Thereses Erbschaft, eine kompensatorische Strategie. Er, der nicht einmal über seine eigenen Bücher verfügen kann, empfindet »Gier nach neuen Büchern« (I, S. 153), ist nur noch fremden Büchern zärtlich zugetan (I, S. 156) und will für rund eine Million die Bibliothek des alten Silzinger erwerben, insgesamt 22.000 Bände. Das ist der Traum von einer Vermehrung, worauf denn auch die plötzlich wiederkehrende Erinnerung an Kiens kapitalistisches Erbe hinweist (I, S. 146). Die Büchermasse soll weiter wachsen, gerade weil sie aus Kiens Perspektive im Augenblick bedrohlich schrumpft; sie soll statt bisher vier bald acht Räume beanspruchen. Wieder will Kien dafür Schranken zerstören. Die Mauer zur Nachbarwohnung soll eingerissen werden (I, S. 147). Der redende Name des Maurermeisters, den Kien damit beauftragen will, entlarvt diesen Wunsch als Illusion; er heißt Putz. Es dauert in der Tat nicht lange, bis Kien aus seiner Wohnung vertrieben wird und, wieder zur Kompensation, auf seine Kopfbibliothek zurückgreifen muss. Dieses Ende hatte sich in der »Hochzeitsnacht« angedeutet. Nach Thereses brutalem Vorgehen gegen die Bücher flieht Kien ausgerechnet in den »einzigen bücherfreien Raum der Wohnung«, das Klosett (I, S. 60). Wie wir wissen, ist Kien auch gegenüber den Büchern zuweilen auf Abstand bedacht, etwa wenn er sich als ihr Machthaber aufspielt. Der Widerstreit der inneren Kräfte Masse und Macht, die, streng getrennt, auf die beiden Bestandteile des Namens verteilt sind, wirkt sich demnach nicht in Kiens Verhältnis zu den Menschen oder zur Wirklichkeit aus, sondern allein in seinem Verhältnis zu den Büchern. Im Zuge seiner sukzessiven Trennung und schließlich seiner Vertreibung aus der Bibliothek, seiner erzwungenen Separation, wird jedoch der Traum von einer »absoluten Einheit mit seinen Büchern«117 zur beherrschenden Idee.118 Man könnte sagen, dass der Nachname, vor allem im Exil der kopflosen Welt, zunehmend Oberhand über den Vornamen gewinnt. Dadurch kommt

|| 117 ZB 57, 8. Oktober 1963. 118 Wie stark die Verbindung zur Bibliotheksheimat ist, zeigt sich auch darin, dass Kien, »[v]on dem Augenblick, da er auf der Straße lag, […] nur noch Interesse für seine Abhandlungen zu Hause [hat].« (I, S. 182f.) Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 47 irrt deshalb, wenn er meint, Kien sei sich seiner Vereinzelung niemals bewusst.

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Kiens Wahnsinn vollends zum Durchbruch. Denn nach Georges werden zahllose Menschen verrückt, »[…] weil die Masse in ihnen besonders stark ist und keine Befriedigung findet.« (I, S. 450) Gerade das ist bei seinem Bruder der Fall. Die Masse, das »jüngste Tier« (I, S. 449), ist und wirkt in ihm, worauf auch die Hunde-Metaphorik verweist, aber der Drang, sich in der Masse zu verlieren, geht ins Leere, seit Kien keine Bücher mehr hat. Der große und schwache Hahn, den Georges in seinem prospektiven Traum erblickt, ein Repräsentant seines Bruders, wird mit der Zeit immer größer und röter (I, S. 458). Im Kabinett des Hausbesorgers ist die dominante Farbe dann rot (Salben, Blut, Wasser), die einzige Farbe, die Kien nun noch gelten lassen will (I, S. 426), und es ist ein »Scharren, wie in Tierkäfigen« zu hören (I, S. 463). Doch erst am Ende, wie Canetti in den Paralipomena schreibt119, in den Flammen der Bibliothek, gelinge es Kien, den Traum von der absoluten Einheit mit den Büchern zu verwirklichen. An gleicher Stelle behauptet Canetti freilich, Kien wolle am Schluss allein sein und erreiche dieses Ziel durch Vernichtung der Bücher. Legt die erste Deutung nahe, dass sich sein Nachname gegen den Vornamen durchgesetzt habe, suggeriert die zweite das Gegenteil. Was aber ist richtig? Die Deutung des Schlusses ist in der Forschung umstritten. Grob lassen sich zwei Positionen unterscheiden. Die einen deuten das Ende negativ, die anderen positiv. Zu den ersteren gehört Detlev Krumme: Die Bücher, so seine These, seien am Ende zu einer feindlichen Masse geworden, da Therese sie in der Zwischenzeit in Beschlag genommen habe; diese feindliche Masse zerstöre Kien in einem Akt der Selbstaufopferung.120 Auch Uwe Sänger versteht das Ende als Katastrophe: Kiens Tod sei der »schärfste Widerspruch« zur christlichen Erlösungshoffnung, eine Bestätigung des Todes und ein Widerruf der göttlichen Schöpfung.121 Zur anderen Gruppe gehören z.B. Dieter Dissinger, der in Kiens Tod eine erlösende Entgrenzung sieht122, oder David Roberts, der die (allerdings negative) Wiedervereinigung von Geist und Körper in Kiens Autodafé hervorhebt.123 Bei Stefan Wiesehöfer ist sogar von einer »Hochzeit im Tode«124 die Rede. Es kann nicht überraschen, dass solch gegensätzliche und zum Teil paradoxe

|| 119 Vgl. ZB 57, 7. Oktober 1963. 120 Vgl. Krumme: Die Bestrafung der Unkeuschheit (wie Anm. 80), S. 151. Nicht überzeugend, gerade in Anbetracht von Canettis eigenen Äußerungen, ist die These Manfred Mosers, dass das Ende der Blendung nur das letzte Glied in einer Kette von Unfällen sei. Vgl. Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 34. 121 Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 52. 122 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 52 und 160. 123 Vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 166. 124 Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 83.

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Deutungen kursieren, noch dazu in zahlreichen Variationen125; denn Canettis eigene (bis dato unbekannten) Anmerkungen erscheinen nicht weniger widersprüchlich. Es wird im Folgenden allerdings deutlich werden, dass eine angemessene Interpretation des Schlusses nur über eine Verbindung jener konträren Positionen möglich ist, die Canetti bereits selbst vertreten hat. Das hat zuletzt auch Folgen für die Namensdeutung. Im Schlusskapitel der Blendung, das angefüllt ist mit verschiedenen Massensymbolen (Bücher, Sterne, Regentropfen, Ratten, Mehlsäcke, Haufen von Zeitungen), empfindet Kien sowohl eine Bedrohung von innen als auch von außen. Die Bedrohung von außen verkörpert sich zunächst in der vermeintlich heranrückenden Polizei, die an der Tür zu klopfen scheint (I, S. 508). Gegen diese äußere Bedrohung versucht Kien, sich zu schützen. Er hat die stählerne Türe verschlossen; er wünscht, die löchrige Mauer des Hausbesorgers, in seiner Imagination offenbar ein Einfallstor für Feinde, sei bereits repariert; er denkt beim Anblick der Mehlsäcke in seiner Vorratskammer an den Schutz vor einem »feindlichen Sturm« (I, S. 504); er hält sich wieder die Ohren zu und versteckt sich hinter seinem gewohnten Panzer, einem Buch (I, S. 508). Und schließlich, als es schon brennt, schichtet er seine Bücher als zusätzliche »mächtige Schanze« an der Türe auf (I, S. 510). Alle diese Maßnahmen und Vorstellungen sind das Ergebnis seiner paranoiden Angst vor einer erneuten und definitiven Trennung von den Büchern. Diese Angst wächst, als Kien auch in seinem Bruder einen Feind zu erkennen glaubt, der sich, als »einzige[r] Erbe«, die Bibliothek anzueignen beabsichtige: »Kien ergreift das Buch auf dem Tisch und droht da-

|| 125 Nach Silke Schmidt-Rinke und Stefan Rinke: »Das Grundübel alles Bestehenden«. Die Todesproblematik in Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Modern Austrian Literature 31 (1998), H. 2, S. 81–103, hier S. 96 symbolisiere das Ende das Versagen und die Schuld aller und könne keinesfalls (wie von Roberts behauptet) als »Überwindung des Todes ... [durch] das Aufgehen in der Masse« interpretiert werden. Für Kirsch: Zwei Blendungen in der Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 60), S. 552 ereignet sich im Brand die Vernichtung des Platonischen Idealismus, den die Bibliothek repräsentiere. Vgl. dazu auch ders: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 140. Nach Gerald Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 147 stirbt Kien als »Opfer des revoltierenden Massetriebs in ihm selbst«. Karl Markus Michel: Der Intellektuelle und die Masse (wie Kapitel B6.1, Anm. 44), S. 315 sieht im Bibliotheksbrand hingegen ein Fanal für Kiens Triumph: Der Festungsgürtel der Bildung gegen die Masse im eigenen Ich sei gesprengt. Peter Russell: The Vision of Man in Elias Canetti's Die Blendung. In: German Life and Letters 28 (1974/75), S. 24–35, hier S. 32 findet es eigenartig, das Ende als Wiedergeburt oder Auferstehung oder Sühne zu deuten. Ein Argument für dieses Gefühl bleibt Russell schuldig. Als Erlösung von der Isolation und zugleich als »an act of Nemesis« deutet das Ende Roman Karst: Elias Canetti's Die Blendung. A Study in Insanity. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), H. 3/4: Special Elias Canetti Issue, S. 133–145, hier S. 141.

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mit seinem Bruder. Der will ihn bestehlen, auf Testamente sind alle aus, jeder rechnet mit dem Tod seines Nächsten. Zum Sterben ist ein Bruder gut genug.« (I, S. 509) Ein Mittel gegen diesen Diebstahl findet Kien, einmal mehr, in der Vergangenheit: »Früher wurde die Habe mit dem Toten verbrannt […].« (I, S. 509) Sein Autodafé ist also Grenzziehung und Vereinigung zugleich. Kien rettet seinen Besitz vor dem Zugriff des Machthabers, der keine Schranken anzuerkennen scheint, indem er die Bücher für immer an sich bindet.126 Und er rettet die Masse, zu der er zurückgekehrt ist und mit der er nun zusammenbleiben möchte, vor einem erneuten Zerfall. Deshalb lässt er sich und die Bücher vom Feuer, als dem Repräsentanten der Masse, widerstandslos ergreifen. Nur im Tod ist also jene absolute Einheit mit den Büchern zu finden, von der Canetti spricht. Sie ist eine Form des ewigen Lebens. In diesem Sinne, als Befreiung von der Last der Individuation und als Verewigung des Massenzustandes, ist Kiens Autodafé eine Erlösung.127 Auf diese Erlösung drängt ihn sein Nachname – als sein Schicksal – hin. Der Kreis zum ersten Namen des Büchermenschen ist geschlossen. Die Bedrohung von innen geht allerdings gerade von den Büchern aus. Die Buchstaben wehren sich gegen die Vereinigung, selbst gegen die Vereinigung zu Wörtern. Kiens Überzeugung, dass in der Bibliothek alles zu ihm hält, erweist sich im Wahn als Trugschluss. Auch die Bücher sind seine Feinde:

|| 126 Vgl. dazu III, S. 91: »Belagerte Städte, die keine Hoffnung auf Entsatz mehr haben, zünden sich oft selber an. Könige mit ihrem Hofstaat, aussichtslos bedrängt, verbrennen sich.« Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 414 interpretiert den Bibliotheksbrand, überzeugend als ein »Begleitopfer«. Er erinnere an die papiernen Grabbeigaben, die man in China einst rituell belebte und bei der Beerdigung verbrannte. Vgl. auch David Turner: Elias Canetti: The Intellectual as King Canute. In: Alan Best und Hans Wolfschütz (Hg.): Modern Austrian Literature and Society after 1945. London: Wolff 1980, S. 79–96, hier S. 81. 127 Ernst Fischer fasst Canettis Position in dieser Zeit so zusammen: »Das Individuum mußte daher entblößt, bis zu dem entblößt werden, was zu verhüllen es trachtete durch seine sich spreizende Eitelkeit, durch die Brutalität des Zertretens, Zermalmens, Zerquetschens, durch wütende, unflätige, die Beute zerfleischende Sexualität, durch die Grimasse des grinsenden, treuherzigen, edelmütigen Menschenfressers, das Individuum als Produzent und Vollzugsorgan des Todes. Das Böse und die Macht als Inkarnation des Todes. Rückkehr in die Masse, das Aufgezehrtsein des Individuums durch die Masse als Rettung vor dem Tod, als Prinzip der Unsterblichkeit.« Zitiert nach: Erinnerungen und Reflexionen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 238.

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Aus der ersten Zeile löst sich ein Stab und schlägt ihm eine um die Ohren. Blei. Das tut weh. Schlag! Schlag! Noch einer. Noch einer. Eine Fußnote tritt ihn mit Füßen. Immer mehr. Er taumelt. Zeilen und ganze Seiten, alles fällt über ihn her. (I, S. 508)128

Kien hat die Ordnungsmacht über den »höllischen Haufen von Elektronen« verloren. Die Buchstaben tanzen wie eine rhythmische Masse129, verhalten sich gegen Kien dann wie eine Hetzmasse und lassen sich nicht einmal mehr entziffern. Die schlimmsten Befürchtungen des paranoiden Machthabers scheinen Wirklichkeit geworden, jene Befürchtungen vor einem Aufstand der Masse seiner Untertanen, »[…] die sich plötzlich mit tausend Augen und Stimmen gegen ihn wenden können. Die Angst vor diesem Anschlag ist in jedem Machthaber lebendig und erklärt die meisten unklugen Akte, die er sich leistet.«130 Auch Kien will sich mit seinem Machtverlust nicht begnügen. »Mit gewaltiger Kraft packt er das Buch und klappt es zu. Da hat er die Buchstaben gefangen, alle, und läßt sie gewiß nicht mehr frei.« (I, S. 508) Nur wenig später droht Kien den Büchern mit dem Feuertod. Von hier aus liest sich das Ende nun ganz anders. Kien trennt sich von seinem Bibliotheksleib, so wie im Kabinett des Hausbesorgers von seinem Finger131, und erschafft einen Haufen ›Tote‹. Nicht von ungefähr stellt er die Leiter in die Mitte des Zimmers, es ist die Position, die am weitesten entfernt von den Büchern ist.132 Dieser Abstand markiert, symbolisch, seine emotionale Distanz. Er will sich, ein paranoider Machthaber, auf jede nur mögliche Weise von der Masse absondern. So erfüllt Kien sich in der Tat (auf unkluge Weise) den von Canetti erwähnten Wunsch, allein zu sein – ein durch seinen Vornamen prädeterminiertes Schicksal. Als bloßer Wächter des Brandes wird er dabei – unter onomastischer Perspektive – zu einem pervertierten Petrus, einem Höllenhund. Kiens Untätigkeit ist allerdings auch eine Form der Rache (I, S. 509). Er will seinen Feinden das Überleben verwehren, der Masse ein letztes Mal seinen Willen aufzwingen. Deshalb spricht er, ein »Machtteufel«, das Todesurteil über sie und lässt sie zusammen mit sich untergehen. Anders als bei Li-Si, der Kiens || 128 Nach der Hochzeit tritt Kien Franz Metzger mit Füßen und demonstriert so seine Macht über den Zugang zur Bibliothek (I, S. 56). Er selbst wird später von Therese getreten (I, S. 162). 129 Vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 154: Die Buchstaben seien der »zur Masse gewordene Bibliotheksleib Kiens«. 130 ZB 34.1 (Aspekte der Macht). 131 Ähnlich auch Paul: Rationalität und Wahnsinn in Canettis Roman Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 156), S. 121f., der die Szene als Trennung von Körper und Geist interpretiert. 132 Das letzte Kapitel ist auch als Umkehrung der Mobilmachung zu lesen, bei der Kien mehrmals von der Leiter fällt – ein Zeichen dafür, dass sich die Bücher seinem Zugriff widersetzen. Nun jedoch ist er auf die sechste Stufe der Leiter geklettert und bleibt dort sitzen.

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Meinung nach zur Strafe für den Büchermord entzwei gesägt wurde (I, S. 95), ist dieser Tod aber zugleich eine Vereinigung. Das Lachen, mit dem der Roman schließt, Zeichen sowohl der Macht als auch des Wahnsinns133, deutet auf die Paradoxie dieses Endes ebenso hin wie die starke und zugleich feurige Tür der Bibliothek (I, S. 509).134 Der Sieg ist eine Niederlage, der Machthaber ein Massemensch; ein Christus, der erlöst und verdammt135, das ewige Leben bringt und zum Tod verurteilt; ein Märtyrer, der für seine Bücher stirbt und sie doch verrät wie Petrus seinen Herrn136. Zwar verschafft der Kampf der antithetischen Kräfte des Namens dem Büchermenschen die Weite einer Doppelfigur aus Mensch und

|| 133 Das Lachen weist auf Kiens Wahnsinn hin, als er sich während des Verhörs an Therese aufrichtet. Obwohl er die Totgeglaubte leibhaftig vor sich sieht, hält er sie für ein Trugbild und versucht, diese irre Annahme empirisch zu beweisen (I, S. 335). In den Briefen an Georges schildert Veza einen Wahnsinnsausbruch Canettis, der mit einem fürchterlichen Lachen beginnt, das Canetti selbst an das irrsinnige Lachen seines Bruders beim Tod der Mutter erinnert. Er selbst bezeichnet seinen Zustand im Nachhinein als Paranoia (Vgl. BG, S. 82 und 95). Für Manfred Durzak: Der Roman des abstrakten Idealismus als satirischer Roman. Elias Canettis Die Blendung. In: Ders.: Gespräche über den Roman mit Joseph Breitbach (wie Kapitel B 6.1, Anm. 25), S. 103–127, hier S. 121 ist Kiens Lachen zugleich das Lachen des Irrsinns wie auch (für Kien selbst) der Freude. Ein Zeichen der Macht ist etwa der ›Lachsturm‹ des Hausbesorgers (I, S. 417) oder das Lachen des Blinden nach seinem Mord an Fischerle aus Befriedigung darüber, dass die Tat niemand im Haus bemerkt hat (I, S. 398). Im Februar des Jahres 1931 fragt sich Canetti, ob das Lachen die Vorbereitung zu einem Frass sei (ZB 2). Zitiert nach Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 438f. Zum Lachen als Machtverzicht äußert sich Canetti in Masse und Macht: Zum Lachen reizt, wie bereits Thomas Hobbes festgestellt hat, das »plötzliche Gefühl der Überlegenheit«, aber erst dann (und darin geht Canetti über Hobbes hinaus), wenn die Folge dieser Überlegenheit ausbleibt, auf die Einverleibung also verzichtet wird (Vgl. III, S. 262). Dass Canetti diesen Gedanken bereits zur Entstehungszeit der Blendung gefasst hatte, zeigt vor allem diese Stelle: »Mitten im Lachen tut man einem Menschen nichts.« (I, S. 301) Vgl. dazu nicht zuletzt auch diese Notiz aus Canettis frühen Manuskripten: »Letzte Wurzel der Komödie: der Frass (Zusammenhänge mit dem Lachen)« (ZB 4, Februar–März 1938) Das Lachen am Ende des Romans ließe sich vor diesem Hintergrund so verstehen: Kien fühlt sich der Masse zwar überlegen (er steigt auf die Leiter), aber er lacht, weil er nun gemeinsam mit ihr untergehen wird. 134 Diese Ambivalenz deutet Canetti selbst in seinem Gespräch mit Rudolf Hartung an: »Ja, es ist allerdings nicht so, daß das Ende Kiens nur ein Urteil ist, es ist sein Urteil, aber gleichzeitig ist es auch die Erfüllung seines Traumes, denn was er während seines ganzen Lebens wollte, war die Einheit mit seinen Büchern.« (X, S. 237) 135 Kien bewundert Michelangelos »Jüngstes Gericht« nicht zuletzt deshalb, weil Christus die Sünder »mit hartem, wuchtigem Arm« verdammt (I, S. 41). 136 Vgl. dazu Kiens anderslautende und doch zugleich prophetische Ankündigung: »Man wird ihn ermorden, doch er verrät die Bücher nicht. […] Er gibt sie nicht her, nie, nie, nie, er ist ein Märtyrer, er stirbt für seine Bücher.« (I, S. 205)

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Tier, aber sie kostet ihn das Leben137. Im September 1931, kurz vor dem Abschluss des Romans, notiert Canetti auf einem seiner Blöcke: »Die Tragik meines Kant beruht letzten Endes auf dem Zusammenfallen seiner Ziele. Masse, Liebe und Macht kreisen bei ihm um einen Punkt: um die Bibliothek. Kein Ziel ist dem vereinigten Ansturm dieser drei Triebe gewachsen.«138

|| 137 Mona Körte hat den Namen insofern zu Recht als »explosives Gemisch an Signifikanten« bezeichnet. Vgl. Von Buchstabenessern und Bücherstürmern. Der uneigentliche Gebrauch der Bücher bei Elias Canetti. In: Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel (wie Einleitung, Anm. 36), S. 109–124, hier S. 119. 138 ZB 3 (Hervorhebung im Original).

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6.3 Georg(es) Kien 6.3.1 Kien In Canettis Die Blendung ist die Beziehung zwischen Geschwistern genauso empfindlich gestört wie die Beziehung zwischen Mann und Frau, Eltern und Kind.1 Die beiden Brüder, die zusammen ein Möbelgeschäft betreiben, können sich zwar gleichermaßen nicht in andere Menschen hineinversetzen und gieren gleichermaßen nach Geld; vor den Kunden jedoch überbieten sie einander nach Kräften – ihre Form des Agons (I, S. 77). Der Bruder des Gorillas wiederum, ein ebenso geldgieriger Bankier, hält den »harmlosen Irren« zu Hause gefangen, aus Angst, er könne seinen Ruf beschädigen und ihm die Geschäfte verderben (I, S. 436). Auch Georges Kien möchte mit seinem Bruder nach Möglichkeit nichts zu tun haben. Wie Peter Morgan erkannt hat2, besteht sein Leben aus einer Reihe von Versuchen, dem übermächtigen Peter zu entkommen. Eine »dunkle, uralte Erinnerung« (I, S. 455) aus Kindertagen, die in die Zeit der gemeinsamen Masernerkrankung zurückreicht, schildert den ersten Versuch. Vom selben Schicksal geschlagen, liegen die Brüder bereits damals in getrennten Zimmern. Trotz dieser Distanz dringt Peters Stöhnen hinüber und versetzt Georg, der auf einer knappen halben Seite dreimal »klein« genannt wird, so sehr in Angst, dass er aus dem Bett fällt, sich ans Knie der Mutter klammert und es ablehnt, seinen Bruder zu sehen. Als die Mutter allein ins andere Zimmer hinübergeht, versteckt er sich unter der Decke (I, S. 455f.). Später, als Erwachsener, lebt Georges weit entfernt von seinem Bruder in der Nähe von Paris, verachtet dessen »lächerlichen Beruf« (I, S. 489), so wie er von ihm für seinen Beruf verachtet wird, und hält den Bibliothekshimmel für eine Hölle.3 Nach der Begegnung mit Therese, die ihm von Peters angeblich ermordeter Frau erzählt, fürchtet er wie der Bruder des Gorillas um seinen Ruf und malt sich einen Skandal aus: »Georg der Bruder eines Lustmörders. Schlagzeilen in allen Zeitungen. Der größte lebende Sinologe! Der beste Kenner Ostasiens! Doppelleben! Rücktritt von der Leitung einer Irrenanstalt. Fehltritt. Scheidung. Assistenten als

|| 1 Soe: Das Prinzip Kien (wie Kapitel B6.2, Anm. 105), S. 79 hält den Brüdergegensatz für ein »leitendes Motiv« der Blendung. Nach Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 194 ist die Familie in Die Blendung der »zerstörerische Ort par excellence«. 2 Vgl. Peter Morgan: Georges Kien and the »Diagnosis of Delusion« in Elias Canetti's Die Blendung. In: Neophilologus 76 (1992), H. 1, S. 77–89, hier S. 87. 3 Das ist ein Zeichen der allgemeinen Sprachverwirrung in Canettis Roman. Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 126; ders: Der Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 134), S. 34

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Nachfolger.« (I, S. 460) Kurz vor der Abreise möchte er seinen Nachnamen sogar wechseln (I, S. 494). Denn dieser Name ist ein Relikt der Vergangenheit, er erinnert ihn an einen Menschen, von dem er sich gelöst zu haben meint. Auch Peter geht im letzten Kapitel auf größtmöglichen Abstand: »Irrtum, das ist kein Bruder, Namensgleichheit, Zufall […].« (I, S. 509) Dennoch sammelt und liest Georges die Abhandlungen seines Bruders. Und dennoch meint er, dass aus der Verschmelzung ihrer je besonderen Eigenschaft ein »geistig vollkommenes Wesen« entstünde (I, S. 478) – eine parodistische, vom Eros abstrahierte Variante des Kugelmenschenmythos, den Aristophanes in Platons Symposion erzählt. Der gemeinsame Nachname erscheint wie ein Vorgriff auf dieses Wesen, eine erste Brücke zwischen Gefühls- und Verstandesgedächtnis. Zugleich verdeutlicht er, dass Georges die Trennung von der Vergangenheit trotz aller Verdrängungsversuche nicht gelungen ist, vielleicht nie gelingen kann. Während er bei den Kranken die Spuren der Erinnerung auszulöschen vermag wie ein »Radiergummi« (I, S. 473), scheint er selbst, eine »perfekte Verkörperung des Gegenwartsaspektes«4, an die Vergangenheit gekettet. Nicht einmal die Assistenten seines Vorgängers kann er entlassen, da sie vertraglich an ihn gebunden sind (I, S. 448). Doch passt der Name Kien auch zu Georges, der ohne Peter und die Bücher zu »einem der umfassendsten Geister seiner Zeit« herangewachsen ist (I, S. 435)? Die Frage ist schon deshalb berechtigt, weil Canetti bei der Wahl des Nachnamens, wenigstens den bisher bekannten Zeugnissen zufolge, niemals an den Bruder des Büchermenschen gedacht zu haben scheint. Zu fragen ist aber auch nach dem Vornamen. Was bedeutet es, dass Georg sich in Georges umbenennt? Bezeugt diese Namensänderung sowohl den Wunsch5 als auch die Unmöglichkeit, mit der Vergangenheit zu brechen? Bezeichnet der veränderte Name vielleicht seinen illusionären Privatmythos? Und ist mit David Darby deshalb »the authentication status« aller Passagen des Romans anzuzweifeln, in denen Georges die französische Form seines Namens trägt?6 Die Beantwortung dieser Leitfragen wird uns helfen, Georges, der von der älteren Forschung zumeist einseitig entweder positiv oder negativ gesehen wurde7, angemessener zu beurteilen. || 4 Hennighaus: Tod und Verwandlung (wie Kapitel B5, Anm. 53), S. 90. 5 So Morgan: Georges Kien (wie Anm. 2), S. 85. 6 Vgl. Darby: Structures of Disintegration (wie Einleitung, Anm. 146), S. 139. 7 Forschungsüberblick bei Morgan: Georges Kien (wie Anm. 2), S. 79f. Zu ergänzen ist Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 80: Knoll attestiert Georges »Mehrdeutigkeit«. Er verändere sich im Laufe des Romans und gleiche immer mehr den anderen Figuren. Für Anthony Stephens: Variationen über zwei Kafka-Erzählungen in Canettis Die Blendung. In: Neumann (Hg.): Canetti als Leser (wie Einleitung, Anm. 128), S. 127–138, hier S. 135 ist Georges

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Es gibt viele verschiedene Hinweise darauf, dass Georges – trotz des gemeinsamen Familiennamens – der Antipode seines Bruders ist.8 Bereits bei seinem ersten Auftritt stehen die Fenster der Irrenanstalt »weit offen« (I, S. 432) – ein Kontrast zu den zugemauerten Fenstern der Bibliothek. Auch als Georges seinen Bruder im Kabinett des Hausbesorgers findet, reißt er als erstes die Fenster auf (I, S. 464). Seine Sucht nach Öffnungen, nach einer Welt ohne Beschränkungen9, könnte nicht größer sein. Das bemerkt auch Peter und hält es ihm vor: »In deinem Kopf sieht es aus wie in einem Kaleidoskop. Formen und Farben schüttelst du nach Belieben zusammen.« (I, S. 471) Diese Sucht macht Georges, den Künstler-Arzt, zu einem Vorläufer des Dichters, so wie er Jahrzehnte später im Kleinen Dialog über die Plastik beschrieben wird. Tatsächlich ist er weit mehr als sein Bruder ein »Hund seiner Zeit«, als Arzt ein »Diener« der Kranken (I, S. 444). Während Peter sich nur um chinesische Schriftzeichen kümmert, ist Georges für

|| als »Meister der Empathie« zugleich Diktator und falscher Messias. William Collins Donahue: »Eigentlich bist du eine Frau. Du bestehst aus Sensationen.« Misogyny as Cultural Critique in Elias Canetti's Die Blendung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), H. 4, S. 668–700, hier S. 698 erkennt eine Übereinstimmung zwischen den beiden Gebrüdern Kien: »the exploitation of the feminine to resolve a male egocrisis«. Yau-Chin: Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben der Brüder Kien (wie Einleitung, Anm. 140), S. 198 fällt hinter den Forschungsstand zurück, wenn er in Georg(es) die »einzige positive Gestalt im Roman« zu erkennen meint. 8 Zu diesem Befund kommt Alo Allkemper: Nirgends Rettung oder die moralische Quadratur des Zirkels. Zur ›Poetologie‹ Elias Canettis. In: Euphorion 84 (1990), H. 3, S. 317–333, hier S. 320. 9 Insofern ist Georges ein Selbstportät Canettis. Vgl. dazu jene Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen, die Canetti nach der Lektüre der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken geschrieben hat. Darin heißt es: »In allem, was ich selbst versucht habe, habe ich mich vor eben diesem Abschluß gehütet; nur Öffnungen, nur Platz, war mein oberster Gedanke, so lange viel Platz bleibt, ist nichts verloren.« (IV, S. 161) Auch Meili: Erinnerung und Vision (wie Kapitel B6.1, Anm. 18), S. 169 interpretiert Georges als alter ego seines Schöpfers. Denn Canetti habe während der Arbeit an seiner »Comédie Humaine an Irren« ein Jahr lang in fremden Wahnsystemen gelebt. Georges Tätigkeit sei deshalb eine »Metapher für die Arbeit des Romanciers«. Auch das Interesse am Tonfall der Menschen teilt Georges mit Canetti (vgl. I, S. 456). In einem Brief an Rudolf Hartung vom 23. Februar 1948 schreibt Canetti, dass er Georges einige seiner Gedanken geliehen habe. Es seien »[…] aber so wenige und unter so vielen anderen, dass es schon darum nicht mehr meine Gedanken sind.« Zitiert nach Hartung: Ein Rezipient und sein Autor (wie Kapitel B3, Anm. 40), S. 22. Der Gegensatz zwischen Peter und Georg lässt sich mit einer Aufzeichnung aus Die Provinz des Menschen sehr gut auf den Punkt bringen: »Zwei Arten von Menschen: die einen interessiert das Positionelle im Leben [...]. Die andere Art will Freiheit, besonders von der Position. Es interessiert sie der Wechsel; der Sprung, bei dem es nicht um Stufen, sondern um Öffnungen geht. Sie können keiner Türe und keinem Fenster widerstehen, aber ihre Richtung ist immer hinaus.« (IV, S. 86)

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Menschen da und lässt sich von seinen Patienten im doppelten (emotionalen und physischen) Sinn berühren (I, S. 450 und 432).10 Während Peter bei seinem Spaziergang mit gesenktem Kopf an Passanten vorüberschreitet, übersieht Georges auf seinen Rundgängen nicht einen einzigen der 800 Irren (I, S. 434). Und während Peter das Mienenspiel für ein Zeichen der Lügenhaftigkeit hält und niemals auf Gesichter achtet, muss Georges ihm ins Gesicht schauen: »›Woran soll ich denn erkennen, ob ich deinem Finger weh tue? Von selbst würdest du den Mund nicht auftun. Dein Gesicht ist zum Glück etwas gesprächiger als dein Mund.‹« (I, S. 470) Von Peters scharf geschnittener Physiognomie unterscheidet sich die »Weichheit« seiner eigenen Züge (I, S. 433) ebenso sehr wie sein ganzer Charakter (im ursprünglichen Wortsinn). Er gleicht einer »spazierende[n] Wachstafel« […], in die Worte und Gesten sich eindrückten« (I, S. 452). Vor allem die Gesichtsmuskeln sind von einer »seltene[n] Beweglichkeit«, das Gegenteil einer Maske (I, S. 434). Diese Beweglichkeit fehlt Peter, der dem Bruder seinen »Wankelmut« mit äußerster Schärfe ankreidet (I, S. 51). Und sie fehlt Georges' Vorgänger, einer Korrespondenzfigur des Sinologen11. Er ist egoistisch, ein Macht-Mensch, der an der »Fertigkeit des Systems« hängt und die offizielle Psychiatrie mit der »Hartnäckigkeit eines Irren« vertritt (I, S. 432). Insofern trägt Georges seinen Nachnamen, gelesen als Hund, mit vielleicht noch größerer Berechtigung als Peter. Seine Inspirationsquelle ist denn auch ein Tier-Mensch: der verrückte Gorilla, der ihn gerade durch seine sprachliche Variabilität fasziniert: »Die Gegenstände hatten […] keine eigentlichen Namen. Je nach der Empfindung, in der sie trieben, hießen sie. Ihr Gesicht wechselte für den Gorilla, der ein wildes, gespanntes, gewitterreiches Leben führte.« (I, S. 441)12 Diese bewegliche Sprache bringt Georges von Romanen ab, in denen, wie er jetzt meint, immer nur dasselbe stehe (I, S. 435f.). Die Suche nach Öffnungen, die »Lust auf Erfahrung anderer von innen her«, wie Canetti 1976 in Der Beruf des Dichters formulieren wird (VI, S. 367), und die Freude an Bewegung sind die Grundlage von Georges' weltweitem Ruhm, der ihn bereits in jungen Jahren zu einem Anwärter auf den Nobelpreis macht. Um die Kranken gesund zu machen, braucht er Risse, »die Möglichkeit, in die fremde Seele zu schlüpfen« (I, S, 434). Denn seine Heilmethode ist die || 10 Mit seiner Offenheit und seiner Achtung für die Patienten steht Georg außerhalb der Welt des Romans. Vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 108. 11 Vgl. Morgan: Georges Kien (wie Anm. 2), S. 83; Donahue: »Eigentlich bist du eine Frau« (wie Anm. 7), S. 693. 12 Vgl. auch I, S. 439: »Für Gegenstände schienen die Bezeichnungen zu wechseln. Das Bild meinte er hundertmal und nannte es jedesmal verschieden; die Namen hingen von der Gebärde ab, mit der er hinwies. Vom ganzen Körper erzeugt und begleitet, tönte kein Laut gleichgültig.«

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Verwandlung. Georges versucht, sich in die Irren einzufühlen, ihren Wahn zu verstehen; er versucht, gleichsam selbst zu jedem von ihnen zu werden und dabei doch ein anderer zu bleiben. Das erfordert, neben Neugier, einen Verzicht auf Macht: ein Leben als Hund. Könige redete er untertänigst als Eure Majestät an; vor Göttern fiel er auf die Knie und faltete die Hände. So ließen sich die erhabensten Herrschaften zu ihm herab und teilten ihm Näheres mit. […] Er beriet sie mit heller Klugheit, als hätte er selbst ihre Wünsche, immer ihr Ziel und ihren Glauben im Auge, vorsichtig verschiebend, Zweifel an seiner Kompetenz äußernd, Männern gegenüber nie autoritär, so bescheiden, daß manche ihm lächelnd Mut zusprachen: schließlich sei er doch ihr Minister, Prophet und Apostel, oder zuweilen sogar der Kammerdiener. (I, S. 434)

Da Georges sich in seiner Anstalt um Hunderte Menschen zu kümmern hat, lebt er »in einer Unzahl von Welten zugleich« (I, S. 435). Das Springen zwischen diesen Welten, jede ein eigenes Universum, ist seine Arbeit, sein Zwang und sein Glück. Mit dem wechselnden Mienenspiel, der äußeren Bewegung, korrespondiert eine innere: ein ständiges Fließen, das Georges vor einer Erstarrung bewahrt. »Da er täglich mindestens drei, trotz seiner Gründlichkeit meist mehr Patienten zu sich lud, hatte er ebenso viele Rollen zu erschöpfen […].« (I, S. 434) So wie Georges selbst Schranken überwindet und jede »Beschränktheit« kritisiert (vgl. I, S. 433 und 490), sollen auch die Schizophrenen in die Lage versetzt werden, ihre separaten Persönlichkeiten zu verbinden. Dazu gibt Georges ihnen den Anstoß: »In seinem eigenen Bewußtsein näherte er die getrennten Teile des Kranken, wie er sie verkörperte, und fügte sie langsam aneinander.« (I, S. 435) Es ist insofern nicht überraschend, dass Georges beim Anblick seines Bruders auf die Idee der Verschmelzung kommt; sie ist der Leitgedanke seiner Theorie und Praxis.13 Und sie gehört zum Inhalt seines Namens, der über den Kienspan auf das Feuer verweist. Bei jedem neuen Patienten überfällt Georges in der Tat eine »[b]rennende Teilnahme« (I, S. 441). Wie jede Verschmelzung hat aber auch seine Heilmethode den Preis, dass die Öffnungen im Menschen reduziert, wenn nicht ganz beseitigt werden. Während Georges innerlich reicher wird, »vereinfacht« er die Kranken wie ein »Seelenschuster«, indem er sie gesund macht (I, S. 435 und 442).

|| 13 Michael Rohrwasser hat in seinem Aufsatz: Elias Canettis literarische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse in seinem Roman Die Blendung. Anmerkungen zum Verhältnis von Literatur und Psychoanalyse. In: Convivium (2000), S. 43–64, hier S. 51 gezeigt, dass diese Idee auf Peter Kiens »Obsession vom entzweigesägten Renegaten Li-Si« verweist.

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Doch die Verwandlung ist mehr als eine Heilmethode. Im Gegensatz zu seinem erstarrten und weltabgewandten Bruder ist Georges ein »Verwandlungstier«, und zwar in dreifacher Hinsicht. Zum einen hat er sich in einer Welt der »lineare[n] Beschränkung«, wie Canetti die eigene Epoche später nennen wird (VI, S. 366), nicht so folgerichtig entwickelt wie sein Bruder, sondern ist von der Gynäkologie zur Psychiatrie übergesprungen. Zum anderen lebt er mittlerweile in Frankreich, was zu einer Änderung seines Vornamens von Georg zu Georges geführt hat – seine erste, wenn auch allenfalls oberflächliche Verwandlung14. Drittens endlich sind Verwandlungen das »Substrat seiner geistigen und seelischen Existenz«. Mit anderen Worten: Georges braucht die Irren, an denen er sich verwandelt, ebenso sehr wie Peter die Bücher (I, S. 478 und 480): »Sein Geist hungerte nach den Verwandlungen des Augenblicks.« (I, S. 443) Dieser Hunger erinnert an die »unersättliche Gier«, die Canetti wenige Jahre später vom repräsentativen Dichter einfordern wird (VI, S. 106). Er ist Georges' »[…] ganz konkrete[s] und eigentümliche[s] Laster«, das ihn »so unmittelbar mit seiner Umwelt [verbindet] wie die Schnauze den Hund mit seinem Revier.« (VI, S. 102) Gleich dem »Lufthunger« Hermann Brochs drückt sich auch Georges' Hunger »[…] im Gestaltlichen und Physiognomischen deutlich aus.« (VI, S. 108 und 102) Die Leidenschaft für die »Verwandlungen des Augenblicks« geht so weit, dass »[…] [a]lles, was Georg tat, […] in fremden Menschen [spielt].« (I, S. 449) Sowohl das Verb als auch das mit Georges mehrmals verbundene Substantiv »Rolle« offenbaren, dass er zu einem Schauspieler geworden ist.15 Auch das unterscheidet ihn von seinem Bruder. Während Georges in anderen Menschen zu Hause ist, ist Peter ganz bei sich und den Büchern. »Er [Peter – A.S.] war das Gegenteil eines Schauspielers, immer er selbst, nur er selbst. Statt sich in die anderen zu verteilen, maß er sie, wie er sie von außen sah, an sich, den er auch nur von außen und vom Kopf her kannte.« (I, S. 454) Als Schauspieler gleicht Georg aber wiederum dem Dichter: »Der Schauspieler als der Mann einer raschen, der Dichter als der einer langsamen Einfühlung.«16 Georges' rasche Einfühlung in viele Patienten macht ihn zu einem Menschen, der sich der Universalität annähert. Gerade vom Dichter aber fordert Canetti in seiner Rede für Hermann Broch einen »Drang zur Universalität, der sich durch keine Einzelauf-

|| 14 Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 15. 15 Georges erinnert sich, dass er bereits als Kind am liebsten Tag und Nacht Theater gespielt und – eine Persiflage von Freuds Ödipuskomplex – die Mutter geküsst hätte (I, S. 468). 16 ZB 3, Januar 1931. Vgl. dazu auch I, S. 42: Für Peter sind Romane »[…] Keile, die ein schreibender Schauspieler in die geschlossene Person seiner Leser treibt.«

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gabe abschrecken läßt, von nichts absieht, nichts vergißt, nichts ausläßt, es sich in gar nichts leicht macht.« (VI, S. 103) Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass Canetti in Gestalt der Gebrüder Kien nichts anderes darzustellen beabsichtigt als die Antinomie von Verwandlung und Spezialisierung, Vergangenheit und Gegenwart. Der gemeinsame Nachname, auch die Idee der Verschmelzung, machen indes deutlich, dass diese Pole zusammen gehören. Denn Georges mangelt es nicht nur an der Gelehrsamkeit seines Bruders, sondern auch an Beharrlichkeit17, Ich-Identität18 und vor allem an dem unbedingten Willen, gegen die eigene Zeit zu stehen. Peter hingegen mangelt es an Achtung vor der Gegenwart, an Menschenfreundschaft, Demut und Verwandlungsfähigkeit. Nur die je fehlenden Eigenschaften können die Tendenz zum Extremen mildern, die der Charakter und der Schauspieler besitzen: die Tendenz, sich abzuschotten oder zu verlieren, allzu einfach oder allzu reich zu sein, die Heimat oder die Heimatlosigkeit zu überschätzen. So repräsentieren die beiden Brüder bereits jene zu versöhnende Polarität19, die Canetti in der Broch-Rede beschreiben und später auf den Dichter und den Plastiker (Peter: Stein) bzw. den Chaotiker und den Destillierer verteilen wird. Während Peter »etwas Strenges und Reines« wie der Destillierer hat, einen asketischen Charakter, ist Georges beweglich und rasch, von ungeheurem Appetit wie der Chaotiker, »das lebende Inventar der Welt« (X, S. 76f.).20 Da Canetti beides zugleich ist: Dichter und Plastiker, Chaotiker und Destillierer, klingt im Namen Kien – wie Dieter Dissinger noch ohne

|| 17 Vgl. dazu auch Peters Kritik: »Wenn mich ein Gedanke beunruhigt, läßt er mich Wochen nicht los. Du beeilst dich, gleich einen anderen zu haben.« (I, S. 479) 18 Bachmann: Wahn und Wirklichkeit (wie Kapitel B6.1, Anm. 5), S. 173 bezeichnet Georges mit einem Wort Gaetano Benedettis als »Leih-Existenz«. 19 Vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 147: Georges als Kiens »Komplementärfigur«. Bereits Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 119 und ders.: Der Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 134), S. 37 war der Meinung, dass die Brüder zwei Extreme vertreten, die nur zusammen den Dichter ermöglichen. Indem Die Blendung die Idee einer Verschmelzung dieser Extreme aufwerfe, werde sie zu einem Künstlerroman. Als Künstlerroman versteht Die Blendung auch Rainer Goldnau: Pathopsychologie in der Belletristik am Beispiel Die Blendung von Elias Canetti. Aachen: Shaker 1996 (Sprache & Kultur) [zugl. Leipzig, Univ.-Diss. 1991], S. 59, freilich mit wenig überzeugenden Argumenten. 20 Vgl. dazu auch im selben Text: »Die Destillierer haben es mit dem Menschen schwer und lassen ihn gern verschwinden. Wenn ihnen das nicht gelingt, verdünnen sie ihn zu Zeichen. Der Chaotiker ist außerstande, vom Menschen abzusehen. Wo anders als am Menschen sollte er sein Chaos nähren.« (X, S. 78)

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nähere Begründung vermutete – tatsächlich »auf versteckte Weise« der Name Canetti an.21 In einer Notiz hat Canetti Ende Dezember 1930 den Vorgang der Einfühlung mit einem Trieb verknüpft, der (damals) sowohl für ihn als auch für seine Figur Georges von eminenter Bedeutung ist22. In der Technik des Mitleids findet sich der letzte Rest von Einfühlung, dessen wir alle gleichmässig fähig sind. Die psychologische Urwurzel des Mitleids, dessen immer lebendige, sich in jedem, durch das bloße Faktum des Daseins, erneuernde Kraftquelle sehe ich im Massentrieb. Ein Schauspieler (also auch ein Dichter) hat im Ausüben des Mitleids von vornherein also [?] grösste Leichtigkeit.23

Im Zuge seiner ›Arbeit an den Irren‹ hat Georges eine Massentheorie entwickelt, in der Canetti seinen zentralen Gedanken aus dieser Zeit verarbeitet und weiterdenkt. Denn auch Georges glaubt an die Existenz eines Massentriebs, an den »Drang der Menschen, in eine höhere Tiergattung, die Masse, aufzugehen und sich darin so vollkommen zu verlieren, als hätte es nie einen Menschen gegeben« (I, S. 449). Die Masse ist für Georges die alles bestimmende Bewegungsenergie: sowohl eine Kraft im Individuum als auch die »tiefere[] und eigentlichste[] Triebkraft der Geschichte«. Wie er aber festgestellt zu haben meint, widersetzen sich die meisten Menschen dieser Triebkraft, indem sie sich durch den »Festungsgürtel« der Bildung vor dem »ungeheure[n], wilde[n], saftstrotzende[n] und heiße[n] Tier« schützen; sie kämpfen (wie das Skelett Peter) für die »Ertötung« der Masse in sich selbst. Dem setzt Georges eine revolutionäre Parole entgegen: »Seien wir Tiere! Wer Wurzeln hat, reiße sie aus!« (I, S. 457) Sein Ausruf zeigt nochmals, wie sehr er sich von seinem fest verwurzelten Bruder unterscheidet, gegen den seine ganze Massentheorie in ihrem Kern wohl gerichtet ist24. Dieser Theorie nach kann die Masse freilich in jedem Menschen, gerade im Gebildetsten, so dominant werden, »[…] daß sie den einzelnen zu selbstlosen oder gar gegen sein Interesse laufenden Handlungen zwingt.« (I, S. 449) »Zahllose Menschen werden verrückt, weil die Masse in ihnen besonders stark ist und keine Befriedigung findet.« (I, S. 450) Georges beschreibt hier mit

|| 21 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 37. 22 Nach Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 85 wird Georges hier zum »Mundstück« Canettis. 23 ZB 2. 24 Vgl. Morgan: Peter Kien (wie Anm. 2), S. 82.

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erstaunlicher Präzision (ohne es zu ahnen) die Krankheit seines Bruders.25 Nimmt man die zitierte Notiz hinzu, dann lassen sich Peters »barmherzige Werke« auf seinen Massentrieb zurückführen, der nach dem Verlust der Bücher ins Leere geht. Zugleich wirft Georges' Theorie neues Licht auf seinen Nachnamen. Dessen Inhalt bilden nicht von ungefähr zugleich das Feuer und ein Tier. Denn Georges ist besessen von der Überwindung aller Schranken, die in der Masse möglich ist. Selbst von den Frauen, die sich als »gierige, geschlossene Mauer« um ihn gestellt hatten, und den französischen Romanen, die ihm die Rolle des Verführers nahegebracht hatten, will er nichts mehr wissen (I, S. 436). Durch permanente Verwandlung hofft er, sich dem Zustand anzunähern, in dem es »[…] kein Ich, Du, Er mehr gibt, sondern nur noch sie, die Masse.« (I, S. 450) Auch die Verschmelzung zu einem geistig vollkommenen Wesen würde die Schranke zwischen Ich und Du beseitigen, die wenigstens im Nachnamen bereits überwunden ist.

6.3.2 Epigone des Gorillas In seiner Münchner Rede sagt Canetti über den Dichter: »[…] [E]r sammelt Menschen nicht, er legt sie nicht ordentlich beiseite, er begegnet ihnen nur und nimmt sie lebend auf, – da er von ihnen heftige Stöße erfährt, ist es sehr wohl möglich, daß die plötzliche Hinwendung zu einem neuem Wissenszweig auch von solchen Begegnungen bestimmt ist.« (VI, S. 368) Georges' Wechsel zur Psychiatrie beruht auf einer derartigen Begegnung. Bei einem Hausbesuch lernt er den Gorilla kennen, den Schwager einer lüsternen Patientin, eine »Transformation von Rousseaus Naturmensch«26, den der eigene Bruder in eine separate Wohnung verbannt hat. Georges, der aus der Welt der vergesellschafteten Men-

|| 25 Vgl. dazu auch Peters eigene Aussage, in der der Trieb zur Masse allerdings durch den eigenen Willen ersetzt wird: »Aus eigenem Willen allein […] habe ich mich von einem Druck, einer Last, einem Tod, einer Rinde von verfluchtem Granit befreit.« (I, S. 479) 26 Vgl. Kirsch: Canetti und Rousseau (wie Kapitel B6.1, Anm. 186), S. 3. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 248 weist nach, dass Rousseaus zweiter Discours »einer der zentralen Hypotexte« der Blendung ist, indem er zahlreiche Bezüge aufdeckt. Allerdings befindet sich der Gorilla nicht mehr im »reinen Naturzustand«, da er bereits das Bedürfnis nach Sprache verspürt. Vgl. dazu Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und hg. von Philipp Rippel. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2010 (RUB; 1770), S. 52.

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schen kommt27, ist von Verhalten und Sprache dieses homme sauvage sofort fasziniert: Er [der Gorilla – A.S.] bevölkerte zwei Zimmer mit einer ganzen Welt. Er schuf, was er brauchte, und fand sich nach seinen sechs Tagen am siebenten darin zurecht. Statt zu ruhen, schenkte er der Schöpfung eine Sprache. Was um ihn war, entstammte ihm. (I, S. 441)28

Die Bezüge zur biblischen Schöpfungserzählung, zu denen als Reminiszenz an Adam und Eva auch das Bild mit der Vereinigung der beiden affenartigen Menschen gehört, führen zum namenstheoretischen Kern dieser kurzen und doch sehr bedeutsamen Episode. Der Gorilla erscheint Georges wie Schöpfergott und Dichter in Personalunion.29 Selbst im Liegen, auf dem mit Erde bedeckten Boden (ein Hinweis auf die Erschaffung des Menschen), übt er sich in seiner »schöpferischen Tätigkeit« und erfindet ein »mythisches Liebesabenteuer« (I, S. 439).30 Diese Vertauschung der Rollen von Gott, Mensch und Tier, von Schöpfer und Nachahmer, hat eine enorme Tragweite für Georges' Entwicklung und nicht zuletzt für die Deutung seines Namens. Der Gorilla, als Affe scheinbar auf

|| 27 Der vergesellschaftete Mensch ist furchtsam und kriecherisch und durch seine »verweichlichte und weibische Lebensweise« geschwächt (Ebd., S. 42). Obwohl Georges in Paris lebt, steht er dem Naturmenschen dennoch insofern nahe, als er groß, stark und sicher ist. In seinen Zügen liegt freilich »[…] etwas von jener Weichheit, die Frauen benötigen, um sich bei einem Manne heimisch zu fühlen.« (I, S. 433) Seinem Bruder Peter erscheint er sogar als Frau. (I, S. 479). 28 Rousseau hat die Entstehung der Sprache in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 54f. ausführlich beschrieben: »Jeder Gegenstand erhielt zunächst einen eigenen Namen, ohne Rücksicht auf Gattungen und Arten, welche diese ersten Sprachstifter nicht imstande waren zu unterscheiden; und alle Einzeldinge stellten sich ihrem Geist gesondert dar, wie sie es im Gemälde der Natur sind. Wenn eine Eiche A genannt wurde, dann wurde eine andere B genannt, denn die erste Vorstellung, die man von zwei Dingen erhält, ist, daß sie nicht dasselbe sind; und es ist oft viel Zeit erforderlich, um wahrzunehmen, was sie gemeinsam haben, so daß der Wortschatz umso ausgedehnter wurde, je eingeschränkter die Kenntnisse waren.« Auch die Namen-Sprache des Gorillas ist ausgedehnt und ständig in Bewegung. Diese Übereinstimmung erkannte bereits Kirsch: Canetti und Rousseau (wie Kapitel B6.1, Anm. 186), S. 9; ders.: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 248. 29 Als Schöpfergott, als »Gott der permanenten Verwandlung«, interpretiert den Gorilla auch Kirsch: Canetti und Rousseau (wie Kapitel B6.1, Anm. 186), S. 9 bzw. ders: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 109. 30 Zum Zusammenhang zwischen Irren und Dichter vgl. auch Georges' Bemerkung über die Insassen seiner Anstalt: »Er kannte sprühende Satiriker unter ihnen, begabter als alle Dichter; ihre Einfälle wurden nie zu Papier, sie kamen aus einem Herzen, das außerhalb der Dinge schlug, und fielen über sie her wie fremde Eroberer.« (I, S. 435) Der Gorilla wird von seinem Bruder als »Künstler und Sonderling« vor der Welt verborgen (I, S. 437).

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Imitation und als verkleideter Mensch auf Verstellung beschränkt, erweist sich als der erste jener »vielen Herrgötter« (I, S. 452), die sich in ihrem Wahn eine eigene Welt erschaffen. In dieser Welt fühlt Georges, der Mensch, sich minderwertig, wie ein Tier, eine »Wanze« (I, S. 439).31 Und mehr noch: Aus diesem Gefühl der Minderwertigkeit heraus beginnt er, der scheinbar höher Entwickelte, Zivilisierte, den wilden Gorilla-Menschen zu imitieren wie ein Affe.32 Seine Entschlossenheit aber und sein Bedürfnis nach Tiefe bringen ihn über diesen »allererste[n] Ansatz zur Verwandlung« (III, S. 438) hinaus. Mit »unermüdlicher Mühe« erlernt er die Sprache des Gorillas.33 Ganz anders als sein Bruder in der ersten Szene des Romans verhält er sich dabei demütig, um nicht zu sagen: hündisch, »[…] wie ein Kind, dem man mit den Worten auch die Beziehungen der Dinge zueinander nahebringt.« (I, S. 440) Das ist eine Abwandlung sprachmagischer Vorstellungen, die sich an die adamitische Namengebung knüpfen.34 Danach hat die menschliche Ur-Sprache vor der Babylonischen Verwirrung Anteil am Wort Gottes, der die Dinge durch sein Wort erschaffen hat. Im Unterschied zu Canettis Roman besteht zwischen dem Wort und der Sprache dieser Vorstellung zufolge allerdings ein gravierender Unterschied. Das schaffende Wort Gottes in den Dingen sei, so Walter Benjamin, der »Keim des erkennenden Namens«, mit dem Adam die Dinge benenne.35 Der erste Mensch sei »Erkennen-

|| 31 Vgl. Durzak: Versuch über Elias Canetti (wie Kapitel A4, Anm. 26), S. 172f. 32 Vgl. dazu III, S. 437f.: »Wenn es um Laute geht, bedeutet Nachahmung nicht mehr, als daß man genau dieselben Laute reproduziert.« 33 Henninghaus: Tod und Verwandlung (wie Kapitel B5, Anm. 53), S. 96 irrt, wenn er Georges nur der Imitation für fähig hält. Denn Canetti glaubte, gerade die »Leichtigkeit der Imitation« verhindere ihre »Vertiefung« (III, S. 438). Die Mühe, mit der Georges sich dem Studium des Gorillas widmet, ist von dieser Leichtigkeit ebenso weit entfernt wie seine Kritik an der eigenen Oberflächlichkeit, die ihn dazu bringt, mit der Therapie immer wieder von neuem zu beginnen (I, S. 435). Nach Rousseau haben die frühen Menschen die Tiere nachgeahmt und sich so angeeignet. Kraft der Vielfalt ihrer Nachahmungen hätten sie den Nachteil ihrer körperlichen Konstitution mehr als ausgeglichen. Vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 36. Auch Canetti geht davon aus, dass der Mensch die Tiere nachgeahmt habe. Vgl. ZB 14, 3. Juni 1960: »Die Menschen sind in den wichtigsten Dingen Schüler der Tiere geworden: der Spinne im Weben und Stopfen, der Schwalbe im Hausbau und der Singvögel, des Schwans und der Nachtigall im Gesang und zwar auf dem Wege der Nachahmung.« 34 Die Sprache des Gorillas versteht auch Kirsch: Canetti und Rousseau (wie Kapitel B6.1, Anm. 186), S. 10 als adamitische Ursprache. Etwas zu hoch gegriffen ist es, wenn Hidas: Namen geben (wie Kapitel A1, Anm. 34), S. 95 das Kapitel »Ein Irrenhaus« als eine »Sprachphilosophie innerhalb des dichterischen Werkes« bezeichnet. 35 Vgl. Benjamin: Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (wie Kapitel A7, Anm. 22), S. 151.

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de[r] derselben Sprache, in der Gott Schöpfer« sei, die Sprache selbst sei ein »Reflex des Wortes im Namen«.36 Dies bedeutet: Die adamitische Namengebung ist zwar »vollkommen erkennend«, aber nicht selbst »schaffend«, sondern nur »nach-schaffend«.37 Es ist nun zu begreifen, warum Georges der »Adam des Michelangelo« genannt wird (I, S. 433). Er ist der Nachschaffende, ein Empfänger des Geistes wie Adam auf dem Deckenfresko der Sixtina. Es ist deshalb bezeichnend, dass Georges sich beim ersten Zusammentreffen »tief und andächtig« vor dem Gorilla verbeugt, mit einem Gesicht, das »größte Hochachtung« ausdrückt (I, S. 439). Als Epigone des Gorillas fehlt Georges allerdings die wesentliche Eigenschaft des Schöpfers, auch des geistig vollkommenen Wesens oder des Dichters: die Originalität.38 Er lernt von den Irren – mehr, als er ihnen zu geben vermag (I, S. 435; vgl. auch S. 441). Seine Neuerungen in der klinischen Psychiatrie, seine Erkenntnisse und Pläne speisen sich aus einer fremden Quelle: »Heftig umstrit|| 36 Vgl. ebd., S. 149. 37 Vgl. Andreas Böhn: Vollendete Mimesis: Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis. Berlin, New York: de Gruyter 1992 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N.F., 101=225) [zugl. Mannheim, Univ.-Diss. 1991], S. 119. 38 Peter wird seinem Bruder später mangelnde Originalität vorwerfen: »Ich hab' noch keinen eigenen Gedanken von dir gehört, du Schwätzer, du glaubst, du weißt alles!« (I, S. 488) Vgl. dazu auch VI, S. 103: »Ein Dichter ist originell, oder er ist gar keiner.« Es ist unzutreffend, dass Canetti – wie Elfriede Pöder: Spurensicherung. Otto Weininger in der Blendung. In: Aspetsberger und Stieg (Hg.): Blendung als Lebensform (wie Einleitung, Anm. 140), S. 57–72, hier S. 71 behauptet – in der Figur Georges die Originalitätskriterien Otto Weiningers übertreibt, der einen Menschen für umso genialer hielt, je mehr Menschen er in sich vereinige. Mit Weiningers Thesen hat der Roman wenig zu tun, wenngleich das immer wieder behauptet worden ist, etwa von Claudia Liebrand: Jahrhundertproblem im Jahrhundertroman. Die ›Frauenfrage‹ in Canettis Roman Die Blendung. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 14 (2001), S. 27–48, bes. S. 34–36 und 44; Widdig: Männerbünde und Massen (wie Kapitel B6.2, Anm. 41), S. 197–204 (ohne Argumente); Johannes G. Pankau: Körper und Geist. Das Geschlechterverhältnis in Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Colloquia Germanica 23 (1990), H. 2, S. 146–170 und ders: Images of Male and Female in Canetti's Fictional, Autobiographical, and Theoretical Work. In: Lorenz (Hg.) A companion to the Works of Elias Canetti (wie Kapitel B6.2, Anm. 4), S. 217–238, hier S. 222. Vgl. dagegen Stieg: Erinnerungen an Elias Canetti (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 27. Canetti habe Stieg zornig erklärt, dass er für die Misogynie der Blendung keinen Weininger gebraucht habe. Dafür hätten die alten Griechen und Schopenhauer ausgereicht. Obwohl auch Kristie A. Foell: Blind Reflections: Gender in Elias Canetti's Die Blendung. Riverside, CA: Ariadne 1994 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought), S. 72–100 zahlreiche Parallelen zwischen Canettis Roman und Weiningers Geschlecht und Charakter sieht, stellt sie im Zusammenhang mit einem misogynen Schopenhauer-Zitat fest: »Therese not only conforms to Schopenhauer's description, she exceeds it.« (Ebd., S. 77)

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tene Probleme der Wissenschaft löste ein Gorilla.« (I, S. 441) In Abwandlung einer Aufzeichnung vom 1. September 1942 ließe sich sagen: Es sind nicht die eigenen Brunnen, aus denen Georges schöpft.39 Unter diesem Vorbehalt stehen alle seine Innovationen. Er ist ein Schöpfer zweiter Ordnung, Auch das Leben, das er sich vorstellt, deckt sich mit dem Leben des Gorillas. Wie er möchte Georges eine eigene Welt erschaffen, den »Nächsten« bestimmen, verändern und gestalten (I, S. 440). Und wie er möchte er zu einer wahrhaftigen Existenz durchbrechen jenseits des Theaterspiels, das die Schwägerin des Gorillas mit ihm veranstaltet (vgl. I, S. 437). Georges tritt hier gleichsam in die Fußstapfen Rousseaus40: Bei der Beschäftigung mit dem wilden Menschen, der nicht lügt noch täuscht, erkennt auch er den Widerspruch zwischen Gefühl und Vernunft, Sein und Schein.41 Der Naturzustand des Menschen, die Einheit von Sein und Schein, erscheint ihm wesentlich erstrebenswerter als die Vorspiegelung dieser Einheit in seiner Welt, der Zivilisation. Seine »Heimatlosigkeit« entspricht der »Wohnungslosigkeit« der Menschen im Naturzustand.42 Der Durchbruch vom Schein zum Sein soll Georges in jene Tiefe führen, aus der die Sprache des Gorillas stammt: »[…] tausend Klafter[] tiefer […], als er je hinabzusteigen gewagt hatte.« (I, S. 439) Kein Wunder, dass er die Irren wegen der »Herrlichkeiten« in ihren Köpfen achtet, insbesondere die »genialen Paranoiker« (I, S. 442 und 444). Sie besitzen eben jene Schöpferkraft, die er für sich selbst ersehnt und die ein einziges Ziel hat: die Überwindung der (von seinem Bruder zementierten) Trennung zwischen Subjekt und Objekt, »blitzartige Nähen zu Dingen und Menschen« (I, S. 444). Auch hinter der Bewunderung für die Irren steht also die Idee der Verschmelzung, auf die der Name implizit verweist. Georges, der neue Adam, möchte die »Spaltung« der Menschen rückgängig machen, die nach dem Zeugnis der Bibel mit der Erschaffung Evas aus Adams Rippe einst begonnen haben soll (vgl. I, S. 486). Dazu muss er dem Gorilla nacheifern und zum Schöpfer einer Welt werden, die derjenigen des Gorillas gleicht. Der Name, bezogen jetzt auf das chinesische Kiän, hat dementsprechend zwei Seiten. Er bezeichnet als Paradoxon den Mangel an originärer Schöpferkraft und als Ausweis einer fixen Idee das Verlangen nach dieser Kraft.

|| 39 Vgl. ZB 6: »›Der schöpferische Mensch‹ – auch das ist zur Phrase geworden: es sind nie die eigenen Brunnen, aus denen er schöpft.« 40 Sein erweiterter Name erinnert an Rousseaus Vornamen Jacques (gleiche Endung und gleiche Buchstabenanzahl). 41 Zur Unterscheidung zwischen Sein und Schein vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 88. 42 Vgl. ebd., S. 42.

