Nachdenkliche Seelsorge - seelsorgliches Nachdenken: Festschrift für Christoph Morgenthaler zum 65. Geburtstag 9783666624179, 9783525624173, 9783647624174

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Nachdenkliche Seelsorge - seelsorgliches Nachdenken: Festschrift für Christoph Morgenthaler zum 65. Geburtstag
 9783666624179, 9783525624173, 9783647624174

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624173 — ISBN E-Book: 9783647624174

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier Band 62

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Nachdenkliche Seelsorge – seelsorgliches Nachdenken Festschrift für Christoph Morgenthaler zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Isabelle Noth und Ralph Kunz

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Mit vier Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62417-3 ISBN 978-3-647-62417-4 (E-Book)  2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.– Printed in Germany. Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I Träume Albrecht Grözinger Vom Traum der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

Elisabeth Grözinger Zwei Basler „Traumbilder“ von C. G. Jung, einem „Klassiker“ der Religionspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II Systemische Seelsorge Ralph Kunz Wie kommt Gott ins System? Die systemische Seelsorge und die gesellige Gottheit – ein Beitrag zur Theologie der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Larry Kent Graham Reciprocal Systemic Transactions in Family Narratives about War : Synchronizing Contending Values in a US Family . . . . . . . . . . . .

62

Ursula Riedel-Pfäfflin Systemische Seelsorge als Aufgabe gesellschaftspolitischer und spiritueller Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Jürgen Ziemer Christliche Seelsorge im Kontext „forcierter Säkularität“ . . . . . . . .

86

III Spezialisierte Seelsorge Kathleen J. Greider Offenheit und Religionsvielfalt: Grundlagen für die Pastoraltheologie und für Spiritual Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

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Inhalt

Helmut Weiß Der Islamische Gruß Der Beginn eines Ausbildungskurses in „Islamischer Seelsorge im Krankenhaus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Isabelle Noth Seelsorge auf der psychiatrischen Akutstation . . . . . . . . . . . . . . 139 Michael Klessmann „Ich armer, elender, sündiger Mensch…“ Das Christentum, die Schuld und die Scham – im Kontext der Gefängnisseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Willi Nafzger Gefängnisseelsorge als theologische Herausforderung . . . . . . . . . . 170 Tobias Brandner Seelsorge und Freundschaft. Pastorale Rollenvielfalt und Rollenambiguität in der Gefangenenseelsorge . . . . . . . . . . . . . . 184

IV Beratung und (Religions-)Psychologie Ulrike Wagner-Rau Religiosität in der psychologischen Beratung . . . . . . . . . . . . . . . 200 Gina Schibler Nachhaltigkeit im erweiterten Bezugsrahmen Religiös-existentieller Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Anne M. Steinmeier „Gedächtnis haben wir, Erinnerung sind wir.“ Eine Annäherung an Lou Andreas-Salom . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Claudia Kohli Reichenbach Gemeinschaft der Heiligen – heilende Gemeinschaft? Zur salutogenetischen Funktion kirchlicher Gemeinschaft

. . . . . . . 248

V Über Fach- und Ländergrenzen hinweg David Plüss Ist Seelsorge Religion? Variationen zum Verhältnis von Seelsorge und Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

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Inhalt

7

Thomas Schlag Seelsorge in der Konfirmationsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Friedrich Schweitzer / Katja Dubiski Wie Kinder mit religiöser Differenz umgehen Prozesse von Konstruktion und Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Pasqualina Perrig-Chiello Zeiterleben und Zeitgestaltung in biographischen Übergangsphasen Der Mensch im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Joretta L. Marshall A Perspective on Pastoral Theology, Pastoral Care, and Counseling in the United States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Christoph Morgenthaler Verzeichnis der Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Die Herausgeber

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352

Die Autorinnen und Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352

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die sprache am rand zart und genau möchte ich sein mit menschen und mit borstenworten die welt erfinden die sprache am rand möchte ich lernen und dahinter zu tanzen das ringen und schwimmen im fischbauch der worte und im dunkeln zuweilen auch Martina Schwarz, Pfrn. Johannes-Kirche Bern1

1 Mitglied eines Klaviertrios, in dem Christoph Morgenthaler den Klavierpart spielt.

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Vorwort

Wie dankt man einem Lehrer, Freund und Begleiter – jemandem, der einen selber und andere mit seinem Schaffen geprägt hat? Es entspricht akademischer Gepflogenheit, den Dank in Form einer Festschrift auszurichten. Aufbau und Anlage der vorliegenden Publikation zu Ehren des 65sten Geburtstages von Christoph Morgenthaler mögen die Tiefe und Aufrichtigkeit unserer Wertschätzung und Anerkennung seines Wirkens Ausdruck verleihen. Alle beteiligten Autorinnen und Autoren haben sich mit den Veröffentlichungen Christoph Morgenthalers auseinandergesetzt, sich Impulse zur Weiterarbeit geben und sich anregen lassen. Aufgrund der Themen, mit denen sich Christoph Morgenthaler seit Jahrzehnten beschäftigt, haben wir das Buch in die fünf Hauptbereiche Träume, Systemische Seelsorge, Spezialisierte Seelsorge, Beratung und (Religions-)Psychologie sowie Interdisziplinäres und Transnationales aufgegliedert. Diese Konzentration auf Christoph Morgenthalers Schaffen gibt dieser Festschrift ihre innere Konsistenz. Der Gewürdigte hat das Fach Seelsorge und Pastoralpsychologie mit seiner über 25-jährigen Tätigkeit als Professor an der Theologischen Fakultät Bern und als (Mit-)Verantwortlicher unzähliger Pfarrweiterbildungskurse und spezifischer Seelsorge-Studiengänge – z. B. des Seelsorge-Nachdiplomstudiengangs zu Kirche im Straf- und Maßnahmenvollzug oder der Systemischen Seelsorgeausbildung – massgeblich mitgeprägt. Als Theologe und Psychologe hat er stets auch für die Öffnung der Seelsorge für religionspsychologische Perspektiven plädiert, immer wieder interdisziplinäre Brücken überschritten und Kontakte über die Theologie hinaus ermöglicht. Dabei kommt zu seiner im universitären Umfeld eher auffälligen Bescheidenheit eine Nachdenklichkeit, die zum Gespräch und Weiterdenken anregt. Das Nachdenkliche in der Seelsorge und das Seelsorgliche beim Nachdenken schienen uns darum auch ein passender Titel für diese Festschrift. Der Doppelbezug soll deutlich machen, wie wichtig in der Poimenik das Hin und Her zwischen Theorie und Praxis, wie wichtig auch eine sorgfältige Sprache ist. Zart und genau soll sie sein. Denn die Seelsorge bewegt sich am Rand des Schweigens, der heilsamen Verschwiegenheit und des unheimlichen Verschweigens der Dinge, die ans Licht kommen möchten. Sein letztes Seminar im HS 2011 widmet Christoph Morgenthaler auch in Erfüllung eines eigenen Wunsches den religiösen Träumen. Er wird nun nicht

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Vorwort

mehr regelmässig lehren, aber weiterhin forschen – weil er es gerne tut! Nach der Pflicht kommt die Kür und dahinter der Tanz! Er soll noch manche Jahre tanzen (und Klavier spielen). Das wünschen wir ihm von Herzen. Zürich und Bern, im Sommer 2011 Ralph Kunz und Isabelle Noth

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I Träume

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Albrecht Grözinger

Vom Traum der Praktischen Theologie

1. Kann die Praktische Theologie träumen? Dass Träume alles andere als Schäume sind, hat uns die Tiefenpsychologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelehrt. Sigmund Freud erkannte in ihnen die „Fluchtburg“ verdrängter individueller Erfahrung. Und Carl Gustav Jung sah in ihnen eine bedeutsame Ressource auf dem Weg zur Individuation des Einzelnen. Kaum eine andere Erkenntnis als die tiefenpsychologische „Erdung“ des Traumes hat die Sicht auf den Menschen und sein kulturelles Umfeld im Bereich der Künste so revolutioniert. Kein Dali, kein „Ulysses“ von James Joyce, aber auch kein Hitchcock-Film ohne diese Erkenntnis. Christoph Morgenthaler hat die Bedeutsamkeit der Träume für den Bereich der Religion und der religiösen Erfahrung differenziert erkundet.1 Er hat sein erkenntnisleitendes Interesse in diesem Zusammenhang eindrucksvoll skizziert: „Ich suche nach einer menschenfreundlichen Theologie, welche sich auch mit der Nachtseite des Menschen solidarisiert und auseinandersetzt und die aussenseiterische Subjektivität nicht nur am Rande der Gesellschaft, sondern in jedem einzelnen Menschen entdeckt und stark macht. Träume sind mir bei diesem Bemühen wichtig. Ich meine, Theologie solle – wenn auch zögernd – einen Fuß in jenes Terrain im gesellschaftlich kolonialisierten Subjekt setzen, an dessen Rändern das Unbewusste brodelt, und Ausgetriebenem, Verrufenem und Flüchtigem offen begegnen.“2 Diese Sätze können über ihren Kontext hinaus als grundsätzliche praktischtheologische Programmatik wie auch als Wissenschaftsethik gelesen werden. Ich möchte mich deshalb von Christoph Morgenthaler anregen lassen, nach den Träumen, die die Wissenschaftsgeschichte der Praktischen Theologie begleitet haben, zu suchen. Dabei findet in gewisser Weise eine metabasis eis allos genos statt. Die Tiefenpsychologie fragt nach Träumen von Individuen. Dieser Spur folgt Morgenthaler auch bei seinen Forschungen zum religiösen Traum. Spannend ist jedoch die Frage, ob auch ein Kollektiv von Forscherinnen und Forschern oder sogar eine wissenschaftliche Disziplin träumen kann. Bei der Beantwortung dieser Frage gibt es ein so bedeutsames wie deutungsbedürftiges Vor-Bild. 1 Christoph Morgenthaler, Der religiöse Traum, Stuttgart 1992. 2 Ebd., 14.

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Vom Traum der Praktischen Theologie

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Im Jahre 1799 wird ein Bilder-Zyklus des spanischen Künstlers Francisco de Goya veröffentlicht. Darin findet sich eine Radierung, die zu den meistdiskutierten Bildern der Kunstgeschichte gehört. Das Bild zeigt eine schlafende Gestalt, die von Ungeheuern und Flatterwesen umgeben ist. Der Titel, den Goya seinem Bild gibt (er ist in den Tisch, auf den die schlafende Gestalt ihr Haupt legt, eingeschrieben), hat zu höchst kontroversen Deutungen geführt. Das Bild trägt den Titel „El sueÇo de la razn produce monstruos“. Nun kann im Spanischen sueÇo sowohl „Schlaf“ wie auch „Traum“ bedeuten. Man kann also sowohl vom „Schlaf der Vernunft“ wie vom „Traum der Vernunft“ sprechen. Der Schlaf der Vernunft würde also bedeuten: Eine Vernunft, die nicht bei sich ist, zeitigt die Ungeheuer. Der „Traum der Vernunft“ würde das genaue Gegenteil bedeuten. Die Vernunft, die träumend zu sich kommt, gebiert die Ungeheuer. In diesem Sinne haben ja Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ eine radikale Vernunftkritik entwickelt. Wie immer man den Titel des Bildes auch interpretieren mag, so ist das Bild auf jeden Fall ein eindrückliches Dokument, das auch Abstrakta (und die Vernunft ist ein Abstraktum) Träume unterstellt. In diesem Sinn möchte ich nach dem Traum oder den Träumen der Praktischen Theologie fragen. Träume der Praktischen Theologie sind Grundbilder und Grundmotive, die sie begleiten und die sie in ihrer inhaltlichen und formalen Struktur bestimmen, ob

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nun die Träume ihrerseits den Forschungs-Kollektiven der Praktischen Theologie bewusst sein mögen oder nicht.

2. Ursprungsträume Der Ursprung der Praktischen Theologie als klar definierter Teildisziplin der Theologie ist untrennbar mit dem theologischen Entwurf von Friedrich Schleiermacher verbunden. Wobei sich die Geburt der Praktischen Theologie im Denken Schleiermachers einer klar benennbaren spezifischen politischen und geistesgeschichtlichen Situation verdankt. Schleiermacher sieht sich nicht zuletzt durch die Philosophie und Theologie der Aufklärung genötigt, die Theologie insgesamt auf eine neue wissenschaftstheoretische und wissenschaftspraktische Basis zu stellen. Immanuel Kant hat – gleichsam als Testamentsvollstrecker der Aufklärung – den traditionellen konzeptionellen Begründungen der Theologie auf doppelte Weise den Boden entzogen. Durch die Destruktion der Gottesbeweise kann die Theologie nicht länger als Erkenntnistheorie oder Metaphysik begründet werden; und die Begründung einer autonomen Ethik („der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“) zeigt, dass die Ethik nicht notwendigerweise eines religiösen Fundamentes bedarf. Diese doppelte Delegitimierung der Theologie hat dann Fichte zu der polemischen Aussage geführt, dass einer von der Universität „mit Tode abgegangenen Theologie“ allenfalls die Aufgabe verbleibe, ihren „wissenschaftliche(n) Nachlass“ in die Obhut der Historisch-Philosophischen Fakultät zu übergeben.3 Wenn Karl Marx in der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie“ aus dem Jahre 1844 schreibt: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendet, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“4 – dann hat er damit eben nicht nur Ludwig Feuerbach im Blick, sondern die gesamte Philosophie der Aufklärung bis hin zu Kant und Fichte. Schleiermacher hat die Brisanz dieser Religionskritik bereits wahrgenommen. In der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ aus dem Jahre 1830 heißt es in § 22: „Wenn fromme Gemeinschaften nicht als Verirrungen angesehen werden sollen: so muss das Bestehen solcher Vereine als ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element nachgewiesen werden können.“5 Schleiermacher formuliert seine Theologie also explizit vor dem Hintergrund einer aufklärerischen Kritik der Religion als „Verirrung“. Schleiermacher stand dabei vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen der Theologie auf der Höhe des Denkens seiner Zeit eine neue wissen3 Fichte, Plan, 154 f. 4 Marx/Engels, Religion, 30. 5 Schleiermacher, Kurze Darstellung, 9.

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schaftstheoretische Grundlegung zu geben; und andererseits dieses Programm auch wissenschaftspraktisch umzusetzen. Dabei kam ihm die durch die militärische Niederlage Preußens gegen das postrevolutionäre Frankreich notwendig gewordene Neuordnung des preußischen Bildungswesens zugute. In der Neugründung der Berliner Universität konnte Schleiermacher zumindest ansatzweise sein theologisches Programm realisieren. Beide Herausforderungen hat er mit Bravour gemeistert. Schleiermacher gesteht der aufklärerischen Kritik an der Theologie durchaus eine gewisse Berechtigung zu. Deshalb verzichtet er darauf, die Theologie als Metaphysik oder als Ethik zu konzipieren. In seinen frühen „Reden über die Religion“ hat er ihr – jenseits von Metaphysik und Ethik – einen Ort als eine „eigenständige Provinz im menschlichen Gemüte“ (so die berühmte Formulierung) zugewiesen. Das klingt noch sehr romantisch und Schleiermacher musste sich fragen, wie er vor diesem Hintergrund die Theologie als Wissenschaft begründen wollte. Dies geschieht nicht zuletzt in seiner kleinen, bereits erwähnten Schrift „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“, deren erste Auflage auf das Jahr 1811 zurück geht. Eberhard Jüngel hat sie zu Recht als „geniale(n) Programmschrift“6 bezeichnet. Die Theologie ist dort für Schleiermacher eine positive Wissenschaft, die ihre innere Einheit aus ihrem praktischen Zweck gewinnt. Der praktische Zweck, dem die Theologie dient, ist die Kirchenleitung (§ 1), wobei Kirchenleitung von Schleiermacher nicht hierarchisch gedacht wird. Jedes Handeln im Kontext von Christentum und Kirche, das eine bestimmte klar erkennbare Aufgabe erfüllt, ist kirchenleitendes Handeln (§ 3). Ich sage immer gern: Auch Vierzehnjährige, die im Kindergottesdienst biblische Geschichten erzählen, sind im Sinne Schleiermachers kirchenleitend tätig. Die Theologie versammelt alle Wissenschaften in sich, die sie benötigt, um ein reflektiertes kirchenleitendes Handeln zu gewährleisten. Sie versammelt also Philosophie, Geschichtswissenschaft, Textwissenschaften, etc. in ihrem Hause und gibt ihnen ein besonderes Profil. Das heißt, die Theologie ist prinzipiell interdisziplinär orientiert. Das gibt ihr im Hause der Wissenschaften ihr Daseinsrecht und ihr besonderes Profil zugleich. Im Zusammenhang dieser wissenschaftstheoretischen Neubegründung der Theologie vollzieht sich nun auch die Geburt der Praktischen Theologie als theologischer Teildisziplin, wie wir sie bis auf den heutigen Tag kennen. Dient nämlich die Theologie dem kirchenleitenden Handeln, so ist dazu neben den „wissenschaftlichen Kenntnissen“, die durch die Philosophische und Historische Theologie erworben werden, auch ein praktisches Können notwendig, das Schleiermacher unter den Begriff der Kunstregeln fasst. Die wissenschaftliche Theorie dieser Kunstregeln ist die Praktische Theologie. Schleiermacher verortet die Praktische Theologie – und damit ist der Ursprungstraum der Praktischen Theologie benannt – mittels eines Bildes. In 6 Jngel, Sache, 43.

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der 1. Auflage seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ aus dem Jahre 1811 heißt es in § 31 lapidar : „Die praktische Theologie ist die Krone des theologischen Studiums.“7 Aus dem Kontext ist klar, welches Bild Schleiermacher evozieren möchte – nämlich den Baum. Die philosophische Theologie ist die „Wurzel“, die historische Theologie wäre dann der „Körper“ oder „Stamm“ und die praktische Theologie die „Krone“ des Gesamtbaumes Theologie. Die „Krone“ ist gleichsam der Archetypus des Ursprungstraumes der Praktischen Theologie. Nun weiß man von Traumbildern, dass sie sich wandeln können, changieren, verschwimmen. Und so wandelte sich das Traumbild von der Baumkrone hin zur Königskrone.

Traumbilder – das wissen wir – sind alles andere als harmlos. Dieses TraumSchwanken zwischen Baumkrone und Königskrone begleitet die Praktische Theologie bis auf den heutigen Tag. Ist sie nun die Dienerin oder die Befehlsgeberin der Theologie? Ist die Praktische Theologie Anwendungswissenschaft oder gibt sie der Theologie ihre zu bedenkenden Inhalte erst vor? Christian Albrecht hat gezeigt, dass dieses Schwanken bereits in die wissenschaftstheoretische Konzeption Schleiermachers eingeschrieben ist. Er spricht von einem „Doppelcharakter“8 der Praktischen Theologie bei Schleiermacher : „Sie [sc. Die Praktische Theologie] enthält einerseits eine Sammlung von Kunstregeln des Amtshandelns, die sich aus den Vorgaben der anderen Disziplinen ergeben, andererseits muss sie zugleich eine Reflexionstheorie auf die Differenz und die Vermittlungsbedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen der christlichkirchlichen Lebenswirklichkeit enthalten, um die Kunstregeln sinnvoll auszuwählen und zu begründen: Keine homiletische Kunstregel ohne ein Bewusstsein des Verhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Predigt, keine liturgische Kunstregel ohne ein Bewusstsein des Verhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Gottesdienstes. Die Praktische Theologie ist 7 Schleiermacher, Kurze Darstellung, 10. 8 Albrecht, Stellung, 18.

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ebenso sehr Kunstlehre wie Reflexionstheorie des Verhältnisses zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen christlichkirchlicher Lebenswirklichkeit.“9 Es zeigt sich also, dass das Schwanken des Traumbildes im realen wissenschaftlichen Design der Praktischen Theologie bereits durch Schleiermacher angelegt ist. Der Traum, den Schleiermacher der Praktischen Theologie mit auf ihren weiteren Weg gegeben hat, schwankt seitdem zwischen den DienstTräumen im Bild der Baumkrone und den Allzuständigkeits-Träumen im Bild der Königskrone.

3. Träume vom Aufwachen Friedrich Schleiermacher konnte noch ruhig schlafen (und damit wohl auch gut träumen). Bei aller kritischen Ausrichtung seiner Theologie gibt es bei ihm einen unverkennbar blinden Fleck. Schleiermacher konzipiert seine Theologie für eine bürgerlich-agrarische Welt. Diese Welt war seine eigene Welt. Schleiermacher kannte nur bürgerliche Träume. Hätte Schleiermacher an die Ränder Berlins, seines langjährigen Wohnsitzes, geblickt, hätte er dort eine merkwürdige Wahrnehmung machen können. Er hätte gesehen, dass dort Menschen, vom Land an die Ränder der Städte als Armutsflüchtlinge verschlagen, oft in kümmerlichen Unterkünften hausen. Menschen, die weder dem Bürgertum noch den Handwerkern noch dem Bauernstand zuzuordnen waren. Hier hätte Schleiermacher die ersten Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter, die Vorhut des künftigen Proletariats, sehen können. Er hätte wahrnehmen können, dass sich dort am Rande Berlins die Welt, aus der er herkam, in der er aufwuchs und in der er heimisch war, aus den Fugen zu geraten drohte. Soziale Veränderungen waren erkennbar, die das 19. Jahrhundert zu einem Jahrhundert eines kolossalen Umbruchs werden ließen, ein Umbruch, dessen Konfliktkonstellation sich dann im Ersten Weltkrieg und in der Russischen Oktoberrevolution explosionsartig entladen hat. Schleiermachers Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe war da offensichtlich aufmerksamer. Im Jahre 1821, also zur selben Zeit, als Schleiermacher auf dem Höhepunkt seines Wirkens in Berlin stand, erscheint Goethes Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Sehr konkret finden sich hier die Phänomene des Frühkapitalismus benannt: „Sowenig nun Dampfmaschinen zu dämpfen sind, sowenig ist dies auch im Sittlichen möglich: Die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige For9 Ebd., 18 f.

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Albrecht Grözinger

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derungen an die Welt zu machen noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen!“10 Diese Sätze könnten so auch in den deskriptiven Teilen des „Kommunistischen Manifests“ stehen. Dabei ist sich Goethe bewusst, dass diese Entwicklungen im ökonomischen Bereich nicht lediglich Äußerlichkeiten sind, sondern dass die Conditio Humana in ihrem Kern davon berührt ist. Die sogenannte Liberale Theologie – vor allem in ihren praktisch-theologischen Hauptvertretern Friedrich Niebergall, Paul Drews und Otto Baumgarten – hat sich genau dieser Herausforderung gestellt. Dabei sieht sie die Theologie ihrer Gegenwart in einem Traumzustand, aus dem sie herausgerufen werden muss. Niebergall kann diesen Traumzustand am Beispiel seiner zeitgenössischen Predigt geradezu sarkastisch schildern. Ausgangspunkt seiner homiletischen Überlegungen „bildet der nicht seltene Eindruck, dass manche heute gehaltene Predigt gerade so anmutet, als wäre sie vor dreißig Jahren gehalten worden oder als hätte sie damals gehalten werden können. Ihren tiefsten Beweggrund bildet der Wunsch, einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu geben, die jetzt alle rührigen Pfarrer beschäftigt: Wie sollen wir predigen, um unsrer Zeit gerecht zu werden? Jene so altmodisch anmutenden Predigten stoßen aufmerksame Hörer und Kritiker durch zwei sich oft sehr bemerkbar machende Eigenschaften: einmal entspringen sie einer Auffassung vom Evangelium, dem Inhalt der Predigt, die durch die Arbeit der Theologie der letzten Jahrzehnte hier ganz überwunden, dort sehr geschwächt worden ist; und dann reden häufig kluge und treue Menschen auf Kirchenbesucher ein, die in Wahrheit einmal in der Vergangenheit zu finden waren, gegenwärtig aber nur in der konstruierenden Phantasie des Herrn Pfarrer vorhanden sind. Sie antworten auf Fragen, die niemand stellt, und auf die Fragen, die jeder stellt, antworten sie nicht.“11 Die Praktische Theologie sieht die kirchliche Praxis in einem dogmatischen Schlummer, aus dem heraus sie so schnell wie möglich zu rufen ist. Der Traum dieser Praktischen Theologen besteht darin, dass die Praktische Theologie aus ihren dogmatischen Träumen endlich aufwacht. Und geweckt werden soll sie durch den lauten Ruf zur Wirklichkeit. Paul Drews hat diesen Weckruf aus den dogmatischen Träumen konzis als neues wissenschaftliches Paradigma der Praktischen Theologie ausformuliert: „Nach unserer Auffassung muss die Praktische Theologie mehr deskriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben werden. Die Voraussetzung einer besonnenen und wirksamen Beeinflussung des kirchlichen wie nichtkirchlichen Lebens ist eine wirkliche Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Landeskirchen. Das erfordert eine beschreibende Darstellung des religiösen Lebens der Gegenwart im Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Werden auf Grund einer eindringenden psychologischen Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen- und individuellen Typen, mit denen der Geistliche 10 Goethe, Werke Bd. 7, 296. 11 Niebergall, Predigt, 9.

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zu rechnen hat.“12 Und der Fanfarenruf dieses Traumes vom Aufwachen der Praktischen Theologie aus dem dogmatischen Schlummer lautet: „Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen, Wirklichkeiten.“13

4. Wilde Träume In eine Phase des wilden Träumens gerät die Praktische Theologie im Zusammenhang der sogenannten Dialektischen Theologie. Eduard Thurneysen, einer ihrer Hauptprotagonisten, hat im Zusammenhang seines Essays zu Dostojewski eine eindrucksvolle Szenerie der Landschaft dialektisch-theologischer Mentalitäten gezeichnet: „Wer von den Gestaden gesicherter Menschlichkeit etwa der Vorkriegszeit her zu Dostojewski kommt, dem muss zumute werden wie einem, der von der Anschauung der Haustiere, des Hundes und der Katzen der Hühner oder der Pferde her plötzlich die Wildnis vor sich aufgehen ließ und sich unvermutet der noch ungezähmten Tierheit gegenüber findet, Jaguar und Puma, Tigern und Krokodil, dem Gewürm der Schlangen und dem Geflatter der Steinadler und der Kondore. Unheimliche Wildheit, Fremdheit, Rätselhaftigkeit noch nicht bezwungener, noch nicht eingefangener und eingehegter, noch nicht durch hundertfache Sicherungen gelähmter und gefesselter Natur umfängt ihn.“14 Es ist das Traumbild des Dschungels, das Thurneysen hier evoziert. Und wer kunstgeschichtlich bewandert ist, dem drängen sich die entsprechenden Traumbilder eines Henri Rousseau geradezu auf. Karl Barth und Eduard Thurneysen haben die praktisch-theologische Di-

12 Drews, ,Religiöse Volkskunde‘, 54. 13 Ebd., 57. 14 Thurneysen, Dostojewksi, 3.

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mension der frühen Dialektischen Theologie in mehreren Vorträgen, die dann später als Aufsätze erschienen, entfaltet. Diese Vorträge wimmeln geradezu vor wilden Träumen. So hat Eduard Thurneysen in seinem epochemachenden Vortrag über „Die Aufgabe der Predigt“ ein „Lachen gehört, das im Himmel über sämtlichen Ratschlägen, Rezepten und Mittelchen der praktischen Theologie ertönt“15. Und dieser Traum konkretisiert sich für Thurneysen in homiletischen Regeln, die er seinen Zuhörern damals zurief: „Darum erste Regel: keine Beredsamkeit! (…) Und neben der Warnung vor der Beredsamkeit stehe die andere vor dem Eingehen auf das sogenannte Bedürfnis des Hörers (…) Der Tod alles Menschlichen ist das Thema der Predigt. Darum treibe man in der Predigt nicht Aufbau, sondern Abbau (…) Noch ein Letztes: Keine Abwechslung in der Predigt!“16 So manche der Kollegen Thurneysens mögen sich als Hörer dieses Vortrags gefragt haben, ob sie sich in einem Alptraum befinden, dessen Inhalt der Wahnsinns-Traum eines Predigers ist. Die Dialektischen Theologen waren sich sehr wohl bewusst, was sie ihren Kollegen in Theologie und Pfarramt zumuteten. Barth kann die wilden Träume der nicht minder wilden Kerle der Dialektischen Theologie immer wieder nur ironisieren. Fassen Sie, so rät er den Zuhörern seines Vortrags „Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“ unsere wilden Träume „nicht als ein Konkurrenzunternehmen zur positiven, liberalen, Ritschl’schen oder religionsgeschichtlichen Theologie auf, sondern als eine Art Randbemerkung und Glosse, die sich mit jenen allen in ihrer Weise verträgt und auch nicht verträgt, die aber nach meiner eigenen Überzeugung ihren Sinn in dem Augenblick verliert, wo sie mehr als das sein, wo sie Raum ausfüllend als neue Theologie neben die anderen treten wollte. Sofern Thurneysen, Gogarten und ich wirklich im bekannten Sinn des Wortes ,Schule machen‘ sollten, sind wir erledigt.“17 Gleichwohl waren diese wilden Träume nicht ,erledigt‘, auch als sie ,Schule machten‘. Offensichtlich ging für die theologischen Zeitgenossen von diesen wilden Träumen in all ihrer Radikalität und Paradoxie etwas äußerst Anziehendes aus. Durch das Chaos des Ersten Weltkriegs hindurch, angesichts der Russischen Oktoberrevolution und den kulturellen Umbrüchen der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, waren die wilden Träume offensichtlich sehr viel realitätshaltiger als der Traum vom Aufwachen in eine geordnete kulturelle Welt hinein, wie ihn die Liberalen Theologen träumten. In Zeitgenossenschaft zum Expressionismus und Dadaismus konnte auch die Praktische Theologie offensichtlich nur wild träumen.