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6.3.3 Georg(es) Der Name Georg(es) lässt sich auf den ersten Blick leichter erklären als der Vorname des Büchermenschen. Canetti hat ihn sich von seinem Bruder geliehen, den er für den Beruf des Irrenarztes begeistern wollte.43 Als Vorbild ist Georges eine positive Figur. Doch mit dem Vorbild ist zugleich eine Warnung vor den Gefahren dieses Berufes verbunden. Denn der Name hat auch eine symbolische Bedeutung. Als Landmann oder als »einer, der die Erde baute« (so die Etymologie der Legenda Aurea) ist Georges dem Element zugeordnet, aus dem Gott den ersten Menschen schuf und dessen Erzeugnisse den »Wilden« nach Rousseau »alle notwendigen Hilfsmittel« lieferten.44 Der Vorname weist somit auf Georges fixe Idee hin, aus der Zivilisation (Paris) in den Naturzustand zurückzukehren, in dem die Irren sich bereits befinden, da sie von den Menschen abgeschlossen leben.45 Auch fehlt ihnen die (nach Rousseau) verderbliche Reflexionsfähigkeit.46 Während Georges sich seinen aus der Zivilisation verbannten Patienten zugehörig fühlt (I, S. 435), ohne selbst verrückt zu sein, verabscheut er die An-

|| 43 Vgl. ZB 60, 11. Juni 1981 (Kurzschrift, Hervorhebungen im Original): »Ihre (Vezas – A.S.] zwiespältige Haltung zur Figur des Georges Kien. Sie liebte meinen jungen Bruder, ich hatte sie mit meiner Liebe für ihn angesteckt. Sie wusste auch, dass die Figur ihm zu Ehren erfunden war: Er sollte Arzt werden, ich wollte ihm den Beruf eines Irrenarztes schmackhaft machen und erfand für ihn eine neue Auffassung und neue Theorien dieses Berufes.« Auch Canettis Bruder ändert seinen Namen von Georg zu Georges. An dessen Todestag notiert Canetti: »Georg tot – nun ist die ›Blendung‹ zerstörbar. Es ist ein anderes Buch, seit sein Name darin nicht mehr als der eines Lebenden besteht. Überall wo sein Name stand, war es jetzt wie ein schreckliches Loch. Aber die Vorstellung, dass er das Kind ist, nicht mehr ein Arzt, nicht mehr geschlagen, dass er – vielleicht gar als Mädchen – ein ganz neues Leben beginnt, hat etwas Tröstliches. Mein einziger Zauber sind Namen, und sie müssen hier genannt werden.« Zitiert nach ZB 17, 1. März 1972 (Hervorhebungen im Original). 44 Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 74. 45 Georges gleicht in vielem Rousseau selbst. Er ist ein Gefühlsmensch und verachtet die Intellektuellen, vor allem seinen Bruder Peter. Sein Vorname erinnert an Rousseaus Leidenschaft für die Natur. Vgl. dazu eine Stelle aus der Korrespondenz Rousseaus: »Ich fühlte mich für das Land und die Zurückgezogenheit geboren, es war mir unmöglich, anderswo glücklich zu sein.« Zitiert nach Georg Holmsten: Jean-Jacques Rousseau in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1972 (rowohlts monographien), S. 82 (Zitat im Original kursiv). 46 Nach Rousseau kehrt der geistesschwache Mensch zu »seinem anfänglichen Zustand« zurück. Vgl. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 45. Vgl. dazu Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 244.

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deren: die ›normalen‹ Menschen, vor allem seine Assistenten. Auch mit der vergesellschafteten Schein-Welt, seiner früheren Heimat, will er nichts zu tun haben und meidet sie. So erweist sich die Absonderung als zweite Grundkraft seiner Existenz. Da nun die Verschmelzung aber zum Inhalt des Nachnamens gehört, ist anzunehmen, dass die Absonderung zum Inhalt des Vornamens gehört. Georges ist in der Tat mehr als ein Verwandlungskünstler und Massenmensch. Sein inständiges Verlangen nach Schöpferkraft ist, genau betrachtet, das Verlangen nach Macht.47 Er bewundert die »Großartigkeit der Irren« und mag den Gorilla nicht weinen sehen (I, S. 441 und 439). Der Mensch des Naturzustandes ist für ihn nicht schwach und verletzlich, sondern stark und mächtig. Das aber ist – wie später bei den anderen Irren – eine Vereinfachung und darüber hinaus ein Missverständnis. Denn nach dem Urteil Rousseaus ist der »wilde Mensch« sanft und mitleidsfähig, ohne jeden Sinn für »Macht« und »Ansehen«.48 Er kann gar nicht begreifen, »[…] was Knechtschaft und was Herrschaft eigentlich ist.«49 Indem Georges den Gorilla ausschließlich als Machthaber wahrnimmt, erweist auch er sich als Geblendeter. Bereits bei seiner ersten Begegnung mit dem Gorilla ist Georges besonders davon fasziniert, dass der Gorilla ein »gewöhnliches Weib« wie die Sekretärin durch seinen »mächtigen Willen« zu einem stärkeren, erregteren, hingebenderen Wesen gemacht hat. Selbst die einfachsten Gegenstände scheinen die »Spuren seiner Wirkung« zu tragen (I, S. 441). Anfangs weniger als ein Schatten des Gorillas wächst Georges, von seinem Verlangen getrieben, mit der Zeit zu einem »ebenbürtigen Freund« heran (I, S. 441). Da er sich der Sprache des Gorillas »bemächtigt« (I, S. 441), überflügelt er ihn aber bald, wird mächtiger als er. Durch den Verzicht auf Heilung unterwirft er ihn endgültig dem eigenen Willen. || 47 Vgl. dazu auch Soe: Das Prinzip Kien (wie Kapitel B6.2, Anm. 105), S. 86, die die Figur des Georges biografisch deutet: Wie er habe auch Canetti während seiner Arbeit an der »Comédie Humaine an Irren« in fremden Wahnsystemen gelebt. »In Georg Kiens Figur begegnet Canetti seiner eigenen Zukunft als Dichter, der ständig in der Gefahr ist, den Verlockungen der Macht zu verfallen.« 48 Vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 82, 63 und 112. Vgl. dazu auch ders: Du contrat social ou Principes du droit politique/Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch und Deutsch. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker übersetzt und hg. von Hans Brockard. Stuttgart: Reclam 2010 (RUB; 18682), S. 19: »Da kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und da Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder rechtmäßigen Herrschaft unter Menschen.« 49 Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 70.

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Auch die Irren in seiner Anstalt hält Georges für alles andere als schwach: »[…] wahre Charaktere, von einer Geradheit und Macht des Willens, um die sie Napoleon beneidet hätte.« (I, S. 435) Sowohl die Wortwahl als auch der Vergleich zeigen erneut, dass Georges an den Irren bewundert, was er gerne selber besäße: Geradheit und Macht. Da er sich durch Verwandlung die Irren einverleibt wie die Buschmänner einst die Tiere (III, S. 127), hat er schließlich in der Tat Macht über sie. Zum entscheidenden Umschlag führt hier allerdings nicht der Verzicht auf Wirkung, sondern die Heilung. Die Wanze verwandelt sich in einen Ritter, der wie sein Namensahn, der Erzengel, die Menschen von einem Drachen erlöst.50 Der Theoretiker der Masse wird in der Praxis zum Exorzisten des Massen-Tieres. Sein Name erweist sich dadurch als antithetisch: Macht steht gegen Masse, die feminine Weichheit des Entflammten gegen die männliche Kraft des Drachentöters. Darauf deutet auch die ambivalente Schauspieler-Metapher hin. Denn die Kranken sind nicht nur Georges' Rollenvorbilder, sondern auch ein »Publikum«, das ihn wie wild beklatscht (I, S. 443). Wann immer er durch die Anstalt geht, kommt »Richtung und Ordnung in den Lärm« (I, S. 443); in seiner Abwesenheit aber zerfällt die Masse, und die Irren beginnen, sich zu stoßen und zu schimpfen (I, S. 451). Diese Macht ist das Korrelat zur Demut, die Georges für seine Verwandlungen benötigt. Sie reicht erheblich weiter und tiefer als die Macht, die er als Frauenarzt besaß, zu einer Zeit, als er Mühe hatte, »seinen Siegen nachzukommen« (I, S. 436). So war er von seinem neuen Beruf überlistet worden. Aus einem Gefühl der Armut heraus hatte er begonnen, in tiefster Ehrfurcht vor den Klüften und Gebirgen, die er untersuchte. Und binnen kurzem stand er als Heiland da, von achthundert Freunden, was für Freunden, den jeweiligen Insassen der Anstalt, umgeben, von Tausenden, denen er ihre Nächsten wiedergeboren hatte, verehrt. (I, S. 443)

|| 50 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 129; Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 85; Eckart Göbel: Gleichgewichtsstörung. Elias Canettis Die Blendung: ein Puppenspiel. In: Arnold (Hg.): Elias Canetti 2005 (wie Einleitung, Anm. 8), S. 44–53, hier S. 50. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 56 weist darauf hin, dass die beiden religiösen Namen Georg und Peter zwei Heilsfiguren bezeichnen. Die Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 234 erzählt, der König von Lybia habe zum Dank für die Tötung des Drachens und die Rettung seiner Tochter der Jungfrau Maria und dem heiligen Georg zu Ehren eine Kirche bauen lassen. Auf dem Altar aber »[…] entsprang ein lebendiger Quell, der machte alle Kranken gesund, die daraus tranken.« Die Insassen der Anstalt halten Georges, bevor er selbst die Leitung übernimmt, für den »gute[n] Engel eines teuflischen Vorgesetzen.« (I, S. 432)

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Georges, der den Namen des ersten Nothelfers und Schutzpatrons vieler Spitäler trägt, ist mehr als ein Heiliger und Ritter, mehr auch als ein Arzt. Er berührt die Kranken, »sei es mit der Hand oder mit Worten« (I, S. 432), er heilt und rettet sie wie »Christus Medicus«51. Von den Angehörigen der Geheilten wird er für diese »Wunder« geradezu vergöttert (I, S. 443). Auch in seiner Anstalt ist er ein (wenngleich nicht unumstrittener) Gott. Bei den Rundgängen folgt ihm ein »gutes Dutzend Assistenten«, die von ihm lernen wollen (I, S. 443) – eine Parodie auf Jesus und die Apostel. Die 800 ›Gläubigen‹ schließlich, die in der Anstalt leben, scheinen Georges' Rückkehr so sehr herbeizusehnen (I, S. 501) wie die Sinologen die Anwesenheit seines Bruders und die Christen die Parusie ihres Herrn. Dass Georges, nach einem Giftmord, von dem er nichts weiß, an die Stelle seines »allmächtigen« Vorgängers getreten ist (I, S. 432), offenbart, dass sein rascher Aufstieg auf einem Gottesmord beruht. Es zeigt aber auch, dass er, als neuer Direktor der Anstalt, nun selbst allmächtig ist. Diese Entwicklung verkehrt das Schicksal seines Bruders, der aus seiner Welt vertrieben wird. Georges gewinnt eine Welt, in der er Menschen bestimmen, verändern und gestalten kann. Erst jetzt, mit der höchsten Macht ausgestattet, entfaltet sich seine »glänzende Begabung« zu »genialer Wirksamkeit« (I, S. 433). So wie er sich den Gorilla zum Vorbild genommen hatte, ist er in seiner eigenen Welt das Vorbild, das die Assistenten – »seine Affen« (I, S. 448) – imitieren. Diese Macht ist ihm angenehm, sie scheint ihm gar zu Kopf gestiegen. Nach einigen Tagen bei seinem Bruder sehnt er sich nach seiner Anstalt zurück, »[…] wo er ein ebenso absoluter Herrscher war, wie Peter in seiner Bibliothek.« (I, S. 500) Seine Entwicklung vom Assistenten zum Herrscher, vom Schwächling zum Machthaber ist, wie bei Peter, sowohl eine Erfüllung seines Vornamens als auch ein Widerspruch zu dessen verborgenem Imperativ. Denn Georg, der strahlende Ritter, soll besonders demütig gewesen sein.52 Georges dagegen träumt, nicht weniger hochmütig als sein Messias-Bruder, von der Weltherrschaft: Vielleicht vergrößert mein Ruhm die Anstalt. Mit der Zeit werden zwei- bis zehntausend daraus. Pilgerzüge aus allen Ländern vervollkommnen mein Glück. Eine allgemeine Weltrepublik steht in dreißig Jahren zu erwarten. Man ernennt mich zum Volkskommissar für Irre. Reisen über die ganze bewohnte Erde. Inspektion und Parade einer Millionenarmee unbrauchbarer Geister. Links stelle ich die Schwachsinnigen auf, rechts die Starksinnigen. Gründung von Versuchsanstalten für überbegabte Tiere. Heranzüchtung verrückter

|| 51 So auch Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 56. 52 Vgl. Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 232. In Briefe an Georges nennt Veza ihren Schwager »Ritter Georg« und »St. Georges« (BG, S. 99 und 245).

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Tiere zu Menschen. Geheilte Narren entlass' ich aus meiner Armee mit Schimpf und Schande. (I, S. 452f.)

Die Hoffnung auf größtmöglichen Ruhm, die Wollust der springenden Millionenzahl, die Analogie zum Feldherrn, die an das Kapitel »Mobilmachung« erinnert, die Scheidung der Welt nach dem Muster des Jüngsten Gerichts – all das verrät, wie sehr Georges von seinem Willen zur Macht korrumpiert ist. Er hat nichts gemein mit dem »wilden Menschen«, der nach Rousseau keine Gier nach Ruhm und Ehre kannte, sondern er bleibt den Idealen der Zivilisation verhaftet. Während der Naturmensch nach Rousseau glücklich und zufrieden in sich selbst ruht, meist ohne Kontakt zu anderen, ist Georges (gerade in seinen Verwandlungen) wie der gesellschaftliche Mensch »immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben«.53 Selbst der Wunsch, durch Verschmelzung den vollkommenen Menschen zu schaffen, entstammt dieser Sphäre. Rousseau war nämlich der Meinung, dass sich der Mensch gerade kraft der ihm eigenen Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung (Perfektibilität) aus dem Naturzustand entferne und zu einem Tyrannen entwickle.54 Da Georges die Tyrannis fälschlicherweise mit dem Naturzustand identifiziert, gehört auch sie zum Assoziationsfeld seines Vornamens, der seine volle, und das heißt: ambivalente Bedeutung erst jetzt zu erkennen gibt. Denn das Land ist für Rousseau nicht nur die den Naturmenschen nährende Mutter, sondern auch die Wiege der Zivilisation. Der erste »Landmann«, der ein Stück Erde als seinen Besitz zu verstehen und zu umzäunen begann, brachte Rousseaus Theorie zufolge die konfliktträchtige (und damit massenfeindliche) Kategorie des Eigentums in die Welt, die Grundlage aller Machtverhältnisse.55 Die fixe Idee von einem mächtigen, damit aber bereits vergesellschafteten Naturmenschen, auf die Georges' Vorname anspielt, ist insofern mehr als nur eine Fehlinterpretation der Zivilisationskritik Rousseaus. Sie ist die Gegenkraft zu seinem Massentrieb. Der letzte Satz von Georges‘ innerem Monolog verrät aber auch das Defizitäre seiner Schöpferkraft, die ganze Tragik seiner Existenz. In seiner Anstalt kann Georges auf Menschen zwar einwirken, aber nicht in seinem Sinn. Anders als

|| 53 Vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 112. 54 Vgl. ebd., S. 46. 55 Vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 74: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ›Dies ist mein‹ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft.« Vgl. auch ebd., S. 84: Eisen und Getreide, so Rousseau, haben den Menschen zivilisiert und »ins Verderben gestürzt«.

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der Gorilla und anders als der Bibelgott ist er nicht im Stande, sich ein Ebenbild zu schaffen. Sein Ruhm beruht vielmehr darauf, dass er die Irren ›vereinfacht‹. So werden sie zum Gegenteil seiner selbst, auch zum Gegenteil der Sekretärin: gewöhnliche Menschen (I, S. 442). Aus diesem Teufelskreis gibt es kein Entrinnen. Im Unterschied zu seinem Bruder ist Georges deshalb ein Messias, der das eigene Erlösungswerk ablehnt.56 Am Ende des Kapitels »Ein Irrenhaus« ist ihm selbst die einfachste Wirkung unmöglich geworden: Er findet keinen Zugang mehr zu den Kranken, ist ihrer überdrüssig bis zur Verachtung und beklagt, auf sich selbst fixiert, die Monotonie des eigenen Lebens (I, S. 451f.). Der Hilferuf des Bruders eröffnet ihm die Möglichkeit, sein Leben wieder in Bewegung zu bringen und gerade den Menschen zu bestimmen, zu verändern und zu gestalten, der ihm von Kindheit an überlegen war. Der Kampf der beiden Hähne, von dem Georges am Morgen des ersten Zusammentreffens träumt, zeigt in allegorischer Form, dass es zwischen ihm (dem kleinen, gepflegten und verschlagenen Hahn) und seinem Bruder (dem größeren, roten und schwachen Hahn) zu einem erbitterten Machtkampf kommen wird.57 Uwe Sänger hat diesen Kampf, unter Berufung auf den gemeinsamen Namen der Kontrahenten, mit dem Streit zwischen Kain und Abel verglichen. Die Konkurrenz der beiden Gebrüder Kien wiederhole den Wettbewerb des ersten Brüderpaars um die göttliche Gnade.58 Diese These ist zu präzisieren: Es geht in diesem Kampf nicht um die göttliche Gnade, auch nicht um die Gnade der Mutter, wie Sänger annimmt, sondern darum, wer die alleinige (göttliche) Macht beanspruchen kann. Es ist der Kampf der beiden Machthaber Peter und Georg, die beide, ihren Namen zum Trotz, an der Selbstvergottung arbeiten. Das ist auch der Grund dafür, dass es nicht zur Verschmelzung kommen kann. Der Vorname hindert den Nachnamen, mythisch gedacht, an der Entfaltung seiner Kraft. Für diesen Kampf scheint Georges wie sein Namensahn gut gerüstet. Er ist nicht mehr der kleine Bruder, der sich einst vor Peters schreiender Stimme fürchtete und dachte, sie könne ihm die »Zunge mit einem Taschenmesser«

|| 56 Vgl. Stephens: Variationen über zwei Kafka-Erzählungen in Canettis Die Blendung (wie Anm. 7), S. 135. 57 Dieser Machtkampf zeigt ebenfalls, dass sich Georges vom Ideal des Naturmenschen entfernt hat. Denn erst der spätere Mensch kennt Konkurrenz und Rivalität. Vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (wie Anm. 26), S. 89. 58 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 64. Peter steht nach Sänger mit dem Hirten Kain in Verbindung, weil Petrus als Hirte der Kirche gilt. Georges, der Landmann, verweise demgegenüber auf den Ackerbauern Abel (Vgl. ebd., S. 65).

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abschneiden – ein »Schlüsselerlebnis« seines Lebens59 (I, S. 455). Das (bei der Erstpublikation noch nicht erkennbare) Zitat von Canettis erster Erinnerung macht deutlich, dass sich in diesem Kampf Sprache gegen Sprache wendet. Peters Stimme entspricht jenem Mann, der Canetti in Karlsbad die Sprechfähigkeit nehmen wollte. Inzwischen hat Georges allerdings eine weitere mächtige Stimme kennengelernt. Er hat gesehen, dass der Gorilla, »a reverse image of Peter«60, seine Sekretärin durch bloßes Brüllen zum Schweigen bringen konnte (I, S. 438). Und er hat sich dieser Stimme bemächtigt, sie zum ersten Register seines polyphonen Repertoires gemacht. Gegenüber Pfaff, der Raubtierstimme, wird er sie auf Knopfdruck einsetzen können. Zugleich hat er gelernt, seinen Nachteil zu einem Vorteil zu machen und aus der Position des Kleinen heraus die Macht an sich zu reißen. Es ist deshalb ein Zeichen, dass ihn die Schwägerin des Gorillas beim Vornamen nennt, »[…] weil er ›ihr kleiner Bruder‹« sein könnte (I, S. 437). Die Begegnung mit dem Gorilla ist die Vorbereitung auf den Bruderkampf, »[…] als hätte er von Geburt an den Menschen oder Gorilla gesucht, der seine eigene Sprache besaß.« (I, S. 439) Über viele Jahre hinweg hat Georges die neue Macht anschließend erproben können: Jean, dem Schmied, verschafft er mit einer »Zauberformel« etwa den Triumph über die Frau (I, S. 448). Dieser Zauber ist seine Waffe gegen den Philologen-Bruder, vor dem er sich wortreich erniedrigt und bekennt, er sei längst nicht so klug wie er und habe nicht sein »unglaubliches Gedächtnis« (I, S. 468). Schließlich schlägt er ihm »ehrerbietig« vor, gemeinsam essen zu gehen (I, S. 492). Nach der Lobrede auf Peter beobachtet er »[…] beharrlich, aber so unauffällig er konnte, die Wirkung seiner Sätze auf dem Gesicht des Bruders.« (I, S. 470) Georges' Machtgewinn scheint sich auch in seinem Namen bemerkbar zu machen. Er ist, im Vergleich zu früher, um eine Silbe erweitert. Therese stellt Georges sich denn auch, den eigenen Rang betonend, als »Professor Georges Kien« vor (I, S. 458). In den Kapiteln »Umwege« und »Listenreicher Odysseus« ist das jedoch die einzige Stelle, an der er seinen veränderten Vornamen trägt. Sonst heißt er Georg.61 Außerhalb seiner Anstalt, im Machtbereich des Bruders,

|| 59 Bachmann: Wahn und Wirklichkeit (wie Kapitel B6.1, Anm. 5), S. 181. Bachmann diagnostiziert bei Georg einen Minderwertigkeitskomplex, entstanden aus dem frühen Erlebnis der Schwäche und Verletzlichkeit (Vgl. ebd., S. 182). 60 Vgl. Morgan: Georges Kien (wie Anm. 2), S. 82. Für Schutti: Die Bibel in Elias Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 97 ist die Gorilla-Episode eine »Parallelerzählung« zur Entwicklung Kiens. 61 Vgl. dazu den nicht ganz präzisen Befund von Morgan: Georges Kien (wie Anm. 2), S. 85: »From the end of his daydream until the end of the novel, however, ›Georges‹ becomes ›Georg‹, and the old relationships are re-established.«

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scheint er zu seinem früheren Ich regrediert. Seine Namensänderung, weniger als ein Namenswechsel, hat seine Identität bewahrt und ihn nicht gegen die Macht des Bruders imprägniert. Den kleinen Jungen von einst hat Georg nicht abschütteln können, er ist das Bleibende in allen seinen Verwandlungen, seine Achillesferse. Bereits als er seinen Namen nennt: »Ich bin es, Georg, dein Bruder Georg […]« (I, S. 463) gewinnt Peter, eben noch zitternd am Boden liegend, die alte Stimme zurück, als sei die Zeit zurückgedreht, und befiehlt Pfaff »scharf und streng«, das Kabinett zu verlassen (I, S. 463). Mit der Stimme kehrt auch die Autorität zurück. Georg, für gewöhnlich der »sichere und weltgewandte Arzt« (I, S. 461), fühlt sich bald unsicher, vom Wissen des Bruders erdrückt, und gewinnt zunehmend den Eindruck, er sei ein Spielball, »[…] Teil eines Mechanismus, den ein anderer zur Erhaltung seines bedrohten Selbstgefühls in Bewegung gesetzt hatte.« (I, S. 481) Das ist die Umkehrung einer Umkehrung: Noch einen Tag zuvor hatte Georg, sich an die kindliche Furcht vor Peters Stimme erinnernd, im Gestus eines Machthabers »die Gefahr gepackt« (I, S. 456) und keine Heilung leichter gefunden als die seines Bruders. In den Entwürfen zu Das Augenspiel hat Canetti den Grund für diese Umkehrung genannt: Peter zeige Georges seine ganze Verachtung und erzeuge dadurch, »kraft seiner früheren Autorität über ihn«, ein Ressentiment, das Georg blind für den Zustand des Bruders mache.62 Diese Blindheit zeigt sich bereits während der Zugfahrt, die Georg zeitweise in Gesellschaft eines langen und hageren Blinden verbringt, dem seine Frau einen Roman vorliest; darin heißt es – eine Anspielung auf das Ende: »›Du treibst mich wieder in den Selbstmord!‹« (I, S. 455) Mit dem Termitengleichnis wird Georg Peter wenig später tatsächlich in den Selbstmord treiben. Er wird die beiden »Drachen« Therese und Pfaff zwar aus Kiens Welt eliminieren, zugleich aber das Massen-Tier verschonen, ihm sogar eine Richtung weisen. Er, dessen Vorname in Wien u.a. die Feuerwehrmänner bezeichnet (»Schurl mit der Blechhaubn«)63, wird das Feuer des Bruders anheizen, statt es zu löschen – ein klarer Verstoß gegen das Programm seines Namens. Dahin kann es nur kommen, weil Georg bereits voller Vor-Urteile zu seinem Bruder reist, die ihn zu falschen oder einseitigen Schlüssen verführen. Er ist, kurzum, zu keiner Verwandlung mehr fähig. Nur noch die Verstellung ist ihm möglich. So lügt er Therese an, spricht »[…] mit einem Feuer, das ihm selbst lächerlich erscheint, als säße er im Zuschauerraum vor der Bühne, auf der er spielt.« (I, S. 461)

|| 62 ZB 60, 11. Juni 1981. 63 Vgl. Wehle: Sprechen Sie Wienerisch? (wie Kapitel B2, Anm. 68), S. 73. Als »Schurl mit der Blechhaubn« bezeichnen die Wiener auch Polizisten. Pfaff wird Georg in der Maske des »Polizeipräsident[en] von Paris in Zivil« vertreiben (I, S. 497).

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Vor seinem Bruder verleugnet er seine Achtung vor den Irren und legt »reizendes Mitleid« für ihn auf (I, S. 473). Nach Peters Wutausbruch empfindet er heimliche Schadenfreude und stellt sich zu guter Letzt über ihn: »Im Grunde ist er beschränkt und von kleinlichem Charakter.« (I, S. 490) Der Beschränkte jedoch ist er selbst: ein Machthaber, der in Gegenwart des Bruders »auf Verwandlungen beschränkt« ist, die – wie es in Masse und Macht heißt – seine feindliche Gesinnung »immer und vollkommen intakt halten.« (III, S. 441) Diese Beschränkung, eine tiefe Form der Distanz, konterkariert die Verschmelzung, die Georg sich vorgestellt hat. Sie verhilft ihm – wie dem Hahn im Traum – zum Sieg über den Bruder64, doch dieser Sieg ist eine doppelte Niederlage: eine Niederlage als Arzt und eine Niederlage als Zivilisationskritiker. Denn zum einen hat sich Georg von seinem Bruder durchschauen lassen, ohne ihn selbst zu durchschauen. Zum anderen hat er sich durch den Versuch, seine Verachtung zu verbergen, von der Wahrhaftigkeit des Naturmenschen weit entfernt. Die Warnung, die diese Niederlage impliziert, ist die Warnung vor dem Willen zur Macht. Die onomastisch ausgerichtete Analyse des Psychiaters Georges Kien hat nachweisen können, dass Canetti auch mit ihm eine Doppelfigur geschaffen hat. Nicht von ungefähr ist Georges sowohl »feurig« (Masse) als auch »groß« »stark« und »sicher« (Macht) (I, S. 433). Er ist hin- und hergerissen zwischen Masse und Macht, und von dieser Zerrissenheit kündet sein antithetischer Name. Anders als bei seinem Bruder kommt es bei ihm allerdings zum Umschlag von der Masse zur Macht. Im Folgenden ist zu erkunden, ob auch das übrige Personal aus Doppelfiguren besteht. Eine der faszinierendsten Gestalten der Blendung65 ist indessen weder groß noch stark, weder Wissenschaftler noch Dichter. Es ist der bucklige Zwerg Siegfried Fischerle, dessen Nachname – so wie Georges Vorname – um ein Suffix erweitert ist.

|| 64 Vgl. dazu ZB 57, November 1949 (Hervorhebungen im Original): »Jede Welt kann von einer andern aufgenommen, nämlich verschlungen werden. Pfaff versucht Kien im Kabinett zu verschlingen. Der Psychiater nimmt den Wahn seines Bruders auf: er verschlingt, er tötet ihn.« 65 Für Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 53 ist Fischerle sogar die »faszinierendste Gestalt des Romans«. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 264 nennt ihn neben Georges die »dynamischste Figur« in Canettis Die Blendung.

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6.4 Siegfried Fischerle 6.4.1 Von Fischerle zu Fischer An einem sonnigen Nachmittag Ende Mai 1931 stirbt auf der Holzveranda des Gasthauses neben der Schönbrunner Gloriette Siegfried Fischerle, von seinem eigenen Schöpfer »totgeschrieben«. Fassungslos über diesen »Mord«, beklagt der Mörder anschließend seine Tat, obwohl er weiß, dass sie sich trotz aller Sympathie für die vielleicht faszinierendste Figur seines Romans (aus einem noch zu erläuternden Grund) nicht vermeiden ließ. Den ganzen Nachhauseweg über die Auhofstraße von Hietzing nach Hacking wiederholt Canetti, geradezu zwanghaft, immer wieder dieselben Worte: »›Er ist tot, er ist tot, er ist tot. Fischerle ist tot. Fischerle. Er ist tot, er ist tot, er ist tot.‹« – und schaut nicht nach links und nicht nach rechts, sodass er beinahe von einem Auto angefahren wird.1 Ein langes Leben blieb Fischerle nicht nur im Roman verwehrt. Geboren (wie Canetti sich ausdrückte) wurde er ein knappes halbes Jahr vor seinem Tod, zu einer Zeit, als der Roman nach rasantem Beginn ins Stocken geraten war und Canetti eine neue Figur benötigte: als Begleiter des Büchermenschen durch die kopflose Welt. Kurz nach dem Jahreswechsel hatte er sie gefunden, ein Neuanfang auch für seinen Roman. Dieser Begleiter, der »Sancho Pansa meines Kien«, erfüllte Canetti nicht nur mit »Zärtlichkeit«2, sondern er entwickelte sich zur »eigentliche[n] Zentralfigur« des zweiten Teils, »[…] die als gleichwertig neben die Figuren der Kienbrüder zu stellen ist.«3 Es ist viel darüber spekuliert worden, woher Canetti die Anregung zu dieser Figur bekommen hat, die nur ganz oberflächlich dem Typus des »Arlecchino« aus der Commedia dell' arte entspricht4. Er ähnele Buscon in Quevedos Roman, auch Lazarillo de Tormes, der

|| 1 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwergs«. Für die Einsicht in dieses wichtige Kapitel danke ich Johanna Canetti. 2 Ebd. Unter Canettis nachgelassenen Aufzeichnungen hat sich ein »Dialog mit sich selbst als 25jähriger über den Roman« erhalten: »›Die [Kien und Therese – A.S.] haben mit mir nicht das Geringste zu tun.‹ ›Sie sind doch viel unreifer, als ich dachte. Glauben Sie, dass Sie irgendetwas schreiben können, das Sie nicht sind?‹ ›Ich habe eben mit einer neuen Figur im Roman begonnen, mit Namen Fischerle.‹ ›Der bucklige Schachspieler, er ist sehr lustig.‹ ›Bin ich also auch der?‹ ›Natürlich, viel mehr sogar als die Therese. Aber etwa so sehr wie Kien.‹« Zitiert nach ZB 16, 6. Januar 1969. 3 Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 39 und 147. 4 Vgl. Boose: Die Komik des Wissens. Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Hanuschek (Hg.): Der Zukunftsfette (wie Einleitung, Anm. 153), S. 73–91, hier S. 83.

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wie er einen blinden Bettler ausbeute, zugleich sein Dienstherr5; er sei eine »Spottgeburt zwischen Odradek und Oskar Matzerath«6, seinem bedeutendsten literarischen Nachfahren; die Physiognomie erinnere an Moses Mendelssohn oder an Zwerg Nase7. Das alles ist richtig und greift doch zu kurz. Denn aus einem für Das Augenspiel geschriebenen, aber unpublizierten Kapitel geht hervor, dass Canetti das Vorbild nicht in Büchern, sondern in der Wirklichkeit gefunden hatte8: Einige Monate zuvor hatte ich in einem Café in der Schönlaterngasse einen Schach spielenden buckligen Zwerg gesehen, er fiel mir durch seine intensiven Bewegungen nicht weniger auf als durch seinen Buckel. Er spielte rasch und heftig, seine Züge, die er, so schien es, schon lange im Kopf getragen hatte, sprangen ihm aus den Augen. Doch ob-

|| 5 Vgl. Bischoff: Stationen zum Werk (wie Einleitung, Anm. 132), S. 60f. 6 Bienek: Die Zeit entläßt uns nicht (wie Einleitung, Anm. 129), S. 560. Vgl. dazu ZB 14, 11. Mai 1960 (Hervorhebung im Original): »Die ›Blechtrommel‹ ist gekommen, Hartung hat sie von Berlin geschickt. Wo immer ich sie aufschlage, erinnert mich etwas an die ›Blendung‹. Ich habe noch nie ein Buch gesehen, das so sehr meinem eigenen Geiste entspringt. Meine engste Schülerin, Friedl, hatte nicht so viel mit mir ›gemein. Ich halte es für unmöglich, dass Grass, der Autor, die ›Blendung‹ nicht kennt. Kennt er sie nicht, so muss man die Übereinstimmungen ihrer Tiefe wie ihrer Zahl nach als wahres Wunder betrachten. Es wäre schön, wenn ich an diesem Menschen, der 23 Jahre jünger ist als ich, eine Art von Nachfolger hätte. Selbst in dem sehr unwahrscheinlichen Falle, dass er nie etwas von mir gehört hat, so liesse sich nicht leugnen, dass die Literatur unsrer Zeit meinen Weg gegangen ist. Etwas Ähnliches erlebe ich hier mit dem jungen englischen Dramatiker Harold Pinter. Aber in England scheint mir das nicht so verwunderlich. Ich lebe hier und die ›Blendung‹ ist von allen jungen Dichtern gelesen worden. In Deutschland bin ich ein Unbekannter. Ich weiss nun schon zwei ernstzunehmende deutsche Dichter, die in Paris leben: Celan und Grass, und ich möchte beide, wenn ich dort bin, aufsuchen. Was immer man mir heute sagt – in einer Stunde – ich freue mich sehr darauf, die ›Blechtrommel‹ wirklich zu lesen. Es könnte passieren, dass ich durch sie zu meinem eigenen Roman zurückkomme und endlich wieder schreibe, was meiner würdig ist und mir Lust macht.« 7 Vgl. Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 82; Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 116. 8 Nicht zu klären ist, ob Canetti den Schachautomaten kannte, den Walter Benjamin in »Über den Begriff der Geschichte« beschreibt: In diesem Automaten, einer Puppe in türkischer Tracht, saß in Wahrheit ein buckliger Zwerg, »[…] der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte.« Zitiert nach: Benjamin: Gesammelte Schriften I.2 (wie Kapitel A4, Anm. 14), S. 693. Nicht überzeugen kann der Hinweis von Fauser: Canettis Büchermensch (wie Kapitel B6.1, Anm. 172), S. 192, dass der Name Siegfried Fischerle dieselben Initialen habe wie Sigmund Freud. Fauser suggeriert mit diesem Hinweis eine Ähnlichkeit zwischen Wirklichkeit und Fiktion, bleibt die Begründung aber schuldig.

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wohl er immer gewann, blieb er stumm und winkte wortlos durch ein Nicken seiner langen Nase einen neuen Gegner herbei.9

Die Parallelen zu Fischerle sind offensichtlich: der zwergenhafte Wuchs, der Buckel, das Schachspiel, die lange Nase. Der Zwerg im Café erinnerte Canetti allerdings auch an einen seiner ehemaligen Kommilitonen: den »wohlgestalteten krähenden Zwerg im Chemischen Laboratorium«10, von dem er in Die Fackel im Ohr erzählt. Fischerles Krähen (I, S. 234, 243, 364 und 395) ist eine Reminiszenz an diesen Zwerg, der mit dem Schachspieler zu einer Figur verschmilzt. »Sie wurde lebensfähig durch den Namen, mit dem ich sie versah […].«11 Diese Bemerkung bestätigt erneut, wie sehr Canettis Namengebungsverfahren dem mythischen Denken verpflichtet ist: Erst der Name ruft die Figur ins Leben. Im Kapitel »Die Geburt eines Zwerges« wollte Canetti denn auch zeigen, »wessen ein Name fähig ist und zugleich ein zwingendes Beispiel für die Bedeutung akustischer Masken« geben.12 Canetti bezieht sich hier ausschließlich auf den Nachnamen, der ohne das Affix zu den verbreitetsten im deutschen Sprachgebiet gehört13. Gerade deshalb drängen sich nun aber mehrere Fragen auf: Was ist das Besondere an diesem Namen? Nur das Affix? Oder hat der Name Fischer Canetti inspiriert, und war das Affix nicht mehr als ein (vielleicht bedeutungssteigernder) Zusatz? Oder sind beide Bestandteile des Nachnamens gleichermaßen wichtig? Und von welcher akustischen Maske spricht Canetti? Kurzum: Zu welchem Leben befähigt der Name Fischerle seinen Träger? Zunächst ist festzustellen, dass das Affix aus dem weit verbreiteten Berufsnamen ein ungewöhnliches Diminutiv macht. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil ein Zwerg nach mythischer Vorstellung nicht besser benannt sein könnte als mit einem Diminutiv.14 Während das römische Cognomen Cras-

|| 9 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwerges«. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Vgl. ebd. Zu Beginn der 2000er rangiert der Name Fischer mit 227000 Namenträgern (3,90 %) auf dem 6. Platz der häufigsten deutschen Familiennamen, bei den Telefonanschlüssen sogar auf dem 4. Platz. Vgl. Konrad Kunze: DTV-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. Mit 125 Abbildungsseiten in Farbe. Graphiker Hans-Joachim Paul. 5., durchgesehene und korrigierte Auflage, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2004, S. 67 und 198. 14 Vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 40. Veronika Barics: Jüdische Motive in Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Studien zur Germanistik 4 (1996), H. 4, S. 145–160, hier S. 150f. liefert keine nähere Begründung für ihre Behauptung, dass der Name Fischerle durch das Verkleinerungssuffix komisch klinge und bei den Menschen Mißtrauen erwecke.

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sus von der Körperfülle oder der lateinische Vorname Rufus von den roten Haaren seines Trägers zeugt, zeugt der Name Fischerle von der Kleinwüchsigkeit des Benannten. Wie die Körperfülle und die roten Haare so oft15 hat diese Kleinwüchsigkeit aber auch eine symbolische Funktion. Sie ist ein Stigma, Ausdruck von Fischerles Ohnmacht. Er, der Krüppel, ist ein Verfügungsobjekt der Großen, und das heißt: beinahe aller Figuren. So wie Kien, der sich zu Fischerle hinunter beugen muss, schauen selbst die ebenfalls physisch und sozial Benachteiligten auf ihn herab.16 Immer wieder und aus ganz verschiedenen Perspektiven wird Fischerle deshalb »der Zwerg« und vor allem »der Kleine« genannt; er kann der Fixierung auf die Rolle des Parias nicht entkommen.17 Kien, sein physischer Antipode (»der Lange«), nennt ihn besonders häufig »der Kleine«18; denn er hält ihn für eine »ergebene[] Kreatur« (I, S. 229). Bereits am ersten Abend ihrer gemeinsamen Odyssee durch die namenlose Stadt behandelt er ihn zwar »rücksichtsvoll, aber durchaus als Diener« (I, S. 211). Beim Auspacken der Kopfbibliothek, deren Umfang Fischerle unterschätzt, freut Kien sich auf den Moment der Erkenntnis, in dem er »mit leiser Ironie im Blick zu dem Kleinen hinabsähe« (I, S. 210). Die Masse vor dem Theresianum, begierig nach einer Sensation, sieht zuerst nicht einmal mehr auf Fischerle herab, sondern sie übersieht ihn ganz: »Er ist zu klein, man erwartet Großes.« (I, S. 319) Später jedoch braucht sie ihn, den Außenseiter, als Sündenbock für eine Tat, die nie geschehen ist. Die Fischerin, eine Zwergin, fürchtet insofern zu Recht um Fischerle, weil er »so klein« ist,

|| 15 Rote Haare galten in früheren Zeiten als Ausweis der Besonderheit des Trägers, und zwar oft im negativen Sinn (Teufel). Vgl. Klaus E. Müller: Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München: Beck 1996, S. 9. Viele Belegstellen finden sich auch bei Hanns Bächthold Stäubli: Art. Haare. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Kapitel A2, Anm. 14) 3, besonders Sp. 1249–1252. 16 »Kien blickte angestrengt hinunter. Wo war der Mund, aus dem es sprach.« (I, S. 189) Auch beim Zählen des Geldes blickt er auf ihn hinab und beugt sich schließlich »entgegenkommend zum Zwerg hinunter« (I, S. 202 und 207). Die Pensionistin weist mit der Schulter zu Fischerle hinunter (I, S. 197). Dem Hausierer gelingt es nicht, den Kopf bis zu Fischerle »hinunterzudrücken« (I, S. 248). Zur Hundemetapher vgl. I, S. 390: »Eine Lehrerin verliebte sich in seinen Fleiß und folgte ihm bis ans Ende des Parkes, von Bank zu Bank. Sie habe Zwerge in ihr Herz geschlossen, sie liebe Hunde, aber nur Zwergpinscher […].« 17 Im Anschluss an Hans Mayer bestimmt Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 45 Fischerle zu Recht als existentiellen Außenseiter. Vgl. auch Madel: Solipsismus in der Literatur (wie Kapitel B6.1, Anm. 87), S. 218. 18 Nachdem Kien Franz Metzger verprügelt hat, erscheint ihm auch der Junge als »der Kleine« (I, S. 56). Vgl. dazu Jachmann: »Dem großen Geiste Kants war niemand klein, weil er ein Mensch war.« Zitiert nach Drescher: Wer war Kant? (wie Kapitel B6.1, Anm. 41), S. 152.

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ein geeignetes Opfer für jede Hetzmasse (I, S. 360).19 Auch die Wirtin des »Pavian«, einer schäbigen Spelunke im Keller, in der nur »Unmenschen« verkehren (I, S. 369), scheint Fischerle zugetan: Kurz vor seiner geplanten Abreise nach Amerika überschüttet sie ihn mit Koseworten: Beinchen, Leberchen, Herzerl. Doch diese Worte sind ambivalent. Sie verkleinern seinen ohnehin schon kleinen Körper und vergrößern umgekehrt die anderen Gäste: Gescheiterte, Verbrecher, Kellerexistenzen. In ihrer Gegenwart ist Fischerle nur mehr ein Zwergerl (I, 375; vgl. S. 370) – oder wie der Paß-Koch und ein ehemaliger Lehrer meinen: ein halber Mensch (I, S. 371 und 377). Selbst Fischerles eigene Frau, »groß, dick und rund«, eine Königin über den »Idealen Himmel«, redet ihn mit einem verkleinernden Kosenamen an; er stuft ihn, unter der Maske der Zärtlichkeit, zu einem Tier herab, einem typischen Objekt der Jagd (»Haserl«; I, S. 198). Besitzergreifend sieht sie in ihrem Mann sogar ein Kind und beschimpft ihn derart, dass er tatsächlich kleiner wird (I, S. 198 und 200). Fischerles eigentliches Zuhause befindet sich deshalb nicht von ungefähr unter dem Bett (I, S. 214 und 219). Es ist sein Versteck vor dem Zugriff der Großen und (physisch) Mächtigen, zugleich aber auch der Platz eines Hundes.20 Auf Befehl seiner Frau musste Fischerle dort vor vielen Jahren so manch eine Stunde liegen, still und regungslos wie ein Toter, damit sie beim Verkehr mit ihren Freiern nicht gestört würde; es ist, nach Masse und Macht, die Position vollkommener Ohnmacht (vgl. III, S. 464).21 Der Bettkasten ist die Schranke, die Fischerle gesetzt war, solange die Frau mit ihrem Freier schlief – eine wiederholte, durch den Befehl verdoppelte Demütigung. Auch sie gehört zu den Implikationen des Affixes. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum es Kien um seinen guten Namen leid tut, nachdem er den Namen des Zwergs erfahren hat (I, S. 190). Das Diminutiv, gebildet aus einem Namen, der ihn an seinen eigenen

|| 19 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 144. Diese Hetzmasse verweist auf das titelgebende Motiv. Denn in Masse und Macht schreibt Canetti über die Hetzmasse: »Es ist die Erregung von Blinden, die am blindesten sind, wenn sie plötzlich zu sehen glauben.« (III, S. 55) Die Hetzmasse tötet denn auch nicht Fischerle, sondern sein weibliches Pendant, die Fischerin. 20 Vgl. Meili: Erinnerung und Vision (wie Kapitel B6.1, Anm. 18), S. 119. Kurz vor dem Mord fordert die Pensionistin den Blinden auf, Fischerle zu fressen zu geben (I, S. 398). 21 Das Gefühl dieser Ohnmacht bleibt in Fischerles Phantasien erhalten: »Man hat mich unter einem Bett gefangengehalten und durch gefährliche Morddrohungen ein ungeheures Lösegeld von mir erpreßt.« (I, S. 394)

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Vornamen erinnert, den Namen des Fischers Petrus22, weckt seine Ressentiments gegen alle (ungebildeten) Parias, genereller noch: die breite Masse. Es markiert den Abstand, der ihn trotz seines Namens von Fischerle trennt. Diese Berührungsfurcht scheint überwunden, als sich Kien in Fischerle hineinprojiziert und ihm das »Du« anbietet. Doch seitdem hat er das Gefühl, »daß er ihn über kurz oder lang wieder loswerden müsse« (I, S. 294). Das Affix repräsentiert also nicht nur Fischerles reale Statur, sondern auch das Urteil der anderen über diese Statur, ihre nie ganz erlöschende Verachtung. Sie ist zum Bestandteil des Eigensten geworden, des Namens. Fischerle sieht sich selbst mit fremden Augen, hasst seine »Kleinheit, seine Kleinlichkeit, seine kleinliche Zukunft« (I, S. 274). Dieser Hass auf die Beschränkungen seines Daseins ist der Motor seines Denkens und Handelns und die nie versiegende Inspirationsquelle seiner subversiven Phantasie. Fischerle sehnt sich mit aller Kraft nach einem besseren Leben, auf keinen Fall will er für immer zu den Erniedrigten und Beleidigten gehören. Das lässt bereits seine rhetorische Frage an Kien zu Beginn ihrer Bekanntschaft erahnen: »›Bin i a Hund?‹« (I, S. 190) In der Hoffnung auf eine weniger hündische Existenz möchte Fischerle gerade das Namensaffix loswerden, sprachliches Symbol seiner Paria-Existenz. Zunächst im Traum, hier ein umschwärmtes Schachgenie, weist er einige Reporter darauf hin, dass er Fischer und nicht Fischerle heiße (I, S. 216) – und wird prompt »Herr Fischer« genannt. Das ist ein Vorgriff auf die Realität, die Fischerle nach dem Muster seiner Traumwelt zu verändern sucht.23 Als erstes gründet er die »Firma Siegfried Fischer« (I, S. 244), ein Betrugsunternehmen mit vier Angestellten, das ihm eine stattliche Summe einbringen soll. Später, im Besitz dieses Geldes, lässt er einen falschen Pass anfertigen, damit die Polizei vor ihm »Respekt« habe und ihn nicht wie üblich verhafte. Er lautet auf den Namen Doktor Siegfried Fischer (I, S. 374). Dieser Pass bestätigt nicht zuletzt ihm selbst die neue Identität, die durch den akademischen Titel zusätzlich aufgewertet ist. Unter diesem falschen Namen stellt er sich wenig später selbstbewusst einem Schalterbeamten und einem Schneider vor, diesem sogar, noch unbescheidener, als »Schachmeister Doktor Siegfried Fischer« (I, S. 385 und 382). Schließlich, kurz vor seiner Abreise nach Amerika, sieht er sich in einem Traum als Dr. Fischer in New York ankommen,

|| 22 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 73, Anm. 105. Vgl. auch Fauser: Canettis Büchermensch (wie Kapitel B6.1, Anm. 172), S. 190. 23 Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 135: »Im Abbild des eigenen Namens bekämpft Fischerle seine Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit. Mit dessen Veränderung in der Realität statt im Traum glaubt er magisch seinen Aufstieg vollzogen.«

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umjubelt von den Einwohnern der Stadt (I, S. 396). Die beiden Namenszusätze, die Fischerles Bedeutung kumulativ steigern, korrespondieren mit dem gestrichenen Affix; sie ersetzen die Schwäche durch Stärke. Das Ineinander von Traum und Realität ist dabei bezeichnend. Fischerle, mehr als alle Figuren der Blendung auf die Zukunft ausgerichtet, denkt noch mythisch. Er lebt in einer phantastischen Welt, in der eine Namensänderung – und sei es auch nur eine erträumte – die Realität verändert.24 Sie geht seinen Taten in Traum und Wirklichkeit daher stets voraus, auch dem Kleiderwechsel kurz vor seinem plötzlichen Tod. Doch die Garderobe, die Fischerle auswählt: ein grellblauer Mantel, gelbe Schuhe, ein schwarzer Hut, erinnert zusammen mit seiner krächzenden Stimme eher an einen Papagei als an einen Doktor.25 Das ist kein Zufall: Fischerle ahmt die besseren Herren nach.26 Er erinnert sich daran, wie sie mit ihren Angestellten reden, und imitiert es, als er seine eigene Firma gründet (I, S. 245). Die Streichung des Affixes bewirkt demnach keine Verwandlung – anders als bei Georges die Hinzufügung einer Silbe. Trotz aller äußeren Veränderungen bleibt Fischerle derselbe: ein Hochstapler im buchstäblichen Sinn, der sich gegen Kien, für ihn der »Weltmeister der Hochstapelei« (I, S. 267), gegen die eigenen Angestellten und die Gäste des »Pavian« mit aller Raffinesse durchzusetzen versucht. Am Schluss ähnelt er dem Wäscher aus der indischen Geschichte vom »Esel im Tigerfell«, der mit Kleidern manipuliert (III, S. 439ff.; vgl. I, S. 396: »Er ist mehr wert als Persil.«). Während Georges mit dem Wegfall der Namenssilbe indessen Macht verliert, verspricht sich Fischerle davon Macht und Ansehen. Im Unterschied zu Kien hat die Millionärin seiner Träume keine Aversion gegen seinen Namen: »Sie heiratet meinen Namen, ich ihr Geld.« (I, S. 386) Zu Fischerles Raffinesse gehört, dass er seinen Nachteil zu einem Vorteil macht und die Körpergröße gelegentlich zur Verstellung nutzt. Um Kien über seine wahren Absichten zu täuschen, macht er sich kleiner und kriecht »vor Bewunderung«, während er innerlich vor Haß kocht (I, S. 237). Vor den Gästen des »Pavian« gibt er sich schwach »wie ein altes Weib« und täuscht damit selbst die durchtriebensten Verbrecher (I, S. 372). Bei Gefahr kann er sogar wie ein Säugling klingen – ein Trick, der die Bemächtigungstaktik seiner Frau verkehrt, || 24 Eine mythische Beziehung zu Namen hat auch Kien. In der kopflosen Welt stellt er seine Bibliothek durch die Nennung der Bücher wieder zusammen. Vgl. Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwergs«. 25 Vgl. Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 144. 26 Auch hier gibt es wie bei den Namen einen Vorrang der Sprache. Durch den Umgang mit Kien hat sich Fischerle eine bessere Sprache angewöhnt (I, S. 250). Wie geschickt Fischerle nachzuahmen versteht, zeigt die Tatsache, dass Kien den Eindruck gewinnt, er selbst habe aus ihm gesprochen (I, S. 273).

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um Mitleid zu erregen (I, S. 357); dieselbe Maske wird sich am Ende der Hochzeit Direktor Schön aufsetzen. Das Namensaffix symbolisiert insofern nicht nur die tatsächliche Kleinheit und das Urteil über sie, sondern auch die Kleinheit als Maske, hinter der sich eine andere Natur verbirgt. Im Gegensatz zu Thomas Manns Felix Krull will Fischerle deshalb nie seinen ganzen Namen ablegen wie ein »abgetragenes und verschwitztes Kleidungsstück«27. Er will sich vielmehr vor aller Welt als der »strahlende Phönix« entpuppen, für den er sich im Geheimen hält (I, S. 386).28 Diesen Phönix, der aus der Asche der Paria-Existenz erstehen soll, repräsentiert der Name Fischer; er ist das bereits Angelegte und doch noch zu Verwirklichende, ein Gegengewicht zum Affix: die wahre Natur hinter der Maske und den Zuschreibungen. Wofür aber steht er?

6.4.2 Der Zwerg als paralytischer Machthaber Der Hass auf die eigene Kleinheit führt dazu, dass Fischerle größer sein möchte. Schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit Kien hüpft er an einem Stuhl »in die Höhe« (I, S. 189) und stellt sich dann auf ihn; er ist seine Leiter. Mit diesem Sprung überbrückt Fischerle die Distanz zwischen oben und unten, hoch und niedrig. Er befindet sich jetzt auf Augenhöhe, ist so groß wie Kien im Sitzen (I, S. 190). Seine Bedeutung erscheint ihm allerdings größer als die seines Gegenübers, da er die Situation mit einer Schachpartie assoziiert: »Der Meister heißt Fischerle und sitzt am selben Tisch wie Sie.« (I, S. 191) Noch eindrucksvoller ist die Inversion, die Fischerle Jahre zuvor von seiner Paria-Position unter dem Bett aus gelungen ist. Nach dem Beischlaf, immer öfter mittendrin, stand er damals plötzlich neben dem Bett und forderte den verdutzten Freier, womöglich eine »heimliche[] Berühmtheit«, zu einer Partie Schach um Geld heraus (I, S. 193). Wer sich auf diese Herausforderung einließ, erkannte bald, dass er den Zwerg unterschätzt hatte, und musste Partie und Betrag verloren geben. So verkehrte Fischerle die Demütigung »unter dem Bett« in einen Erfolg »auf dem Brett« und entledigte sich seines Befehlsstachels.29 Das überraschende Auftauchen neben

|| 27 Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (wie Kapitel B4, Anm. 8), S. 65. 28 Da Kien verbrennt, ist es möglich, in ihm eine weitere Phönix-Figur zu sehen. Das Ende des Romans wäre auch unter dieser Perspektive als Erlösung zu verstehen. 29 Es ist insofern kein Wunder, dass Fischerle, der Hund, die Weltmeister mit einer »Art von Tollwut« verfolgt (I, S. 194). Auch im Hotelzimmer sucht er, ganz in seinen Privatmythos verstrickt, nach einem Weltmeister. Doch er findet ihn nicht. »Dabei hat er sich eingebildet, ein Weltmeister sitzt auf dem Bett und spiele mit ihm […].« (I, S. 214 – Hervorhebung A.S.)

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dem Bett, ein Verstoß gegen den Befehl seiner Frau, nimmt den Erfolg vorweg.30 Während der Freier noch liegt, in der Position des Ohnmächtigen31, richtet Fischerle sich auf und wird für einen Moment größer als sein Kontrahent. Noch stärker ist wieder sein gefühltes Wachstum, das eigentliche Ziel: »›Ein Mensch, was ka Schach spielt, is ka Mensch. Im Schach sitzt die Intelligenz, sag' ich. Da kann einer vier Meter lang sein, Schach muß er spielen, sonst is er ein Tepp.‹« (I, S. 191) In der Erinnerung reichen ihm einige Freier sogar nur bis zum Knie (I, S. 288). Da aber nicht allzu viele auf sein Angebot eingehen, bleiben etliche Stacheln zurück. Sie erfordern neue Inversionen, drängen zu einem Leben in unausgesetzter Revolution. Selbst als Fischerle nicht mehr wie einst unter dem Bett zu liegen hat32, schlägt er auf den »fixen Herrn« ein, wann immer dieser sich über ihn lustig macht, und verpasst ihm dadurch eine »Niederlage« (I, S. 194). Das richtet sich erneut nicht nur gegen die Demütigung durch den Freier, sondern auch gegen den Befehl der Frau, die ihn wegen dieses Herrn aus der Wohnung verbannt hatte. Doch die Umkehrung ist nur scheinbar. Da der Mann seinen Namen verschweigt, kann Fischerle sich seiner nie bemächtigen – anders als die Königstochter im Märchen vom Rumpelstilzchen. Er begreift nicht einmal, dass der Mann ihn zur Triebabfuhr benutzt und sich bloß aus Mitleid schlagen lässt. Aus diesen bedrückenden und beflügelnden Erfahrungen speist sich Fischerles »Haupttraum von der Schachweltmeisterschaft« (I, S. 227). Sie allein würde mit einem Schlag alle Stacheln beseitigen, ihn zum Größten unter denen machen, die er selbst für groß hält: die Schachgenies (vgl. I, S. 381).33 Die »unbestrittene[] Lokalmeisterschaft« (I, S. 194) und die sporadischen Triumphe genügen Fischerle deshalb nicht, er will höher hinaus – bis an die Spitze, ins Rampenlicht, das ihn für die Dunkelheit unter dem Bett entschädigen soll. Sein

|| 30 Auch die anschließende Schachpartie folgt der Strategie des plötzlichen Überfalls: »Da [unter dem Bett – A.S.] hatte er Fallen gestellt und Meister geschlagen, wie der Blitz war er von einem Feld zum andern gestürzt […].« (I, S. 388) 31 Vgl. auch V, S. 113f.: »Der Mensch aber, der sich zur Ruhe niedergelassen hat, der liegende Mensch, hat sich entwaffnet. Es ist ein leichtes, ihm in der Wehrlosigkeit seines Schlafes beizukommen. […] Bevor er wieder auf den Beinen steht, wird er nicht für voll genommen.« Die Wehrlosigkeit resultiert bei den Freiern daraus, dass sie sich auf den Geschlechtsverkehr konzentrieren. 32 Auch jetzt noch muss Fischerle dem Befehl seiner Frau gehorchen. Vor vier Uhr früh darf er nicht nach Hause kommen (I, S. 194). 33 Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 139), S. 104. Für Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 31 ist das Schachspiel Fischerles symbolischer Leib.

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Gefühl und die Fremdwahrnehmung sollen koinzidieren, eine Versöhnung auch des eigenen Gegensatzes. Ein solcher (wenn auch nur gefühlter) Umschlag von klein zu groß hat die Menschen – wie Canetti in Masse und Macht feststellen wird – seit jeher tief beeindruckt: »Mehr als bleibende, körperliche Größe, mehr als rasches Sich-Erheben von einem Sitze wurde die kleine Gestalt angeschaut, die vor den Augen der Zuschauer ins Riesenhafte wuchs.« (III, S. 475) In Die Blendung ereignet sich etwas Ähnliches vor dem Theresianum: Ein alter Mann duckt sich ängstlich vor Fischerle, weil das in der Masse kursierende Gerücht den Kleinen zu einem »riesengroßen Zwerg« aufgeblasen hat (I, S. 356). Dieses imaginierte, paradox-lächerliche Wachstum ist im Gegensatz zu Fischerles Weltmeisterphantasien aber nicht von Dauer, die Erniedrigung ist vorprogrammiert. Nur wenig später rufen die Menschen wieder »›Der Krüppel!‹« statt »›Es lebe der Weltmeister!‹«(I, S. 357) Die Bewegung von unten nach oben ist so charakteristisch für Fischerle wie für Kien umgekehrt der Sturz von der Leiter. Beides ist ein Zeichen der (geglückten bzw. gescheiterten) Selbstüberhebung. So schaut Fischerle einen Schalterbeamten, der sich um seinen Koffer kümmern soll, »von unten hinauf hochmütig an« oder verbeugt sich vor dem Schneider mit einem »Ruck nach oben« (I, S. 385 und 382). Im »Idealen Himmel« winkt er einem Kellner zwar von unten herauf zu, aber als »kleiner Gönner« (I, S. 245). Das Oxymoron verkehrt die symbolische Bedeutung der Blickrichtung; der Kleine wird zum Großen. Von einer solchen Inversion geprägt ist auch Fischerles Verhältnis zur Fischerin, seinem Ebenbild. Er, der Zwerg, nennt sie, eine Zwergin (I, S. 243), gegen den Augenschein »die Kleine« und hält die flache Hand dabei in der Höhe des Bauches (I, S. 361). Dadurch rückt er, in einer merkwürdigen Überblendung, an die Stelle seiner »viel zu große[n] Frau« (I, S. 388), der er mit der Nase nur bis zur Brust reicht (I, S. 198). Der eigene (Namens-)Zwilling aber wird zu ihrem Stellvertreter. Fischerles Misogynie hat dieselbe kompensatorische Funktion: Er spuckt – wenn auch nur in Gedanken – auf das »Weiberhirn« seiner Frau (I, S. 199), dreht der Fischerin den Rücken zu, weil er ihre »Untertänigkeit« für selbstverständlich hält (I, S. 244)34, und bezeichnet sie, vielleicht in Erinnerung an das trügerische »Haserl« aus dem Munde seiner Frau, als eine »Gans« (I, S. 255; vgl. auch S. 389). Der arrogante Umgang mit der Fischerin bekräftigt, dass Fischerle durch die Übernahme der Außenperspektive auf Abstand zu sich

|| 34 Genauso verhält sich auch Kien gegenüber Therese: »Als sie zurückkam, kehrte er ihr den Rücken des Stuhls, auf dem er wieder saß. Er wünschte nichts mehr mit ihr gemein zu haben, auch keine Blicke.« (I, S. 67) Therese wiederum kehrt dem Hausbesorger »verächtlich den Rücken« zu (I, S. 106).

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selbst gegangen ist. Er ist ein Zerrissener, äußerlich klein und innerlich groß, sein eigener Feind.35 Wie bei den Figuren der frühen Dramen unterscheidet sich sein Selbstbild von seinem Spiegelbild. Fischerle erkennt in der Fischerin, die sich in seiner Gegenwart aus Verehrung kleiner macht (I, S. 246), eben jenen Paria, der er nach seiner Meinung bereits als Lokalmeister des »Idealen Himmels« nicht mehr ist. In einem seiner Träume diffamiert er Zwerge gar als Schwindler, in der Überzeugung, er gehöre nicht zu ihnen (I, S. 217). Selbst auf dem Papier will Fischerle, wieder mythisch denkend, größer sein als andere. Aus diesem Grund ärgert er sich, als der Kanalräumer eine genauso große Unterschrift unter den Arbeitsvertrag setzt wie er: »›So ein Großmaul!‹, keifte er, worauf sich der Hausierer mit einer entlegenen Ecke und einem winzigen Namen begnügte.« (I, S. 244) Auch die Adressen der Weltmeister, die er in seinen Kalender einträgt, sind riesig. Für den eigenen Nachnamen, vom Affix befreit, wird er sogar eine ganze Seite benötigen (I, S. 397). Dieser Name soll auch unter einem Telegramm stehen, mit dem Fischerle sich »allen besonderen Menschen der Welt« als der »neue Schachweltmeister Siegfried Fischer« vorstellen will. Er wird es wahrscheinlich in noch größeren Buchstaben abfassen als die »höhnische[n] Herausforderungen an den jeweiligen Weltmeister«, die er auf Telegrammformularen notiert, aber nie abgeschickt hat (alle Zitate I, S. 367). Die Größe des Namens im eigenen Kalender verrät, dass Fischerle die Streichung des Affixes nicht genügt. Der Name soll weiter wachsen, ins Riesenhafte. Gerade deshalb träumt Fischerle in seinem letzten Traum davon, der Name »Dr. Fischer« werde an die höchste Stelle, in den Himmel geschrieben. Größere Buchstaben sind kaum vorstellbar. Diese Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Imagination ist in seinem antithetischen Nachnamen auf konzentrierte Weise eingefangen. Der strahlende Phönix, der sich zu neuem Leben erhebt und den der Name Fischer bezeichnet, ist sowohl nach Fischerles eigenem Empfinden als auch dem (vorgestellten) Urteil anderer ein Riese. Fischerles Drang von unten nach oben erinnert in vielerlei Hinsicht an die Gigantomanie eines Paralytikers.36 Der Paralytiker, heißt es in Masse und Macht, wolle auf jede nur erdenkliche Art wachsen; ihm sei eine »Höhentendenz« zu eigen, bei der es vor allem darauf ankomme, sehr rasch nach oben zu gelangen. Wie Canetti am Beispiel eines Kaufmanns aus der Kraepelinschen Klinik deutlich macht, strebe der Paralytiker nach unbeschränktem Wachstum und sozialer

|| 35 Vgl. Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 63: »Fischerles Gegner haben alle nur einen Namen: Fischerle.« 36 Obwohl Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 187ff. meint, Fischerle sei kein Paralytiker, findet auch er bei ihm viele »Größenideen«.

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Rangerhöhung. Er wolle noch höher hinaus als der Kaiser und glaube fest daran, dass er jeden, selbst ein Genie, auf allen Gebieten übertreffen könne; denn er selbst sei das größte Genie, beherrsche sogar alle Sprachen der Welt (III, S. 479). Darüber hinaus, so Canetti, wolle der Paralytiker vieles erwerben und auch vieles verschwenden: Häuser, Kleider, Lebensmittel, am liebsten Millionen und Abermillionen von Banknoten, seine persönliche Masse, nur um seinetwillen da. »In der Größe, von der die Menschen träumen, verbündet sich das Gefühl individuellen biologischen Wachstums mit dem Gefühl sprunghafter Zunahme, das die Masse kennzeichnet.« (III, S. 483) Trotz der Vielfalt seiner Größenideen bleibe der Paralytiker aber immer er selbst, der »feste und zentrale Punkt im Universum« (III, S. 482). Alle diese Tendenzen, die Höhen-, Erwerbs- und die Verschwendungstendenz, das Verlangen nach Millionen und die Verwandlungsunfähigkeit37, lassen sich bei Fischerle feststellen. Er ist, im Hinblick auf Canettis Œuvre, ein Paralytiker avant la lettre. Sein Verhalten, mehr noch seine Träume, scheinen darauf hinzudeuten, dass Canetti die paralytischen Tendenzen, die er in Masse und Macht aufzählt, bereits zur Entstehungszeit der Blendung gefunden und voneinander unterschieden hatte. Das jähe Auftauchen neben dem Bett hat, wie beschrieben, nur einen Zweck: die großen und potenten Männer zu erniedrigen und ihnen möglichst viel Geld abzuknöpfen, das Medium ihrer Verfügungsgewalt über die Frau. Nicht zufällig legt Fischerle die Scheine, die er erbeutet hat, während des Schlafens zwischen die Beine (I, S. 237): Geld ist seine Potenz, es macht ihn größer und stärker. Fischerles virtuelles Wachstum profitiert – sowohl in der Eigen- als auch der Fremdwahrnehmung – vom »kolossalen Aufschwung« (I, S. 279) seiner »Firma mit hohen Umsätzen« (I, S. 281). Der Hausierer, einer der Angestellten, blickt mit gesenktem Kopf zu Fischerle hinauf, »[…] als ob der Zwerg, seit er Chef hieß, zu doppelter Größe angewachsen wäre.« (I, S. 248)38 Die Firma hat aber ein noch ambitionierteres Ziel. Der ökonomische Erfolg soll die künftigen Großtaten auf dem Schachbrett ermöglichen39 und durch sie reziprok gesteigert werden: »Ein gutes Geschäft macht er auch dabei.« (I, S. 214f.) Wie bei allen Figuren der Blendung hat das Geld auch in Fischerles || 37 Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 69 irrt, wenn sie für den »wichtigste[n] Wesenszug« des Zwerges die Verwandlungsfähigkeit hält. Fischerle ist nur zu Imitationen oder Verstellungen, nicht aber zu Verwandlungen in der Lage. 38 Für die Fischerin ist Fischerle ein »großer Chef« (I, S. 360) und die Firma – wie übrigens auch für ihn selbst – »groß« (I, S. 361 und 365). 39 Fischerle ist der Auffassung, dass er nur mit einem »Stipendium« in der »Schachbranche« durchstarten könne (I, S. 196). Auch der imaginierte Krüppel in seinem Traum unter dem Bett wird ihn seiner Meinung nach erst herausfordern können, »[…] wenn er das Geld hat!« (I, S. 217)

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Wahnsystem eine funktionale Rolle.40 Es dient dem Aufstieg und soll den erreichten Status später absichern. Dass vor allem die Höhen- und Erwerbstendenz bei Fischerle zusammenwirken, wird schon früh erkennbar. Von unter dem Bett aus greift er mit seinen langen Armen nach Kiens Brieftasche, die sich oben im Rock befindet, und zieht sie zu sich. Unter dem Bett, wo er sich selbst in einem Hotel wie zu Hause vorkommt (I, S. 214), zählt er die Scheine. Die Stätte seiner Demütigung wird zum Ort der imaginierten Erhöhung, der vorweggenommenen Einverleibung des Geldes, das ihm bald gehören soll und ihn zu seinem detailliertesten Weltmeistertraum animiert. Später steckt Fischerle die Nase manchmal in die Achselhöhle, wo er die Beute tagsüber versteckt, und lässt sie dann, gestärkt durch den Geruch des Geldes, wieder »in die Höhe« schnellen (I, S. 290). Da er jetzt viermal so reich ist wie Kien, sein ehemaliger Herr, verachtet er ihn (I, S. 287). Auch seiner großen Frau fühlt er sich überlegen, obwohl sie ihn mit ihrem Geld ernährt. Denn er hält sich für ihren Zuhälter; sie hat ihm Geld zu geben und zu gehorchen: »Ich kann mit ihr machen, was ich will.« (I, S. 387)41 Wie sehr die beiden Tendenzen in Fischerles Denken zusammengehören, verrät in besonderem Maße seine Vorstellung von Amerika. Das Zentrum des Kapitalismus, die Heimat der Tellerwäscher-Millionäre, ist nicht zufällig das Ziel seiner Reisepläne. Denn wer es im »Riesenland der Wolkenkratzer« (I, S. 242)42, in New York mit seinen zehn Millionen Einwohnern (I, S. 396), zu Ansehen und Reichtum bringt, ist ungeachtet seiner tatsächlichen Körpergröße ein Riese unter Riesen. Auch die amerikanischen Dollars sind für Fischerle mehr wert als das »Kleingeld«, das er den Menschen aus den Taschen zieht (I, S. 356). Ein Dingsymbol für den Zusammenhang der beiden paralytischen Tendenzen ist seine teure Brieftasche, gekauft von Kiens Vermögen. Es ist die größte im Laden, »ein ungeheures Stück« in kariertem Leder, das an ein Schachbrett erinnert (I, S. 381). Auch in seinen Träumen ist die Höhen- mit der Erwerbstendenz unmittelbar verknüpft: Ein Mensch träumt von den Dingen, die ihm imponieren. Am liebsten wühlt Fischerle in Bergen von Banknoten. Hat er vom Wühlen genug und weiß er totsicher, daß niemand von seinen falschen Freunden sich in der Nähe herumtreibt, so setzt er sich oben drauf

|| 40 Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 115. 41 Vgl. dazu Thereses Auffassung: »Mit einem Dienstbot' darf man machen, was man will. Bitte, man zahlt ja. Aber mit der Frau nicht.« (I, S. 79) Fischerle behandelt seine Frau also wie eine Dienstbotin, obwohl er von ihr das Geld zum Leben erhält. 42 Vgl. I, S. 275 (Hervorhebung A.S.): »Amerika tauchte riesengroß vor ihm auf […].« Siehe auch I, S. 290: »[…] in Amerika ist alles riesig.«

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und spielt eine Partie Schach. Es hat schon seine Vorteile, wenn man so groß ist. Da paßt man auf beides zugleich auf; von weitem sieht man jeden, der stehlen kommt, und von nahem hält man das Brett. So erledigen große Herren ihre Geschäfte. Mit der Rechten rückt man die Figuren, mit der Linken putzt man sich die dreckigen Finger an Banknoten ab. Es sind eben zuviel da. Sagen wir: Millionen. (I, S. 212)

Fischerle erscheint hier als paralytischer Machthaber mit ähnlich paranoiden Zügen wie Muhammad Tughlak, der vom Dach seines Palastes auf das menschenleere Delhi schaute, befreit von der Angst vor einer unerwarteten Berührung.43 Vor ihnen schützt sich auch Fischerle, der einst selbst unerwartet am Bett erschienen war, um den Freiern im Spiel ihr Geld abzuknöpfen. Die Millionen-Masse, über die der träumende Fischerle gebietet, indem er sie mit seinem Körper in Besitz nimmt, lässt ihn dabei ins Riesenhafte wachsen. In seiner Funktion entspricht es dem wachsenden Thron des Kaisers von Byzanz, der den Abstand zwischen dem Kaiser und Liudprand, dem Gesandten Ottos I., unüberbrückbar vergrößert (III, S. 475f.). Der Haufen aus Banknoten ist aber auch ein Schatz, den Fischerle, eine »mythische Fortsetzung der Märchendrachen«, bewacht und betrachtet, zuletzt der »Wollust der springenden Zahl« verfallen (Zitate III, S. 215f.). Darüber hinaus hat das Geld, gelegentlich mit Schmutz assoziiert, eine reinigende Funktion. Es befreit Fischerle vom Odium des Besitzlosen. Dass er sich die Scheine in die Achselhöhle steckt, ist daher nicht überraschend. Zugleich mag es sich um einen symbolischen Vermehrungsritus nach dem Muster des australischen Beutelrattenmythos handeln, den Canetti in Masse und Macht referiert. Dieser Mythos erzählt, Karora, der Ahne der Aranda, habe sowohl die Bandicoots als auch seine Söhne aus den eigenen Achselhöhlen geboren: eine gewaltige Masse (III, S. 411f.).44 Die beiden Tendenzen werden auch in Fischerles Traum unter dem Hotelbett miteinander verknüpft. Er macht den Diener zum Star. »Fischerle sitzt in einem Mammuthotel, da gehört eine Luxusbar dazu, wie auf einem Ozeanriesen. Der Ober will ihm die schönsten Weiber an den Tisch setzen, nicht solche Huren, lauter Millionärinnen, die sich für ihn interessieren.« (I, S. 215) In die|| 43 Vgl. dazu auch III, S. 242: »Der Machthaber, von dessen Existenz die der übrigen abhängt, erfreut sich des größten, des deutlichsten Abstands; darin, nicht nur in seinem Glanz, ist er die Sonne oder, weiträumiger noch, wie bei den Chinesen, der Himmel.« Es ist nun klar, warum sowohl Kien als auch Fischerle den Großteil des Tages in ihrem persönlichen Himmel (Bibliothek bzw. Lokal) verbringen. Sie möchten selbst zu diesem Himmel werden, möchten abgegrenzt von der Erde und den Menschen leben. Allerdings werden sie beide aus ihrem Himmel zeitweise vertrieben – eine Dämpfung ihrer hochfliegenden Ambitionen. 44 Vgl. dazu III, S. 215: »Es ist gar kein Zweifel, daß bei manchen Menschen, die für ihr Geld allein leben, der Schatz an die Stelle der menschlichen Masse tritt.«

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sem Hotel wird Fischerle, eine Weltberühmtheit, auch fotografiert. Das Bild, eine Aufnahme seines Kopfes, zeigt ihn, wie er sich sieht: »Von der Kleinheit merkt da niemand was.« (I, S. 216) Die zunächst hundert, dann tausend Reporter, die hinter das Geheimnis seines Erfolges kommen wollen, knien in diesem Traum sogar vor ihm nieder, »[…] klein sind die Menschen, und flehen ihn an, er soll schon was sagen.« (I, S. 216) Nach Zahlung einer zweistelligen Millionensumme, eine Traumzutat, die erneut die »Wollust der springenden Zahl« verrät, tut Fischerle ihnen den Gefallen. Er steigt auf einen Stuhl, nicht ohne zu bemerken, dass er es nicht mehr nötig habe, und erzählt ihnen die »pure Wahrheit« (I, S. 217). Diese Wahrheit ist ein Mythos, der oben und unten erneut verkehrt: Er sei, so Fischerles Behauptung, als Weltmeister vom Himmel gefallen. Der Aufstieg wird somit an einen Fall geknüpft, der den Sturz des hybriden Lucifer in einen Triumph umdeutet. Auch im weiteren Verlauf des Traums gehen Höhenund Erwerbstendenz ineinander über, ergänzt jetzt durch die dritte, die Verschwendungstendenz: Fischerle, gar nicht kleinlich, sondern freigebig wie ein König45, will eine Stiftung gründen und allen Kaffeehäusern der Welt ein Stipendium gewähren, insgesamt eine Million; dafür sollen sie seinen Ruhm gegen Anfeindungen sichern und verbreiten. Auch seine Frau soll eine Million erhalten (I, S. 217). Er selbst, inzwischen standesgemäß mit einer Millionärin verheiratet, sieht sich in einem »kolossale[n] Palast« mit »dreißig gigantischen Sälen«, allein die Beleuchtung kostet ihn ein Vermögen (I, S. 218; vgl. auch S. 379: »kolossale[r] Schachpalast in Amerika«). Vor diesem Palast versammelt sich jeden Tag eine Menschenmasse (»Chor«), die noch in seiner Abwesenheit auf Almosen hofft. Fischerle übernimmt damit die Rolle der staatlichen Pfandleihanstalt Theresianum, in die er selbst etliche Schuldscheine getragen hatte – die finale Inversion in diesem Traum von einer verkehrten Welt. In Fischerles letztem Traum wird sein Drang nach Macht über eine noch größere Menschenmasse in rasch wechselnden Bildern eingefangen: Alle Tropfen fließen in den Ozean. Auf einem Ozeanriesen schifft sich Dr. Fischer nach Amerika ein. New York besitzt zehn Millionen Einwohner. Die Bevölkerung ist in einem Freudentaumel. Auf der Straße küssen sich die Menschen und schreien: Hoch! Hoch! Hoch! Hundert Millionen Taschentücher wehen zum Empfang, an jeden Finger bindet sich jeder Einwohner ein Stück. (I, S. 396)

Ausgehend vom Symbol des Tropfens, dessen »Kleinheit und Vereinzeltheit« nach Masse und Macht etwas Ohnmächtiges hat (III, S. 93), über das Mas-

|| 45 Vgl. dazu I, S. 379: »Vor lauter Geld sind die Leute dort [in Amerika – A.S.] verschwenderisch und verrückt.«

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sensymbol des Meeres, dessen Wellenschlag in die Bewegung der Millionen Taschentücher übergeht, steigert sich Fischerle kurz vor seiner Rückkehr unter das heimische Bett noch einmal in seine Größen- und Machtphantasien hinein. Sein Name, der mit dem Meer verbunden ist, weist auf das Traum-Paradies hin46, das Land jenseits des Ozeans, aber auch auf seinen Wunsch, als Menschenfischer eine Millionen-Masse zu beherrschen. Der Traum endet deshalb, in maximaler Distanz zu den Meerestropfen am Anfang, fern von der Masse, in den höchsten Höhen, der Heimat des Machthabers. Auf Wolkenkratzern, von denen Kanonen zu Fischerles Ehren schießen, liegen Subskriptionslisten für Schloss Pavian bereit. Wie der Paralytiker in der Kraepelinschen Klinik wächst, erwirbt und verschwendet Fischerle nicht nur, sondern hält sich auch für ein Sprachengenie. Tatsächlich scheint er einigermaßen begabt: In einem Park lernt er an nur einem Nachmittag die Grundlagen der englischen Sprache, bewundert (wie er meint) von zahlreichen Passanten, und steigt sodann auf eine Parkbank (Wachstum), um – dem Typus des Berühmten in Masse und Macht entsprechend47 – den Chor einiger Knaben zu dirigieren. Von ihnen lässt er sich, ein »edle[r] Held«, mitsamt dem Englischbuch auf die Schultern nehmen – eine weitere Erhöhung (I, S. 391). Seit diesem Erfolg ist er sich der »Erlernbarkeit sämtlicher Sprachen« gewiss (I, S. 394). In einem Jahr will er die maßgeblichen 66 Sprachen der Erde lernen48, ohne die Dialekte, die er schon alle könne. Dieses Vorhaben verrät, dass sich Fischerle um die größtmögliche Erhebung bemüht. Parkbank und Schultern genügen nicht, ebenso wenig die Lokalmeisterschaft und die Niederlagen der Freier. Wie der erste Mensch im Paradies lernt er, der Un-Mensch, zunächst die Sprache. Der Park entspricht topologisch der Wohnung, in der Georges die Sprache des Gorillas erlernte. Er ist Fischerles

|| 46 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 88. Fischerles Amerika entspricht der Insel, über die Sancho Pansa gerne als Staathalter herrschen möchte. Vgl. Cervantes: Don Quixote, S. 312. 47 »Der Berühmte sammelt Chöre. Er will nur seinen Namen von ihnen hören. Sie können tot oder am Leben oder noch nicht am Leben sein, das ist gleichgültig, wenn sie nur groß sind und irgendeinmal auf seinen Namen eingeübt.« (III, S. 471) In Die Blendung wird das Verhalten des Berühmten persifliert. Der Chor – gerade keine großen Männer, sondern Kinder, denen zu Hause Prügel droht – singt nicht Fischerles Namen, sondern erinnert an seine Paria-Existenz: »Sie heulten ›yes‹ und sie meinten ›Jud‹.« (I, S. 390) Indem Fischerle auf die Bank steigt, erhebt er sich ebenso sehr über sie wie über seine Paria-Existenz und die damit verbundenen Vorurteile. 48 Es muss offen bleiben, ob die Zahl auf die 66 Bücher der Bibel (ohne die deuterokanonischen Texte) anspielt und somit symbolisch für das Ganze steht.

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Garten Eden, ein himmlischer Ort, aus dem der Zwerg aber nicht vertrieben, sondern »im Triumph« herausgetragen wird. Nur wenig später wird er sich die Dinge in der neuen Sprache aneignen, sie wie Adam einst benennen – wenn auch bereits außerhalb des Gartens (I, S. 395).49 Sein Vorhaben, die maßgeblichen Sprachen zu erlernen, enthüllt, dass er es allerdings weiter bringen möchte als Adam, weiter als überhaupt jeder Mensch. Nicht anders als die Brüder Kien arbeitet auch er an seiner Divination.50 Denn nur Gott beherrscht alle Sprachen, sein Geist lässt die Apostel am Pfingsttag zu Parthern, Medern, Elamitern und Römern, den Bewohnern von Mesopotamien, Judäa und Kappadokien, von Pontus und Asien, Phrygien, Pamphylien, Ägypten und Libyen sprechen.51 Fischerles adamitische Hybris hat also, analog zu den beiden Kiens, den Mächtigsten der Mächtigen im Blick: Der Titel des Schachweltmeisters ist eine Chiffre für den Weltenherrscher.52 Wie als Kleiner geht Fischerle aber auch als Größenwahnsinniger auf Distanz zu sich selbst – eine Konstante seines Charakters: Er sieht nicht in sich, sondern in seinem erträumten Gegner Capablanca einen Paralytiker (I, S. 384). Zu Fischerles Verkehrungen, die alle von der Verkürzung seines Namens ihren Ausgang nehmen, gehört nicht zuletzt die Umwertung des Platzes unter dem Bett. Fischerle träumt von einem eigens für ihn angefertigten Auto, in dem er sich wie unter dem Bett fühlt. Es ist so klein, dass seine Millionärsgattin sich während der Fahrt bücken, sich also wie der Hausierer erniedrigen muss (I, S. 218). In das geplante Schloss Pavian will Fischerle sogar das enge Kabinett einbauen lassen, in dem er mit seiner Frau vor Jahren lebte. Auch das Bett soll es in diesem Kabinett geben – mit einem Unterschied: »[…] er allein darf hinunter.« (I, S. 388) Aus der Kränkung wird in der Traumwelt ein Privileg, der Befehl, der Fischerle galt, gilt hier – inhaltlich verkehrt – den anderen. Das macht erst vollends klar, dass Fischerle nur imitiert und sich verstellt, weil er sich nicht verwandeln kann.53 Selbst in seinen kühnsten Phantasien von einer verwandel-

|| 49 Bei Fischerle erscheint die Sprachschöpfung reduziert zur »Schrumpfform des Spracherwerbs, der Aneignung des bereits Vorhandenen«. Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 86. 50 Da die Pensionistin Fischerle wie ihr Kind behandelt und zugleich mit Maria assoziiert ist (I, S. 243), ist auch er eine (pervertierte) Christusfigur. 51 Vgl. Apg 2,9f. 52 Vgl. Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 31: Weltmeister als »säkularisierter Gottesname«. Vgl. auch Sänger: Schrecken und Verwandlung« (wie Einleitung, Anm. 96), S. 85: »Meister« als Christusname. 53 Zur gegenteiligen Auffassung kommt Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 112f., die Fischerle auch eine akustische Maske abspricht. Das ist –

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ten Welt bleibt er sich gleich. Als Millionär will er den Arzt, der ihm den Buckel wegoperieren soll, mit falschen Geldscheinen betrügen (I, S. 212). Wohl aus demselben Geiz lässt er im Traum die Lichter seines Schlosses ausschalten, obwohl in Amerika seiner Meinung nach sogar die öffentlichen Bogenlampen ohne Unterbrechung brennen (I, S. 379). Seine neue Freigebigkeit ist nur eine Maske, hinter der der alte Fischerle steckt: ein Paria, der die Reichen imitiert, sich insgeheim aber nicht zum »Verschwender« geboren fühlt (I, S. 384). Auch sein Minderwertigkeitskomplex ist nicht verschwunden. Die Gegner, über die er in seinem Traum triumphiert, sollen sich in ein »Fremdenbuch« eintragen und bestätigen, dass er der Weltmeister sei (I, S. 218). Daraus spricht derselbe Zweifel, der ihn später dazu bringen wird, sich einen falschen Pass zuzulegen.54 Konstant bleibt auch seine akustische Maske; sie ist von Gigantomanie geprägt. Wie nun deutlich ist, handelt es sich um die Sprache eines paralytischen Machthabers.55 Wenn der Name Fischer für die gleichbleibende Natur hinter den wechselnden Masken und Verkleidungen steht und wenn diese Natur in Größenwahn und Weltmachtsanspruch besteht, dann muss die Macht zu seinem Inhalt gehören. Die erste Begegnung zwischen Fischerle und Kien macht dies nur wahrscheinlicher: Fischerle stellte sich auf einen Stuhl – er war jetzt gerade so groß wie der sitzende Kien – und sang mit brechender Stimme: »I bin a Fischer – er is a Fisch!« Bei »i« klatschte er sich mit dem Papier auf den eigenen Buckel, bei »er« schlug er es Kien um die Ohren. (I, S. 190)

|| nicht nur mit Blick auf den Nachlass – eine klare Fehleinschätzung. Gerade die Träume bezeugen Fischerles gedankliche und sprachliche Konstanz bis zu seinem Tod. Es ist deshalb abwegig, wie Meidl von einer »gedankliche[n] Metamorphose« bei der Anprobe des Anzugs zu sprechen, zumal eine Verwandlung über den bloßen Kleiderwechsel stets hinausgehen muss. Auch der Hinweis darauf, dass sich Fischerles Sprache unter dem Einfluss von Kiens Hochdeutsch verbessere (I, S. 250), hat in diesem Zusammenhang keine Überzeugungskraft. Denn wie beim Kleiderwechsel handelt es sich auch hier lediglich um eine Imitation. Gerade wenn Meidl den Entschluss zur Amerikareise als »Verwandlungsversuch« deutet (S. 115), erscheint das Scheitern dieser Reise symptomatisch: Fischerle gelingt die Verwandlung nicht, er kann sich nur verstellen und imitieren. Darin ist er allerdings so talentiert, dass es Kien scheint, »[…] als hätte er selber aus Fischerle gesprochen.« (I, S. 273) 54 Die Verbindung von Schach und Identität ist dadurch symbolisch eingefangen, dass Fischerle den Pass in seiner Tasche neben dem Schachspiel deponiert (I, S. 378). 55 Auch Fischerles Sprache ist von Verstellung gekennzeichnet. So bezeichnet er sich selbst als armen Teufel, um Kiens Mitleid zu erregen. Nur wenig später nennt er hingegen Kien verächtlich einen armen Teufel (I, S. 289 und 293).

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Wie später die Fischerin erniedrigt Fischerle Kien zu einem Tier – die typische Strategie eines Machthabers.56 Dieses Tier ist seine Beute; er, der Fischer, wird seine Netze auswerfen und Kien, der selbst den Namen eines Fischers trägt, wie einen Fisch jagen.57 Das erinnert an den Hufschmidt Jean, einen Wahnsinnigen, der davon besessen ist, die eigene, ehebrecherische Frau in einem Netz einzufangen. In beiden Fällen geht es um eine Bemächtigung: um Belauern, Berühren und Ergreifen – bei Fischerle aber mit einem ökonomischen Ziel. Der Name des Zwergs erinnert insofern nicht nur an die biblischen Menschenfischer, sondern auch an eine Passage in Lessings Nathan der Weise (Dritter Aufzug, Vierter Auftritt), einem Stück, in dem das Schachspiel ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt. Saladin klagt an dieser Stelle, dass er sich verstellen soll, um an Nathans Geld zu kommen: Ich soll mich stellen, soll besorgen lassen; Soll Fallen legen; soll auf Glatteis führen. Wenn hätt' ich das gekonnt? Wo hätt' ich das Gelernt? – Und soll das alles, ah, wozu? Wozu? – Um Geld zu fischen; Geld! – Um Geld, Geld einem Juden abzubangen; Geld!58

In Die Blendung ist es umgekehrt: Der Jude Fischerle muss sich verstellen, muss Fallen legen und aufs Glatteis führen, weil er den Machthaber Kien um möglichst viel Geld erleichtern will. Anders als Lessings Saladin ist er in der Kunst des Verstellens aber erfahren, ebenso wie im Fischen selbst. Schon unter dem Bett, in der »Wiege seiner Laufbahn«, hatte er den Freiern »Fallen gestellt« (I, S. 388). Vor dem Theresianum wiederum greift er, ans Stehlen seit jeher gewöhnt (vgl. I, S. 213), blitzschnell in die Taschen der versammelten Menschen (I, S. 359). Wir wissen nicht, ob Canetti die Stelle aus Lessings Nathan wortwörtlich im Gedächtnis hatte, und können demnach nicht sagen, ob er sich in seinem Roman auf sie bezog. Vielleicht meinte er nur die alltagssprachliche Bedeutung:

|| 56 Vgl. dazu auch I, S. 489, wo Georg seinen Bruder als »trockenen Fisch« bezeichnet. Dass Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 73 den Namen Fischer auf das Heilszeichen der Christen (ichthys) zurückführt (zugleich einer stellvertretenden Bezeichnung für den Menschen), ist eine Assoziation ohne interpretatorische Bedeutung. 57 Vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 123. Im Wiener Argot bedeutet Fisch: Schläge bzw. Hiebe. Vgl. Treml: Elias Canetti als jüdischer Schriftsteller (wie Kapitel A8, Anm. 50), S. 53. 58 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (Werke und Briefe in 12 Bdn.; 9/Bibliothek deutscher Klassiker; 94), S. 549.

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»fischen« für »etwas ergreifen«. Selbst das wäre freilich für ihn nicht mehr als eine ergänzende Assoziation gewesen. Denn er hatte den Namen aus einem anderen Grund gewählt. Auch davon berichtet er im nachgelassenen Kapitel über die »Geburt eines Zwerges«. Im Dezember 1930, nach drei Monaten exzessiver Arbeit an seinem Roman, erhält Canetti Besuch von Wieland Herzfelde, dem Leiter des Berliner Malik-Verlages, der ihm die Übersetzung von Upton Sinclairs Wet Parade anvertrauen möchte.59 Mit ihm trifft er sich im Café Museum. Es dauert nicht lange, bis ein dritter Mann hinzukommt: Wir waren erst eine Stunde beisammen, da erschien ein hagerer junger Mann im Café, der Wieland kannte, auf ihn zuging und ihn mit grösster Herzlichkeit begrüsste. Er hatte den Kopf eines Vogel Strauss, den er aber keineswegs in den Sand steckte, er hielt ihn im Gegenteil hoch und aufrecht, lächelte unaufhörlich und überschüttete Wieland mit Liebenswürdigkeiten. Wieland, der für Schmeicheleien nicht unempfänglich war, kam gar nicht dazu, uns bekannt zu machen. Ich hörte erst zu und nahm die volle akustische Maske des Ankömmlings, den ich nie zuvor gesehen hatte, in mich auf, bevor ich wusste, wer er war. Er war bei der Arbeiter-Zeitung, gab aber zu verstehen, dass sein Herz wo anders sei. Er machte es durch Zwinkern und Kopfschütteln deutlich, wie wenig ihm die Linie seiner Zeitung lag. Er war nur zum Schein noch dort, bald werde es damit zu Ende sein und er werde so schreiben können, wie ihm wirklich zumute sei. Er hatte ein eingefallenes Gesicht und schlechte Zähne, aber glaubenheischende braune Augen, denen man erlag, obwohl man spürte, dass seine Worte trogen. Er beunruhigte mich, die Leichtigkeit, mit der er für sich einnahm, die Entschlossenheit, um jeden Preis zu gefallen, die man hinter dieser Leichtigkeit fühlte, waren mir unheimlich. Er hatte etwas Flackerndes, das aber über die Gefallsucht, wie ich sie von Künstlern in Berlin gekannt hatte, weit hinausging, es war ein reissender Ehrgeiz, der etwas Unablenkbares hatte, und während er unendlich viel honigsüsse Worte fand, immer im Stehen, denn er nahm nicht Platz, sah ich, mitten im Gewirr schmeichlerischer Arabesken einen Dolch vor mir, über den ich erschrak.60

Erst nachdem der Unbekannte sich verabschiedet und das Café verlassen hat, erfährt Canetti seinen Namen. Zu seiner Überraschung kennt er ihn bereits – nicht wie Herzfelde meint, aus der Berliner »Namensküche« (VII, S. 336), sondern aus der »Arbeiterzeitung« und auch aus der »Fackel«, wo Karl Kraus ihn verballhornt hatte (»Perlenfischer«). Der Unbekannte war niemand anderer als Ernst Fischer, eben jener Mann, zu dem Canetti später, in den Jahren 1932–1933, viele Abende lang über Masse und Macht gesprochen hat. Da jedoch hatte er den größenwahnsinnigen und betrügerischen Zwerg längst nach ihm benannt. Fischer ahnte nichts von dieser zweifelhaften Ehre, als sie sich nach einem Jahr wieder trafen; er merkte es nicht einmal mehr, als er das Manuskript des Romans zu

|| 59 Vgl. ZB 60, 17. Januar 1981, Notiz vom Dezember 1930. 60 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwerges«.

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lesen bekam. Obwohl Canetti Fischer bis zur Publikation besser kennen lernte und auf andere Facetten seiner Persönlichkeit aufmerksam wurde, blieb er für ihn doch der »Inbegriff der Machtgier«61 – ein Mensch, wie es im nachgelassenen Kapitel »Ernst Fischer« heißt, der über andere Menschen bestimmen wollte62. Deshalb sah er sich nicht veranlasst, den Namen zu ändern. Nicht der Name, sondern die akustische Maske steht diesmal also am Anfang der Figurengenese. Das lässt sich leicht erklären: Wie Canetti im Kapitel über die »Geburt des Zwerges« schreibt, brauchte er nach dem Abschluss des ersten Teils eine neue Maske »[…] von äusserster Beweglichkeit, eine unablässige Flut um Kiens Starre.«63 Diese Maske fand er an jenem Tag im Café Museum, so unverhofft wie einige Monate zuvor Kiens physisches Vorbild, den Kakteenverkäufer. Es ist die Maske eines Schmeichlers, der sich sowohl bei der Arbeit als auch – wie die Dolch-Metapher zeigt – in seinen Reden verstellt. Die neue Figur – bald ist es ein Zwerg – sollte wie Fischer mit Worten und Taten blenden: den Büchermenschen, die eigenen Angestellten, den Passkoch. Sie sollte überraschen, in ständiger Bewegung bleiben64 und dabei ihr Ziel fest im Auge behalten. Dieses Ziel bezeichnet der Name. »Was ich hier [bei Fischer – A.S.] als politischen Ehrgeiz empfunden hatte, als Absicht auf Weltherrschaft, die mit allen Mitteln zu erlangen wäre, im Napoleonischen Sinn etwa, das übertrug sich mir auf die harmlosere Besessenheit durch die Vorstellung von einer Schachweltmeisterschaft.«65 Tatsächlich hatte Ernst Fischer, wie Canetti später herausfand, eine Vorliebe für Napoleon, dessen Totenmaske über dem Ehebett hing. Durch den Namen, der dem ersten Eindruck folgte, und die Verbindung mit Wieland Herzfelde war er zugleich der Berliner Zeit zugeordnet66 – der Inspirationsquelle des Romans. Zu ihr kehrte Canetti mit der Figur des Zwergs wieder zurück. Indem er »Fischer« ein diminuierendes Affix hinzufügte, schuf er allerdings einen antithetischen Namen. Das brachte die Figur erst recht in Bewegung. Wie die

|| 61 ZB 60, 19. Februar 1981. 62 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Ernst Fischer«. 63 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwerges«. 64 Gerade Fischerles Finger, mit denen er sowohl Geld als auch Figuren ergreift, sind in »ständiger Bewegung«. »Sie waren hungrig, hungrige Finger wollen Nahrung.« (I, S. 209) 65 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwerges«. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Napoleon zwar beileibe kein Zwerg, aber doch nicht sonderlich groß gewesen ist. Im August 1930 vermerkt Canetti auf einem seiner Wiener Notizblöcke, dass der gestürzte litauische Diktator Woldemaras außergewöhnlich klein und außergewöhnlich gebildet sein soll. Vgl. ZB 2. 66 Privatbesitz K 28, Unpubliziertes Kapitel in Langschrift »Geburt eines Zwerges«.

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Gebrüder Kien ist auch Fischerle eine Doppelfigur zwischen den beiden Polen Macht und Ohnmacht.67

6.4.3 Das Affix als Symbol des Buckels In der Forschung ist das Affix schon früh mit Fischerles Buckel in Verbindung gebracht worden68, der ihn wie der Platz unter dem Bett zugleich schützt und entwürdigt. Dieser Buckel, eine spiegelverkehrte Entsprechung zu Sancho Pansas Bauch69, hängt an seinem Rücken wie die zusätzliche Silbe an seinem Namen. Von beidem möchte Fischerle sich frei machen. Wieder zuerst in seinen Träumen stellt er sich das Leben ohne Buckel vor.70 Einmal amputiert ein Chirurg den Buckel (I, S. 212), ein andermal zeigen die Zeitungen ein retuschiertes Bild ohne Buckel (I, S. 215). Jenseits dieser Wunschträume, in der Realität, setzt Fischerle auf eine andere und doch analoge Strategie. Er kauft sich von Kiens Geld einen Anzug, der so geschickt geschnitten ist, dass sein Buckel verschwindet. In den Augen des Schneiders, der dem Chirurgen aus dem Traum ähnelt, ist er nun ein »wohlgeratene[r] Zwerg[]« (I, S. 393). Dass Fischerle in seinem Traum den abgeschnittenen Buckel verbrannt sehen möchte (I, S. 212), weist dabei auf das Ende des Romans voraus. Während für Kien die Vereinigung mit den Büchern eine Erlösung ist, ist es für Fischerle die Trennung von seinem Buckel. Wie David Roberts zu Recht festgestellt hat, ist der Buckel nichts weniger als der »Schlüssel zu dieser grotesken Gestalt«71. In den Augen der anderen Romanfiguren ist Fischerles Buckel weit mehr als ein Anhängsel, das man wegoperieren, retuschieren oder verhüllen kann. Für sie besteht der Zwerg ganz aus diesem Buckel. Seine Identität ballt sich auch unter dieser Perspektive gleichsam im Affix zusammen. Wie bei Kien, Therese und Pfaff (Kopf, Rock, Faust) bildet Fischerles Körper keine harmonische Ein-

|| 67 Auch darin widerspreche ich Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 112, für die Fischerle »keine Figur im Sinne Canettis« ist. 68 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 130 (im Anschluss an W.E. Stewart). 69 Vgl. Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 19. 70 Fischerles Verkrüppelung ist nach Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 60 das Korrelat zu Kiens schadhaften Manuskripten. Seine Träume entsprechen insofern Kiens Konjekturen. Sie zielen auf die Herstellung eines perfekten Körpers ab. Sänger weist auch darauf hin, dass Fischerle seinen Ruhm im »Idealen Himmel« der Ausbesserung fehlerhafter Schachpartien verdankt (Vgl. ebd., S. 80). 71 Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 58.

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heit nach dem Muster von Leonardos homo vitruvianus: Er ist aus dem Lot geraten, ein einziger Teil beherrscht die übrigen: den Kopf, die Beine, die Arme72 – eine groteske Dominanz, die Peter Jansen »metonymische Komik« genannt hat73. Bereits im »Idealen Himmel« taucht neben Kien nicht Fischerle, ein Mensch, sondern ein »ungeheurer Buckel« auf und beginnt zu sprechen (I, S. 189). Auch vor dem Theresianum starren die Leute zunächst auf Fischerles Buckel, ehe sie auf seine Worte zu achten beginnen. Sie tun es aus Mitleid, weil der Buckel »von Natur noch mehr im Nachteil war als sie« (I, S. 231). Später allerdings werden sie sich zu einer Hetzmasse zusammenschließen und Fischerle verprügeln (I, S. 356).74 Diese Masse hat ein gemeinsames Feindbild, das ihr Richtung gibt: »Krüppel gehören ausgerottet. Alle Verbrecher sind Krüppel. Nein, alle Krüppel Verbrecher.« (I, S. 358) Noch die Männer im »Pavian«, die Fischerle bei den Vorbereitungen zu seiner Flucht unterstützen, haben alle dasselbe Vorurteil: »Krüppel und schlechter Leumund ist dasselbe.« (I, S. 375) Die Figuren des Romans erheben sich über Fischerle deshalb mehr noch wegen seines Buckels als wegen seines Zwergenwuchses. Der Beamte, bei dem Fischerle das Telegramm aufgeben will, weigert sich gar, ihn zu bedienen: »Der Krüppel macht ihm Mut.« (I, S. 368) Selbst die Fischerin fühlt sich durch den Buckel ermutigt, »[…] von dieser Seite flößte ihr Fischerle wohl Liebe, aber keinen Respekt ein.« (I, S. 244) Fischerles Tragik besteht darin, dass er auf seinen Buckel mit dem ablehnenden Blick der anderen schaut.75 Das wird bereits deutlich, als er Kien zum Fisch erniedrigt. Immer wenn er ruft: »I bin a Fischer«, klatscht er sich bei »i« mit Kiens Papier auf den Buckel. Auch für ihn hat sich die eigene Identität auf den Buckel verkürzt. Es ist deshalb mehr als nur eine perfide Verstellung, wenn er den abgeschnittenen Buckel im Traum durch eine Million zusammengerollter || 72 Nach Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 131 spiegelt sich in der physischen Einseitigkeit die Spezialisierung des Menschen. Vgl. auch Hennighaus: Tod und Verwandlung (wie Kapitel B5, Anm. 53), S. 62: Das pars pro toto sei ein »allgemeines Strukturprinzip der ›Blendung‹«. Nach Bachmann: Wahn und Wirklichkeit (wie Kapitel B6.1, Anm. 5), S. 271 ist die Metonymie in Canettis Roman »Ausdruck depersonalisierten Erlebens«, und zwar entweder als Depersonalisierung anderer (»Faust«) oder als eigene Depersonalisierung. Bei Fischerle ist beides der Fall. 73 Peter Jansen: Die Komik des Sprechens. Zur sprachlich-ästhetischen Erfahrung des Komischen am Beispiel von Canettis Roman Die Blendung. In: Sprache im technischen Zeitalter 76 (1980), S. 312–326, hier S. 314. 74 Canetti gebraucht in den Paralipomena zu Die Blendung für die Masse im bzw. vor dem Theresianum die Begriffe »Kampfring« bzw. »Sackmeute«, die er später aufgegeben hat. Vgl. ZB 57, November 1949. 75 Vgl. Barics: Jüdische Motive in Elias Canettis Roman Die Blendung (wie Anm. 14), S. 152.

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Banknoten ersetzt (I, S. 212f.).76 Fischerle sehnt sich nach einer neuen Identität, einer Identität, die sich zu einem nicht unbedeutenden Teil über Geld definiert; es ist ein ganz wesentliches Kompensationsmittel seiner Stigmata. Diese neue Identität ist so stark, dass sie nicht einmal die Anerkennung von außen braucht. Es genügt, dass Fischerle um seinen Reichtum weiß. Wie der reale Buckel hat der erträumte Geldbuckel eine Schutzfunktion: Er soll verhindern, dass man von Fischerles Reichtum erfährt und ihm das Geld wegnimmt. Außerhalb der Traumwelt manifestiert sich der Blick der anderen in Fischerles Selbsthass, der sich dadurch verrät, dass Fischerle den Buckel mit Papier schlägt. In der ersten Nacht als Diener Kiens tastet er den Buckel »gehässig« ab und schlägt ihn dann erneut (I, S. 220). Denn er macht ihn verantwortlich dafür, dass er Kien bestohlen hat und ihm am Morgen wohl die Verhaftung droht. Der Buckel wird so zu einem feindlichem Gegenüber: zum Symbol aller körperlichen und charakterlichen Defizite, die Fischerle von der Verwirklichung seines amerikanischen Traums abhalten.77 Der Buckel ist an allem schuld. Er soll nur wehtun. Er hat es verdient. Schlägt er ihn nicht, so muß er heulen. Heult er, so ist Amerika begraben. Genau in der Mitte zwischen Bett und Tür steht Fischerle festgewurzelt auf einem Fleck und geißelt den Buckel. Wie Peitschenstiele hebt er die Arme abwechselnd in die Höhe und schleudert fünf zweifach geknotete Riemen, seine Finger, über die Schultern hinweg auf den Buckel. Dieser hält still. (I, S. 220f.)

Die Szene erinnert an Thereses Gewaltexzess gegen Kien, der keinen Laut von sich gibt, während sie ihn verprügelt und einen »Krüppel« schimpft (I, S. 162). So wie Therese ihren Mann zum Hund degradiert, so stuft auch Fischerle seinen Buckel zum Tier herab. Er nennt ihn »Aas« und (wie Kien die Menschen) »Bestie«, schließlich »Feigling« und ebenfalls »Krüppel« (I, S. 221). Das entspricht seinem schon bekannten Schema der Selbsterhöhung.78 Im Traum ver|| 76 Canetti hat sich dabei von der Wirklichkeit inspirieren lassen, wie nachträglich eine Aufzeichnung vom 13. Dezember 1978 belegt (ZB 18): »›Der Bucklige auf Mallorca, der eines Hungertodes stirbt. Sein Buckel besteht aus Banknoten im Wert von 10 Millionen Lire.‹ Oktober 1929«. Vgl. dazu auch ZB 57, November 1949: »Fischerle und die Millionen im Buckel (sein amerikanisches Massen-Symbol).« 77 Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 193: Fischerles Buckel sei ein physisches Kennzeichen für das »Trauma vom Anderssein schlechthin«. 78 Man muss allerdings hinzufügen, dass Fischerle sich selbst gelegentlich dadurch erhöht, dass er seine schlechten Eigenschaften gerade auf die Schachmeister überträgt. Sie seien alle »mies« (I, S. 191). Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 49 weist darauf hin, dass Fischerle seine Verwachsenheit trotz seines Hasses vor anderen dennoch verteidigt.

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pflichtet Fischerle zuvor die Lokalbesitzer, denen er ein Stipendium geben will, alle seine Schachpartien als Plakate an die Wand zu hängen. »Sonst kommt auf einmal ein Schwindler, womöglich ein Zwerg oder ein anderer Krüppel daher und behauptet, er spielt besser.« (I, S. 217) Indem Fischerle die verhassten Eigenschaften auf ein fremdes, ihm bis aufs Haar gleichendes, allerdings imaginäres Gegenüber überträgt, versucht er, sich formal auf eine ähnliche Weise zu reinigen wie die Menschen im Alten Israel, die einen Bock mit ihren Sünden beluden und in die Wüste trieben. Der Buckel, der ihn für die Masse zum Sündenbock macht, erfüllt in seinem eigenen Gefühlshaushalt dieselbe Funktion. Es ist insofern verständlich, dass er sich von seinem Buckel zu befreien sucht, der mit ihm verwachsen, symbolisch Teil seines Namens und also noch nicht ganz Gegenüber ist. Am liebsten würde er ihn eigenhändig mit einem Messer abschneiden (I, S. 221). So wie der Buckel bereits bei seiner Geißelung »in den letzten Zügen« zu liegen scheint, so auch später, kurz bevor Fischerle den neuen Anzug kauft (I, S. 221 und 390). Die Formulierung enthüllt, was Fischerle im Sinn hat: Er will seinen Feind, den Buckel, überleben. Der Name Fischer, vom Affix befreit, ist der Name eines Überlebenden.

6.4.4 Siegfried Das Schlagen des Buckels korrespondiert ganz eindeutig mit dem Schlagen des Gegners beim Schach.79 Nicht von ungefähr meint Fischerle – unter origineller Modifikation einer geläufigen Redewendung: »Ein Mensch von meinem Schach ist nie verloren.« (I, S. 362) Die Ersetzung des Wortes »Schlag« durch »Schach« ist eine Selbstanprangerung. Sie offenbart zum einen, dass erst die Schachkunst den Krüppel Fischerle nach seiner eigenen Auffassung zu einem Menschen macht. Zum anderen offenbart sie aber auch, worin seine Besessenheit gründet. Das Schachspiel ist Fischerles bevorzugtes Mittel, um andere Menschen zu schlagen, nicht körperlich, sondern symbolisch. Eine erneute Selbstanprangerung verrät diesen Zusammenhang: Der träumende Fischerle vergleicht das Schachspiel mit dem Boxen und bekundet seine Erleichterung darüber, dass er sich »von klein auf« nicht fürs Boxen, sondern fürs Schachspiel interessiert habe: »Wär' er jetzt zum Beispiel Boxweltmeister, so müßte er sich halb nackt

|| 79 Vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 68. Kaum mehr als eine Paraphrase ist das Kapitel zu Die Blendung in Nikolaos Karatsioras: Das Harte und das Amorphe. Das Schachspiel als Konstruktions- und Imaginationsmodell literarischer Texte. Berlin: Frank & Timme 2011 (Literaturwissenschaft; 23) [zugl. Stuttgart, Univ.-Diss. 2010], S. 225–233.

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für die Zeitungen photographieren lassen. Alles würde lachen, und er hätt' nichts davon.« (I, S. 216) Dass Fischerle zuweilen gegen sich selbst spielt, unterstreicht den Kompensations- und Übertragungscharakter seiner Schachkunst. Die Aggressivität, die der eigenen Person gilt, wird selbst beim imaginären Spiel nach außen gerichtet – ein Vorgang, der der Auflösung der Befehlsstacheln entspricht.80 Das Wort »Schach« klingt in Fischerles Mund deshalb nicht zufällig wie ein Befehl (I, S. 192). Er, der von der Hetzmasse geschlagen wird und sich im Theresianum von einem »Hund« ohrfeigen lassen musste (I, S. 231), verlagert den Kampf auf das einzige Gebiet, das ihm – wie er seit den Triumphen über die Freier weiß – die zur Auflösung der Stacheln notwendige Inversion ermöglicht. Denn Fischerle ist davon überzeugt, dass er jeden, auch die »großen Meister«, schlagen werde (I, S. 193). Selbst dem Weltmeister »diktiert« er in seinem Traum unter dem Bett »stolz« die Züge, und auch der nächste Weltmeister »[…] findet keine besseren Züge als die von Fischerle befohlenen, nickt ergeben und wird trotzdem aufs Haupt geschlagen.« (I, S. 213) Im weiteren Verlauf dieses Traumes stellt Fischerle sich sogar vor, er spiele jeden Tag und jede Nacht »[…] dreißig Simultanpartien, mit lebenden Figuren, denen er zu kommandieren hat. Er braucht nur muh zu sagen, und seine Sklaven rücken dorthin, wo er sie haben will.« (I, S. 218) Das ist ein origineller Reflex seines Lebenswunsches: Während des Spiels fürchteten ihn seine Partner viel zu sehr, um ihn durch Einwürfe zu stören. Denn er rächte sich furchtbar und gab die Unbedachtheit ihrer Züge dem allgemeinen Gelächter preis. In den Pausen zwischen den Partien – sein halbes Leben verbrachte er am Brett – behandelte man ihn, wie es seiner Figur entsprach. Er hätte am liebsten ununterbrochen gespielt. (I, S. 192)

Wenigstens für eine bestimmte, wenn auch nicht allzu lange Zeit verkehrt sich beim Schachspiel Fischerles Welt wie im Traum. Der missgebildete Außenseiter wird zum bewunderten Lokalmeister, einem »verkannte[n] Schachgenie« (I, S. 195) – oder in der Sprache des Schachspiels ausgedrückt: zu einem König.81 Die Mädchen, ihm als Krüppel unerreichbar, tätscheln seinen Buckel und küs-

|| 80 In der Luxuskabine eines Bades gewinnt Fischerle eine »Blitzpartie« gegen sich selbst. »›Wenn Sie der Capablanca wären‹, schrie er sich heftig an, ›hätt' ich Sie schon sechsmal geschlagen, in derselben Zeit!‹« (I, S. 384) 81 Nach eigenem Geständnis ist Fischerle ein »schlechter Läufer« (I, S. 230). Im Kampf mit Kien ärgert er sich darüber, dass er durch eine unbedachte Bemerkung das »königliche Ganze« verloren hat, das er »in wenigen Tagen spielend verdient hätte« (I, S. 274). Kurz vor seinem Tod hält er den Aufbewahrungsschein für sein Gepäck dem Beamten mit »königlicher Gleichgültigkeit« hin (I, S. 393). Beide Stellen zusammen zeigen, dass seine Erhöhung zum König an ökonomischen Erfolg gebunden ist.

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sen seine Nase; selbst die schönen »Burschen« setzen sich mit all ihrer Stimmgewalt für ihn ein (I, S. 195). Fischerle hat nun, zeitlich und räumlich begrenzt, die Macht, nach der er sich sehnt. Während Kien auf dem Weg zum Theresianum gelegentlich die Arme ausstreckt, um zu prüfen, »ob die Fingerspitzen den Buckel noch erreichten« (I, S. 229), ist es beim Spiel Fischerle, der seinen Stuhl weit vom Tisch rückt, »so daß sein ausgestreckter Arm die Figuren gerade noch erreichte. Es war dies seine besondere Art, Verachtung auszudrücken« (I, S. 195). Fischerle, dessen lange Gibbon-Arme (I, S. 190) an den Gorilla erinnern, demonstriert damit ebenso sehr wie Kien, dass es ihm trotz seiner Distanz – der Distanz des Machthabers – stets möglich ist, die Figuren zu ergreifen und sich einzuverleiben. »Er muß die Figuren greifen können, damit ihm das Spiel Freude macht.« (I, S. 220) Zudem nutzt Fischerle sein Brett als Schachtel für die Figuren (I, S. 255) – eine Analogie zu den gefangenen Buchstaben in Kiens Büchern – und bezeichnet seine aggressive Spielweise als »Freßschach« (I, S. 384). Da Fischerle in den Pausen aber auf seinen Paria-Status zurückfällt und wieder von den alten Selbstzweifeln geplagt wird82, besteht sein Ziel in der Perpetuierung des Spiels. Die Verkehrung der Verkehrung soll unmöglich, das Leben zu einem einzigen Schachspiel, einer ununterbrochenen »Triumphkette« (I, S. 192) werden – umso mehr, als Fischerles Frau bisher dafür gesorgt hat, dass seine »Turniertriumphe« nur alle paar Monate stattfinden (I, S. 195). Fischerle, der in den Pausen selbst zu einer Figur wird, den Händen der anderen preisgegeben, behandelt die Menschen deshalb bald wie Gegner und Figuren zugleich; Spiel und Leben vermischen sich.83 In Anbetracht der Invektiven seiner Frau, die sich von ihm verleumdet fühlt, gibt er sein »Spiel« zum Schein verloren, nur um Kien dann mit einer weiteren Lüge über sie zu täuschen – sein nächster Schachzug (I, S. 200). Auch der Kampf um dessen Geld ist für ihn ein Spiel unter seiner Regie: »›Kanaille!‹ dachte sich Fischerle, ›du [Kien – A.S.] spielst gut, aber ich werd' noch besser spielen.‹« (I, S. 237) Es dauert nur bis zum Disput über das

|| 82 Vgl. I, S. 195: »Er lebte immer in Höllenängsten, jemand könnte nach einer Partie verlangen. Von seiner Bedeutung war er selbst durchaus nicht überzeugt. Die wirklichen Züge, die er unterschlug, gaben seinem gescheiten Kopf bitter zu denken. Drum haßte er die Weltmeister wie die Pest.« 83 Eine solche Vermischung ereignet sich auch im Hotelzimmer, in dem Fischerle aus imaginären Büchern Türme baut. Sie dürfen allerdings nicht zu groß sein, vor allem nicht größer als er selbst, dürfen ihm nur bis zur Nasenspitze reichen (I, S. 210). Die Szene lässt sich als eine Anspielung auf den Turmbau zu Babel lesen. Fischerle erfüllt dabei eine Doppelrolle: Er repräsentiert die hochmütigen Menschen, die den Turm errichten (Bücher als Symbol des Wissens), und er rückt zugleich an die Stelle Gottes, der die Ambitionen der Menschen bremst und dafür Sorge trägt, dass der Turm nicht bis zu ihm oder sogar über ihn hinaus wächst.

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Wort »Krüppel«, dann glaubt er ihn »geschlagen«. Doch Kien springt auf: »Er ist unbesiegbar.« (I, S. 268) Fischerle muss deshalb weiter Theater spielen, obwohl ihm selbst die schlechteste Schachpartie lieber wäre (I, S. 271). An dieser Stelle verbinden sich Schach- und Theatermetaphorik. Fischerle rückt an Georges' Seite, wobei seine Schauspielerei von Anfang an der Machtgewinnung dient. Auch seine Angestellten, die er zu bestimmen sucht wie Ernst Fischer die Menschen in seiner Umgebung, fungieren als Gegner und Figuren.84 Der Hausierer erscheint ihm nach dem eigenen Wutausbruch als »der Geschlagene« (I, S. 282). Später kommt es ihm komisch vor, dass er, der Schachweltmeister, überhaupt mit solchen Leuten spricht (I, S. 364). Die Fischerin schließlich opfert sich – wenn auch unfreiwillig – wie im Schachspiel der Bauer für den König. Sie rettet Fischerle vor der Hetzmasse und geht dabei zugrunde. Die erträumte Glückseligkeit, das unumkehrbare Einssein mit sich selbst, kann Fischerle nur erreichen, indem er siegt und siegt und schließlich unbesiegbar wird. Als die Männer im »Pavian« zu einer Schlagermelodie singen, wovon sie besessen sind, krächzt Fischerle: »›Schachmatt, Schachmatt‹« (I, S. 377). Von dieser Obsession zeugt auch sein Vorname. Fischerle ist ein literarischer Nachfahre von Thomas Manns kleinem Herrn Friedemann. Beide sind körperlich stigmatisiert, den Blicken der Menschen preisgegeben, und beide suchen nach persönlichem Frieden.85 Doch Fischerle träumt nicht wie Friedemann von einem epikuräischen Rückzug aus der Welt in eine abgeschiedene Gartenidylle, sondern im Gegenteil von weltweitem Ruhm. Seiner Vorstellung nach muss er dafür vor allem den amtierenden Schachweltmeister Capablanca besiegen. Die Farbe »weiß« in dessen Namen weist ihn auch symbolisch als Gegner des schwarzäugigen Zwerges aus.86 Wie alle Schachweltmeister verfolgt || 84 Der Hausierer erinnert in seinen Bewegungen an einen Springer: »Am frühen Nachmittag […] stolperte er im Zickzack von links zur dritten Bankreihe rechts und von rechts zur dritten Bankreihe links.« (I, S. 260) 85 Vgl. Göbel: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 153), S. 71. An seinem dreißigsten Geburtstag scheint Friedemann diesen Frieden gefunden zu haben. Er sitzt, mit sich selbst zufrieden, an einer Zigarre rauchend, in einem grauen Gartenzelt und schaut in die Zukunft. »Sie [die Jahre – A.S.] werden still und geräuschlos daherkommen und vorüberziehen, wie die verflossenen, und ich erwarte sie mit Seelenfrieden.« Zitiert nach Mann: Der kleine Herr Friedemann (wie Kapitel B4, Anm. 56), S. 94. 86 Capablanca war von 1921 bis 1927 ununterbrochen Weltmeister. Zur Entstehungszeit des Romans jedoch hatte er seinen Titel verloren. Vgl. Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 64, Anm. 1. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 91 deutet diese seltsame Namengebung so: »Indem sich Canetti trotzdem für Capablanca als von Fischerle gewünschten Gegner entscheidet und seine Figur so den aktuellen Schachweltmeister ignorieren läßt, vermag er nicht nur die Ungebildetheit Fischerles und dessen mangelnde Kenntnis

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Fischerle ihn mit einer »Art von Tollwut« (I, S. 194) – ein Paria-Hund, der wie Kien in Gestalt des Fleischerhundes die Verhältnisse verkehren und die Macht an sich reißen will. Schon im Traum unter dem Bett macht Fischerle Capablanca wie eine Sache »kaputt« (I, S. 217 und 219; vgl. auch S. 214). Kurz vor seiner Abreise hofft er, er werde Capablanca in zwei Monaten »im Sack« haben, »vernichtet und kaputt wie den letzten Hund« (I, S. 367). Oder beim Baden: »Eins, zwei, und Sie sind kaputt.« (I, S. 384) Schließlich, im letzten Traum vor seinem Tod, sieht Fischerle, wie Capablanca von der »wütenden Menge« zerrissen wird (I, S. 396) – ein besonders grausamer Mord, bei dem die Menschen zu wilden Tieren regredieren. Fischerles Träume, die hier an Kiens brutale Muschelphantasie erinnern, entwerten Capablanca zu einem Ding.87 Einmal mehr verschwindet dabei die Grenze zwischen Spiel und Leben. Sieg heißt für Fischerle Vernichtung; nach Kiens Eindruck scheint Fischerles »Matt« sogar tödlich (I, S. 192). Seine Privatträume verraten trotz des raschen Wechsels der inneren Bilder immer denselben Wunsch: Fischerle will Sieger sein: ein Sieger, wie ihn Canetti in Masse und Macht beschreiben wird. Auch bei ihm sollen Sieg und Überleben zusammenfallen (III, S. 268).88 In seiner eigenen Vorstellung ist er gleichsam ein Feldherr, der, von Sieg zu Sieg eilend, alle Gegner »überlebt« und nicht umsonst seinen »stolzen Namen« trägt (III, S. 271).89 Das Schachspiel aber ist – der indischen Wortbedeutung gemäß – sein Heer.90 Im Hinblick auf seinen Lebenswunsch scheint Fischerle zu Recht einen Vornamen zu tragen, der ihn an die Seite des größten germanischen Helden rückt. Der Siegfried des Nibelungenlieds ist ein kühner Krieger, der – wann immer er sich Alberichs Tarnkappe aufsetzt – zu seiner eigenen Muskelstärke

|| auch auf dessem behauptetem [sic] Spezialgebiet verstärkt herauszuheben, sondern vielmehr entzieht er der Wahrscheinlichkeit einer Durchführung des nur Erträumten [...] jeden Realitätshintergrund.« Nur wenig später behauptet Riedner ohne weitere Begründung, dass der Name Capablanca sich besser in das Ensemble der redenden Namen einreihe als der Name des damals aktuellen Weltmeisters Alexander Aljechin. Auf welche Weise der Name des Zwergs zu den Lesern redet, ist in der vorliegenden Studie herausgearbeitet worden. Hinzuzufügen ist der vorgeschlagenen Deutung, dass Canetti Fischerle durch die Farbe Weiß im Namen seines Gegners vielleicht auch als Geblendeten charakterisieren wollte. 87 Vgl. auch I, S. 289f., wo Fischerle den Hausbesorger, den er für einen Spitzel hält, mit dem kleinen Finger kaputt hauen will. 88 Fischerle stellt sich Capablanca denn auch als Greis vor: »Doch Capablanca war gebrochen, er sah aus wie ein alter Mann, sein Gesicht war voller Runzeln […].« (I, S. 380) 89 Im Traum unter dem Bett fragen die Reporter Fischerle nach demjenigen, »der den Capablanca im Siegeszug hingemacht hat«, ohne zu wissen, dass er es gewesen ist (I, S. 215). 90 Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 133.