15 Thurneysen, Aufgabe, 107. 16 Ebd., 111 ff. 17 Barth, Wort Gottes, 99 f.

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5. Machbarkeits-Träume Was wird aus den wilden Träumen der dialektisch-theologischen Revolutionäre in dem Augenblick, in dem genau das eintrat, wovor Karl Barth so ironisch gewarnt hatte, dass sie nämlich ,Schule machten‘? Und nicht nur das: Die Protagonisten der Wort-Gottes-Theologie besetzten nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur in Deutschland zunehmend Lehrstühle an den Universitäten und kirchenleitende Ämter, galt doch die Wort-Gottes-Theologie – und dies durchaus mit einem gewissen Recht – als die Pice de rsistance der Bekennenden Kirche in ihrem Widerstand gegen das Hitler-Regime. Nun zeigt aber die Geschichte mit aller Deutlichkeit, dass siegreiche Revolutionäre vieles tun, am wenigsten aber halten sie an den wilden Träumen ihrer revolutionären Zeit fest. Dieses Schicksal blühte auch den einst so wilden Träumern. Die nächste Generation von Praktischen Theologinnen und Theologen konnte in den ins Alter gekommenen wilden Träumern nur noch Nostalgiker sehen, die die alten Schlachten immer und immer wieder schlagen mussten, ohne zu bemerken, dass sie doch längst gesiegt haben. Aus den wilden Träumen wurden melancholisch-aggressive Nostalgieträume eines sich gegenüber der Wirklichkeit immer mehr abschottenden Milieus alter KirchenKämpfer. Gegen diese Nostalgie-Träume trat die nächste Generation in der Praktischen Theologie ab Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts an. Ein eindrucksvolles Dokument dieses Aufbruchs ist der Aufsatz von Dietrich Rössler aus dem Jahre 1966 mit dem Titel „Das Problem der Homiletik“. Er zielte damit gleichsam ins Herz der Wort-Gottes-Theologie, die die Predigt zum Dreh- und Angelpunkt ihres theologischen Denkens und Handelns gemacht hatte. Und ausgerechnet diese Theologie – so lautet der Vorwurf von Rössler – verfehlt die wirkliche Predigt durch eine maßlose Überfrachtung des Predigtgeschehens: „Zu vieles an Motivation und Anspruch kommt zusammen: die Isolierung der Prinzipienfragen, die schwärmerische Übersteigerung des Predigtbegriffes und der Anspruch der Exegese, die zugleich Geschichtswissenschaft und mehr sein will. Aber gerade der Pfarrer, der sich bemüht, seine Predigtaufgabe auf der Grundlage dieser Homiletik zu tun, gerät in eine kaum erträgliche Lage. In jeder Predigt, Sonntag für Sonntag, soll der Prediger das Höchste und Letzte, die Offenbarung das Heilsgeschehen präsentieren. Und will er gar noch den Vorstellungen und Forderungen Bohrens folgen, dann gilt das nicht nur für die Sonntagspredigt, sondern auch für jede Beerdigung und jede Trauung: Immer steht alles auf dem Spiel.“18 Die so zahm gewordenen ,wilden‘ Träumer von einst haben jedoch – so stellt Rössler lapidar fest – „mit der tatsächlichen und wirklichen Predigt nichts zu tun“19. Gegenüber den Allmachtsträumen der Alt-Vorderen setzt die 18 Rçssler, Problem, 30 f. 19 Ebd., 31.

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neue Generation von Praktischen Theologen den Traum von der Machbarkeit. Und dafür holt man sich Bundesgenossen in Gestalt der Humanwissenschaften: für die Homiletik die Rhetorik, für die Katechetik die Pädagogik, für das Religionsverständnis die Soziologie, für die praktische Ekklesiologie die Organisationstheorie und – last but not least – für die Seelsorge die Psychologie. Gerade am Beispiel der Seelsorge zeigt sich der Wechsel des Traumszenarios auf besonders deutliche Weise bis in die Begrifflichkeit hinein. Aus der Lehre von der Seelsorge wird die Pastoralpsychologie. In den Machbarkeits-Träumen der ersten Stunde kann einer ihrer Protagonisten zugespitzt formulieren: „Seelsorge ist also Psychotherapie im kirchlichen Kontext.“20 Dass es dabei nicht allein um wissenschaftstheoretische Positionierungen geht, sondern um ganz existentielle Erfahrungen, zeigt eine Episode, die ein weiterer Protagonist der Pastoralpsychologie, Joachim Scharfenberg, sehr bewusst an den Anfang seiner „Einführung in die Pastoraltheologie“ setzte, die zu einem bis auf den heutigen Tag beliebten und bewährten Lehrbuch werden sollte. Von dieser Episode weiß man nicht so genau was sie mehr ist – ein mit Traumelementen angereicherte Tatsachenschilderung oder ein realer Wach-Traum: „Ich war als frisch ordinierter junger Pastor auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin (nach einem Jahr Clinical Pastoral Education in den USA) in einem Krankenhaus eingesetzt. Eine Frau kam dort auf mich zu, mit dem ausdrücklichen Wunsch, beichten zu wollen. Darauf war ich vorbereitet und gerüstet: Ich hörte ihre Beichte und sprach ihr auf Grund meines Amtes und nach der Agende die Vergebung ihrer Sünden zu. Wenige Tage später sprach sie mich wieder an und äußerte Zweifel, ob ich denn wohl schon genug Erfahrung habe. Ihre Schuldgefühle seien keineswegs behoben, sie sei aber auch schon bei dreißig Pastoren zur Beichte gewesen, und keiner habe ihr helfen können. Da beschloss ich, Psychoanalytiker zu werden.“21 Es ist deutlich, die Pointe dieser Geschichte besteht in ihrem letzten Satz. Der Traum von der Machbarkeit (dieser Frau muss geholfen werden!) führt zur Erweiterung der beruflichen Kompetenz. Ohne die Hilfe der Humanwissenschaften kann Praktische Theologie nicht gelingen. Und je nach Disziplin der Praktischen Theologie sucht man sich den entsprechenden Traum-Partner.

6. Morgen früh, wenn Gott will … Was ist nun aus meiner kleinen Traum-Geschichte der Praktischen Theologie zu lernen? Ich sehe da vor allem drei Punkte.

20 Stollberg, Wahrnehmen, 29. 21 Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 15.

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1. Guten Abend, gut’ Nacht Mit Rosen bedacht Mit Näglein besteckt Schlüpf unter die Deck’…

Wir können die Paradigmenwechsel, die in der Praktischen Theologie mehrfach stattfanden, sehr schön in den Blick bekommen, wenn man nach den Träumen fragt, die die Praktische Theologie in einer jeweiligen Epoche begleiten. Diese Träume liegen nicht offen zu Tage, man muss sie rekonstruieren. Theorie-Arbeit als Traum-Arbeit gewissermaßen. Sind diese Träume dann aber rekonstruiert, erzählen sie uns von den Motiven und Zielen der Praktischen Theologinnen und Theologen einer bestimmten Epoche. Auch dann und gerade dann, wenn sie den Träumenden selbst so nicht bewusst gewesen sein mögen. 2. Guten Abend, gut’ Nacht Von Englein bewacht Die zeigen im Traum Dir Christkindleins Baum Schlaf nun selig und süß Schau im Traum’s Paradies.

Man sollte der Praktischen Theologie nicht ihre Träume austreiben. Meine hier versuchte kleine Rekonstruktion wollte weder denunzieren noch anklagen. Die Träume der Praktischen Theologie waren ungemein produktiv – von den wilden Träumen der Dialektischen Theologie bis hin zu den Machbarkeitsträumen einer humanwissenschaftlich orientieren Praktischen Theologie. Wer die Wirklichkeit nicht lediglich verdoppeln, sondern verändern will, der muss in der Tat in seinen Träumen einen Blick auf „Christkindleins Baum“ und ins „Paradies“ wagen. Der Satz Theodor W. Adornos „Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles“22 lässt sich auch umkehren: „Nur wenn das, was ist, nicht alles ist, lässt das, was ist, sich ändern.“ 3. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.

Doch die Praktische Theologie sollte sich ab und an auch aus ihren Träumen reißen lassen. Wer nur träumt, träumt gerade nicht. Ab und zu sollte die Praktische Theologie von ihren Träumen Abstand nehmen – im Sinne einer Traumanalyse. Sie sollte überlegen, ob es gut ist, dem Traum, der sie gerade leitet, zu folgen oder nicht. Dass eine solche Traumarbeit gelingt, das liegt dann nicht mehr in unserer Hand. Unser zitiertes Traum-Kinder-Lied weiß von dem rechten Gelingenshorizont allen menschlichen Handelns und damit auch der Praktischen Theologie: „Morgen früh, wenn Gott will …“ 22 Adorno, Dialektik, 391.

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Literatur Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt 31982. Albrecht, Christian, Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie, in: Chr. Grethlein/H. Schwier (Hg.), Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007, 7 – 60. Barth, Karl, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Aufsätze, München 1929. Drews, Paul, ,Religiöse Volkskunde‘, eine Aufgabe der Praktischen Theologie, in: Monatsschrift für kirchliche Praxis 1, 1901, 1 – 8. In Ausz. wieder abgedr. in: F. Winzer (Hg.), Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1978, 54 – 61. Fichte, Johann Gottlieb, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in: E. Anrich (Hg.), Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Bad Homburg vor der Höhe 1959, 125 – 217. Goethe, Johann Wolfgang von, Werke in zwölf Bänden, Band 7, Berlin/Weimar 1981. Jngel, Eberhard, Unterwegs zur Sache. Theologische Erörterungen, München 1972. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Über Religion, Berlin 1958. Niebergall, Friedrich, Die moderne Predigt (1905), in: G. Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, 9 – 74. Rçssler, Dietrich, Das Problem der Homiletik, in: A. Beutel u. a. (Hg.), Homiletisches Lesebuch, Tübingen 1986, 23 – 38. Scharfenberg, Joachim, Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen 1985. Schleiermacher, Friedrich, Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum behuf einleitender Vorlesungen, hg. v. H. Scholz, Nachdr. Hildesheim 41977. Stollberg, Dietrich, Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis, Gütersloh 1978. Thurneysen, Eduard, Dostojewksi, München 1921. – Die Aufgabe der Predigt, in: G. Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, 105 – 118.

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Zwei Basler „Traumbilder“ von C. G. Jung, einem „Klassiker“ der Religionspsychologie

1. Zum Ort von C. G. Jung in der Religionswissenschaft Carl Gustav Jung (1875 – 1961), dem Psychiater, der aus einem Basler Pfarrhaus kam, widmen sich Autoren sowohl psychotherapeutischer Einführungen als auch religionswissenschaftlicher und religionspsychologischer Überblicksliteratur.1 Jung gehört offenbar nicht nur in die Geschichte und Gegenwart einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin. Er war vielleicht mehr noch als Sigmund Freud (1856 – 1939), der Gründer der Psychoanalyse, ein Grenzgänger, der für viele Bereiche der Erforschung der menschlichen Existenz Bedeutung hat. Grenzgänger, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, lösen Diskussionen aus. Diese entzündeten sich im Fall von Jung auch an seiner Sicht der Religion. Anders als Freud, der in der Bindung an religiöse Konzepte mehr das Risiko einer neurotischen Regression sah, pathologisierte Jung religiöse Phänomene grundsätzlich nicht.2 Einer seiner berühmten Sätze zur Bedeutung von Religion steht in der „Psychologie der Übertragung“ (1946). Jung nennt hier Religionen „grosse ,psychotherapeutische‘ Systeme“ von denen man das ,Heil der Seele‘ erwarte.3 Er führt dazu aus: „Es ist darin (in der kirchlichen Tradition) ein kaum zu überbietendes Wissen um die Geheimnisse der Seele enthalten und in großen, symbolischen Bildern dargestellt.“4 Diese bereits früh zu beobachtende, wertschätzende Haltung zur religiösen Überlieferung, die etwa Christoph Morgenthaler in seinem Beitrag „Carl Gustav Jung (1875 – 1961)“ als ,Klassiker der Religionswissenschaft‘ aufzeigt, führte immer wieder auch zu der Frage nach Jungs persönlicher Religiosität.5 Jung hat sich eher distanziert zu Versuchen seiner religiösen Zuordnung verhalten und auf seine psychiatrische Profession verwiesen.6 Als Psychiater reagierte er positiv auf Religion, hielt nach Hiroshima und Nagasaki (1945)

1 Vgl. z. B.: Kriz, Grundkonzepte; . Heine, Grundlagen; Stolz, Grundzüge; Morgenthaler, Jung. 2 Zu Freud vgl. Stolz, Grundzüge, 154 – 157. 3 Jung, Übertragung, 195. 4 Jung, Übertragung, 195. 5 Vgl. Morgenthaler, Jung, v. a. 240 – 243. 6 Vgl. Heine, Grundlagen, 289 und Jung, Buber, 710.

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sogar eine Bewahrung der Erde ohne religiös geprägte Bewegungen für undenkbar.7 Die Prämisse von der psychischen Bedeutsamkeit religiöser Tradition bildete sich auch aufgrund von Erfahrungen mit sich selbst. In der Auseinandersetzung mit eigenen Träumen oder traumähnlichen Erlebnissen wurde Jung mit religiösen Traditionen konfrontiert, wodurch seine intensive Beschäftigung mit religiösen Themen ebenfalls angeregt wurde.8 Jung kann wegen seiner tiefenpsychologischen Analysen etwa biblischer Themen (z. B. 1952 in „Antwort auf Hiob“) sehr wohl als Religionswissenschaftler, als ,Wegbereiter‘ einer ihrer Zweige, der Religionspsychologie, gesehen werden. Er ist Religionspsychologe allerdings anders, als dies von zeitgenössischen Religionspsychologen und Religionspsychologinnen praktiziert wird. Die Religionspsychologie, Anfang des 20. Jh. noch eine junge Wissenschaft und faszinierend wegen der beginnenden wissenschaftlichen Reflexion religiöser Erfahrung etwa bei Rudolf Otto (1868 – 1937), hat im 21. Jh. längst unterschiedliche Prägungen. Sie klärt die jeweils spezifischen Ausgangspunkte, Methoden und ,Gegenstandsbereiche‘, bevor sie ihre Untersuchungen beginnt. Susanne Heine grenzt als Arbeitsgebiet der Religionspsychologie ein: „Der Gegenstand der R. ist nicht die Rel. (Religion; EG) selbst, sondern die Art und Weise, wie sie sich in der Seele der Menschen, in deren Empfindungen, Erleben, Gedanken, Vorstellungen bis zum Handeln zum Ausdruck bringt (…).“9 Geht es in der Religionspsychologie um die persönlichkeitsinterne Wirkung von Religion, so kommt sie doch nicht umhin, den ,persönlichen Faktor Religion‘ noch genauer zu definieren. Stefan Huber setzt dazu in einem Artikel zur Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz den Begriff ,transempirisch‘ ein. Er schreibt: „Ein Erleben und Verhalten ist immer dann religiös, wenn in ihm ein Bezug zu einer transempirischen Ebene, die für das Subjekt den Charakter einer letztgültigen Instanz hat, hergestellt wird.“10 Religiosität begreift Huber als ein nuancenreiches, mehrdimensionales Erleben und Verhalten. Es umfasst Intellekt, Ideologie, Erfahrung, private und öffentliche Praxis sowie Konsequenzen für das Alltagshandeln.11 Religiosität wird damit als Reservoir gesehen, das unterschiedliche Ingredienzien zu bieten hat, und das von unterschiedlicher Zentralität für das Individuum ist. Generalisierende Aussagen über die Funktionen von Religiosität lassen sich mit einem so komplexen Religiositätsmodell kaum mehr machen. Religiosität kommt nicht als anthropologische Konstante in den Blick, sondern als indi7 8 9 10 11

Vgl. Nager, Jung, 73. Ebd. auch Anm. 10. Vgl. dazu auch Morgenthaler, Jung, 241ff und z. B. Jung, Erinnerungen, 220 – 225. Heine, Religionspsychologie, 371. Huber, Religiosität, 163. Zu den Kerndimensionen und der Bestimmung der Zentralität von Religiosität vgl. Huber, Religiosität, 166 f.

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viduelle Kapazität. Sie kann nach Huber „als individuelle Resonanzfähigkeit für religiöse Semantik verstanden“ werden.12 Diese differenzierte Sicht ist das Ergebnis eines wissenschaftlichen Prozesses, der zur Zeit Jungs noch in den Anfängen steckte. Während heute der Mensch im religionswissenschaftlichen Diskurs eher ,nur‘ noch als „sinnsuchendes Lebewesen“13 gilt, so ging Jung zumindest noch von einer natürlichen Begabung des Menschen für religiöses Erleben aus. Diese Auffassung stand für ihn vor allem im Dienst der Erklärung der Relevanz archetypischer, oft religiös geformter Symbole, deren weltweites Vorkommen er als psychotherapeutischer Lehrer auch zur Erkundung empfahl.14 Obwohl Jung im Vergleich zum heutigen Stand der Wissenschaft noch von einem wenig problematisierten Begriff von Religion oder Religiosität ausging, so bedeutet dies keineswegs, dass er den Terminus „Religion“ unreflektiert eingesetzt hätte. Jung macht z. B. seine Definition von „Religion“, d. h. die von ihm jeweils verwendete etymologische Ableitung von religare (zurückbinden) oder von relegere (wiederholt lesen) transparent, wenn er den Terminus in seinen Untersuchungen gebraucht.15 Jung hat sich auf der Basis des Stands des Wissens seiner Zeit mit dem religiösen Feld befasst. Sein Interesse an der Religionswissenschaft wird unter anderem dadurch gefördert worden sein, dass gerade damals durch Rudolf Otto die Wucht religiöser Erfahrung (Numinosität als Ensemble von zitterndem Erschauern und verehrend-seligem Gebannt-Sein) betont und als global gültiges Kriterium von Religion postuliert wurde.16 Jung ging von einer „numinosen“ Wirkung archetypischer Faktoren aus. Es bot sich daher die Übernahme des religionswissenschaftlichen Begriffs an. Unter ,Archetypen‘ werden in Jungs Konzept ,leere formale Elemente‘ verstanden, die weltweit das menschliche Unbewusste strukturieren, regulierend wirken und in kulturell unterschiedlichen Bildern mehr oder weniger bewusst ausgedrückt werden.17 Zur emotionalen Qualität archetypischer Bilder führt Jung aus: „Die spezifische Energie der Archetypen kann man wahrnehmen, wenn man die besondere Faszination erlebt, die sie begleitet. Archetypen scheinen einen besonderen Zauber auszuüben.“18 Ungeachtet der durch gemeinsame Forschungsgebiete im kulturellen BeHuber, Religiosität,185. Armstrong, Geschichte, 8. Vgl. Heine, Grundlagen, 286 – 289 und auch Jung, Mandalasymbolik, 407. Vgl. Jung, Symbole, 543 und Jung, Übertragung, 198. Vgl. Feldtkeller, „Numinos“. Vgl. Stichwort Archetypus im Glossar: Jung, Erinnerungen, 410. Zur regulierenden Funktion der Archetypen vgl. Jung, Überlegungen, 231: „Aus diesen Erfahrungen und Überlegungen habe ich erkannt, dass es gewisse kollektiv vorhandene unbewusste Bedingungen gibt, welche als Regulatoren und als Anreger der schöpferischen Phantasietätigkeit wirken, indem sie das vorhandene Bewusstseinsmaterial ihren Zwecken dienstbar machen.“ 18 Jung, Zugang, 79.

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reich (insbesondere Mythen, Riten, Gottesbilder) sowie durch gemeinsame Begriffe entstandenen Nähe zur Religionswissenschaft allgemein und zur Religionspsychologie im Besonderen ging es Jung jedoch nicht primär darum, Religiosität oder die Wirkung von Religion zu untersuchen. Er überprüfte auch seine These von der prinzipiell protektiven Wirkung von Religion nicht gezielt, sondern analysierte vielmehr Träume und religiöse Traditionen. Sein Ziel war, deren Beitrag für das Verständnis des Menschen und dessen Entwicklung aufzuzeigen. Religionspsychologe war Jung, weil er anders nicht Tiefenpsychologe sein konnte. Die Motivation dazu aber erklärt er in „Erinnerungen, Träume Gedanken“ wie folgt: „Mein Leben und mein Werk ist durchwirkt und zusammengefasst durch ein Ziel, nämlich: in das Geheimnis der Persönlichkeit einzudringen. Alles ist aus diesem zentralen Punkt zu erklären (…).“19

2. Die Quellen und meine Fragestellung Ich möchte im Folgenden nach der Bedeutung von zwei Basler „Traumbildern“ von Jung fragen. Beide finden sich in „Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung“. Aniela Jaff hat dieses Buch mit Hilfe von Jungs Beiträgen ab 1957 erarbeitet. Das von Jung autorisierte und teilweise selbst verfasste Manuskript wurde 1962 erstmals veröffentlicht.20 Es handelt sich bei der ersten ausgewählten Episode um ein tagtraumähnliches Erlebnis, von dem Jung erzählt, als er schon über achtzig Jahre alt ist. Er berichtet, wie er sich mit zwölf Jahren des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass das Basler Münster durch ein vom Himmel kommendes Exkrement zerstört wird.21 Der zweite Traum wird in der Regel mit Liverpool verbunden.22 Er stammt vom 2. 1. 1927: Der Träumer (Jung) wandert mit Bekannten durch das nächtliche Liverpool und stösst auf einen schwach erleuchteten Platz mit einem Teich und einer Insel sowie einem wundersam beleuchteten, leuchtendem Baum in deren Mitte. Er hört noch von einem Landsmann, der zum Erstaunen seiner Begleiter, nicht aber zum Erstaunen Jungs ebenfalls in der trüben Stadt wohne.23 Jung übersetzt „Liverpool“ bildhaft, indem er es – etwa 1932 in einem Kommentar – als „Mitte des Lebens“ interpretiert.24 Die auf Liverpool bezo19 Jung, Erinnerungen, 210. 20 Zur Entstehung von „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ vgl. die „Einleitung von A. Jaff“, in: Jung, Erinnerungen, 1 – 9 sowie Bair, Jung, 830 – 877. 21 Vgl. Jung, Erinnerungen, 42 – 47. 22 Die ,Basler‘ Ebene in diesem Traum wurde mir erst durch einen Hinweis von U. Hoerni bewusst. 23 Vgl. Jung, Erinnerungen, 200 – 203. Ferner: Jung, Das Rote Buch, 317 (Anm. 292). 24 Jung, Kundalini-Yoga, 176. Vgl. auch Jung, Erinnerungen, 202.

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gene Erläuterung könnte dazu beigetragen haben, dass Basel mit diesem Traum kaum assoziiert wird. Der Traum ist mehrfach – lange nur anonymisiert – publiziert worden: So – oral im Anschluss an die Vorlesung des Indologen Hauer25 am 8. 10. 1932, publiziert erst 1998 in Deutsch in dem von Sonu Shamdasani unter dem Titel „Die Psychologie des Kundalini-Yoga“26 herausgegebenen Text, – 1929 im Kommentar zu „Das Geheimnis der Goldenen Blüte“ nur als Bildbeschreibung zu Tafel 3 und 1952 in „Über Mandalasymbolik“ mit einer Beschreibung zum dazugehörenden Mandala (Bild 6)27, – 2009 in „Das Rote Buch“, zwar ohne expliziten Hinweis auf Jungs Assoziationen an Basel, jedoch mit farbigem Faksimile des bereits 1929 und 1952 veröffentlichten Mandalas und einer Stadtskizze, die Jung nach dem – wie er vom Herausgeber genannt wird – „Liverpool-Traum“ anfertigte28, – in „Erinnerungen, Träume, Gedanken“29. Die Basler Schicht des Traums, der im Roten Buch „Liverpool-Traum“ genannt wird, wird erst in den 1962 publizierten „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ evident.30 Jung berichtet hier meines Wissens erstmals öffentlich, dass ihn die Traumszene an Basel erinnert habe: „(…) der Markt liegt unten und dann geht’s durch das Totengässchen hinauf zu einem oberen Plateau, zum Petersplatz mit der grossen Peterskirche.“31 Wegen dieser Angaben wird der Traum hier als Liverpool/Basel-Traum bezeichnet. Ich stütze mich im folgenden nur auf öffentlich zugängliche Texte von Jung. Für eine Analyse von Jungs Umgang mit religiösen Motiven, die sich darauf beschränkt, Deutungsmöglichkeiten aufzuzeigen, könnte m. E. sogar genügen, was er selbst der Öffentlichkeit mitteilte. „Das Rote Buch“ zählte Jung zu den Aufzeichnungen, die er wegen ihres nicht-wissenschaftlichen Charakters nicht in seinen Gesammelten Werken veröffentlicht sehen wollte. Es wurde erst 2009 von Sonu Shamdasani herausgegeben. Wie der Seminarbericht „Die Psychologie des Kundalini-Yoga“, den Shamdasini (deutsch 1998) edierte, dient das „Rote Buch“ hier als er-

25 Jung distanzierte sich später von Hauer wegen dessen Faszination vom Nationalsozialismus. Vgl. Bair, Jung, 616: „1934 wurde Hauer von der Teilnahme an den Eranos-Tagungen ausgeschlossen, und Jung brach jede Verbindung mit ihm ab.“ 26 Jung, Kundalini-Yoga, 175 f. Dort findet sich in Anm. 248 auch ein Verweis auf Basel. 27 Die hier gemachten Angaben zur Publikation des Traums habe ich gefunden in: Jung, Das Rote Buch, 317, dort die Anm. 292 des Hg. Shamdasani. Zu der erwähnten Tafel 3 vgl. Jung/Wilhelm, Geheimnis, 68 und Tafel 3; zur Veröff. im Jahr 1952 vgl. Jung, Mandalasymbolik, 384 f und Bild 6. 28 Jung, Das Rote Buch, 159, 317 (Anm. 292) und 362. 29 Jung, Erinnerungen, 200 – 203. 30 Vgl. Jung, Das Rote Buch, 362. 31 Jung, Erinnerungen, 201.