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die Kraft von zwölf Männern hinzubekommt.91 Auch Brünnhilde, in Wagners Walküre die Namengeberin, glaubt, dass ein Knabe namens Siegfried »stark und schön« werde, ein Sieger.92 Äußerlich ist der bucklige Zwerg, der unentwegt siegen will, allerdings der Antipode des Helden; denn Siegfried wird im Nibelungenlied als »tapfer, sehr stark und hochgewachsen« beschrieben.93 Und er ist auch der Antipode des schönen Georges, des anderen »Ritters« in Canettis Roman. Die Spitze der stark gebogenen Nase lag in der Tiefe des Kinns. Der Mund war so klein wie der Mann, nur – er war nicht zu finden. Keine Stirn, keine Ohren, kein Hals, kein Rumpf – dieser Mensch bestand aus einem Buckel, einer mächtigen Nase und zwei schwarzen, ruhigen, traurigen Augen. (I, S. 189f.)

Fischerle ist nicht wie Siegfried die »Inkarnation des mythisch-heroischen Selbstbildes der Deutschen«94, kein blonder, blauäugiger und muskulöser Ritter. Er ist Jude – mit einem sichtbaren, sogar bis zur Karikatur überzeichneten jüdischen Körper.95 Vor allem seine stark gebogene, »ausschließliche« Nase (I,

|| 91 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2002 (RUB; 644), S. 107 (Str. 337). 92 Richard Wagner: Die Musikdramen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1978 (dtvbibliothek), S. 670 und 638. 93 Das Nibelungenlied (wie Anm. 91), S. 145 (Str. 464). 94 Vgl. Martin Bollacher: »Spaniole« und »deutscher Dichter« Elias Canettis Verhältnis zum Judentum. In: Arnold (Hg.): Elias Canetti 2005 (wie Einleitung, Anm. 8), S. 92–103, hier S. 99. Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 119 bezeichnet Siegfried als »[…] the quintessentially Germanic name from that quintessentially Germanic epic, Das Nibelungenlied.« Nach Krien: Namenphysiognomik (wie Kapitel A4, Anm. 16), S. 32 denken die Menschen bei Siegfried vor allem an den Drachenbezwinger, an Waffengeklirr und Heldengesang. Vgl. auch Bauer: Deutsche Namenkunde (wie Kapitel A1, Anm. 31), S. 169. Den Kontrast zwischen dem Namen des Helden Siegfried und der Figur des deformierten Zwerges erkennt auch Dina Bonu: Siegfried Fischerle in Autodafé di Elias Canetti. In: Il nome nel testo 11 (2009), S. 225–237, hier S. 231. 95 Zum jüdischen Körper vgl. Sander L. Gilman: Der jüdische Körper: Gedanken zum physischen Anderssein der Juden. In: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien: Picus 1995, S. 168–179, hier S. 168. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 100 führt die Darstellung auf den Populardarwinismus der damaligen Zeit mit seinen »klassen- und rassendiskriminierende[n] Auswirkungen« zurück. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 86f. sieht in Fischerle die Karikatur des ersten Weltmeisters Wilhelm Steinitz, der sowohl Jude als auch von

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S. 190), das vordere Korrelat seines Buckels, entspricht der Form, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts im Volk als jüdisch galt.96 Dass der Nase das Adjektiv »mächtig« zugeordnet ist, deutet bereits an, wie nah in dieser Figur des Umschlags Stigma und Kompensation, Außenseiter und Machthaber beisammen sind. Dieser Konnex lässt an das antisemitische Klischee von der Gier der Juden nach Weltherrschaft denken97, das durch Fischerles Größenphantasien weitere Nahrung erhält. Da aber auch die anderen Figuren nach quasi-göttlicher Macht streben, wird das Vorurteil zugleich destruiert.98 Fischerles schwarze Augen wiederum sind ein Relikt der jüdisch-negroiden Schwärze99, während die krächzende Stimme und die jiddisch gefärbte Sprache (mies, meschugge, Leutl'n) an das Klischee von der jüdisch-fremdartigen Redeweise erinnern.100 Aber auch Fischerles Eigenschaften: der ausgeprägte Geschäftssinn, der sich schon in seinem ersten Satz verrät: »›Wie gehn die Geschäfte?‹« (I, S. 190: verdeutschte Form des jiddischen »Tacheles reden«101), überhaupt sein betrügerisches Streben nach ökonomischem Erfolg102, das selbst vor Zuhälterei nicht zurück|| Geburt an verkrüppelt war. Steinitz, der das Schachspielen auf kommerzielle Art betrieb, siedelte 1862 nach England und 21 Jahre später in die USA über. 96 Vgl. dazu Sander Gilman: The Jewish Nose. Are Jews White? Or, The History of the Nose Job. In: Ders.: The Jew's Body. Chapman/Hall: Routledge 1991, S. 169–193. Vgl. auch Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 52; Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 113. Siehe dazu auch I, S. 256: »Vor Kirchen hatte er [Fischerle – A.S.] sonst Respekt und Scheu, weil seine Nase sehr auffällig war.« 97 Der Chefideologe des dritten Reiches, Alfred Rosenberg, sprach in Der Mythus des 20. Jahrhunderts vom »schmarotzerhaften Weltherrschafts-Traum der Juden«. Zit. nach Ernst Piper: »Die jüdische Weltverschwörung«. In: Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München, Zürich: Piper 1995, S. 127–135, hier S. 127. 98 Vgl. Sänger: Schrecken und Verwandlung (wie Einleitung, Anm. 96), S. 82, Anm. 124; Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 458. Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 118 weist darauf hin, dass Canetti die angeblich jüdischen Körpermerkmale durch ihre groteske Überzeichnung der Lächerlichkeit preisgibt. 99 Zu den Klischees über die Augen des typischen Juden vgl. Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien: Picus 1997, S. 208f. Jüdische Augen sollen angeblich einen harten und kalten Ausdruck haben, zugleich aber auch Kraftlosigkeit und Feigheit verraten. 100 Vgl. Bollacher: »Spaniole« und »deutscher Dichter« (wie Anm. 94), S. 99. Zum Stereotyp der befremdlichen jüdischen Sprechweise vgl. Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers (wie Anm. 99), S. 114. 101 Vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 50f. Riedner zeigt, dass das Stereotyp vom jüdischen Kupplertum im Roman konterkariert wird, da Fischerle von seiner Frau, der Prostituierten, ausgehalten wird (Vgl. ebd., S. 66). 102 Vgl. Bollacher: »Spaniole« und »deutscher Dichter« (wie Anm. 94), S. 99. Für Fischerle ist »Kapital« ein jüdisches Wort (I, S. 196). Nach Avraham Barkai: »Der Kapitalist«. In: Schoeps

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schreckt, machen ihn zu einem Sammelbecken klassischer und moderner antisemitischer Stereotype.103 Canettis kopflose Welt ist voll von antisemitischen Vorurteilen. Niemand scheint von ihnen frei. Der Jude ist für die Figuren der paradigmatische Ohnmächtige, über den sich jeder, selbst der Schwächste und Ärmste, erheben kann: Ziel und Negativfolie des allgegenwärtigen Machtstrebens par excellence. So kommt sich der Hausbesorger auf dem Weg zum Theresianum »[…] wie ein Schwächling vor und sagte manchmal, nächstens wird er noch ein Jud'.« (I, S. 312) Einige Freier halten Fischerle für einen »schäbigen Juden« und hoffen, ihn im Spiel mühelos besiegen zu können (I, S. 193). Selbst der schwindsüchtige Kellner im »Idealen Himmel«, Gegenbild des vitalen Machthabers, lässt sich von einem Juden wie Fischerle nichts befehlen (I, S. 243). Die Hetzmasse vor dem Theresianum ist noch radikaler, sie meint, Krüppel müssten ausgerottet werden und Fischerles »[…] Judennase gehöre abgehackt.« (I, S. 358) Sogar zu Hause findet Fischerle keine Ruhe: Die eigene Frau will ihn zum Christentum bekehren (I, S. 268). Auch Kien, der Büchermessias, hegt seiner Bildung zum Trotz Vorurteile gegen Juden, er hält sie für gefährlich. Erst als Fischerle vom Schach spricht, wird er für ihn »der harmloseste Jude von der Welt.« (I, S. 192)104 Es ist insofern kein Wunder, dass Fischerle zunächst die Wirkung des Wortes »jüdisch« auf ihn abwartet. »Die Welt wimmelt von Antisemiten. Ein Jude ist immer auf der Hut vor Todfeinden.« (I, S. 196) || und Schlör (Hg.): Antisemitismus (wie Anm. 97), S. 265–272, hier S. 265 gehört die »Identifizierung der Juden mit der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung« seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu den »Stereotypen des säkularisierten modernen Antisemitismus«. Vgl. dazu auch V, S. 351: »Fischerle ist eine sehr jüdische Figur, nämlich die des Erfolgs, und daß er knapp davor umkommt, rechtfertigt ihn, er wird zu seinem eigentlichen Opfer.« 103 Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 117: Fischerle als »a grotesque amalgam of almost every contemporaneous anti-Semitic stereotype«. Siehe dazu die Kritik von Bollacher: »Spaniole« und »deutscher Dichter« (wie Anm. 94), S. 98: »Denn indem Fischerle die ›gehässigen Gesinnungen der Zeit‹ in extremer Zuspitzung verkörpert, ließ und lässt er sich […] antisemitisch missbrauchen, und zwar um so mehr, als er sein Jüdischsein als soziales, ja körperliches Stigma erleidet, das ihn zum Krüppel und zum abstoßenden Paria degradiert.« Diese Kritik wiederholt Bollacher wörtlich in seinem Aufsatz: Elias Canettis Verhältnis zum Judentum. In: Hanuschek (Hg.): Der Zukunftsfette (wie Einleitung, Anm. 153), S. 161–178, hier S. 173. 104 Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 85f. erläutert, dass das Schachspiel bei den Juden einen Sonderstatus eingenommen habe, da das Spielverbot am Sabbat nicht für Schach gegolten habe. Nur das Schachspiel gebe dem Juden Fischerle die Möglichkeit, ohne Unterbrechung zu siegen. Riedner liegt hier m.E. ganz richtig, auch wenn an keiner Stelle des Romans gesagt wird, dass Fischerle die rituellen Vorschriften des Judentums beachtet.

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Der größte Judenfeind unter den Figuren des Romans ist indes Fischerle selbst.105 Er kennt nicht nur »schreckliche Geschichten von Juden, die unter den Trümmern krachender Kirchen begraben wurden, weil sie nicht hineingehörten«, sondern er zählt das Jude-Sein sogar zu den »Verbrechen […], die sich von selbst bestrafen.« (I, S. 268) Das Geld, das er sich in die Achselhöhle steckt, soll wohl nicht zuletzt seinen »foetor judaicus«106 überdecken, den angeblichen Pestgestank der Juden. Sein Selbsthass führt sowohl in Traum als auch Realität abermals zu einem Rollentausch. Fischerle identifiziert sich mit den Antisemiten so wie mit den Normalgewachsenen und projiziert ihre Vorurteile auf nichtjüdische Figuren. So beschimpft er Kien als »Saujud« (I, S. 273) und bezichtigt ihn der Feigheit (I, S. 237). Im Gegenzug führt er sich vor Augen, dass er keinesfalls so feige ist, wie es die Antisemiten den Juden seit dem Ersten Weltkrieg verstärkt nachsagten107: »[…] [I]ch bin nicht feig. Was glauben Sie, ich fürcht' mich vor einer Frau?« (I, S. 197) Das Schachspiel ist seine öffentlich inszenierte Mutprobe: »Ist einer feig, so wird er kein Weltmeister. Da soll einer sagen, die Juden sind feig.« (I, S. 215) In einem seiner letzten Träume fordert Fischerle den amtierenden Weltmeister Capablanca besonders kühn heraus: Er wirft dem ängstlich Zitternden, dem seiner Meinung nach wahren Feigling, seine Handschuhe vor die Füße (I, S. 380). In seinen Träumen assimiliert sich Fischerle also nicht nur an die fremde Welt, sondern er triumphiert über sie. Die Todesdrohung, unter der er als Jude von Anfang an steht, gibt er beim Spielen weiter: Statt seiner stirbt Capablanca. In beiden Fällen bleibt er aber antisemitischen Klischees verhaftet. Die Millionärin, die ihn in seinen Träumen heiratet, ist blond, groß und blauäugig, eine arische Idealfrau108, die Überbietung aller Frauen in seinem bisherigen Leben. Während die Mädchen Fischerle beim Schachspiel zwar auf die Nase geküsst, sich dann aber wieder den jungen Burschen zugewandt hatten, liebt sie lange Nasen (I, S. 397); das Stigma ist (wie ja auch die Position unter dem Bett) zum Vorzug geworden. Die erträumte Ehe mit dieser Kriemhild-Figur ist der ersehnte Abschluss eines langen Assimilationsprozesses. Da Fischerle sie wie eine Dienerin behandelt, markiert seine Ehe aber wiederum auch den Triumph über das Arische. Der Vorname repräsentiert diese beiden Kompensationsstrategien. Zum einen bekundeten die Juden ihren Willen

|| 105 Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 115. 106 Dazu Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers (wie Anm. 99), S. 24. 107 Vgl. dazu Volker Ulrich: »Drückeberger«. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg. In: Schoeps und Schlör (Hg.): Antisemitismus (wie Anm. 97), S. 210–217. 108 Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 114f.

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zur Assimilation traditionell, indem sie einen ihrer Söhne Siegfried nannten.109 Zum anderen ist es jedoch der Name eines Siegers, um 1900 vor allem im Adel beliebt110, der Name eines Mannes, der größer, mutiger und stärker ist als alle. In diesem Zusammenhang erhält der Buckel eine zusätzliche symbolische Funktion. Er repräsentiert nicht nur ganz allgemein Fischerles Außenseitertum, sondern sehr konkret die geballte Last der judenfeindlichen Vorurteile, von der Fischerle sich durch Assimilation befreien will – und dazu gehört auch der Buckel selbst.111 Denn Juden werden auf antisemtischen Karikaturen häufig als bucklige Zwerge dargestellt.112 Wenn Fischerle auf Fotos ohne Buckel gezeigt und das Namensaffix in den Zeitungen und auf dem Pass gestrichen sehen will, dann steckt dahinter also auch der Wunsch nach einer Loslösung vom Judentum als dem Grund seiner Stigmatisierung.113 Fischerle wird zu seinem eigenen Todfeind. Er macht den Buckel gleichsam zu seinem »Juden«, indem er ihm die Schuld an allem gibt (I, S. 220).114 So wie der pseudo-arische Vorzeigeheld Siegfried den Drachen, so will Fischerle den Buckel, das »Höckerreptil« (I, S. 208), die »Bestie«, mit einer scharfen Klinge tot stechen (I, S. 221). Wie Wagners

|| 109 Vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 41f.; Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 166; Bollacher: »Spaniole« und »deutscher Dichter« (wie Anm. 94), S. 99; ders.: Elias Canettis Verhältnis zum Judentum (wie Anm. 103), S. 174. Vgl. auch Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 128: »Fischerles Geschichte ist die jüdische Geschichte seit der Aufklärung: er träumt von einer endgültigen Verwandlung, einer ›Häutung‹, einem Statuswechsel, einer rettenden Metamorphose.« Mehrere historische Beispiele für diesen Willen zur Assimilation (Oskar Panizzas Operated Jew oder Walter Rathenaus Vorliebe für blonde Siegfried-Typen) bietet Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 119f. 110 Vgl. Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Kapitel B2, Anm. 61), S. 157. 111 Vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 77; Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 196; Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 97; Barics: Jüdische Motive in Elias Canettis Roman Die Blendung (wie Anm. 14), S. 159. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 82 sieht in dieser Deutung zu Recht eine Verengung. 112 Vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 82. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 193 nennt vor allem die berüchtigte »(Stürmer-)Karikatur vom gnomenhaften, häßlichen, körperlich defizitären Ghetto-Juden«. Eine Abbildung der bekannten Karikatur »Der kleine Cohn« zusammen mit einer kurzen Deutung findet sich bei Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 116f. 113 Nach Bollacher: »Spaniole« und »deutscher Dichter« (wie Anm. 94), S. 99 spricht aus der Diminutiv- und Derivativform des Familiennamens die »buchstäbliche Minderung des jüdischen Selbstbewusstseins«. 114 Vgl. Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 190.

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schwarzer und garstiger Alberich115 ist er indes zugleich Siegfrieds Gegner: ein Zwerg mit einer krächzenden Stimme116, gierig nach Geld, Macht und Ruhm.117 Und wie Alberichs Bruder Mime ist er klein, krumm und höckrig118, ein Betrüger, der Kien nicht weniger für seine hochfliegenden Pläne zu missbrauchen sucht als Mime seinen Ziehsohn Siegfried. Fischerles Schicksal besteht darin, dass er am Ende des zweiten Teils tatsächlich, wenn auch ungewollt, zu einer Art zweitem Siegfried wird.119 Wie sein Namensahn wird er im Augenblick seines vermeintlichen Triumphes ermordet, hier wie dort unter mittelbarer Beteiligung einer Frau, ein Opfer ihres Verrats. Und in beiden Fällen konzentriert sich der Mörder bei seiner Tat auf den Rücken. Fischerles Buckel entspricht symbolisch der verwundbaren Stelle zwischen Siegfrieds Schulterblättern und ist doch auch ihre Inversion. Während Siegfried nach seinem Bad im Blut des besiegten Drachen am ganzen Körper von einer Hornhaut geschützt ist, mit Ausnahme eben jener Stelle, auf die ein

|| 115 In Das Nibelungenlied (wie Anm. 91), S. 153 und 155 (Str. 493f. und 497) ist Alberich positiver gezeichnet. Er ist ein alter, grauer Mann, ein »wíldéz getwerc«, grimmig zwar, aber auch tapfer und stark. Von Siegfried besiegt, muss er schwören, ihm fortan als Knecht zu dienen. Auch Fischerle hat zu dienen, wenngleich nicht als Ergebnis einer Niederlage im Kampf gegen einen Stärkeren, sondern aus eigenem Entschluss: zur Vorbereitung seines späteren Sieges. 116 Vgl. I, S. 195, 197, 199, 203, 204, 231, 254, 265, 319, 376, 378, 388 und 391. Alberich hat bei Wagner eine Krötengestalt und eine krächzende Stimme. Vgl. Wagner: Die Musikdramen (wie Anm. 92), S. 530. Er strebt nach der »maßlose[n] Macht«, die ihm der aus dem Nibelungengold gefertigte Ring verleihen würde, und entsagt deshalb – so wie es Woglindes Prophezeiung verlangt – der Liebe (Vgl. ebd., S. 533). Auch Fischerle ist unfähig zur Liebe und kann eine Frau wegen seiner großen Nase nicht einmal küssen (I, S. 246). 117 Die knallgelben Schuhe, die sich Fischerle zu seinem neuen Anzug aussucht (I, S. 383), weisen farbsymbolisch auf diese Gier hin. Zugleich handelt es sich bei Gelb um die traditionelle Farbe zur Kennzeichnung der Juden. Die Schuhe verdeutlichen demnach, dass Fischerle trotz seiner Verkleidung nicht aus den Fußstapfen seiner Ahnen hinaus kann. 118 Wagner: Die Musikdramen (wie Anm. 92), S. 701. Auch Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 120–127 vergleicht Fischerle mit Mime. Fischerle sei Mime, der Siegfried sein wolle. Dass Fischerle den Namen Siegfried trage, sei eine der bittersten Ironien des Romans. Zum Gegensatz von Mime und Siegfried während des Erstens Weltkriegs vgl. Ernst Hanisch: Die politisch-ideologische Wirkung und »Verwendung« Wagners. In: RichardWagner-Handbuch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski. Stuttgart: Kröner 1986, S. 625–646, hier S. 639. Siegfried als »Symbol des Sieg-Friedens«, Mime als »Symbol des Undeutschen, der Feindmächte, nur vom egoistischen Nutzen und Vorteil geleitet«. 119 Ich widerspreche damit Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 41, die behauptet, nichts verbinde den buckligen Zwerg Fischerle mit dem »Urbild des arischen Blondsiegfrieds«.

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Lindenblatt gefallen war120, ist Fischerles Buckel hart, ein Stigma zwar, aber auch ein Schutz gegen seine Feinde. Der übrige Körper ist dagegen so schwach, dass der Blinde nur einmal zuzuschlagen braucht, um Fischerle zu »besiegen«. Mit einem Brotmesser schneidet er ihm dann den Buckel herunter, eine Transformation von Hagens Speerwurf. Diesen Buckel hüllt er in Fischerles zerfetzten Mantel und bespuckt ihn zum Zeichen seiner Verachtung (I, S. 398).121 Das ist eine erneute Verkehrung der Machtverhältnisse. Während Fischerle zuvor unter dem Bett hervorgekrochen war, sich herausfordernd und siegessicher vor den liegenden Freiern aufgebaut hatte, wird er nun mit Gewalt nach oben gezogen, wie ein Fisch tot geschlagen, wieder zu Boden geworfen und unter das dunkle Bett geschoben. Sein Zufluchtsort und Gefängnis wird zum Sarg und Grab122, aber auch – wenn man das Motiv des im Petroleum schwimmenden Kalenders richtig deutet123 – zum Mutterschoß, in den der Tote zurückkehrt. Der Blinde aber, der »oft und ernstlich« an Selbstmord gedacht hatte (I, S. 247), ein potentieller »Selbstmörder wegen Knöpfen« (I, S. 364)124, befreit sich mit diesem Verbrechen von seinem eigenen Selbsthass – kaum anders als Fischerle. Er projiziert diesen Hass auf ein Gegenüber und tötet es an seiner Statt. Während er sich, gesellschaftlich ein Ohnmächtiger, sein tägliches Brot hart verdienen muss, trennt er nun, zum Herrn über Leben und Tod erhoben, Fischerles Buckel mit einem Brotmesser vom Rest des Körpers ab. Das wiederkehrende Motiv des Brotes erweist den Mord als Umschlag, eine Abschüttelung der Befehlsstacheln. Zuvor zwingt der Blinde Fischerle, den Knopf zu schlucken, mit dem dieser sich über ihn lustig gemacht hatte. Der Zwerg wird dadurch wie einst, in den Jahren unter dem Bett, zu einem Hund, dem der Herr Befehle erteilt und zu fressen gibt

|| 120 Vgl. Das Nibelungenlied (wie Anm. 91), S. 275 (Str. 902). 121 Auf dieses Ende deutet die Stelle voraus, an der der Blinde droht, einen der »Halunken« umzubringen, die ihm einen Knopf statt einer Münze geben. Anschließend fuchtelt er mit seinem Arm an Fischerles Buckel herum (I, S. 247). 122 Vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 128. 123 Der im Petroleum schwimmende Kalender, in den Fischerle seinen neuen Namen und Wohnort einträgt, erinnert an einen Säugling im Fruchtwasser. Auch im letzten Kapitel, bei Kiens Selbstverbrennung, spielt Petroleum eine Rolle. Kien saugt den Petroleumgeruch der Zeitungen »gierig und angstvoll« ein und schließt aus dem Petroleumgeruch darauf, dass das Theresianum in Flammen stehe (I, S. 504 und 506). Auf die parallelen Motive bei Kiens und Fischerles Tod weist bereits Wiesehöfer: Zwischen Mythos und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 141 hin. 124 Vgl. dazu Fischerles Vorausdeutung im letzten Kapitel des zweiten Teils: »Die Knöpfe sind dein Unglück, paß auf, du bringst noch einen um!« (I, S. 363) Was Fischerle zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Die Knöpfe werden sein eigenes Unglück besiegeln und ihn das Leben kosten.

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(I, S. 398). Das ist sowohl eine Verkehrung des Freßschachs, durch das Fischerle sich seine Gegner einverleibt, als auch seines Machtverhältnisses gegenüber den Angestellten, die sich vertraglich verpflichte mussten, für eventuelle Schäden die volle Haftung zu ›fressen‹ (I, S. 244). Drittens aber ist der Mord an Fischerle die zynische Realisierung seiner Erlösungsphantasie, wie bei Kien ein Sieg in der Niederlage.125 Canetti kommentiert Fischerles Tod, der ihn so sehr betrübte, Jahre später wie folgt: Fischerle träumt davon, seinen Buckel loszuwerden. Der rasende Ehrgeiz nach der Schachweltmeisterschaft, der ihn beherrscht, dient diesem Ziel. Er erreicht es erst, nachdem er ermordet ist, der Buckel wird ihm abgeschnitten. Die Parallele zu gewissen Ereignissen unserer Zeit ist so offenkundig, dass sie von den meisten Lesern zwar als Grauen empfunden wird, aber nicht bewusst verstanden wird.126

Fischerles Ende lässt sich insofern als Kritik an einer kopflos gewordenen Welt voller Ressentiments und nicht weniger als Kritik an den Behauptungsversuchen angesichts dieser Ressentiments deuten. Das Streben nach Anpassung an die herrschende Mehrheit, ja der Versuch, diese Mehrheit auf ökonomischem und künstlerischem Gebiet zu überreffen, führt in den Untergang.127 Die Versöhnung der beiden Pole, die Fischerles Leben Dynamik verleihen, ist nicht auf dem Weg einer Assimilation zu erreichen, die die eigene (jüdische) Identität verleugnet. Fischerle stirbt zwar unter fremden Händen, aber auch als Opfer jenes Konfliktes zwischen Macht und Ohnmacht, von dem die Bestandteile seines Namens zeugen.

|| 125 Vgl. Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 167; Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 125), S. 69. 126 ZB 57, November 1949 (Hervorhebung im Original). 127 Vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 53: Der Roman zeige, dass die Anpassung des Anormalen an die »rationalistische Norm« ein tödlicher Akt sei.

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6.5 Therese Krumbholz 6.5.1 Figur der Inversion Als Kien sich eines Tages spontan und doch scheinbar wohlüberlegt entschließt, seine Haushälterin Therese zu heiraten, hätte ihr Vorname ihn eigentlich verunsichern müssen. Mehr noch: Er hätte ihn von seinem Vorhaben sogar abbringen müssen. Denn er passt nicht zu dem Bild, das er sich von Therese gemacht hat – eher ein verzerrtes Hirngespinst als ein wirklichkeitsnahes Porträt: »Sie hatte Erbarmen, nicht mit Menschen, da war es keine Kunst, sondern mit Büchern. Sie ließ die Schwachen und Bedrückten zu sich kommen. Des letzten, verlassenen, verlorenen Wesens auf Gottes Erdboden nahm sie sich an.« (I, S. 45) Weil Therese das schmutzigste Buch der Bibliothek mit weißen Handschuhen anfasst, es zu reinigen versucht und zum Lesen auf ein Kissen legt, erscheint sie Kien, der sich um sie acht Jahre lang nicht gekümmert hat, mit einem Mal als »Heilige«: eine Schutzmantelmadonna für seine Bücher. Der weltfremde Sinologe ist der einzige, der in Therese nicht nur eine Wirtschafterin, sondern Maria selbst, das Urbild aller Mütter, sieht.1 Er ist aber nicht der einzige, der sie für eine Mutter hält. Der kleine Chef des Möbelgeschäfts Groß & Mutter ist schon auf den ersten Blick davon überzeugt, dass es sich bei Therese um eine Mutter handelt. Im Unterschied zu Kien, der eher vor jungen Frauen (als potentiellen Sexualpartnerinnen) als vor Müttern zittert, fürchtet er sich deshalb jedoch vor ihr – nicht weniger als vor der eigenen Mutter oder vor seiner Frau, ebenfalls einer früheren Angestellten, die er mit der Mutter identifiziert hatte (I, S. 84).2 Denn die typische Mutter ist für ihn keine gehorsame Magd wie Maria, keine Dienerin ihres Herrn, sondern eine resolute Machthaberin wie die eigene Mutter. Typologisch ist auch Therese, die bei weitem zu alt ist, um noch Kinder zu bekommen, eine Antipodin Marias. Kurz nach der Trauung wird klar, dass sie geradezu eine »Anti-Mutter«3 ist: »›Kinder kommen zuletzt.‹« (I, S. 51).4 Mit diesem Satz, einem verkappten Imperativ und zugleich einem Be-

|| 1 Georg erscheint sie »über 50 alt, häßlich, beschränkt, gemein« (I, S. 460). Unter Berufung auf Blühers Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft meint Widdig: Männerbünde und Massen (wie Kapitel B6.2, Anm. 41), S. 190, Kien glaube in Therese den »reinen ›Penelopetyp‹« (Frau und Mutter) vor sich zu haben, eine »keusche Madonna«. 2 Auch Therese möchte in gewissem Sinn die Mutter ersetzen. Es ist eine ihrer imaginären »Hauptbedingungen«, dass das Möbelgeschäft künftig – statt »Groß & Mutter« – »Grob & Frau« heißen soll (I, S. 132). 3 Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 93. 4 Vgl. auch I, S. 114: »Bei mir gibt's keine Kinder, dafür bin ich da.«

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kenntnis, grenzt Therese sich von ihrer Mutter ab, die »alles für ihre Kinder« gegeben habe (I, S. 65); sie war mit vierundsiebzig Jahren, nach langer Krankheit, regelrecht »krepiert« (I, S. 65). Denn Therese hatte sie ihrer eigenen Erinnerung zufolge verhungern lassen, die endgültige Inversion eines seit Jahren schwer gestörten Mutter-Tochter-Verhältnisses. Während nämlich – nach Masse und Macht – die Leidenschaft der Mutter darin besteht, dem Kind zu essen zu geben (III, S. 259), verweigert Therese der hilflosen Mutter die Nahrung und kehrt das Machtverhältnis damit um – eine Umkehrung, zu der Herr Groß aus Furcht vor seiner Mutter und seiner mütterlichen Frau nicht in der Lage ist.5 Auch der junge Franz Metzger findet im Moment der Gefahr bei Therese keinen Schutz. Er klammert sich an ihren blauen Rock – ein täuschendes Marienattribut6 – und wird dennoch, mit Thereses Billigung, von Kien verprügelt (I, S. 55f.). Selbst den Büchern bietet der Rock keine (symbolische) Zuflucht. Therese verleibt sich die Bibliothek ihres Mannes vielmehr ein7, indem sie, in einem magischen Ritual, die Titel der Bücher nacheinander vorliest, sie sich durch kleine lautliche Veränderungen8 aneignet und dann auf einzelne Papierstreifen notiert. Dieses Inventar verstaut sie in der geheimen Tasche ihres Rocks; die Bücher gehören jetzt ihr (I, S. 127). Nach Kiens Vertreibung beginnt sie, diesen Besitz zu versetzen, und zwar im staatlichen Pfandleihhaus mit dem »passenden Namen« Theresianum (I, S. 223). Da die Wiener Pfandleihanstalten nicht Theresianum, sondern Dorotheum heißen9, verweist der Name auf sie – auch || 5 In Kiens späterer Wahnvorstellung wird Therese ihren Leib nicht wie die Mutter den Kindern zu Essen geben, sondern sie wird sich selbst Stück für Stück verzehren (I, S. 285f.). Auch Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 94f. nutzt Canettis Bemerkungen über die Mutter aus Masse und Macht zur Interpretation Thereses, geht dabei aber stellenweise zu weit. Dafür dass Therese von ihrem Stiefvater verprügelt worden sei (Vgl. ebd., S. 96), fehlt in Die Blendung z.B. ein eindeutiger Beleg. 6 Vgl. Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 131; Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 197. 7 Vgl. Mechthild Curtius: Kritik der Verdinglichung in Elias Canettis Roman Die Blendung. Eine sozialpsychologische Literaturanalyse. Bonn: Bouvier 1973 (Abhandlungen zur Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft; 142), S. 84. Vgl. auch I, S. 143: Therese klopft mit der Hand auf die »Bibliothek in der Rocktasche.« 8 Vgl. I, S. 121f.: »Je mehr Zeichen vorhanden waren, je öfter sie das Wort aussprach, um so eigentümlicher veränderte es sich in ihrem Mund. Weiche Konsonanten zu Anfang eines Namens, B, D oder G, wurden hart und härter. Sie hatte für alles Harte eine Vorliebe, es kostete sie Mühe, mit ihrem harten Bleistift das Zeitungspapier nicht zu zerreißen.« 9 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 53; Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 49; Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 33. Widdig: Männerbünde und Massen (wie Kapitel B6.2, Anm. 41), S. 192 ordnet Therese das Theresianum als »allegorischen Raum« zu.

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wenn die Anstalt des Romans nach einer anderen Figur benannt ist: einer »frommen und hausfraulichen Fürstin« (I, S. 223) mit sowohl marianischen als auch jesuanischen Zügen. Diese Fürstin, die an Maria Theresia (vgl. I, S. 224: »unsterbliche[] Kaiserin«) erinnert, lässt einmal im Jahr »Großes Erbarmen« walten und lädt die Bettler zu sich ein. Doch eine Schutzmandelmadonna ist auch sie nicht: »Den Bettlern wurde schon damals das Letzte genommen, was sie besaßen: jenes vielbeneidete Stück Liebe, das ihnen Christus vor rund zweitausend Jahren schenkte […].« (I, S. 223) Auch die spätere Anstalt, das »Fürstenherz« (Anspielung auf das unbefleckte Herz Mariä), ist nicht erbaut worden, um den Armen zu helfen, sie wie Maria unter dem Mantel der Mildtätigkeit zu schützen. Im Gegenteil: Sie beutet sie unter dem Deckmantel der Nächstenliebe aus. Die Leute werfen sich ihr zu Füßen und bringen wie zu alten Zeiten einen Zehnten dar, der aber nur so heißt. Denn für das Fürstenherz ist er ein Millionstel, für die Bettler das Ganze. Das Fürstenherz nimmt alles, es ist weitläufig und geräumig, enthält tausenderlei Kammern und ebensoviel Bedürfnisse. Den zitternden Bettlern wird huldvollst gestattet sich zu erheben, und sie erhalten ein kleines Gegengeschenk als Almosen, bares Geld. Darüber geraten sie aus dem Häuschen und aus dem Haus. Von der Sitte des Füßewaschens ist die Fürstin, seit sie nur noch in der Anstalt lebt, abgekommen. Dafür hat sich ein anderer Brauch eingebürgert. Für das Almosen zahlen die Bettler Zinsen. Die Letzten werden die Ersten sein, drum ist ihr Zinsfuß der Höchste. (I, S. 223)

Das Theresianum ist in diesem Abschnitt, der auch für Der Ohrenzeuge hätte geschrieben sein können, ein Symbol für die gesamte invertierte Welt des Romans. Das Heilige wird ganz selbstverständlich mit dem Profanen verknüpft, das Höchste mit dem Niedrigsten, so wie bei Fischerles Frau, der Prostituierten, die in ihrem Kabinett, ihrem Arbeitsplatz, ein Madonnenbild aufhängen möchte (I, S. 243).10 Von der allgegenwärtigen Inversion des christlichen Welt- und Menschenbildes besonders geprägt ist die Figur der Fürstin, die in der Nachfolge Jesu den Bettlern die Füße wäscht. Denn ihre Erniedrigung ist nur scheinbar: eine perfide Verstellung, die ihre absolutistische Macht nicht tangiert. Der »Titel einer Christin« wird, seines Sinns entkleidet, für sie zu einem Statussymbol, das sie jedes Jahr »frisch« erwirbt (I, S. 223); es ist ihre Art, sich vor aller Welt reinzuwaschen. Auch das abschließende Bibelzitat, ein Wort, mit dem Jesus auf die

|| 10 Man wird an dieser Stelle nicht zuletzt an die Sünderin Maria Magdalena denken. Auch Therese scheint ihr typologisch nahe (sofern man die irrige Vorstellung von Maria Magdalena als Frau Jesu zugrunde legt), da Kien meint, sie liebe ihn. Doch: »Christus wäre eher zu verführen gewesen als er.« (I, S. 130)

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Lohnfrage des Petrus antwortet (vgl. Mt 19,27-3011), ist durch den Kontext ins Gegenteil gewendet. Während Jesus den Jüngern für ihren Einsatz die Erhöhung bei der Welterneuerung in Aussicht stellt, geht es im Theresianum, ganz profan, um Geld. Das Reich Gottes, das die Verkehrung der weltlichen (Macht- und Sozial-)Verhältnisse herbeiführen wird, kommt in Canettis Roman nirgendwo zum Durchbruch, gleich wie viele Figuren sich mit dem Erlöser identifizieren. Denn die Verkehrung wird stets nur inszeniert und dabei, mehr oder weniger offensichtlich, erneut invertiert. Während Jesus in der Bergpredigt die Menschen auffordert, den Armen Geld zu leihen, ohne etwas zurückzuerwarten (Lk 6,35), bereichert sich die Fürstin und in ihrem Namen die Pfandleihanstalt, indem sie den Armen unter dem Deckmantel der Ethik des Gottesreiches Geld zum höchsten Zinssatz leiht. Wenn Therese sich den Namen mit der Fürstin12 und mit einer Pfandleihanstalt teilt, in der auch Bücher liegen, dann weist diese Parallele auf einen Wesenszug hin, für den Kien kein Auge hat: Sie, die er als Maria imaginiert, einen »geeignete[n] Mensch[en]« (I, S. 128) zur Versorgung seiner Bücher, ist erbarmungslos und habgierig13, eine Bücher- und Menschenfeindin ohne christliche Ideale14. Statt die kranke Mutter zu pflegen, verstößt sie gegen das fünfte Gebot und lässt sie sterben. Auch wenn sie durch ihren Namen dem katholischen Milieu zugeordnet ist15, repräsentiert sie in Wirklichkeit den Typus der teuflischen Hexe.16 Dass sie sich vor dem Bild des letzten Abendmahls mit der »weißen Taube« identifiziert, dem Symbol des Heiligen Geistes (I, S. 141f.), enthüllt, wie sehr auch sie geblendet ist. Sie ist nicht besser als die Fürstin, die die Fußwaschung vor dem Abendmahl nachspielt. Die Reinheit, die Maria und

|| 11 Canetti hat sich die Stelle in seinem Exemplar der Bibel (Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung D. Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem von dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss genehmigten Text, Berlin: Britische und Ausländische Bibelgesellschaft 1925) angestrichen. Vgl. CAN 05661. Zur Lohnfrage des Petrus siehe auch Mt 20,16; Mk 10,31; Lk 13,30. 12 Nach Thereses zweitem Besuch im Möbelgeschäft bildet sich auf Geheiß der Mutter des Herrn Groß eine »Ehrengasse«. Sie geht durch diese Masse »[w]ie eine Fürstin« (I, S. 302). 13 In Masse und Macht erwähnt Canetti die Maria-Theresien-Taler (III, S. 214). Vielleicht beruht die Verknüpfung von Kaiserin und Geld auf der Existenz dieser im Habsburgerreich lange verbreiteten Münze. So auch Widdig: Männerbünde und Massen (wie Kapitel B6.2, Anm. 41), S. 193, ohne Hinweis auf Masse und Macht. 14 Vgl. Thomson: Elias Canetti's Die Blendung and the Changing Image of Darkness (wie Kapitel B6.2, Anm. 93), S. 44; Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 130. 15 Vgl. Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 161. 16 Vgl. Curtius: Kritik der Verdinglichung (wie Anm. 7), S. 137; Bollacher: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 156), S. 244.

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der Taube eigen ist17, gehört zu ihren fixen Ideen (vgl. z.B. I, S. 154), nicht aber zu ihren Wesenszügen. Therese ist keineswegs die »anständige Frau«, für die sie sich hält (vgl. z.B. I, S. 34 und 105), und erst recht nicht jene unerreichbare Frau, zu der der Möbelverkäufer sie stilisiert (I, S. 82) – ein pervertierter Nachfolger der Minnesänger, nach dessen Gunst Therese, die »Maria-frouwe«18, sich verzehrt statt umgekehrt. Sie ist eine Figur der Inversion. Thereses Vorname deutet auf subtile Weise darauf hin, dass es sich bei diesen (bewussten oder unbewussten) Zuschreibungen um wirklichkeitsfremde Projektionen handelt. Denn in Wien, wo der Roman spielt und verfasst wurde, wird man bei Therese immer, wenn nicht zuerst, an Maria Theresia denken.19 Dass diese Assoziation nicht willkürlich ist, keine forcierte Deutung, bestätigen spätestens die Anspielungen auf die erste österreichische Kaiserin im Abschnitt über das Theresianum. Ebenso wie der Fürstin, dem pervertierten Abbild der Monarchin, fehlt Canettis Therese allerdings gerade der Name Maria. Diese Verkürzung hat einen dreifachen Sinn. Sie hängt erstens damit zusammen, dass es in Wien tatsächlich ein Theresianum gibt: ein nach der Kaiserin benanntes Gymnasium, gegründet zu ihren Lebzeiten.20 Diesen bereits etablierten Namen konnte Canetti benutzen, um seine Leser durch die neuen Implikationen zu einem Vergleich zwischen der Fürstin und der Kaiserin und schließlich auch Therese zu animieren. Zweitens weist die Verkürzung darauf hin, dass Therese mit Maria, anders als in Kiens Wunschphantasie, nicht viel gemein hat. Zwar wickelt sie Kien in ein Leintuch und nimmt ihn, gleich Maria im Stall zu Bethlehem (Lk 2,7), wie ein Kind zärtlich in die Arme.21 Doch sie erbarmt sich seiner

|| 17 Im Koran wird die Vorstellung vom trinitarischen Gott dafür kritisiert, dass neben den Schöpfer Jesus und Maria getreten seien. Maria besetzt in dieser Interpretation der Dreifaltigkeit also die Stelle des Heiligen Geistes. Vgl. Koran 5:116, zitiert nach: Der Koran. Aus dem Arabischen übersetzt von Max Henning. Einleitung und Anmerkungen von Annemarie Schimmel. Stuttgart: Reclam 2001 (RUB; 4206), S. 131. 18 Vgl. dazu Peter Kesting: Maria-Frouwe. Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide. München: Fink 1965 (Medium Aevum; 5), S. 130. Kesting erkennt »Ähnlichkeiten in der inneren Struktur von Minnesang und Marienverehrung«. Sie betreffen »Wesen, Eigenschaften und Stellung der frouwe, bzw. Marias« und das »Verhältnis von Bitte und Gewährung bei Ritter und frouwe, dem Gläubigen und Maria«. 19 Vgl. Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 65f. glaubt, Canetti habe während des Schreibens an die Statuengruppe um Maria Theresia vor dem Kunsthistorischen Museum gedacht. 20 Vgl. Janik und Toulmin: Wittgensteins Wien (wie Kapitel B2, Anm. 30), S. 47; Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 33, Anm. 138. 21 Da Therese Kien zunächst für tot hält, käme auch der Vergleich mit der Mater dolorosa in Betracht. Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 93.

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erst, nachdem sie ihn erniedrigt hat (I, S. 163). Drittens scheint die Verkürzung des Namens anzudeuten, dass Therese sich nicht (wie Maria22) zu den Dienstmägden rechnet. Denn Marie fungiert in Die Blendung wie später auch in Komödie der Eitelkeit als Dienstmädchenname (I, S. 8). Therese, die es durch Heirat von einer »gewöhnliche[n] Wirtschafterin« zur »Frau im Hause« bringt (I, S. 91 und 150), ist durch ihren Vornamen (und die Streichung Marias) demnach von Anfang an nicht den unteren Ständen zugeordnet (zu denen sie zuerst gehört), sondern den Machthabern. Obwohl sie der frommen und einflussreichen Kaiserin, einer liebevollen Gattin und Mutter von sechzehn Kindern, nicht sonderlich ähnlich ist23, teilt sie mit ihr und der fiktiven Fürstin doch vor allem eines: den Willen zur Macht. Diese Macht ist – wie ihr Umgang mit der eigenen Mutter zeigt, der den Kindsmord von Schnitzlers Therese verkehrt24 – mehr als eine idée fixe. Therese hat reale Macht über Leben und Tod – und nutzt sie, auch in ihrer Ehe. Wie der Mutter gibt sie Kien bald nichts mehr zu essen, eine abermalige Umkehrung der Machtverhältnisse, diesmal aus Zorn über dessen geringes Kapital (I, S. 154). Doch auch Sancho Pansas Frau, eine Bäuerin, heißt Therese.25 Dadurch rückt die einzige weibliche Hauptfigur des Romans an die Seite Siegfried Fischerles, mit dem sie neben der Statur auch den Wunsch nach »Kapital« gemeinsam hat26.

|| 22 Im »Magnificat« preist Maria Gott, den Mächtigen, dafür, dass er niedergeschaut habe auf die »Niedrigkeit seiner Magd« (LK, 1,48). 23 Vgl. Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 107. 24 Nach Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 67 bringt ein Vergleich zwischen Schnitzlers und Canettis Therese ans Licht, dass der Erzähler der Blendung deutlich weniger Sympathien für die Figur habe, da in Schnitzlers Roman Thereses Perspektive die Erzählung dominiere. 25 Vgl. Cervantes: Don Quixote (wie Kapitel B4, Anm. 63), S. 311. Für die Frau des Sancho Pansa ist Therese ein »reiner und sauberer Name, ohne Anhängsel, ohne Kanten und Tressen von Dohnen und Doñen« (Ebd., S. 312). Siehe auch Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 22. Bischof hält Therese für einen »literarisch interessanten Zwitter« aus Dulcinea und Sancho Pansa. In Anbetracht der Verweise auf das Werk Rousseaus im dritten Teil des Romans wäre es möglich, dass Canetti bei der Namengebung auch an Thérèse Levasseur gedacht hat. Wie die Therese der Blendung war sie eine einfache Dienstmagd: ungebildet, sprachlich eingeschränkt, nahezu Analphabetin. Dennoch konnte sie das Herz ihres Arbeitgebers gewinnen, eines Intellektuellen. Mehr als zwei Jahrzehnte lebte sie mit Rousseau zusammen, ehe sie 1768 seine Ehefrau wurde. 26 Vgl. dazu Fischerles Kommentar zu Therese: »An ihre Verrücktheit glaubte er nicht, alle Einzelheiten, die Kien von ihr erzählte, waren total in Ordnung. Daß dieser schwache, magere Mensch jemanden eingesperrt hatte, noch dazu eine so tüchtige Frau, kam ihm unmöglich und komisch vor.« (I, S. 287) Auch Therese erkennt, dass Fischerle, der Kiens Geld vom Boden aufsammelt, und sie sich ähnlich sind: »Die Absicht des Zwergs ist ihr so vertraut, als hätte sie

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Wer also ist Therese, die ursprünglich Hermine hieß27, unter onomastischer Perspektive betrachtet? Eine gewissenlose Machthaberin? Eine existentielle Außenseiterin?28 Eine scheinreligiöse Fanatikerin wie Therese Kreiss in Komödie der Eitelkeit? Eine Ohnmächtige, die auf Kosten ihrer Mutter und ihres Mannes den »Fuß aus dem Dreck«29 zieht und in der Sozialhierarchie nach oben steigt? Oder eine Machthaberin in der Maske der Ohnmächtigen, eine sich heimtückisch verstellende und dann plötzlich zupackende Tochter wie Christa und Mariechen in Hochzeit? Oder ist auch sie, geschaffen aus dem »Geist der Züs Bünzlin« (X, S. 105), als Doppelfigur zwischen Macht und Ohnmacht angelegt? Verändert sich Therese, die Figur der Inversion, wie die bäuerliche und zunächst anspruchslose Therese Pansa, die sich nach der Kunde von der Statthalterschaft ihres Mannes wie eine künftige Gräfin fühlt und doch eine Dienernatur bleibt? Diese Fragen lassen sich beantworten, indem wir noch genauer untersuchen, was der Name Therese in Die Blendung zu bedeuten hat. Dabei ist zu fragen, ob der katholische Name mehr ist als eine Maske, hinter der sich Thereses Natur verbirgt. Diese Frage stellt sich auch Kien. Nachdem Fischerle ihm suggeriert hat, seine eigene Frau gleiche Therese, fragt er, als handele es sich um einen Typennamen30: »Heißt ihre Frau Therese?« Dann jedoch stellt er fest: »Der Name stimmte nicht, aber sonst stimmte alles.« (I, S. 277)

|| ihn von Geburt auf gekannt. Sie sieht sich selbst auf der Suche nach dem Bankbuch […].« (I, S. 316) Canetti selbst nennt Therese eine »ganz dumme Betrügerin« (X, S. 208). 27 Vgl. ZB 2, Ende Dezember 1930. Ob Canetti bei der Namengebung an Hermine Herder dachte, ist nicht ganz klar. In Die gerettete Zunge erzählt er, dass sie, die sich Fräulein Mina nennen ließ, ihm einmal anvertraut habe, sie sei eine Vestalin und habe wegen ihrer Malerei nicht geheiratet (VII, S. 226). Therese, mit ihren 56 Jahren neun Jahre jünger als Hermine Herder, ist zunächst zwar ebenfalls Jungfrau, aber sie heiratet, ist zudem von Sex besessen und kann mit Kunst nichts anfangen. Wie Hermine Herder trägt sie indessen einen Rock, »der bis zum Boden reichte« (VII, S. 225) und hält andere Menschen, wenn auch nicht aus demselben Grund, für gewöhnlich. Da es sich bei Hermine um die weibliche Form des Namens Hermann handelt [Vgl. Mackensen: Das große Buch der Vornamen (wie Kapitel B2, Anm. 6), S. 261], wäre es denkbar, dass Canetti Kiens Haushälterin über diesen Namen auf Fischerle beziehen wollte, den er u.a. nach dem zwergwüchsigen Karl Hermann (Franz Sieghart) gestaltet hat, einem seiner Kommilitonen aus dem Chemischen Laboratorium. Vgl. ZB 59, 7. November 1978 und 6. Januar 1979. Für diese These spricht, dass Canetti die Inhaltsangabe, in der Therese Hermine heißt, ausgerechnet in dem Monat zu Papier gebracht hat, in dem er die Figur des Zwergs zu entwickeln begann. 28 Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 45. 29 Cervantes: Don Quixote (wie Kapitel B4, Anm. 63), S. 312. 30 Auch Canetti versteht Therese später als Typenname. Vgl. ZB 11, 27. Mai 1950: »Therese als reiche Frau am Nebentisch.« Siehe auch ZB 18, 30. November 1977: »Therese, jung, im Kaffeehaus.«

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6.5.2 Therese Der Name Therese lässt sich – wie im Kapitel zu Komödie der Eitelkeit bereits erläutert – (etymologisch falsch) auf »ther« zurückführen, das griechische Wort für Tier. Er könnte demnach entweder einen tierischen Menschen bezeichnen oder einen Jäger.31 Eine unveröffentlichte Notiz vom 8. Juli 1929 bestätigt, wenn auch noch ganz allgemein, dass Canetti Therese als einen tierischen Menschen entworfen hat: »Leicht abstehende Ohren unterstreichen bei Menschen mit kleinen Köpfen und kurzgeschorenem Haar den Eindruck des Tierähnlichen. (›Lauscher‹ drängt sich einem auf).«32 Zwar sind Thereses Haare nicht kurz geschoren, aber die Ohren sind dennoch sichtbar: Sie sind breit, flach und vor allem – abstehend (I, S. 23). Therese reiht sich damit in das Ensemble der TierMenschen ein, das von Kien angeführt wird. Auch an einer anderen Stelle des Romans wird Therese andeutungsweise als tierische – und das heißt in diesem Zusammenhang: sexuell triebhafte Figur apostrophiert.33 Als sie in der ›Hochzeitsnacht‹ im »blendend weißen Unterrock« das Arbeitszimmer betritt, glaubt Kien zu wissen, dass sie bereits Erfahrung in der Liebe gesammelt habe. »Sie war in Stellung. Bei einem Ehepaar. Hat alles mit angesehen. Wie die Tiere.« (I, S. 59) Doch er täuscht sich: Trotz gelegentlicher erotischer Abenteuer ist Therese mit ihren 56 Jahren Jungfrau. Diese sexuelle »Reinheit« empfindet sie hingegen nicht als Auszeichnung wie die Kirchenväter bei Maria, sondern als Erniedrigung. Da sie ihre Weiblichkeit nur als sexuelle Attraktivität zu denken, sich nur unter den begehrenden Blicken der Männer überhaupt als Frau zu fühlen vermag, sehnt sie sich nach Geschlechtsverkehr (vgl. I, S. 354). Diese Sehnsucht ist das Ergebnis einer inneren Zerrissenheit. Therese, dick und hässlich wie die Nacht, eine »alte Schachtel« (I,

|| 31 Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 35 führt den Namen auf »thärao« zurück und sieht deshalb in Therese eine Jägerin. Vgl. dazu auch Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 173. 32 ZB 2. 33 Therese ist in der Forschung als Entsprechung zu Weiningers Prinzip W [Vgl. Liebrand: Jahrhundertproblem in Jahrhundertroman (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 34] und als Verkörperung »sämtliche[r] Kriterien des Weiningerschen Dirnentypus« [Pöder: Spurensicherung (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 59] bezeichnet worden. Da Canetti bestreitet, Weiningers Buch rezipiert zu haben, sind diese Thesen problematisch. Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 66 versteht Therese demgegenüber u.a. als Karikatur des »süßen Mädels«.

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S. 135), hält sich selbst für jung34 und anziehend, sogar für die Schönste. Aber sie braucht die objektive Bestätigung dieser Schönheit: den Mann, der sie aus vielen Frauen erwählt und mit ihr ins Bett steigt. Da sie sich für eine sittsame Frau erachtet35, ist die Erfüllung dieser Sehnsucht in ihrer Traumwelt wenigstens zunächst an die Ehe gekoppelt.36 Therese will zu einem Tier werden, aber innerhalb der bürgerlichen Tugendordnung. Auch das ist eine fixe Idee, die ihr Name zu erkennen gibt. Seitdem sie verheiratet ist, wartet Therese wegen dieser fixen Idee jede Nacht auf das »große Ereignis«, schläft kaum noch und hat für den Fall der Fälle einen spitzenbesetzten Unterrock bereitgelegt. Als Kien einmal an ihre Tür klopft, aber nicht hereinkommen möchte (I, S. 64), ist sie enttäuscht und bestreitet seine Männlichkeit. Sie will gerade keine Josefs-Ehe führen, sondern giert nach sexueller Ekstase, typologisch ausgedrückt: nach einem Leben als Eva. Selbst als sie den asexuellen Kien längst verachtet und von einem Seitensprung träumt, lässt sie es sich gefallen, dass er sich – aufgrund eines Irrtums – zu ihr legt, und hofft, er werde mit ihr schlafen (I, S. 161). Doch Therese bleibt Jungfrau. Dabei hatte der Möbelverkäufer sie zuvor über die Bedeutung des Bettes für das Eheleben aufgeklärt, sie durch seine Lobrede auf die Hüften der Frau »verhext«37 und zu einem verzückten Zittern gebracht (I, S. 82). Seine schlüpfrig-bezirzenden Anspielungen auf den Sexualakt bewirken, dass sie den Ehemann, von dem er spricht, in ihrer Imagination durch ihn ersetzt: Das Eheglück geht nicht bloß durch den Magen, das Eheglück geht durch die Möbel, ganz eminent durch das Schlafzimmer, aber ich möchte sagen prominent durch die Betten, durch die Ehebetten sozusagen. Verstehn sie mich, liebe Gnädigste, der Herr Gemahl ist auch nur ein Mensch. Er kann die schönste Gnädigste besitzen, die Gnädigste in den blühendsten Jahren, was hat er davon, wenn er schlecht schläft? […] Schläft er gut, no, dann rückt er auch gern näher. (I, S. 82f.)

Während dieses Monologs rückt nun allerdings Therese näher an den Möbelverkäufer heran, ähnlich wie vor der Heirat an Kien« […] nur um ihm den Gefallen zu tun.« (I, S. 83; vgl. I, S. 37) Diese Bemerkung ist wichtig; denn das Substantiv taucht gerade dort wieder auf, wo der Blinde überlegt, ob er mit der Fischerin

|| 34 In ihrer Wahnvorstellung hält sich Therese für 30, es ist ihr Sehnsuchtsalter, in dem sie zu voller Weiblichkeit erblüht ist. Auch dabei handelt es sich um eine Verkehrung. Denn ihre Mutter war mit 30 Jahren schon krank (I, S. 104). 35 Vgl. I, S. 66: »Ich bin eine anständige Person und hab' mit keinem Menschen noch was gehabt.« Vgl. dazu auch I, S. 36, wo Therese das unsittliche Verhalten der Jugend kritisiert. 36 Nur deshalb spricht Therese von ihrer »Jungfernehre« und hält sich selbst für eine »ehrbare Frau« (I, S. 66 und 25). 37 Pfaff wiederum glaubt während des Verhörs, Therese habe Kien »verhext« (I, S. 335).

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schlafen soll: »Vielleicht tat er der Alten einmal den Gefallen.« (I, S. 252) Beide Parallelen verdeutlichen, dass es sich hier (wenn auch nur aus Thereses Perspektive) um einen sublimierten Sexualakt handelt. Zu einer Wiederholung dieses Aktes kommt es später, im Schlafzimmer vor dem Spiegel, ohne dass der Möbelverkäufer aber zugegen wäre: »Therese berührt ihre Hüften mit seinen Händen. […] Heiß ist ihr an der Brust. Dort hängen seine Hände unter der Bluse, aber er ist nicht da.« (I, S. 298) Es ist in diesem Kontext von Bedeutung, dass Therese dem Möbelverkäufer insgeheim einen neuen Namen gibt. Sie, die »für alles Harte eine Vorliebe« hat und beim Schreiben mit dem »harten Bleistift« das Zeitungspapier zu zerreißen droht (eine Anspielung auf den Sexualakt, der jetzt durch die Einverleibung der Bücher sublimiert wird38), ist plötzlich bezaubert von der Weichheit des Namens Buddha. So sollte der Möbelverkäufer ihres Erachtens heißen.39 Das zeigt, wie paradox ihr männlicher Idealtypus ist: hart und weich, zupackend und liebevoll.40 Durch Thereses eigene harte Aussprache wird aus Buddha aber Herr Puta (spanisch für Hure) und dann – in Anlehnung an einen Wiener Kraftausdruck für den Geschlechtsverkehr (pudern41) – »Herr Puda« (I, S. 122). Diese Umbenennung ist einerseits eine Neuschöpfung und andererseits eine Selbstanprangerung: Denn indem Therese den »interessanten Menschen« imaginär neu erschafft, mit bestimmten Zügen ausgestattet, und ihn gleichzeitig zu einem Gott erhebt42, wird klar, welchen Stellenwert der Ge|| 38 Vgl. dazu auch I, S. 167: Therese muss den »Druck der harten Schlüssel im Fleisch« spüren und 168: »Ihre Hand ließ sich schwer darauf (auf den Schlüsseln, von denen sie träumt, in Wahrheit auf der Bettdecke – A.S.] nieder, täschelte sie, spielte mit ihnen, nahm sie einzeln zwischen die Finger und bedeckte sich vor Freude mit großen, schimmernden Schweißtropfen. Kien errötete, er wußte nicht warum.« Die Szene erinnert an Kiens Liebesspiel mit den eigenen Büchern. 39 Vgl. dazu I, S. 476f., wo Kien Buddha als einen erbitterten Frauenfeind darstellt, der in seinen acht Ordnungen einen »Damm« gegen die »Weiber« errichtet habe. 40 Das Wort »Mann« ist deshalb doppeldeutig. Es ist einmal positiv – Der »Herr Kapellmeister« ist ein »Mann« (I, S. 142) – und einmal abwertend gemeint (im Hinblick auf den Hausbesorger): »Das ist ein Mann!« (I, S. 313) 41 Vgl. Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 36; Friedhelm Aspetsberger: Weltmeister der Verachtung (wie Kapitel B6.1, Anm. 38), S. 114; Wiesehöfer: Mythos zwischen Wahn und Kunst (wie Einleitung, Anm. 35), S. 113. Nicht zu überzeugen vermag Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 131, der den Namen sowohl von »pudens« (verschämt, ehrbar) als auch von »pudendus« (schändlich, schimpflich) ableitet und daraus folgert, Therese gebe Grob einen Namen, der sein Wesen sowohl zum Vorschein bringe als auch verdecke. Denn Therese hält Grob weder für verschämt noch für schändlich, sehr wohl aber für einen potenten Don Juan. 42 Vgl. Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 36. Als Gott gebietet der Möbelverkäufer in Thereses Vorstellung auch über Leben und Tod. Denn sie

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schlechtsverkehr in ihrem Gefühlshaushalt besitzt. Therese sucht in der »Seligkeit« des Sexualakts (I, S. 161) die Befreiung vom Stigma der Jungfrau. Das ist für sie die Erlösung – eine erneute Vermischung der beiden Sphären des Heiligen und des Profanen. Man kann dabei an Berninis »Die Verzückung der heiligen Theresa« denken, die das Eindringen der göttlichen Liebe als eine Art Orgasmus darstellt. Während Bernini die mystische Verzückung in eine zwar provokante, aber nicht blasphemisch gemeinte Bildsprache übersetzt, verkehrt Canettis Therese die christlichen Moralvorstellungen, auf die sie sich, selbstund fremdmanipulativ, stets beruft43. Diese Verkehrung bestätigt ihr Umgang mit dem »bewunderte[n] Fremdwort« Liebe, das zu ihren »Annoncenworten« gehört. Therese empfindet dieses Wort als ›heilige Tröstung‹44 und nimmt es deshalb – wie die Juden den Namen Gottes – nicht in den Mund. Als sie es dann doch tut und den Satz »Er liebt mich nicht« in Gedanken an den »interessanten Menschen« vor sich hin spricht wie eine Litanei, erwartet sie eine Tröstung, und zwar konkret: die Zurücknahme ihres Befundes. Denn sie spricht das Verb »[…] wie ›lippt‹ aus und spürte schon einen Kuß auf den Lippen.« (alle Zitate I, S. 76)45 Liebe – das geht aus dieser Selbstanprangerung hervor – ist für sie nicht als Kinder- und Nächstenliebe, sondern nur als (sexuelle) Liebe zwischen Mann und Frau von Bedeutung. Vom bloß erträumten Verkehr kann Therese jedoch nicht leben. Beim abermaligen Besuch des Möbelgeschäfts lässt sie daher ihren Rock zu Boden fallen, die »Festung« (I, S. 54), die ihre Jungfräulichkeit schützt.46 Dann zwängt

|| glaubt, dass sie achtzig Jahre alt werde, älter als ihre Mutter, erst dann werde sie sterben. »Vorher nicht, der Herr Grob will es so haben!« (I, S. 351) 43 Therese bezeichnet den Möbelverkäufer einmal als eine »Sünde von ihr« (I, S. 138). Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 67 bezeichnet Therese als »a satire and reversal of Saint Theresa«. Zu den Verkehrungen im Einzelnen vgl. ebd., S. 67f. Bezeichnend ist, dass Canetti die klassischen Attribute der Heiligen, vor allem Herz und Taube, in seinem Roman Therese zuordnet. 44 Eine ähnliche, nur nicht notwendig auf den Sexualakt bezogene Umwertung des Wortes Trost begegnet bei den Minnesängern des Hochmittelalters. Vgl. dazu Kesting: Maria-Frouwe (wie Kapitel B6.5, Anm. 18), S. 138: »trôst wird von Gott und den Heiligen, besonders von Maria, erfleht. Auch die Minnesänger gebrauchen trôst/trœsten im Sinne von consolatio und auxilium, allerdings ist bei ihnen der Gehalt der Worte säkularisiert worden: es geht um die Gunst der Dame.« 45 Vgl. dazu auch ihre Charakterisierung Grobs: »Lippen hat er Mensch wie die Stimme.« (I, S. 105) 46 Vgl. dazu die Parallele zwischen Türschnalle und Rock, die beide als Symbole der Jungfräulichkeit dienen (I, S. 156): »›Der Mann darf die Türschnalle nicht anrühren […]. Schnalle und Tür gehören mir. Ich erlaub' nicht, daß der Mann die Schnalle anrührt.‹ Er [Kien – A.S.] wehrte

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sie sich in die Arme des »interessanten Menschen«47, der ihr, mit seiner gewohnt anzüglichen Verkaufsstrategie, wieder ein Schlafzimmer andrehen will. Diese Situation, die Nähe zu ihrem Gott, der sie, auch im biblischen Sinne, nicht erkennt (wie Josef Maria), empfindet Therese als »Seligkeit« (I, S. 300). Die Szene ist eine Verkehrung dessen, was Kien vor der Hochzeitsnacht imaginiert. Therese in ihrem gestärkten Rock erscheint ihm als »harte[s], hartnäckige[s] Ding«: eine Muschel. »Man muß sie zertreten, zu Schleim und Splittern, wie damals als Junge am Meeresstrand.« (I, S. 54) Nur wenig später liegt sie in seiner Vorstellung splitternackt da: »ein Häuflein Elend, Schleim und Schwindel und überhaupt kein Tier.« (I, S. 55) Die Muschel ist hier wie so oft ein Symbol für das weibliche Genital48. Das unterstreicht die Verbindung des Tierischen mit dem Sexuellen. Doch der vorgestellte Geschlechtsakt ist ein Bemächtigungsversuch: eine Vergewaltigung, mit dem Ziel, das Opfer vollkommen zu entwürdigen. Später, als Kien sich an den tatsächlichen (missglückten) Bemächtigungsversuch erinnert, erscheint Therese ihm als »Scheusal« (I, S. 63), wieder später als »Bestie« und Hyäne, die sein Todesurteil vollstreckt und sich bis zum letzten Haar selbst verzehrt (I, S. 348 und 286).49 Wenn Therese mehr als alle anderen Figuren im Roman als Tier apostrophiert wird50, dann bedeutet das insofern auch: Sie ist als Frau eine Ohnmächtige, ein Objekt der männlichen Gewalt:51 »Für den [Kien – A.S.] ist die Frau ein Tier« – dämmert es ihr, wenn auch zu spät, während des Verhörs auf dem Revier (I, S. 351). Diese Erniedrigung ist Therese nicht immer unerträglich. Da sie ohne Vater aufgewachsen ist, im Hass auf die Mutter, hält sie noch als erwachsene Frau am

|| ihre Worte mit einer linkischen Bewegung ab und streifte dabei zufällig ihren Rock. Da begann sie laut und verzweifelt zu schreien, wie um Hilfe. ›Ich erlaube nicht, daß der Mann den Rock anrührt! Der Rock gehört mir!‹« (Hervorhebungen A.S.) 47 Während des Verhörs umgreift Kien Therese mit seinen »langen, hageren Armen«. »Sie ließ es sich gefallen. Er wollte sie ja nur umarmen.« (I, S. 334) Hier wird deutlich, dass es Therese mehr auf die Umarmung ankommt als auf den Mann. 48 Vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B1, Anm. 59), S. 496. 49 Das ist eine Verkehrung ihrer Einverleibung der Bücher, aus denen Kien besteht. 50 Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 65 findet die meisten Beispiele bei Kien. Allerdings wird Kien nicht wie Therese mit verschiedenen Tieren verglichen. Als sie sich an den Neffen der früheren Herrschaften erinnert, sieht sie sich z.B. als Kuh: »Wie der einen angeschaut hat! Ich hätt' nur muh sagen brauchen.« (I, S. 65) Die Kuh fungiert hier wohl, der sexuellen Konnotation der Szene gemäß, als Fruchtbarkeitssymbol. 51 Dass diese Ohnmacht in der Welt der Blendung akzeptiert ist, bestätigt das Aufsatzthema: »Die Frau ist von Natur zum schwächeren Geschlecht bestimmt«, über das der Sohn des stolzen Vaters schreiben muss (I, S. 352).

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patriarchalischen Geschlechtermodell fest:52 Der Mann ihrer Träume, der sie von ihrem Minderwertigkeitskomplex befreit, ist eine Vater-Imago: groß, stattlich, stark und schön, ein heldenhafter Machthaber, der sie kokett ans Kinn fasst wie der Herr seine Dienstmagd (I, S. 65).53 Das erklärt auch die Paradoxie ihres Idealtypus: Es ist der liebende und strafende Vater. Die liebende Seite dieses väterlichen Traummanns sieht Therese im »interessanten Menschen« verkörpert, dessen Geliebte alle Töchter sein könnten (I, S. 87). Wie in einem pathetischüberdrehten Roman fühlt sie sich von seinen Armen aufgefangen, als Kien beschließt, sein Testament zu machen (I, S. 131). Der Hausbesorger hingegen, der sie mit seiner »Liebesmethode« erobert, ist das Gegenteil des Möbelverkäufers mit seiner butterzarten Stimme. Er ist der strafende Vater, ein Sadist, der Therese in die Schenkel zwickt, sodass ihr, in Vorfreude auf den ersehnten Akt, das Wasser schon zum Mund herausfließt. Und statt in die Arme lässt er sie zu Boden fallen, ›bricht‹ ihr den Rock herunter und nimmt sie (I, S. 307f.). Während Therese die Mutter bezwingt, indem sie gleichsam selbst zur Mutter wird und die damit verbundene Macht über Leben und Tod missbraucht, wird sie bei den Männern zur Tochter. Der Hausbesorger vergleicht sie denn auch mit seiner Tochter, die ihn sexuell befriedigt und – welch eine Ironie! – bis zu ihrem Tod bekocht hatte.54 Er zeigt sich allerdings enttäuscht darüber, dass Therese sich nicht prügeln lasse, sondern jede Nacht nur »das andere« wolle (I, S. 313). Die Unterwerfung unter den Mann mag Therese zwar sexuell erregen, sie zum Schwitzen bringen, aber sie ist nur Beiwerk.55 Für den Hausbesorger, der eine ausschließliche Masochistin braucht, ist Therese deshalb ein »alte[s] Luder« (I, S. 335) oder mit unverkennbar sexueller Konnotation, eine »Drecksau« (I, S. 313, 314 und 352).

|| 52 Vgl. I, S. 156: »Eine Frau tut alles für ihren Mann.« Auch das Stubenmädchen, eine Spiegelfigur Thereses, ist gegenüber dem ›starken‹ Portier devot und will ihm gern gehorchen (I, S. 185). 53 Auf dem Polizeirevier kitzelt sie ein Vater unter dem Kinn so wie einst der Neffe ihrer früheren Herrschaften. »Sie blieb ein gewöhnliches Dienstmädchen, und der Vater bat sie um eine Verabredung für heute Nacht.« (I, S. 354) Therese tut nur zum Schein empört, insgeheim geht sie auf diese Avance ein. 54 Eine ironische Verkehrung ist es auch, dass der Hausbesorger seine Tochter und Therese ihre Mutter auf dem Gewissen hat. 55 Therese stellt sich vor, wie vorteilhaft es wäre, einen »Vertrauten bei der Polizei« zu haben, einen »soliden, anständigen Menschen« (I, S. 29). Diese Vorstellung verwirklicht sich, als sie sich mit dem Hausbesorger zusammentut, einem ehemaligen Polizeibeamten. Allerdings entspricht er nicht ihrer Vorstellung von einem »soliden, anständigen Menschen«.

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Neben der sexuell konnotierten Muschel wird Therese von Kien mit einem weiteren Tier identifiziert. Ihre Rede klingt in seinen Ohren wie ein Fauchen56, und ihre Augen scheinen derart böse zu funkeln, dass er sie für diejenigen einer Katze hält (I, S. 164f.). Diese Identifikation mit dem Symboltier des Weiblichen57 weist Therese einerseits als Artgenossin des Hausbesorgers aus, der ebenfalls faucht und sich der rote Kater nennt (I, S. 354 und 405), und andererseits als »natürliche« Gegnerin des Hundes Kien. Ihr Eheleben, gezeichnet von Gewalt und Streit, Misstrauen und Betrug gleicht der sprichwörtlichen Feindschaft zwischen Hund und Katze. Die Machtverhältnisse sind freilich ins Gegenteil verkehrt. Die Katze Therese schaut mit größter Befriedigung zu, wie Kien sich nach ihrem Angriff vor Schmerzen am Boden windet. Dabei fällt ihr der Hund der vorherigen Arbeitgeber ein: »Der kuschte, bevor man noch was gesagt hatte.« (I, S. 166) Aber mehr noch: In Masse und Macht wird Canetti den Unterschied zwischen Macht und Gewalt – und das ist: »Macht auf tieferen und mehr animalischen Stufen« – am Beispiel des Verhältnisses von Katze und Maus veranschaulichen (III, S. 333). Wenn die Katze die Maus ergriffen habe, sei diese in ihrer Gewalt; wenn sie ihr indes erlaube, weiter zu laufen, »unter genauester Bewachung, ohne daß sie ihr Interesse an ihr und ihrer Zerstörung verliert«, sei die Maus in ihrer Macht. Schon in Die Blendung stellt Canetti Ähnliches am Beispiel des Verhältnisses zwischen der Katze Therese und dem Hund Kien dar – in allerdings bereits invertierter Form. Therese, die »handgreifliche Person« (I, S. 143), übt sich zumeist in der animalischen Form der Bemächtigung. Sie schlägt Kien, den Hund, zweimal mit äußerster Brutalität zu Boden und verkehrt so in der Realität seine sadistische Wunschphantasie. Sie, die ihn für keinen Mann hält (vgl. z.B. I, S. 64), nimmt dadurch die Stelle des (der Frau überlegenen und strafenden) Mannes ein. Kiens späterer Traum vom Fleischerhund, der Thereses Rock zerbeißt, verkehrt dieses Verhältnis erneut. Aber Therese lässt Kien gelegentlich auch Hoffnung schöpfen wie die Katze die Maus, etwa als er sich einige Tage in der Kunst des Erstarrens übt. Sie bewacht ihn dennoch sehr genau und sähe ihn am liebsten schon tot. Kien vergleicht sie kurz zuvor mit einem »blutgierige[n] Tiger«, der sich in Haut und Gewand eines Mädchens gekleidet habe, einen Gelehrten belüge und töte (I, S. 165). Auch hier ist ein Gedanke aus Masse und Macht vorweggenommen: Canetti bezeichnet dort Tiger und Löwe als die »großen Ergreifer«. Sie, die »Katzenraubtiere«, verkörperten

|| 56 Therese steht damit in direkter Beziehung zu den Jaguaren, die den von allen Seiten festgebundenen Mann in Kiens Traum bedrängen: »Sie fletschten die Zähne, fauchten und rollten die Augen so wild, daß es einem kalt über den Rücken lief.« (I, S. 38) 57 Vgl. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik (wie Kapitel B1, Anm. 59), S. 372.

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»Macht in höchster Konzentration« (III, S. 241). Der Hausbesorger, dem Therese erliegt, träumt demnach nicht zufällig von einem Zirkus, in dem Tiger durch einen Feuerreifen springen (I, S. 311). Er, die Raubkatze (I, S. 417), zähmt mit der patriarchalischen Gewalt des Katers die »wilde Natur« der Katze Therese – wenngleich nicht für immer. Auch als seine »Tochter« hat Therese nämlich die alte Tendenz zur Revolte: »Bitte, was war er früher? Ein gewöhnlicher Hausbesorger! Mit so was läßt man sich nicht ein. Sie hat das in die Wohnung genommen.« (I, S. 313) Dieser innere Monolog, der mit der Verdinglichung des Hausbesorgers endet, erhellt Thereses Ambivalenz. Sie ist Opfer und Machthaberin58, Sadistin und Masochistin zugleich. Aus dem Gefühl der Zurücksetzung, das sie als unverheiratete (Jung-)Frau über Jahrzehnte hinweg mindestens ebenso sehr empfindet wie der bucklige jüdische Paria Siegfried Fischerle, speist sich ihr Machttrieb. Diese Ambivalenz macht sie zu einer Doppelfigur und bestimmt ihren Vornamen. Als Kien der vermeintlichen Einbrecherin in Gedanken für die Ermordung seiner Frau dankt, identifiziert er Therese andeutungsweise mit einem weiteren Tier: »Ihm wäre das kaum gelungen. Sie hätte ihn in ihren Rock verwickelt und erstickt.« (I, S. 160) Bei diesem Tier kann es sich entweder – im Hinblick auf das Netz, in dem Jean seine Frau zu fangen glaubt – um eine Spinne59 handeln oder, wahrscheinlicher, um eine Schlange60. Denn Thereses Röckewechsel wirkt wie eine Häutung, wobei der frisch gestärkte Rock die erneuerte Macht symbolisiert61. Aber auch das Gleiten, das Therese so gewohnt erscheint wie anderen der normale Gang (I, S. 32), erinnert an eine Schlange. Das Verb »gleiten« taucht dabei vor allem in zwei Kontexten auf: einerseits, wenn Therese in Kiens Machtbereich eindringt, wenn sie die Bibliothek betritt (I, S. 76), den Schreibtisch durchsucht (I, S. 108 und 136), oder als sie Kien wegen der neuen Möbel zu beschwichtigen versucht (I, S. 66), und später, als sie ihn und den Hausbesorger vor dem Theresianum umkreist, wie eine Schlange bereit zum Angriff (I, S. 312).

|| 58 Diese Ambivalenz übersieht Widdig: Männerbünde und Massen (wie Kapitel B6.2, Anm. 41), S. 192, wenn er Therese zu einer allegorischen Figur der Masse erklärt. 59 Vgl. dazu in Kiens Haßrede gegen die Frauen: »›In der Spinne, dem grausamsten und häßlichsten aller Tiere, sehe ich die verkörperte Weiblichkeit. Ihr Netz schillert in der Sonne giftig und blau.‹« (I, S. 475) 60 Zur Schlangen-Metaphorik in Die Blendung vgl. auch I, S. 282: Fischerle hält den Hausierer für eine »[…] falsche Schlange, die immer nur an ihren Vorteil dachte.« Ohne den Rock gleicht Therese einem (hässlichen) Entlein: Sie watschelt (I, S. 59). 61 Vgl. I, S. 303: »Ihrer gestärkten Erscheinung brachten Menschen und Fahrzeuge Scheu entgegen.« (I, S. 303) So wie der Rock Therese stark zu machen scheint, machen Kien dem eigenen Empfunden nach die Bücher stark (I, S. 309).

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Andererseits taucht dieses Verb auf, wenn sie sich zum Möbelverkäufer begibt, sei es in der Realität oder in der Imagination (z.B. I, S. 81 und 297). Bei diesen verschiedenen Vorgängen geht es im Kern jeweils um das Gleiche: eine Bemächtigung. Therese will Kiens Vermögen an sich bringen und versucht, ihn zu manipulieren. Sie will die Erfüllung ihrer erotischen Wünsche und versucht, den Möbelverkäufer zu bezirzen. Während sie schon vor der Heirat vergebens auf die Verführung wartet (I, S. 48), wird sie nun selbst zur Verführerin62 – zu Eva und nicht zu Maria. Bei dem Möbelverkäufer gelingt ihr die Blendung nicht. Anders bei Kien: Als Frau und Schlange ist sie der Teufel in seinem Paradies. Im Unterschied zur Muschel sind Katze, Tiger und Schlange Raubtiere. Sie machen Jagd auf andere Tiere, um sie zu ergreifen und sich einzuverleiben.63 Als tierischer Mensch ist Therese nicht nur die Gejagte, das »ahnungslose Geschöpf«, das Kien in die Falle locken will (I, S. 58)64, sondern auch eine Jägerin, ein »lauernde[s] Geschöpf« (III, S. 343). So wird ihr doppeldeutiger Vorname zum Zeugnis der Umkehrung, von der ihr ganzes Leben bestimmt ist. Schon vor der Heirat ist sie auf der Jagd, stellt »Nachforschungen« nach Kiens »unsittliche[m] Geheimnis« an (I, S. 29). Diese Forschungen verraten nicht nur ihre Faszination für das Anormale, Rätselhafte (vgl. I, S. 27), das Selbstbild der anständigen Frau Konterkarierende, sondern sie sind gewissermaßen ihre Form der Wissenschaft65, eine Jagd mit nur einem Ziel: dem Durchschauen. Jeden Tag, von Viertel nach sechs bis sieben Uhr, ist sie »auf dem Sprung«, um zu erfah-

|| 62 Kien identifiziert Therese mit Aphrodite. Vgl. dazu I, S. 483, wo Kien die Flucht der Liebesgöttin schildert, nachdem Hephaistos ihre Affäre mit Ares öffentlich gemacht hat. »Aphrodite entgleitet strahlend nach Paphos […].« (Hervorhebung A.S.) Zu Therese als verführter Verführerin vgl. auch Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 75. 63 Der Zusammenhang zwischen Gleiten und Ergreifen wird besonders deutlich an dieser Stelle: »Sie glitt, bald nach rechts, bald nach links, bis sie Kien am Rockschoß zu fassen bekam.« (I, S. 353) 64 Nach seinen schmerzhaften Erfahrungen verändert sich Kiens Verhalten gegenüber Therese: »Nach einer Viertelstunde pirschte er sich, mit den Augen, an sie heran, immer bereit, die Flucht zu ergreifen.« (I, S. 168) 65 Die Wissenschaft erscheint Kien als Jagd. Vgl. I, S. 70: »Er war eben in die Wiederherstellung eines Textes versunken; die Worte knisterten. Gierig wie ein Jäger, das Auge gespannt, erregt, aber kalt, pirschte er sich von Satz zu Satz. Da brauchte er ein Buch, erhob sich und holte es. Bevor er es noch hatte, drängte sich das verdammte Bett in seinen Kopf. Es zerriß den straffen Zusammenhang, es entfernte ihn um Meilen von seinem Wild. Waschtische kreuzten die schönsten Fährten. Am hellichten Tage sah er sich schlafend. Wenn er saß, hieß es wieder von vorn beginnen, das Revier aufsuchen, in Stimmung geraten.« Dagegen tadelt Kien jedoch – inkonsequent wie immer –, dass der letzte Gedanke des verhassten Machthabers Li-Si der Jagd gegolten habe (I, S. 95).

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ren, was Kien in seinen Zimmern treibt (I, S. 30). Mit ihrer sensationslüsternen Phantasie malt sie sich einen Mord aus und durchsucht die Räume während des Spaziergangs nach einer »Frauenleiche im Koffer«. Ausgerechnet sie, die die eigene Mutter hat sterben lassen, verdächtigt Kien des Mordes – ein weiteres Indiz für ihre Selbstverblendung. Als sich eines Tages die Gelegenheit ergibt, vor sieben Uhr in das Arbeitszimmer hineinzuschauen, »[…] pirscht[] sie sich durch die trennenden Räume« und braucht für den dreißig Meter langen Weg bis zum Schlafzimmer zehn Minuten. Dort lässt sie den Blick schweifen, wobei ihr zweites Auge aus Sicherheitsgründen im »Hinterhalt« bleibt (I, S. 32). Während sie Kien dabei beobachtet, wie er die Bücher für den Spaziergang zusammensucht, begreift sie noch immer nicht, dass es keine Frauenleiche, auch keine Drogen in der Bibliothek gibt. Darum spitzt sie »[…] die flachen Ohren und reißt die schmalen Augen gierig auf.« (I, S. 33) Noch Wochen später, während des Verhörs, ist sie der Meinung, Kien wolle einen Mord vertuschen, auch wenn sie die Leiche nie gefunden hat. Da sie Kiens Verhalten gerade nicht durchschaut, erklärt sie ihn für verrückt und dumm. Dieses Urteil verändert ihre Selbsteinschätzung: »Sie kam sich jetzt bedeutender und interessanter vor.« (I, S. 34) Die Stelle erhellt, warum der Möbelverkäufer für sie ein »interessanter Mensch« ist. Das Adjektiv hat einen doppelten Bezug. Der Möbelverkäufer ist interessant, weil Therese ihn sich in ihren Träumen als einen umworbenen Casanova vorstellt, einen von Frauen gejagten Jäger. Zugleich aber macht er auch sie interessant, weil er sie in ihrer Traumwelt als die Schönste aus der Masse der Verehrerinnen zur Frau erwählt. Dahinter steckt der typische Wunsch des Machthabers: sich von der Masse abzuheben und der einzige zu sein.66 Mit diesem Wunsch macht Therese Jagd auf Männer. Während der Möbelverkäufer sie vor allen Frauen erhöht, schafft sie sich, wieder in der Imagination, Männer-Massen.67 Von diesen Massen hebt sie sich ebenso sehr ab wie von der Masse der Frauen. Denn sie gibt ihnen Richtung. Auf der Straße, so ihr trügerisches Gefühl, schauen ihr »alle« Männer nach (I, S. 75, 103, 126 und 299). »Ja, wenn man sich nicht wehren täte, hätt' man zehn an jedem Finger.« (I, S. 66)68

|| 66 Dieser Wunsch bringt Therese überhaupt erst dazu, sich bei Kien zu bewerben. Während sie sich als die »charaktervollste Persönlichkeit« imaginiert, sieht sie vor dem geistigen Auge das »Gesindel« die Treppe herunter fallen (I, S. 25). Auch die Kirchbesucher sind für sie »Gesindel« (I, S. 28). Später zweifelt sie nicht daran, dass Kien sie zur »einzigen Erbin« eingesetzt hat (I, S. 108). 67 Neben den Büchern, den Hosen und Fischerles Millionen zählt Canetti die Männer, die Therese vermeintlich begehren, zu den symbolischen Massen. Vgl. ZB 57, November 1949. 68 Während des Verhörs bezieht Therese die »gierigen Blicke der Männer, die alle Männer waren« auf sich (I, S. 335). Da sie nicht bemerkt, dass die Männer sie keinesfalls schön finden,

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Doch Therese wehrt sich nicht. Befriedigt stellt sie vielmehr fest, dass der »Herr Kapellmeister« immer nur auf sie schaue. »Andere Frauen kommen dazu – sie ist die schönste von allen.« (I, S. 142) Da der Kapellmeister an den Dirigenten erinnert, nach Masse und Macht ein Urbild des Machthabers, lässt sich annehmen, dass es Therese wieder um eine Inversion zu tun ist. Sie sieht sich an der Stelle des Kapellmeisters, eine Dirigentin der Masse: »Seit sie da ist, finden's alle Leute schön. Bald ist ein großes Gedränge. Das stört sie nicht. Ihr macht man Platz. Niemand vergißt sie zu sehen.« (I, S. 142) In der rhythmischen Masse vor dem Theresianum gibt gerade sie später dem eigenen Vernehmen nach den Takt an. »Man tut, was sie will. Sie hat hier zu befehlen.« (I, S. 322) Doch das ist eine Illusion, der Thereses Verhaftung folgt. Zu einem tatsächlichen, wenn auch vorübergehenden Machtwechsel kommt es nur in der Bibliothek. Therese behandelt Kien wie eine Jagdbeute: Sie schleift ihn zum Bett zurück und bindet ihn mit einer starken Schnur fest wie ein Tier (I, S. 113).69 Sie legt sich »auf die Lauer«, »pirscht[] sich an der Wand entlang zur Wohnungstür« und trennt schließlich ihren Teil der Wohnung ab (I, S. 154f.). Thereses Traummann ist nicht nur umschwärmt, sondern auch vermögend, mit einem Wort: ihr Gegenteil. Denn sie stammt aus ärmsten Verhältnissen und fühlt sich mit 56 Jahren als »Frau ohne Kapital« (I, S. 103) – eine weitere Ursache ihres Minderwertigkeitskomplexes, von dem sie erlöst zu werden hofft, so wie sich Fischerle durch Geld und eine schöne Millionärin von seinen existentiellen Makeln zu befreien sucht. Therese beurteilt Männer deshalb nicht allein nach der erotischen Anziehungskraft, sondern auch nach der ökonomischen Potenz; sie will nur einen »ernsten Menschen mit Pension« oder einen »bessern Herrn, der selber was hat« (I, S. 65). So hat sie z.B. eine Liaison mit dem Neffen ihrer vorherigen Arbeitgeber abgelehnt, einem »abgebaute[n] Bankbeamte[n]«,

|| ist sie – wenn man Kants Definition zugrunde legt – eine Hochmütige. »Ein Hochmüthiger ist in gewisser Maße ein Wahnsinniger, welcher aus dem Betragen anderer, die ihn spöttisch angaffen, schließt, daß sie ihn bewundern.« (AA II, S. 268) 69 Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 160 erinnert diese Szene an Samson, der von Delilah gefesselt wird. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 73 sieht in Therese ebenfalls eine »zur Groteske verzerrte Delilah« und fühlt sich zudem an Salome oder Wedekinds Lulu erinnert. Zu Therese und Delilah vgl. auch Piet van Meeuwen: Elias Canetti und die bildende Kunst. Von Bruegel bis Goya. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1988 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 1041), S. 50f. Auch das Sprechen gehört zu den Waffen, mit denen Therese Kien erjagt: »Was sie sagte, war unverständlich und übte despotische Gewalt über ihn aus. Es ließ sich nicht auswendig lernen und wer sah voraus, was jetzt kam? Er war gefesselt und wußte nicht, womit.« (I, S. 158)

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da dessen »schöne[]« Abfertigung den Lebensunterhalt nur für beschränkte Zeit ermöglicht hätte (I, S. 65). Wie sehr Therese Männer und Geld, Erotik und Ökonomie miteinander assoziiert, belegt die Tatsache, dass sie Geld, sogar die dreißig Silberlinge des Judas, und den Möbelverkäufer gleichermaßen als »schön« bezeichnet (Vgl. z.B. I, S. 297, 303 und 141).70 Von ihrer ökonomischen Fixierung zeugen nicht zuletzt die Bezeichnung »Wirtschafterin«, auf die sie so großes Gewicht legt, und ihr gutes Zahlengedächtnis, das Pendant zu Kiens eidetischem Erinnerungsvermögen (I, S. 122).71 Selbst nach der Trauung mit ihm, der wenigstens unter finanziellem Gesichtspunkt zunächst ihren Traummann verkörpert, kreisen ihre Gedanken fortwährend um Geld bzw. um Werte, die mit Geld aufzuwiegen sind. Das hat zwei Gründe. Einerseits besteht Thereses größte Angst darin, den erreichten Status zu verlieren; es ist wie bei Kien die Angst vor Bewegung und Verwandlung. In Anbetracht ihrer Paria-Herkunft mag dieses Sicherheitsbedürfnis verständlich sein; da Therese als einzige Figur des Romans von der gesellschaftlichen Mobilität jedoch profitiert, ist es zugleich paradox. Andererseits braucht sie mehr als Kiens immobiles Vermögen. Sie braucht flüssiges Kapital, um den »interessanten Menschen« an sich zu binden, dem sie nicht zu Unrecht eine ähnlich große Geldgier unterstellt.72 Nach der definitiven Zurückweisung beim zweiten Zusammentreffen verkehren sich in ihrer Wahnvorstellung die Machtverhältnisse. Zur Kompensation sieht Therese sich nun, als »Frau mit Kapital« (I, S. 135), dem Möbelverkäufer überlegen: finanziell ebenso sehr wie sexuell. »Zwei Menschen gab's, die sich aufs Umgehen verstan-

|| 70 Bachmann: Wahn und Wirklichkeit (wie Kapitel B6.1, Anm. 5), S. 162 diagnostiziert bei Therese eine »Gleichschaltung« von Besitz, Liebe und Sexualität. Vgl. dazu auch I, S. 80: »Sobald sie fertig war, verstaute sie die Scheine zärtlich in der Tasche, drückte diese zu und ging.« 71 Bereits vor der Heirat kritisiert Therese, wie Kien mit dem Geld wirtschaftet: »Bei ihr nennt man so einen Menschen einen Narren, nimmt ihm das Geld weg, damit er das Geld nicht vertut und läßt ihn laufen.« (I, S. 34) Kien begreift erst kurz vor seinem Rauswurf aus der Bibliothek, dass das »Wirtschaften ihr zur zweiten Natur« geworden war (I, S. 172). »Das war ja ihre Krankheit, daß sie immer nach Geld suchte.« (I, S. 187) Dass auch er nach Geld giert, übersieht Kien jedoch geflissentlich, da es nicht zu seinem Selbstbild passt. 72 Zur Bedeutung des Geldes in Die Blendung vgl. Curtius: Kritik der Verdinglichung (wie Kapitel B6.5, Anm. 7), S. 14: »Das Geld ist das einzige tertium comparationis, wo immer zwei Figuren im Roman aufeinandertreffen.« Vgl. auch Aspetsberger: Weltmeister der Verachtung (wie Kapitel B6.1, Anm. 38), S. 113: »Es gibt kaum ein literarisches Werk, in dem das Geld eine solche Rolle spielt wie bei Canetti.« Nach Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 263 hat das Geld in Die Blendung die Rolle der adamitischen Ursprache übernommen, die alle Figuren ihren verschiedenen akustischen Masken zum Trotz verstehen.

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den. Der eine Mensch war eine Frau, der gehörte alles. Der andere Mensch hieß Puda, dem gehörte nichts, dafür durfte er mit der Frau umgehen.« (I, S. 304) Um endlich Geld für sich allein zu haben, macht Therese Jagd auf Kiens Besitz. Diese Jagd gilt zuerst den Büchern, die nach Thereses Urteil ein »Kapital« in Millionenhöhe vorstellen (I, S. 107 und 297). Dieses Kapital sichert sie sich durch die Einverleibung und den anschließenden Verkauf der Bücher im Theresianum. Dann aber gilt die Jagd auch dem Testament73, das für Therese unabdingbar zu einer Ehe gehört: »Auf dem Standesamt müßten beide Teile ein Testament machen, damit der eine Teil nicht hungert, wenn der andere Teil stirbt.« (I, S. 114) Therese, die hier – sich selbst anprangernd – das Ende der Mutter vor Augen hat, rechnet wie jeder Machthaber mit dem Tod. Sie kann es (wie Toni in Hochzeit bei der Großmutter) nicht erwarten, dass Kien stirbt; auch sie will die Erbschaft als Beute (vgl. III, S. 292). Deshalb erkundigt sie sich stündlich nach der Höhe des Guthabens und dem Namen der Bank (I, S. 115 und 126). Gierig nach dem Vorteil des Durchschauens, durchsucht sie wie einst die Bibliothek, dieses Mal auf der Suche nach der »Hauptsache« (I, S. 123), dem Testament. Da Kien später tatsächlich sein Testament macht, die eingetragene Summe ihr aber nicht gefällt, horcht sie im Nebenzimmer, ob er sie verändern werde. Canetti benutzt an dieser Stelle dieselbe Jagdmetaphorik wie bei Thereses Suche nach dem »unsittlichen Geheimnis«. Sie liegt »auf der Lauer« und achtet auf »jede leiseste Regung« (I, S. 137): Sie verhielt sich ganz still und horchte auf seine Bewegungen beim Anziehen, beim Waschen, beim Abklopfen der Bücher. Die Abgeschiedenheit ihres Lebens und sein lautloser Gang hatten die Empfindlichkeit ihres Ohrs für bestimmte Geräusche auf eine hohe Stufe gebracht. Sie erkannte genau, in welcher Richtung er sich bewegte […]. (I, S. 135f.)

Auch nach Kiens Hinauswurf lässt Therese von der Jagd nach seinem Geld nicht ab. Mit noch größerem Engagement als zuvor sucht sie das Bankbuch, das Kien ohne ihr Wissen allerdings mit sich genommen hat. »Von sechs Uhr früh bis acht Uhr abends rutschte sie auf Füßen, Knien, Händen, Ellbogen umher und äugte nach geheimen Ritzen.« (I, S. 296). Doch diese Jagd nach einem weiteren Geheimnis bleibt ebenso erfolglos wie die erste. Auch Thereses Jagd nach Testament und Bankbuch ist im Kern die Jagd nach einer Masse, einem Schatz aus Münzen.74 Wie Fischerle ist auch sie der

|| 73 Vgl. Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 173. 74 Im Abschnitt über das Theresianum heißt es: »Ein Goldschatz von Groschen sammelt sich hier an.« (I, S. 224) Vgl. dazu III, S. 215: »Es ist gar kein Zweifel, daß bei manchen Menschen, die für ihr Geld allein leben, der Schatz an die Stelle der menschlichen Masse tritt.«

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»Wollust der springenden Zahl« verfallen75 und kann sich nicht mit weniger als einer Million zufrieden geben. Deshalb verwandelt sie die Zahl 12.650 auf Kiens Testament, sein tatsächliches Vermögen, durch zwei ihrer ›schönen‹ Os in 1.265.000 (I, S. 139). Mechthild Curtius sieht darin ganz zu Recht einen »Vermehrungszauber«76. Die Summe ist für Therese real, aber sie muss erst noch ergriffen werden. In Masse und Macht beschreibt Canetti den engen Zusammenhang zwischen Jagd und Vermehrung und geht dabei auf einige magische Praktiken ein, mit denen die Naturvölker eine größere Beute zu erzwingen suchen. Bei ihrer Vermehrung beschränkt sich Therese, darin wieder an Fischerle erinnernd, auf die Magie der Schrift.77 Während Fischerle durch die Namensänderung den höheren Status beschwörend vorwegnimmt, versucht Therese, ebenfalls auf dem Papier, ein größeres Vermögen herbeizuzaubern. Diese Vermehrungshandlung ist eine Verkehrung der Inflation. Während sich der einzelne Mensch durch sie entwertet fühlt, »weil die Einheit, auf die er sich verließ, die er sich selber gleich achtete, ins Abgleiten geraten ist« (III, S. 218), fühlt sich Therese durch die imaginäre, für sie aber wirkliche Vermehrung erhöht.78 Eine Negativfolie dazu ist ihr Geiz. Therese, nicht zur Verschwenderin geboren, hält den eigenen Besitz so fest zusammen wie jene einsamen Geizhälse, von denen so viele Geschichten erzählen, eine »mythische Fortsetzung der Märchendrachen« (III, S. 215): »Sie hat bisher anständig und solid gelebt. Soll sie auf ihre Ehetage plötzlich unsittlich werden? Sie braucht keinen Luxus.« (I, S. 78) Von dem Scheck, den Kien ihr ausstellt, trägt sie die Hälfte zur Sparkasse. Dadurch erweist sie sich in einem wesentlichen Punkt als das Gegenteil des Paralytikers Fischerle, der in seinen Privatträumen so gern im Luxus schwelgt. Wie er und alle Figuren des Romans ist aber auch sie von Massen besessen, ein Massenmensch – oder nach Georges' Theorie: ein Tier.

|| 75 Vgl. Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 127. 76 Curtius: Kritik der Verdinglichung (wie Kapitel B6.5, Anm. 7), S. 46. Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 35 vergleicht Thereses Urkundenfälschung mit Kiens Konjekturen. 77 Vgl. Schutti: Die Bibel in Canettis Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 189), S. 82. Die Null als »nulla figura« zeige, dass Thereses Gier auf etwas ausgerichtet sei, dass nicht existiere. 78 Da Therese hinter die Zahl nur zwei, nicht aber drei Nullen setzen kann, ist sie unzufrieden. »[I]hre Wünsche gingen höher.« Sie macht sich deshalb unmittelbar danach auf den Weg zum Dom, der größten Kirche der Stadt. »Eine kleinere hätte sie nur daran erinnert, daß ihr mehr gebühre.« (I, S. 140)

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6.5.3 Krumbholz Thereses Jagd gilt nicht nur Münzen und Männern, nicht nur dem Bankbuch und dem Testament, sondern auch Möbeln. Diese Jagd, die weitaus weniger exzessive Formen annimmt, beginnt unmittelbar nach der Hochzeit. »Wo gibt's das in einem anständigen Haus, daß ein Mensch auf dem Schreibtisch ißt?« (I, S. 61) »In ein anständiges Haus gehört ein anständiges Bett. Man muß sich ja schämen, wenn Leute kommen.« (I, S. 62) Nicht zufällig gebraucht Therese in diesen beiden Beschwerden dasselbe Adjektiv, zuletzt sogar verdoppelt. Es ist eines der Kernwörter ihrer akustischen Maske (»anständiger Mensch«), ein Wort, mit dem sie, die Proletarierin, sich selbst und andere Menschen nach den Ordnungsvorstellungen des Bürgertums beurteilt. Hier dient es ihr konkret dazu, die fehlende Repräsentationsfähigkeit des eigenen Haushaltes festzustellen, seine Inkompabilität mit der bürgerlichen Norm. Denn nach Thereses Hochglanz-Ansicht gehört zu einem Haushalt eine komplette Möbelgarnitur: ein Waschtisch und ein Nachtkasten, ein Ess- und ein Schlafzimmer, ein Ehebett.79 Dass Möbel in Kiens »bücherreiner« Bibliothek fast gänzlich fehlen, kann Therese in ihrer hochfliegenden Borniertheit nicht ertragen; es durchkreuzt ihren Traum von einem bürgerlichen Leben.80 Sie gibt deshalb nicht eher Ruhe, als bis Kien dem Kauf der fehlenden Möbel zustimmt. Der Gebrauchswert dieser Möbel, ihre Schönheit oder Stabilität interessieren sie nur wenig, sie braucht die Möbel als Statussymbole: zum Beweis ihrer neuen Existenz als Frau im Haus.81 Schon beim Kauf schlüpft sie in die Rolle einer verwöhnten Dame, die mit nichts zufrieden ist. Alle Schränke sind ihr zu klein. »›Das ist was für arme Leute. Die haben nichts. Unsereiner braucht Platz.‹« (I, S. 80) Allerdings übertreibt Therese die Rolle, sodass ihre niedere Herkunft offenbar wird. Sie prüft die Möbel, horcht und klopft an das Holz, weil sie die Menschen, ihre eigene Geldgier verallgemeinernd, für Betrüger hält. Später jedoch benutzt sie die Möbel fast gar nicht: einerseits, weil sie ihre Symbolkraft lange erhalten will, und andererseits, weil sie selbst ein Möbelgeschäft zu eröffnen gedenkt. Dieser Wunsch bezeugt vor allem eines: ihren Willen zur Macht. Therese will eine Masse Möbel besitzen, die sie zwischenzeitlich in einer eigenen Fabrik herzustellen plant, und sie

|| 79 Zu den Möbeln als Statussymbolen der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Scheichl: Der Möbelkauf (wie Kapitel B6.2, Anm. 13), S. 136. 80 Nach Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 66 verkörpert Therese den Typus der Dienerin, die in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen will, so wie es etwa aus Die Fledermaus oder Der Rosenkavalier bekannt ist. 81 Vgl. Meidl: Soziale Kritik im Werk Elias Canettis (wie Einleitung, Anm. 139), S. 86.

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will das Kommando über die Angestellten führen; es wäre für sie eine Fortsetzung ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Dieser Aufstieg soll mit einem Betrug beginnen: Therese will die eigenen Möbel für neu verkaufen. Sie ist die Betrügerin, vor der sie sich fürchtet; gleichgültig, welche Position sie bekleidet, sie bleibt sich gleich. Ihr einziger Möbeltraum handelt zwar von einem glorreichen Aufstieg, von einem Flug in ein möbliertes Paradies, einer Divination geradezu, dekuvriert zugleich aber auch ihren plebejischen Geiz. Er ist eine Selbstanprangerung, ein Dokument ihrer inneren Zerrissenheit: »Von den Ohren, breiten Schwingen, getragen, flogen die Augen zum Himmel empor und ließen sich in einem billigen Schlafzimmer nieder. Therese, ein spitzenbesetzter Engel, machte es sich darin bequem.« (I, S. 81) Dass die Möbel zu Repräsentationszwecken dienen sollen, verrät nicht zuletzt Thereses Angst vor dem Naserümpfen der Leute über die gegenwärtige, allzu spartanische Einrichtung der Wohnung. Dabei bezieht sie sich nun ausgerechnet auf das Schlafzimmer, neben der Küche das einzige Zimmer, welches den Blicken der Öffentlichkeit verborgen bleiben muss. Das belegt ihre mangelnde Vertrautheit mit den Verhaltenskodizes des Bürgertums und ihre Fixierung auf den Beischlaf. Die Korrelation von Möbeln und Sex zeigt sich auch an einer anderen Stelle. Nachdem Therese bei ihrem ersten Besuch im Möbelgeschäft nur Augen für den Verkäufer hatte, empfindet sie später, »[i]n Erinnerung an den interessanten Menschen« (I, S. 113), »Zärtlichkeit« für das neue Schlafzimmer. Als pars pro toto wird es zum Surrogat für den Geschlechtsverkehr82 – so wie bei Kien die Bücher. In Thereses Privatmythos haben Möbel indessen noch eine weitere Funktion: Sie sind Instrumente der Inversion. Denn die früheren Arbeitgeber hatten Therese wie ein »altes Möbelstück« behandelt (I, S. 26). Indem Therese eigene Möbel kauft, empanzipiert sie sich von der Rolle als menschliches Objekt und gewinnt Macht sowohl über Gegenstände als auch über Menschen. Da Kien Möbel nicht leiden kann, sie gar zu seinen Feinden erklärt (I, S. 92), ist der Möbelkauf ihre Revolte gegen den Herrn im Hause. Von hier aus richtet sich nun die Aufmerksamkeit auf Thereses Nachnamen, in dem das Holz, das Material der Möbel, eigens genannt wird.83 Der zweite Bestandteil dieses seltsamen, sonst kaum belegten Namens verweist – wie so

|| 82 Gleiches lässt sich über das Geldscheine sagen, die Therese »zärtlich« in der Tasche verstaut (I, S. 80). 83 Die Möbelpacker bringen den neuen Nachtkasten als »hölzernen Beweis« in die Wohnung, um Kien zu zeigen, dass er ihn sehr wohl bestellt hat (I, S. 66). Für Kien selbst sind die Möbel ›grobe Klötze‹ (I, S. 70). Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 161 deutet den Nachnamen willkürlich als Hinweis auf Thereses Hässlichkeit.

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viele Anthroponyme in Canettis poetischem Werk – auf die Besessenheit seiner Trägerin. Er steht aber auch für ihre Revolte. Als Kien die Möbel aus der Wohnung werfen will, bei seiner geringen Körperkraft ein aussichtsloses Unterfangen, beschimpft er das Bett, das in dieser Szene Therese vertritt, als »unverschämtes Stück Holz« (I, S. 91). Später schiebt Therese ein Klötzchen unter die Tür, damit Kien sich nicht wieder einschließen und dadurch ihrem Zugriff entziehen kann (I, S. 124). Das Holz ist somit, gleich in welcher Form, Thereses bevorzugtes Mittel, um sich an Kien heranzumachen; um in sein Bewusstsein einzudringen und es sich zu unterwerfen. Die Möbel sind der Keil, den sie in die steinerne Person ihres Mannes treibt.84 Zugleich ist Therese über das Holz aber mit Kien verbunden.85 Wie er, der Kienspan, ist sie für die Masse entflammbar.86 Mit gleichem Recht lässt sich der Nachname allerdings auf die Szene beziehen, in der Therese zu einer »Holzpuppe« erstarrt (I, S. 31). Diese Bemerkung – und damit auch der zweite Bestandteil des Namens – kennzeichnen sie als eine Figur. Was aber hat der erste Bestandteil zu bedeuten? Es liegt zunächst nahe, ihn auf das Buddha-Gedicht zu beziehen, das Kien in seiner »Anthologie der Misogynie«87 zitiert: »Hart wie ein Baum, / Wie Flüsse so krumm, / Bös wie ein Weib, / So böse und dumm –« (I, S. 477). Krummheit wäre danach eine charakteristische Eigenschaft der Frau. Doch das ist nicht mehr als Kiens Privatmeinung. Sie allein auf die Frauenfiguren des Romans zu beziehen, wäre ein Fehlschluss, vor allem wenn man bedenkt, dass sowohl die Fischerin als auch Fischerle krumme Beine besitzen (I, S. 219, 254 und 358). Mehrere Forscher haben Thereses Nachnamen stattdessen auf eine Stelle in Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zurückgeführt. Dort heißt es, der Mensch sei aus »so krummem Holze« gemacht, dass daraus »nichts ganz Gerades« gezimmert werden könne.88 Dass Therese durch || 84 Aus diesen gegensätzlichen Materialien bestehen auch die Tischplatten in den beiden Lokalen des Romans. Während die Tischplatten im »Idealen Himmel« aus Marmor gefertigt sind, verfügen die Tische im »Pavian« über hölzerne Platten (I, S. 369). 85 Vgl. Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 13; Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 130. 86 Kien glaubt, Therese sei in seiner Abwesenheit abgemagert und vor ihrem (vermeintlichen) Tod gar so dünn gewesen wie ein »Zündholz« (I, S. 346). 87 Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 170. 88 Vgl. AA VIII, S. 23. Vgl. Boose: Das undenkbare Leben (wie Einleitung, Anm. 132), S. 173; Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 13; Daniel Daugherty: Die Faust im Wappen. Elias Canettis Suche nach dem »wahren Wort«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 38; Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 130 weist darauf hin, dass man mit dem Begriff »Krummholz« die verkrüppelten, vereinzelten Bäume des Hochgebirges bezeichnet.

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ihren Namen als »krumm« apostrophiert wird: als wesenhaft krumm, wäre insofern ein Einspruch gegen die Pädagogik Kants, der sich durch Erziehung wenigstens eine wahrnehmbare Begradigung erhoffte. Da sich Canettis Figuren per definitionem nicht entwickeln können, ist Therese, gerade als krummer Mensch, die typische Figur. Nach Rita Bischof repräsentiert sie, als eine »Art Massenmutter«, das gesamte Personal der Blendung.89 Dieter Dissinger sieht etwas zurückhaltender im Nachnamen nur einen Hinweis auf Thereses eigene krumme Wege.90 Johann Potgieter wird konkreter: Therese sei durch das Adjektiv »krumm« als »undurchsichtig, hinterhältig, unaufrichtig, heuchlerisch« gekennzeichnet. Zugleich sei mit dem Namen impliziert, dass Therese als krummes Holz ihrem Mann, dem Kienspan, physisch untergeordnet sei.91 Diese Deutung deckt sich so wenig mit den bisherigen Befunden, dass es sich lohnt, Thereses Nachnamen noch etwas genauer in den Blick zu nehmen. Es ist bisher unbekannt, dass der Name Krumbholz, wenngleich erfunden, einen Bezug zur Wirklichkeit hat. In seinem Essay über die Entstehung der Blendung hat Canetti auch von Thereses Genese, von ihrem »Urbild«, erzählt. Im April 1927 hatte er in der Hagenberggasse, etwas außerhalb von Wien, ein Zimmer bei der Witwe eines pensionierten Postbeamten gemietet. Ihr Rock reichte bis zum Boden, sie hielt den Kopf schief und warf ihn manchmal auf die andere Seite; die erste Rede, die sie mir hielt, findet sich wortwörtlich im dritten Kapitel der ›Blendung‹: über die Jugend von heute und die Kartoffeln, die bereits das Doppelte kosten. (VI, S. 324)

Man erkennt in diesem Porträt Therese wieder, der Rock, die Rede, selbst die Kopfhaltung stimmen. Gemeinsam ist dem »Urbild« und der Figur auch die fehlende Verwandlungsbereitschaft, das Festhalten an einer idealisierten Vergangenheit.92 Dahinter steht nichts anderes als das Verlangen nach Stabilität, bei Therese auch nach einer stabilitas loci in einer sich unablässig wandelnden Welt.93 In seinem Essay hat Canetti uns den Namen der Vermieterin nicht verra-

|| 89 Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 13. 90 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 130. Da Fischerle krumme Finger hat (I, S. 190), weist das Adjektiv u.a. auf Thereses diebische Natur hin. 91 Vgl. Potgieter: Individuum versus Masse (wie Kapitel B6.1, Anm. 165), S. 73. 92 Vgl. I, S. 157: »Die Welt ist heut nicht mehr schön.« Vgl. auch VI, S. 325: »Nur die erste Rede der Therese [die Rede über die Jugend und die Kartoffeln – A.S.] entstammt der Wirklichkeit, alles übrige ist vollkommen frei erfunden.« 93 Thereses Wahn besteht nach Canetti in dem Wunsch nach einer »Ehe mit Schlafzimmereinrichtung und sicherem Testament« (X, S. 208). Zu Thereses fehlender Reiselust vgl. I, S. 34: »Sie ist nie über die Stadtgrenzen hinausgekommen. Ausflüge macht sie nicht, weil es schade

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ten, doch in seinen Notizen zu Die Fackel im Ohr hat er ihn überliefert. Nach einem Wien-Besuch, der ihn u.a. zu den alten Wirkungsstätten geführt hat, notiert er am 28. Juli 1978: Vor zwei Monaten, am 23. und am 25. Mai, war ich in der Hagenberggasse. Es war so Vieles verändert, aber Vieles war auch ganz gleich. In Ober St.Veit hatte uns ein ungeheures Gewitter überfallen, es schüttete so stark, dass wir stehen bleiben mussten, dann, als es etwas nachgelassen hatte, fuhren wir die Erzbischofgasse weiter, an lauter neuen Häusern vorbei, bis zur Hagenberggasse, deren rechte Häuserreihe relativ unverändert war, besonders war aber das Haus Nr. 47, in dem ich gewohnt hatte, sich genau gleich geblieben: Die zwei Stileichen vor dem Gittertor; der braune Ton des Hauses, ein wenig düster, im zweiten Stock die beiden Fenster meines Zimmers, von denen ich nach Steinhof hinübergesehen hatte, diese Aussicht war jetzt verbaut. An den Namenstafeln stand noch, oben und unten, der Name Kumhofer, es mussten wohl Enkel meiner damaligen Hausfrau sein, die bestimmt nicht mehr am Leben ist, sie wäre jetzt 110 Jahre alt.94

Thereses Nachname, dessen Glieder mit den beiden gleichen Buchstaben beginnen wie Kumhofer, ist eine Reminiszenz an das »Urbild« der Figur, wenn auch eine wesentlich zaghaftere Reminiszenz als Fischerle an den Machthaber Fischer. Damit allein ist jedoch nicht erklärt, warum Canetti das Adjektiv »krumm« in Thereses Nachnamen aufgenommen hat. Sollte es sie mit Fischerle verbinden, als Gegengewicht zum zweiten Namensglied, das sie mit Kien verbindet? Sollte es sie als »verkrüppelte[s] Frauenwesen« identifizieren, wie Gerald Stieg meint?95 Oder hat es eine ganz andere Bedeutung als bisher vermutet? Das Adjektiv »krumm« wird an mehreren Stellen des Romans verwendet, zuerst im vierten Kapitel, kurz nach der Hochzeit. Einer der Trauzeugen nimmt dort sein Geld, den Lohn für seine Mitwirkung an der Zeremonie, mit »krummem Dank« entgegen (I, S. 49). Im sechsten Kapitel wiederum erinnert sich Therese an ihre einstige tägliche Lektüre, vor allem an die Zeitungsannoncen, die den Adressaten ein hohes Gehalt in Aussicht stellten und die sie so gern hatte, weil sich ihre Hand unter dem Gewicht des zu erwartenden Geldes jedes Mal höchst erfreut gekrümmt hatte (I, S. 76). Als Georg viele Wochen später an der Tür läutet und Therese mit einer Münze die benötigten Informationen über das Schicksal seines Bruders zu entlocken sucht, öffnet sich ihre Hand ganz von selbst (I, S. 459).

|| ums Geld ist. […] Reisen mag sie nicht, weil man sich nirgends auskennt. Wenn sie nicht einkaufen müßte, würde sie am liebsten immer zu Hause bleiben.« 94 ZB 59 (Kurzschrift). 95 Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 127.

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Die instinktive Reaktion der »plumpen, schwieligen Finger« (I, S. 29) verrät, wer Therese ursprünglich war: eine Dienstbotin, angewiesen auf die Zuwendungen ihrer Auftraggeber. Auch der Trauzeuge, der vor Dankbarkeit seinen Körper krümmt, ist ein Dienstmann. Als »gewöhnliches Dienstmädchen« (I, S. 354) ist Therese allerdings eine bloße Befehlsempfängerin, die man verachtet und benutzt, das Gegenteil einer Machthaberin. Für die Mutter des kleinen Metzger, selbst Gattin eines Arbeiters, ist sie gar noch nach der Hochzeit »nur ein Dienstbot'« (I, S. 55). Auch der Hausbesorger hält sie für einen »gewöhnlichen Menschen«, ja mehr noch: Er hasst sie geradezu, »[…] weil sie eine gewöhnliche Wirtschafterin war und jetzt Frau Professor hieß.« (I, S. 109 und 91) Der Vater, der am Verhör auf der Polizeiwache teilnimmt, sieht in Therese ebenfalls nur ein »gewöhnliches Dienstmädchen«, das aufgrund seiner untergeordneten Stellung und seiner finanziellen Abhängigkeit zur Befriedigung seiner sexuellen Gelüste prädestiniert sei; er bittet sie deshalb um eine »Verabredung für heute Nacht« (I, S. 354). Noch zudringlicher ist der Hausbesorger, der Dienstmädchen wie Rechtlose behandelt, ihnen unter die Röcke greift und sie in die Schenkel zwickt (I, S. 91). Therese hingegen versucht, diese Machtverhältnisse wie bei ihrer Mutter umzukehren. Diese Umkehrung findet zunächst nur in ihrem Kopfe statt: Sie erhebt sich über ihre früheren Arbeitgeber und bezeichnet sie – mit demselben Adjektiv, das sie herabsetzt – als »gewöhnliche[] Herrschaften« bzw. »gewöhnliche Familie[]« (I, S. 25f.). Später legt sie Wert darauf, dass sie nicht eines jener Dienstmädchen sei, das (auch wenn sie selbst es tut) mit jedem Mann gehe (I, S. 102). Während des Verhörs betont sie sogar, sie habe niemals zu den Dienstboten gehört, sondern sei vor ihrer Hochzeit etwas Besseres: eine Wirtschafterin gewesen. Von Kien fordert sie die Bestätigung dieser Behauptung ein, wobei sie übersieht, dass dieses Wort bei ihm keinen allzu guten Klang besitzt; denn er hält sie »nur« für eine Wirtschafterin (I, S. 286). Tatsächlich hatte diese Berufsbezeichnung auch ihr zuvor nicht genügt – was sie dazu bewogen hatte, ihr altes Ich, in Gestalt der Wirtschafterin, von sich abzuspalten: »Sie hat ein besonderes Zimmer, wo früher die Wirtschafterin geschlafen hat.« (I, S. 103)96 Wie Fischerle hat Therese demnach den despektierlichen Blick der anderen Figuren übernommen. Wie alle ist sie selbst der Meinung, dass der Herr mit seinen Dienstboten nach Belieben verfahren dürfe, da er sie bezahle; eine »Frau« jedoch müsse er respektieren (I, S. 79). Als Frau im Hause lehnt sie es darum ab, weiterhin die Arbeiten eines Dienstboten zu erfüllen und die Bücher abzustau|| 96 Vgl. auch I, S. 155: »Die Möbel nimmt sie aus der Kammer heraus, wo früher die Wirtschafterin geschlafen hat.«

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ben (I, S. 107). Auch möchte sie nie mehr allein essen wie ein Dienstbote, sondern bei Tisch wie die »Hausfrau«; darüber hinaus reklamiert sie das zweitbeste Zimmer der Wohnung für sich, schläft bis neun Uhr, weil nur Dienstboten um sechs Uhr aufstehen müssen, wirft einen »unverschämten Dienstmann« hinaus, schließlich auch ihren Ehemann, und erklärt dessen Bibliothek zu »meiner Wohnung« (I, S. 61, 77, 167, 156 und 177). Die krumme Hand, in der eine Münze liegt, erinnert aber nicht nur an ein Dienstmädchen, sondern auch an einen Bettler97 – und somit an Thereses verstorbene Mutter. Denn wie der Hausbesorger zu berichten weiß, war sie ein »Bettelweib« und wegen Bettelei sogar vorbestraft (I, S. 313 und 352). Mit dieser Herkunft, dem schwarzen Fleck in ihrer Biografie, dem negativen Vorzeichen ihrer Sozialisation, möchte Therese ebenso wenig in Verbindung gebracht werden wie Fischerle mit seinem Judentum. Vor allem aber möchte sie nie wieder arm sein wie eine Bettlerin. Gerade deshalb braucht sie Geld, ein sicheres Testament und neue Möbel, deren Kauf sie, sich selbst entlarvend, ausgerechnet mit dieser rhetorischen Frage begründet: »Bin ich vielleicht eine Bettlerin?« (I, S. 77)98 Nicht nur in diesem Moment dient »Bettler« ihr als Schimpfwort. Neben »Dieb«, das sich ebenfalls auf die Sphäre des Besitzes bezieht, ist es ihr bevorzugter Scheltname; später wird sie ihn sogar in eine Reihe mit Säufer und Verbrecher stellen (I, S. 174; vgl. auch S. 307). Auf diese Weise gibt sie zu erkennen, dass sie Armut für eine Schuld erachtet. Von daher erklärt sich auch ihr Unmut gegen Kien. Nachdem sie über die missliche Haushaltslage im Bilde ist, wirft sie ihm vor, er bringe sie an den Bettelstab (I, S. 174). Der soziale Abstieg, den sie mit der Hochzeit endgültig abgewendet glaubte, das Schicksal ihrer Mutter, scheint plötzlich im Bereich des Möglichen: »Ich könnt' ja verhungern.« (I, S. 460) Weil Therese Kien für diesen nur vorgestellten Abstieg verantwortlich macht, jagt sie ihn aus der Wohnung und ruft ihm ihre schlimmste Beleidigung hinterher: »›Untersteh dich nicht, wieder zu betteln!‹« (I, S. 177)99 Diese Vertreibung ist mehr als nur eine Strafe, sie ist auch ein Exorzismus. Mit Kien verschwindet das Bettlerhafte und Ohnmächtige aus Thereses Welt, das Andere ihres Wesens. Doch das Kernwort ihrer akustischen Maske, jenes »Bitte«, mit dem sie ihre

|| 97 Therese sieht Kien jedem die »hohle Hand« hinstrecken, »das ist bei den Bettlern so«. (I, S. 310) 98 Das Wort »Bettler« hat für Therese dieselbe negative Bedeutung wie Dienstbote. Das verrät die parallele Syntax in I, S. 79: »Bin ich vielleicht ein Dienstbot'?« 99 Therese äußert sich später über Kien wie über ihre Mutter, das »zerlumpte Weib« (I, S. 65): »Laut ihren Gedanken ging er [Kien – A.S.] in Lumpen […].« (I, S. 310)

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Rede so oft beginnt, enthüllt die verschwiegene Herkunft.100 Es repräsentiert den Befehlsstachel, der in ihr, der Dienstmagd und Tochter einer Bettlerin, zurückgeblieben ist; in ihm, einem einzigen Wort, konzentriert sich die Situation des Bedienens, die Therese in Umkehrung erneut herstellen muss, um sich von ihren Stacheln zu befreien (vgl. III, S. 361). Nicht von ungefähr sticht das »bitt' Sie« »spitz wie ein Dorn durch ihre ölige Sprache« (I, S. 23). Im Kernwort ihrer Maske vollzieht sich die Umkehrung. Es kann zwar verschiedene Emotionen zum Ausdruck bringen: Neugier, Entrüstung, Verblüffung, Wut, Triumph, Respektlosigkeit, Abweisung – aber niemals eine Bitte.101 Im Gegenteil: Es kann sogar, wie auf dem Polizeirevier, einen Angriff bedeuten, durch den sich Therese ihrer (imaginären) Macht versichert: »›Aber ich bitt' Sie!‹ Sie war hier die Herrin, alles drehte sich um sie […].« (I, S. 330)102 Auch das Adjektiv »krumm« ist semantisch ambivalent und steht für diese Umkehrung. Als Therese das Möbelgeschäft nach ihrem zweiten Besuch verlässt, bildet sich auf Geheiß der Mutter des Herrn Groß eine »Ehrengasse«: »Alle Rücken waren gekrümmt, und jedermann grüßte.« (I, S. 302) Therese, die ehemalige Dienerin, wird nun behandelt wie die Herrin; nicht sie krümmt den Rücken, man verbeugt sich vor ihr. Das Adjektiv ist in Die Blendung aber auch mit Schmerzen, gar mit Gewalt assoziiert: Nachdem Kien sich zunächst darüber gefreut hat, dass den Büchern »kein Buchstabe« gekrümmt worden sei, krümmt er sich wenig später vor Schmerzen unter dem Gewicht der Leiter, die nach seinem Sturz auf ihn gefallen ist (I, S. 96 und 111). Höchst schmerzhaft ist auch Thereses Gewaltexzess. Da Kien sich danach allerdings nicht krümmt, glaubt sie, er werde bald wieder gesund sein (I, S. 166). Fischerle hingegen prügelt seinen Buckel ohne Reue »krumm und blau« (I, S. 221). Eine regelrechte Bedeutungsumkehrung erfährt das Adjektiv »krumm« während der Hochzeitsnacht, wo Thereses gekrümmter Finger einen Befehl ersetzt bzw. begleitet: Sie krümmt den kleinen Finger, droht und zeigt mit ihm auf den Diwan. Ich muß auch hingehn, denkt er [Kien – A.S.], und steht schon, er weiß nicht wie, neben ihr. […] Therese zieht sich den Unterrock aus, faltet ihn besorgt zusammen und legt ihn auf die Bücher am

|| 100 Vgl. I, S. 281, wo der Blinde Kien die »hohle Hand« hinstreckt und sagt, »[…] ein Bettler sei er nicht, aber er möcht' schön bitten.« Das »Bitte« gehört auch zu Grobs unterwürfiger (Verkaufs-)Sprachmaske, wie sich zeigt, als er von Therese ergriffen wird: »›Bitte gleich, Gnädigste, bitte sehr, Gnädigste, so lassen Sie mich doch los, Gnädigste!‹« (I, S. 300) 101 Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 108f. 102 Vgl. dazu auch die etwas gemäßigtere Umkehrung in I, S. 354: »Therese sagte zum Vater: ›Bitte ja, aber erst bin ich eine Hausfrau!‹ Sie wußte, wie dreißig, doch die Beleidigung saß noch zu tief.«

556 | Die Blendung

Boden. Dann macht sie sich's auf dem Diwan bequem, krümmt den kleinen Finger, grinst und sagt: »So!« (I, S. 59)103

So wie der Vorname, der zugleich einen tierischen und einen jagenden Menschen bezeichnet, einen Ergreifer und einen Ergriffenen, verdeutlicht auch der Nachname, dass es sich bei seiner Trägerin um eine Doppelfigur zwischen Macht und Ohnmacht, Gehorsam und Befehl handelt. Therese ist freilich die einzige Figur in Canettis Roman, bei der sich der Umschlag von einem zum anderen Pol nicht zwischen Vor- und Nachname, sondern in jedem der beiden Namen und so gleichsam verdoppelt ereignet. Das macht sie, mehr noch als Fischerle, zu der Figur der Umkehrung in Canettis Die Blendung. Ambivalent ist schließlich auch Thereses weiteres Schicksal nach Georgs deus-ex-machina-Auftritt. Zum einen bestimmt nun er über sie, wenn auch nicht mit Befehlen, sondern, geschickter, mit Schmeichelworten. Indem er ihr ein Milchgeschäft einrichtet, wird jedoch zum anderen Thereses Traum vom eigenen Geschäft Wirklichkeit. Sie, die Anti-Mutter, rückt als Besitzerin dieses Geschäftes in die Rolle der nährenden Mutter; sie füllt die Leerstelle ihres Namens aus und wird zu einer Maria lactans104, der es, wie ein prospektiver Traum dekuvriert, statt auf Kinder auf Geld ankommen wird: »Man schlug die Milch. Der Butterklumpen, der herauskam, war Gold und so groß wie ein Kindskopf.« (I, S. 304) Aber nicht Therese richtet das Geschäft ein wie in ihren Träumen, sondern Georg streckt ihr das Kapital unter der Bedingung vor, dass sie seinen Bruder meide. Therese untersteht damit wieder einem Befehl, dessen Einhaltung durch den Hausbesorger aufs Genaueste kontrolliert werden wird. So endet Therese wie die anderen Figuren der Blendung: Ihr Sieg ist eine Niederlage.

|| 103 Vgl. dazu auch III, S. 239 wo im Zusammenhang mit dem Ergreifen von der »gekrümmten Hand« die Rede ist, dem »Vor-Raum des Mauls und des Magens«. 104 Vgl. III, S. 259: »Mutter ist jene, die ihren eigenen Leib zu essen gibt. Sie hat das Kind in sich genährt und bietet ihm dann ihre Milch. Diese Tendenz setzt sich in abgemilderter Form während vieler Jahre fort; ihre Gedanken, soweit sie eben Mutter ist, kreisen um die Nahrung, deren das heranwachsende Kind bedarf.«

Benedikt Pfaff | 557

6.6 Benedikt Pfaff 6.6.1 Der Gesegnete Der Hausbesorger Benedikt Pfaff, der Frau und Tochter zu Tode prügelt, ist die abstoßendste Figur in einem von Gewalt und Mord durchzogenen Roman, einer »grandiose[n] Schreckfratze«1. Doch so übertrieben, ja wirklichkeitsfern die Figur des Hausbesorgers auf den ersten Blick auch erscheinen mag, ein bestialischer Vorläufer des Packers Barloch, – sie hat wie Peter und Georges Kien, wie Fischerle und Therese ein reales Vorbild. Wir wissen von diesem Vorbild aus den Entwürfen zum dritten Band der Lebensgeschichte. In einem verworfenen Kapitel erinnert sich Canetti, dass Veza im »roten Kater« Benedikt Pfaff die Züge des »brüllenden Hausbesorgers von Ferdinandstr. 29–Czerningasse 8« wiedererkannt hatte.2 Der Name dieses Hausbesorgers hat indes, anders als bei Georg(es), Fischerle und Krumbholz, mit dem Namen der Figur nichts gemein; der reale Hausbesorger hieß Herr Schuckert. Das wirft die Frage auf, warum Canetti seine Figur, die in der Forschung mit Urbildern wie dem roten Häscher auf Rembrandts Die Blendung Simsons3, dem Duc in Don Quichote4, dem Capitano in der Commedia dell'arte5 oder dem Krausschen Greißler Vinzenz Chramosta6 in Verbindung gebracht wurde, den »beziehungsreichen Namen Benedikt Pfaff«7 gegeben hat. Ist der Name mit seinem doppelten religiösen Anklang paradox, wie Manfred Schneider und Sigurd Paul Scheichl vermuten, das »täu-

|| 1 Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 12. 2 ZB 60, 11. Juni 1981 (Kurzschrift). Vgl. auch Fischer: Erinnerungen und Reflexionen (wie Kapitel B6.2, Anm. 127), S. 270: »›Veza hatte Angst um Sie [Ernst Fischer – A.S.], befürchtete, der Hausbesorger könne euch beobachtet haben, euch anzeigen. Es war der Hausbesorger, den Sie aus meinem Roman ›Die Blendung‹ kennen…‹« Zur Beschäftigung Canettis mit dem »Typus Pfaff« siehe Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 242. Die früheste Notiz zu diesem Typus findet sich in den Wiener Notizblöcken 1925–1930: »Mazedonischer Hausbesorger: 12jähriges Mädchen, das jeden Morgen dem Vater Messer wetzt und den Revolver füllt.« (ZB 2, August 1929) Hanuschek vermutet, es könne sich hierbei um den Hausbesorger aus der Ferdinandstraße handeln. 3 Vgl. van Meeuwen: Elias Canetti und die bildende Kunst (wie Kapitel B6.5, Anm. 69), S. 51. 4 Vgl. Ayren: Le Romancier Elias Canetti (wie Kapitel B6.2, Anm. 3), S. 110. 5 Vgl. Irene Boose: Die Komik des Wissens (wie Kapitel B6.4, Anm. 4), S. 83. 6 Vgl. Jean Améry: Begegnungen mit Elias Canetti (wie Kapitel B6.1, Anm. 41), S. 293. 7 Joachim Schickel: Aspekte der Masse, Elemente der Macht. Versuch über Elias Canetti. In: Arnold (Hg.): Elias Canetti 1973 (wie Einleitung, Anm. 134), S. 9–23, hier S. 12.