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gänzende Quelle.32 Es entstand zwischen 1913 und 1930/1959 als experimentelles, traumtagebuchähnliches und kalligraphisch bearbeitetes Werk.33 „Das Rote Buch“ ist in Bezug auf den Liverpool/Basel-Traum von Bedeutung, weil es das dazugehörende Mandala, nun farbig und originalgetreu abgebildet, eine Stadtplanskizze, die Traumversion von 1952 aus „Über Mandalasymbolik“ sowie in der Anm. 292 Hinweise von Shamdasani zur Publikationsgeschichte des Traums enthält.34 Ich habe für diese Untersuchung die beiden Basler traum- oder traumähnlichen Ereignisse gewählt, weil sie wegen ihrer destruktiven und kreativen Aspekte wie komplementär zueinander stehen. Beide können als Endpunkte einer über vierzigjährigen Entwicklung gesehen werden. Als Eckpunkte einer entscheidenden Epoche in Jungs Leben kann das Münster-Erleben des Zwölfjährigen gelten. Jung erzählt in den „Erinnerungen“ im Anschluss daran: „Damals kamen auch profunde Zweifel an allem, was mein Vater sagte. Wenn ich ihn über die Gnade predigen hörte, dachte ich immer an mein Erlebnis. Was er sagte, klang schal und hohl, wie wenn einer eine Geschichte erzählt, die er selber nicht ganz glauben kann oder nur vom Hörensagen kennt.“35 Den Liverpool/Basel-Traum von 1927 kann man als die andere Grenze dieses langen, durch die Trennung von Freud 1912/13 neu angestossenen Suchweges verstehen. Der 82-jährige Jung gibt in der Reflexion dieses Traumes jedenfalls an: „Ich sah, dass hier das Ziel ausgedrückt war.“36 Die Unruhe, die in einer frühen Form etwa mit dem Erlebnis auf dem Basler Münsterplatz von 1887 bewusst zu werden begann, milderte sich offenbar mit dem Traum von 1927 vom Basler Petersplatz. Ich möchte zunächst Jungs Berichte über sein Erleben mit dem Münsterund dem Petersplatz skizzieren, kommentieren und die Schilderungen miteinander vergleichen. Mit dem Instrumentarium tiefenpsychologischer Traumanalyse gehe ich dabei sparsam um, da dieses vor allem im, bzw. für den lebendigen Austausch zwischen Träumenden und Analytikern entwickelt wurde. Ich möchte dabei als theologisch und germanistisch geprägte Analytische Psychotherapeutin Deutungsmöglichkeiten für die ausgewählten Basler Episoden anbieten, – indem ich das Potenzial religiöser Symbole als Impulse für die tiefenpsychologische Theoriebildung von Jung in den Blick bringe

32 Zum Seminarbericht von 1932 vgl. Jung, Kundalini-Yoga. Zur Veröff. des Roten Buchs vgl. Hoerni, Vorwort, 9 f. 33 Zur Entstehung und zur Edition des Roten Buchs vgl. Shamdasani, Einleitung, 195 – 226. 34 Vgl.dazu Jung, Das Rote Buch, 159, 317 (Anm. 292) und 362. 35 Jung, Erinnerungen, 48. 36 Jung, Erinnerungen, 202 f.

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– und frage, ob und inwieweit Jung als Vorläufer einer individualisierten Religiosität zu verstehen ist.

Mein Interesse gilt vor allem den religiösen Motiven, also z. B. den Gottesbildern und ihren institutionalisierten Tradentinnen, da deren Problematik spektakulär im Zentrum der ersten Basler Episode steht.

3. Zwei Basler „Traum-Bilder“ ,Imagination‘ von einem stuhlenden Gott Jung erzählt in den „Erinnerungen“ von einer inneren Vorstellung, die – nach tage- und nächtelangem Kampf – in folgendem Bild kulminiert: „Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ein ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchendach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander.“37 Was der Schüler Jung vor Augen hatte, beeindruckt durch die anthropomorphe Gottesvorstellung. Der Gymnasiast wagt es, sich Gott nicht als allem Irdischen entrückten Vater, sondern wie ein Kleinkind vorzustellen, das ohne Rücksicht auf die destruktiven Konsequenzen nach Gutdünken stuhlt. Dieses im Bericht des 82 Jahre alten Jung auftauchende Bild eines unreifen und unbewussten Gottes hat er in seinem 1952 erschienenen Essay „Antwort auf Hiob“ tiefenpsychologisch durchgearbeitet. Das Gottesbild in seinem „Hiob“ mag immer noch wie das des Widerfahrnis des Schülers als provokant erlebt werden, wird aber von Jung als Chance für eine verantwortungsbewusste, menschliche Entwicklung begriffen. Die Destruktivität, die biblische Autoren (z. B. der Johannes der Apokalypse) in ihre Gottesbilder einschreiben, ist in Jungs Nachkriegstext als Problem des Menschen präsentiert: „Er ist ein kreatürlicher Mensch, in welchem der dunkle Gott des Zorns und der Rache, ein ventus urens (sengender Wind), einbricht (…). Einen so reinen Zerstörungswillen wie bei Johannes können wir bei uns (…) nicht erwarten (…). Vermöge der geistigen Differenzierung in der Reformation, insbesondere der Entwicklung der Wissenschaften (die ja ursprünglich von den gefallenen Engeln gelehrt wurden) sind wir schon ansehnlich mit Dunkel gemischt (…).“38 Jung folgert: „Es kommt jetzt nur noch darauf an, ob der Mensch eine höhere moralische Stufe, das heißt ein höheres moralisches Niveau des Be37 Jung, Erinnerungen, 45. 38 Jung, Hiob, 458.

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wusstseins zu erklimmen vermag, um der übermenschlichen Macht, die ihm die gefallenen Engel zugespielt haben, gewachsen zu sein.“39 Was der späte Jung als menschliche Entwicklungsherausforderung begriff, tauchte biographisch früh als Bild eines unberechenbar aggressiven Gottes auf. Diese Vorstellung wurde von dem damals Zwölfjährigen aus Angst vor Bestrafung wegen seines blasphemischen, tabuverletzenden Charakters zunächst abgewehrt, schliesslich aber als eine Art Test Gottes interpretiert und zugelassen.40 Möglicherweise hat er dieses Erlebnis sogar als Auftrag zum Nachdenken, ja ,Berufung‘ verstehen können. Immerhin berichtet der alte Jung, er habe als Schüler die Selbstablehnung, die im Anschluss an die ,Münsterimagination‘ auch auftauchte, verarbeiten können, denn: „Dass (in der Bibel; EG) der ungetreue Haushalter gelobt wird, und dass Petrus, der Wankelmütige, zum Fels ernannt wird, machte mir ungeheuer Eindruck.“41 Menschen, die gegen Regel verstossen, werden – so die biblische Tradition – nicht unbedingt verstossen. Inwieweit sich Jung ein Leben lang von dieser Sicht prägen liess, weiss ich nicht, ich weiss nur, dass er bis ins hohe Alter nicht davor zurückscheute, von einem ,Gotteserlebnis‘ zu erzählen, das als skandalös empfunden werden konnte. Diese Gotteserzählung mag jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und den Atombomben auf Japan zum Empfinden vieler Zeitgenossen gepasst haben. Der prominente Jung könnte damals eine befreiende Rolle gespielt haben, formulierte er doch, was unter seiner Leserschaft – vielleicht – empfunden, aber nicht gesagt wurde. Deirdre Bair berichtet von Diskussionen um eine frühe Version des Münsterplatzberichts, in der die Rede davon war, dass Gott ,schiss‘.42 Ein damaliger Mitarbeiter von Jung schätzte dessen drastische Worte. Die JungBiographin schreibt: „Was ihm besonders gut gefiel, war Jungs höchst dramatische Verwendung des Wortes ,scheissen‘; und er wollte eine (…) gestrichene Fussnote wiederaufnehmen; es hiess dort, dass man ,Gott scheisst auf seine Kirche‘ auch im übertragenen Sinne verstehen müsse.“43 Somit geht es in der Basler Münsterepisode nicht allein um einen Gott, dessen Rücksichtslosigkeit sogar zur vernichtenden Gleichgültigkeit gegen über einem Kirchengebäude führt. Es geht auch um eine Kirche, die offenbar nicht mehr der Kanal ist, der für einen flüssigen Strom des ,God-talks‘ sorgt und als ruinierte gesehen wird. Jung blieb nicht am Bild einer missachteten und zerstörten Institution hängen. 1945 etwa kann er die Kirche als Möglichkeit für den nennen, der für das Chaos des Unbewussten eine Form sucht. Zudem könne die Bedeutung des Wissens, das in unbrauchbar gewordenen kirchlichen Konzepten aufge39 40 41 42 43

Jung, Hiob, 461. Vgl. Jung, Erinnerungen, 45. Jung, Erinnerungen, 46. Vgl. Bair, Jung, 869. Bair, Jung, 870.

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hoben war, – so Jung – über tiefenpsychologisch fundierte Verfahren Menschen zugänglich werden, die auf die Sprache der Wissenschaft seiner Gegenwart angewiesen waren. Er erwähnt als Folge einer Psychotherapie „ein besseres Verständnis für und ein innerlicheres Verhältnis zur Religion an und für sich, welche mit Konfession nicht zu verwechseln ist.“44 Jung registrierte früh einen eklatanten Bedeutungsverfall religiöser Traditionen des Abendlands. Er lässt sich aber nicht von Enttäuschung über diese Tradition oder von gegen sie gerichtete Zerstörungswut zu deren genereller Abwertung mitreissen. Explizit hält er in den Überlegungen zur Entstehung seines Konzepts fest: „Natürlich stellt sich mir immer wieder die Frage nach der Beziehung der Symbolik des Unbewussten zur christlichen Religion und auch zu anderen Religionen. Ich lasse der Christlichen Botschaft nicht nur eine Türe offen, sondern sie gehört ins Zentrum des westlichen Menschen. Allerdings bedarf sie einer neuen Sicht, um den säkularen Wandlungen des Zeitgeistes zu entsprechen.“45

4. Der Liverpool/Basel-Traum: Mandala, Rose, Fenster und Petersplatz Zum Liverpool/Basel-Traum gehört ein Mandala.46 Anfang 1927 stirbt sein fast gleichaltriger Zürcher Freund Hermann Sigg, mit dem Jung 1920 Nordafrika bereist hatte.47 Auf Siggs Tod verweist Jung in einer Zeile unter dem Mandala, das er vermutlich nach dem Liverpool/Basel-Traum malte.48 Es handelt sich um ein Rechteck, das so strukturiert ist, dass der Blick des Betrachtenden in die Mitte gelenkt wird. Dort befindet sich ein helles rosenblättriges, kreisförmiges Gebilde in einem konzentrisch und radiär strukturierten Quadrat. Jung schreibt dazu in „Über Mandalasymbolik“: „Die Rose im Zentrum ist als Rubin dargestellt, dessen äusserer Umkreis als Rad, auch als Mauerkranz mit Toren (…) gedacht ist.“49 Er zitiert zum Malprozess und zur Bedeutung des Bildes den Träumer, also sich selbst (anonymisiert): „Aus der Magnolie wurde eine Art Rose aus hell-rubinfarbenem Glas. Sie strahlt wie ein vierJung, Übertragung, 196. Jung, Erinnerungen 213. Jung, Das Rote Buch, 159. Vgl. Bair, Jung, 482. Zwar berichtet Jung 1932, dass er das Mandala vor dem Traum malte, aber wenn der im Roten Buch veröffentliche „Traum-Stadtplan“ eine Vorlage für das Mandala ist, muss Jung das Mandala – wie es auch den Angaben in „Über Mandalasymbolik“ entspricht – nach dem Traum gemalt haben. Vgl. Jung, Das Rote Buch, 159, 317 (Anm. 292) und 363. Ferner : Jung, KundaliniYoga, 175 und Jung, Mandalasymbolik, 384 f. 49 Jung, Mandalasymbolik, 384.

44 45 46 47 48

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strahliger Stern. (…) ,Das Ganze kommt mir vor wie ein Fenster, das auf die Ewigkeit hinausgeht‘.“50 Ähnlich formuliert Jung im Kommentar zum „Geheimnis der Goldenen Blüte“, wo es heißt, das „Ganze sei als durchscheinendes Fenster“ gedacht.51 Folgende Motive und Formen dominieren dabei: „Blume, Stern, Kreis, umhegter Platz (temenos) und Quartierplan einer Stadt mit Zitadelle.“52 Es fehlen ein Kreuz oder deutliche Hinweise auf die Trinität. Christliche Symbolik ist also kaum vorhanden, könnte allerdings in der Rosette im Bildinnern gefunden werden, da Kirchenfenster oft rosenförmig gestaltet sind. Die Bedeutung der Fenster-Symbolik wird aufgrund eines Hinweises von Shamdasanis einleuchtend.53 Das „Selbst“ kann demnach als ,Fenster‘ illustriert werden, das – so Jung – ,nach der Ewigkeit hin‘ öffnet und somit herkömmlichen Weltbildern Transparenz oder Erweiterung ermöglicht.54 Das Motiv,Transparenz‘, bei dem Licht, Durchscheinen, sogar Ewigkeit und Transzendenz assoziiert werden können, kann die Positionierung des Mandalas im Roten Buch erklären. Der Dialog, den Jung im Kontext des Mandalas mit dem Satan imaginiert, endet mit den Worten: „Du steckst mir ein Licht auf. Du bist persönliches Leben, der anscheinende Stillstand aber ist das langmütige Leben der Ewigkeit, das Leben der Göttlichkeit!“55 Ewigkeit und Göttlichkeit gehören in der jüdisch/christlichen Tradition zusammen. In der Einleitung der „Bibel in gerechter Sprache“ (32007) wird zum Gottesnamen erläutert: „Im biblischen Sprachgebrauch ist Gott selbst ewig und Ursprung aller Zeit (Gen 21,33; Röm 16,26). Gott überschreitet alle Vergänglichkeit und ist Garant einer dauernden bleibenden Zeit.“56 Mit dem Aspekt „Ewigkeit“ integriert Jung in den Kontext des Mandalas okzidentale Metaphorik. Er schuf aus dem Liverpool/Basel-Traum eine Zeichnung, die er zwar mit Hilfe eines asiatischen Begriffs (Mandala) einordnet, jedoch mit einer abendländisch religiösen, besonders im Kontext der Interpretation des Sterbens (Geschöpflichkeit/ Vergänglichkeit als Kontrast zur Göttlichkeit/Ewigkeit) auftauchenden Terminologie verdeutlicht. Jung stellte durch die Bestimmung seiner Zeichnung als Mandala bereits 1929 einen Bezug zur asiatischen Tradition her.57 1952 schreibt er dazu: „Mandala (sanskr.) heißt Kreis. Der indische Terminus bezeichnet kultische Kreiszeichnungen.“58 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Jung, Mandalasymbolik, 385. Vgl. Jung/Wilhelm, Geheimnis, 68. Jung, Mandalasymbolik, 385. Vgl. Jung, Das Rote Buch, 317 (Anm. 292). Jung, Mysterium, 313 und Jung, Erinnerungen, 200: Jung schreibt dort vom „Fenster in die Ewigkeit“. Jung, Das Rote Buch, 164 und 318. Bibel in gerechter Sprache, 20. Vgl. Jung/Wilhelm, Geheimnis, 67 f. und Tafeln 1 – 10. Jung, Mandalasymbolik, 375.

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Die viereckigen und kreisförmigen Strukturen der Zeichnung von 1927 verweisen wie die Fenster-Symbolik auf den Selbstarchetypus. Zu diesem Theorem Jungs erläutert Murray Stein: „Das Selbst (…) wirkt so auf das psychische System ein, dass dieses Symbole der Ganzheit hervorbringt, häufig in Gestalt von Quaternitäts- und Mandalabildern (Quadrate und Kreise).“59 Jung modifiziert in der Beschäftigung mit dem Liverpool/Basel-Traum die religiöse Tradition seiner Herkunft – etwa mit der zeichnerischen Betonung der Quaternität und durch die Verknüpfung mit der Bildtradition Asiens – so, wie es seiner Erfahrung entsprach.60 Eine totale Distanzierung von herkömmlich jüdisch/christlichen Strukturen liegt gleichwohl nicht vor. Ein Indiz dafür sehe ich darin, dass Jung dem „Selbst“ jene sinnstiftende Qualität zuschreibt, die in der jüdisch-christlichen Traditionell mit dem Schöpfer- und Erlösergott verbunden ist. Für diese Sicht der Zentralität des Selbst bildete der gestaltenden und reflexive Umgang mit dem Liverpool/Basel-Traum nach Jungs eigenen Angaben sogar einen Wende- und Höhepunkt: „Durch den Traum verstand ich, dass das Selbst ein Prinzip ist und Archetypus der Orientierung und des Sinns ist.“61 Der kirchlich-christliche Bezug des Traums wird am ehesten durch die Traumerzählung in den „Erinnerungen“ ersichtlich. Dabei imponiert zunächst die Erfahrungsqualität. Noch im Bericht aus den „Erinnerungen“ ist spürbar, dass sich die Bedeutsamkeit, die Konstruktivität generierenden Wirkung dieses Traums vor allem seiner numinosen Qualität verdankt. Diese wird ausgelöst durch das Bild einer erleuchteten Insel in einer trüben Nacht, auf der eine Magnolie so blüht, „als ob der Baum im Sonnenlicht stünde und zugleich selbst Licht wäre“62. Ungeachtet dieser Zauberhaftigkeit erinnert ihn der Schauplatz des Traums – so der späte C.G. Jung – an einen Basler Kirchplatz, den Petersplatz. Anders als in der Münsterplatzepisode findet eine Kirche nur am Rand als „große Peterskirche“ Erwähnung.63 Diese Kirche bleibt heil, wird aber marginal. Die Peterskirche ist in der Tat durch eine Strasse vom gleichnamigen Platz getrennt, welcher ein eigenes Zentrum hat: Der fast quadratischen Platz ist innen durch vier Wege strukturiert, die von den Eckregionen des Platzes auf ein Rondell in der Mitte zulaufen, welches konzentrisch gepflastert ist. Jung erwähnt im „Erinnerungsbuch“ noch den Basler Markt und das Totengässchen, das im Vergleich zum Markt zum höheren Niveau des Petersplatzes führt.64 Das Totengässchen kann im Kontext des Traums, der ja auch in Zusammenhang mit dem Tod von Hermann Sigg steht, auf dessen Sterben 59 Stein, Landkarte, 188. 60 Zur Bedeutung der ,Quaternität‘ für Jungs tiefenpsychologisches Konzept vgl. Morgenthaler, Jung, 243. 61 Jung, Erinnerungen, 202. 62 Jung, Erinnerungen, 201. 63 Jung, Erinnerungen, 201. 64 Vgl. Jung, Erinnerungen, 201.

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verweisen. Diese Gasse mussten zudem Leichenträger passieren, die Tote zur letzten, verwandelnden Ruhe brachten. Als Traumbild könnte dieses „Gässchen“ auch eine ,Passage‘ in Jungs Theoriebildung symbolisieren, die mit dem Liverpool/Basel-Traum ein ,höheres Plateau‘ erreicht. Dazu können Neuverortungen gehören. Der Traum ermöglichte Jung etwa die Relativierung der Relevanz des bewussten Ich. Das belegt seine Reaktion von 1932, als er zum Traum kommentiert: „Nun, Liverpool ist die Mitte des Lebens – Liver, auf deutsch die Leber, steht für das Leben, für das Zentrum des Lebens – und ich bin nicht das Zentrum, ich bin der Narr, der an irgendeinem dunklen Ort wohnt (…). Auf diese Weise wurde mein westliches Vorurteil, ich sei das Zentrum des Mandalas – ich sei alles, das ganze Schauspiel, der König, der Gott – korrigiert.“65

5. Vergleich der beiden Basler „Bilder“ Der Traum vom Platz mit dem „Lebens-Teich“ (Liverpool) kann wegen seiner ,Basler‘ Erinnerungsschicht als eine Art von Fortsetzung der Münsterplatzepisode verstanden werden. Ging es – nach meinem Verständnis des Berichts des späten Jung – 1887 explizit noch um das Zerbrechen traditioneller religiöser Konzepte (Gottesbild, religiöse Institution), so ist 1927 der religiöse Bezug nebensächlich geworden. Der Liverpool/Basel-Traum imponiert durch numinose Bilder des ,Selbst-Archetypus‘. Dieser ist nicht anthropomorph illustriert (wie noch in der Münsterplatzepisode mit dem thronenden Gott und dem Exkrement), aber noch vegetativ (Baum), wird in der Gestaltung geometrisch und wandelt sich zum ,Fenster in die Ewigkeit‘.66 Es entsteht ein Mandala mit organischen und anorganischen Elementen (Rose/Rubin) sowie Quadrat- und Kreisformen. Im Traum von 1927 zeigt sich auch ein anderes Bild seines ,Autors‘, der sich durch die Figur jenes Schweizers, der bei einem Subzentrum wohnt, personifiziert sehen kann.67 Hier deutet sich ein Unterschied zum Selbstbild des zwölf Jahre alten Schülers an. Dem Selbstverständnis des Gymnasiasten haftet nach dem Bericht des späten Jung Exklusivität an: „So bekam ich das Gefühl, ausgestossen oder auserwählt, verflucht oder gesegnet zu sein.“68 Dagegen ist der ,andere Schweizer‘ zwar auch als Randfigur nur indirekt präsent, erlebt aber keine Ausgrenzung oder Selbstüberhöhung. Er scheint 65 66 67 68

Jung, Kundalini-Yoga, 176. Jung, Erinnerungen 200. Vgl. Jung, Kundalini-Yoga, 176 und Jung, Das Rote Buch, 362. Jung, Erinnerungen, 42 – 47, hier v. a. 47.

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verbunden mit dem faszinierenden Primärzentrum, wohnt er doch – so vermutet Jung offenbar – wegen dessen ,Schönheit‘ in Liverpool.69 Das Niveau, zu dem Jungs psychologische Theoriebildung durch den Liverpool/Basel-Traum angeregt worden sein könnte, geht – so gesehen – nicht mit einer elitären Anthropologie einher. Es deutet sich darin vielmehr eine Haltung an, die Persönlichkeiten fördert, die genussfähig sind, jedoch um ihre Grenzen wissen und verbunden sind mit dem, was ihren Horizont überschreitet. In „Zur Psychologie des Kindarchetypus“ (mit K. Kernyi, 1951) hat Jung diese im Traum vorbereitete Anthropologie theoretisch formuliert, indem er als Ziel persönlicher Wandlungen und der Arbeit an sich selbst die „Verschiebung des Persönlichkeitszentrum aus dem Ich in das Selbst“ andeutet.70 Der Liverpool/Basel-Traum hat auf den ersten Blick im Vergleich zur Münsterplatzepisode nichts mehr mit religiöser Erfahrung zu tun. Die Numinosität rückt ihn jedoch in die Nähe religiöser Erfahrung. Verstärkt wird die Verbindung zur Religion durch die Verwendung religiösen Formen und einer religiösen Sprache in der Reflexion des Traums: Mandala, Rose, ,Fenster in die Ewigkeit‘. Die christliche Symbolik wirkt wegen Jungs Einordnung des dazugehörenden Bildes als Mandala schwach. Der kirchliche Hintergrund bleibt aufgrund der Erwähnung des Basler Peterskirchplatzes erhalten, ist aber in der Interpretation des Traums nicht mehr tonangebend. Die christliche Tradition bildet so etwas wie einen „Subtext“, der erst bei genauem Hinsehen erkennbar wird. Im Traum von 1927 überwiegen in Bezug auf die religiösen Tradition gleichwohl nicht destruktive, sondern konstruktive Aspekte. Dabei wird die abendländische Symbolik (Ewigkeit) mit einem Bild verknüpft, das mit einem Terminus aus asiatischen Religionen (Mandala) beschrieben wird. Die A-Personalität im Liverpool/Basel-Traum, der Bezug auf das ,Fenster nach der Ewigkeit‘ und die Klassifizierung als Mandala könnte sich mit Jungs Entwicklung erklären. Er suchte nach neuen Formen, um auf der Höhe des Wissens seiner Zeit zum Verständnis des Menschen und zum fördernden Umgang des Menschen mit sich selbst beizutragen. Sein wissenschaftliches Interesse galt daher global vorkommenden Symbolen. Ein personaler Gott war da vielleicht – jedenfalls in den späten 1920er Jahren – für die Verknüpfung mit anderen religiösen Traditionen weniger geeignet als etwa ein vegetatives Symbol wie eine Blüte Jung nahm – wie am Beispiel seiner Reflexion des Liverpool/Basel-Traums deutlich wurde – der religiösen Symbolik abendländischer Provenienz ihre Zentralität, integrierte sie jedoch als Ausdruckformen archetypischer Energien in seinen Ansatz. 69 Vgl. Jung, Erinnerungen, 202. 70 Vgl. Jung, Kindarchetypus, 195.

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6. Zusammenfassung Allein aufgrund zweier Basler „Traum-Bilder“ lässt sich bei Jung von einer hohen „individuelle(n) Resonanzfähigkeit für religiöse Semantik“ sprechen.71 Jung geht kreativ mit dem Bedeutungsraum um, den ihm die religiöse Sprache erschließt. Von Aggressivität oder Destruktivität lässt er sich in den veröffentlichen Texten nicht beherrschen. Er bezieht in seiner tiefenpsychologischen Theoriebildung den von den religiösen Symbolen geöffneten Raum jedoch nicht mehr auf eine externe Transzendenz. Er schält vielmehr die Relevanz der religiösen Symbolik für sein tiefenpsychologisches Menschenbild heraus. Dabei wird das Unbewusste als ,bewusstseinstranszendenter Bereich‘ angenommen, dessen Grenzen zum Bewusstsein flexibel sind. Jung schreibt dazu in einem seiner letzten Texte: „(…) es bleibt eine Tatsache, dass zusätzlich zu Erinnerungen aus weit entfernter bewusster Vergangenheit gänzlich neue Gedanken und schöpferische Ideen aus dem Unbewussten hervorkommen können (…) sie wachsen aus den dunklen Tiefen des Geistes wie Lotusblumen und bilden einen äusserst wichtigen Bestandteil der unbewussten Psyche.“72 Jung platziert als Tiefenpsychologe die religiöse Symbolik neu. Die gesamte religiöse Tradition wird als Ausdruck psychischer Dynamiken interpretiert. Eine solche Transformation von Ort und Funktion einer kulturellen Tradition gelingt wohl nur denen, die abstraktionsfähig genug sind, um basalen Elementen eines Feldes in einem anderen Kontext neue Relevanz zuschreiben zu können. Solche wissenschaftliche Kreativität ermöglichte Jung die Entwicklung seines tiefenpsychologischen Konzepts. Man kann in Jung mit seiner Tendenz zur A-Personalität im religiösen Zentralbild (jedenfalls um 1930) und der Integration nicht-europäischer religiöser Materialien in eigene Sinn-Konstrukte den Vorläufer eines individualisierten Umgangs mit Religion sehen. Religiosität ist bei vielen Menschen im deutschen Sprachraum nicht mehr mit einem personalen Gott verbunden, sondern auch mit ,All-Erfahrungen‘.73 Sie ist häufig von De-Institutionalisierung begleitet. Tatjana Schnell hält aufgrund einer repräsentativen Befragung im Jahr 2008 in Deutschland fest: „Für fast die Hälfte aller Befragten nimmt der nicht-institutionalisierte Glaube an eine andere Wirklichkeit (Spiritualität) einen zentralen Platz in ihrem Selbst und Weltverhältnis ein.“74 Für die Schweiz gilt nach einer Studie von Roland Campiche, dass dort die Akzeptanz von nicht-christlichen und christlichen Orientierungen zu Beginn 71 Huber, Religiosität, 185. 72 Jung, Zugang, 37. 73 Zum Begriff ,Allerfahrungen‘, den ich in diesem Rahmen nicht erläutern kann, und zu seiner Verbreitung vgl. Huber, Religiosität, 173 f. 74 Schnell, Religiosität, 269.

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des 21. Jh. deutlich gewachsen ist.75 So gesehen muss Jung mit den genannten, einst auch polarisierenden Aspekten im Umgang mit Religion (A-Personalität, De-Institutionalisierung, Dezentrierung, Verknüpfung mit anderen kulturellen Konzepten) nicht als Sonderfall gelten.76

Literatur Armstrong, Karen, Eine kurze Geschichte des Mythos, Berlin 2005. Bair, Deirdre, C.G. Jung, Eine Biographie, München 2005. Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 32007. Campiche, Roland J., Die zwei Gesichter der Religion, Zürich 2004. Dubach, Alfred/Campiche, Roland, Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz: Ergebnis einer Repräsentativbefragung, Zürich 1993. Feldtkeller, Andreas, Artikel „Numinos“, in: 4RGG, Bd 6, 428 f. Heine, Susanne, Grundlagen der Religionspsychologie, Göttingen 2005. Religionspsychologie , in: 4RGG, Bd 7, 371 – 375. Hoerni, Ulrich, Vorwort, in: C.G. Jung, Das Rote Buch, Düsseldorf 2009. Huber, Stefan, Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: C. Klein et al., Religion – Gesundheit – Spiritualität, München 2011. Jung, Carl Gustav, Gesammelte Werke, Düsseldorf 1995. – Symbole der Wandlung, GW 5. – Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen, GW 8. – Über Mandalasymbolik, GW 9/1. – Zur Psychologie des Kindarchetypus, GW 9/1. – Antwort auf Hiob, GW 11. – Mysterium Coniunctionis, GW 14/2. – Die Psychologie der Übertragung, GW 16. – Antwort an Martin Buber, GW 18/2. – /Wilhelm, Richard, Das Geheimnis der goldenen Blüte, Zürich 1929. Jungs Kommentar ist auch veröff. in: GW 13. – Erinnerungen, Träume, Gedanken, aufgezeichnet von A. Jaff, Düsseldorf/Zürich 15 2007. – Zugang zum Unbewussten, in: Ders. et al., Der Mensch und seine Symbole, Solothurn/Dsseldorf 151995. – Die Psychologie des Kundalini-Yoga, hg. v. S. Shamdasani, Zürich, Düsseldorf 1998. – Das Rote Buch, hg. v. S. Shamdasani, Düsseldorf 2009. Kriz, Jrgen, Grundkonzepte der Psychotherapie, Weinheim 41994. . 75 Vgl. Campiche, Die zwei Gesichter, 114. 76 Vgl. Dubach/Campiche, Sonderfall.

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Morgenthaler, Christoph, Carl Gustav Jung (1875 – 1961), in: A. Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft, 22004, 233 – 245. Nager, Frank, C.G. Jung und die moderne Medizin, in: H. Barz et al., Heilung und Wandlung, München 1991. Stein, Murray, C.G. Jungs Landkarte der Seele. Eine Einführung, Zürich/Düsseldorf 2000. Stolz, Fritz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 32001. Schnell, Tatjana, Religiosität und Spiritualität als Quellen der Sinnerfüllung, in: C. Klein et al., Religion – Gesundheit – Spiritualität, München 2011.

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II Systemische Seelsorge

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Ralph Kunz

Wie kommt Gott ins System? Die systemische Seelsorge und die gesellige Gottheit – ein Beitrag zur Theologie der Seelsorge

Ist Gott ein Konstruktivist? So fragt Andreas Brenneke in einem Aufsatz, in dem er sich „einigen Elementen und Grundlagen einer zukünftigen konstruktivistischen Theologie“1 widmet. Er meint die Frage „mit einem freudigen ,Ja‘“ beantworten zu können. Denn ein Konstruktivist schaffe Spielräume, eröffne außerordentlich vielfältige Perspektiven und sei vermutlich für eine Vielzahl von Lösungen offen. Gott als Konstruktivist „wäre gleichsam die ,Mutter aller Ressourcen‘.“2 Ist Gott ein Konstruktivist? Die Frage ist sicher nicht die Mutter aller theologischen Fragen. Nun will Brennecke, gemäß eigener Aussage, sie nicht ganz Ernst gemeint haben.3 Aber die Frage nach der Wirklichkeit Gottes sollte in der Seelsorge schon Ernst genommen werden. Wie ist oder wird Gott real? Brennecke antwortet mit der Behauptung einer absoluten Wirklichkeit. Die Rede von Gott als „R-E-A-L-I-T-Ä-T“ wird bei Brenneke G-R-O-S-S geschrieben, weil sie als eine Wirklichkeit jenseits aller Konstruktionen vorzustellen sei. Die Theologie jedenfalls kann nicht auf ein Theopostulat mit der Eigenschaft absoluter Wirklichkeit (=R-E-A-L-I-T-Ä-T) verzichten, wenn sie Theo-Logie bleiben will, und Poimenik kann nicht zu einer religiös gefärbten Psychotherapie transformiert werden, wenn sie weiterhin auf die göttliche Verheißung hin zugeordnetes heilendes Handeln im Namen Gottes bleiben soll. Deshalb erscheint eine Konstruktivistische Theologie, die Gott bewusst aus dem Raum der konstruierten Wirklichkeiten in die R-E-A-L-I-T-Ä-T jenseits aller Wirklichkeitskonstruktionen transzendiert, unumgänglich – schon allein dann, wenn sie von anderen Wissenschaften und deren Epistemologien weiterhin einigermaßen Ernst genommen werden will.4

Wird Theologie „einigermaßen Ernst genommen“ wenn sie G-O-T-T postuliert? Und kommt man „jenseits aller Wirklichkeitskonstruktionen“ zu Gott oder doch nur zum Konstrukt ,Gott‘? Kommt Gott so ins System? Ich bezweifle es. Aber der missglückte Aufsatz ist mir ein Anlass, mich mit dem geglückten Ansatz auseinander zu setzen, den Christoph Morgenthaler in seinem Buch 1 2 3 4

Brenneke, Konstruktivist, 60. Brenneke, Konstruktivist, 59. Brenneke, Konstruktivist. Brenneke, Konstruktivist, 67 f.

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„Systemische Seelsorge“ unter dem Titel „Theologie als Quelle des systemischen Denkens“ vorstellt.5 Um die Pointe von Morgenthalers Postulat zum Leuchten zu bringen, greife ich zum Mittel des Kontrasts6 und komme gleich noch einmal auf Brenneckes Versuch einer konstruktivistischen Theologie zurück (1). Danach will ich die zentralen Einsichten der Theologie, die als Quelle des systemischen Denkens vorgestellt werden, herausarbeiten (2) und in ein Gespräch mit einem Entwurf der Theologie der Seelsorge bringen (3). Was mich dabei reizt, ist weniger die Diskussion epistemologischer Konstrukte, als vielmehr die theologische Frage, wie Gott ins System kommt!7 Für mein eigenes Weiterdenken – wenn ich denn beim Nachdenken wirklich weiter gekommen bin – spielt die spiritualitätstheologische Unterscheidung von Ressourcen und Quelle eine wichtige Rolle (4).

1. Konstruktivistisches Denken als Grundlage einer Theologie der Seelsorge? Fangen wir damit an. Was will eine konstruktivistische Theologie? Brenneckes zentrales Argument für sein Vorhaben: Auch die Theologie fasst Gott nur immer als Konstrukt. Aber die Entstehung dieses Konstrukts lässt sich dekonstruieren und wieder rekonstruieren. G-O-T-T wird ,wahrgenommen‘ jenseits der operationalen und funktionalen Mittel der menschlichen Wahrnehmung […], erfahren mit Sinneskanälen jenseits der üblichen, nicht erklärbar, sondern bestenfalls metaphorisch rekonstruierbar und damit wieder als Bild. In diesem Sinne ist Glaube tatsächlich ein Gegenkonzept zu Wahrnehmung und Erkenntnis, obwohl er sich erkenntnistheoretischer Methoden bedient. Nur innerhalb einer solchen inneren operational-funktional sinn(en)losen Schau ist G-O-T-T, d. h. nur der Gott der Mystik etc. ist real, der Gott der Theologien ist wirklich, denknotwendig, ein Tribut an die menschliche Sprache und Wirklichkeits-Verhaftung.8

Die logische Folge dieser [m.E. logisch nicht ganz schlüssigen] Argumentation ist, dass es auch die Seelsorge nur mit konstruierten Gottesbildern zu tun bekommt. Brennecke spricht denn auch im Hinblick auf die „Selbstoffenbarung G-O-T-T-E-S in Jesus Christus“9 von der „wichtigsten Ressource“10 der 5 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 116 – 141. 6 In eine ähnliche Richtung wie Brennecke argumentiert Gnther Emlein, Wozu Systeme? 264 f. 7 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 247. 8 Brenneke, Konstruktivist, 82. 9 Brenneke, Konstruktivist, 84. 10 Brenneke, Konstruktivist, 76.

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systemischen Seelsorge. Nur, wie wird man ihr so habhaft? Das ist das Knifflige. Denn „Gott ragt via Christus nun von der R-E-A-L-I-T-Ä-T […] in die Wirklichkeit […] hinein, ohne Teil derselben zu werden.“11 Also kann auch Gott als Schöpfer die Schöpfung nicht wirklich aus sich heraus setzen, sondern bleibt mit ihr quasi verwoben. Dieses Verwobensein von Schöpfer und Werk nennt Brenneke Logos (universale Vernunft). Der Mensch als Geschöpf ist insofern Imago Dei, als er ,gemäß dieser Vernunft‘ geschaffen, d. h. konstruiert, d. h. in die Wirklichkeit gesetzt wurde. Anders gesagt: Das logische […] Substrat des Menschen ist sein Anteil an G-O-T-T.12

Doch dieser Anteil reicht nicht aus zur Rettung, sodass es Christus als Retter braucht, der „die reale, außerkosmische, göttliche Dimension – via Inkarnation – mit einbringt in den Prozess der Welt.“13 Um aber Inkarnation überhaupt denken zu können, muss das Gottespostulat nun doch wieder differenziert werden. So kommt Brennecke auf eine spekulativ gedachte Trinität. Brennecke: Insofern damit G-O-T-T zumindest zu einem nicht unbeträchtlichen Teil – Wirklichkeit würde, was allerdings nicht einmal tatsächlich denkbar, geschweige denn wahrnehmbar wäre, macht das trinitarische Dogma vor diesem Hintergrund durchaus Sinn: Vater – Sohn – Heiliger Geist werden einander verbunden als REALITÄT (Gott-Vater) – offenbarte, d. h. ver-wirklichte Realität (Gott-Sohn) – Potentialität (Gott-Heiliger Geist). Diese drei lassen sich dann auch trefflich unter G-O-T-T zusammenfassen.14

Brennecke zieht aus seinen Einsichten die Konsequenz, dass die religiösen Konstruktionen des Gegenübers im seelsorglichen Vollzug unbedingt Ernst genommen werden sollten. Sie seien als Ressourcen für Entwicklungen therapeutisch aktivierbar.15 Und worin besteht die Funktion der Theologie? Das Postulat, dass Gott sich in Christus inkarniert und als Geist wirksam wird, liefert dem Seelsorger lediglich eine Begründung für die Aktivierung der Glaubensressource. Wie dieser Glaube des Seelsorgers inhaltlich zum Zuge kommen kann, wird dabei nicht erkennbar. So kommt das, was jenseits aller Konstruktionen in seiner eigenen Wirklichkeit bleibt und sich mit dem trinitarischen Dogma so trefflich als G-O-T-T zusammenfassen lässt, nicht ins System.16 Nähme man einen solches Konstrukt wirklich Ernst, müsste man es schleunigst dekonstruieren. 11 12 13 14 15 16

Brenneke, Konstruktivist, 84. Brenneke, Konstruktivist, 85. 88. Brenneke, Konstruktivist, 94. Brenneke, Konstruktivist, 85. Brenneke, Konstruktivist, 112. Brenneke, Konstruktivist, 83: „Auch die Konstruktivistische Theologie kann als solche nur von ,Gott‘ sprechen und muss ,G-O-T-T‘ in letzter [konstruktivistischer!] Konsequenz dem Schweigen der inneren Schau überlassen.“ Setzt man den Akzent anders, lässt sich diese Aussage

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2. Theologie als Quelle systemischen Denkens Ein Vergleich von Brenneckes mit Morgenthalers Ansatz macht offensichtlich, was gewonnen wird, wenn man „Theologie als Quelle systemischen Denkens“ versteht. Zwei wichtige Voraussetzungen werden gemacht: Theologie und Spiritualität kommen erstens nur dann hilfreich ins systemische Spiel, „wenn sie von Seelsorgerinnen und Seelsorger selbstdifferenziert, schöpferisch und mutig verkörpert werden.“17 Und zweitens werden Theologie und Spiritualität verstanden „als Quellen von Deutungen, Werten, Perspektiven und Geschichten, die in Systemen eine gestaltende Wirkung entfalten, verstanden aber auch als Quellen von Reflexion und kritisch-konstruktivem Denken.“18 Bezeichnenderweise zitiert Morgenthaler eingangs einen Dichter, der in seiner religiösen Lyrik nicht von G-O-T-T, sondern meistens von gott redet. Kurt Marti interessiert sich nicht für ein metaphysisches Superkonstrukt jenseits aller Konstruktionen. Sein Gott ist „gott gerneklein“.19 Morgenthaler stellt seinem Kapitel dieses Gedicht des Berner Dichterpfarrers voran: Am Anfang also Beziehung Am Anfang: Rhythmus Am Anfang: Geselligkeit Und weil Geselligkeit: Wort. Und im Werk, das sie schuf suchte die gesellige Gottheit sich neue Geselligkeiten. Weder Berührungsängste noch hierarchische Attitüden. Eine Gottheit, die vibriert vor Lust, vor Leben. Die überspringen will auf alles, auf alle.20

Wenn man nun – auch aus pragmatischen und empirischen Gründen – damit rechnet, dass Systeme durch die Spiritualität, die in ihnen gelebt wird, mit bestimmt werden, und Spiritualität auf der Rede von Gott basiert, sind

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auch so interpretieren: Der Versuch, Theologie mit einer ins Absolute gesteigerten quasi-objektiven Realität zu treiben, muss scheitern. Vgl. dazu Boeve/Feyaerts, Religious metaphors, 171: „According to the theory of cognitive semantics, […we are asked] to give up GOD as an objective reality that exists with its inherent properties independently of any human understanding, transcendently waiting to be discovered in its essence.“ Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 115. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 116. Marti, gott gerneklein. Das Gedicht ist erschienen abgedruckt bei Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 116.

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theologische Aussagen fundamental wichtig. Vice versa lebt Theologie aus der Spiritualität. Doch weder zementsackschwere Dogmen noch luftigleere Abstraktionen eignen sich, um zur Quelle des Lebens vorzustoßen. Theologische Aussagen über eine Gottheit, die vor Lust und Leben vibriert, sind Poesie und nicht Postulat. Gott erscheint im sprachlichen Konzentrat nicht als Endprodukt einer spekulativen Denkübung, sondern als kreativer Anfang einer Denkbewegung. Gott wird nicht absolut, sondern dynamisch verstanden, als eine Wirklichkeit, die extra nos in intra nos als „Macht in Beziehung“21 erfahrbar wird. Die gesellige Gottheit, die neue Geselligkeiten sucht, verlangt keine Denknotwendigkeit, aber zwingend das Beieinander von Theologie und Spiritualität. In Morgenthalers Modell wird dieser Zusammenhang als eine von vier Dimensionen bedacht.22 Das Beieinander von Theologie und Spiritualität ist nicht spannungsfrei. Es gehört zum Charakteristischen der Theologie, dass sie Religiosität kritisch und selbstkritisch betrachtet. So gilt es auch die Ambivalenz des Religiösen im seelsorglichen Vollzug wahrzunehmen. Nur geschieht dies immer kritisch-konstruktiv auf der Basis der fundamentalen Unterscheidung der Familienreligiosität und des Glaubens, der auf Transzendenz bezogen bleibt.23 In Form weiterführender Fragen wird nicht nur eine nachhaltige Pflege des spirituellen Beziehungsgeflechts angemahnt. Es wird auch nachvollziehbar, wie sehr die Spiritualität und Theologie das systemische Denken inspirieren: Wo und wie verwurzeln sich Seelsorgerinnen und Seelsorger in der dynamischen Wirklichkeit Gottes? Welche ,Geselligkeit‘, welche Formen der Spiritualität pflegen sie? Welche Art der Beziehung zu Gott nehmen sie auf, pflegen sie, lassen sie verkümmern, brechen sie vielleicht ab, um sie nochmals neu einzugehen? Welche Bedeutung hat diese Beziehung zu Gott für ihre Beziehungssysteme, für ihre Koalitionen, Allianzen und Triangulationen? Wie wird von dieser Beziehung her gestaltet, was sie in ihren alltäglichen Beziehungen tun und lassen?24

Wenn auf diesem Hintergrund nach dem tragenden Grund oder aufgrund einer anfänglichen Beziehung nach der treibenden Kraft der Seelsorge gefragt wird, rückt die Trinität als innergöttliches Beziehungsgeschehen ins Blickfeld. Auch da fällt im Kontrast zum abstrakten Modell der ganz andere Zugang und 21 Heyward, Und sie rührte sein Kleid an, 74: „Im Anfang ist die Beziehung, die Bewegung, das Werden. Entwerfen oder anschaulich machen heißt einen Weg finden, um Beziehung auszudrücken.“ 22 Die vier Dimensionen heißen bei Morgenthaler, Systemische Seelsorge: „Problemgeschichten auftauen“ (118 – 125), „Opferkritik und Textkritik“ (126 – 133), „Beziehungsgerechtigkeit oder die ,Re-Konstruktion des Gesetzes‘“(133 – 139) und „Hermeneutik des Verdachts, Spiritualität und die gesellige Gottheit“ (139 – 141) 23 Oder mit der träfen Formulierung, Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 140: „Was uns in unseren Systemen unbedingt angeht, ist nicht deckungsgleich mit Gott.“ 24 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 140.

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Umgang mit dem Theologischen ins Auge. Das Ineinander von Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist wird als Geschichte erzählt. Man könnte in Anknüpfung an Brenneke von der „Mutter aller Geschichten“ reden. Oder in Anschluss an Scharfenberg an den basalen Mythos, der erzählt, warum die Gottheit gesellig ist. Oder man könnte, mit ein wenig Schielen hinüber zur systematischen Theologie, einen schöpferischen und mutigen, ja spielerischen Umgang mit der ökonomischen und perichoretischen Trinität erkennen. Dasselbe gilt für die höchst produktive Applikation der Bundestheologie, die Morgenthaler in reformierter Tradition wagt. Beziehungsgerechtigkeit, wie sie die ,Kontextuelle Therapie‘ anvisiert, wird auf dem Hintergrund eines beziehungsgerechten Gottes noch einmal auf ihre blinden Flecken hin durchleuchtet. Der Bund wird wiederum als Ausdruck einer dynamischen Beziehung interpretiert.25 Das Interesse, Theologie als Quelle vorzustellen, ist mit anderen Worten der Einsicht geschuldet, dass das christlich-jüdische Narrativ Potentiale für ein Reframing birgt. Die Möglichkeit des ultimativen Perspektivenwechsels steht von Anfang im Raum, ein Raum, der durch [die] gute Geschichte[n] neu eröffnet wird. Das bringt mich noch einmal auf den kühnen Satz der Theologie als Quelle systemischen Denkens. Ich finde ihn mutig und nötig in einem Umfeld, in dem der Religiosität nur mit der Hermeneutik des Verdachts begegnet wird. Ich finde ihn auch nötig, in einem Umfeld, in dem der Religiosität oder Spiritualität zuviel zugemutet wird. Eine theologisch fundierte Systemische Seelsorge hat darum gegenüber einer unkritischen Inanspruchnahme des Religiösen ihre Vorbehalte. Der Systemischen Seelsorge wird die konstruktive wie kritische Dynamik zugetraut, die der geisterfüllten und geisterunterscheidenden Rede von Gott eignet. Eben darauf verweist die Quellenmetapher.26 Ein weiteres Merkmal ist das Vertrauen in den Schatz der biblischen Geschichten, das in diesem Ansatz so deutlich aufleuchtet. Geschichten machen Theologie offen und entwicklungsfähig.27 Wenn das Ziel der Seelsorge das Auftauen von Problemgeschichten ist, besteht der therapeutische Weg darin, „Klienten mit den heilenden Geschichten zu koppeln, die uns die Erzähltraditionen des Christentums zu Verfügung stellen“28. Dieses heilende Potential entfalten die biblischen Geschichten gerade nicht, weil sie perfekt oder geschlossen wären, sondern weil in ihnen menschliche Brüchigkeit aufscheint. Das Zerbrechliche wird in eine bestimmte Richtung gelesen: hin auf das Ziel 25 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 136 f. 26 Theologie als „Quelle der Reflexion und kritisch-konstruktivem Denkens“ (116) zu bezeichnen, heißt ihr mehr als nur Begründungsfiguren zuzutrauen. Die Rede von der „Quelle“ übersteigt m. E. auch das Potential, das Held, Systemische Praxis, 194 von Theologie als einem offenen und evolutionären System reden lässt. 27 Vgl. dazu auch das Kapitel „Die Bibel in der Seelsorge“ in: Morgenthaler, Seelsorge, 255 – 267. 28 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 119.

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einer in Christus erneuerten Beziehung.29 Das Zerbrechliche ist kostbar. Es wird nicht zerbrochen, der glimmende Docht nicht ausgelöscht. Eine auf Versöhnung ausgerichtete Interpretation schließt Textkritik nicht aus. Im Lichte einer integralen Gerechtigkeit betrachtet wird auch Destruktives im biblischen Narrativ aufgedeckt und Opferkritik ermöglicht.30 Wer lernt die biblischen Geschichten als Bezugsrahmen der Seelsorge in Familienverbänden zu verstehen, lernt Familiengeschichten realistisch wahrzunehmen, in ihre Abgründe zu schauen und doch Hoffnung zu bewahren.31 Wenn Morgenthaler konstatiert, dass das welterschließende Potential, das biblische Narrationen entfalten können, in der Systemischen Seelsorge methodisch bisher noch wenig ausgeschöpft wurde32, lese ich das als Hinweis auf ein Forschungsdesiderat. Ich kann nur andeuten, in welche Richtung ich ein Weiterdenken lohnend fände. Inspirierend finde ich den Versuch, über den offenen und kreativen Umgang mit Ambivalenzen, dem Phänomen der Abbrüche und den Transformationen von Dichotomien und Brüchen in Ambivalenzen auf die Spur zu kommen. Das Widersprüchliche und Fragmentarische in den Biblischen Geschichten, aber auch das Potential des Ritual, Ambivalenzen zu gestalten, erweitern und vertiefen die methodische Diskussion in Richtung Exegese und Liturgik.33 Eine andere Spur verfolgt Lieven Boeve, katholischer Systematiker in Leuven. Er betont in seinem Konzept des Glaubens als „open narrative“34, dass zur Koppelung die Unterbrechung kommt. Wer nach dem Ende der großen Geschichten Gottvertrauen mit dem Leben (in der Postmoderne) verbinden will, muss bereit sein, die Fremdheit und Andersheit Gottes in den biblischen Geschichten als Chance der Unterbrechung zu verstehen.35 Wird die Geschichte Gottes offen interpretiert, eröffnen sich auch Möglichkeiten der Koppelung mit der fragmentarischen und partikulären eigenen Lebensgeschichte.36 Die Pointe von Boeves Ansatz: Die Hermeneutik der Unterbrechung hat eine theologische Grundlage, insofern Gott, wie er sich als Jesus in Christus offenbart, geschlossene Geschichten öffnet: indem er Unterbrechung verkündigt, Sünden vergibt, Gefangene befreit, Kranke heilt und – in eschatologischer Perspektive – als Verkündigter seit Ostern den Tod unterbricht. Christsein bedeutet, in der Nachfolge Jesu selber, „Unterbrecher“ zu werden.37 Problemgeschichten aufzutauen, ist demnach nicht nur der Auftrag der 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 137. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 131. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 122. Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen, 305. Dietrich, Lscher, Mller, Ambivalenzen. Vgl. Boeve, Interrupting tradition, 96 – 97. Boeve, God interrupts history, 44. Boeve, God interrupts history, 45. Boeve rekurriert auf Johann Baptist Metz. Zur Kategorie der Unterbrechung als Kurzformel für Religion vgl. Kçrtner, Wiederkehr der Religion, 37 f.

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Seelsorge! Mit Boeve kann die Revision und Erneuerung von Lebensgeschichten als Inbegriff und Ausdruck christlicher Existenz angesehen werden.38

3. Im Gespräch mit einer Theologie der Seelsorge Wenn ich nun versuche, die eben skizzierte Sicht in den größeren Kontext der poimenischen Diskussion einzuordnen, würde ich mich schnell verheddern und den Faden verlieren, wenn ich mich nicht radikal beschränkte. Ich will mich deshalb bescheiden und in ein Gespräch mit einer Theologie der Seelsorge eintreten. Es ist Holger Eschmanns bemerkenswerter Versuch, verschiedene seelsorgliche Ansätze auf dem Fundament der trinitarischen Struktur systematisch zu ordnen.39 Vielleicht ist es Zufall, vielleicht auch nicht, aber Eschmanns Theologie schließt mit dem Zitat des Martigedichts, das dem Kapitel in der Systemischen Seelsorge vorangestellt wird. Eschmann geht es darum, mit Hilfe der trinitarischen Struktur die Vielfalt der seelsorglichen Zugänge theologisch zu ordnen.40 Dabei wird Gottes Handeln als Schöpfer mit der therapeutischen Seelsorge, die Seelsorge im Horizont von Offenbarung und Versöhnung mit Christus und der Wandel im Geist bzw. Seelsorger im Horizont der Nachfolge und Heiligung mit dem Heiligen Geist korreliert. Die drei Hypostasen sind die Bezugspunkte der Seelsorgetheorie. Als theologische Rahmentheorie für die Seelsorge eignet sich die Trinitätslehre einerseits durch ihre Bezugnahme auf die christliche Überlieferung und andererseits durch ihre narrative Dimension.41 So gelingt eine Vermittlung der Grundanliegen. Die Dimensionen der christlichen Seelsorge sollen ins rechte Verhältnis zueinander gesetzt werden und dadurch zu einer umfassenden Sicht beitragen.42 Zwar ist Eschmann bestrebt, Kontroversen der Diskussion zu überwinden. Gleichwohl werden die Ansätze nicht harmonisiert. Auch macht er deutlich, dass die gegenseitige Verknüpfung der Dimensionen einander bedürfen, „damit es nicht zu unguten Einseitigkeiten kommt“.43 Eschmann macht die kritische Funktion der trinitarischen Korrelation am Beispiel einer Differenzierung von Schuld, Schuldgefühl und Schuldbewusstsein deutlich. Reale Schuld darf nicht nur therapeutisch gesehen werden, neurotische Schuldgefühle nicht als Schuldbewusstsein traktiert und ein angemessener Umgang mit Schuld soll auch im 38 Boeve, God interrupts history, 46 – 48. 39 Eschmann, Theologie der Seelsorge. 40 Anders Nauer, Seelsorgekonzepte, 439 (Übersicht), die dreissig Seelsorgekonzeptionen nach drei Kategorien ordnet: die theologisch-biblische, theologisch-psychologische und theologisch-soziologische Perspektivendominanz. 41 Eschmann, Theologie der Seelsorge, 30 f. 42 Eschmann, Theologie der Seelsorge, 25. 43 Eschmann, Theologie der Seelsorge, 254.

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Zusammenhang einer verantwortlichen Lebensführung angesprochen werden.44 Die Stärke dieses Systematisierungsversuches ist nicht nur darin zu sehen, dass über ein dogmatisches Denkmodell Verknüpfungs- und Anknüpfmöglichkeiten, die seelsorgliches Handeln theologisch begründen, generiert werden. Die Pointe der Rahmentheorie erschöpft sich auch nicht darin, dass sie einen Rahmen (frame) liefert, sondern wirklich die Quelle ist, aus der auch die kritisch-konstruktive Dynamik (reframing) im seelsorglichen Akt schöpft. Die Unterscheidung der Geister, die Entdämonisierung Gottes und die prophetische Kritik der Götzen – all das hat seinen Grund in der Gottesgeschichte. Wer sich nicht auf sie einlässt und sie nicht an sich heranlässt, treibt weder Theologie noch Seelsorge. Darum mündet auch Eschmanns Seelsorgetheologie in der Verbindung von Spiritualität und Seelsorge: Christliche Spiritualität in der Seelsorge verweist auf den Grund allen Lebens, Liebens und Hoffens. Dabei dient sie in ganzheitlicher Weise der Unterbrechung gnadenloser Denk und Handlungsmuster (Kontemplation) als auch einer engagierten und sinnvollen Gestaltung (Aktion). Und sie vermag selbst da noch Perspektiven aufzuzeigen und Hoffnung zu wecken, wo Menschen die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand genommen sind. Deshalb ist es sicher nicht zuviel gesagt, dass es sich gerade an der Spiritualität entscheiden wird, ob die Seelsorge ,auf dem großen Markt therapeutischer Angebote‘ den Erweis des Geistes und der Kraft (1. Kor 2,4) anzutreten vermag, oder in die Belanglosigkeit absinkt.45

Zu Recht wendet Michael Meyer-Blanck ein, dass mit der zugrundegelegten Struktur der ökonomischen Tradition die Relationalität der immanenten Trinität noch nicht ganz ausgeschöpft sei.46 Er hält aber im Vergleich zum inkarnationstheologischen und christologischen Modell die Vorteile des trinitarischen Modells fest: Das trinitarische Modell hat […] den doppelten Vorteil, dass es Christologie und Ekklesiologie miteinander verbinden und darüber hinaus auch eine Analogie zwischen dem menschlichen und göttlichen Handeln formulieren kann, ohne dass es zu einer Verwechslung kommt. Wenn die Rede der immanenten Trinität der Beziehungshaftigkeit Gottes in sich selbst Ausdruck zu geben sucht, dann verweist diese auf das grundlegende Geschehen in der Seelsorgepraxis, die in der Form der begleitend helfenden Beziehung den Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu den Anderen, zur Welt und zu Gott dienen will. Dabei ist von vornherein klar, dass das Gottsein Gottes zum Menschen in Beziehung tritt, aber davon kategorial unterschieden bleibt. Insofern trägt das trinitarische Modell am stärksten den notwendigen theologischen Unterscheidungen Rechnung, ohne jedoch die theonome Be44 Eschmann, Theologie der Seelsorge, 152 – 190. 45 Eschmann, Theologie der Seelsorge, 252. Zitiert Josuttis, Seelsorge, 84. 46 Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 33.