558 | Die Blendung

schende Etikett eines tierhaften Wesens«?8 Oder passt er zu seinem Träger, der allerdings selbst ein »Feind von Namen« ist (I, S. 409)? An Antworten auf diese Fragen herrscht kein Mangel. Auch wenn die bisherigen Deutungsvorschläge sich bald mehr auf den Vornamen und bald mehr auf den Nachnamen konzentrieren, ähneln sie sich sowohl inhaltlich als auch methodisch. Erstens halten die meisten Forscher den Namen des Hausbesorgers keineswegs für paradox, selbst jene, die ihn zu einem täuschenden Etikett erklären. Und zweitens beziehen sie sich bei der Namensdeutung zumeist kaum auf Die Blendung selbst. Denn sie verstehen Pfaff als eine repräsentative Figur, deren Name weniger auf andere Stellen im Roman als auf die historische Wirklichkeit verweist, vor allem auf Canettis Erfahrungen im Wien der Zwischenkriegszeit.9 So liest man bei Sigurd Paul Scheichl, der Hausbesorger sei eine »manifest allusion« auf die dominante politische Gruppe in Österreich: die Christlich-Sozialen, die den Antisemitismus bereits vor der Jahrhundertwende politisch hoffähig gemacht hatten.10 Als ehemaliger Polizist erinnere er zudem – stellvertretend – an den Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927: an die Brutalität der Wiener Polizei und, noch konkreter, an den katholischen Priester und Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel, eine Schlüsselgestalt der reaktionären Kräfte.11 Pfaff sei, so auch Sven Hanuscheks Resümee, eine Karikatur des österreichischen politischen Katholizismus und eine »beklemmende literarische Antizipation des Faschismus«.12 Kaum anders Gerald Stieg, der ein eigenes Buch über den 15. Juli 1927, die »Frucht des Feuers« im Spiegel der Literatur, geschrieben hat: Der Familienname Pfaff symbolisiere den »Obskurantismus und die Autoritätssucht des Klerus«.13 Eine noch umfassendere Funktion attestiert dem Hausbesorger

|| 8 Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 22; Scheichl: Der Möbelkauf (wie Kapitel B6.2, Anm. 13), S. 131 spricht von einer kontrapunktischen Namengebung. 9 Anders Zsuzsa Széll: Ichverlust und Scheingemeinschaft. Gesellschaftsbild in den Romanen von Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti und George Saiko. Budapest: Akadémiai Kiadó 1979, S. 71: Pfaff sei ein »würdiger Nachfahre« von Kafkas Delamarche und Musils Lustmörder Moosbrugger. 10 Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 161. 11 Vgl. ebd., S. 168. Vgl. dazu auch Stieg: Früchte des Feuers (wie Kapitel B6.1, Anm. 212), S. 170 und ders.: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 108. Pfaff sei eine jener »Polizeibestie[n]«, von denen Karl Kraus im Zusammenhang mit den Ereignissen des 15. Juli 1927 so oft gesprochen habe. 12 Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 242. 13 Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 191; vgl. auch ders.: Elias Canetti als Zeitzeuge. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Experte der Macht (wie Einleitung, Anm. 81), S. 28–37, hier S. 32.

Benedikt Pfaff | 559

Daniel Daugherty: Benedikt Pfaff sei eine Figur der Religionskritik. So wie er seine Familie terrorisiere, prägten alle Religionen mit ihren Katechismen und ihren fixen liturgischen Vorschriften den Gläubigen den strafenden Gott ein, ebenso Gehorsam und Demut und, nicht zuletzt, die Idee einer existentiellen Sündhaftigkeit des Menschen, die aus eigener Kraft nicht zu tilgen sei.14 Wenn man von Daughertys pauschaler, von Ressentiments geprägter Religionskritik einmal absieht, erscheinen alle diese Deutungen überzeugend: Pfaff ist konservativ, autoritätsgläubig und so dumm, dass er seinen Kopf, einen »Würfel«, zu nichts anderem zu gebrauchen weiß als dazu, die Möbel zu verschieben (I, S. 355, 92 und 306). Und er ist ein »Mensch von einer fanatischen Wachsamkeit« (I, S. 289)15, eine Blockwartnatur, in der man trotz aller methodischen Bedenken durchaus einen Proto-Faschisten sehen kann. Seine Selbstbezeichnung als roter Kater erweist sich so aber als Ironie. Sie ordnet ihn nicht dem politischen Katholizismus zu, sondern dem »roten Wien« der Sozialdemokraten. Dennoch greifen die Abstraktionen auf reale Parteien und Bevölkerungsgruppen zu kurz, weil sie nur vage erklären können, wie der Hausbesorger sich zum übrigen Personal der Blendung verhält. Dabei erinnert er mehr noch als Fischerle und Therese an Judas Iskariot, das rothaarige und rotbärtige Urbild des Verräters.16 Allerdings trägt der Hausbesorger nicht den Namen des Verfluchten, sondern den Namen eines Heiligen. Ist sein Name also vielleicht doch paradox? Der Vorname Benedikt stammt aus dem Lateinischen. Er setzt sich zusammen aus dem Adverb »bene« (gut) und dem Verb »dicere« (sagen), man kann ihn übersetzen mit: jemand, der gelobt wird – oder übertragen: der Gesegnete. Das erinnert an Buddha, den Erleuchteten, mit dem Therese Pfaffs Antipoden identifiziert, den schmeichlerischen Möbelverkäufer. Beide Namen haben ursprünglich dieselbe Funktion: Sie heben ihren Träger aus der Masse heraus. Er ist

|| 14 Vgl. Daugherty: Die Faust im Wappen (wie Kapitel B6.5, Anm. 88), S. 42. 15 Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 150 sieht in Pfaff deshalb eine Verkörperung des platonischen Wächters. 16 Zum äußeren Erscheinungsbild des Judas vgl. z.B. A[dam] Wrede: Art. Judas. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Kapitel A2, Anm. 14) 4, Sp. 800–808, hier Sp. 801. Jacobus de Voragine verarbeitet den mittelalterlichen Sagenstoff um Judas in der Legenda Aurea und bezichtigt den späteren Verräter des Geschlechtsverkehrs mit der eigenen Mutter. Das Inzest-Motiv spielt auch bei Pfaff eine Rolle, allerdings ist das Opfer seine Tochter. Zudem berichtet die Legenda Aurea, dass Judas Jesus verraten habe, weil er eine »köstliche Salbe« nicht verkaufen konnte und das entgangene Geld durch den Judaslohn ersetzen wollte (S. 167). Im letzten Kapitel glaubt Kien, unter Pfaffs Bett befände sich eine »Kollektion von Salbentöpfen, rot in allen Nuancen« (I, S. 502).

560 | Die Blendung

der Gesegnete oder der Erleuchtete, der von Gott Begnadete und vielleicht sogar der »beste Mensch«, wie der Hausbesorger es von sich selber glaubt (I, S. 319). Diese Selbsteinschätzung im Superlativ manifestiert sich in seinen Träumen und Taten, bei denen es immer nur um eines geht: sich von der Masse abzuheben. Beim Anblick von Kiens vermeintlicher Leiche träumt Pfaff bereits von einem »sensationellen« Prozeß, in dem er als »Kronzeuge« aufzutreten und Therese des Mordes zu beschuldigen gedenkt (I, S. 109). Besonders schmeichelt ihm dabei der Gedanke, dass der Staatsanwalt während dieses Prozesses nur von ihm lebt und die Journalisten jedes seiner Worte protokollieren, weil er der einzige Zeuge sei (I, S. 109f.). Dieser »stolze[] Prozeßtraum« (I, S. 112) erinnert an Fischerles ebenso stolzen Weltmeistertraum, in dem sich tausend Journalisten um den Schachmeister Dr. Siegfried Fischer versammeln und ihm aufmerksam, ja geradezu devot, an den Lippen hängen. Der Wunsch, der einzige Zeuge zu sein, variiert zudem das typische Streben eines jeden Machthabers, nämlich als einziger zu überleben. In seiner Familie ist Pfaff in der Tat nur noch als einziger am Leben: ein Überlebender in seinem eigenen Kabinett, dem »Sarg« (I, S. 120). Auch zur Realisation seines Prozesstraumes braucht Pfaff eine Leiche, er rechnet mit dem Tod wie alle Machthaber, möchte die Bettler, das »Gesindel«, am liebsten köpfen (I, S. 405).17 Als Kien sich rührt, tut es ihm für einen Moment leid, dass das Opfer lebt und ihn um seine Wirkung bringen wird (I, S. 111). So wie er sich für gesegnet hält, so segnet aber auch er.18 Er verleiht Kien »aus eigener Kraft« den Professorentitel und fordert auch dafür sein monatliches Dussör (I, S. 305).19 Der erste onomastische Befund lautet also: Wie alle Vornamen der Blendung weist der Vorname Benedikt seinen Träger als einen Machthaber aus. Wenn man auch in der Figur des Hausbesorgers das Gesicht des Machthabers erkennt, überrascht es nicht, dass er in seiner imaginierten Rede vor Gericht dieselbe Anrede verwendet, mit der sich Fischerle, der Kommandant und, geringfügig verändert, auch Kien der Menschen zu bemächtigen suchen: »meine Herren« (I, S. 109f.). Doch Pfaffs Macht bleibt nicht auf seine Traumwelt beschränkt. Er genießt Respekt im Haus, seiner realen Welt, die er wie seinen

|| 17 Die Nachbarin Pilz möchte Pfaff am liebsten täglich dreimal erwürgen, eine stetige Wiederholung des Überlebenstriumphes (I, S. 417). Vgl. zum Namen Kapitel B2, Anm. 17. 18 Vgl. dazu die etymologische Erklärung in Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 183: »Benedictus heißt also, weil er vieles gesegnet hat; oder weil er viel Segnungen hatte in diesem Leben; oder weil alle ihn segneten; oder weil er den ewigen Segen verdient hat.« 19 Vgl. die analoge Szene in I, S. 185, in der der Portier Kien zum Besitzer der Hofbibliothek erhebt und »Hof« dabei »aus eigenen Stücken« voransetzt.

Benedikt Pfaff | 561

persönlichen Besitz behandelt (I, S. 461).20 Niemand wagt es, ihm zu widersprechen oder sein brutales Vorgehen gegen Bettler und Hausierer zu tadeln, niemand ist dem »kraftstrotzende[n] Mann« (I, S. 402) gewachsen, der aus dem Schlagen (wie Fischerle in übertragener Form) eine regelrechte Kunst gemacht hat. Selbst wenn er durch das Treppenhaus stampft, ist es so ruhig, dass seinem eigenen Empfinden nach nicht einmal eine Mücke zu hören ist oder eine Stecknadel sich zu fallen getraut (I, S. 91). Das Schweigen der Menschen, die wie die Journalisten in Fischerles Traum zum Zuhören verdammt sind, korrespondiert mit der brüllenden und raubtierhaften Stimme des Hausbesorgers, die weitaus mehr an einen Löwen denken lässt als an einen Kater. Mit dieser Stimme, die Kien in apokalyptisch-deprimierter Stimmung als Posaune erscheint (I, S. 119), erteilt Pfaff unaufhörlich Befehle; eines seiner Lieblingswörter, der Kern seiner akustischen Maske, ist »Kusch«. So befiehlt er nicht nur den Mietsparteien Kien als Professor anzusprechen, obwohl der nie an einer Universität unterrichtet hat, sondern er befiehlt auch seinen Kanarienvögeln zu singen, befiehlt Therese, die Bücher zu versetzen und Essen zu kochen. Schließlich will er in Kiens Wohnung, analog zu seiner Herrschaft über das gesamte Haus, das »Kommando« über einige Putzfrauen führen (I, S. 89, 289, 308 und 424; Zitat S. 415). Kein Wunder, dass er von einer Zukunft als »Zirkusdirektor mit einer eigenen Athletennummer und gezähmten Vögeln [träumt], die auf Befehl gleich singen und auf Befehl wieder kuschen« (I, S 499). Sein »Ideal« ist ein Leben, das aus einer nie abreißenden Kette von Befehlen besteht, mit ihm selbst an der Spitze: ein Leben ohne Befehlsstacheln.21 Die bisherige Biografie des Hausbesorgers ist eine permanente, mit Eifer betriebene Annäherung an diesen Glückszustand. Schon als Polizist hatte er, ein zweiter Wondrak, mit brüllender Befehlsstimme seine Heldentaten in die Welt hinausgerufen, und zwar so lange, »[…] bis ein gaffender Haufe von Menschen ihn umgab« (I, S. 311). Noch die Masse vor dem Theresianum bewundert ihn als Helden (I, S. 320f.). Gerade die kühn zupackende Art des Helden macht ihn für Kien im Haus unentbehrlich. Als »mächtiger Freund« (I, S. 91) schafft Pfaff im passenden Moment brüllend jene Ruhe, die er zum Arbeiten braucht. Dennoch täuscht er sich, wenn er Pfaff als »hilfreiche[n] Schädel« sieht (I, S. 92). Denn im || 20 Wie sehr Pfaffs Denken von der Kategorie des Besitzes geprägt ist, belegt die Tatsache, dass er sich gegen Kien gerade in dem Moment wendet, als der das Guckloch als »meine – Arbeitsstätte« bezeichnet. Pfaff antwortet ihm mit einer tautologischen Wendung: »›Mein Loch gehört mir!‹« und verschließt die Klappe (I, S. 424). 21 In diesem Zusammenhang bekommt die Selbstbezeichnung »Kater« neuen Sinn. Denn Katzen gelten als undressierbar. Vgl. Irmela Roschmann-Steltenkamp: Art. Katze. In: Brednich u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens (wie Kapitel A4, Anm. 33) 7, Sp. 1099–1109.

562 | Die Blendung

dritten Teil des Romans zwingt ihn dieser Schädel aus »Herrschsucht« auf die Knie (I, S. 415). Die Macht, die Pfaff sich im begrenzten Bereich des Hauses durch Gewalt und Befehl verschafft hat, setzt eine persönliche Verlusterfahrung voraus: das Ende seiner Befehlsgewalt im öffentlichen Bereich, in »jenen mächtigen Tagen als Polizist« (I, S. 109). Mit der Pensionierung ist der »Segen« des Amtes verloren gegangen – jene Hoheitsrechte, die ihn, den Oberbeamten, sowohl aus der Masse der Zivilisten, die Polizisten wie ihn fürchten und bewundern22, als auch aus der Gruppe der Kollegen herausgehoben hatte. Pfaff musste erkennen, dass er nicht so unersetzlich ist, wie er es zu sein begehrt (vgl. I, S. 88 und 408); man konnte ihn wie einen gewöhnlichen Beamten durch einen andern ersetzen. Fast gleicht er, der rothaarige Muskelprotz, der im Roman an vielen Stellen als Jäger erscheint, seit seiner Pensionierung dem biblischen Jäger Esau, der sich um seinen Segen betrogen fühlte.23 Nur hat Esau den Segen nie besessen, seine Verlusterfahrung beruht auf einem Versprechen, einer soziokulturellen Tradition, auf die er sich beruft. Pfaff hingegen trauert wirklichen Erfahrungen hinterher. Doch er trauert nicht nur, sondern er schafft sich als Hausbesorger einen Ersatz, der es ihm erlaubt, auch im Ruhestand, wenngleich nur notdürftig, seiner Passion zu frönen: dem Verhaften. Über das Verhaften schreibt Canetti in Masse und Macht:

|| 22 Vgl. I, S. 320f.: »Die Menge umringt die Polizei mit Bewunderung. An der Uniform spürt man, was die immer dürfen. Die anderen dürfen es nur, solange die Polizei nicht da ist. Bereitwillig macht man Platz. Männer, die hart um ihre Stellung gekämpft haben, geben sie zugunsten der Uniform auf. Weniger entschlossene Naturen weichen zu spät zurück, sie streichen den rauhen Stoff und erschauern.« 23 Zur Jagdmetaphorik vgl. z.B. I, S. 109 (»Er wurde harmlos und schwach, wie in jenen mächtigen Tagen als Polizist, wenn es ein besonderes Wild zu überführen galt […] Seine Augen, sonst starr auf den Gegner gerichtet, rückten zahm in die Winkel und legten sich hier auf die Lauer.«), I, S. 409 (»Sein Auge wußte nicht, was die Hand tat, es war starr und stier auf einund ausgehende Beine gerichtet.«) und I, S. 424 (Pfaffs Fäuste liegen »auf dem Sprung«). Siehe dazu Gen 25,24–27. Esau ist »rötlich, über und über mit Haaren bedeckt« und wird als Erwachsener zum Jäger. Zu Esau, der sein Erstgeburtsrecht wegen eines roten Linsengerichts verkaufte (Gen 25,29–34), passt auch Pfaffs gewaltiger Appetit. Nicht zuletzt ähneln sich Judas und Esau, den etwa Abraham a Santa Clara in Judas der Erzschelm als Beispiel für »viel tausend Geizhäls und Wucherer« vorstellt (Abraham a St. Clara's Sämmtliche Werke. 3. Band. Passau: Friedrich Winkler 1835, S. 414). In Canettis Bibliothek steht unter der Signatur CAN 05570 die folgende Ausgabe von Judas der Erzschelm. Abraham a Santa Clara: Werke in Auslese. Hg. von Hans Strigl. Bd. 6. Wien: Kosch 1907. Allerdings lässt sich nicht nachweisen, ob Canetti das Buch vor oder während der Entstehungszeit der Blendung gelesen hat.

Benedikt Pfaff | 563

Die endgültige Berührung, die Berührung, in die man sich findet, weil jeder Widerstand, und besonders der in der Zukunft, als aussichtslos erscheint, ist in unserem sozialen Leben zur Verhaftung geworden. Es genügt, die Hand dessen auf der Schulter zu spüren, der zur Verhaftung legitimiert ist, und man ergibt sich gewöhnlich, noch bevor es zum eigentlichen Ergreifen kommt. Man duckt sich, man geht mit; man führt sich gefaßt auf; und doch ist es keineswegs überall so, daß man den weiteren Vorgängen mit Ruhe und Vertrauen entgegensehen kann. (III, S. 238)

Die Verhaftungen, die Pfaff als Oberbeamter vorgenommen hatte, dienten nicht der öffentlichen Sicherheit oder der Glorie der Polizei, nicht politischen Zwecken oder der Gerechtigkeit, sondern der Eigensucht. Pfaff wollte bei jeder Verhaftung Aufsehen erregen, man sollte ihn wahrnehmen und loben, er wollte von der Menge, vor allem von Frauen, als Held bewundert werden, kaum anders als Fischerle.24 Gerade deshalb hatte er bei den Vorgesetzten aber seinen Kredit verspielt. Sie hatten die Gefahr erkannt: dass er die übrigen Polizisten, auch sie selbst, überflügeln könnte. Pfaff gehörte demnach nie zu den »ergebenen Beamten«, die etwa im Theresianum ihren Dienst tun (I, S. 224), seine Verhaftungen hatten ein hybrides, um nicht zu sagen: revolutionäres Element. Nach seiner Pensionierung entbehrt er der Selbstvergewisserung, die die Verhaftungen ihm geschenkt hatten. Er lebt daher in der »Hoffnung auf eine richtige, laute Verhaftung unter stärksten Schwierigkeiten« (I, S. 312). Vor dem Theresianum gelingt es ihm, die »lang entbehrte Verhaftung« durchzuführen, wenn auch ohne das übliche Gebrüll (I, S. 311). Er legt Kien, wie später in Masse und Macht modellhaft beschrieben, die Hand auf die Schulter und erklärt, »[…] als sei er wieder aktiv: ›Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!‹« (I, S. 310) Sein Auftritt endet anders als geplant: mit einer Umkehrung der Machtverhältnisse. Pfaff selbst wird verhaftet. Während er sich vor dem Theresianum zuvor noch darüber gefreut hatte, »daß ein Weib zusah«, hatte er in seiner Wohnung vor Jahren gerade ein »Weib« regelmäßig verhaftet: die eigene Tochter. »Er hatte sie gepackt und auf seinen Schoß gezogen, mit der Rechten zwickte er sie in den Nacken, weil sie verhaftet war […].« (I, S. 405)25 Später, als sich die Tochter aus Angst im Hinterzimmer der Wohnung verbarrikadiert hatte, hatte er in einer grotesken

|| 24 Auch Kien sieht in Pfaff zeitweise mehr als eine »treue, gutgeformte Natur«, die an einen Landsknecht erinnert (I, S. 118). Wenn es gegen Therese geht, ist Pfaff auch für ihn ein Held: »Kien sah die Fäuste unter den Heldentaten, die sie vollbracht hatten, wachsen. […] Die Faust stieß ins Nebenzimmer vor und erdrückte Therese im Bett, wo sie plötzlich war.« (I, S. 118) 25 Ihre »tagelangen Stunden« zu Hause werden als »Haft« bezeichnet (I, S. 403). Siehe dazu auch das Bild, das Kien in Pfaffs Wohnung findet: »Ein Vater saß breitbeinig da, die Rechte hielt er verhaftend auf der Schulter einer schmalen Frau; mit der Linken preßte er ein kaum dreijähriges Kind an sich, das schüchtern über seinem Schoß schwebte.« (I, S. 425f.)

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Kurzschlusshandlung die Tür aufgebrochen und sie aus Gewohnheit wie einen Verbrecher angebrüllt: »›Im Namen des Gesetzes!‹« (I, S. 410) Im Gegensatz zur Szene vor dem Theresianum war die Umkehrung aber ausgeblieben. Die Einschränkung des Wirkungskreises von einem »Rayon« (I, S. 311)26 auf den privaten Bereich zieht bei Pfaff, im dialektischen Umschlag, eine Entfesselung der Gewalt nach sich. Die Verhaftung, eine gesellschaftlich sanktionierte und genau geregelte Form der Berührung, regrediert nach seiner Pensionierung auf ihren animalischen Ursprung. Der rote Kater wird gemäß seiner »wilde[n] Natur« (I, S. 311) im eigenen Haus zu einem grimmigen (Mäuse-)Jäger, der seine Opfer, die Bettler, nicht nur berührt, sondern auch ergreift, noch entschlossener als die Katze Therese, und sie am liebsten sogar zerquetschen würde: »Ich bin der rote Kater. Ich fress' sie tot! Ein Element muß das Zerquetschen spüren!« (I, S. 405)27 Vor dem Guckloch seines Kabinetts kniend, liegt Pfaff wie ein ausgehungertes Raubtier, ein Cerberus in Katzengestalt, auf der »Lauer«, fängt »verkommene Existenzen« ab und prügelt sie halb tot (I, S. 88). Seine hinterhältigen Angriffe beruhen wie bei allen Machthabern auf Urteilen: einer dualistischen Klassifikation in »Gut« und »Schlecht« (vgl. III, S. 352). Er beurteilt von seinem Guckloch aus die Röcke und Hosen nach »Fasson, Wert und Würde« und hat darin »[…] soviel Sicherheit erlangt wie früher im Verhaften.« (I, S. 88) Deshalb rühmt er sich vor Kien, dass er, der rote Kater, mit seinen Augen die Dunkelheit entlarven und die Bettler erkennen könne (I, S. 417).28 In diesem Selbstlob klingt eine typische Eigenschaft des Machthabers an: Pfaff hockt hinter der Tür, wo ihn niemand sehen kann, und sieht doch alles; er durchschaut, aber er lässt sich nicht durchschauen. Die Arbeit am Guckloch ist eine perverse Variation seiner Tätigkeit als »Inspektor« (I, S. 290). Das Durchschauen hat indes seine Grenzen: Eines Abends springt Pfaff Kien, den er für einen Bettler hält, an die Kehle (I, S. 89).29 Dieser Sprung von unten, aus dem Knien heraus, nach oben, an die Kehle, die bei Kien »sehr hoch« liegt und schwer zu erreichen ist (I, S. 89), ist

|| 26 Diese Einschränkung ist eine genaue Verkehrung von Kiens Schicksal. Aus seiner Privatbibliothek vertrieben, zieht Kien durch die Stadt, die er in »Rayons« eingeteilt hat (I, S. 181). 27 Vgl. dazu III, S. 239: »Aber noch mehr als Gefährlichkeit und Wut treibt einen Verachtung in die Richtung des Zerquetschens.« 28 Die Metapher des Katers umfasst auch auf Pfaffs Verstellungskunst. Nach seinem irrtümlichen Angriff auf Kien »zerrte« er ihn »[k]atzenfreundlich« ins Kabinett (I, S. 89). Als der Hausbesorger Therese des Mordes zu überführen sucht, fällt in seinen Augen ein »listige[s] Blinzeln« auf (I, S. 111). 29 Die anderen Sinologen sind für Kien »stille, scheue und kurzsichtige Mäuse« (I, S. 17). Obwohl er sich ihnen überlegen fühlt, wird er bei der ersten Begegnung mit Pfaff gleichsam selbst zu einer Maus.

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aggressiver als Fischerles plötzliches Auftauchen neben dem Bett. Doch es ist dieselbe Bewegung: aus der Position des (scheinbar) Ohnmächtigen in die des Mächtigen – ein weiterer Beleg für Pfaffs aufmüpfigen Charakter. Fischerle, im Umgang mit der Polizei erfahren und mit dem gleichen hybriden Charakter ausgestattet, erkennt als einziger den kompensatorischen Zusammenhang zwischen dem einstigen Polizeidienst und dem Ruhestand: »[…] die Pensionierten, die sind am ärgsten. Die gehen vor Faulheit auf Unschuldige los. Weil sie nicht mehr verhaften dürfen, werden sie bei jeder Gelegenheit rabiat und schlagen harmlose Krüppel zu Krüppeln.« (I, S. 290) Zwar prügelt Pfaff Kien nicht wie Therese, aber auch er bemächtigt sich seiner. Als Kien sich von seinem Sturz erholen muss, sitzt er »zu persönlicher Überwachung« täglich eine Stunde am Krankenbett (I, S. 116). Später sperrt er ihn, wütend über Kiens Aufmüpfigkeit, im eigenen Kabinett ein, jetzt nicht mehr nur Wohnung und Wachstube, sondern auch Gefängnis und symbolischer Magen. Damit kommt der Prozess des Belauerns, Berührens und Ergreifens in wenigstens einem Fall an ein (vorläufiges) Ende. Fischerle hat freilich Unrecht, wenn er alle pensionierten Beamten für arbeitsscheu erklärt. Bei Pfaff ist das Gegenteil der Fall, sein Lebensmotto lautet: »Der Mensch muß arbeiten, und wer nichts arbeitet, fällt dem Staate zur Last.« (I, S. 353; vgl. auch S. 408) Dieses Lebensmotto verrät zum einen Pfaffs übersteigertes bürgerliches Arbeitsethos, das den Menschen ökonomisch zurichtet, ihn je nach Kraft und Willen als brauchbar oder unnütz einstuft und selbst für die Pension, den Fixpunkt seiner Geldgier und Stabilitätssucht30, noch eine Gegenleistung fordert. Und es verweist zum anderen auf seinen Vornamen. Denn dessen berühmtester Träger, Benedikt von Nursia31, hatte nicht nur die stabilitas hochgeschätzt, sondern auch die körperliche Arbeit, bei der römischen Oberschicht verpönt, in ihrer Bedeutung aufgewertet. Die Mönchsregel, die er entworfen hat, ist darum unter den beiden Schlagworten »Ora et labora« bekannt geworden. Dass Pfaffs Vorname auf den heiligen Benedikt verweist, scheint der Name seines vermeintlichen Gegenspielers zu bestätigen, jenes

|| 30 Pfaffs größte Angst besteht darin, dass er seine Pension verlieren könnte. Vgl. etwa I, S. 316: »Der Hausbesorger erstarrt. Er sieht, wie jemand jeden Ersten kommt und ihm die Pension wegnimmt, statt sie ihm zu bringen.« Vgl. auch I, S. 411: »Der Staat sagt: Ich zahl' die Pensionen nicht, und die Welt geht unter!« 31 Im Hinblick auf Benedikt XV. (1914–1922), den Friedenspapst, den Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit um ein Ende des Mordens in Europa beten lässt, ist der Vorname des prügelnden Hausbesorgers paradox. Vgl. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten, mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Werke; 5/suhrkamp taschenbuch; 1320), S. 190.

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Mannes, den sich seine Tochter als künftigen Mann und Mörder ihres Vaters erträumt. Er ist so schwarz wie Pfaff rot und heißt wie der Gründer des zweiten großen Mönchsordens der europäischen Christenheit, der Konkurrenz der Benediktiner: Franz.32 Seinem Namensvorbild ähnelt er aber nicht. Statt seinen || 32 Canetti hat die Figur der Anna Pfaff nach dem Vorbild seiner geistig kranken Cousine Mathilde gestaltet, der ältesten Tochter von Josef und Bellina Arditti, allerdings »in völlig übertriebener Weise«. Denn sie wurde von ihrem Vater tyrannisiert, dessen Prozesssucht im »Prozesstraum« des Hausbesorgers nachklingt. Mathilde arbeitete als Geldbotin im Dienst eines Geldwechslers namens Behar, für den sie das Geld an den Schaltern einzuzahlen hatte. »Den Schalter, an den sie ging, konnte sie selber wählen; es war während einer bestimmten Periode immer derselbe Schalter, der, an dem der Mensch bediente, dem sie sich zu dieser Zeit gern aufgeopfert hätte. Ein ganzes Jahr lang oder noch länger konnte es dann ein einziger Name wie ›Fritz‹ sein, den ich von ihr zu hören bekam. Während der kurzen Momente vor dem Schalter, – oft warteten schon andere hinter ihr, die dort bedient sein wollten – wechselte sie zwei oder drei wichtige Sätze mit dem Beamten, dem ihre Hingabe schmeichelte, obwohl er sie lächerlich fand. Mathilde war weder schön noch anziehend und niemand hätte sie sich zur Geliebten gewünscht. Sie bemerkte jede Geste dessen, an den sie sich wandte, jede Eigenheit seiner Kleidung, jeden Ton seiner Sprache, aber was er gar sagte, der Inhalt seiner Sätze, mit denen er sich gewöhnlich über sie lustig machte, war [für] sie unverrückbar und von solcher Bedeutung, dass man es nur [mit] dem vergleichen kann, was andere aus ihren heiligen Büchern beziehen. Sie wendete diese Sätze Tag und Nacht hin und her, suchte auf ihren Sinn zu kommen und zu ergründen, ob irgendeine verkappte Wohlgewogenheit ihnen zu entnehmen sei. Sie fand beinahe immer etwas, das ihr nicht ganz ungünstig schien und sprach zu mir davon wie von einer Verheissung. Sie wollte sich aber auch für soviel Gunst erkenntlich zeigen und wälzte dann während Nächten und Wochen und Monaten im Kopf herum, was sie tun könnte, um ihrem vermeintlichem Gönner eine Freude zu bereiten. Im Falle Fritz waren es Briefmarken, die sie für ihn sammelte, und da wurde sie, der freundlichste aller Menschen, der nichts für sich behielt, so habgierig, dass man es nicht gewagt hätte, ihr eine einzige Marke, die man bekam, je vorzuenthalten. Soweit es um orientalische Länder ging, konnten sie sich für die Fritzsche Sammlung als nützlich erweisen. Herr Behar, der Perser war, bekam viele Briefe aus dem Nahen Osten und überliess ihr, als eine Art Aufbesserung ihres erbärmlichen Gehalts, die Briefmarken, die er nicht brauchte, es waren unzähligemale dieselben. Es fiel Mathilde nicht leicht, zu warten, bis sie ein paar Marken beisammen hatte. Am liebsten wäre sie gleich mit jeder in die Postsparkasse gerannt, vor den Schalter, für den sie lebte, aber soviel hatte sie doch gelernt, dass man mit einzelnen Marken wenig Dank erntet, wenn sie nicht rar und wertvoll sind, wohl aber mit einem vollen und reichhaltigen Kuvert. Sie gab mir zuweilen das Kuvert zu fühlen, wenn ich in die Hüttelbergstrasse kam, ob es schon schwer genug sei, leerte aber nie seinen Inhalt vor mir aus. ›Das ist nicht für deine Augen bestimmt‹, sagte sie und so eifersüchtig hütete sie, was sie für Fritz sammelte, dass es einem selber auch als etwas Wertvolles erschien und man sich manchmal fragte, ob nicht vielleicht doch die eine oder andere seltene Marke ins Kuvert geraten war. Wenn dann der Tag kam, an dem das Kuvert voll genug war und sie es ihm unter dem Gitter hinschob, trachtete sie einen Moment zu erwischen, da kein Zeuge zugegen war, denn sonst riskierte sie von Herrn Fritz angefahren zu werden, der es vor jedem Anwesenden deutlich machen musste, wie wenig ihm an der lächerlichen alten

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Besitz an die Armen zu verschenken, will er mehr Geld für sich und stiehlt die Kasse des Konsumvereins. Wie aber steht es um Pfaffs Verbindung zu seinem Namensahn?

6.6.2 Parallelen zu Benedikt von Nursia Als Pfaff Kien bei sich aufnimmt, richtet er schon bald eine Klingelleitung zwischen der Bibliothek und dem Kabinett ein. Mit dieser Vorrichtung soll Kien ihn insgeheim benachrichtigen, sobald ein Bettler das Haus betritt (I, S. 415). Diese Szene erinnert recht deutlich an die Benedikts-Legende. Auch in der Vita des Heiligen, so wie Jacobus de Voragine sie, anschließend an die Lebensbeschreibung Gregors des Großen33, in der Legenda Aurea erzählt, kommt eine Klingelleitung vor. Der Mönch Romanus hat sie eingerichtet, um Benedikt, der zu dieser Zeit als Einsiedler in einer Höhle lebt, zu informieren, wann er ihm einen Korb mit Essen herunterlassen wird.34 In Die Blendung ist sowohl die Richtung als auch der Sinn dieser Klingel verkehrt. Ähnlich verhält es sich mit den drei Kanarienvögeln, die auf Pfaffs Befehl für den vierten Vogel singen. Sie erinnern an die drei Raben, die Benedikt in der Wüste mit Brot versorgt haben sollen, zugleich aber auch an die Vögel, zu denen Franziskus gesprochen haben soll35. Sowohl die Klingelleitung als auch die Kanarienvögel sind im Roman freilich, anders als in der Legende, Vehikel der Macht – einer irdischen Macht, die Pfaff, wie sein Traum vom eigenen Zirkus verrät, nicht weniger zum (Über-)Leben braucht als Benedikt das Brot in der Wüste. Diese Macht ist mehr als konkrete Gewalt; sie ist eine Perversion der Rede des Franziskus, da nun umgekehrt die Vögel singen müssen. Und sie ist eine Perversion der Befehlsgewalt des Abtes,

|| Jungfer lag, die ihn da mit Marken bestechen wollte. ›Was, schon wieder Marken?‹, hatte er einmal unwirsch ausgerufen, als zwei Leute hinter ihr standen. ›Ja was glauben Sie denn eigentlich, Fräulein, wo soll ich mit all diesen Marken hin? Wieso wissen Sie überhaupt, dass ich Briefmarken sammle? Ich habe Ihnen das nie gesagt.‹« Zitiert nach ZB 59, 19. August 1979 (Hervorhebungen im Original). Der Name des Postbeamten Franz in Die Blendung erinnert aufgrund derselben Anfangsbuchstaben an Fritz. 33 Vgl. Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen vier Bücher Dialoge. Aus dem Lateinischen übersetzt von Joseph Funk. München: Kösel & Pustet 1933 (Bibliothek der Kirchenväter; 2. Reihe, Bd. 3: Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen ausgewählte Schriften, Bd. 2), S. 52. 34 Vgl. Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 183. 35 Vgl. dazu eine Aufzeichnung in Nachträge aus Hampstead: »Alles was mit dem heiligen Franziskus zusammenhängt, ist erregend.« (V, S. 250)

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des »Vaters« der Mönche, der durch eine Benediktion, eine Segnung, in sein Amt eingeführt wird. Der Abt, so die Benediktsregel, darf boshafte, hartherzige, stolze und ungehorsame Mönche züchtigen und sich dabei auf eine Stelle im Buch der Sprüche berufen (Spr 23,14): »Schlage deinen Sohn mit der Rute, so rettest du sein Leben vor dem Tod.«36 Aber er muss stets bereit sein, diese Bestrafung, überhaupt seine gesamte Amtsführung, vor Gott zu rechtfertigen. Pfaff hingegen, der Frau und Kind erzieht und bei Verfehlungen bestraft, weigert sich sogar vor sich selbst, zu bekennen, dass er mit seinen Schlägen ihren Tod herbeigeführt hat. Seine Gewaltexzesse haben nicht mit seiner Verantwortung ihnen gegenüber zu tun, sondern mit einer Leidenschaft: seiner Gier nach Essen.37 Auch darauf könnte sein Name hinweisen. Denn die Mönche sprechen zumeist dreimal täglich, vor den Mahlzeiten, einen Segensspruch über ihre Speisen, der mit »Benedicite« beginnt.38 Auch der Hausbesorger heiligt sein Essen, wenngleich anders als sie; es ist lange Zeit der Mittelpunkt seines Lebens und Denkens. Er, ein »Mensch von ungeheurem Appetit« (I, S. 307), isst mehr als alle anderen Figuren der Blendung und benötigt Kiens Douceur für den Kauf von Lebensmitteln: »Mit den Jahren wuchs sein Hunger. Er fand das Kabinett für ein ausgiebiges Kochen zu klein und befahl die Übersiedelung der Küche in das hintere Zimmer.« (I, S. 402) Dieser Befehl gilt seiner Frau, die für ihn zu kochen hat, bald sogar dreimal mehr als früher. Pfaff braucht eine »reichliche, nahrhafte, sorgfältige und servierte Kost« (I, S. 401). Das letzte Attribut, das in das (erweiterte) Trikolon sowohl inhaltlich als auch formal nicht hineinpasst, weist auf ein Machtverhältnis hin. Der Hausbesorger mit seinem gewaltigen Appetit entspricht dem Typus des Meistessers, den viele archaische Völker, wie Canetti in Masse und Macht beschrieben hat, zu ihrem König erhoben haben. »Für die Familie«, heißt es nur wenig später in Canettis Studie, »trägt der Mann seinen Teil der Nahrung bei, und die Frau bereitet ihm die Speise. Daß er von ihrer Speise regelmäßig genießt, macht das stärkste Band zwischen ihnen aus. Am innigsten ist das Leben der Familie dort, wo man am häufigsten zusammen ißt.« (III, S. 259) In Die Blendung ist es umgekehrt, die Bande werden zerstört: Die Frau magert aufgrund der anstrengenden Arbeit des Kochens immer weiter ab, während ihr Mann im Gegenzug kräftiger wird, ein Koloss, der ihr das Leben

|| 36 Vgl. Die Regel des Hl. Benedikt. Hg. von der Salzburger Äbtekonferenz. 5. Auflage der Neubearbeitung, Beuron: Beuroner Kunstverlag 1990, S. 38. 37 Vgl. zu diesem Zusammenhang I, S. 403: »Seine kauenden Kinnladen waren so unersättlich wie seine Arme.« 38 Noch heute heißt es im Spanischen: »Sin benedecer la mesa con el benedictu, no empézabamos a comer.« (»Wir beginnen nicht zu essen, bevor das Tischgebet gesprochen ist.«)

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entzieht und sie schließlich zu Tode prügelt. Der Tochter ergeht es nicht besser: Während sie den Vater bekocht, ihm das Essen wie eine Magd serviert, verliert auch sie an Gewicht und stirbt vor ihrer Zeit, von den Schlägen und der Schwindsucht zermürbt. Obwohl Pfaff, Polizeibeamter und Mörder in einer Person, mit dem asketischen Heiligen und dem idealen Abt der Regula Benedicti trotz aller Anspielungen nichts gemein hat und auch nichts mit dem Portarius eines Klosters, der Pilger und Notleidende in tätiger Nächstenliebe zu empfangen hatte, ist sein Name dennoch mehr als eine Maske. Über das tertium comparationis des Essenssegens bringt dieser Name zugleich das Wesen des Hausbesorgers zum Vorschein und eine seiner fixen Ideen: »Seine Augen hafteten am Teller, starr und verzückt. Mit der Abnahme des Haufens erlosch ihr Glanz.« (I, S. 404)39 Diese fixe Idee, gepaart mit dem Willen zur Macht über die Nahrungsversorgung, lässt Pfaff von einem Leben als Wirt träumen. Sie findet sich, in weniger ausgeprägter Form, auch bei Therese, die nie mehr hungern will und in dem Meistesser ihren Herrn findet. Trotz dieser Befunde darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Hausbesorger erst seit dem Tod von Frau und Tochter in mönchischer Einsamkeit lebt. Auch seine Wohnung ähnelt erst nach der Abtrennung des größeren Zimmers, der früheren Wirkungsstätte der Tochter, der Zelle eines Mönchs.40 Selbst dann jedoch bezeichnet Pfaff sich nicht als Mönch oder Einsiedler, nicht einmal metaphorisch. Im Gegensatz zu Kien und Fischerle spricht er nie über Mönche. Zunächst, im »Idealen Himmel«, ist es der Zwerg, der in schreiender Unkenntnis der kirchengeschichtlichen Tradition behauptet, er und seine Frau lebten wie Mönche bzw. Nonnen. »Jeder Mönch hat eine Frau, und die heißt Nonne. Aber was glauben S', wie getrennt die leben! Eine solche Ehe wünscht sich ein jeder […].« (I, S. 196f.) Canetti legt Fischerles absurden Ausführungen die wörtliche Bedeutung des griechischen »monachos« zugrunde, das aus dem Adjektiv »monos«, allein, gebildet ist (vgl. Monika in Hochzeit). Ganz ähnlich äußert sich später Kien in seiner Polemik gegen die Frauen, wobei er sich allerdings auf das buddhistische Mönchtum bezieht. Nach einem einleitenden Hinweis auf Bud-

|| 39 Auch für Pfaff ist Geld Mittel zum Zweck. Es soll ihm den Kauf der riesigen Essensmengen ermöglichen, die er zum Leben benötigt. Wie sehr Essen und Geld in seinem Kopf zusammengehören, verrät an dieser Stelle das Adjektiv: »Er hielt das saftige Stück Geld für sicher, solange der Professor am Leben war.« (I, S. 116) 40 Das bezieht sich hauptsächlich auf die karge Einrichtung, die nur aus einem Bett und einem Kasten besteht (I, S. 462). Schon zuvor verrichtet Pfaff in seinem Kabinett gleichsam eine tägliche Andacht. Er kniet aber nicht vor Gott, sondern vor seinen Massensymbolen, den Röcken und den Hosen.

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dhas Misogynie zitiert er die erste der »acht schweren ›Ordnungen‹« für die Nonnen: Eine Nonne, wenn sie auch hundert Jahre ordiniert ist, muß vor jedem Mönch, wenn er auch erst an diesem Tag ordiniert ist, die ehrfurchtsvolle Begrüßung vollziehen, vor ihm aufstehen, die Hände zusammenlegen, ihn nach Gebühr ehren. (I, S. 476)

Die acht Ordnungen, darunter ein striktes Schweigegebot, so Kien weiter, habe »der Erhabene« als »Damm« gegen die »Weiber« eingerichtet. Nicht anders als dem ungebildeten Zwerg geht es also auch dem gelehrten Kien darum, die Trennung von Männern und Frauen zu einem Vorbild zu erheben. Wenn Fischerle das Mönchtum zwar mit Isolation assoziiert, einem monadenhaften Dasein, nicht aber mit einem zölibatären Leben, und wenn Kien am Beispiel der Mönche den Primat des Mannes begründet – dann ist, nach diesem Zerrbild, der Hausbesorger Benedikt Pfaff der ideale Mönch: ein westliches Pendant zu Buddha. Denn er liebt seine Frau ebenso wenig wie Fischerle, ihr Wohlbefinden ist ihm gleichgültig, und seine Misogynie ist so stark ausgeprägt wie bei Kien: »›Die Weiber gehören totgeschlagen. Alle, wie sie sind. Ich kenn' die Weiber. […] Alle sind Verbrecher.‹« (I, S. 116f.)41 Mit diesen Worten hat Pfaff vor Jahren bereits ernst gemacht. Selbst dass sich die Frau bei seinen Prügelorgien schützend vor die Tochter stellte, hatte ihn nicht zur Besinnung gebracht, sondern seine Wut nur gesteigert und ihn kurzerhand veranlasst, beide zusammenzuschlagen. »Weil eine Frau redet mir nichts drein. Mir nicht.« (I, S. 117) Noch Jahre nach dem Tod von Frau und Tochter sehnt er sich danach, »[…] wieder einmal recht auf Weiberfleisch loszuschlagen.« (I, S. 91) Vor diesem Hintergrund scheint es, als habe Canetti der katholischen Kirche mit ihren ausnahmslos männlichen Mönchen und Weltpriestern Misogynie unterstellt und dem Hausbesorger deshalb den Namen Benedikt Pfaff gegeben. Genauer überprüfen lässt sich diese Vermutung nicht, da entsprechende Zeugnisse fehlen. Ein anderer Befund ist ohnehin wichtiger: Pfaff gleicht in Aussehen und Verhalten den beiden mexikanischen Priestern, die Kien im Traum bei einer grausamen Zeremonie beobachtet: »zwei aufrechte Jaguare«, die die Zähne fletschen, fauchen und ihre Augen rollen lassen. Mit einem massiven Steinkeil schneiden sie ihrem Opfer die Brust entzwei, aus der sofort etliche Bücher hervorquellen (I, S. 38f.). Dieser Traum nimmt die Rolle vorweg, die der Hausbesorger im Leben des Büchermenschen spielen wird. Indem er Kien in seinem || 41 Vgl. dazu auch I, S. 118 (Kien): »Verbrechervolk der Frauen«. Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 190 fühlt sich an Lambrosos These erinnert, nach der Frauen über einen natürlichen Hang zur Kriminalität verfügen.

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Kabinett einschließt, trennt er ihn ebenso sehr von der Bibliothek, der Büchermasse, wie es Therese, das zweite Katzenraubtier des Romans, zuvor getan hatte. Eine weitere, allerdings nur hypothetische Erklärung für die Namengebung bringt eine Aufzeichnung ins Spiel, die Canetti erst mehr als zehn Jahre nach seinem Roman, im Mai 1943, geschrieben hat. Er interpretiert darin den Katholizismus als Erben des römischen Reiches und zählt einige Analogien auf: »Seine Erzbischöfe sind Prokonsuln, seine Klöster Kastelle, seine Priester einsame Legionäre auf Wacht.«42 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Canetti im Rahmen seiner Massestudien (zu »Katholizismus und Masse« vgl. III, S. 182–186) schon lange vor dem Mai 1943 über den Katholizismus nachgedacht und seine Erkenntnisse in dieser Aufzeichnung gebündelt hat. Zumindest könnte man den einsamen »Legionär auf Wacht« in der Figur des Hausbesorgers vorgebildet sehen. Er, der von Kien als Soldat, genauer: als Landsknecht identifiziert wird, bewacht den Zugang zum Haus und zum (Bibliotheks-)Himmel und lebt allein in seinem dunklen Kabinett. Während er sich zunächst, wenn auch nur scheinbar, dem zweiten Petrus und somit gewissermaßen obersten Priester Kien unterstellt, gewinnt er im dritten Teil Gewalt über ihn und wird selbst zum Befehlsgeber.43 Denn wie die Römer ist er hungrig nach Befehlen (vgl. IV, S. 45). Diese zweite Erklärung hat den Vorteil, dass sie die entscheidenden Züge der Figur noch einmal komprimiert vor Augen führt. Sie lässt sich aber nicht beweisen. Sicher ist demgegenüber, dass die beiden Bestandteile des Namens »bene« (Adverb zu »bonus« – gut) und »Pfaff« (pater) zusammen die Überschrift des einzigen Kapitels bilden, das ausschließlich vom Hausbesorger handelt: »Der gute Vater«.44 || 42 ZB 7, 7. Mai 1943. 43 Es ist zwar spekulativ, aber doch vorstellbar, dass Canetti Benedikt Pfaff nach Moriz Benedikt benannt hat. Denn Karl Kraus hatte ihn im Epilog seines Dramas Die letzten Tage der Menschheit als größenwahnsinnigen »Herr der Hyänen« dargestellt, als einen »andre[n] Papst«, den leibhaftigen Antichrist, der von der »Blutbilanz« des Krieges profitiere. Obwohl die Figur des Herrn der Hyänen ebenso mit Judas verglichen wird wie Canettis Benedikt Pfaff, ähnelt sie ihm äußerlich nicht im Geringsten. Moriz Benedikt hat bei Kraus einen schwarzen, graumelierten, kurzen Backen- und Kinnbart, der mit der »Haarhaube« verwachsen scheint. Zitate nach Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (wie Anm. 31), S. 750 und 753. Interessant ist aber, dass Therese, die sich Pfaff zumindest zeitweise unterwirft, an einer Stelle des Romans als Hyäne bezeichnet wird (I, S. 286). 44 Zunächst hieß das Kapitel nach der Tochter des Hausbesorgers noch »Poli«. Mit der Umbenennung, schreibt Hanuschek: Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 3), S. 239, habe sich der Fokus vom Opfer auf den Täter verschoben; so sei ein weiteres »Distanzierungssignal« getilgt worden. Hanuschek übersieht freilich, dass schon die ursprüngliche Überschrift die Perspekti-

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6.6.3 Pfaff und Anna Pfaffs Anspruch auf absolute Verfügungsgewalt zeigt sich am drastischsten im Martyrium seiner Tochter Anna, die mit Leib und Leben seiner patricia potestas unterworfen ist45: »›Schau'n S', meine Tochter selig, die war das Richtige für mich! Warum, weil's meine Tochter ist? Jung ist sie, ein Weib ist sie, und ich kann mit ihr machen, was ich will, weil ich bin der Vater.‹« (I, S. 120) Anna hat deshalb kaum eine ruhige Minute, sie unterliegt totaler Kontrolle, erst recht nach dem Tod der Mutter. Denn Pfaff braucht sie, um seinen Traum von einem Leben als einer Abfolge von Befehlen wenigstens im privaten Bereich zu verwirklichen. Sie muss ihn bekochen und bedienen, ihm gehorchen, sich zwicken, boxen, stoßen, dann wieder liebkosen und als »Arrestantin« in der Wohnung einschließen lassen (I, S. 402). Während sie zunächst – gleichsam auf objektiver Ebene – als eine pervertierte Anna Selbdritt mit Vater und Mutter zusammenwohnt, lebt sie seit dem gemeinsamen »Honigmond« (I, S. 405) – nun auf imaginativer Ebene – wie die heilige Anna in einem inzestuösen trinubium, einer allerdings gleichzeitigen Ehe mit drei Männern.46 Denn Pfaff zählt im eigenen Privatmythos für drei: Er ist zugleich Polizeibeamter, Ehemann und Vater (I, S. 401). Diese Vorstellung lässt erkennen, dass der Titel des Kapitels mehr als nur ironisch ist.47 Er bringt die fixe Idee des Hausbesorgers auf doppel|| ve des Täters enthält. Die Tilgung der Distanzierung des Autors von seiner Figur hat hier bereits begonnen. 45 Nach Bischoff: Stationen zum Werk (wie Kapitel A4, Anm. 37), S. 64 klingt im Namen Benedikt Pfaff bereits »Patriarchalisches« an. Sehr zweifelhaft ist die These von Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 160, die in Anna Mahler das Modell für Anna Pfaff zu erkennen meint, obwohl Canetti die Tochter Gustav Mahlers erst im Mai 1933 kennen lernte. Foell behauptet allerdings, Canetti habe seinen Roman zu dieser Zeit ein letztes Mal überarbeitet. Diese These beruht auf einem Missverständnis, die entsprechende Bemerkung aus Das Augenspiel lautet: »Ich beließ alles im Manuskript, wie es war, und erwartete den Augenblick, da ich die Änderung gern und nicht unter Druck vornehmen würde.« (IX, S. 42) Für den Druck hat Canetti später jedoch den eigenen Angaben zufolge nur den Namen des Büchermenschen geändert, der übrige Text sei unverändert geblieben. Ebenso abwegig ist Foells Behauptung, dass Annas Mutter Alma ein Vorbild für Therese gewesen sei (Vgl. ebd., S. 110). 46 Zum Trinubium der heiligen Anna vgl. Legenda Aurea (wie Kapitel A8, Anm. 59), S. 521. Nicht ganz überzeugend ist die These, dass Canetti die Tochter des Hausbesorgers nach Freuds Tochter Anna benannt habe. Vgl. Donahue: The End of Modernism (wie Einleitung, Anm. 132), S. 147. Denn eine (onomastische) Anspielung auf Freud selbst fehlt in Canettis Roman. Zur Namengebung angeregt haben könnte Canetti eher Kafkas Erzählung Die Verwandlung, die er während der Arbeit an Die Blendung las. Denn das Dienstmädchen der Samsas heißt Anna. 47 Nach Stieg: Frucht des Feuers (wie Einleitung, Anm. 137), S. 108 zeigt das Adjektiv »gut«, dass der Sprache der Macht (in Familie, Staat, Politik, Polizei und Kirche) nicht zu trauen sei.

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te Weise zum Vorschein. Zum einen hält Pfaff sich in der Tat für einen guten Vater: »Der gute Familienvater schließt das Kind an sein Herz.« (I, S. 408) – und übersieht, dass er sich um das Herz der Tochter nicht bekümmert (I, S. 403).48 Zum anderen lässt sich die Kapitelüberschrift aber auch auf Gott beziehen, den Kien, ebenfalls ironisch, als »gütige[n] Vater« bezeichnet (I, S. 486).49 Vor diesem Hintergrund enthüllt Pfaffs imaginäre Trinität, dass es auch ihm wie den übrigen Figuren um Selbstvergottung geht.50 Sein Wille soll geschehen; er hält ihn für unüberwindlich (I, S. 402) und trichtert ihn, ein Priester seiner selbst51, der Tochter ein, in einer Art von Katechese52, bei der sie einzelne Sätze zu vervollständigen hat. Zudem tauft er sie um und nennt sie Poli statt Anna, in seinen Augen ein »Ehrentitel«, der »ihre Eignung zu seinem Beruf« ausdrückt (I, S. 409).53 So erschafft er die Tochter nach seinem Bilde neu und ersetzt das affektive Band des Eigennamens, das ihm zuwider ist, durch einen hierarchischen, ebenso vereinnahmenden wie distanzierenden Titel. Zuletzt aber entzieht er ihr diesen Ehrentitel, stößt sie von sich und vernichtet sie, ein Gott des Todes. Dass er sie als seine Assistentin mit »teuflischen Schlägen« niederstreckt (I, S. 405), ist demnach bezeichnend. Pfaff ist Luzifer, den es an Gottes Stelle drängt. Die Bewegung von unten nach oben, seine tägliche Übung, erweitert ihren Radius und ihre Bedeutung. Pfaff, der rote Kater (teuflisches Tier)54, siedelt im Zuge seiner

|| 48 Vgl. dazu auch Urs Jenny: Von Vätern und Göttern: Elias Canetti. In: Merkur 20 (1966), H. 216, S. 285–288, hier S. 287: »Der gute Vater« ist ein »Miniatur-Modell absoluter, nur sich selbst verherrlichender Macht«. 49 Vgl. auch I, S. 386: »Bei einer edlen Stammtischkorona drückt unser Herrgott den gestrengen Vaterblick zu.« 50 Pfaff täuscht sich darüber hinweg: »Bis zum Herrgott verstieg er sich selten. Er hatte Respekt vor der allerhöchsten Stelle, die ihm zukam. Der Herrgott war mehr als ein Polizeipräsident.« Pfaff gehen diese Gedanken in dem Augenblick durch den Kopf, als Anna gegen ihn aufbegehrt. Der Herrgott ist für ihn ein Synonym für eine stabile Weltordnung, in der die Autorität des Vaters unangetastet ist. Insofern kann man die folgenden Sätze durchaus auf ihn selbst beziehen: »Um so mehr ergriff ihn die Gefahr, in der heute Gott selbst schwebte.« (I, S. 411) 51 In seiner Rede für Hermann Broch bezeichnet Canetti den Erhabenen als »Priester für sich allein«; er sei zugleich »der einzige Gläubige« (VI, S. 101). Der katholische Priester, der eine jahrtausendealte Tradition bewahrt und fortführt, mag Canetti darüber hinaus als Gegentypus des Verwandlungskünstlers erschienen sein: als ein Erstarrter, der sich an die scheinbar feste Form der Vergangenheit klammert. 52 Den Zusammenhang zwischen dem Vor- und Nachsprechen und dem Katechismus erkennt auch Daugherty: Die Faust im Wappen (wie Kapitel B6.5, Anm. 88), S. 42. 53 Vgl. Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 72. 54 Vgl. Roschmann-Steltenkamp: Art. Katze. In: Brednich u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens (wie Kapitel A4, Anm. 33) 4, Sp. 1100–1104. Zu Rot als Farbe des Teufels vgl. Carl Mengis: Art. Rot.

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Liaison mit Therese vom höllischen Kabinett in den Bibliothekshimmel über und ersetzt dort Kien, den Messias der Bücher. Nicht nur die hochmütigen Gelehrten und die geknechteten Parias, sondern auch derjenige, der über den Namen den Gottgläubigen zugeordnet ist, möchte in Die Blendung den Höchsten vom Throne stoßen. Dass Pfaffs Nachname ausgerechnet aus einem Pejorativ für den Priester besteht55, mag darauf hinweisen, dass seine Herrschaft angefeindet wird, nicht nur von Therese (I, S. 313). Vor allem Anna träumt von einem Erlöser, dem schwarzen Franz, den sie sich mit ihrem geringen Verstand wie in einem historischen Roman (der schwarze Ritter in Ivanhoe) als »geheime[n] Ritter« imaginiert. Er soll die Machtverhältnisse verkehren (wie bei Therese und ihrer Mutter), soll dem Vater, der die Bettler am liebsten köpfen würde, selbst den Kopf abschlagen (I, S. 406) und ihn mit ihr zusammen auf den Friedhof zur toten Mutter bringen. »Beide knien am Muttergrab nieder und bitten um ihren Segen.« (I, S. 407) Statt des Vaters hat in Annas subversivem Traum die Mutter die Segensmacht. Doch dieser Traum verwirklicht sich nicht, es bleibt Anna nur übrig, als das Äußerste ihrer Revolution, zumindest auf ihrem richtigen Namen zu beharren bzw. den Namen Poli mit neuem Inhalt zu füllen:56 »›Dich kostet es den Kopf! Poli kommt von Polizei! Die Mutter kriegt deinen Kopf!‹« (I, S. 411) Danach lebt sie noch mehrere Jahre willenlos, wie ein menschlicher Automat, unter der Gewalt des Vaters: als sein »Dienstmädchen und Weib« (I, S. 413). Dennoch führt Pfaffs teuflischer Höhenflug schließlich zum Absturz. Er geht vor Georg in die Knie, den er für den Pariser Polizeipräsidenten hält, faltet die Hände und bittet ihn, den »Herrgott«, um Vergebung für den Tod seiner Tochter (I, S. 498). Wie bei den übrigen Figuren steckt aber auch in dieser Niederlage ein Sieg. Denn Georg richtet dem Hausbesorger am »anderen Ende der Stadt« (I, S. 498) eine Tierhandlung ein und gibt ihm darüber hinaus die Erlaubnis, bei entsprechendem Erfolg ein Gasthaus oder einen Zirkus zu eröffnen (I, S. 499). So wird Pfaff, ein besiegter Sieger, auch weiterhin unbehelligt bleiben und sich für den Tod seiner Tochter nicht verantworten müssen. Er wird ein Leben nach seinem Geschmack führen: als Befehlshaber, vielleicht sogar ausgestattet mit || In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Kapitel A2, Anm. 14) 7, Sp. 792–834, hier Sp. 801f. 55 Vgl. Scheichl: Is Peter Kien a Jew? (wie Kapitel B6.1, Anm. 220), S. 161. 56 Vgl. Knoll: Das System Canetti (wie Einleitung, Anm. 12), S. 72: »Seine Herrschaft über die Tochter ist untrennbar an die Macht des Namens geknüpft.« Es ist kein Wunder, dass der Hausbesorger sie als »Schlangenelement« bezeichnet (I, S. 411). Als Schlange und Frau initiiert Anna den Aufstand gegen seine ›göttliche‹ Macht. Im Gegensatz zu Thereses Aufstand, die ja gleichfalls mit einer Schlange apostrophiert wird, ist Anna aber nicht erfolgreich.

Benedikt Pfaff | 575

der Macht des Ernährers. Doch sein Wirkungskreis wird wieder auf den Bereich eines Hauses beschränkt. So gelingt es ihm nicht, die beiden Pole seines Namens zu versöhnen, der ihn einerseits zur Weltabkehr auffordert (Benedikt) und ihn andererseits der Welt verpflichtet (Pfaff).

576 | Die Blendung

6.7 Nebenfiguren Nicht wenige Nebenfiguren in Canettis Die Blendung bleiben namenlos. Sie werden dem Leser vorgestellt als Kommandant, Schneider, Lehrer, Dienstmann, Schuster, Kanalräumer, Hausierer, Portier, Blumenfrau, Sekretärin und Dienstmädchen. Man versteht diese Namenlosigkeit inmitten einer Welt voller komplexer redender Namen erst, wenn man bedenkt, wieviel Mühe sich Canetti mit der Benennung machte. Diese Mühe hielt er wohl für überflüssig bei Figuren, die nur selten erwähnt werden, aber wiederum auch öfter als nur in einem einzigen Satz wie das Dienstmädchen der Metzgers. Denn bei jeder dieser zahlreichen Figuren hätte er länger und intensiver nach einem passenden Namen suchen müssen als bei ihr, der er einfach den typischen Dienstmädchennamen Marie geben konnte. Es wird sich aber zeigen, dass Ausnahmen von der Regel existieren. Wie die redenden Namen der fünf Hauptfiguren stehen jedoch auch die Berufsbezeichnungen im Dienst einer (typisierenden) Charakterisierung, vergleichbar den funktionellen Namen in Die Befristeten. Sie ordnen die Figur hierarchisch ein, verraten ihren sozialen Rang, ihre Macht oder ihre Ohnmacht.1 So gehört der Kommandant, ein Vorläufer François Fants2 und ein Nachfolger des Pontius Pilatus, zur Gruppe der Mächtigen um die Gebrüder Kien. Aufgrund seiner Amtsautorität und seiner Befehlsgewalt verfügt er über reale Macht: Er kann Menschen verhaften und durchsuchen lassen, sie verhören und einsperren; er kann, seinem Dienstrang als Kommandant gemäß, Befehle erteilen und Gehorsam einfordern. Sein Appetit rückt ihn, den noch aktiven Polizisten, zudem an die Seite seines ehemaligen Kollegen Benedikt Pfaff, mit dem er auch den Wunsch teilt, hilflose Menschen mit den eigenen Händen zu zerquetschen (I, S. 339). Diese Macht jedoch, auch die stark ausgeprägte Eitelkeit des Kommandanten, kompensieren zwei Stigmata: einerseits seinen nur mittleren Bildungsabschluss und mehr noch andererseits einen physischen Makel, der ihn

|| 1 Bei der Blumenfrau kommt hinzu, dass sie von ihrem verstorbenen Mann stets geschlagen wurde und sich, zwölf Jahre nach dessen Tod, noch immer nach der Zuneigung sehnt, die ein Blumenstrauß symbolisch zum Ausdruck bringt (vgl. I, S. 265f.). 2 Der Kommandant versucht durch Krawatten von seiner kleinen Nase abzulenken, eine Kompensationsstrategie, die an den »großen Mahlke« in Günter Grass' Novelle Katz und Maus erinnert, der unter seinem überdimensionierten Adamsapfel leidet und deshalb nach einem möglichst eindrucksvollen Blickfang sucht. Wie François Fant findet der Kommandant das Leben »elegant« und fühlt sich anderen Menschen überlegen. »Täglich kommen neue Krawattenmuster heraus. Man muß sie zu tragen verstehen. Die meisten sehen wie Affen darin aus.« (I, S. 345)

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wie Anita oder die Figuren in Komödie der Eitelkeit an das eigene Spiegelbild fesselt und sein Denken und Wünschen so sehr beherrscht wie der Buckel den jüdischen Paria Fischerle. Der Kommandant leidet unter einer »sehr kleine[n] Nase« (I, S. 327), sie ist das Pendant zu Fischerles übertrieben großer Nase. Durch seine beruflichen ›Siege‹ (vgl. I, S. 344) nun fühlt der Kommandant diese kleine Nase wachsen: »Der Erfolg hat sein Leben verschoben. Er trägt eine normale Nase. Tief in der Tasche liegt das Spiegelchen, ebenso vergessen; es ist zu nichts nutze.« (I, S. 344f.) Auch das Machtgefühl des Kommandanten hat einen hohen imaginativen Anteil. Denn anders als die Machthaber, die Canetti in Masse und Macht beschreibt, durchschaut er nicht, weiß nichts, hat seiner Nase entsprechend einen schlechten Riecher für Wahrheit und Lüge. Über diese investigative Unfähigkeit täuscht er sich selbst allerdings allzu leicht hinweg.3 So entfaltet Canetti an dieser Figur das Thema des Privateigentums und das heißt: der je verschiedenen, in sich verkapselten Weltsicht.4 Eine Zwischenstellung zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen besetzt der Schneider, von dem sich Fischerle vor seiner geplanten Reise nach Amerika einen neuen Anzug anfertigen lässt. Er ist Dienstleister, den Wünschen seiner Kunden verpflichtet, denen er wie der Möbelverkäufer nach dem Mund redet. Zugleich jedoch beschäftigt er »einige dienernde Angestellte«, die ihm gehorchen müssen (I, S. 386). Während er sich, kaum weniger größenwahnsinnig als Fischerle, für einen Künstler und sogar einen »Meister« hält5, dessen Anzüge in New York für Furore sorgen werden, scheint Georges Schneider zu verachten. Beim Anblick des Gorillas behauptet er, das ›falsche‹ Sein, das Sein »ohne einen Funken Macht«, sei nichts anderes als eine »aufgezogene Schneidereklame« (I, S. 393 und 439). Als Agent dieses ohnmächtigen und unschöpferischen Daseins, als Produzent von Verkleidungen, ist der Schneider zumindest nach Georges' Theorie das Gegenteil eines Machthabers.

|| 3 Vgl. I, S. 341 (»Der Kommandant durchschaute ihn spielend.«) und 350 (»Zuhören soll er bei jedem Verhör. Er tut das aus Prinzip nicht, weil er eh schon alles weiß.«) 4 Das Kapitel »Privateigentum« inszeniert eine Theateraufführung (vgl. z.B. I, S. 330) und führt dementsprechend eine Vorform der ringförmigen Masse vor – wie in einem Theater (I, S. 330). Der Begriff »Privateigentum« wird erst nach dem Zerfall dieser Masse eingeführt, nachdem der Ring und die Spannung zerbrochen sind und jeder eine eigene Meinung entwickelt hat (I, S. 339). Curtius: Kritik der Verdinglichung (wie Kapitel B6.5, Anm. 7), S. 33 übersieht diese Zusammenhänge und versteht den Titel »Privateigentum« ausschließlich im ökonomischen Sinn. 5 Auch der Schneider beansprucht mit dem säkularen Gottesnamen »Meister« die höchste Position für sich. Indem Fischerle an diesen hybriden Anspruch anknüpft, macht er sich den Schneider gefügig: »Meister bleibe Meister, ob jetzt Schneider oder Schach.« (I, S. 383)

578 | Die Blendung

Alle übrigen namenlosen Figuren lassen sich der Gruppe der Ohnmächtigen zuzuordnen.6 Auch sie haben andere zu bedienen, allerdings ohne ihrerseits über Angestellte zu verfügen, an die sie die Befehle weitergeben könnten. Mehrere von ihnen verkehren im »Idealen Himmel«, dem Versammlungsort der kopflosen Welt. Zwei wiederum, der Schuster (I, S. 445: »dreckiger Schuster«) und der dümmliche Kanalräumer mit seinem leuchtenden Kuhfladengesicht7, sind in ihrem Wirkungskreis dezidiert auf die untere Sphäre festgelegt: die Sphäre der Erniedrigten und Beleidigten, des Schmutzes und der Schuhe. Der Kellner schließlich ist zwar genauso schwindsüchtig wie Pfaffs Tochter, erhebt sich aber doch wie fast alle Parias des Romans über die Menschen seiner Umgebung (I, S. 243). Besonders interessant ist die Figur des namenlosen Hausierers, der für die »Erlösung von seiner Schlaflosigkeit« kämpft und in Fischerles Bücherpaket eine Ladung Kokain vermutet: »In seinem Paradies gab es unfehlbar wirkende Schlafmittel. Man schlief dort vierzehn Tage hintereinander, ohne ein einziges Mal aufzuwachen.« (I, S. 249) Schon wegen seines minderen Berufes gehört auch der Hausierer zu den Ohnmächtigen, die zusammen mit den Bettlern von Benedikt Pfaff regelmäßig verprügelt werden. Er ist aber doppelt ohnmächtig: ein sozial Deklassierter und ein existentieller Außenseiter. Denn sein Beruf entspricht dem Klischee vom typischen Juden8, und sein Verhalten – auch seine Vorliebe für das Kartenspiel – gleicht dem antisemitischen Stereotyp vom habsüchtigen und lügenhaften Juden.9 So reibt sich der Hausierer »rechnend« die Hände, faltet sie anschließend zur Verstellung, eine Kunst, in der er erfahren ist10,

|| 6 Das gilt ebenso für den Lehrer, der seine Stellung verloren hat und nun unter den Gästen des »Pavian« zu finden ist. Auch der Vater und der Gedächtniskünstler, zwei Figuren, die während des Verhörs auftreten, gehören zu dieser Gruppe. Während der Vater seinem »aufsätzigen Sohn« intellektuell unterlegen ist, verfügt der Gedächtniskünstler nur in der eigenen Imagination über ein besseres Erinnerungsvermögen als die anderen. 7 Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 15 bezeichnet Fischerles Angestellte (plus Pensionistin) als seine »Satelliten«. Für Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 32 sind die Vier »Trabanten und Varianten von Peter Kien«. 8 Vgl. Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 78. 9 Canetti persifliert das antisemitische Stereotyp des jüdischen Drahtziehers, wenn er dem Hausierer den folgenden Wunsch in den Mund legt: »Gern wär' er so klein wie Fischerle geworden, um hinter seine Gedanken zu kommen, lieber noch kleiner, so klein, daß er in den Geheimpaketen selbst Platz gefunden und ihren Verkauf von innen dirigiert hätte.« (I, S. 282) 10 Vgl. I, S. 251: »Er schätzte Menschen und ihre Beweggründe richtig ein; um sie zum Kaufen von Zündhölzern, Schuhriemen, Notizblöcken oder teuerstenfalls Seifen zu überreden, wandte

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und ist doch bald »wieder ganz Gier« (I, S. 249). Dass er wegen seiner Schlaflosigkeit, »ständig unterwegs« ist, vierundzwanzig Stunden am Tag (I, S. 242f.), macht ihn zu einem Archetypus. Er ist eine Variation des Ewigen Juden, der dazu verurteilt ist, bis zu Christi Wiederkunft durch Zeiten und Länder zu wandern, ohne die Ruhe des Todes zu finden.11 Es ist insofern eine groteske Pointe, dass der Hausierer auf seiner Suche nach dem »heilige[n] Geheimnis« des Pakets ausgerechnet in einer Kirche einschläft.12 Doch die Erlösung zum Schlaf, dem kleinen Bruder des Todes, ist nicht von Dauer: Der Hausierer wird von einem Kirchendiener vor die Tür gesetzt, mithin wieder auf Wanderschaft geschickt (I, S. 260). Seine endgültige Erlösung bleibt aus. Unter der vorgeschlagenen Deutungsperspektive erklärt sich auch Fischerles Abneigung gegen den Hausierer, für ihn eine »elende Schlange«, wert, zum Teufel gejagt zu werden (I, S. 358). Diese Abneigung beruht auf mehr als nur der Erkenntnis, dass der Hausierer so betrügerisch ist wie er. Sie hat einen symbolischen Kern. Denn im 19. Jahrhundert wurde Ahasver, dem Ewigen Juden, der heldenhafte Germane Siegfried gegenübergestellt.13 Diese Konstellation wird in Die Blendung persifliert. Indem Fischerle dem müden Hausierer/Ahasver empfiehlt, er möge sich begraben lassen (I, S. 250), stellt er einen Zusammenhang zwischen der Sehnsucht nach Schlaf und dem Tod her. Doch wie die Hauptfiguren der Blendung strebt auch der Paria-Hausierer nach Höherem. Er meint, dass er von Fischerle »für Größeres aufgespart würde« (I, S. 246), träumt sogar, man lasse ihn in ein Zimmer für »bessere Geschäftsleute« hinein (I, S. 249), und versucht, Fischerle zu durchschauen.

|| er mehr Scharfsinn, Einfühlung und selbst Verschwiegenheit an als sehr berühmte Diplomaten.« 11 Vgl. Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers (wie Kapitel B6.4, Anm. 99), S. 154: Der jüdische Kleinhändler, der mit seinen Waren durch die Lande zog, eignete sich ganz besonders als Projektionsfläche der Ahasver-Sage. Vgl. auch Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 (Kulturen und Ideen), S. 249: Das tragische Geschick Ahasvers wurde »[…] vielfach zum Paradigma für die Schicksale seines Volkes, wie auch umgekehrt die Rastlosigkeit des Ewigen Juden schließlich nicht mehr als Ergebnis einer göttlichen Strafe, sondern als Ausdruck einer ›Nationaleigenschaft‹ der Juden verstanden wird.« Rohrbacher und Schmidt betonen, dass der Ewige Jude in der Volksüberlieferung besonders als demütig und gottesfürchtig erscheint (Vgl. ebd., S. 247). Auch der Hausierer ist demütig, allerdings gegenüber Fischerle. Diese Demut gehört zu seinen Verstellungsstrategien (vgl. I, S. 250: die »Demut dieser falschen Kreatur«). 12 Es handelt sich um die Reformierte Stadtkirche in der Dorotheergasse, erbaut 1783–84 von Gottlieb Nigelli. Vgl. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn (wie Einleitung, Anm. 95), S. 53. 13 Vgl. Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers (wie Kapitel B6.4, Anm. 99), S. 153.

580 | Die Blendung

Kurzum: Er ist der »anmaßende[] Angestellte«, vor dem der Zwerg sich fürchtet: einer, der sich im Wahn für den »einzige[n] Meister« hält (I, S. 250 und 364).14 Zu den ohnmächtigen Nebenfiguren gehören auch die beiden Frauen, denen Canetti einen verkappten Namen gegeben hat. Da ist zunächst die Zeitungsverkäuferin, eine Papagena-Figur15, die alle nur die Fischerin nennen, »weil sie Fischerle ähnlich sah und ihn, was jeder wußte, ebenso heimlich wie unglücklich liebte« (I, S. 242). Sie hat als Figur so wenig Eigengewicht, ist so sehr Fischerles Spiegelbild, so sehr Repräsentantin seiner (verhassten) Paria-Existenz, dass ihr ein eigener Name verwehrt bleibt. Ihr größtes Glück besteht denn auch darin, dass Kien von ihr wissen will, ob sie Frau Fischerle heiße (I, S. 255). Diese Anrede stellt eine Nähe zu dem von Ferne Geliebten her, die – ähnlich wie bei den Nadas – in Wirklichkeit nicht existiert. Die Namensgleichheit suggeriert der Fischerin eine höhere Bedeutung, eine Form von Auserwähltheit, wie sie Therese bei Grob empfindet. Angesichts des fehlenden eigenen Profils ist es nur konsequent, dass die Fischerin vor dem Theresianum an Fischerles Stelle stirbt. Daran denkt die zweite Frau nicht im Geringsten: Es ist die Pensionistin, Fischerles Ehefrau. Für sie ist Fischerle eine finanzielle Belastung, die sie, bei aller zeitweisen Bewunderung, gerne wieder los wäre. Am Ende des zweiten Teils schaut sie tatenlos zu, wie er ermordet wird, und steigt mit dem Mörder sogar noch ins Bett.16 Ihre Bezeichnung als Pensionistin geht nicht auf eine reale Pension zurück, sondern auf das »sichere[] Einkommen[]«, das ihr ein Freier durch seine regelmäßigen Besuche verschafft (I, S. 192). Gleichwohl enthüllt die Bezeichnung, die zum Namen geworden ist (vgl. I, S. 277), einen ihrer wesentlichen Charakterzüge: ihre Fixierung auf eben jene ökonomische Stabilität, von der auch Pfaff und Therese besessen sind. Zudem erhebt die »Pension« sie dem Gefühl nach über die im »Idealen Himmel« versammelten Figuren, die Bettler, die Armen, die Diebe. Denn die Pensionistin glaubt, sie habe die »unterste Sprosse« der »tatsächlichen Rangordnung der Dinge« durch ihren fixen Herrn

|| 14 Zur Machtgier des Hausierers vgl. auch Riedner: Canettis Fischerle (wie Einleitung, Anm. 97), S. 125. 15 Vgl. Donahue: »Eigentlich bist du eine Frau« (wie Kapitel B6.3, Anm. 7), S. 676. 16 Wie andere Frauen in Die Blendung (die Gattin des Anstaltsleiters und Georges' spätere Ehefrau, die Wirtin des »Pavian«, Therese) betrügt auch die Pensionistin ihren Mann und trägt zu dessen Tod bzw. Ermordung bei. Zum Frauenbild des Romans vgl. Liebrand: Jahrhundertproblem im Jahrhundertroman (wie Kapitel B6.3, Anm. 38); Foell: Blind Reflections (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 148. Über die Wirtin des »Pavian« ebd., S. 147: »Although she appears only briefly, the Pavianwirtin presents the traits of the other two symbolic whores in even more exaggerated form. She is unfaithful from the beginning and is presented as responsible for the death of her husband […].«

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erklommen (I, S. 199). Dass sie sich anderen überlegen fühlt, bezeugt auch ihre bereits angesprochene Vorliebe für Verkleinerungsformen (z.B. Ferdl und Mizzl – I, S. 198). Fischerles Befreiung vom Diminutiv-Affix seines Namens ist darum nicht zuletzt eine Befreiung von ihr. Früher jedoch, vor den Besuchen des fixen Herrn, wurde die Pensionistin, wie Fischerle Kien verrät, von allen nur die Dünne genannt, »[…] weil sie so dick ist.« (I, S. 277) Diese widersinnige Erklärung wirft die Frage auf, ob die Form des paradoxen Namens in Die Blendung nur für Orte (»Ehrlichstraße«, »Mutstraße«, »Zum idealen Himmel«) reserviert ist oder ob schon in Canettis erstem literarischen Werk, in Vorwegnahme späterer Strategien, zumindest einige Nebenfiguren einen »Namen im Widerspiele« tragen. Eine Figur, die dafür in Frage kommt, ist der Chef der Möbelfirma Groß & Mutter. Er wird als ein »winziges Männchen mit eingedrücktem Gesicht und gehetzten Äuglein« beschrieben, das auf der Schwelle seines Privatbüros in »zwei noch kleinere Hälften« zusammenklappt (I, S. 84). Körperlich beinahe ein Zwerg und entwicklungspsychologisch ein »ängstlicher Junge«, ist Herr Groß auch in der Hierarchie der eigenen Firma lediglich der »kleine Chef« (I, S. 301). Er muss sich seiner Mutter fügen, einer rigorosen Machthaberin, der eigentlichen Chefin des Hauses.17 Der Name Groß, den man als Ehrentitel Machthabern wie Alexander, Pompeius, Herodes und Karl beigelegt hat, scheint also zwar zu ihr, nicht aber zu ihrem Sohn zu passen, der obendrein wie Fischerle als der »Kleine« bezeichnet wird (I, S. 84). Doch der Eindruck täuscht. Der Name bringt bereits hier wie wenig später in Hochzeit die fixe Idee seines Trägers zum Vorschein. Herr Groß wäre gerne groß, ein Herr über die Angestellten wie seine Mutter. Zwei Strategien sollen diesen Traum realisieren. Zum einen betrügt Herr Groß die Mutter, um sich als der »wirkliche Chef« zu fühlen, und nutzt überdies ihre Autorität für seine Zwecke: »An den Tagen, bevor sie kommt, […] kann er herumbefehlen, wie er will.« (I, S. 85) Zum anderen beobachtet er seine Angestellten wie ein paranoider Herrscher, betrachtet sie als mögliche Thronprätendenten, da er ihnen insgeheim »Größenwahn« unterstellt, womit er die eigene fixe Idee und das eigene subversive Verhalten verallgemeinert (I, S. 87). Vor allem der Verkäufer Herr Grob ist ihm verdächtig. Er vermutet, dass dieser ihn vor den Kunden blamiere, um ihn »kleinzukriegen«, und stellt schließlich fest, dass Herr Grob anfange, »[…] der Firma über den Kopf zu wachsen.« (I, S. 87) Der Name dieses Verkäufers, der bis auf den letzten Buchstaben fast ganz mit dem Namen Groß übereinstimmt, zeigt, dass ihm nicht viel fehlt, um die Stelle des Chefs einzunehmen. || 17 Die matriarchalische Gewalt der Mutter ist eine Parallele zur patriarchalischen Gewalt Pfaffs. Vgl. Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 156.

582 | Die Blendung

Der Möbelverkäufer Herr Grob, der uns schon beschäftigt hat, trägt in Thereses Augen gleichwohl einen paradoxen Namen. Denn sie hält ihn keineswegs für grob, sondern für äußerst galant und lobt seine butterweiche Stimme.18 Nachdem er ihre Einladung zum Essen grob ausgeschlagen hat, ist dafür eine abenteuerliche gedankliche Volte von Nöten, mit der Therese sich selbst widerspricht: »Ja, wer wird denn so grob sein?« »Wenn Gnädigste wüßten, wie ich heiße, Gnädigste würden lachen. Grob ist mein Name.« »Ich lach' gar nicht, warum, Grob ist auch ein Name. Sie sind ja nicht grob.« (I, S. 85)

Auch später, als Grob Therese barsch abgewiesen hat und ihr klar sein müsste, dass er nur ihr »Kapital« wollte, hält sie an ihrem falschen Traumbild fest und tauft ihn dementsprechend um: »Sie wollte ihm den schönsten Namen sagen, den er hatte, Grob passte nicht zu ihm […].« (I, S. 134)19 Der Name des Möbelverkäufers lässt erkennen, wie immens ihre (Selbst-)Täuschung ist. Er ist keine Maske, hinter der sich ein gefährliches Geheimnis verbirgt wie bei einigen Figuren der Hochzeit, sondern der Name entlarvt die wahre Natur seines Trägers. Er gibt Auskunft über dessen Charakter: eine Menschenverachtung, die durch die blendende akustische Maske eines Wiener Kellners verborgen werden soll.20 Oder mit Rousseau gesprochen: Er offenbart, dass unter dem »gleichförmigen und trügerischen Deckmantel der Höflichkeit« der raue Naturmensch steckt, ein Einzelgänger.21 Während Therese diesen Fingerzeig konsequent

|| 18 Pankau: Körper und Geist (wie Kapitel B6.3, Anm. 38), S. 161 erkennt in Grob/Puda das Gegenbild zu Kien. Während der letztere alle erotischen Signale unterdrücke, repräsentiere der erstere eine »sexuell aufgeladene virile Agressivität«. Für diese These spricht, dass Grob/Puda und Kien ein Namenpaar bilden, und zwar insofern, als sie über dieselbe Anzahl an Buchstaben verfügen. Gleiches gilt für Peter und Georg (ohne –es!), Fischerle und Krumbholz, Therese und Georges. 19 Vgl. dazu auch Thereses Tagtraum in I, S. 298: »Er hat einen Harem, für sie schafft er ihn ab. Weil er einmal grob war? Wo er doch so heißt! Für den Namen kann er nichts dafür.« 20 Vgl. Scheichl: Der Möbelkauf (wie Kapitel B6.2, Anm. 13), S. 131, Anm. 43. Scheichl hat die akustische Maske des Möbelverkäufers genauer untersucht. Er zählt 60mal »Gnädigste«, 16mal »Herr Gemahl«, erkennt Klischees und Modeworte wie »ganz eminent«, zahlreiche Superlative, schematisierte Zweideutigkeiten und schließlich das Zitat des Schlagers vom armen und schönen Gigolo. Vgl. ebd., S. 131f. Zu Grobs akustischer Maske vgl. auch Moser: Die Blendung (wie Kapitel B6.1, Anm. 17), S. 125. 21 Deutsche Übersetzung nach Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts/Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste. Französisch und Deutsch. Übersetzt von Doris Butz-Striebel in Zusammenarbeit mit Marie-Line Petrequin. Hg. von Béatrice Durand. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB; 18679), S. 23.

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missachtet, versteht Kien den Namen richtig – indes ohne Grob zu kennen. Er bezieht den Namen stattdessen auf sich: »Sie nennt mich Herrn Grob, weil ich so grob zu ihr bin.« (I, S. 145) Tatsächlich verhält Kien sich gegenüber anderen Menschen zumeist grob: Schon beim Vorstellungsgespräch ist Therese über seine Grobheit verblüfft, und der Mann in der Mutstraße beschimpft ihn sogar als »Grobian« (I, S. 26 und 15). Der Hausierer hingegen ist zu Kien »grob«, da er sich verhöhnt wähnt und sich dafür rächen will (I, S. 284). Auch der Hausbesorger ist unhöflich, ordinär und derb, sein Angriff auf Kien im Treppenhaus erscheint ihm als »grobe[r] Mißgriff« (I, S. 89). Diese Wendung ist hier nicht in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung verwendet, die Szene führt vielmehr vor Augen, was das Wort »grob« im Roman konkret zu bedeuten hat. Es bezeichnet die animalische Seite des Menschen, seinen Raubtier-Charakter, der durch zivilisierte Umgangsformen, eine geschickte Verstellungstaktik und eine trügerische Freundlichkeit, zwar vorübergehend, aber doch nicht ganz verdrängt ist. Denn Grobheit gehört zum Verhaltensrepertoire des Machthabers, der, auf sich selbst fixiert, dem Befinden anderer Menschen keine Bedeutung beimisst. Nach seinem Damaskuserlebnis in der Wohnung des Gorillas weiß selbst Georges Grobheit zu schätzen. Enttäuscht von der Romanliteratur, einem »einzige[n] Lehrbuch der Höflichkeit« (I, S. 436), und fasziniert von der Natürlichkeit des Irren, wünscht er sich, einmal aus der Haut zu fahren, »[…] das war dann der Gipfel der Grobheit.« (I, S. 453) Der Blinde im Zug interessiert ihn ausschließlich wegen seiner Grobheiten, so wie ihn jede »Grobheit unter artigen Kulturaffen« erfreut (I, S. 454). Wenn Grobheit und Irrsinn zusammen gehören, dann bezeugt der Name des Möbelverkäufers stellvertretend, dass das Irrenhaus des Romans auch die Nebenfiguren umfasst. Kurz vor seiner Abreise sieht Georg in der Grobheit jedoch plötzlich nicht mehr ein natürliches Verhalten, sondern eine Maske, mit der Peter den Schmerz über seinen Abschied kaschieren wolle (I, S. 501). Das ist eine Täuschung und im Hinblick auf seine Theorien eine ironische Verkehrung. Zu den ironischen Verkehrungen des Romans zählt auch, dass sich Therese trotz ihrer Bewunderung für das Feingefühl des Möbelverkäufers selbst grob verhält. Sie unterbricht Kien »auf grobe Weise« bei der Arbeit, »[s]iegesgewiß«, dass er ihr die (imaginäre) Erbschaft verschaffen werde (I, S. 143f.). Als sie sich gewaltsam in Grobs Arme zwängt, bezichtigt gerade er, der Repräsentant des Groben, sie der Grobheit – eine Inversion, die noch einmal verdeutlicht, wie sehr Macht und Grobheit miteinander verknüpft sind (I, S. 301). Die vier letzten Nebenfiguren, die zu besprechen sind, besitzen wie die Hauptfiguren jeweils einen Vor- und einen Nachnamen. Den kürzesten Auftritt hat der »fidele[]« und versoffene Schuster Hubert Beredinger (I, S. 49), der als Zeuge bei Kiens Hochzeit fungiert, eine weitere Figur der unteren Sphäre. Sein

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Vorname offenbart bereits, wovon er besessen ist. Denn der heilige Hubertus von Tongeren-Maastricht ist der Patron der Jäger. Der Schuster ist also eine weitere Jäger-Figur in Canettis Roman. Seine Jagd gilt dem Hochzeitskuss, er ist für ihn ein Surrogat des Geschlechtsverkehrs. Denn obwohl er allein bleiben, sich mit keinem Menschen fürs Leben verbinden mag und der eigenen Trauung bisher noch stets »mit List« entwischt ist, entbehrt er der Sexualität. Seinen Trieb befriedigt er in aller Öffentlichkeit – als Voyeur. Sein »Ideal« sind die Küsse der Paare, die sich mit seiner Hilfe, zumeist heimlich, ohne Wissen ihrer Familie, trauen lassen (I, S. 49). Sie geben ihm die Kraft, auch weiterhin allein zu bleiben. Doch damit nicht genug. Der Nachname Beredinger weist auf eine zweite Leidenschaft hin: Der Schuster ist »[d[ie Geschwätzigkeit selbst« und erzählt »[…] ahnungslosen Müttern breit und pompös von der Trauung ihrer eigenen Töchter.« (I, S. 49) Diese Leidenschaft entlarvt seinen Willen zur Macht: Er ist süchtig nach dem Gefühl, dass er als einziger weiß, was den anderen, sogar den engsten Familienmitgliedern, ein Geheimnis ist. Während er den Kontakt zu Menschen sucht, bleibt er doch bei sich und genießt das Ungleichgewicht des Durchschauens. Eine ganz andere sexuelle Orientierung hat der Blinde, der gar nicht blind ist. Er rechnet in »Weibern« (I, S. 248), giert nach möglichst vielen und möglichst dicken Frauen. Sein Ideal sind »hundert Weiber« (I, S. 254; vgl. auch S. 279): Er teilte jeder die unglaublichsten Hinterbacken zu, gab deren Gewicht in Kilogramm an und steigerte die Summe von Nummer zu Nummer. Bei der fünfundsechzigsten Frau, die er als Beispiel für die Sechziger herausgriff, wogen die Hinterbacken allein 65 Kilogramm. (I, S. 254f.)22

Mit dieser doppelten Masse, einer Masse sowohl nach Zahl als auch nach Gewicht, korrespondiert »Schwer«, der Nachname des Blinden.23 Er bezieht sich, wie so viele Namen in Die Blendung, auf den Privatmythos seines Trägers. Der Vorname »Johann« offenbart demgegenüber die Ursache dieses Privatmythos. Es ist der typische Dienername, das Pendant zu Marie.24 Zwar ist der Blinde kein Diener, aber er gehört zu den Benachteiligten, steht in der gesellschaftlichen Hierarchie niedriger als die meisten Figuren der Blendung. Vom Krieg zum

|| 22 Canetti hat dem Blinden die fixe Idee George Grosz' geliehen, der im betrunkenen Zustand »ein Loblied auf ›Schinken‹« singt. Vgl. dazu VIII, S. 266 und 285f. 23 Vgl. Roberts: Kopf und Welt (wie Einleitung, Anm. 133), S. 146f. 24 Vgl. Lamping: Der Name in der Erzählung (wie Kapitel A3, Anm. 45), S. 36; Lenz: Weder Schall noch Rauch (wie Kapitel A4, Anm. 14), S. 213f.; Debus: Namen in literarischen Werken (wie Einleitung, Anm. 111), S. 28

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Invaliden gemacht, der sich nur noch »Name und Art von Weibern« merken kann (I, S. 280), und bekleidet mit einer »zerlumpten Arbeitstracht« (I, S. 247), muss er sich täglich sein Mitleid verdienen, muss die Rolle des blinden Bettlers spielen. Und mehr noch: Um nicht aus dieser Rolle zu fallen, muss er tatenlos zusehen, wie man ihm Knöpfe statt Geld in den Hut wirft – sein »größter Kummer« (I, S. 247), ein Betrug an ihm, dem Betrüger, der das Ungleichgewicht des Durchschauens nicht zu seinem Vorteil nutzen kann. Da ist es nur folgerichtig, dass er von hundert dicken Frauen phantasiert. So kompensiert er seine Minderwertigkeit. Die »Wollust der springenden Zahl« entschädigt ihn dafür, dass er jenseits der eigenen Traumwelt um jeden einzelnen Groschen zu betteln hat. Der imaginäre Besitz der Frauen, denen er aus eigenem Gutdünken die Kilos zuteilt, entschädigt ihn für ihre Ignoranz in der Realität. Die Wollust bei ihrem Anblick entschädigt ihn für den Zwang, die Augen nicht offenhalten zu dürfen (vgl. I, S. 253). Und das enorme Gewicht der Frauen entschädigt ihn für die eigene körperliche Unzulänglichkeit. Während Fischerle am liebsten selber wachsen würde, nehmen im Kopf des Blinden die Frauen an seiner statt zu.25 Somit gehört auch er zu den Doppelfiguren des Romans, die aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus nach Macht streben. Das zeigt sehr deutlich sein Traum von einem eigenen Warenhaus, das er sich mit dem Geld aus Fischerles Betrugsunternehmen zu bauen erhofft: Riesenbreit muß es sein, sagen wir neunzig Verkäuferinnen. Die sucht er sich selber aus. Unter neunzig Kilo wird keine aufgenommen. Er ist Herr und kann aufnehmen, wen er will. Er zahlt die höchsten Löhne, der Konkurrenz schnappt er die Schwersten weg. Überall, wo eine auftaucht, hört sie gleich das wahre Gerücht: im Warenhaus Johann Schwer kriegt man besser gezahlt. Der Inhaber, ein ehemaliger Blinder, ist ein scharfblickender Herr. Er behandelt jede einzelne wie seine Frau. Da pfeift sie auf andere Männer und kommt zu ihm. In seinem Warenhaus gibt es alles zu kaufen: Pomade, echte Kämme, Haarnetze, saubere Handtücher, Herrenhüte, Hundefutter, schwarze Brillen, Taschenspiegel, überhaupt was man will. Nur Knöpfe gibt es keine. In den Schaufenstern hängen große Tafeln. HIER WERDEN KEINE KNÖPFE VERKAUFT. (I, S. 359)

Der Traum erinnert nicht nur wegen seiner Höhentendenz an Fischerles Weltmeisterträume. Wie sie entwirft auch er die positive Utopie eines verkehrten Lebens. Darüber hinaus verrät er, warum der Blinde an nichts anderes denken kann als daran, verschiedene Massen zu besitzen. Die Masse der Frauen, der Waren, das viele Geld, mit dem er die Angestellten bezahlen will – all das || 25 Nach Schneider: Die Krüppel und ihr symbolischer Leib (wie Kapitel B4, Anm. 53), S. 32 ist die Masse dicker Frauen zusammen mit der Zwangsvorstellung von einem riesigen Warenhauses der ›symbolische Leib‹ des Blinden.

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sind Gegengewichte gegen die Masse der Knöpfe. Die Tragik des Blinden besteht allerdings darin, dass er zum Schluss gerade von Fischerle gedemütigt wird, den er bis dahin sogar geliebt hatte, weil er »mit den Knöpfen Schluß gemacht« und ihm Arbeit gegeben hatte (I, S. 281). Zu einem Zeitpunkt, als er sich längst nicht mehr den Bettlern zugehörig fühlt, muss er es sich gefallen lassen, dass Fischerle ihn erneut wie einen armen Teufel behandelt und ihm, verächtlich lachend, einen Knopf zuwirft. Das erschüttert seinen Glauben an einen fremden Erlöser, an jegliche nicht selbst gewirkte Erlösung, und bringt ihn dazu, sich selbst von seinem Trauma zu befreien. So wird der blinde Paria bei der letzten Begegnung mit Fischerle zum Machthaber, der sich das Recht über Leben und Tod anmaßt. Zunächst lässt er den Zwerg den Knopf schlucken, eine Umkehrung der Situation, die Fischerle die Knöpfe aufzwingt und den Blinden von ihnen erlöst.26 Und dann nimmt er Fischerle symbolisch die Macht, indem er ihm ein Stück Körpermasse wegschneidet. Dass er anschließend, statt, wie angekündigt, Selbstmord zu begehen (vgl. I, S. 247), in die Arme der dicken Pensionstin zurückkehrt, ist ein Zeichen. Im Kampf der antithetischen Kräfte, die von den beiden Bestandteilen seines Namens repräsentiert werden, hat sich zuletzt der Machthaber, hat sich »Schwer« durchgesetzt. Denselben Vornamen wie der Blinde, wenngleich in der französischen Variante, trägt der alte Hufschmied Jean Préval.27 Auch er zählt zu den Erniedrigten und Beleidigten, der Unterschicht des Romans. Er ist arm und hässlich, er hinkt und schielt, ist wie der Blinde an den Augen gezeichnet, allerdings in Wirklichkeit (ein Hinweis auf seine Realitätsverzerrung, die ihn ins Irrenhaus bringen wird). Seine Frau Jeannie, die die weibliche Form seines Vornamens trägt, ist ihm zudem keineswegs genauso hörig wie die Fischerin ihrem (Namens-)Zwilling Fischerle. Ganz im Gegenteil: Sie verspottet ihn wegen seines Sehfehlers – und verlässt ihn, nach dreiundzwanzig Jahren Ehe, für einen jungen Sergeanten. Er, dessen Virilität bereits der redende Name Delboeuf (boeuf =

|| 26 Vgl. ZB 57, November 1949 (Hervorhebungen im Original): »Jede Welt kann von einer andern aufgenommen, nämlich verschlungen werden. […] Der Knopf des Blinden tötet Fischerle.« 27 In Anbetracht der vielen Verweise auf die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen könnte man den Namen des Schmieds auch als Anspielung auf Rousseau verstehen. Denn Jean gehört zu den Irren, jenen Irren, die nach Rousseaus Auffassung dem Naturzustand näher sind als alle anderen. Allerdings bearbeitet Jean als Schmied das Eisen, also gerade jenes Material, mit dem Rousseau die Degeneration der Menschen verknüpft.

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Fleisch) verrät28, ist Jeans Gegenbild. Doch wie der Blinde hat auch Jean eine zweite Seite, ein Ich, das gegen die Demütigungen aufbegehrt. Diese Seite wird durch seinen Nachnamen bezeichnet, in dem das Verb »prévaloir« (contre/sur) steckt: »einen Sieg davontragen«.29 In der Tat gibt es schon vor Jeannies Ehebruch Anzeichen, dass Jean sich ihre Kränkungen nicht für alle Zeit gefallen lassen wird. Noch bleibt es aber beim Spaß. Immer wenn sie ihn verspottet, bemerkt er nur: »›Ich heiße Jean! Gleich komm' ich über dich!‹« Es ist kein Zufall, dass Jean dieser Drohung seinen Vornamen vorausschickt. Er stellt die Verbindung mit der Frau her und zeigt auf subtile Weise, wie leer die Drohung ist. Denn die Namensgleichheit schließt ein Machtgefälle aus. Zugleich lässt sie erahnen, dass Jean von seiner Frau nicht loskommen wird. Und doch besitzt auch er den Willen zur Macht, zum Ergreifen und Einverleiben, wie sein an Pfaff erinnerndes Hungergefühl und seine Vorliebe für Blutwürste bezeugt (I, S. 445). Schließlich wird auch er zum Herrn über Leben und Tod. Im Wahnsinn zündet er sein Dorf an und erwürgt die Kinder seines Vetters, drei Söhne und eine Tochter (I, S. 446). Auch seiner Frau will er sich wieder bemächtigen, sie zu sich holen. Er wird deshalb zum Jäger, will die Frau in einem Netz fangen und so den Sieg über sie davontragen. Während der Blinde sein Trauma jedoch in der Realität bezwingt, bleibt der Sieg des Schmieds über die Frau auf die Imagination beschränkt. Dennoch steht auch bei ihm am Ende des Leidens der Triumph des Nachnamens. Vom endgültigen Triumph träumt auch ein »pechschwarzer, verkrachter Maler«, den man wegen seiner neuen Tätigkeit als professioneller Fälscher nur den »Paß-Koch« nennt (I, S. 371). Sein richtiger Name, Rudolf Amsel, erinnert in seiner Zusammensetzung an den Maler Heinrich Vogeler, ein Mitglied der Künstlerkolonie in Worpswede. Beide tragen den Vornamen eines deutschen Königs – wie später bekanntlich auch einige Figuren in Komödie der Eitelkeit. In der Tat hat sich der Paß-Koch aus seiner Künstlerzeit vor allem eines bewahrt: die Eitelkeit (I, S. 371). Deshalb wertet er seine Arbeit zu einer »Kunst« auf (I, S. 372), erklärt die Kopien bloßer Aktendokumente zu Originalen und ist wie Fischerle und der Schneider von seiner Meisterschaft überzeugt. So stellt er sich dem || 28 Der Sergeant ist eine Korrespondenzfigur zu Franz Metzgers Vater und Thereses Stiefvater. Paal: Die Figurenkonstellation in Elias Canettis Roman Die Blendung (wie Einleitung, Anm. 94), S. 52 sieht in diesem Namen eine Anspielung auf Pfaffs Freude am Verzehren großer Fleischmengen. 29 Kirsch: Die Masse der Bücher (wie Einleitung, Anm. 5), S. 26 leitet den Namen von »se prévaloir de quelque chose« ab. Von den möglichen Übersetzungen: »(zum eigenen Vorteil) von etwas Gebrauch machen« bzw. »einbilden« taugt die zweite zur Erklärung des Namens. Denn Jean bildet sich ein, was Georges ihm suggeriert.

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Zwerg als »berühmter Paßfälscher« vor, lobt die eigenen Pässe als »Meisterarbeit«, die falschen Unterschriften als »Meisterwerke«, und liebt es vor allem, wenn man ihn nicht »Paß-Koch«, sondern »Meister« nennt (I, S. 371–374). Vor dem geistigen Auge sieht er indessen die »Veteranen seiner Kunst, Konkurrenten und Schüler« über ihre Unfähigkeit erröten (I, S. 373). Ähnlich wie bei Fischerle gehen die Ansprüche des Paß-Kochs allerdings noch höher, bis zum Größenwahn: Fischerle soll ihn in Japan bekannt machen, er soll dort täglich von ihm erzählen, Interviews über ihn geben, ihn der Öffentlichkeit als den »größten modernen Maler« vorstellen (I, S. 378). Das erinnert an Fischerles eigene paralytische Weltmeisterträume. Denn auch der Paß-Koch will auf seinem Gebiet der einzige sein: ein Berühmter, der Menschen – wie die Gäste des »Pavian« – als Chöre um sich versammelt. Die Geschichte, die der Paß-Koch durch Fischerle verbreitet wissen möchte – er habe es auf der Akademie nicht ausgehalten, habe sich selbstständig, ohne Vorbilder, zu dem Mann aufgeschwungen, der er heute sei – ähnelt in ihrem selbstgerechten Duktus dem Aufstiegsmythos Hitlers, des kompromisslosesten Machthabers der Epoche, der in Deutschland nur wenige Jahre nach dem Abschluss der Blendung an die Regierung kommen sollte. Wenn auch kein zweiter Hitler, kein politischer, kein ideologisch radikaler Kopf, so hat der Paß-Koch doch wie jeder hybride Machthaber keine Ehrfurcht vor dem Leben. Falls Fischerle sich von ihm keinen Pass anfertigen lasse, will er ihn umbringen (I, S. 372). Auf seine Machtansprüche weist auch die Angewohnheit hin, sich bei der Arbeit einzuschließen. Seine »Kunst«, so die Geste, soll ein Geheimnis bleiben, den Blicken der Menschen entzogen. Niemand soll ihn durchschauen, und wer ihm zusieht, bekommt, wie er sagt, einen Tritt (I, S. 372). Doch die Anerkennung, die der Paß-Koch sich verdient zu haben glaubt, ist eine Illusion. Die Anerkennungsschreiben, die er als seinen kostbarsten Besitz hortet, wie die Wirtin ihre Liebesbriefe (I, S. 374), heben ihn zwar aus der Masse heraus, aber sie existieren nicht. Sein ganzes Leben, seine eigene Identität, ist eine Fälschung, beruhend auf der fixen (Wunsch-)Vorstellung, dass er Bewunderer auf fast allen Kontinenten habe: in Amerika, Südafrika und Arabien. Diese Vorstellung bringt ihn dazu, sich im Kopf die Menschen anzueignen, die er mit seinen Pässen geschaffen hat, und von ihren Taten, ihrer Zukunft in den fremden Ländern zu träumen (I, S. 373). So erobert er, zumindest in der Phantasie, die Länder dieser Welt, wird zum ›Weltmeister‹. Ein Symbol für diese erträumte Eroberung, das Fernweh des PaßKochs, ist der Nachname Amsel. Die Freiheit des Vogels, der die Grenzen im Fluge spielend überwindet und sich überall niederlassen kann (vgl. IV, S. 36), ist der Gegenpol zur strikten Absonderung des Paß-Kochs während der Arbeit.

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So erweist auch er sich als Figur der Gegensätze, schwankend zwischen dem Wunsch nach Weite oder Begrenzung. Die onomastisch fokussierte Untersuchung der poetischen Werke Elias Canettis, die nun abgeschlossen ist, hat die Ergebnisse des vorherigen Teils über die Aufzeichnungen ergänzt, vertieft und präzisiert. Es ist erstens klar geworden, dass sich Canetti auch als Verfasser poetischer Werke, ähnlich wie stellenweise in den Aufzeichnungen, kritisch mit den (eigenen) namensmythologischen Vorstellungen auseinandersetzt. In Die Befristeten, seinem letzten Drama, bestreitet er den Zusammenhang von Name und Schicksal und warnt vor der Gefahr einer geistigen Erstarrung. Denn die meisten Figuren in diesem Stück ruhen sich, gewollt oder ungewollt, auf ihrem Zahlennamen aus. Sie handeln nicht, sie denken nicht, sie rebellieren nicht, sondern sie benutzen die Namen zur Begründung einer menschenverachtenden, in letzter Konsequenz sogar tödlichen Hierarchie. Diese Kritik deutet umgekehrt aber eine Chance zur Rechtfertigung des mythischen Namenglaubens an. Er kann in der Gegenwart noch einen Sinn haben, indes nur dann, wenn er den Namenträger aktiviert und vorantreibt. Seinen Sinn hat er aber verloren, wenn er den Träger lethargisch macht. Die weitere Untersuchung des Ohrenzeugen, der frühen Dramen und der Blendung hat zweitens vor Augen geführt, dass Namen für Canetti über mehr als zwanzig Jahre hinweg eine eminente produktionsästhetische Bedeutung besessen haben, ganz unabhängig von Thema, Inhalt und Gattung. Ganz allgemein konnte gezeigt werden, dass Canetti Namen benötigte, um mit einem Werk oder einem Charakterporträt beginnen zu können: Sie sollten seine Phantasie anregen, begrenzen und ihm ein Ziel vorgeben. Daran anschließend ist konkret gezeigt worden, wie gründlich Canetti über Namen nachgedacht, sie erwählt, verworfen, verändert, ausgetauscht, ihrem Träger immer besser angepasst und im Unterschied zu vielen modernen Dichtern bei der Benennung nichts dem Zufall überlassen hat. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Canetti zwar das traditionelle, mythologischen Vorstellungen entsprechende Namengebungsverfahren nutzt, es aber neu belebt, indem er es mit seinen eigenen Theorien verbindet: mit der Theorie der akustischen Maske, des Privatmythos, der (Doppel-)Figur, der Polarität von Masse und Macht. So gehört auch die Namengebung zur Paradoxie des Dichters: Sie steht gegen die Zeit und ist der Zeit verfallen, ist sowohl dem Mythos verpflichtet als auch von Canettis Zeit-Diagnose geprägt.

590 | Die Blendung

Die Doppelfiguren der Blendung haben uns drittens erkennen lassen, wie es in praxi möglich ist, dass ein Name inhaltlich fixiert erscheint und zugleich doch Weite besitzt.30 Die Deutung dieser Namen erforderte einen dauernden Perspektivwechsel, geradezu ein Umkreisen der Figur, die sich von jedem Punkt aus in verändertem Licht präsentierte. Diese Vielschichtigkeit unterscheidet die Namen der Blendung ganz erheblich von den meist luziden Namen Thomas Manns31 oder der Satire32. Sie ähneln eher den Namen Kafkas, die nach Auffassung Elizabeth M. Rajecs nur in ihrer Vielschichtigkeit verstanden werden können33. Diese Vielschichtigkeit hat in Canettis Roman eine anthropologische Bedeutung: Sie zeigt, dass auch dem Benannten begrenzte Verwandlungen gestattet sind. Wie die Totems der archaischen Völker und die Götter der Ägypter sind Canettis Figuren »Fixierungen bestimmter Verwandlungen« (III, S. 442). Zur Fixierung dieser Verwandlungen braucht Canetti eine bestimmte Form des Namens. Bei den Nachnamen Kien, Fischerle, Krumbholz und Pfaff bzw. den Vornamen Peter, Georg, Siegfried, Therese und Benedikt handelt es sich nicht einfach nur um redende, sondern um symbolische Namen. Es sind Namen, die einer so »entschiedenen Deutung« bedürfen wie die Namen bei Hölderlin; Namen, die so durchsichtig erscheinen wie redende Namen und sich doch weniger an den Affekt als den Intellekt des Lesers richten.34 Allerdings ist im Verlauf des

|| 30 Die Schaffung von Doppelfiguren ist das kohärente System, das Darby: Structures of Disintegration (wie Einleitung, Anm. 146), S. 155f. in Canettis Die Blendung vermisst. 31 Vgl. dazu Lenz: Weder Schall noch Rauch (wie Kapitel A4, Anm. 14), S. 215: »Anders als etwa Marcel Proust, für den die restlose Erkennbarkeit des Menschen keineswegs gesichert ist, benennt und rundet und flaggt Thomas Mann seine Personen derart aus, daß über ihre Identität keine Unsicherheit mehr besteht.« 32 Siehe dazu Volker Hellfritzsch: Namen als stilistisches Mittel des Humors und der Satire. In: Sprachpflege 17 (1968), S. 207–211. 33 Vgl. Rajec: Namen und ihre Bedeutungen im Werke Franz Kafkas (wie Einleitung, Anm. 60), S. 189. Bei keinem anderen Dichter der Moderne, so Rajec, sei die »fast unglaubliche Vielschichtigkeit« zu finden, die charakteristisch für Kafkas dichterische Namengebung sei. 34 Zum Begriff des symbolischen Namens vgl. Binder: Hölderlins Namenssymbolik (wie Einleitung, Anm. 107), S. 96f. Nach Binder sprechen symbolische Namen nicht einen »klaren, runden Begriff«, sondern mehr nur einen »Sinnhorizont« an, »[…] der aber dafür eine weite Perspektive eröffnet, wohingegen der redende Name die Person auf eine vordergründige Bedeutung fixiert.« »Der redende Name kategorisiert seinen Träger, der symbolische bildet ihn […].« In einer »tieferen Verständnisschicht« werde die Erkenntnis der Bedeutung des symbolischen Namens deshalb zu einem »wichtigen Faktor in der Erklärung der Gestalt«. Zur Einteilung der Namen vgl. auch Gutschmidt: Eigennamen in der Literatur (wie Einleitung, Anm. 93), S. 30 (klassifizierende, redende, verkörperte, suggestive, topische, lautsymbolische und symbolische Namen); Birus: Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen (wie Kapitel B6.1, Anm. 43), S. 47f. (klassifizierende, klangsymbolische, verkörperte, redende Namen).

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zweiten Teils immer deutlicher geworden, dass bei dieser Deutung auf Plausibilitätsargumente und Vermutungen nicht zu verzichten ist. Diese Erfahrung wiederholt Canettis eigene Erfahrung mit Namen: Ein Rest des Rätsels bleibt bestehen. So hat sich Canetti bei der Namengebung seines ersten und einzigen Romans punktuell bereits jenem Zustand angenähert, den er in Die Fliegenpein – durch die unpersönliche Er-Form der Aufzeichnung allerdings verfremdet – zum Ziel seiner Arbeit erhoben hat: »Worauf er aus ist? Auf »Meistdeutigkeit.« (V, S. 65) Die Versöhnung von Typisierung, Vielschichtigkeit und sogar Meistdeutigkeit, von Festlegung und Verwandlung, Begrenzung und Fülle, ist sein Beitrag zur Geschichte der literarischen Namengebung.

| Schlussreflexion

Canetti und Wien Zweimal lebte Canetti für mehrere Jahre in Wien, zunächst nach dem frühen Tod des Vaters, von 1913 bis 1916, gemeinsam mit der Mutter und den beiden Brüdern. Nach weiteren Stationen in Zürich (1916–1921) und Frankfurt am Main (1921–1924) kehrte er 1924 zum Studium der Chemie in die Stadt zurück, in der seine Eltern die glücklichste Zeit ihrer Jugend verbracht hatten. Er blieb – über den sogenannten »Anschluss« Österreichs hinaus – bis November 1938, als auch in Wien, unter den Hakenkreuzfahnen der Nazis, die Synagogen brannten (X, S. 269). Diese vierzehn Jahre waren eine intensive Zeit mit bedeutenden Weichenstellungen. Canetti lernte Veza Taubner kennen und heiratete sie; er traf Friedl Benedikt und Marie-Louise von Motesiczky, seine späteren Geliebten, mit denen er auch in England eng verbunden blieb; er besuchte etliche Vorlesungen seines zeitweiligen Idols Karl Kraus und kam in Kontakt mit einigen der bedeutendsten Künstlern seiner Zeit; er schrieb seinen einzigen Roman Die Blendung, seine beiden ersten Dramen und begann mit den Studien für sein Lebenswerk Masse und Macht, zu denen er sich nach dem Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 mehr denn je verpflichtet fühlte und die er erst im englischen Exil abschließen konnte. Später hat er zwar seinen Abscheu vor der damals herrschenden Wiener Literatur bekundet (VI, S. 332)1, zugleich aber seine Zugehörigkeit zu Wien betont. In der Einleitung zur Sammlung Welt im Kopf behauptete auch Erich Fried (recte: Veza Canetti), die »Substanz« von Canettis Werk sei Wien.2 Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Abscheu und Einfluss lässt sich auflösen: Mit populären Wiener Schriftstellern wie Paul Frischauer wollte Canetti nicht in einem Atemzug genannt werden, ebenso wenig mit Franz Werfel und Stefan Zweig – wohl aber mit Karl Kraus, Hermann Broch und Robert Musil. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, bei der Verleihung des Nobelpreises, stattete er ihnen selbst seinen Dank ab. In seiner Rede nannte er Wien, neben London und Zürich, eine seiner »Stadtgottheiten« (X, S. 115). Zwei Jahre zuvor meinte er im Gespräch mit Gerald Stieg, er müsse sich »rein sprachlich schon« zur Literatur Wiens zählen (X, S. 329).3 Diese Selbsteinschät-

|| 1 Vgl. dazu auch eine Aufzeichnung vom 9. November 1968, in der Canetti Schnitzlers Autobiografie kommentiert: »Er erwähnt Menschen, an die er sich überhaupt nicht erinnert, bloss weil sie im Tagebuch verzeichnet sind. […] Alles Abscheuliche Wiens ist hier in besonders hohem Masse vorhanden: das Leere, die Genusssucht, die Eleganz, die falsche Kultur.« (ZB 15) 2 Vgl. Fried [recte: Veza Canetti]: Einleitung (wie Einleitung, Anm. 151), S. 8. 3 Vgl. Zur Entstehung der ›Komödie der Eitelkeit‹: »Daß ich mich auch nach der Wiener Periode – durch Ereignisse beendet, die denen der ›Komödie‹ aufs Haar glichen – als Dichter

596 | Schlussreflexion

zung erscheint klarer, als sie ist. Denn zum einen wissen wir nicht, ob Canetti mit dem Hinweis auf die Sprache lediglich die Tatsache meinte, dass er als Dichter auch im Exil der deutschen Sprache treu geblieben war. Und zum anderen wissen wir nicht, ob er sein Werk thematisch zur Wiener Literatur rechnete. Die Erkenntnisse unserer Arbeit ermöglichen eine Antwort auf beide Fragen. Diese Antwort, die den Ertrag aus der onomastischen Beschäftigung mit Canettis Werk Revue passieren lässt und ihn literaturhistorisch einzuordnen versucht, soll eine Anregung für weitere Forschungen sein. Als Canetti sich (im Konjunktiv wohlgemerkt) der Wiener Literatur zugehörig erklärte, dachte er nicht zufällig an Kraus und Nestroy. Denn erstens stellen gerade sie die »Höhepunkte« der Wiener Tradition dar,4 und zweitens sind sie auch Höhepunkte in seiner eigenen Entwicklung zum Dichter. Drittens schließlich haben Nestroy und Kraus mehr gemeinsam als andere Wiener Schriftsteller: Beide waren fasziniert von der gesprochenen Sprache, dem Dialekt der einfachen Bevölkerung, den andere nicht für literaturfähig erachteten. Und beide ließen ihre Stücke auf radikale Weise aus der Sprache der Figuren heraus entstehen.5 Kraus betrachtete Nestroy deshalb zusammen mit Daniel Spitzer als seinen Vorläufer.6 Als er schrieb, bei Nestroy mache sich die Sprache Gedanken über Dinge7, charakterisierte er nicht zuletzt sein eigenes Werk. Diese konsequente Ausrichtung auf die Sprache machte auf Canetti Eindruck und gab den eigenen Ambitionen einen Orientierungspunkt. An mehreren Stellen hat er später darauf hingewiesen, er könne Nestroy immer wieder lesen und habe Karl Kraus mehr zu verdanken als jedem anderen (zeitgenössischen) Dichter.8 Seine

|| weiterhin Wien zugehörig fühlte, hängt, glaube ich, eben mit diesem Stück zusammen.« (X, S. 109) 4 Sigurd Paul Scheichl: Ohrenzeugen und Stimmenimitatoren (wie Kapitel B4, Anm. 42), S. 60. 5 Im Hinblick auf Canettis Dramentheorie stellt Urbach: Der präsumptive Todestag (wie Kapitel B1, Anm. 77), S. 404 fest: »Wie bei Aristophanes soll sich das Werk aus einem Einfall heraus entwickeln; wie bei Nestroy soll es aus der Sprache leben.« Vgl. auch Naab: Elias Canettis akustische Poetik (wie Einleitung, Anm. 17), S. 55. 6 Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874–1918. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Max Looser und Michael Strand. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999 (suhrkamp taschenbuch; 2995), S. 19. 7 Vgl. Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie (wie Kapitel A6, Anm. 8), S. 230. 8 Gleichwohl zählte er ihn jedoch nicht zu seinen wichtigsten literarischen Einflüssen, anders als Nestroy. Vgl. z.B. X, S. 196. Zu Canetti und Kraus vgl. Gerald Stieg: Die Fackel und die Sonne. Karl Kraus in Elias Canettis Autobiographie. In: Ders. und Valentin (Hg.): »Ein Dichter braucht Ahnen« (wie Einleitung, Anm. 10), S. 267–281; Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Einleitung, Anm. 13); Hans Reiss: Elias Canetti's Attitude to Writers and Writings. In: Lorenz (Hg.): A Companion to the Works of Elias Canetti (wie Kapitel B6.2, Anm. 4),

Canetti und Wien | 597

Beziehung zu Wien war insofern nicht nur durch eigene Erfahrungen geprägt, sondern auch, ja vor allem, durch das Werk dieses Anti-Systematikers9, dieses »akustische[n] Genies« (X, S. 233)10, das wiederum ganz maßgeblich von Wien geprägt war. Nach dem Urteil Arthur Mays war Karl Kraus sogar der »wienerischste[] aller Wiener Schriftsteller«, wienerischer als Nestroy oder Schnitzler und Hofmannsthal.11 Im allgemeineren Sinn aber war Canettis Beziehung zu Wien und dadurch – wie zu zeigen ist – mittelbar auch seine Namengebung geprägt von Themen der Wiener modernen Literatur, zu der Karl Kraus entscheidende Beiträge geliefert hat. Mehrmals hat Canetti seinen einstigen »Gott« Karl Kraus dafür gerühmt, ihm das Ohr aufgetan zu haben12 – nicht zuletzt durch seine Nestroy-Lesungen (VI, S. 136; X, S. 64 und 300). Das ist, wie wir jetzt wissen, nur zum Teil richtig. Denn der erste Teil (A) dieser Arbeit hat uns an etlichen Beispielen vor Augen geführt, dass Canetti – zumindest der eigenen Erinnerung nach – schon als Kind für Stimmen und Laute, für das gesprochene Wort, empfänglich war, besonders für den Klang der Namen, seien es die Namen von Menschen, die er kannte, oder mythischen Figuren, von denen er gelesen hatte. Diesem Zauber konnte er sich nie mehr entziehen. Er blieb ihm verfallen, ein Ohnmächtiger, der sich von Namen ergreifen ließ; der daran glaubte, dass er gerade durch sie jenen Zugang zum Menschen finden könne, der ihm Verwandlung ermöglichen würde. Deshalb beschäftigte er sich immer wieder mit Namen. Durch ihre Magie wurde er, im dialektischen Umschlag, zu einem Selbstdenker, der sich ein wesentliches Gebiet der Sprache neu erschloss, befreit von den Zügeln der Wissenschaft. Macht und Ohnmacht befanden sich dabei in einem reziproken Verhältnis: Der Verzauberte begab sich auf die Suche nach dem Geheimnis des Namens und machte immer wieder die Erfahrung, dass sich ihm dieses Geheimnis teil|| S. 61–87, hier S. 76f. Zusammenfassend und deskriptiv: John Patillo-Hess: Karl Kraus und sein Einfluss auf Elias Canetti. In: Német filológiai tanulmányok 20 (1991), S. 53–66. 9 Vgl. Kraft: Karl Kraus (wie Kapitel A2, Anm. 8), S. 171. 10 Noch in der Autobiografie wird Karl Kraus mehr als doppelt so oft erwähnt wie Broch und mehr als dreimal so oft wie Musil. Vgl. Beatrix Kampel: »Ein Dichter braucht Ahnen«. Canettis Begegnungen mit Literatur und Literaten im Spiegel seiner Autobiographie. In: Bartsch und Melzer (Hg.): Experte der Macht (wie Einleitung, Anm. 81), S. 102–115, hier S. 107. 11 Zit. nach Janik und Toulmin: Wittgensteins Wien (wie Kapitel B2, Anm. 30), S. 83. 12 Vgl. Zogmayer: … das Rätsel sie sollen lassen stân (wie Kapitel A3, Anm. 8), S. 124 weist auf die Übereinstimmung dieser Formulierung mit dem konfuzianischen »e'r shun« (Auftun des Ohres) hin. Zu Karl Kraus, Schule des Widerstands vgl. Sigurd Paul Scheichl: Zur Form des Essays bei Canetti. Eine Analyse seines ersten Kraus-Essays. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 57 (2007), H. 4, S. 201–212, hier S. 212: Der Essay über Karl Kraus demonstriere die »dialektische Verschränkung von Tradition und Emanzipation«.