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ziehungshaftigkeit in der Kommunikation des Evangeliums aus dem Blick zu verlieren.47

4. Spiritualitätstheologische Quellensuche Ausgehend von dieser fundamental-theologischen Orientierung frage ich noch einmal zurück, wie Gott ins System der Seelsorge kommt. Mein Interesse gilt nun den Schnitt- und Anschlussstellen zwischen der Praxis und der Theologie der Seelsorge. In der Zone der Begegnung kommen Theologie als kritisch-produktive Denkbewegung und Spiritualität als existentielle Beziehung zum Transzendenten zueinander.48 Das gehört – mit Meyer-Blanck zu sprechen – zu den theologische Implikationen der Seelsorge. Charakteristisch für diese Praxis ist die Konfrontation mit der Nichtbeherrschbarkeit der dynamischen Wirklichkeit Gottes. Spiritualität und Theologie entfalten ihre Reflexionskraft im System, weil sie Kontingenz begegnen und nicht weil sie sie bewältigen könnten.49 Morgenthaler bringt die Einsicht so auf den Punkt: Gott kommt nicht nur ins System, sondern führt über jedes System hinaus.50 Diese und andere Formulierungen drücken ein Vertrauen gegenüber Gottes Wirken aus, das wiederum auf Unterscheidungen verweist, die in anderen rationalen Systemen nicht wiederholt und durch andere Unterscheidungen nicht eingeholt werden können. Theologische Reflexionskraft, so Morgenthaler, „pocht auf Unterschiede die einen Unterschied machen. Sie legen Wert auf die Differenz von Vorletztem und Letztem, von Gedachtem und umfassend Erfahrenen, von bisher Gültigem und Möglichem, von Gottesbild und Gotteserfahrung.“51 Wie aber hängen Vertrauen und Reflexion zusammen? Hier kommt die Theologie der Spiritualität ins Spiel. Auch sie pocht auf Unterschiede, die einen Unterschied machen. Zwei verdienen Beachtung und nähere Betrachtung: die unterschiedliche Verwendung von Religiosität und Glaubensspiritualität und die Differenz von Ressourcen und Quelle. Zur ersten Unterscheidung: Es gibt es in der religionspsychologischen Forschung – mit der gebotenen Vorsicht gesagt – einen relativ breiten Konsens. Religiosität ist dann eine Ressource, wenn sie intrinsisch motiviert und mit positiven Gottesvorstellungen verbunden ist. Religiosität kann aber auch krank machen, wenn damit negative Emotionen – Angst, Minderwertigkeitsgefühl oder bedrohliche Szenarien verknüpft sind. In einer Heidelberger prospektiven Fallkontrollstudie konnte gezeigt werden, die Religiosität eine 47 Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 33. Vgl. auch Meyer-Blanck, Die Aktualität trinitarischer Rede. 48 Vgl. dazu auch die Grafik in Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 117. 49 Mit Emlein, Die Eigenheiten der Seelsorge, 219 wäre statt vom „Ausschluss“ vom „Einschluss“ der Kontingenz zu reden. 50 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 269. 51 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 269.

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„erhebliche selbständige Rolle in Bezug auf Gesundheit oder Krankheit spielt“.52 Die Forscher unterscheiden zwischen sieben Typen von Religiosität: Passive und aktive Gottgläubige, stark sündenorientierte Gläubige, nominelle Christen, gleichgültige, aggressive und rationale Atheisten.53 Die Ergebnisse der Studien zusammengefasst: Die liebevoll, vergebungsorientierten gottbezogenen Menschen leben bei gleich hohen psychosozialen und physischen Risikofaktoren signifikant länger ohne Ausbruch von chronischen Erkrankungen als die moral- und gesetzesreligiösen Menschen. Rationale Atheisten befinden sich in der Mitte […] Chronische Depressionen sind am höchsten bei rational atheistisch eingestellten Menschen […] Die Ergebnisse zeigen, dass die radikal sünden- und schuldorientierte Religiosität in allen erfassten Punkten sowohl im Vergleich zur intensiven, liebevollen Gottesbeziehung, als auch im Vergleich zu einer atheistischen Einstellung schlechter abschneidet.54

Auf dem Forschungs- und Praxisfeld sehen wir zunehmend die Tendenz, eine Sprachregelung zu übernehmen, die im angelsächsischen Bereich üblich geworden ist. Spiritualität ist hier die idealtypische Vorstellung, dass Menschen die Fähigkeit haben oder entwickeln, auch in der Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit und Endlichkeit ihrer Lebenssituation einen Sinn für die Verbundenheit mit der Mitwelt, Mitmenschen und allenfalls mit Gott oder einem anderen transzendenten Bezug zu bewahren. Anstelle von Religiosität, die maligne und benigne Züge haben kann, wirft eine so verstandene Spiritualität keinen Schatten – und auf sie fällt auch kein Schatten, weil sie zugespitzt formuliert als Ressource – im Bild: die positive Energie – der Religiosität fungiert. Im Bereich der Palliativpflege und -medizin ist es ja schon gang und gäbe nur (!) von spiritual care zu sprechen. Etwas verwirrend ist an dieser Begriffsverwendung, dass Spiritualität religiös sein kann, aber nicht religiös sein muss. Eine allgemeine, anthropologisch fundierte spirituelle Intelligenz, so wird argumentiert, lasse sich auch bei agnostischen Menschen entdecken. Das erkenntnisleitende Interesse, das sich in dieser Verwendung anzeigt, ist offensichtlich: Spiritualität steht für eine religiös neutrale, universale und psychologisch anschließbare Kategorie menschlicher Sinnkonstruktion, die in Grenzsituationen akut und explizit gefragt ist, um belastetes Leben erträglicher oder nur ertragenes Leben erfüllter zu machen. Religion vice versa kann, aber muss nicht spirituell sein, koppelt aber spirituelle Kompetenz immer an ein kulturelles Symbolsystem – an historisch kontingente Mythen, Riten, Gesten und Gestalten. Durch die Entkoppelung wird (scheinbar) der ganze Schutt und Schmutz des religiösen Betriebs, der Stoff, aus dem die bösen Träume sind, also das ganze Pandämonium aus himmlischen, höllischen, teuflischen und tödlichen Verklem52 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 314. 53 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 323 f. 54 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 326 f.

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mungen und damit der ganze Rattenschwanz schlechter Erinnerungen entsorgt. Eine Seelsorge, die Theologie als ihre Quelle nennt, muss hier Einspruch erheben. Das Konstrukt einer quasi reinen und universalen Religiosität, die unverschmutzt von irdischen Allmachtsphantasien quasi über Kulturen und Psychen schwebt und keine Gottesvergiftungen verursacht, darf getrost als Hirngespinst – mit Freud: als Illusion – bezeichnet werden. Das Verfahren, Inhalte von Formen zu abstrahieren und Sprache vom Erleben abzulösen, führt schnurstracks in die Sackgassen spiritualistischer, idealistischer und dualistischer Konzepte. Theologisch ist die Frage nach der natürlichen Religion wieder auf dem Tisch. Dabei geht es weniger um den Gegensatz zu einer [immer nur gedachten] Offenbarung, als vielmehr um die Frage, wie man Religion und Sünde bzw. Kultur und Gnade zusammenzudenken hat – oder für die Seelsorgepraxis gesagt: wie sich Geschichten so koppeln lassen, dass gute Geschichten in verfahrenen biographischen Konstellationen ihre heilsame Wirkung entfalten können. Ohne Narrativ würde Religion abstrakt. Ganz zu schweigen davon, dass Einsichten der psychoanalytischen Schule in die Entstehung der Religiosität in Kultur und die Entwicklung der Psyche wie ihre Verstrickung ins Biographische verloren gehen. Auf den Punkt gebracht: Gegenüber einer Horsol-Spiritualität ist Skepsis angebracht. Darum ist es wichtig, zu differenzieren und auf einer Theologie der Spiritualität zu beharren. Theologisch verstanden verweist Spiritualität auf Differenzen, die religionstheoretisch wie psychologisch relevant sind. Vor allem macht es einen Unterschied, wenn man Glaubensgrund und Glaubensvollzug unterscheidet.55 Quelle verstanden als Glaubensgrund ist nicht identisch mit Ressource verstanden als Glaubensvollzug. Es geht in dieser Differenzierung nicht um Semantik. Die Pragmatik ist entscheidend. Das Bild von den Ressourcen kommt auch im religiösen Sprachspiel vor. Ressourcen können sich erschöpfen.56 Sie sind wie alles Menschliche endlich. Mit den Quellen sind Kräfte, die von außen – extra nos – zufließen, wunderbare Mächte, auf die der angefochtene Mensch hofft, die er aber nicht abrufen, sondern nur anrufen kann, weil sie ihm nicht gehören. anrufungen gott ohnbeginn gott endverbleib gott ruhestark gott odemnah 55 Eine ständig wiederkehrende Forderung bei Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 269. 56 Diese Bedeutung von Ressource wird leicht unterschlagen, wenn der Begriff in der Opposition zu Defizit verwendet wird. Vgl. dazu Morgenthaler, Seelsorge, 94 – 96. Die Entgegensetzung ist für sich gesehen nicht produktiv und wird durch die Immanenz/Transzendenz-Codierung neu konturiert.

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Natürlich kann man auch Spiritualität als menschliche Ressource betrachten und der Seelsorge die Aufgabe zuweisen, Menschen Sinnformen zur Verfügung zu stellen, die individuelle Erfahrung erschließen und zugleich transzendieren.58 Aber im Bild der Ressourcen steckt gewissermaßen der Stachel der Rückfrage: Was speist sie? Woher kommt ihre Kraft? Was nährt sie? Wie entsteht neue Energie? Und natürlich auch: Wer raubt die Lebenskraft? Wohin geht sie? Warum verlässt sie mich? Auch für die, die glauben, dass die Quelle ihrer Spiritualität die Geistesgegenwart ist59 – gerade für sie! – ist die Gefährdung der knappen Ressourcen ein permanentes Thema. Die Bitte um die Erneuerung der Hoffnung ist ein cantus firmus in den Anrufungen. Wenn der Psalmist sich schon bei den Toten sieht oder bis zum Schlund im Schlamm steckt, fragt er : „Woher wird mir Hilfe kommen?“ Am Ende seiner Kräfte ruft er Gott an. Die Anrufung – das Gebet – rückt Gott als Geber guter Gaben ins Blickfeld und erzeugt eine andere, mit der Ressource verwandten Bildbereich: die Quelle.60 Affirmativ gewendet und in Psalm 103,2 – 5 verdichtet: Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der all deine Schuld vergibt und alle deine Krankheiten heilt, der dein Leben aus der Grube erlöst, der dich krönt mit Gnade und Erbarmen, der dich mit Gutem sättigt dein Leben lang. Dem Adler gleich erneuert sich deine Jugend.

Spiritualitätskritik heißt: auch der, der nach der Quelle fragt, stößt an Grenzen. Epistemologisch auf das Problem der Verstehensvoraussetzungen, phänomenologisch auf Eindrücke, Dinge, die wir an uns und ins erleben und die zum Ausdruck drängen, von wo sie wieder – als Sprache – ins Innere dringen und so interpretationsbedürftig und interpretationsfähig werden und lebenspraktisch-existentiell auf die Anfechtung durch Kontingenz.61 Sie muss ausgehalten werden und lässt sich nicht [immer] bewältigen. Spirituell gilt es der Kontingenz zu begegnen. Wo Es war soll Du werden. Denn im Ungewissen

57 Marti, gott gerneklein, 46. 58 So etwa in kritischer Abgrenzung zur beratenden Seelsorge Karle, Chancen der Seelsorge, 63. Karle spricht von Seelsorge als religiöser Kommunikation, weil diese da ihre spezifischen Kompetenzen und Ressourcen hat. 59 Peng-Keller, Theologie der Spiritualität, 29 – 39. 60 Zum Folgenden vgl. Moltmann, Quelle des Lebens, 17 – 32. 61 Zur Anfechtung äußert sich Eschmann, Theologie der Seelsorge, 138 – 143.

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kommt der Mensch von seinen Grenzen zur Quelle und findet zur Gewissheit vor dem Angesicht Gottes.62 Spiritualitätstheologisch wird so die eingangs notierte negative Gotteserkenntnis noch einmal neu artikulierbar – als Bewegung von der Grenze zur Quelle. Um das theologische Anliegen der Quellenreflexion zu verdeutliche, verweise ich auf Simon Peng-Keller, der seinerseits den Ansatz Wilhelm Diltheys in seiner Theologie der Spiritualität aufnimmt.63 Es geht ums Leben – die dynamische Wirklichkeit schlechthin – und um die Differenz zum Lebensgrund, in der sich die Sehnsucht nach der Lebensfülle ausdrückt. In der philosophischen Hermeneutik des Lebens gibt es den Dreischritt von Erleben, Artikulation und Verstehen. Analoges gilt für das Leben Gottes.64 Wir verstehen Gott immer nur als Erfahrung mit der Erfahrung. Da ist die Grenze. Der Glaubensvollzug ist nicht identisch mit dem Glaubensgrund. Aber daran schließt sich auch die Deutung an, die auf Gott vertrauen lässt: „Bei Dir Gott, ist die Quelle des Lebens.“ (Ps 36,10) Wer so argumentiert, stößt an Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses. Man soll auch hier unterscheiden. Man ist an der Grenze noch nicht im religiösen Diskurs. Es geht zunächst nur darum, dass das christliche Leben einen Selbstverständigungsprozess impliziert, den nur Theologie ins interdisziplinäre Gespräch einzuspeisen vermag. Mit Peng-Keller gesprochen: Zum einen deuten und verstehen Christen ihr Leben im Licht ihres Glaubens. Zum anderen deuten und verstehen sie ihren Glauben im Licht von lebensweltlichen Erfahrungs- und Deutungsvollzügen.65

Im Licht des Glaubens interpretiert ist Gottes Geist keine Ressource.66 Gott ist Quelle. Nur so tritt das „Gottsein Gottes zum Menschen in Beziehung und bleibt kategorial unterschieden“67 – zugänglich im Symbol [und Ritual], das hilft, Spender und Speicher auseinander zu halten und die Fundamentaldifferenz von Schöpfer und Geschöpf, die soteriologische Unterscheidung von Erlöser und Sünder und den eschatologische Horizont des kommenden Reiches aufrecht zu erhalten. Eben das meint die Aussage: „Bei Dir, O Gott, ist die Quelle des Lebens.“ Lebensdeutung im Licht des Glaubens insistiert darauf, dass Gottes Geistesgegenwart die Quelle der Spiritualität ist. Sie mündet in der Bitte: „Komm Schöpfer Geist, kehr bei uns ein und lass uns Deine Wohnung sein.“ In der jüdisch-christlichen Tradition kommt zur Anerkennung des Ur62 63 64 65 66

Zur Grundfigur der Vergewisserung vgl. Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 26 f. Peng-Keller, Theologie der Spiritualität, 25 – 28. Vgl. dazu Moltmann, Quelle des Lebens, 49 – 59. Peng-Keller, Theologie der Spiritualität, 28. Anders Morgenthaler, Seelsorge, 96 – 98, der explizit vom „Geist als Ressource“ spricht. Ich ziehe es vor, von Spiritualität als Ressource zu reden und für den Geist die Metapher der Quelle zu reservieren. 67 Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 33.

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sprungs (Doxologie) und zur Bitte um die Einwohnung (Epiklese) die Erinnerung an die Geschichte (Anamnese). Betend kreisen wir um das Geheimnis Gottes (1. Kor 2,1ff). Wenn die Quelle das ist, hinter das man nicht zurückgehen kann, ist die Grenze das, worüber hinaus man nicht denken kann. Wer Ohren hat zu hören, hört in dieser Rede, den Versuch Grenzen- und Quellenreflexion zu kombinieren. Das Denken an Grenzen will der Quelle begegnen. Auch das wäre zu explizieren am biblischen Beispiel: in der Erinnerung an die Geschichte Jesu mit der Frau am Brunnen (Joh 7,38) oder im Lied des Menschensohns, der nicht nach der Gottheit gierte, auf die Geselligkeit verzichtete und das Alleinsein auf sich nahm bis zum Tod am Kreuz, um dann von Gott erhöht, Leben in Fülle und eine neue Geselligkeit zu stiften (Phil 2,5 – 11). Mir ist bewusst, dass ein Insistieren auf der Selbstverständigung der Glaubenshermeneutik schnell in den Verdacht einer religiösen Hermetik gerät. Wer nur den lieben Gott lässt walten, der wird sich im Wissenschaftsdiskurs nicht lange halten. Es wäre aber genauso dumm, um nicht zu sagen fahrlässig, den spirituellen Intelligenzquotienten des Glaubens zu tief zu veranschlagen und Religion nur noch psychologistisch als Ressource zu traktieren. Vor allem aber missachtet man dann die komplexe seelische Regulationsdynamik des Gottvertrauens. Das Religiöse in der Religion fragt wie die Geistesgegenwart in der Spiritualität nach der Ressource in den Ressourcen. Die Antwort ist die Frage nach Gott. Das Unabschließbare kann umschlagen in eine Religionskritik, die sich als Geisterunterscheidung und Geistervertreibung seelsorglich dort bewähren muss, wo Leben – vielleicht auch fromm – eingefroren wurde. Eine Kritik des Religiösen im Lichte des Glaubens wäre aber nicht hinreichend und zu wenig radikal gedacht, wenn sie nur die malignen Funktionen einer fehlgeleiteten Religiosität kritisiert und nicht den religiösen Menschen selbst zum Inhalt hat, der sich vor Gott stellt, wenn er sich Gott vorstellt. Das Unabschließbare der Frage nach Gott schlägt um in Hoffnung, die sich auf den Gott richtet, der sich uns in Christus vorgestellt hat. Zu dieser heilsamen Vorstellung gelangen wir nicht, um dahinter (wieder zu uns) zu kommen. Gott kommt ins System, wenn wir uns in Christus durch den Geist neu sehen.

5. Gottes Seelsorge – ein Lichtstrahl Wer darüber nachdenkt, wie Gott ins System kommt und über jedes System hinausführt, findet in der Trinität eine hilfreiche theologische Systematik. Sie hilft, die Regeln des Nachdenkens zu reflektieren, das an Grenzen stößt, weil es in Gott die Quelle des Lebens sucht. In der Verschränkung der beiden Perspektiven kommt es auch zur Verschränkung unterschiedlicher Hermeneutiken bzw. hermeneutischer Zugänge, die den Weg zur Quelle als Gottes Einfluss auf den Menschen beschreiben. Darum gehört das Nachdenken über den

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rechten Umgang mit der geselligen Gottheit zu den theologischen Implikationen der Seelsorge. Wenn Quelle in diesem Sinne von Ressource unterschieden wird, erinnert das zum Schluss noch einmal an die eingangs zitierte flapsige Bemerkung von Brennecke, Gott sei als Konstruktivist auch so etwas wie die „Mutter aller Ressourcen“. Er meint es zwar nicht ganz Ernst. Aber im Mutterbild steckt cum grano salis etwas von der Idee der dynamischen Realität Gottes, die mit der Quellmetapher angesprochen wird.68 Sie inspiriert mich zur Frage, wie man sich Gott als Seelsorger vorstellen kann. Ist ER der Hirte und wir die Schafe? Eine kritische Poimenik wird sich nicht nur mit der Kritik feministischer Theologinnen und postmodernen Denker auseinandersetzen müssen69, sondern auch nach Wegen suchen, pastoral angemessen von Gott zu reden. Sie wird sich zur dreieinigen Gottheit gesellen und daran erinnern, dass das Bild des Hirten im Geflecht der biblischen Erzählungen nicht nur gehalten, sondern auch geöffnet wird: sei es in der Tröstung Israels durch die Himmel (Jes 40,1 ff.), sei es in der Person des Parakleten, der wie eine Mutter die Freunde Jesu tröstet (Joh 14,26) oder sei es als Geist, der mit unaussprechlichen Seufzern in der leidenden Kreatur das volle Offenbarwerden der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes herbeisehnt (Röm 8). Gottes Seelsorge – ein Lichtstrahl! lichtstrahl immer ist er mit uns zusammen immer ist er von uns getrennt immer ist eine wand zwischen uns und ihm und in der wand eine tür – oft lange verschlossen plötzlich sich öffnend: sein lichtstrahl sein wort70 68 So auch Moltmann, Quelle des Lebens, 42 f., der fragt: „Ist der Heilige Geist unsere göttliche Mutter?“ und freudig mit Ja antwortet: „Das Bild der Familie von Gott Vater, Gott Mutter und Gott dem Kind ist gewiss nur ein Bild für den unabbildbaren Gott. Aber es ist viel besser als das alte patriarchalische Bild von Gott dem Vater mit den zwei Händen, dem Sohn und dem Geist. Dort ist Gott ein einsames, herrschaftliches Subjekt, hier aber ist die Dreieinigkeit eine wunderbare Gemeinschaft. Dort ist das Abbild des dreifaltigen Gottes eine hierarchische Kirche, hier ist das Abbild des dreieinigen Gottes eine Gemeinschaft von Frauen und Männern ohne Privilegien, eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen, von Schwestern und Brüdern.“ Vgl. dazu auch Eschmann, Theologie der Seelsorge, 40 – 44. 69 Ich spiele auf die kreative Aufnahme vom M. Foucaults Kritik der religiösen Pastoralmacht als christlicher Machttechnik in Steinkamp, Seelsorge als Anstiftung zur Selbstsorge. 70 Marti, gott gerneklein, 60.

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Literatur Brenneke, Andreas, Ist Gott ein Konstruktivist? Auf dem Weg zu einer konstruktivistischen Theologie und Pastoralpsychologie, in: A. Götzelmann, (Hg.), Seelsorge systemisch gestalten. Konstruktivistische Konzepte für die Beratungspraxis in Kirche, Diakonie und Caritas, Norderstedt 2008, 59 – 112. Boeve, Lieven/Feyaerts, Kurt, Religious metaphors in a postmodern Culture. Transverse links between apophatical theology and cognitive semantics, in: Dies. (Hg.), Metaphor and god talk, Bern 1999, 153 – 186. – Interrupting tradition: An essay on Christian faith in a postmodern context, Dudley MA 2003. – God interrupts history : Theology in a time of upheaval, New York 2007. Emlein, Gnther, Die Eigenheiten der Seelsorge, in: Familiendynamik 32 (2006), 216 – 239. – Wozu Systeme? Ein Nachdenken über Theorie und ein Blick in die kirchliche Landschaft, in: WzM (2007) 251 – 265. Dietrich, Walter, Lscher Kurt, Mller Christoph (Hg.), Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten, Zürich 2009. Eschmann, Holger, Theologie der Seelsorge. Grundlagen, Konkretionen, Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2000. Held, Peter, Systemische Praxis in der Seelsorge, Mainz 1998. Heyward, Carter, Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986. Josuttis, Manfred, Von der psychotherapeutischen zur energetischen Seelsorge, in: WzM 50 (1998) 71 – 84. Karle, Isolde, Chancen der Seelsorge unter den Bedingungen der Moderne, in: R. Weth (Hg.), Was hat die Kirche heute zu sagen? Auftrag und Freiheit der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 1998, 58 – 65. Marti, Kurt, gott gerneklein. Gedichte, Stuttgart 1995. Meyer-Blanck,Michael, Theologische Implikationen der Seelsorge, in: W. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge, Leipzig 22009, 19 – 33. – Die Aktualität trinitarischer Rede für die Praktische Theologie, in: R. Weth (Hg.), Der lebendige Gott. Auf den Spuren neueren trinitarischen Denkens, NeukirchenVluyn 2005, 129 – 142. Nauer, Doris, Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001. Moltmann, Jrgen, Die Quelle des Lebens. Der Heilige Geist und die Theologie des Lebens, Gütersloh 1997. Morgenthaler, Christoph, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart/Berlin/Köln 22000. – Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, in: W. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge, Leipzig 22009, 292 – 307. – Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie, Bd. 3, Gütersloh 2009.

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Peng-Keller, Simon, Einführung in die Theologie der Spiritualität, Darmstadt 2010. Steinkamp, Hermann, Seelsorge als Anstiftung zur Selbstsorge, Münster 2005.

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Larry Kent Graham

Reciprocal Systemic Transactions in Family Narratives about War : Synchronizing Contending Values in a US Family

1. Introduction In this chapter I link core psychosystemic concepts to narratival processes in a family coming to terms with its experiences of war over four generations. The special focus is on various dynamics in selected reciprocal transactions taking place in and between family, religious, and socio-cultural-political contexts. Linking narrative process to psychosystemic concepts is based upon interviews I conducted with families in the US, Germany, Bosnia-Herzegovina, and, to a lesser extent, Vietnam, from 2007 through 2010. The interviews were designed to explore several facets of families and war. First, I wanted to learn how participation in war is talked about in the family over at least three generations in the life of the family. I wanted to learn what stories, belief systems, events, and persons are central in the family’s conversation about war. Second, I asked about how families talk about war in relation to the religious traditions in which they participate, if any. Muslims, Christians, and Jews were central participants. I also interviewed families with Buddhist backgrounds, mixed families, and families with no religious orientation. Third, I inquired about how families talk about war in relation to their social, ethnic, cultural, and political views. Finally, I wanted to learn how families care for themselves over the generations as a result of the challenges brought into their lives by war. It was also important to learn how they draw upon resources from their faith and national culture for healing, sustaining, and guidance during and after war. Facets three and four will be the focus of this chapter. I will draw heavily on one US family to illustrate how reciprocal transactional dynamics of narratives of family, faith, and nation uncover various patterns of arrangements. These are ambiguous, multi-layered, and contended. They may variously be patterned as congruent, dissonant, or synchronous. These intersecting or „nesting“ narratives are usually held together by a dominating orientating narrative that allows for stability, change, and difference in the family system over time. I am in the process of preparing a longer monograph on my research with families. Some of the materials that appear here are excerpted from that work.

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2. From Psyche to System and Culture Pastoral Theology and Care in the United States and Europe has moved over the last quarter-century from a clinical model of theory and practice which foregrounds individual self-realization, healing, and identity, to communalcontextual and intercultural models which foreground interpersonal, social, cultural, and political relationality as the context for personal and communal care. When understood in psychosystemic terms, these relational dynamics are organized in a myriad of reciprocal interactions within and between persons, families, societies, cultures, ethnic groups and religious traditions.1 In Care of Persons, Care of Worlds: A Psychosystems Approach to Pastoral Care and Counseling, (Abingdon, 1992), I identify four features of systemic thinking: 1) 2) 3) 4)

all elements of the universe are related reciprocally, reality is organized, reality is organized homeostatically, and reality is contextually creative and therefore random and fundamentally unpredictable (pp. 30 f).

Drawing upon process theology, family systems theory, various psychologies of social selfhood, and selected feminist and liberation theologies, I develop a „psychosystemic map“ of the personal-familial-world relationship. The territory mapped in a psychosystemic framework is comprised of interacting structures and connectors between them. The interacting structures, from greatest to least influence, power and value are God, nature, culture, society, personhood, societies of occasions, and actual microscopic occasions of experience (understood roughly in quantum physics terms as events coming into relational being rather than enduring self-contained entitites). If these structures, broadly construed, comprise the range of influences operating in history and nature, the question of their relationship comes to the foreground. I submit that five concepts taken together account for structural connections within and between the various dimensions of the world. First, contextual organization refers to continuity and reliability of systems over time. Second, contextual creativity, sometimes called finite freedom, is the reality of novelty and change emerging in the system and its subsystems over time. Third, bi-polar or di-polar power is the capacity of each and every element in the system to influence on the one hand, and to be influenced on the other. Four, contending values, or the „mutual obstructiveness of things“ recognizes that there is struggle among goods, as well as around what counts

1 The development of multiple paradigms in pastoral theology and care is well-described in Ramsay, Pastoral Care and Counseling.

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for good or evil throughout the system.2 Finally, reciprocal transactions pervade the system, dynamically maintaining, creating, and balancing issues of power, stability, creativity, and values operating in the universe. All of the structures of the universe and all the connecters among them are reciprocally related to one another. Life is an interacting web, or a living human web, in which feedback loops stabilize as well as bring pressure for change and novelty.3 The reader needs to be aware that much of what transpires in a psychosystemically organized universe is outside of awareness: historical truths are inaccessible or hidden, many family secrets creep through the generations, physiological and psychological realities only partially come to light, divine influence is elusive or murky, etc. Thus in trying to gain access to family stories of war, much remains out of reach. Many stories are unnarratable because they are too painful or there is ignorance surrounding them. Some are taboo. There is partial or uneven knowledge of many. There are plain contradictions and distortions in others. Narratival construction is always a contextually creative process, but it also functions to maintain identity and continuity in the family and in the national and cultural milieus giving rise to them. One of the reasons that much stands outside of awareness in family narratives about war is that there are often potentially destabilizing contending agendas and values connected with the family history with of war. There is frequently intractable conflict between narratives about war deriving from family stories, religious beliefs and practices, and national agendas. Thus, tracing reciprocal transactions may be dangerous. Accordingly, narratives that are disclosed may be tentative and suggestive rather than conclusive and replicable. While there may be evidence of temporary synchronies and harmonious configurations of power, contexts, and creativity, because every entity has a different and unique history, the interviewer and caregiver can also assume that in most cases hidden streams of pain and hostility constitute a virulent undertow.4 Moreover, much of the narrative process itself functions to create a set of values that enable families and social systems to empower themselves with a sense of virtue in the aftermath of traumatic challenge and irreplaceable loss. This narratival construction reflects the human process of creating new realities, new knowledge, new identities, and new communities through ongoing collaborative conversation. 2 In this mode of thought, evil is understood as either discord or triviality of experience; good as harmony and intensity of experience. It is measured by consequences in the actual world rather than by conformity to an a priori norm or preset ideal. 3 There is a pictorial display of „A Psychosystemic Map“ in Graham, Care of Persons, 54. 4 Shelly Rambo describes the post-traumatic residue of the „undertow“ of death in life that constitutes an ongoing post-traumatic consciousness. Her theological rearticulation of sensing life while tracking the undertow of death is promising for post-war narratival construction. See Rambo, Spirit and Trauma ,161 – 172.

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In this respect narrative construction is form of contextual creativity. It less a matter of documenting history as it is of bringing history about.5

3. Reciprocal Transactions and Contending Values „Reciprocal transactions are the processes by which influence is exchanged, creativity channeled, power distributed, value communicated, and the system organized.“6 In diagnosing for intervention, the caregiver or systems consultant assesses the level and nature of transactional impasses. Once transactional impasses are identified, strategies for bringing about transactional effectiveness may be developed. Transactional impasses are maintained collusively by all elements in the system. Some marks of transactional impasses are: frozen roles, tangled messages, and disparate rules. These impasses may be expressed in scapegoating, double-binds, triangulation, and hidden or secret histories, rules, roles, and alliances. Transactional effectiveness like transactional impasses requires total system reciprocity. Some marks of transactional effectiveness are: flexible roles, energizing messages, and congruent rules. These may be expressed in interdependence, openness and freedom from secrets, negotiated rules, mutuality and equal-regard, differentiation, and constructive problem solving and conflict management. A transactionally effective system will employ contextually creative processes to negotiate and harmonize sychronistically the contending values operative within the system and between the subsystems. This is a tall order when it comes to large-scale historical cataclysms such as participation in war. A major point of my research was to learn how families negotiate in their transgenerational narrative transactions the contending values about war that they were (and still are) required to negotiate. Given the complexity, hiddenness, and pain surrounding many of these narratives – and the potential distabilization to sharing them with an outsider – I was not surprised to discover unevenness in the stories I was told. What I indeed learned was that family narratives about war are ambiguous, multi-layered, and contended. They may variously be patterned as congruent, dissonant, or synchronous. These intersecting or „nesting“ narratives are usually held together by a dominating orientating narrative that allows the family system to maintain stability, sustain change, and harmonize or contain difference over time. 5 On the narrative and collaborative theory of constructing knowledge and creating reality, see Anderson, “The Heart and Spirit of Collaborative Therapy”. 6 Graham, Care of Persons, 65.

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4. The Boehmer Family : Transactional Patterns of Contending Values7 The Boehmer family has effectively negotiated contending values about war in their transactional dynamics. I interviewed four generations of the Boehmer family in rural Wyoming in the United States.8 Mr. Boehmer was a retired Colonel in the United States Marines. He was a dive bomber pilot in the Pacific theatre during World War II. He was a decorated hero. He reported that his squadron was the first in history to use napalm in war. He was recalled to duty in Korea and Vietnam. He was in his eighties when I interviewed him. Mr. and Mrs. Boehmer died several months apart about a year after the interview. Mr. and Mrs. Boehmer grew up in the same church in the American midwest. They were married after World War II. They wanted to marry during the war, but her father discouraged it. He did not want her to become a war widow. Their religious background is German Lutheran. Mrs. Boehmer prayed daily for Mr. Boehmer’s safe return and for a US victory in war. The orienting religious narrative in their family derived from the concept of the Christian soldier being obedient to the civil authorities and patriotic to one’s country. Mrs. Boehmer said, „We were united in the goal of defeating evil and preserving freedom.“ I asked Colonel Boehmer if he had any moral qualms about using napalm on Japanese soldiers. His reply was, „No. The Japanese soldiers were trying to kill our boys. My role was not to let that happen. Napalm saved American lives. I know it sounds kind of harsh to say it, but it was either them or us.“ I asked him if he bore any hatred or resentment to the Japanese after the war up until now. He said that he did not. After Mr. and Mrs. Boehmer’s death, their daughters found a prayer by a combat marine copied in Mrs. Boehmer’s beautiful handwriting and carried by Mr. Boehmer during the war. The daughters believed that the prayer captured the sentiments of their parents very well. If prayer can be regarded as the window to what persons value the most, this prayer shows the strongest possible congruence of the values between family, faith and nation with respect to war on the part of Mrs. and Colonel Boehmer. The poem is called „A Marine’s Prayer.“ The author is G. E. Lord, Private First Class, United States Marine Corps.

7 This case study and portions of the subsequent analysis have been previously presented at the Society of Pastoral Theology Annual Meeting (Denver, CO, June 2011) as well as in other settings and may appear in the proceedings of that conference, and in my forthcoming book. 8 The research for my project was reapproved by the Institutional Review Board for Research on Human Subjects of the University of Denver on August 10, 2010. The text provided in this chapter was reviewed by the Boehmer family. The names are pseudonyms and identifying information is modified.

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I Dear God, in a world that’s racked with war Let me think of the coming years When the cannon’s core has ceased its roar, And the nations dry their tears. Keep Thou my heart unblasphemed. Give me strength to wait release; And let me live as a man should live In a fight for the God of peace.

II O Father, grant that I may last To build the world again; To know when pestilence is past A brotherhood of men. Bless Thou the aged with Thy light; Protect our troubled youth; And let me fight as a man should fight In a war for the God of Truth

III Thy Will be done, if Thou decree That I shall die afield. But let me go face to the foe – Sustain me, lest I yield. Let no man cry he saw me fly The battle’s agony. And let me die as a man should die In a fight for Liberty.

Mr. and Mrs. Boehmer are the parents of five grown daughters. They have numerous grandchildren and some great grandchildren. While the daughters inherited and were reared in a narrative that constructively fused values of family, faith and nation, some painful and challenging differences in the dominant narrative of war emerged in the family. Colonel Boehmer was recalled to duty during the Vietnam War. His job was to test weapon systems. Two of the daughters opposed the war in Vietnam. In addition, the husband of one of his daughters (June) decided to become a Conscientious Objector. They asked Colonel Boehmer to write a letter to the Draft Board supporting this status. After much soul-searching, Colonel Boehmer decided that he would

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support his son-in-law’s decision, even though it was diametrically opposed to his own religious and political views. I asked him how he felt about writing the letter. He said, through tears, „It was the hardest decision I ever made.“ I asked him why he chose to do it. He said, „For my daughter.“ In that moment his loyalty to June’s welfare exploded his hierarchy of loyalties in relation to his war history and patriotic convictions. Up until this time synchronous narratives of faith and nation organized their family life. Now, his relation to his daughter took ascendency over his national and military narrative. This was a huge step. It had trans-generational impact in disrupting and the overriding or dominant narrative of war orienting the Boehmer family. During my interview with the whole family, this episode surfaced again. His daughter said that they had never directly revisited this event over the years. [Her husband had died suddenly a few years back.] She told her father that she had made a mistake in asking him to write for her husband. „I know that this put you in a bind and I shouldn’t have done that.“ He told her that it was the hardest thing that he had ever done, but he was glad that he could do it for her. There seemed to be mutual appreciation and resolution. They were able nearly a generation later to put to rest some underlying contending values that were not fully articulated or reconciled at the time. Some of the daughters’ protests against the Vietnam War were not known to their parents. Since Vietnam several of the daughters and their husbands have been public activists against violence, oppression, and what they believe to be unjust use of American military power. The parents remained very patriotic and anti-Communist. They believe that it is their patriotic and Christian duty to make sacrifices in war to protect life and to secure freedom and democracy. There have been clear disagreements between the parents and their daughters, but there is continuing diversity in how the narratives and values of family, faith, and nation will be organized and engaged. Colonel and Mrs. Boehmer’s grandchildren have a range of views about war and military service. One of the grandsons [from his daughter whose husband became a Conscientious Objector during the Vietnam War] enlisted in the military and married a military officer. Another grandson from this daughter works for a company that includes a substantial military contracting component. They have been proud to serve their country in this capacity. They are grandsons of a decorated military hero and sons of a documented Conscientious Objector. Another grandson, Nathaniel, was raised by parents who are both Lutheran pastors and who have been strong anti war activists in the Lutheran context. Nathanial is opposed to war, but could conceive of taking up arms for clearly defensive purposes. However he is convinced that none of American’s wars since World War II were defensive wars. He could not conceive of volunteering to serve in the military in these situations. Sam, a grandson from a third daughter, said rather directly to me in the presence of two of his aunts and to his grandparents in the family interview I

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conducted, „I adore my grandfather and grandmother. They are the most loving and generous Christian people I know. I was always proud to go on the Base and see the reverence and honor in which my grandfather was held. But I couldn’t be a follower of Jesus and take another life. I am not critical or judgmental of the choices he made at the time, but I don’t see how I could be involved in the military and be a Christian today.“ A more detailed example of how some of the contending values family have been synchronized in the Boehmer family emerged in my interview with Barbara and Jacob. Barbara and Jacob are Lutheran pastors and Nathaniel’s parents. Barbara and Jacob had decided to become conscientious tax protestors. They withheld some of the tax money that would have gone to the military budget. They wrote letters protesting the high level of military spending. In family discussions Mrs. Boehmer was more upset than Colonel Boehmer about this action. But there were strong disagreements voiced openly. At one point in the conversation with his in-laws, Jacob said, „I am not sure that one can be a Christian and a soldier!“ That exclamation inaugurated a serious reevaluation of values. Jacob reports, „The only thing her Dad said was, ,Well, thanks a lot!‘“ Jacob: „I go, ,Whoops!‘ But that is all he said. ,Well, thanks a lot!‘ He never got bent out of shape. He was just an equanimous person. He never got worked up. But this brought me up short.“ Jacob went on to say, „After that conversation, I got into a lot of meetings sponsored by my Lutheran denomination to help Lutherans who worked in the military and defense industry dialogue with Lutheran peace activists. Lutherans in the defense industry felt that the church was marginalizing them by taking such strong anti-military and anti-nuclear stands in the 80’s. They felt called by God to serve in the military and defense industry. For four years we met at retreats. The first year we just sat and stared at one another. But then some very important relationships and friendships developed. For me this was an incredibly powerful experience. I think the seeds for this experience were in that interchange that her father and I had. I know this man is a Christian. And here I had told him that on a theoretical level that I didn’t know if Christian faith and military service can go together. But I know this man. I know he is a Christian. I had to examine my ideology. I had to open myself up a bit.“

5. Analysis From this account, it is clear that there are multiple orienting narratives and competing legacies in this dedicated Christian family. But there are no transactional impasses, hidden alliances, or emotional cut-offs. They are without doubt a closely bonded group who genuinely enjoy one another’s

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company and respect each other’s commitments, as incompatible as they have been from time to time. Mr. and Mrs. Boehmer are oriented by a narrative in which the norms of faith, family, and nation are congruent and mutually supportive. They regard it to be their Christian duty as citizens to defeat their nation’s enemies in war in order to contain evil and protect freedom. Some of the succeeding generations of the Boehmers have supported this interpretation and carried it forward in their decision to serve in the military or to work for companies who provided resources for controversial military contracts. But others are oriented by a Christian pacifist or non-violent narrative that challenges the dominant Christian patriotism and military service of their parents and grandparents. What makes it possible for the Boehmer family to harmonize contending values and conflicting narratives about war? What makes possible this synchronistic arrangement of disparate and contending values? When I asked in the interview how they held together as a family given these strong differences, June (the widow of the Conscientious Objector) said, „Our Christian faith says we should love and respect one another as family members. It helps us reconcile or live with our differences.“ Barbara added that she had often, wondered how it was that none of the five girls in the Boehmer family were encouraged by their parents to go into the military or government service. She said, „I think that it was because we were such a strong church-going family. We certainly were surrounded by the military in the home. But we heard the Jesus story more than the military story. These stories were side by side, but it seems like the church story was the stronger one, at least for my four sisters and me.“ The Boehmer family provides a rather full picture of how multiple narratives operate within a family, drawing upon faith and nation in disparate ways. But in spite of the clear presence of dissonant orienting narratives in this family, there is a synchronistic meta-narrative derived from their religious faith that enables them to be open about and to respect major differences. This religiously-grounded narrative at times leads to some members to support military service and their nation’s values. At other times, their religious narrative grounds opposition to the nation and war. At yet other times, family loyalty dominates and organizes their transactions about differing values and needs they have with one another. They are not in a power struggle over their differences. Their contending narratives are not a source of rupture in this family. On the contrary, their religious faith provides an orienting legacy that assists them to deeply love one another even when they fundamentally disagree about what their family, faith, and nation may require of them with respect to war.

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6. Conclusion Several other brief conclusions follow from these examples of how reciprocal transactional dynamics create family identity and synchronize family differences and value conflicts. I would suggest that reciprocal transactional effectiveness in negotiating contending values and accommodating disparate family experiences of war leads to the fashioning of a „family hermeneutics“ through which families come to interpret and engage the world. These family hermeneutics become embodied in orienting legacies that carry through the family over the generations. These hermeneutics and legacies organize how families appropriate, challenge, and modify their belief systems and participation in their religious communities. And their hermeneutics and orienting legacies may lead family members to support as well as to challenge decisions about war made by their nations. From this analysis, it would seem that the experience of war over the generations is one of the ways that families gain their particular constitution and self-understanding in the context of their faith, culture, and nation. The reciprocal interplay of events and their interpretation within these intersecting milieus generates the value systems and meaning structures that endure within the family over time. Charles De Gaulle declared that „France was created by the sword.“ It would seem no less true that families too are in large part so created. Second, because of the systemic property of homeostasis (contextual continuity) there is an enduring reciprocity and self-maintaining quality to the transactions of events and meanings within families and between families and their religious, national and historical contexts. Once set in place narratives and orienting legacies persist over time and continue to reproduce themselves in subsequent generations. Finally, though enduring, the transactions between families and their intersecting religious, ethnic, historical, and cultural milieus are also dynamic and unstable. Because of the systemic property of novelty, they may become contextually creative. They may evolve over time and take on a variety of expressions and formulations in the light of novel circumstances faced by new generations. Therefore as generations unfold, orienting family narratives may become more synchronous, dissonant, pluralistic, conflicted, and/or ambiguous. Those seeking to enter the culture of the family as educators and caregivers would do well to be sensitive both to the dominant orienting narratives and legacies, as well to counter-narratives and contending legacies constructing the life of the family.

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References Anderson, Harlene, „The Heart and Spirit of Collaborative Therapy : The Philosophical Stance – ,A Way of Being‘ in Relationship and Conversation.“ Harlene Anderson and Diane Gehart, Collaborative Therapy : Relationships and Conversations that Make a Difference. NY: Routledge, 2007, 43 – 62. Graham, Larry Kent, Care of Persons, Care of Worlds: A Psychosystems Approach to Pastoral Care and Counseling. Nashville, TN: Abingdon Press, 1992. Lord, G. E., „A Marine’s Prayer.“ Poem. No publisher. No date. Rambo, Shelly, Spirit and Trauma: A Theology of Remaining. Louisville, KY: Westminster John Knox Press, 2010. Ramsay, Nancy J. Ed., Pastoral Care and Counseling: Redefining the Paradigms. Nashville, TN: Abingdon Press, 2004.

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Systemische Seelsorge als Aufgabe gesellschaftspolitischer und spiritueller Kommunikation

1. Einleitung Christoph Morgenthaler beginnt die Einführung zu seinen „Impulsen der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis“ von 1999 mit der Schilderung eines Familienmordes durch einen Elektrotechniker. Dieser war Mitglied in Morgenthalers Gemeinde und hatte seine beiden Töchter und seine Frau „mit der Ordonanzwaffe der Schweizer Armee im Schlaf erschossen und anschließend sich selbst gerichtet“.1 Morgenthaler berichtet, dass sich durch diese Erfahrung und seine Reflexionen zu diesem Ereignis sein Verständnis von Seelsorge wandelte: „Ich begann anders wahrzunehmen und zu handeln: mit einer verschärften Sensibilität für Vernetzungen, Abhängigkeiten und die sozialen Dimensionen individuellen Leidens, mit größerer Aufmerksamkeit aber auch für die erstaunlichen Kräfte, die Menschen in ihren Beziehungen entbinden können“.2 Damit begann Morgenthaler, eine individualistisch verengte Sichtweise der Seelsorge zu korrigieren, die auch heute noch Seelsorge oft als dialogisches Gespräch zwischen zwei Menschen und Lebensbegleitung für einzelne Personen definiert. Eine Umsetzung systemischen Denkens in die Seelsorge bedeutete, Familien in ihrer Vielfalt und Wandelbarkeit wahrzunehmen und zu beachten, „dass diese Familiensysteme in weitere Systeme (der Politik, Ökonomie, Kultur und Religion) eingebunden sind und dass sie in intensiver Wechselwirkung mit Subsystemen dieser großen gesellschaftlichen Systeme stehen“.3 Damit schloss sich Morgenthaler den SeelsorgetheoretikerInnen und -praktikerInnen in internationaler Kommunikation an, welche die gesellschaftspolitische Bedeutung der cura animarum aufgriffen und wieder entfalteten. Diese Dimension hat Seelsorge in den Zeugnissen biblischer Schriften und kirchengemeindlicher Entwicklung schon immer in Anspruch genommen, jedoch unter anderem Namen: als Sorge um das Wohl einer sozialen und spirituellen Gemeinschaft in ihren jeweiligen Kontexten größerer Systeme. In meinen Gedanken zur Würdigung der Impulse und Anregungen durch Christoph Morgenthaler möchte ich ein Thema aufgreifen, das aufgrund neuer 1 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 9. 2 Ebd., 10. 3 Ebd., 11.

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Enthüllungen für die katholischen und protestantischen Kirchen, ihre Schulen, Gemeinden und Ausbildungsstätten zu einer öffentlichen Herausforderung geworden ist und daher zu den Pflichtbestandteilen jeder Aus- und Weiterbildung in Seelsorge und Beratung gehört: sexualisierte, physische, psychische und spirituelle Gewalt an Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern in familiären, kirchlichen und beraterischen Systemen.

2. „Über die Betroffenheit hinaus – Verantwortung wahrnehmen für Prävention und Folgen sexuellen Missbrauchs“ Unter dieser Überschrift führte der 33. Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden im Juni 2011 eine Großveranstaltung durch, auf der die von der Bundesrepublik Deutschland berufene Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs, Dr. Christine Bergmann, den Abschlussbericht ihrer Untersuchungen vorstellte. Aufgabe der Unabhängigen Beauftragten war es, neben der Arbeit eines Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich eine Ansprechpartnerin für Betroffene zu sein. Ihre Aufgaben umfassten außerdem „die Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs in Institutionen und in der Familie in der Vergangenheit sowie die Erarbeitung von Empfehlungen für immaterielle und materielle Hilfen für Betroffene durch die Verantwortungsträger für die Bundesregierung und den Runden Tisch“.4 Wichtige Ergebnisse des Berichts waren, dass sich seit Einrichtung dieser Stelle am 9. April 2010 über 2000 Menschen in Briefen und mehr als 11000 Menschen telefonisch meldeten und von erlebter sexualisierter und anderer Gewalt erzählten. Für viele war es das erste Mal in ihrem Leben und manche waren schon über achtzig Jahre alt. Denn eines der effektivsten Werkzeuge von Tätern und Täterinnen in kleineren und größeren Systemen ist es, ihre Taten zu verschleiern und nicht nur ihre Opfer zum Schweigen zu bringen, die meist als Kinder und Jugendliche abhängig und nicht selbstständig genug zum Aussprechen waren; sondern auch die größeren Systeme zum Schweigen und Verschleiern zu bringen oder sich von deren komplizenhaftem Schweigen decken zu lassen. Deshalb wundert es auch nicht, wenn die von der Unabhängigen Beauftragten gestartete Kampagne Sprechen hilft mit dem Leitsatz Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter eine große Wirkung erreichte und viele Schweigsame zum ersten Mal ermutigte, ihren Mund aufzutun und ihrer Seele Freiraum zu schaffen. Ähnliches geschah unmittelbar 4 Bergmann, Zusammenfassung, 4.

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nach der Veröffentlichung des Abschlussberichtes: am gleichen Tag riefen noch einmal 800 Betroffene und Geschädigte die Hotline der Unabhängigen Beauftragten an. Für die Untersuchung wurden nicht nur die Gespräche und Briefe der Geschädigten durch WissenschaftlerInnen ausgewertet, sondern auch andere ExpertInnen einbezogen: PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen, Beratungsstellen, Schulen, Internate und Heime. Als Ergebnis stellte sich unter anderem heraus, dass die Anlaufstelle überwiegend von Frauen (63 %) in Anspruch genommen wurde, überwiegend von Menschen aus den alten Bundesländern und aus städtischen Gebieten mit einer Altersspanne von sechs bis 89 Jahren. Bei 52 % fand der Missbrauch im familiären Umfeld statt, 32 % entfielen auf Institutionen, 9 % auf das weitere Umfeld und nur 7 % auf fremde Täter und Täterinnen. Männer erlebten mehr Missbrauch in Institutionen, Frauen im familiären Umfeld.5 Am häufigsten (zu 63 %) wurden Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen beschrieben. In katholischen Einrichtungen ereigneten sich 45 %, in evangelischen Einrichtungen 14 % der beschriebenen Missbrauchsfälle; bei 4 % der Fälle konnte kein Bezug zu einer bestimmten Konfession hergestellt werden.6 Bei der Verarbeitung der Traumata wurden als hilfreich genannt: Psychotherapie, ärztliche Behandlung und psychiatrische Behandlung, Familie und Angehörige. Dies alles wurde jedoch nicht immer positiv erlebt. Außerdem berufliche, sportliche und kreative Tätigkeiten und Selbstschutzmechanismen. Hinderliche Aspekte waren: fehlende Unterstützung, negative Reaktionen, tabuisierender, unsensibler gesellschaftlicher Umgang, schwierige gesetzliche Rahmenbedingungen, anhaltender Kontakt zu TäterInnen und religiöse Vorstellungen bzw. kirchliche Vorgaben. Themen wie Beratung, Verjährung, Entschädigung, Aufklärung sowie Aus- und Fortbildung wurden am häufigsten angesprochen.7

3. Würde und Würdigung Mich beeindruckt die Arbeit von Christine Bergmann und ich möchte ihr und ihren MitarbeiterInnen meine Würdigung dieses Engagements in den vergangenen Monaten aussprechen. Frau Bergmann und ihr Team haben sich in ein sehr komplexes, belastendes Geflecht von Problemen hineinbegeben, indem sie bereit waren, tausenden von Frauen und Männern aller Altersstufen einen öffentlichen Raum und Zeit zu geben, bisher nicht Gesagtes und nicht Gehörtes auszusprechen, zum Ausdruck zu bringen und ihm Gehör zu ver5 Ebd., 6. 6 Ebd., 7. 7 Ebd., 7.

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schaffen. Der Abschlussbericht bringt wichtige Faktoren zur Sprache. Gleichzeitig ist diese Arbeit natürlich in die Kontroversen zwischen politischen Verfahrensweisen, rechtlichen Grundlagen und Anliegen der Geschädigten, sowie auch den Interessen von Tätern und Täterinnen, Institutionen und Ämtern verstrickt – das zeigt das unterschiedliche Echo auf die Veröffentlichung des Berichtes und das Vorgehen des Runden Tisches. Gleichwohl sind für mich in der Arbeit von Frau Bergmann und ihrem Team wichtige Grundsätze angesprochen, die ich für Prävention und Veränderung der gesellschaftlichen Situation wichtig finde: Gewalt, sei es physische, psychische, spirituelle oder sexuelle muss aufgedeckt, konfrontiert und sanktioniert werden, wenn sie verringert werden soll. Dazu braucht es: eine ZeugInnenschaft, die auf die Betroffenen hört, ihrem Erzählen einen sicheren Raum gibt und ihre Wahrnehmungen anerkennt; Anwälte und Anwältinnen, die sich für die Betroffenen einsetzen, die Mechanismen der Verschleierung, Verschleppung und Umkehrung von Opfern in Täter unterbrechen und für verantwortliches Handeln eintreten; eine Gesellschaft und Gemeinschaft, die aufpasst, die zuhört, die Sicherheit herstellt und angemessene Vorgehensweisen für die Konfrontation von Taten, für Verantwortungsübernahme, für Umkehr, Restitution und alternatives Verhalten entwickelt;

öffentliche Rituale der Anerkennung von Unrecht von Seiten der Kirchen, Schulen und anderer Institutionen. Hier verfügen Kirchen aufgrund ihrer Erfahrung mit Ritualgestaltung und Liturgien über besondere Möglichkeiten.

4. Eigene Erfahrungen Ich selbst habe psychische, physische und sexuelle Grenzüberschreitungen erlebt und weiß um die physischen, seelischen und spirituellen Wirkungen und Langzeitfolgen dieser Erfahrungen. Als ehemalige Gemeindepastorin, Hochschullehrerin, Supervisorin und Seelsorgetrainerin höre ich seit vierzig Jahren den Geschichten von Frauen und Männern zu, die in unterschiedlichen Kulturen von dieser Gewalt betroffen waren. Besonders intensiv war diese Arbeit in den neun Jahren meiner Beratungs- und Lehrtätigkeit in den USA von 1986 bis 1995. Dort wurde damals schon der sexuelle Missbrauch durch Kirchen publik gemacht, konfrontiert und diskutiert. Ich weiß jedoch auch um die andere Seite: die eigene Versuchung, sich auf Beziehungen mit Anvertrauten und Abhängigen einzulassen, wenn die eigene Bedürftigkeit nach Kontakt und Nähe nicht genügend gewürdigt wird. Und die

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Verführung durch einen Kontext, in welchem ein dominantes Wissen von sexueller Freizügigkeit dazu benutzt wird, eigene Privilegien auszuleben. Auch in professionellen protestantischen Seelsorgekreisen und in professionellen therapeutischen und universitären Settings habe ich erlebt und erfahre noch heute, dass Personen in höheren Positionen ihre Autorität nutzen, um sich sexuelle Abhängigkeitsverhältnisse, Privilegien und damit einen Zuwachs ihrer Größenphantasien zu schaffen. In der Benutzung anderer Menschen zur Steigerung des eigenen Selbstwertes und der Größe des eigenen Ich, das dahinter ganz klein, unsicher oder auch traumatisiert ist, sehe ich ein ganz wichtiges Thema narzisstischer Problematik, das bei der Prävention von sexuellem Missbrauch mit Kindern und Jugendlichen viel zu wenig beachtet wird. Hier könnten wir gerade im Bereich kirchlicher Arbeit fragen, ob nicht bei vielen kirchlichen MitarbeiterInnen eine versteckte oder offene narzisstische Problematik hinter ihrer Berufswahl steckt und auch Glaubenspositionen und Theologie in dieser Verstrickung benutzt werden.