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weise enthüllte, und zwar gerade weil er danach suchte: durch eine Ahnung, ein Gefühl, eine Anregung für sein Denken. In seinen Aufzeichnungen über Namen konnte Canetti dieses Gefühl einholen, aber nicht erzwingen. Dieselbe Erfahrung machte er bei der Arbeit an Masse und Macht: Die Phänomene erschlossen sich ihm, indem er sie lange beobachtete und über diese Beobachtungen nachdachte. Sie ließen sich keineswegs in ein vorgegebenes Raster einfügen wie in die Systeme von Marx und Freud. Genaugenommen meinte Canetti aber etwas anderes, als er Kraus dafür dankte, ihm das Ohr aufgetan zu haben. Er meinte, Kraus habe ihn gelehrt, sich der Wirklichkeit zu öffnen, den Zeitungen, den Gesprächen auf den Straßen und in den Kaffehäusern. Denn während die meisten Dichter den Menschen ausgewichen seien, habe Kraus die Wiener Stimmen im Gedächtnis gespeichert und nichts vergessen, nicht einmal das Banalste und Geringste (VI, S. 133). Deshalb zog bald auch Canetti durch die Kneipen und Lokale Wiens, setzte sich zu den Menschen an den Tisch, ließ sie reden, lachen, sich empören und nahm so viele Stimmen wie nur möglich auf. Was Kraus in Die Fackel über sich schrieb, hätte auch Canetti über sich schreiben können: Er höre jeden Menschen sprechen, den er einmal gehört habe.13 In beiden Fällen kamen die Hörerlebnisse der Literatur zu Gute. Kraus montierte die Stimmen in seine Texte: als ›akustisches Zitat‹, wie Canetti es nannte, mit einem satirischen Impetus: Die Figuren, die Journalisten, die Politiker sollten sich aus dem eigenen Mund verurteilen (vgl. VI, S. 133). Dieses Verfahren übernahm Canetti und veränderte es: Er schuf aus den Stimmen, die er gehört hatte, Figuren mit einer akustischen Maske.14 Dennoch war er kein wandelnder Fonograf wie die Naturalisten.15 Jede Maske war ein Destillat aus verschiedenen Stimmen, der Wirklichkeit abgelauscht und doch künstlerisch gestaltet, erschaffen in einem poetischen Laboratorium, das wenig mit den quasiwissenschaftlichen Verfahrensweisen der Naturalisten gemein hatte. Canettis Figuren sind übertriebene Möglichkeiten menschlicher Existenz und prangern

|| 13 F 241 (1908), S. 2. 14 Vom Terminus ›akustisches Zitat‹ führt nach Helwig: Zur Sprachauffassung von Elias Canetti (wie Einleitung, Anm. 17), S. 143 eine direkte Linie zum Begriff der akustischen Maske. 15 Vgl. X, S. 138: »Es soll nun damit nicht gesagt sein, daß der Dramatiker als wandelnder Phonograph zu existieren habe, der die Sprechweise möglichst vieler Menschen registriert und dann, je nach Bedarf, aus der vorhandenden Kollektion von akustischen Masken Dramen zusammensetzt. […] Aber hören muß er schon können; er muß ein gerüttelt Maß sprachlichen Lebens in sich haben; in ihm muß sich das Gehörte gründlich mischen und gründlich wieder sondern, damit die Gestalten, die zu ihrer Zeit entstehen, eben in ihrer akustischen Maske deutlich und wirksam sind.«

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sich selbst an, ohne Zutun ihres Schöpfers. Sie verraten durch ihre Lieblingswendungen die eigene fixe Idee, die Beschränkungen ihres Denkens. Das ist eine konsequente Fortführung der Vorstellung, dass das Drama aus der Sprache – aus der Sprache allein – leben müsse. Indem Canetti die Namen dieser Figuren zum großen Teil mit ihrer akustischen Maske verknüpfte wie in Komödie der Eitelkeit, machte er deutlich, dass ihre Identität aus ihrer Besessenheit besteht. Unter dieser Prämisse erfand er in Der Ohrenzeuge z.T. sehr ungewöhnliche Namen, die an Kraus' »Salamifresser«, »Küssdiehände« oder »Naschmarktmaul« erinnern.16 Tatsächlich maß auch Kraus Namen eine hohe Bedeutung bei, vor allem ihren Nebenbedeutungen. Da er sie zu satirischen Zwecken nutzte, interessierte ihn die Diskrepanz zwischen einem Namen und einem Charakter mehr als die Übereinstimmung.17 Eine direkte Verknüpfung von Name und Sprache, die bei Canetti zu den beiden Seiten einer Medaille werden, fehlt allerdings bei Kraus – ebenso wie bei den meisten Dichtern, die redende Namen verwenden, so beim »Namenzauberer« Thomas Mann. Bei der Arbeit an seinem Hauptwerk Die letzten Tage der Menschheit brauchte Kraus sich über Namen außerdem schon deshalb nicht so viele Gedanken zu machen wie Canetti, weil er auf reale Namen oder Funktionsbezeichnungen zurückgriff.18 Anders als er verzichtete Canetti wiederum auf ein Sprachrohr wie den Nörgler, ja auf jedes eigene Urteil.19 Er beschränkte sich auf die Stimmen und die Namen der Figuren und gab selbst in Die Blendung dem Erzähler wenig Raum. Das hatte seinen Sinn: Die Leser bzw. Zuschauer sollten sich nicht das Denken abnehmen lassen – wie er selbst in den Vorlesungen seines einstigen Diktators. Sie sollten sich von den Namen faszinieren lassen, ihrem »Geheimnis« nachspüren, sie mit den Stimmen verknüpfen. Da Namen rezeptionsästhetisch für Canetti so bedeutsam waren und er mit seinen Texten oft nicht ohne Namengebung beginnen konnte, lässt sich sagen, dass er sie gewissermaßen aus Namen erschaffen hat. Die Maske, der Canetti in seiner Anthropologie und in seiner Poetologie eine kardinale Bedeutung einräumt, ist das Symbol, mit dem die Eigenart der

|| 16 Vgl. dazu die allerdings recht allgemeine Einschätzung von Leonhard Reinisch: Elias Canetti und seine Kritiker. In: Merkur 29 (1975), S. 884–887, hier S. 886: Die Namen des Ohrenzeugen erinnerten an Karl Kraus. 17 Vgl. Timms: Karl Kraus (wie Anm. 6), S. 74. 18 Vgl. ebd., S. 512. 19 Vgl. Iring Fetscher: Elias Canetti als Satiriker. In: Hüter der Verwandlung (wie Kapitel A1, Anm. 5), S. 217–230, hier S. 230: Canetti habe an die Stelle der denunziatorischen Satire die Satire der Selbstanprangerung gesetzt. Nach Timms: Karl Kraus (wie Anm. 6), S. 533f. ist der Nörgler allerdings kein genaues Abbild, sondern eine »vereinfachte Ausgabe von Kraus' satirischem Selbst«

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Wiener Moderne am besten zu erfassen ist.20 Das Wien des Fin de Siècle, dessen Ausläufer Canetti als Kind noch erlebt hatte und das ihm in den Texten seines Idols auch in den 1920er Jahren präsent blieb, war die Heimat der Masken – eine Stadt nicht der Kunst, sondern der »Dekoration par excellence«, wie Hermann Broch in seinem berühmten Hofmannsthal-Essay schrieb21, eines »Triumphs der Fassade über die Funktion«.22 Die Ringstraße mit all ihren falschen Gotik-, Renaissance- und Barockgebäuden, ihren trügerischen Repräsentations-Fassaden, galt der Zeitschrift Ver Sacrum nur mehr als »Potemkinsches Dorf«23 – und Hermann Bahr, dem Exponenten des Jungen Wien, als ein »Kostümball in der Luft.«24 Nichts anderes als Kostümbälle waren auch die sozialen Interaktionen. »Die meisten Menschen«, schrieb Hugo von Hofmannsthal an Edgar Karg von Bebenburg, »leben nicht im Leben, sondern in einem Schein«.25 Sie spielen, täuschen und lassen sich täuschen, tragen im täglichen Leben TheaterKleidung, machen die Welt zu einer Bühne und umgekehrt. Als Stefan Zweig sich in den 1940er Jahren an diese »Welt von Gestern« erinnerte, erkannte er in der Sorge ums Verstecken die »allgemeine[] Moraltendenz der Zeit«.26 Die »Theatromanie«, die er den Wienern attestierte, umfasste nicht nur ihre Begeisterung für die Stars des Burgtheaters, Sonnenthal, Kainz, Girardi oder Charlotte Wolter, sondern ebenso ihren eigenen Hang zum Rollenspiel, zu einem Leben hinter Masken. Auf ganz unterschiedliche Weise mühten sich die Dichter und Denker der Wiener Moderne, das »wirkliche Wien, das verborgene«27 hinter den Masken zu

|| 20 Vgl. Timms: Karl Kraus (wie Anm. 6), S. 54. Zu Wien als Stadt der Masken und der Fackel vgl. Alexander Schüller: Die deutsch-jüdische Literatur der Wiener Moderne. In: Hans Otto Horch (Hg.): Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Berlin, Boston: de Gruyter Oldenbourg 2016, S. 296–324, hier S. 306–311. 21 Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. In: Ders.: Schriften zur Literatur I: Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976 (Kommentierte Werkausgabe; 9/1), S. 146. 22 Timms: Karl Kraus (wie Anm. 6), S. 43. 23 Vgl. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Deutsch von Horst Günther. Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S. 204. 24 Zitiert nach: Gotthard Wunberg und Johannes J. Braakenburg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2000 (RUB; 7742), S. 108. 25 Hugo von Hofmannsthal und Edgar Karg von Bebenburg: Briefwechsel. Frankfurt a.M.: Fischer 1966, S. 81. 26 Vgl. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. 34. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 92. 27 Hermann Bahr zitiert nach Wunberg und Braakenburg (Hg.): Die Wiener Moderne (wie Anm. 24), S. 106.

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zeigen. Schnitzler bediente sich zum ersten Mal in der deutschen Literatur der Technik des inneren Monologs. In seiner Erzählung Lieutenant Gustl enthüllte er, dass hinter der Maske des schneidigen Offiziers, eines typischen Vertreters der k. u. k. Armee, lediglich ein kleinbürgerlicher, geistig beschränkter, antisemitischer Feigling steckt. Freud stieg noch tiefer hinab ins Innere des Menschen, bis ins Unbewusste, und erforschte die Mechanismen der Verdrängung und der Deckerinnerung. Der Architekt Adolf Loos verzichtete in seinen Entwürfen auf Ornamente und ließ gleichsam nackte Häuser bauen. Karl Kraus schließlich wollte mit den Mitteln der Satire und der Polemik »tabula rasa«28 machen und entlarvte wie niemand sonst die allgemeine Heuchelei auf dem Gebiet der Sexualität.29 Vor allem aber nahm er Journalisten aufs Korn und enthüllte die Fehler und Phrasen in der Neuen Freien Presse seines Intimfeindes Moriz Benedikt, die ihm als »Blätterhülle« für wirtschaftliche Zwecke erschien.30 Den Stil Maximilian Hardens schließlich, eines weiteren Feindes, charakterisierte er als »[…] Mumme, die er noch über die Maske anzieht.«31 Diese Kritik beruhte auf der Vorannahme, die Sprache bezeuge entweder die moralische Integrität oder die betrügerische Falschheit ihres Benutzers; sie verrate die Wahrheit über seine Absichten hinter der Maske. Bereits auf dem Frontispiz der ersten Ausgabe seiner Fackel ließ Kraus zwei Satyrmasken abbilden, Sinnbild der Wiener Existenz, und eine brennende Fackel. Sie fungierte als Logo der Zeitschrift und als Emblem der Aufklärung. In Die Blendung wandte sich Canetti von diesem Programm ab, indem er die Grenzen der Aufklärung am Beispiel eines weltfremden Philologen deutlich machte, den er bis kurz vor der Veröffentlichung Kant nannte – nach dem größten Philosophen der Epoche. Auf seine Weise knüpfte er an die kritische Tradition der Wiener Literatur an, auch wenn er später als Schnitzler, Freud und Kraus schrieb. In seinen frühen Werken stellte er in vielen Variationen dar, wie sich die Figuren sowohl über ihren eigenen Charakter als auch über das Wesen ihres Gegenübers täuschen. Während sie sich nach Sicherheit sehnen, einem sicheren Haus, einem sicheren Besitz, ist das sprachliche Fundament ihres Selbst, der eigene Name, zweifelhaft geworden und dem Spott preisgegeben. Denn anders als in Komödien und Satiren üblich, machte Canetti in Hochzeit auch die Namen, das Ureigenste, zu täuschenden Masken. So verdeutlichte er,

|| 28 F 311–312 (1910), S. 13. 29 Vgl. Jens Malte Fischer: Fin de Siècle. Kommentar zu einer Epoche. München: Winkler 1978, S. 55. 30 F 28 (1900), S. 7. 31 F 360–362 (1912), S. 70.

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dass das Maskenhafte tief im Menschen verankert ist: Die Täuschung ist zur Identität geworden und zum beherrschenden Prinzip des gesellschaftlichen Verkehrs. In Die Blendung ging Canetti gar so weit, dass er die Figuren auf dem Polizeirevier wie auf einer Theaterbühne miteinander agieren ließ. Das erinnert an Schnitzler, der Paracelsus im gleichnamigen Drama feststellen ließ: »Sicherheit ist nirgends. / Wir wissen nichts von andern, nichts von uns; / Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.«32 Canettis Figuren durchschauen dieses LebensSpiel nicht. Sie können der Unsicherheit nichts abgewinnen, sie nicht produktiv nutzen, können nicht springen und sich verwandeln. Ihr Credo ist das Credo jener »Welt von Gestern«: »Safety first«.33 Die Beschäftigung mit dem Phänomen der Maske endete für Canetti aber nicht an den Grenzen Wiens. Aus seinen anthropologischen Studien lernte er, dass Täuschung und Entlarvung zum Verhaltensrepertoire der Machthaber gehören. Was die Intellektuellen der Wiener Moderne zur Jahrhundertwende für ein Charakteristikum ihrer Heimatstadt hielten, das führte Canetti zu Beginn der dreißiger Jahre auf einen allgemeinmenschlichen Trieb zurück: den Willen zur Macht. Anders als der Machthaber Kraus verzichte er indes darauf, den Spielarten der Macht die »Maske des Schwachsinns« vom Gesicht zu reißen (VI, S. 134). Die Zuschauer sollen sich selbst gegen den Schwachsinn der Macht stellen. Sie sollen sich täuschen lassen, so wie die Figuren, die Namen zunächst als richtig begreifen und dann, anders als die Figuren, durch eigenes Denken zur Einsicht gelangen, dass sich hinter der Namensmaske ein anderes Wesen verbirgt. Auf diese Weise zieht Canetti sie in das Stück hinein, macht sie zu einem Teil des Maskenspiels und der daraus resultierenden Katastrophe. Während Karl Kraus Österreich-Ungarn als »Versuchsstation des Weltuntergangs«34 begriff und Stefan Zweig in Wien alle gegeneinander kämpfen sah35, inszenierte Canetti in Hochzeit vor den Augen seines Publikums beides: den Kampf aller gegen alle und den Weltuntergang. Er erinnert an das Erdbeben von Messina, das der junge Canetti in der Wiener Grottenbahn betrachtet hatte. Durch das Interesse an der »Theatromanie« und ihrer Funktion im Kampf der Menschen um Macht und Überleben wurde Canetti zu einem Dichter, der – seiner Definition gemäß – sowohl der eigenen Zeit verfallen war als auch gegen sie anschrieb. Wie Schönberg, den er später kennenlernte, liebte und hasste er Wien,

|| 32 Arthur Schnitzler: Die dramatischen Werke. 1. Bd. Frankfurt a.M.: Fischer 1962, S. 498. 33 Zweig: Die Welt von Gestern (wie Anm. 26), S. 21. 34 F 400–403 (1914), S. 46. 35 Vgl. Zweig: Die Welt von Gestern (wie Anm. 26), S. 85.

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die Stadt, in der er lebte.36 In den Werken der Wiener Intellektuellen, vor allem in Die Fackel, hatte Canetti das Maskenspiel und die Entlarvung an konkreten Beispielen studieren können. Nun, Jahre nach dem Höhepunkt der Wiener Moderne, brachte er eine neue Variante auf die Bühne. Indem er den Zuschauer dazu animierte, die Macht-Versessenheit der Masken-Menschen zu erkennen, stellte er sich gegen die eigene Zeit. Er glich darin Karl Kraus, den Allan Janik und Stephen Toulmin eine »der repräsentativen Stimmen des moralischen Widerstandes gegen den Geist der Zeit«37 genannt haben. Selbst später, weit ab von Wien, entwarf Canetti trügerische Masken. In Die Befristeten, in denen er sich von der »Farbigkeit der gesprochenen Wiener Sprache« abwandte (X, S. 314), widersprach er ein weiteres Mal den Tendenzen seiner Zeit. Die Namen der Figuren sind hier Teil eines hierarchischen Systems, das zu seinem Fortbestand den Tod der Menschen braucht. Doch auch sie sind falsche Masken. Sie verwurzeln die Lüge der Prädestination in den Figuren und bewirken, dass sie an eine falsche Identität glauben. Auch hier scheitert die Aufklärung. Der Revolutionär Fünfzig reißt diesmal zwar selbst die Masken herunter und befreit die Figuren von ihren Namen, aber er entwickelt keine Konzepte, die aus dem Teufelskreis von Macht und Ohnmacht hinausführen. Der Zeit verfallen zeigte sich Canetti auch in seinem zweiten Drama Komödie der Eitelkeit. Im Unterschied zur stratifizierten Gesellschaft der Befristeten brachte er in dieser figurenreichen Komödie, einer Satire u.a. auf die Nazizeit, die Masse auf die Bühne. Der Kampf zwischen Individuum und Masse, der dem Stück eine dialektische Struktur verleiht, prägt auch die Namen, die Canetti so gründlich bedachte wie niemals sonst und – wie im zweiten Teil (B) werkgenetisch nachgewiesen werden konnte – ihrem Träger immer besser anzupassen suchte. Denn er wollte die Spannung zwischen den beiden bestimmenden Polen menschlicher Existenz schon im Namen sichtbar machen. Deshalb bezog er die Namen der Figuren aufeinander, verknüpfte sie durch Alliteration oder Reim. So transzendierte er die Grenzen des Namens und implementierte seinen Figuren die Masse als Teil ihrer Identität. Außerdem setzte er einige Namen aus antithetischen Bestandteilen zusammen: Ein Teil verweist auf die Masse, der andere auf die Macht. Diese Namengebung, die ein traditionelles Verfahren neu belebt, erzielt ihre Wirkung allerdings eher beim Leser als beim Zuschauer, da sich die Figuren nur selten mit Namen ansprechen. Nicht von ungefähr hatte Canetti es zuerst in Die Blendung erprobt. Dort tragen die Hauptfiguren – und einige Ne-

|| 36 Vgl. dazu den Brief, den Schönberg am 5. Juli 1910 an Gustav Mahler schrieb. Zitiert nach Timms: Karl Kraus (wie Anm. 6), S. 22. 37 Janik und Toulmin: Wittgensteins Wien (wie Kapitel B2, Anm. 30), S. 11.

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benfiguren – antithetische Namen, die auf den Kampf zwischen Individuum und Masse verweisen. Dadurch entstehen Doppelfiguren, halb Mensch, halb (Masse-)Tier, wie bei den Totems der Ägypter. Als »Frucht des Feuers«, des Massenerlebnisses am 15. Juli 1927, verdanken sich diese beiden Werke zwar der Wiener Atmosphäre; doch indem sie grundlegende ethische und erkenntnistheoretische Fragen stellen, weisen sie darüber weit hinaus. In allen Werken aus der Wiener Zeit stellte Canetti, vielfach variierend, das Scheitern menschlicher Kommunikation dar. Durch seine Feldstudien in den Lokalen, den Trams und auf den Straßen der österreichischen Metropole war er darauf gekommen, »daß Menschen zwar zueinander sprechen, aber sich nicht verstehen« (VI, S. 136). Die täuschenden Namen tragen zu diesem NichtVerstehen bei. Doch erst die richtigen Namen machen das Ausmaß der Täuschung klar. Obwohl das Wesen des Gegenübers sich durch den redenden Namen teilweise verrät, bleibt den Figuren diese Wahrheit verborgen, da sie sich täuschen wollen und die eigene fixe Idee nicht aufgeben können. Sie sprechen zueinander, ohne sich zu erkennen. Der redende Name ist für sie kein Fenster ins Innere. Diese Kommunikationsskepsis, die Canetti ebenfalls Kraus zu verdanken meinte (VI, S. 136), ist keineswegs die Folge einer Sprachkrise, wie sie Hugo von Hofmannsthal zur Jahrhundertwende in seinem fiktiven Chandos-Brief (1902) zum Ausdruck brachte.38 Das Gefühl, dass die abstrakten Worte »im Munde wie modrige Pilze«39 zerfallen und dass »alle Urteile, die leichthin und mit schlafwandlerischer Sicherheit abgegeben zu werden pflegen« plötzlich bedenklich erscheinen, war Canetti dennoch nicht unbekannt. Wie Chandos suchte auf seine Weise auch er nach der Sprache der Dinge. In seinem Werk, vor allem in den Aufzeichnungen, spielt Sprachkritik gleichwohl eine weitaus geringere Rolle40 als die Kritik an den systematisierenden Wissenschaftlern, die sich der Dinge – wie Canetti meinte – über die Benennung bemächtigen und sie so auf Abstand halten. Wie Konfuzius beklagte Canetti darüber hinaus die allgemeine Sprachverwirrung, deren Ursprünge er weit in die Vergangenheit verlegte, in die mythische Zeit des Turmbaus zu Babel. Zugleich brachte er wie Kraus in || 38 Shin: Augen- und Ohrenzeuge (wie Einleitung, Anm. 35), S. 219–235 vergleicht Canettis Sprachauffassung mit Mauthners sprachskeptischem Denken und kommt zu folgendem Ergebnis: Zwar verneine Canetti wie Mauthner, dass die Sprache als Medium der Verständigung diene, aber er erkenne die Grenzen der Sprache nicht in ihr selbst, sondern im sprechenden Subjekt (Vgl. ebd., S. 232). 39 Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«. In: Ders.: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 (Sämtliche Werke; 31), S. 45–55, hier S. 49. 40 Vgl. Engelmann: Babel, Bibel, Bibliothek (wie Einleitung, Anm. 5), S. 129.

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Schicksal der Silbe die »Schäden und Veränderungen«41 ans Licht, die durch den unbedachten oder manipulativen Gebrauch der Worte entstehen. Gerade die großen Worte, Gott und Dichter, schienen ihm abgenutzt. Er forderte deshalb die Wiederauffüllung des Wortes durch den, er es entleert habe, und ging selbst mit gutem Beispiel voran. Trotz aller Kritik am Sprachgebrauch verlor Canetti aber nicht den Glauben an die Kraft der Worte. Im Gegenteil: Dieser Glaube – ein Rest des alten Bibelglaubens, wie er meinte (V, S. 313) – machte seine Kritik erst möglich und prägte seinen Umgang mit der Sprache. Er wagte nie, sich die Worte gefügig zu machen oder ihre Bedeutung zu verengen. Selbst das oft missbrauchte oder falsch verstandene Wort »Dichter« definierte er über verschiedene paradoxe Bestimmungen. Die Ehrfurcht vor dem Wort, der Wille, die Sprache nicht durch Phrasen zum »Ornament des Geistes«42 zu degradieren, erinnert auf überraschende Weise wieder an den ›Sprachfanatiker‹43 Karl Kraus, der sich als »Diener am Wort«44 begriff und Heine dafür tadelte, dass ihm die Sprache zu Willen gewesen sei: »Doch nie brachte sie ihn zu schweigender Ekstase. Nie zwang ihn ihre Gnade auf die Knie«. Die eigentlichen Künstler waren für Kraus ausschließlich diejenigen, die dem Wort gehorchen.45 Denn er war von den magischen Qualitäten des Wortes überzeugt und hielt es wie die Naturvölker für einen Stellvertreter des Dinges.46 Kraus war der einzige Dichter Wiens, der Canetti ein bedingungsloses Sprachvertrauen vorlebte und ihn Demut vor den Worten lehrte. Während Kraus indes die ganze Sprache wie einen Gott behandelte47, verehrte Canetti nur einen ihrer Teile als Gott: den Namen. Ihm unterwarf er sich so sehr wie Kraus den Worten. Das erinnert zwar an den alten mythischen Glauben, dass das Schicksal des Menschen durch den Namen vorherbestimmt sei. Doch Canetti gab diesem Glauben eine neue Gestalt. Seine Namensmythologie ist keine gefährlichirrationale Regression, sondern eine reflektierte ›Übersetzung‹ des archaischen

|| 41 Karl Kraus: Schicksal der Silbe. In: Ders.: Die Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 (Schriften; 7/suhrkamp taschenbuch; 1317), S. 306–322, hier S. 320. 42 F 279–80 (1909), S. 8. 43 Kohn: Karl Kraus (wie Kapitel A8, Anm. 69), S. 199. 44 Kraus: Aphorismen (wie Kapitel A2, Anm. 8), S. 116. 45 Vgl. Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Ders.: Untergang der Welt durch schwarze Magie (wie Kapitel A6, Anm. 8), S. 185–210, hier S. 210. 46 Vgl. Kraft: Karl Kraus (wie Kapitel A2, Anm. 8), S. 177; Kohn: Karl Kraus (wie Kapitel A8, Anm. 69), S. 204. 47 Nach dem Urteil eines deutschen Kritikers war die Sprache für Kraus eine Gottheit. Zitiert nach Kohn: Karl Kraus (wie Kapitel A8, Anm. 69), S. 199.

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Denkens in die Gegenwart.48 Indem er den Namen selbst zu einem Gott erhob, wandte er sich zum einen gegen alle aus der Überlieferung bekannten Formen von Zauberei, die Namen zu einem Instrument im Dienste eigener Zwecke machen. Die Abneigung gegen Namenzauberei zeigt sich noch darin, dass Canetti mit dem Schreiben oft erst beginnen konnte, wenn er den richtigen Namen gefunden hatte. Zum anderen jedoch war Canetti nicht nur wie die Naturvölker davon überzeugt, dass Name und Wesen zueinander passen, sondern er glaubte auch daran, dass der Name alles enthalte, viele verschiedene Möglichkeiten menschlicher Existenz, die sich erst im Lauf der Geschichte enthüllen. In jedem Namen sah er deshalb ein Rätsel. Der Lösung dieses Rätsels aber, dem Sinn des Namens49, glaubte er sich nur annähern zu können. Denn die Beschäftigung mit Namen erforderte seiner Auffassung nach einen permanenten Perspektivwechsel und eine stetige Aktualisierung – wie bei der biblischen Offenbarung. Zwar fixiert der Name das Wesen des Trägers, indem er ihn auf ein Urbild verpflichtet, doch er lässt ihm die Freiheit, diesem Urbild auf seine Weise zu entsprechen. Die Versöhnung von Fixierung und Freiheit, Weite und Enge prägt auch die Namen der Blendung. Die Figuren sind auf ein Schicksal festgelegt, aber ihre Namen erlauben ihnen, zwischen den Polen Masse und Macht hin- und herzuspringen. Es sind symbolische Namen, von einer enormen Bedeutungsvielfalt geprägt. Die Korrespondenzen zwischen Leben und Literatur, zwischen Canettis Namensphänomenologie und seiner Poetik der Namen, werfen die Frage auf, wie er mit dem eigenen Namen umgegangen ist und wie mit den Namen derer, die er nicht nur aus Büchern, sondern persönlich kannte. Mit dieser Frage möchte ich mich künftig in einer Arbeit über die Funktion und Bedeutung von Namen in Canettis autobiografischer Trilogie auseinandersetzen. Sie wird inhaltlich und methodisch an diese Untersuchung anknüpfen und sie – wieder unter Rekurs auf den Nachlass – weiterführen und ergänzen. Dabei wird sich

|| 48 Vgl. dazu Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Einleitung, Anm. 13), S. 133f.: »Wenn man sich aber klar macht, daß die magische Weltsicht nicht eine naive oder primäre, sondern eine reflektierte Einstellung ist, muß man die magische Deutung, die Canetti von seiner jugendlichen Sprachauffassung gibt, eine Reflexion zweiter Stufe nennen.« In seinem Gespräch mit Canetti beurteilt Theodor W. Adorno solche ›Übersetzungen‹ einseitig negativ: Was aus der Vorzeit beschworen werde, »aber eigentlich keine Wahrheit mehr [habe]«, verwandele sich »durch dieses Moment seiner eigenen Unwahrheit« in der Gegenwart in eine »Art von Giftstoff« (X, S. 148). 49 Josef Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus (wie Einleitung, Anm. 13), S. 134 hat Unrecht, wenn er meint, Canetti sei weniger an der »bezeichnenden Funktion des Eigennamens« interessiert gewesen als am »›Klangbild‹ oder ›Klanggesicht‹ des konkreten Wortes«.

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zeigen, dass Canetti insbesondere der Magie des eigenen Vornamens verfallen war; dass er ihn nach dem hier vorgestellten Muster als Wurzel und zugleich Gefäß begriff und sich für einen neuen Elia hielt. Das Urbild aktualisierte auch er dabei auf seine eigene Weise. Als Autobiograf schrieb er wie Elia zunächst die Taten der Menschen auf. Darüber hinaus versuchte er, ebenfalls wie Elia, Menschen vor dem Tod zu retten. Er entriss ihre Namen dem zweiten Tod, dem Vergessen, und hoffte, sein eigener Ruhm werde ihre Unsterblichkeit sichern. Der Dichter wurde zum Lebensretter: »Die Götter, von Anbetung genährt, in Ungenanntheit verhungert, in Dichtern erinnert, und dann erst ewig.« (IV, S. 83) Wenn Canetti auch in Anbindung an die Themen und Motive der Wiener Moderne schrieb, verlor er doch nie seine dritte Forderung an den Dichter aus dem Auge: die Universalität. Vielleicht war er auch deshalb den Namen – als sprachlichen Universalien – so sehr verfallen.

Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Elias Canetti: Werke in zehn Bänden. München, Wien: Hanser 2005. I Die Blendung II Hochzeit, Komödie der Eitelkeit, Die Befristeten, Der Ohrenzeuge III Masse und Macht IV Aufzeichnungen 1942–1985, Die Provinz des Menschen, Das Geheimherz der Uhr V Aufzeichnungen 1954–1993, Die Fliegenpein, Nachträge aus Hampstead VI Die Stimmen von Marrakesch, Das Gewissen der Worte VII Die gerettete Zunge VIII Die Fackel im Ohr IX Das Augenspiel X Aufsätze, Reden, Gespräche PB

Party im Blitz. Die englischen Jahre. Aus dem Nachlaß hg. von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler. München, Wien: Hanser 2003.

AML Aufzeichnungen für Marie Louise. Aus dem Nachlaß hg. und mit einem Nachwort von Jeremy Adler. München, Wien: Hanser 2005. BgT Das Buch gegen den Tod. Aus dem Nachlass hg. von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2014. BG

Veza und Elias Canetti: Briefe an Georges. Hg. von Karen Lauer und Kristian Wachinger. München, Wien: Hanser 2006.

LoA Elias Canetti und Marie-Louise von Motesiczky: Liebhaber ohne Adresse. Briefwechsel 1942–1992. Hg. von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. München: Hanser 2011. Alle Texte aus dem Züricher Nachlass Elias Canettis zitiere ich in den Fußnoten nach dem folgenden Schema: ZB Schachtelnummer und Datum. Bei Texten ohne Datum gebe ich zusätzlich die Nummer des Konvoluts an. Bücher aus der Canetti-Bibliothek weise ich über die Sigle CAN und die Inventarnummer nach. AA

II III IV VI VII

Immanuel Kant: Kant's gesammelte Schriften. Herausgegeben von der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abteilung (I–IX): Werke; 2. Abteilung (X–XIII): Briefwechsel; 3. Abteilung (XIV–XXIII): Nachlaß. Berlin: Reimer bzw. de Gruyter 1900–1955. Vorkritische Schriften II: 1757–1777 Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787 Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage), Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Die Metaphysik der Sitten Der Streit der Fakultäten, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht

610 | Literaturverzeichnis

VIII IX XX

Abhandlungen nach 1781 Logik, Physische Geographie, Pädagogik Kant's handschriftlicher Nachlaß VII

F

Die Fackel, Wien, H. 1–922 (1899–1936). Photomechanischer Nachdruck. Hg. von Heinrich Fischer. 39 Bde. München: Kösel 1968–1973.

Werke von Elias Canetti Canetti, Elias: Werke in zehn Bänden. München, Wien: Hanser 2005. – Die gespaltene Zukunft. Aufsätze und Gespräche. München: Hanser 1972 (Reihe Hanser; 111). – Die Welt ist nicht mehr so darzustellen wie in früheren Romanen. Gespräch mit Elias Canetti. In: Manfred Durzak: Gespräche über den Roman mit Joseph Breitbach u.a. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976 (suhrkamp taschenbuch; 318), S. 86–102. – Über Tiere. Mit einem Nachwort von Brigitte Kronauer. München: Hanser 2002. – Party im Blitz. Die englischen Jahre. Aus dem Nachlaß hg. von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler. München, Wien: Hanser 2003. – Über Dichter. Ausgewählt von Penka Angelova und Peter von Matt. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2004. – Aufzeichnungen für Marie Louise. Aus dem Nachlaß hg. und mit einem Nachwort von Jeremy Adler. München, Wien: Hanser 2005. – Das Hörwerk. Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche. Hg. von Robert Galitz, Kurt Kreiler und Katharina Theml. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2005. – Das Buch gegen den Tod. Aus dem Nachlass hg. von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2014. Canetti, Veza und Elias Canetti: Briefe an Georges. Hg. von Karen Lauer und Kristian Wachinger. München, Wien: Hanser 2006. Canetti, Elias und Marie-Louise von Motesiczky: Liebhaber ohne Adresse. Briefwechsel 1942–1992. Hg. von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. München: Hanser 2011.

Werke von anderen Autoren Abraham a Santa Clara: Abraham a St. Clara's Sämmtliche Werke. 3. Band. Passau: Friedrich Winkler 1835. Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Limitierte Sonderausgabe, Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (Fischer Taschenbuch; 50669). Altägyptische Märchen: Mythen und andere volkstümliche Erzählungen. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Emma Brunner-Traut. 9. Auflage, München: Diederichs 1990 (Die Märchen der Weltliteratur). Bachmann, Ingeborg: Der Umgang mit Namen. In: Dies.: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang. München, Zürich: Piper 1978, S. 238–254 (Werke; 4). Benedikt von Nursia: Die Regel des Hl. Benedikt. Hg. von der Salzburger Äbtekonferenz. 5. Auflage der Neubearbeitung, Beuron: Beuroner Kunstverlag 1990.

Literaturverzeichnis | 611

Benjamin, Walter: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Gesammelte Schriften I.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 123–201. – Gesammelte Schriften I.2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. – Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften II.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 140–157. Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Übersetzt und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart: Reclam 2005 (RUB; 18343). Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung D. Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem von dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss genehmigten Text, Berlin: Britische und Ausländische Bibelgesellschaft 1925. – Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg, Basel und Wien: Herder 1980. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. In 5 Teilen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 (Werkausgabe 5/suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 554). Broch, Hermann: Hofmannsthal und seine Zeit. In: Ders.: Schriften zur Literatur I: Kritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976 (Kommentierte Werkausgabe; 9/1). – Philosophische Schriften 1, Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 (Kommentierte Werkausgabe; 10/1). Brod, Max: Streitbares Leben. Autobiographie. München: Kindler 1960. Büchner, Georg: Dichtungen. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. 2. Auflage, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2015 (Deutscher Klassiker-Verlag im Taschenbuch; 13). Carlyle, Thomas: Sartor Resartus. Introduction by W.H. Hudson. London und Melbourne: Dent 1984 (Everyman's Library). Cervantes: Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Don Quixote von la Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck. Mit 363 Illustrationen von Gustave Doré. Wiesbaden: Vollmer 1975. Descartes, René: La recherche de la vérité par la lumière naturelle. Hg. in der französischen und lateinischen Fassung, ins Deutsche übersetzt und eingeleitet von Gerhart Schmidt. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989 (Elementa-Texte; 3). Dilthey, Wilhelm: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. 1. Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. 6., unveränderte Auflage, Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957 (Gesammelte Schriften; 5). – Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 6. unveränderte Auflage, Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1958 (Gesammelte Schriften; 7). Drescher, Siegfried (Hg.): Wer war Kant? Drei zeitgenössische Biographien von Ludwig Ernst Borowski, Reinhold Bernhard Jachmann und E. A. Ch. Wasianski. Pfullingen: Neske 1974. Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen I. Hg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (Werke in 5 Bdn.; 2/Bibliothek deutscher Klassiker; 8). Fontane, Theodor: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. 2. Auflage, München: Hanser 1974 (Werke, Schriften und Briefe; Abteilung I, 4).

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Freud, Sigmund: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Frankfurt a.M.: Fischer 1974 (Studienausgabe; IX). – Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt a.M.: Fischer 1969 (Studienausgabe; X). Goethe, Johann Wolfgang: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814. Hg. von Christoph Siegrist u.a. München: Hanser 1987 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe; 9). – Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Peter Sprengel. München, Wien: Hanser 1985 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe; 16). – Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Maximen und Reflexionen. Hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. Textredaktion: Wolfgang Bunzel, Martin Ehrenzeller und Edith Zehm. München, Wien: Hanser 1991 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe; 17), S. 715–953. Gottfried von Strassburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Bd. 2: Text. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, Verse 9983–19548. Stuttgart: Reclam 1980 (RUB; 4472). Gregor der Große: Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen vier Bücher Dialoge. Aus dem Lateinischen übersetzt von Joseph Funk. München: Kösel & Pustet 1933 (Bibliothek der Kirchenväter; 2. Reihe, Bd. 3: Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen ausgewählte Schriften, 2). Grimm, Jakob und Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der 3. Auflage (1837), hg. von Heinz Rölleke. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker; 5). Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. 3. Band. Hg. von Karl Pörnbacher. München: Hanser 1971, S. 505–641. Hofmannsthal, Hugo von: »Ein Brief«. In: Ders.: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 (Sämtliche Werke; 31), S. 45–55. Hofmannsthal, Hugo von und Edgar Karg von Bebenburg: Briefwechsel. Frankfurt a.M.: Fischer 1966. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Neu hg. von Karl Schuhmann. Text der 1.–3. Auflage, Den Haag: Nijhoff 1976 (Husserliana; III, 1). – Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926. Hg. von Margot Fleischer. Den Haag: Nijhoff 1966 (Husserliana; XI). – Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Ders.: Aufsätze und Vorträge (1911–1921). Mit ergänzenden Texten hg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Den Haag: Nijhoff 1987 (Husserliana; XXV), S. 3–62. I Ging. Das Buch der Wandlungen. In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. Neugesetzter, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Jena 1924, Wiesbaden: Marix 2004. Jacobus de Voragine: Legenda Aurea. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. Mit einem Nachwort von Walter Berschin. 14. Auflage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004. Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt a.M. und Hamburg: Fischer 1950 (Fischer Bücherei). Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Levana oder Erziehlehre, Politische Schriften. München: Hanser 1963 (Werke; 5).

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614 | Literaturverzeichnis

mit Eckhard Heftrich. Frankfurt a.M.: Fischer 2012 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe; 12,1). – Nachträge. Frankfurt a.M.: Fischer 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bdn.; 13). – Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. In Verbindung mit dem Schiller-Nationalmuseum hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Inge Jens. Pfullingen: Neske 1960. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. In: Ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungs- und Seelenkunde. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999 (Werke in zwei Bdn.; 1/Bibliothek deutscher Klassiker; 159), S. 85–518. Das Nibelungenlied: Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2002 (RUB; 644). Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 1). – Also sprach Zarathustra. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 4). – Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 5). – Der Fall Wagner u.a. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Berlin, New York: de Gruyter 1980 (Kritische Studienausgabe; 6). P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt und hg. von Michael von Albrecht. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2003 (RUB; 1360). Platon: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Léon Robin und Louis Méridier, Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Sonderausgabe, Darmstadt: WBG 1990 (Werke in 8 Bdn.; 3). – Politeia – Der Staat. Griechisch und Deutsch. Bearbeitet von Friedrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry, Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Sonderausgabe, Darmstadt: WBG 1990 (Werke in 8 Bdn.; 4). – Symposion. Griechisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Franz Boll, bearbeitet von Wolfgang Buchwald, neu bearbeitet und hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler 2000 (Tusculum Studienausgaben). T. Maccius Plautus. Einleitung, Text und Kommentar von Erich Woytek. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1982. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts/Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste. Französisch und Deutsch. Übersetzt von Doris Butz-Striebel in Zusammenarbeit mit Marie-Line Petrequin. Hg. von Béatrice Durand. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB; 18679). – Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und hg. von Philipp Rippel. Bibliographisch ergänzte Auflage, Stuttgart: Reclam 2010 (RUB; 1770). – Du contrat social ou Principes du droit politique/Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch und Deutsch. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker übersetzt und hg. von Hans Brockard. Stuttgart: Reclam 2010 (RUB; 18682). Samjatin, Jewgenji: Wir. Roman. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Mit einem Nachwort von Jürgen Rühle. 9. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006 (KiWi; 49).

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Schlegel, Friedrich: Athenäums Fragmente. In: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. München, Paderborn und Wien: Schöningh; Zürich: Thomas 1967 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe; 2), S. 165–255. Schnitzler, Arthur: Die dramatischen Werke. 1. Bd. Frankfurt a.M.: Fischer 1962. Shakespeare, William: Romeo and Juliet/Romeo und Julia. Englisch-deutsche Studienausgabe. Deutsche Prosafassung, Anmerkungen, Einleitung und Kommentar von Ulrike Fritz. Tübingen: Stauffenburg 1999 (Englisch-deutsche Studienausgabe der Dramen). Svevo, Italo: Zeno Cosini. Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Piero Rismondo. 11. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004 (rororo; 13485). P. Cornelius Tacitus: Historien. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt und hg. von Helmuth Vretska. Stuttgart: Reclam 1984 (RUB; 2721). Theophrast: Charaktere. Griechisch und Deutsch. Übersetzt und hg. von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2000 (RUB; 619). Vlaminck, Maurice de: Rückblick in letzter Stunde. Menschen und Zeiten. St. Gallen: Erker 1965. Wagner, Richard: Die Musikdramen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1978 (dtvbibliothek). Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweitere Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin, Boston: de Gruyter 2013. Wellershoff, Dieter: Frauenfeind und Dr. Krebs. Probleme der Namengebung in literarischen Texten. In: Ders.: Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 102–122. Winder, Ludwig: Die jüdische Orgel. Hg. und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner. Salzburg und Wien: Residenz 1999 (Eine österreichische Bibliothek). Wittenwiler, Heinrich: Der Ring. Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hg. von Horst Brunner. Stuttgart: Reclam 1991 (RUB; 8749). Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969 (Schriften; 1). Wunberg, Gotthard und Johannes J. Braakenburg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2000 (RUB; 7742). Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. 34. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2003.

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Personenregister Abbagnano, Nicola 119, 126 Abraham 235 Abraham a Santa Clara 322, 562 Adler, Jeremy 168 Adorno, Theodor W. 17, 63, 196, 199, 258, 606 Aesop 289 Alexander der Große 22, 160, 581 Alexander VI. (Papst) 215 Alexis, Willibald 411 Aligheri, Dante 133 Aljechin, Alexander 518 Altvater, Christine 23 Améry, Jean 378 Ammon, Frieder von 261 Amundsen, Roald 48 Angelova, Penka 11, 21ff. Antiphanes 288 Antonius der Große 218ff., 231 Arditti, Bellina 48, 368, 566 Arditti, Bernhard 363 Arditti, Josef 566 Arditti, Mathilde 367f., 566 Arditti, Salomon 49 Aristophanes 48, 212, 333f., 337, 367, 469, 596 Aristoteles 9f., 62, 65, 70, 85, 133f., 158, 162, 168f., 405 Arnold, Matthew 121 Asriel, Alice 348 Asriel, Hans 303, 348 Aubrey, John 270 Augustinus 249, 363 Ayren, Armin 425 Bach, Johann Sebastian 50, 121, 133, 169 Bachmann, Ingeborg 80, 100, 147, 283ff. Bahr, Hermann 600 Bally, Charles 174 Barnouw, Dagmar 36, 228 Barthall, Gwyneth 180 Bartsch, Kurt 25 Beethoven, Ludwig van 50, 133 Beit, Hedwig von 110f.

Benedetti, Gaetano 474 Benedikt von Nursia 565, 567 Benedikt XV. (Papst) 565 Benedikt, Friedl 88, 180, 491, 595 Benedikt, Moriz 571, 601 Benjamin, Walter 25, 100, 149, 293, 478, 491 Berend, Eduard 29, 228, 287 Bergmann, Julius 381 Berkeley, George 392ff. Bernhard, Thomas 173 Bernini, Giovanni Lorenzo 537 Bertholet, Alfred 111 Bertram, Ernst 283 Bienek, Horst 35, 76, 148, 374, 434 Binder, Wolfgang 29, 590 Birus, Hendrik 29 Bischof, Rita 551 Bischoff, Alfons-M. 458 Bismarck, Otto von 92 Bleuler, Eugen 423 Bloch, Ernst 181 Blüher, Hans 527 Boese, Carl 353 Böhme, Gernot 385, 398 Böhme, Hartmut 385, 398 Bollacher, Martin 21, 35 Bonaparte, Napoleon 22f., 92, 160, 483, 510 Borgia, Cesare 215 Borgia, Lucrezia 215, 217, 220, 248 Borowski, Ludwig Ernst 380, 383, 410 Brant, Sebastian 369 Brecht, Bertolt 207 Breker, Arno 138 Britannicus 288 Broch, Hermann 11, 93, 137, 206, 420, 454, 473f., 573, 595, 597, 600 Brod, Max 28 Brontë, Branwell 203 Büchner, Georg 317 Buddha 536, 550, 559, 570 Buonarotti, Michelangelo 133, 376, 450, 466, 479 Burke, Kenneth 360 Burks, Arthur W. 57

640 | Personenregister

Caesar 22f., 156, 160f., 192 Canetti, Georges 182, 211f., 430, 481, 484 Canetti, Hera 97, 160f., 376 Canetti, Jacques 103, 233 Canetti, Johanna 41 Canetti, Josef 270 Canetti, Mathilde 95, 103, 182, 233 Canetti, Veza 338, 353, 376, 381, 424, 434, 439, 453, 466, 481, 557, 595 Capablanca, José Raúl 440, 455, 506, 515, 517f., 522 Carlyle, Thomas 83 Cassirer, Ernst 11, 25, 111, 144 Celan, Paul 491 Cervantes Saavedra, Miguel de 308, 401, 425 Cha, Kyung-Ho 40 Chamberlain, Houston Stuart 420 Cicero 48, 185 Cohen, Mizzi 348 Cranach, Lucas der Ältere 215 Curtius, Mechthild 547 Darby, David 38, 469 Daugherty, Daniel 559 Debus, Friedhelm 90, 285, 291 Demokrit 133 Descartes, René 342 Dilthey, Wilhelm 166 Dissinger, Dieter 27, 36, 378, 404, 430, 437, 462, 474, 551 Dittberner, Hugo 55 Doderer, Heimito von 167f. Donahue, William Collins 37f., 383 Doppler, Alfred 37 Dorst, Tankred 291, 296 Drescher, Siegfried 380 Dschingis-Khan 23 Dürrenmatt, Friedrich 243f. Durzak, Manfred 180, 211, 243, 293, 296, 340, 372 Eibl, Hans 420 Eichendorff, Joseph von 289f., 293, 327 Eis, Gerhard 102 Elia 453, 607 Eliot, Thomas Stearns 201 Elisabeth (Kaiserin von Österreich) 246

Emrich, Wilhelm 28 Engelmann, Susanna 14f., 24, 26, 33, 66 Epstein, Jechiel Michel 151 Eratosthenes 460 Erwin, Ralph 359 Esau 235 Euripides 104 Ezechiel 432 Fauser, Markus 411 Feth, Hans 28, 182, 186f., 203, 207, 226 Fichte, Johann Gottlieb 134 Fischer, Ernst 363, 424, 509f., 517, 557 Fischer, Kuno 380f., 384, 386, 389, 399 Flöge, Emilie 340 Fontane, Theodor 218, 291, 327f. Foucault, Michel 105 Frank, Rainer 101 Franz Ferdinand (Erzherzog von ÖsterreichEste) 246 Franz Joseph I. (Kaiser von Österreich) 193, 245 Franz von Assisi 410, 566f. Frazer, James George 110f. Frege, Gottlob 57 Freud, Anna 572 Freud, Sigmund 58, 111f., 162, 173, 196, 229, 242, 252, 329f., 355ff., 473, 491, 572, 598, 601 Freund, Julius 359 Fried, Erich 141, 595 Frisch, Max 429 Frischauer, Paul 335, 595 Fritsch, Gerhard 141 Frühwald, Wolfgang 280 Gaiser, Gerd 125 Garve, Christian 393 Georg (Heiliger) 483 Gersbach, Annette 160 Gibbon, Edward 167 Gilbert, Jean 359 Girardi, Alexander 600 Göbel, Helmut 40 Goebbels, Joseph 138

Personenregister | 641

Goethe, Johann Wolfgang von 9, 14, 23, 48, 55, 60, 83, 95, 121, 126, 133, 147, 152, 227, 290ff., 325 Gogh, Vincent van 138 Gogol, Nikolaj Wassiljewitsch 273 Góngora y Argote, Luis de 136 Göpfert, Herbert G. 77 Granichstaedten, Bruno 359 Grass, Günter 491, 576 Green, Joseph 383f. Gregor der Große (Papst) 225, 567 Gregorovius, Ferdinand 120 Grillparzer, Franz 289 Groh, Herbert Ernst 353 Groß, Felix 380 Grosz, George 584 Grünewald, Matthias 218f. Gutschmidt, Karl 19, 35 Habermas, Jürgen 166 Haid, Liane 359 Hajek, Markus 119 Halban, Josef 119 Hals, Frans 133f., 136, 152 Hansack, Ernst 92f. Hanuschek, Sven 5, 21f., 40f., 76, 95, 97, 244, 261, 558, 571 Harden, Maximilian 601 Harmensz van Rijn, Rembrandt 133, 557 Hartmann, Torsten 101 Hartung, Rudolf 246, 295, 466, 470, 491 Hebel, Johann Peter 121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 85, 162 Heine, Heinrich 137, 381f., 384f., 605 Helwig, Heide 25ff., 302 Heraklit 133f., 252, 306 Herder, Hermine 533 Herder, Johann Gottfried 175, 421 Hermann, Karl (Franz Sieghart) 533 Herodes Agrippa I. 447 Herodes der Große 581 Herodot 9f., 48 Herzfelde, Wieland 509f. Hieronymus 450 Hilgemann, Klaus 91f. Hillebrand, Bruno 285 Hippel, Theodor 381, 384

Hitler, Adolf 64, 144, 314, 347, 360, 362f., 588 Hobbes, Thomas 209, 466 Hofmannsthal, Hugo von 42, 597, 600, 604 Hölderlin, Friedrich 29, 590 Holz, Hans Heinz 227, 254, 296, 301 Holzinger, Alfred 265 Homer 48, 98, 145 Horaz 48, 51 Hornik, Karoline 11 Hrdlicka, Alfred 67f. Hubertus von Tongeren-Maastricht 584 Hugo, Victor 113 Husserl, Edmund 15ff., 395f., 399 Huxley, Julian 297 Iamblichos 104 Ibsen, Henrik 377 Innocenz III. (Papst) 450 Isidor von Sevilla 168 Jachmann, Reinhold Bernhard 380, 383, 404f., 408, 412 Jacobus de Voragine 171, 567 Janik, Allan 603 Jansen, Peter 512 Jaspers, Karl 81 Jean Paul 29, 228, 283, 286f., 299, 327 Jesus von Nazareth 172, 207, 219, 225, 229, 233, 355, 362, 444, 446ff., 466, 484, 529ff., 559, 579 Johannes (Evangelist) 362 Johannes (Jünger) 219 Johannes (Täufer) 229, 233 Josef 538 Judas Iskariot 449, 545, 559, 562, 571 Jung, Carl Gustav 163 Kafka, Franz 3, 19, 28, 30f., 155, 346, 429, 434f., 558, 572, 590 Kainz, Josef 600 Kalverkämper, Hartwig 90f. Kanfler, Grete 348 Kant, Immanuel 134, 378ff., 386ff., 418ff., 424, 427, 429, 443, 458, 467, 493, 544,锐550, 551, 601 Kapfhammer, Günther 102

642 | Personenregister

Karg von Bebenburg, Edgar 600 Karl der Große 237, 581 Kästner, Erich 429 Keller, Gottfried 48 Kemp, Paul 353 Kien, Peter (Prager Dichter) 424 Kirsch, Konrad 28, 34, 42 Kleist, Heinrich von 391 Kleopatra 427 Klimt, Gustav 340 Klüssendorf, Angelika 293 Knoll, Heike 37 Kokoschka, Oskar 215, 246, 341 Konfuzius 77, 383, 414, 416ff., 604 König, Barbara 285 Kornelius (Papst) 171f. Kraepelin, Emil 500, 505 Kratochwill, Kerstin 40f. Kraus, Karl 20, 24, 42, 68, 73, 87, 114, 137, 140, 150, 174f., 237, 256, 297, 361, 381, 399, 429, 509, 557f., 565, 571, 595ff., 601ff. Krien, Reinhard 101, 139, 147 Kripke, Saul 57, 125, 146 Krüger, Gerhard 334 Krumme, Detlev 462 Kühn, Manfred 383 La Bruyère, Jean de 270 Laing, Ronald D. 438 Lambroso, Cesare 570 Lamping, Dieter 92, 101, 288 Laotse 133f., 306 Laur, Wolfgang 11 Le Bon, Gustave 58 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 249, 388 Lenz, Siegfried 100 Leo I. (Papst) 450 Lessing, Gotthold Ephraim 29, 288, 290, 297, 508 Levasseur, Thérèse 532 Lévy-Bruhl, Lucien 110f., 161 Lichtenberg, Georg Christoph 4, 51, 66, 71, 73, 99 Li-Si 376, 465, 472, 542 Liudprand 503 Livius 215

Loos, Adolf 601 Lope de Vega 136 Lorenz, Adolf 119 Lorenz, Dagmar C.G. 36 Lotto, Lorenzo 215 Lucretia 215 Ludwig, Otto 121 Luise von Marillac 353 Lukas (Evangelist) 450 Lukian 48 Luther, Martin 98, 133 Machiavelli, Niccolò 215 Mack, Michael 419 Mackensen, Lutz 172 Mahler, Alma 215f., 246, 340, 572 Mahler, Anna 182, 216, 333, 341, 349, 572 Mahler, Gustav 215, 572, 603 Mann, Thomas 28, 31f., 41, 170, 283ff., 287, 292, 294, 304, 328, 332, 354, 497, 517, 590, 599 Marek, Thomas (Herbert Patek) 279, 368, 372ff. Margolius, Hans 62 Maria 229, 232, 321, 483, 506, 527, 529ff., 534, 537f., 542, 556 Maria Magdalena 225, 529 Maria Theresia 220, 529ff. Markion 109 Marx, Karl 133, 162, 598 Matisse, Henri 141 Mauthner, Fritz 604 May, Arthur 597 Meidl, Eva M. 37, 507 Melzer, Gerhard 25 Mendelssohn, Moses 491 Menke, Christoph 365 Messerschmidt, Franz Xaver 273 Mill, John Stuart 57, 90, 124 Minder, Robert 116f. Mong Dsi 407, 409, 411, 430 Morgan, Peter 468 Morgenstern, Christian 270f. Moritz, Karl Philipp 290 Möser, Justus 290 Motesiczky, Marie-Louise von 180, 182, 280, 595

Personenregister | 643

Mozart, Wolfgang Amadeus 121, 133f., 136f., 152 Musil, Robert 558, 595, 597 Nabl, Franz 64 Nero 288 Nerva 165 Nerval, Gérard de 99, 164f., 167, 173, 175 Nestroy, Johann Nepomuk 280, 596f. Neumann, Karl 119 Nietzsche, Friedrich 50, 133f., 136, 141, 147, 152, 163, 207f., 382 Nigelli, Gottlieb 579 Okonowski, Georg 359 Oktavian 427 Onassis, Aristoteles Sokrates Homer 158 Otto I. 503 Ovid 145 Paal, Jutta 27 Panizza, Oskar 523 Pascal, Blaise 76 Pavese, Cesare 155, 159, 161 Peiter, Anne 40 Penzoldt, Ernst 98 Petrus 433, 444, 446, 448ff., 465f., 486, 495, 530, 571 Piaget, Jean 174 Picasso, Pablo 138, 141 Pieper, Josef 334 Pilgerstorfer, Karla 23f., 33f. Pinter, Harold 491 Platon 9f., 70, 144, 154, 333f., 337, 388, 390, 397, 408, 437, 469 Plautus 48, 143f. Plutarch 48 Politzer, Heinz 28 Pompeius der Große 581 Pontius Pilatus 447, 576 Pörksen, Uwe 285 Potgieter, Johann 551 Poussin, Nicolas 141 Priscian 10 Proust, Marcel 173, 325f., 590 Pulgram, Ernst 90 Puricelli, Maria Cristina 37

Pyrrhos von Epirus 145 Quack, Josef 25 Quevedo y Villegas, Francisco Gómez de 136f., 147, 490 Raabe, Wilhelm 327 Rajec, Elizabeth M. 28ff., 590 Ranke, Leopold von 167 Rathenau, Walter 523 Reich, Wilhelm 427 Riedner, Nicola 28, 518 Rilke, Rainer Maria 353 Roberts, David 36, 462f., 511 Robespierre, Maximilien de 133 Rosenberg, Alfred 520 Rotter, Fritz 359 Rousseau, Henri 141 Rousseau, Jean-Jacques 403, 414, 476, 478, 480ff., 485, 532, 582, 586 Rudolf (Erzherzog von Österreich) 246 Rudolph, Udo 102 Russell, Bertrand 125 Samjatin, Jewgenji 183f. Sänger, Uwe 28, 447, 452, 462, 486 Santi, Raffaelo 133f., 137 Saussure, Ferdinand de 168 Savonarola, Girolamo 314, 321 Scheichl, Sigurd Paul 298, 458, 557f. Scherchen, Hermann 181f., 190, 197f. Schickel, Joachim 55 Schickele, René 147 Schiller, Friedrich von 50, 379 Schlaffer, Heinz 325 Schlegel, Friedrich 69f. Schlesinger, Hermann 119 Schmid, Paul 212 Schneider, Katrin 379, 381, 456 Schneider, Manfred 398, 427, 557 Schnitzler, Arthur 119, 532, 595, 597, 601f. Schober, Johann 399 Schönberg, Arnold 602f. Schopenhauer, Arthur 41, 134, 479 Schörrle, Matthias 102 Schreber, Daniel Paul 37, 62, 437f., 440 Schultheis, Johannes 13

644 | Personenregister

Schulz, Georg-Michael 243 Schumann, Robert 169 Schwab, Gustav 50, 64 Schwanke, Martina 14 Schweikert, Uwe 4, 185, 209 Searle, John R. 57 Seibicke, Wilfried 31 Seidler, Ingo 5 Seipel, Ignaz 558 Sert, Misia 95 Sextus (Sohn des Tarquinius Superbus) 215 Shakespeare, William 50, 82ff. Shi-Hoang-Ti 376, 448 Shin, Hyun Sook 25f. Simson 448, 450 Sinclair, Upton 509 Sokel, Walter H. 28 Sokrates 154, 158, 205 Sommer, Ernst 289f. Sonne, Abraham 74, 376 Sonnenthal, Adolf von 600 Spitzer, Daniel 596 Steinitz, Wilhelm 519f. Stendhal 47, 434 Steurer, Johann 171 Stieg, Gerald 5, 36, 40, 219, 399, 479, 552, 558 Strobrawa, Ilse 353 Strucken, Stefan 253 Sueton 398 Svevo, Italo 140 Swift, Jonathan 137 Tacitus 48, 398 Tarquinius Superbus 215 Tarreghetta, Florindo 41 Theophrast 3, 260, 270ff. Theresa von Avila 324, 537 Therese von Lisieux 324 Thies, Henning 43 Thukydides 48 Thutmosis III. 112 Tiberius 398 Tolstoi, Lew N. 281

Toulmin, Stephen 603 Trotzki, Leo 133 Tughlak, Muhammad 268, 503 Tyroff, Siegmar 31ff., 41 Vaas, Rüdiger 81 Valentin, Jean-Marie 5, 40 Valentino, Rudolfo 353 Victoria (Königin von England) 95 Vinci, Leonardo da 133, 330, 512 Visconti, Filippo Maria 106, 398 Vlaminck, Maurice de 136ff. Vogeler, Heinrich 587 Voltaire 163 Vorländer, Karl 381, 390 Wagner, Richard 50, 133, 163, 519, 523f. Waley, Arthur 199 Wallmann, Jürgen P. 4 Walser, Robert 97, 407, 455 Walther, Hans 13 Wasianski, E. A. Ch. 378, 380, 405 Watzlawick, Paul 401f. Weber, Max 22 Wedekind, Frank 544 Weininger, Otto 479, 534 Wellershoff, Dieter 140, 285 Werfel, Franz 297, 595 Whitehead, Alfred North 437 Wiesehöfer, Stephan 451, 462 Wilhelm, Richard 451 Willy, Dora 56, 118 Windelband, Wilhelm 381, 389, 399 Winder, Ludwig 289f. Wittenwiler, Heinrich 266, 301 Wittgenstein, Ludwig 57, 303 Witz, Friedrich 314, 409, 439 Woldemaras, Augustinas 510 Wolter, Charlotte 600 Wordsworth, William 135f. Wotruba, Fritz 67, 161, 295, 360, 432 Zenge, Wilhelmine von 391 Zweig, Stefan 595, 600, 602