5. Traumaforschung Für mich war es wichtig, in den USA neue Ansätze der Traumaforschung und Therapieentwicklung kennenzulernen, vor allem die Arbeit von Judith Herman, Clo Madanes und Peter Levine. Judith Herman hat einen ganz entscheidenden Punkt in der Arbeit mit Gewalt aufgezeigt, nämlich die Macht der Verdrängung und Verschleierung, die sich auch in der Verdrängung der öffentlichen Thematisierung und Forschung widerspiegelt: hatte Sigmund Freud schon um 1900 in den Geschichten seiner Patientinnen gehört, wie viel sexuelle und psychische Gewalt dort von nahen Angehörigen stattfand, so wurde das erschreckende Thema von ihm durch den Druck der gesellschaftlichen Konvention später auf die Ebene der Phantasie verlagert und nicht weiter öffentlich verfolgt. Hier fand schon eine Verdrehung von Tätern und Geschädigten statt. Den Mädchen und Frauen wurden sexuelle Phantasien zugeschrieben, die sie erfüllt haben wollten und auf Vater- oder Mannpersonen richteten. Diese galt es zu bearbeiten und nicht die realen Vorkommnisse der sexualisierten Gewalt, die viele der Klientinnen erlebt hatten. Frauen wurde die Diagnose Hysterie vermehrt zugeordnet, anstatt ihre Symptome als Folgen extremer Belastungen durch nahe Verwandte oder Bekannte der Familie zu erkennen und anzuerkennen. Nichts jedoch ist so schlimm für Betroffene wie die Infragestellung ihrer Wahrnehmung der Realität, das ist auch aus dem Bericht von Frau Bergmann wieder deutlich geworden, und nichts so wichtig, wie das Ernstnehmen der Stimmen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in ihren physischen, psychischen und geistigen Reaktionen. Erst im Zuge der Traumaforschung an Kriegsfolgen wurde Mitte des

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zwanzigsten Jahrhunderts die Bedeutung sexueller Gewalt im Kontext von Familien und Institutionen systematisch thematisiert. Wichtig ist auch Judith Hermans Einfluss bei der Entwicklung der Differential-Diagnose des posttraumatischen Belastungssyndroms und die Unterscheidung von Charakterstörungen, Depressionen etc., und zwar deshalb, weil durch das Wort „Belastung“ deutlich wurde, dass es sich um Folgen einer massiven Zufügung von außen handelt, die nicht in einer Person liegen, sondern von außen hervorgerufen wurden. Die Anerkennung, dass einem Kind, einer Jugendlichen oder Erwachsenen etwas angetan wurde, das nicht der Würde des Lebendigen entspricht, ist eine der wichtigsten Erfahrungen für Betroffene. Deshalb ist es wichtig, in einer Beschreibung des Problems den Ausgangspunkt der Straftat ganz klar zu kennzeichnen, und nicht die Opfer oder Betroffenen zu Tätern und Täterinnen zu verdrehen. Eine weitere Komponente habe ich bei Judith Herman gelernt, und diese wird auch bei den deutschen Traumatherapeutinnen wie Ursula Wirtz und Michaela Huber sehr betont: Die erste wichtige Intervention für Betroffene von sexueller Gewalt ist neben der Anerkennung ihrer Wahrnehmung die Herstellung von Sicherheit, die Achtung ihrer eigenen Kraft und das Einbeziehen ihrer eigenen Ressourcen; sie nicht zu übergehen, wenn Schritte eingeleitet werden; sie nicht wieder einem Ohnmachtserleben auszusetzen, sondern ihr eigenes subjektives Wissen so weit wie möglich zu achten und einzubeziehen. Bei Kindern vor allem für die Sicherheit ihrer physischen, psychischen und spirituellen Integrität zu sorgen.8 An diesem Punkt war es für mich wichtig, die Arbeit der amerikanischen Familientherapeutin Clo Madanes kennenzulernen, die ein spezielles Programm in der Arbeit mit Tätern und Betroffenen sexueller Gewalt entwickelt hat.9 Interessanterweise nimmt sie darin biblische Muster des Umganges mit Tätern auf. Ganz wichtig ist die Aufdeckung der Taten, das Offenlegen der Fakten für alle Beteiligten, sei es in der Familie oder in einem anderen System. An diesem Punkt liegt sicher ein großes Verschulden beider großer Kirchen, dass sie in ihrem Interesse, die kirchlichen Ämter und das kirchliche Ansehen zu schützen, viele Taten an Kindern, Jugendlichen, Frauen und anderen Abhängigen verschleiert haben. Weitere Schritte, die bei Madanes wichtig sind: Bekennen – Übernahme der Verantwortung, Niederknien vor dem Opfer, um die Verantwortung und Reue deutlich zu machen, und die Würdigung der betroffenen geschädigten Person; zum Ausdruck bringen der Reue und Umkehr und Bereitsein zur Restitution, zum Handeln im Sinne der Geschädigten. Wichtig ist auch für die Geschädigten, dass ihre Integrität geachtet wird. Die Verletzung dieser Integrität sieht Madanes auch als spirituelles Problem an.

8 Herman, Narben. 9 Madanes, Sex.

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6. Der Zusammenhang von Trauma, Opferung anderer, Theologie, Gottesvorstellung Hier ist für mich auch eine theologische Fragestellung wichtig. Wenn z. B. in der Sühnopfertheologie, die erst später entwickelt wurde, von Gott als dem allmächtigen Vater gesprochen wird, der seinen einzigen, eingeborenen unschuldigen Sohn in den Tod gibt, damit wir sündige Menschen von unseren Sünden erlöst werden, dann kann diese Art von Sprache, die unsere gottesdienstlichen Liturgien durchzieht, missverstanden werden. Hier kann die Symbolik der Opferung des einzigen, unschuldigen Sohnes Gottes zu einer unbewussten Rechtfertigung von Kindesopferung durch Eltern genutzt werden (die amerikanische Theologin Rita Nakashima-Brock spricht von kosmischem Kindesmissbrauch). Es wird deutlich, welche Macht Sprache und Symbolsysteme in unserem Denken und Glauben haben. Die trinitarische Sicht Gottes legt nämlich ein ganz anderes Verstehen nahe: Gott als Inbegriff von Liebe gibt nicht einen anderen hin, sondern gibt sich selbst hinein in die Welt und dieses liebende Hineingeben bewirkt Erlösung. In diesem Sinn hat auch der Anthropologe und Religionswissenschaftler Ren Girard ganz klar gemacht: die Bibel rechtfertigt kein Fremdopfer, im Gegenteil, sie konfrontiert die Opferung anderer für die Privilegien bestimmter Menschen, wie bei David, der mit dem Opfern des Ehemannes von Bathseba konfrontiert und öffentlich bloßgestellt wird.10 Im Namen Gottes sind keine Fremdopfer gerechtfertigt, sondern nur die Liebe, das Sich Selbst Hineingeben, das Sich Hingeben – für etwas oder für andere.

7. Schuld und reife Vergebung Wichtig ist auch, dass Vergebung nur freiwillig von Seiten der Geschädigten und auch nur als reifer Prozess angesprochen werden sollte. Deshalb ist gegenüber Geschädigten auch die Wortwahl um Vergebung oder Verzeihung bitten nicht angebracht, sondern: Ich übernehme die Verantwortung für mein Handeln. Ich sehe ein und bereue, dass ich an Dir Unrecht getan habe. In christlichen Kreisen wird leider oft der Ruf nach Vergebung dazu benutzt, um das Opfer zu diskreditieren, wenn es nicht bereit ist, zu vergeben.

10 Girard, Das Heilige und die Gewalt.

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8. Konzepte für die Arbeit mit TäterInnen – Gewalt beginnt im Kopf und in den Mustern des Lernens dominanten Wissens Täter und Täterinnen werden auch nur in ihrer Würde wahrgenommen, wenn sie mit ihrem Handeln und ihrer Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft konfrontiert werden und nicht, wenn sie gedeckt werden. Die Würdigung des subjektiven Wissens auch von TäterInnen ist eine wichtige Komponente heutiger Therapiekonzepte, die gleichzeitig mit der klaren Konfrontierung des gewalttätigen und verschleiernden Handelns neue Anfänge möglich macht. Grenzüberschreitungen, physische, psychische, spirituelle und sexuelle Gewalt können nur stattfinden, solange sie in einer Gesellschaft geduldet, verschleiert, übergangen werden. Das sehen wir jetzt auch am Wachsen der Gewalt rechtsradikaler Jugendlicher. Grenzüberschreitungen und Missbrauch können weniger ausgeübt werden, wenn sie als schwere Delikte und Störungen des Gemeinschaftslebens angesehen und klar sanktioniert und konfrontiert werden. Gewalt und sexuelle Ausbeutung ist, wenn sie sein darf. Es gibt Gesellschaften, in denen Gewalt sofort konfrontiert wird, wenn sie geschieht. Dort findet auch weniger Gewalt statt. Kinder, Frauen und alte Menschen sind sicherer. Sexuelle Gewalt ist daher, das hat die Frauenbewegung schon von Anfang an klar gestellt, ein Thema einseitiger Machtausübung, einseitigen Kontrollverhaltens und asymmetrischer Privilegien und nicht in erster Linie ein Thema sexueller oder erotischer Bedürfnisse.

9. Gesellschaftliche Strukturen Die Entwicklung neuer Gesetze in Bezug auf Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, sexuelle Ausbeutung etc. zeigt, dass mit verändertem Rechtsverständnis einer Gesellschaft auch die Sicherheit unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen wachsen kann. Daher sind veränderte Praktiken in der Art der Strafbarkeit, der Anzeigenpflicht, der Verantwortlichkeiten, des Strafmaßes bzw. der Maßnahmen wichtig. Dies kann am Beispiel der USA oder auch Neuseelands und Australiens aufgezeigt werden, wo Tätern und Täterinnen, die sexuelle, psychische oder physische Gewalt üben, nicht nur Gefängnisstrafen drohen, sondern auch Auflagen für Therapiemaßnahmen möglich sind. Hierfür wurden sehr effektive Therapieansätze für die Arbeit mit Tätern und Täterinnen entwickelt.11 Ein wichtiger Impuls neuer therapeutischer Ansätze für geschädigte Kinder und Jugendliche und auch für Täter und Täterinnen kommt aus den Heiltraditionen indigener Völker. So werden bei11 Vgl. Jenkins, Invitations.

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spielsweise bei den Maori in Neuseeland nicht nur staatliche Ressourcen einbezogen, sondern auch konstruktive Ressourcen aus den eigenen Familien, Nachbarschaften oder Berufsgruppen, also aus der Gemeinschaft des normalen Zusammenlebens von Menschen. Hier sind natürlich gemeindliche oder spirituelle Gemeinschaften ebenfalls von großer Bedeutung. Es ist deshalb nicht nur wichtig, angemessene und professionell gute Therapien für Traumatisierte und Täter mitsamt ihren Systemen zu entwickeln, sondern auch das ganze Umfeld, die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern, innerhalb derer solches Handeln hervorgerufen und über Generationen weitergegeben wird.

10. Mehrgenerationales Wissen, Lernen und Therapieansätze: Gewalt entsteht in den Mustern des Denkens und Handelns, die Kinder lernen Warum werden Opfer/Geschädigte oft zu Tätern und Täterinnen? Die Komplexität des Problems wird in dieser Frage deutlich. Die Bibel spricht schon immer von der mehrgenerationalen Wirkung von Taten: die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne davon stumpf (Ez 18,2). Der Prophet Hesekiel zeigt aber einen anderen Weg auf, den er im Willen Gottes lokalisiert: wer sich entscheidet, dem Herzen zu folgen und nicht den Missetaten der Vorfahren anzuhängen, der oder die soll die Freiheit haben, einen neuen Weg zu gehen (Ez 18,14 – 17). In psychoanalytischer Therapie und in systemischen Ansätzen der Familientherapie sowie in der Traumaarbeit sind die Zusammenhänge von Gewalt und Verletzung über Generationen erforscht und beschrieben worden. Wir sind oft mehr von den Mustern des Denkens, Glaubens und Handelns unserer Großeltern bestimmt als von denen der direkten Generation vor uns. Außerdem spielen ungelöste Konflikte und Traumatisierungen vorhergehender Generationen eine große Rolle in der Enkelgeneration. In Deutschland, Europa und der ganzen Welt sind so viele Erfahrungen von Gewalt seit Jahrzehnten (Erster und Zweiter Weltkrieg, Diktaturen) und Jahrhunderten übereinander geschichtet wirksam, dass es nicht wundert, wenn überall junge Menschen aufstehen und auch mittels Gewalt die Aussichtslosigkeit ihres Lebens beenden wollen. Hier spielt auch das Phänomen der Introjektion von Täteranteilen eine große Rolle. In uns allen stecken Anteile der Gewalt und der Angst, die wir selbst erlebt haben, da wir auch mit Tätern und Täterinnen innerlich oft verbunden sind – sie sind Mütter und Väter, oder Freunde und LehrerInnen, so wie es bei den missbrauchten SchülerInnen der katholischen Internate und anderer Einrichtungen der Fall war und ist. Deshalb ist es wichtig, dass in Beratungen, Therapien und Begleitungen

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mehrgenerational gedacht und der Komplexität entsprechend gearbeitet wird. Hier hat Michaela Huber in Deutschland die entscheidenden Lehrbücher verfasst,12 ebenso wie Luise Reddemann mit ihrem ressourcenorientierten Ansatz.13 Peter Levine hat in seinem Aufgreifen neurobiologischer Ansätze deutlich gemacht, dass ein Einfrieren der Traumatisierungserfahrung der schwierigste Ausgangspunkt ist. Eingefrorene Bilder, Erlebnisse, Körperreaktionen müssen deshalb wieder verflüssigt, in Bewegung gebracht werden. Dazu jedoch bedarf es einer speziellen Achtsamkeit für die Körperreaktionen und eines speziellen Trainings für Traumatherapie.14

11. Ansätze politisch bewusster Seelsorge und Beratung Die ersten Ansätze der Auseinandersetzung mit Gewalt, Wissen und Macht im kirchlichen und theologischen Bereich kamen aus den Freiheitsbewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in den amerikanischen Ländern und Europa. Sowohl afro-amerikanische Frauen und Männer als auch Menschen mit hispanischen Wurzeln haben als Minderheiten in den USA begonnen, für ihre Befreiung zu kämpfen. Es folgten Frauen, Schwule und Lesben, später auch Männergruppierungen wie Männer gegen Männergewalt. In diesem Kampf wurden immer drei Richtungen einseitiger Machtausübung durch Wissen und Ausbeutung benannt: Klassismus als ökonomische Macht, Rassismus als Ausschließen von Diversität und Herstellen von Ausgrenzung, Benachteiligung und Sexismus als Ausbeutung und Abwertung von Mädchen und Frauen. Hier sind feministische, mujeristische und womanistische Theologie in den USA bahnbrechend geworden und ebenso wie feministische Familientherapie eine wichtige Kompetenzgrundlage für die Seelsorgeausbildung. Rachel T. Hare-Mustin meint, dass feministische Theorie eine alternative Konstruktion der Wirklichkeit anzubieten hat, die durch eine unterschiedliche Optik entsteht: „Der Feminismus ist futuristisch, indem er für soziale Veränderung und Veränderung in Frauen und Männern eintritt. Feministinnen sind über die Familie besorgt, wie die Familie der primäre Nutznießer und Fokus der Arbeit der Frau ist und gleichzeitig die Quelle der fundamentalsten Identität der Frau, nämlich der, Mutter zu sein […]. Feministinnen sehen die sozial konstruierten Rollenunterschiede zwischen den Geschlechtern als Basis weiblicher Unterdrückung“.15 Die Einflüsse der Befreiungsbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts 12 13 14 15

Huber, Traumabehandlung. Reddemann, Imagination. Levine, Trauma-Heilung. Hare-Mustin, Making a Difference, 61.

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haben für einzelne Frauen und Männer, für Kinder und anders Begabte, für alte Menschen, für Familien und für postmoderne und post-koloniale große Systeme sehr viele Veränderungen gebracht. Im Bereich der Seelsorge und Beratung ist das Erlernen von Kompetenzen, der Diversität von Lebensformen und Kontexten in Theorie und Praxis gerecht zu werden, für die meisten Fachverbände und Ausbildungsstätten zur Grundlage geworden. Jedoch fehlen in vielen europäischen Institutionen im Unterschied zu solchen in den USA ein klarer ethischer Code und Ethikkommissionen, die für die Bearbeitung sexualisierter oder psychischer und spiritueller Gewalt und Ausbeutung Abhängiger hilfreich und zuständig sind. Hier sollten auch Universitäten und kirchliche Beratungsstellen viel klarer Position beziehen, die grundlegenden Werte ihrer Arbeit auch öffentlich deutlich machen und Netzwerke der Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen der sozialen, therapeutischen und rechtlichen Systeme schaffen. Ein Modell für eine zweijährige Weiterbildung in systemischer Beratung und Seelsorge habe ich mit einem Team von LehrtherapeutInnen und TheologInnen am Wissenschaftlichen Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der Evangelischen Hochschule in Dresden aufgebaut und seit zehn Jahren erfolgreich durchgeführt. In diesen Kursen und Supervisionen für SozialarbeiterInnen, PädagogInnen, kirchliche MitarbeiterInnen, PfarrerInnen und andere legen wir bewusst einen Schwerpunkt auf interkulturelle und gender-bewusste Perspektiven. Wir führen in die Probleme und Möglichkeiten der Arbeit mit Traumatisierten und TäterInnen ein und zeigen Wege der vernetzten Arbeit mit anderen Systemen auf: RichterInnen, TherapeutInnen, Ämter, politische Gremien. Die eigene biografische Entwicklung wird mehrgenerational reflektiert und auch im Zusammenhang mit Gesetzen, der Konzeption der eigenen Arbeitsstelle und der Verantwortung des eigenen Arbeitsauftrages reflektiert. Spirituelle und religiöse Fragestellungen und Ressourcen werden in jedem Kurs durch Lieder, Tänze, Meditationen und Rituale vermittelt und entwickelt.

12. Appell zur psychosozialen Lage in Deutschland: Seelsorge als gesellschaftliche Aufgabe Zum Abschluss möchte ich auf einen Appell hinweisen, der aus einer der großen psychotherapeutischen Fachkliniken für Arbeit mit Trauma und psychosomatischen Problemen in Deutschland kommt, der Fachklinik Heiligenfeld. Die Fachklinik gründet ihr Konzept ganz bewusst auf spirituelle Grundlagen, auf Stärkung der Gemeinschaft der PatientInnen und MitarbeiterInnen und hat bewusst eine Klinik für Kinder, Jugendliche und ihre Familien gegründet, weil immer mehr junge Menschen erkranken.

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Ursula Riedel-Pfäfflin

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Die Klinik schreibt in einem aktuellen Aufruf: Wir sind Fachleute, die Verantwortung für die Behandlung seelischer Erkrankungen und den Umgang mit psychosozialem Leid in unserer Gesellschaft tragen. […] Circa 30 % der Bevölkerung leiden innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung. […] Psychische Erkrankungen und Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen nehmen kontinuierlich zu. […] Angesichts der vorherrschenden gesellschaftlichen Orientierung an materiellen und äußeren Werten werden die Bedeutung des Subjektiven, der inneren Werte und der Sinnverbundenheit dramatisch unterschätzt. […] Wir benötigen einen neuen Ansatz zur Prävention, der sich auf die grundlegenden Kompetenzen zur Lebensführung, zur Bewältigung von Veränderungen und Krisen und zur Entwicklung von tragfähigen und erfüllenden Beziehungen konzentriert. […] Wir benötigen ein politisches Handeln, das bei seinen Entscheidungen die Auswirkungen auf das subjektive Erleben und die psychosozialen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen reflektiert und berücksichtigt. Wir benötigen mehr Herz für die Menschen.16

Ich füge hinzu: Wir brauchen eine Gesellschaft, in der Berührung und Berührbarkeit eingebettet sind in Würdigung alles Lebendigen und in der auch die Grenzen allen Lebens und aller Menschlichkeit eingebettet sind in Vertrauen, Zugehörigkeit und Achtung vor der Quelle allen Lebens. Seelsorge ist nicht nur Begleitung von Personen, sondern eine eminent politische Aufgabe. Darin stimme ich Christoph Morgenthaler zu und würdige seine Arbeit für die Einführung systemischer Ansätze in Seelsorge und Beratung.

Literatur Bergmann, Christine, Zusammenfassung des Abschlussberichts der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Berlin 2011. Galuska, Joachim u. a., Aufruf zur psychosozialen Lage in Deutschland, Bad Kissingen 2010, online verfügbar unter : http://www.psychosoziale-lage.de. Girard, Ren, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt am Main 1994. Hare-Mustin, Rachel T., Making a Difference. Psychology and the Construction of Gender, New Haven/London 1990. Herman, Judith L., Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, München 1994. Huber, Michaela, Wege der Traumabehandlung, Paderborn 42009. Jenkins, Alan, Invitations to Responsibility. The Therapeutic Engagement of Men who are Violent and Abusive, Adelaide 1990. Levine, Peter A., Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren. Essen 1998. 16 Galuska u. a., Aufruf , o.S.

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Systemische Seelsorge als Aufgabe

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Madanes, Clo, Sex, Liebe und Gewalt. Therapeutische Strategien zur Veränderung, Heidelberg 1997. Morgenthaler, Christoph, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 1999. Reddemann, Luise, Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Stuttgart 42001.

Weiterführende Literatur Gnter, Michael, Gewalt entsteht im Kopf, Stuttgart 2011. Morgenthaler, Christoph/Schibler, Gina, Religiös-existentielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart 2002. Riedel-Pffflin, Ursula/Strecker, Julia, Flügel für alle. Feministische Seelsorge und Beratung. Konzeption – Methoden – Biographien, Münster 2011. Smith Jr., Archie/Riedel-Pffflin, Ursula, Siblings by Choice. Race, Gender and Violence, St. Louis 2004.

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Jürgen Ziemer

Christliche Seelsorge im Kontext „forcierter Säkularität“

Seelsorge stellt eine sehr intime und zugleich ganz offene Kommunikationsform dar. Sie bietet die Möglichkeit, über etwas zu sprechen, für das oft die Sprache fehlt: den persönlichen Glauben und den Zweifel, den Trost und die abgründige Verzweiflung, die verborgenen Sehnsüchte und die bittere Enttäuschung an sich selbst, an anderen, an Gott, über Schuld und Hoffnung, Leiden und Versöhnung. Und gerade indem sie diese Möglichkeit darstellt, über die wirklichen existentiellen Fragen in ein vertrauensvolles Gespräch zu kommen, ist sie geeignet, die weltanschaulich-konfessionellen Grenzen zu überschreiten: denn es geht hier um wahrhaft menschliche Fragen, die jeden betreffen. Wie Seelsorge im Konkreten aussieht: welches setting gewählt, welche Sprache gesprochen wird, welche inhaltlichen Schwerpunkte sich ergeben – das hängt einmal natürlich von den situativen Gegebenheiten ab, in denen sich ein suchender oder problembeladener Mensch vorfindet. Systemische Seelsorgeansätze, wie sie Christoph Morgenthaler1 vertritt und paradigmatisch ausgearbeitet hat, sind besonders sensibel für die Wahrnehmung der Interdependenzen zwischen der Person und ihren Einbindungen in die Lebenswelt, in das Familiensystem. Das ist für die Seelsorgepraxis von eminenter Bedeutung. Aber auch die größeren gesellschaftlichen Kontexte – der Kulturraum, die soziale Ordnung – spielen eine ebenso wichtige Rolle, selbst wenn diese das Lebensgefühl und die existentiellen Entscheidungen der Individuen oft mehr indirekt und vermittelt beeinflussen. Unsere Frage lautet: Wie ist christliche Seelsorge als konfessionelle Grenzen überschreitende Kommunikation in einem weithin entkirchlichten und, wie wir sehen werden, auch religionslosen Kontext sinnvoll und möglich? Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch, Seelsorge von einem säkularen Kontext her zu denken, wie er sich gegenwärtig speziell in Ostdeutschland zeigt. Dabei kann ich einerseits meinen Auftrag als Christ und Theologe nicht sistieren und muss mir doch zugleich darüber im Klaren sein: Eine auf diesen Kontext hin konzipierte Seelsorge kann nicht exklusiv 1 Es erübrigt sich, die einschlägigen Bücher des Jubilars zu zitieren, sie sind bekannt! Statt dessen von dieser Stelle herzlich Gratulation und gute Wünsche für genussreiche, erfüllte und gesegnete Jahre!

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auf ein christliches Lebenskonzept ausgerichtet sein. Es geht vielmehr um Wegsuche, Trost und Rat auf dem Hintergrund der Wahrnehmungen von Lebenssituationen und persönlicher Begleitung in konkreten Konfliktphasen. Seelsorge bedeutet: mit dem Einzelnen herauszufinden, was jetzt für ihn wichtig ist, woran er/sie sich ausrichten und festhalten könne. Man könnte hier von einer eher weltlichen Form von Seelsorge sprechen. Aber Gemeindeseelsorge und weltliche Seelsorge sind keine alternativen Konzepte, eher komplementäre Zugangsweisen.2 Ohne bekennende, betende, diakonische Gemeinde gibt es die eine so wenig wie die andere. Aber eine lebendige christliche Gemeinde wird, nicht zuletzt um ihrer selbst willen, für eine Seelsorge Verantwortung tragen, die sich Anderen zuwendet, ohne sie konfessionell zu vereinnahmen.

1. Konturen des säkularen Kontextes am Beispiel Ostdeutschlands Ohne Zweifel ist der erste Schritt für eine Seelsorge im säkularen Kontext die genaue und kritische Wahrnehmung dieser Situation. Ich wähle dafür den ostdeutschen Kontext, in dem ich lebe und arbeite – hoffend dass darin genügend Exemplarisches steckt, das ihn auch für etwas andere Situationen interessant macht.

1.1 Die ernüchternde Sprache der Zahlen: ein religionsloses Land Auf den ersten Blick mag man es nicht glauben. Kommt man als Fremder in eine ostdeutsche Großstadt, sagen wir nach Leipzig, so scheint man in eine durch die christliche Kultur eindeutig geprägte Metropole zu kommen. Die großen christlichen, meist evangelischen Kirchen bestimmen das Stadtbild im Zentrum wie auch in den Außenbezirken. Eine nicht übersehbare Anzahl von diakonischen und kirchlichen Einrichtungen – Krankenhäuser, Kindergärten, Sozialstationen, Pflegeinrichtungen – sind in das soziale Versorgungsnetz integriert. Im Bildungsbereich spielen konfessionell geprägte Schulen eine wichtige Rolle, an der Universität besteht eine relativ große Theologische Fakultät. Und nicht zuletzt das kulturelle Leben der Stadt wird zu einem beachtlichen Teil mit getragen durch kirchliche Veranstaltungen, vor allem kirchenmusikalischer Natur. Das ist die eine Seite. 2 Für den Zusammenhang der geistlichen und säkularen Aspekte von Seelsorge auf dem Hintergrund einer praktisch-theologischen Freud-Rezeption vgl. Bernet, Seelsorge, 135: „Gott muss genannt werden, damit der Einzelne genannt bleibt, und Seelsorge weltliche, säkulare Seelsorge wird.“ Was die „Nennung Gottes“ methodisch bedeutet, will Bernet offen lassen. Da kann auch sprechen, was formell ungesagt bleibt.

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Die andere: Von den ca. 500000 Einwohnern der Stadt gehören etwa 60000 zur Evangelischen Kirche, das sind zwölf Prozent, dazu kommen dann etwa 20000 Katholiken, also vier Prozent und noch einmal vielleicht eine gleich große Anzahl verschiedener Freikirchen. Rechnet man dann noch die hier nicht sehr zahlreichen Angehörigen anderer Religionen hinzu, kommt man auf eine Zahl von zwanzig Prozent religiös gebundener Einwohner in der Stadt. Vier Fünftel der Leipziger sind, sagen wir es erst einmal ganz vorsichtig: konfessionslos. Diese Relationen sind für Ostdeutschland typisch und liegen nur wenig unter dem Durchschnitt. Natürlich existieren beachtenswerte regionale Unterschiede, aber im Ganzen vermitteln die Leipziger Zahlen ein repräsentatives Bild der religiösen Situation für diesen Teil Deutschlands. Alle Erwartungen, dass sich nach der politischen Wende von 1989/90 die Verhältnisse zugunsten der christlichen Kirchen entscheidend wandeln würden, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: der in DDR-Zeiten kontinuierliche Säkularisierungsprozess hat sich danach weiter fortgesetzt. Das hat nahe liegende demographische Gründe; denn nach vierzig Jahren sozialistischer Herrschaft ist eine Elterngeneration herangewachsen, die jeden persönlichen Kontakt zu Kirche und Religion verloren hatte. Dazu kommt, dass tendenziell Austrittswillige 1990 angesichts drohender Kirchesteuerzahlungen und vielleicht auch wegen Enttäuschung an den Kirchen nun endgültig austraten.3 Zur Einordnung und Bewertung der Daten sind noch zwei Beobachtungen vorwiegend religionssoziologischer Natur von besonderer Bedeutung:Trotz des historischen Hintergrunds sind die Entwicklungen der Säkularisierung in Ostdeutschland wohl in dieser Heftigkeit, aber doch in der Tendenz kein isoliertes Phänomen. Auch in den alten deutschen Bundesländern ist eine kontinuierliche Zunahme der Kirchenaustritte zu beobachten, freilich auf einem viel geringeren Niveau als im Osten.4 Michael N. Ebertz hat in einer vergleichenden Studie darüber hinaus deutlich gemacht, dass die Säkularisierung inzwischen ein europäisches Phänomen geworden ist, gewiss bei erheblichen Unterschieden von Land zu Land.5 Die Tatsache, dass in den letzten Jahren in unseren europäischen Gesellschaften – etwa infolge leidvoller Erfahrungen mit religiösem Fundamentalismus – wieder mehr über Religion debattiert wird, kann keineswegs als ein Anzeichen für eine „Rückkehr der Religion“ gewertet werden. Eine vom Erzbistum Köln in Auftrag gegebene religionspsychologische Studie über Menschen, die ohne Gott leben, kommt u. a. zu der Feststellung: „Für eine enorm gewachsene Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft ist Gott offenbar kein Thema 3 Zahlen und Daten zum Säkularisierungsprozess stehen inzwischen in reichem Maße zur Verfügung. Genannt seien: Pollack/Mller, Religiöse Entwicklung; Pickel, Atheistischer Osten; Pickel, Religiosität. 4 Im Deutschland West: 16,5 % Konfessionslose, in Ost: 74 %, vgl. Pickel, Atheistischer Osten, 45 ff. 5 Ebertz, Säkularisierung; vgl. Pickel, Religiosität, 477 ff.

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[…]“.6 Das ist deutlich und bezieht sich keineswegs nur auf den Osten Deutschlands! In Ostdeutschland muss nun auch die spezifische Qualität der „Konfessionslosigkeit“ beachtet werden. Wer austritt, hat schon einen langen Prozess der Entfernung von jeglicher Art persönlicher Kirchenbindung hinter sich. Er wendet sich in der Regel auch nicht irgendwelchen anderen Formen von Religiosität zu, und sei es im Bereich von Esoterik und alternativer Spiritualität. Selbst Lebenskonzepte einer rein subjektiven Religiosität – nach dem Motto: „Ich habe meinen Glauben in mir selbst, dazu brauche ich keine Kirche“ – sind selten. In einer zunehmend religionslosen Lebensumwelt und Gesellschaft entwickeln sich auch Formen individualisierender Religiosität viel schwerer. Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland ist, religionssoziologisch betrachtet, weithin Religionslosigkeit.7 Der Glaube ist bei vielen, so sagen sie jedenfalls, kein Thema. Vielleicht erklärt gerade dieser Tatbestand, dass es vielen nichtreligiösen Menschen im Osten gar nicht so schwer fällt, sich in eine Kirche zu setzen und einer Bachkantate mit starken Glaubenstexten ganz ergriffen zu lauschen. Sie empfinden dabei meist keinen Druck, sich mit ihrer inneren Kirchenferne auseinandersetzen zu müssen. Hier zeigt sich im Grunde ein Paradoxon, das für die Situation bemerkenswert ist: Wer mit der Religion „fertig“ ist, kann an ihr wieder auch relativ gelassen partizipieren.

1.2 Säkularität als familiales Traditionsgut – Kommunikation ostdeutscher Religionslosigkeit Gert Pickel hat in seiner vergleichenden Untersuchung zur Religiosität festgestellt, dass nirgendwo die „Diskrepanz zwischen Ost- und Westdeutschland so deutlich“ sei „wie bei der Weitergabe religiöser und damit überwiegend christlicher Traditionen“.8 Diese Beobachtung des Religionssoziologen wird schon durch die aufmerksame Beobachtung der Verhaltensweisen bestätigt. Um das vielleicht auffälligste Beispiel dafür anzuführen: Es sind nach wie vor die gleichen Familien wie zur DDR-Zeit, in denen die Jugendlichen entweder zur Konfirmation gehen oder zur Jugendweihe. Zwar ist die letztere längst von ihren sozialistisch-ideologischen Inhalten befreit, gleichwohl ist sie Ausdruck einer klar nichtreligiösen Einstellung der Familie, ebenso wie es dies auch bei denen ist, die überhaupt auf eine Jugendfeier verzichten. Dabei ist es so, dass genau so wie in christlichen Familien die Religiosität von Generation zu Generation vermittelt wird, dies bei Konfessionslosen auch geschieht. In Ostdeutschland wird im Normalfall Religionslosigkeit in den Familien weiter6 Murken (Hg.), Ohne Gott leben. 7 Vgl. Pickel, Religiosität, 451 ff. 8 Pickel, Religiosität, 462.

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vermittelt. Natürlich gibt es in dieser oder jener Familie auch einmal Abweichungen von der Regel, aber im Ganzen ist der Befund eindeutig. Das wird nun bestätigt und empirisch untersetzt durch eine gründliche qualitative Untersuchung, die Monika Wohlrab-Sahr mit einer Forschungsgruppe an der Universität Leipzig durchgeführt hat.9 In dieser Studie werden Familien-Interviews ausgewertet, bei denen in der Regel jeweils drei Generationen beteiligt waren. Es zeigte sich, dass gerade im Blick auf religiöses oder nichtreligiöses Verhalten die generationellen Differenzen oft weniger ins Gewicht fielen als die familiale Einheit (144 f). Nur selten geschieht es, dass einmal einer oder eine ganz aus der Familientradition aussteigen. Zu beobachten sind eher Prozesse der Identifikation mit der Kirche oder der Ablösung von ihr, die dann in der Familie ihre Ausprägung und Bestätigung erfuhren. Eine typische Sequenz von einem Vater, der später ziemlich staatsnah engagiert war : Irgendwann bin ich nachher, ja weiß, hab’ ich eigentlich nicht mehr so richtig, na ja, das hat sich verloren, und, und, und bei uns war keiner, der so christlich war und, und irgendwann bin ich dann aus der Kirche ausgetreten. (141)

Interessanterweise studiert der Sohn aus dieser Familie nach 1990 Sinologie und Religionswissenschaft, aus Interesse, aber ohne persönliche Konsequenzen. Er bleibt in der elterlichen Kirchen-Distanz. (166) Eine andere Familie, in der der Vater noch getauft war, beschreibt den geistigen Traditionsprozess, in dem Religiöses bald nicht mehr vorkommt so: Ich glaube auch, das hat mit, hat auch wiederum mit Familie zu tun, also wenn man, wenn man sozusagen andere etwas tun sieht…, die man liebt… dann übernimmt man da vielleicht mehr fraglos, als man’s in ’nem Konfliktverhältnis tun würde. (107)

Die eigentliche Frage, die hinter der Studie steht, lautet: wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass der zunächst doch staatlicherseits erzwungene Bruch mit der Kirche so nachhaltig wirksam blieb auch in dem Moment, wo dieser Druck so nicht mehr existierte. In vielen Interviews wird deutlich, dass die Abwendung von der Religion, damit zu tun hatte, dass man die beruflichen Aufstiegschancen nicht gefährden, den Kindern den Weg in die höheren Bildungseinrichtungen nicht verbauen wollte. Staat und Partei passten eben nicht zusammen mit Kirche und Glauben. Im Grunde waren es oft ganz opportunistische Entscheidungen, die zum Kirchenaustritt führten. Das wird aber kaum je so gesagt, statt dessen werden Argumente wie etwa die Theodizeefrage: weil Der Gott doch nicht hilft (142) – das schuldhafte Verhalten der Kirche in der Vergangenheit: dass unter dem Mantel der Kirche so viel Unrecht geschehen ist (157) – oder das naturwissenschaftliche Weltbild: Also zum Kommunisten bin ich trotzdem nicht geworden, aber zum Atheisten (150) – 9 Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität. Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch.

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o. ä. angeführt. Damit wird die Religionslosigkeit argumentativ gefestigt und für den neuen nachsozialistischen und pluralistischen Kontext manifestiert. Die Autoren sprechen angesichts der massiven Kirchaustrittsbewegungen in der Zeit sozialistischer Herrschaft von forcierter Säkularität. Die Abwendung von religiösen Verhaltensweisen wurde vom sozialistischen Staat vierzig Jahre hindurch massiv unterstützt und forciert. Bemerkenswert ist nun aber, dass die Systemveränderungen von 1989/90 von den Bewohnern der ehemaligen DDR tatsächlich vielfältige Veränderungs- und Anpassungsleistungen verlangt haben, die auch erbracht wurden; aber eine Modifikation der religiösen Einstellung gehörte offensichtlich nicht dazu. Das aber lässt sich am ehesten so erklären, dass Menschen in der DDR mehrheitlich zwar nicht ganz freiwillig aus den Kirchen austraten, aber dass sie sich die Einstellung der Religionslosigkeit dann im Laufe der Zeit zunehmend subjektiv aneigneten. Das Erzwungene und Forcierte wurde zum Eigenen. Das konnte so kommen, weil bei vielen Menschen in der ostdeutschen, mehrheitlich protestantischen Landschaft die Kirchenbindung schon zu Beginn der aggressiv antikirchlichen sozialistischen Religionspolitik nicht sonderlich stabil und widerstandsfähig war. Im Ergebnis wurde so aus „obrigkeitlicher Religionspolitik ein säkularer Habitus“ (17), eben der Habitus „forcierter Säkularität“ (195). Diesen Habitus der Säkularität könnte man auch als eine Form religiöser Gleichgültigkeit bezeichnen. Religion ist einfach nicht wichtig. Es entfällt bei vielen in der mittleren und jüngeren Generation das Bedürfnis, sich für die Abwendung von der Kirche erklären oder gar entschuldigen zu müssen, wie es einem bei den Älteren immer noch mal begegnet. Unter den Jüngeren zumal gibt es kaum noch einen streitbaren Atheismus oder bewusst antikirchliche Affekte.10 Religionslosigkeit ist das Normale, die Lebensform der numerischen Mehrheit! Man gibt sie im familialen Traditionsprozess weiter wie ehedem den christlichen Glauben. Die Chancen, diesen Prozess aufzuhalten oder gar umzukehren, sind äußerst gering. Dazu wäre eine wahrhaft tief greifende Erweckungsbewegung notwendig! Eine gewisse Störung in dem einheitlichen Bild breitflächiger Religionslosigkeit in Ostdeutschland bilden Aussagen der jüngsten, in der Leipziger Studie befragten Jahrgänge (18 – 29 Jährige). Hier ist ein verstärktes Interesse für religiöse Fragen im weitesten Sinne zu beobachten. Da gibt es eine Offenheit für esoterische Praktiken, für spekulative Ideen zum Leben nach dem Tod und zu Reinkarnationsvorstellungen, Mythen und Utopien mit religiösen Konnotationen. Aber man wird den Autoren der Studie zustimmen müssen, 10 Das schließt nicht aus, dass in Ostdeutschland immer einmal wieder massive antikirchliche Ressentiments an die Oberfläche kommen, vor allem von der älteren Generation. In Leipzig war das zuletzt besonders auffällig, als es um den Nachfolgebau der 1968 auf staatliche Weisung gesprengten Universitätskirche ging. Vgl. dazu Ratzmann, Universitätsaula; Schmidt-Lux, Kirchenkampf.

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wenn sie betonen, dass etwa die „größere Zustimmung zu transzendenzbezogenen Fragen“ eher „als experimentelle Denkbewegung denn als wirkliches Bekenntnis zu einem Leben nach dem Tod oder gar – im christlichen Sinne – zur Auferstehung“ hier gegeben wäre. Trotz „dieser religiösen Suchbewegungen“ habe die „Mehrheit der Jugendlichen an der ostdeutschen Säkularität selbstverständlichen Anteil“.11

1.3 Werteinstellungen in der postsozialistischen Gesellschaft – jenseits von Religion und Atheismus Die Leipziger Studie beschäftigt sich auch mit der Frage, was denn nun in dem familialen Überlieferungsprozess an die Stelle der traditionellen christlichen Glaubensgüter getreten ist. Allein die Religionslosigkeit und Kirchenkritik kann es ja nicht sein. Es muss doch erwartet werden, dass es irgendwelche Transzendenzbezüge gibt, die den Wegfall religiöser Praxis kompensieren würden. Bei Einigen mag an die Stelle von Religion eine Art Wissenschaftsglauben getreten sein, bei anderen handelt es sich eher um eine gewisse „agnostische Spiritualität“, die sich nicht nur gegen das Christentum, sondern auch von den fragwürdigen Eindeutigkeiten eines DDRspezifischen Vulgäratheismus abgrenzt.12 Für eine Mehrheit von ehemaligen DDR-Bürgern, die sich von der Kirche getrennt haben, dürfte persönlich sehr wertbestimmend sein, was in der Leipziger Studie als „mittlere Transzendenzen“ interpretiert wird: Arbeit, Ehrlichkeit und Gemeinschaft. Diese drei Werte werden oft mit dem Leben in der DDR verbunden. Es sind Elemente „kollektiver Sinnstiftung“, deren Fehlen in der Gegenwart beklagt und gleichzeitig in idealisierender Weise dem gesellschaftlichen Leben in der DDR zugeschrieben werden. Es sind „mittlere Transzendenzen“ im Sinne Thomas Luckmanns, also „Formen der Transzendierung, die über die individuell bedeutsame Sphäre der Familie hinausgehen, aber gleichwohl nicht religiöser Art sind“.13 So werden in vielen Äußerungen die Ideale gemeinschaftlichen Lebens jetzt – angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung, der Erfahrungen von Konkurrenz und Abwertung – besonders beschworen: Wir haben früher alle im Garten gesessen. Ja, haben miteinander gegrillt. Der Rechtsanwalt neben dem Kranfahrer und das war überhaupt kein Ding, ne? […] Alle Türen waren offen alle. Jeder hat von dem andere das Auto geborgt […]. (271) 11 Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität, 27 f. Details zu den Sichtweisen der jüngsten Generation ebenda 225 – 261 12 Vgl. Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität, 223 ff. 13 Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität, 266.

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Das hat es gegeben. Wie typisch es war, ist eine andere Frage. Dass es jetzt so erinnert wird, sagt über das Heute mindestens soviel wie über das „Früher“. Da kommt dann auch die Tugend der Ehrlichkeit ins Spiel, die angesichts des schonungslosen Wettbewerbs in der Nachwendegesellschaft immer mehr zur Disposition steht. So jedenfalls wird es empfunden: „Man muss heute viel härter sein.“ (280) Die ganze Familie ist sich einig, dass sie es so nicht will. Keiner von ihnen ist der „Typ, der andere über den Tisch zieht“, heißt es in einem Gespräch, aber man ist sich auch einig: „Des ist unser Problem“ und zugleich „Des is’ unsere religiöse Anschauung. Weltanschauung.“ „Wir sind eben so.“ (281) Den obersten Rang unter den mittleren Transzendenzen aber nimmt die Arbeit ein. Die Verunsicherungen an diesem Punkt durch Arbeitsplatzverlust, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Frühverrentung usw. gehört zu den schlimmsten Krisenerfahrungen Ostdeutscher nach der Wende. Dazu passt die Idealisierung der DDR als Arbeitsgesellschaft, in der jeder seinen Arbeitsplatz sicher hatte. Viele fühlen sich nun als Opfer der kapitalistischen Verhältnisse: „durch’s Raster jefalln“. (287) „Also für mich ist das Erschreckende, dass achtzig Prozent der Bevölkerung in den Industriestaaten nicht gebraucht werden […] man braucht nur noch zwanzig Prozent, und die achtzig müssen durchgefüttert werden. Also die Würde hängt doch dran. Die Selbstbestimmung.“ (289 f)

Arbeit, Ehrlichkeit, Gemeinschaft – das sind für Ostdeutsche die nicht mehr religiös sind (aber oft auch für die Religiösen) entscheidende Werte, ja ihre „religiöse Anschauung“, wie es paradoxerweise heißt. Diese Werte garantieren ein sinnvolles Leben. Aus meiner eigenen Erfahrung als Seelsorger im Krankenhaus sowohl vor wie nach der Wende kann ich nur bestätigen, dass in Gesprächen mit nichtkirchlichen Patienten in Ostdeutschland diese Leitwerte oft eine große Rolle spielten, bis in die letzte Phase eines menschlichen Lebens hinein. Immer seine Arbeit getan zu haben – das vor allem Anderen ist ein hoher sinngebender Faktor in der eigenen Lebensbilanz.

2. Säkularität angemessen wahrnehmen – Herausforderungen für das Konzept christlicher Seelsorge Eine Konzeptualisierung von Seelsorge, die sich vorrangig auf innergemeindliche Kommunikationsvorgänge konzentrierte, kann ihrem Auftrag kaum gerecht werden. Trotz des Minoritätenstatus sieht sich die evangelische Kirche in Ostdeutschland in einer volkskirchlichen Tradition, und sie ist darin in gegebenen Grenzen wirksam und akzeptiert. Kirche steht mitten in der

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Gesellschaft und möchte auch dort fruchtbar und hilfreich von denen erfahren werden könne, die ihr bewusst und dauerhaft nicht angehören wollen. Was bedeutet das für christliche Seelsorge bei den Menschen in unserer Gesellschaft, die mit überlieferten Inhalten, ihren Ritualen und spezifischen Möglichkeiten von Hilfe, Rat und Trost oft nur noch wenig anfangen können?14

2.1 Religionslosigkeit respektieren Grundvoraussetzung für jede Art von seelsorglicher Kommunikation in unserem Kontext wäre: die Selbstentscheidung der Menschen gegen die Kirchenzugehörigkeit zu respektieren. Das bedeutet: Wir sollten Menschen, die sich als nicht christlich oder nicht religiös bezeichnen, diese Selbstzuschreibung nicht streitig machen wollen. Derartige Versuche haben zweifellos etwas Verführerisches an sich. Vielleicht widerspricht es schon unserer mehr oder weniger bewussten Religionstheorie, wonach doch letztlich alle Menschen „irgendwie religiös“ seien. Und dann entdecken wir möglicherweise auch ein paar Indizien für religiöses Verhalten – eine religiöse Floskel, ein rituelle Gewohnheit, Anzeichen existentieller Ungewissheiten, Religionssubstitute unterschiedlichster Art o. ä. Mag sich später im intensiveren Gespräch manches an religiösen „Resten“ und an persönlichen weltanschaulichen Fragen herauskristallisieren, für den Anfang ist es von Bedeutung, die selbst zugeschriebene Religionslosigkeit weder modifizieren noch kommentieren zu wollen. Wenn jemand zu mir sagt: „Herr Pfarrer, damit Sie es gleich wissen, ich glaube nicht an Gott!“ – dann nehme ich es so, wie er es sagt. Dazu gehört auch, darauf zu achten, dass wir Menschen ohne kirchliche und religiöse Bindung nicht unehrenhafte Motive für ihre Einstellung unterstellen. Schnell stellt sich der Verdacht ein: die wollten doch bloß die Kirchensteuer sparen. Bequemlichkeit, Geiz, Oberflächlichkeit – indem wir anderen für ihre Entscheidung solche Motive unterstellen, relativieren und entwerten wir nicht nur ihre nichtreligiöse Position, sondern auch ihre Person selbst. Unredliche Motive (Trägheit, Konfliktvermeidung, Rücksicht auf Eltern usw.) könnte es ja übrigens auch beim Verbleib in der Kirche geben. Wie dem auch sei: offene oder auch nur angedeutete Unterstellung von fragwürdigen Beweggründen verhindern, dass eine fruchtbare menschliche oder gar seelsorgliche Beziehung auch nur im Ansatz entstehen kann. Grundvoraussetzung für die Wertschätzung einer Person ist auch die Respektierung ihrer Entscheidungen und ihrer Motive.

14 Vgl. dazu Ziemer, Seelsorge.

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2.2. Religionslosigkeit verstehen Womit haben wir es eigentlich zu tun, wenn wir von Religionslosigkeit sprechen? Religionslosigkeit – ein problematischer Mangelbegriff Es fällt auf, dass wir von denen, die nicht mehr zur Kirche, aber auch zu keiner anderen religiösen Denomination gehören, immer nur in Negationen sprechen: Es sind Konfessions-lose, Religions-lose, Gott-lose, Dissidenten, Randständige, Nicht-gläubige usw. Wir definieren hier die geistige und spirituelle Einstellung von Personen durch das, was ihnen (aus unserer Sicht) fehlt. Selbst der Begriff A-theist oder A-gnostiker definiert, sprachlich gesehen, einen Mangel. Dabei ist immer noch vorausgesetzt, dass Kirchlichkeit und Religiosität zu den Normfaktoren menschlicher Existenz gehören. Bei zwanzig Prozent Bevölkerungsanteil in Ostdeutschland kann es da schon Fragen ergeben. Problematisch ist die Mangeldiagnose, weil sie leicht dazu führt, in eine Position der Herablassung zu geraten. Hinter der Rede von den Religionslosen können sich fromme Abschätzigkeit oder klerikale Arroganz verbergen: Die armen Gottlosen! In jedem Fall bleibt eine Zuschreibung des Eigenen als etwas Defizitärem anthropologisch und ethisch höchst unbefriedigend, und sie ist, soviel vorweg, auch seelsorglich kontraproduktiv.

Profile der Religionslosigkeit Freilich ist es schwer, einen Begriff zu finden, der die Religionslosen unserer Gesellschaft positiv und intentional äquivalent charakterisiert. Als Vertreter einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ mit atheistischer Ausprägung werden sich nur wenige verstehen. Das war wohl das Ziel sozialistischer Erziehung und Ausbildung in der DDR. Aber im Sinne einer wirklich tragenden weltanschaulichen Grundausrichtung hat sich das doch nur eine Minderheit angeeignet. Allerdings scheinen sich gegenwärtig ausgesprochen atheistisch geprägte Initiativen unterschiedlicher Provenienz deutlicher und aggressiver zu profilieren.15 Da werden auch Synergieeffekte nicht ausbleiben. 15 Murken, Ohne Gott leben, 252 f weist darauf hin, dass die gegenwärtig aggressiven Äußerungen eines kämpferischen Atheismus (vgl. etwa die Bücher von Dawkins, Hitchens u. a.) in den Medien als eine Art „Befreiungsschlag“ verstanden werden müssen, da viele Nichtgläubige in der (west)deutschen Gesellschaft „wie Aussätzige“ angesehen würden.

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Die Mehrheit der Religionslosen in Ostdeutschland wird man aber eher als an Religion nicht Interessierte bezeichnen können: Religion? Kein Thema! Aber damit sind wir schon wieder nahe am Pejorativ! Paul Zulehner spricht im Anschluss an eine Düsseldorfer Studie von den „unbekümmerte(n) Alltagspragmatiker(n)“16. Darunter kann man sich etwas vorstellen, es klingt auch nicht so abwertend. Aber es ist natürlich auch wieder eine relativ große Schublade und trifft nur auf eine bestimmte Gruppierung der großen Masse religionsferner Menschen in der ostdeutschen Gesellschaft zu. Dazwischen gibt es religionslose Gruppen, die irgendwo dazwischen stehen: religiös Interessierte, Alternativreligiöse, Transzendenzgläubige. Das sind alle Menschen, die in kein Schema passen. Zu ihnen gehören auch die, die in der Leipziger Studie als Anhänger einer „agnostischen Spiritualität“17 charakterisiert werden: bei vagem Transzendenzbezug – „Wir wollen uns das offen halten“ –, nicht im herkömmliche Sinne religiös, aber auch abgestoßen durch einen allzu vordergründigen Alltagsatheismus.18

„Jede(r) ein Sonderfall“ von Religionslosigkeit Für Seelsorge sind Typologien und Gruppendefinitionen von sehr begrenzter Bedeutung. Es ist in Ostdeutschland ein bisschen wie – einer bekannten Studie gemäß – in der Schweiz: Jeder „Religionslose“ (wie jeder Religiöse) ist ein Sonderfall19, eine eigengeprägte Persönlichkeit. Die Typisierung als „religionslos“ ist problematisch, wenn Menschen so in eine „Schublade“ gesteckt werden. Unter den „Religionslosen“ sind viele, die sich wohl von der Kirche, aber nicht von christlichen Werten verabschiedet haben. Sie leben mit offenen, ungesicherten, unabgeschlossenen Lebenskonzepten, unter ihnen sind manche, die sich eher als Suchende beschreiben würden. Wir sollten die Selbstzuschreibung akzeptieren, aber nicht versuchen, Andere als religionslos zu „definieren“. Für die seelsorgliche Einstellung ist das wichtig. Es gilt herauszuhören, was jeder einzelne für sich mit seiner Religionslosigkeit meint, wo er Orientierung findet und wo er an Grenzen stößt. Christoph Morgenthaler weist mehrfach auf die „Ambivalenz“ der Religiosität hin – als „Konfliktherd und Ressource“20. So kann aber auch die eigene Religionslosigkeit erfahren werden, beruhigend und beunruhigend zugleich, Identität sichernd und zugleich defizitär. Auch hier gilt bei jeder 16 Zulehner, GottesSehnsucht, 11. 17 Vgl. Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität, 223 f. 18 Vgl. auch die Typologie bei Jçrns, Gesichter Gottes, 56ff: „Gottgläubige, Unentschiedene, Transzendenzgläubige, Atheisten“. Stärker differenziert Pickel, Konfessionslose, 229 – 232. 19 Dubach/Campiche (Hg.), Jede(r) ein Sonderfall. 20 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 76 – 95.

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einzelnen Person zu fragen: welches sind meine „Ressourcen“ und wo bringt mich, was ich für maßgebend erachte, an Grenzen. Seelsorgliche Einstellung zu „Religionslosen“ bewegt sich genau in dieser Spannung von Akzeptanz und Wertschätzung auf der einen, Aufmerksamkeit und Empathie für die Einzelnen auf der anderen Seite. Das müssen wir nun noch ein wenig konkretisieren.

3. Religionslosen begegnen – Herausforderungen für seelsorgliche Praxis Wir waren von der These ausgegangen, dass im Angebot christlicher Seelsorge Chancen stecken, den verlorenen Kontakt zu Kirche und Glauben wieder herzustellen, oder vorsichtiger gesagt, wieder ein Band der Kommunikation zu knüpfen. Dabei geht es nicht um Anwerbung für eine Gemeinde oder Revision der Entscheidung gegen die Kirchenmitgliedschaft. Er geht, kirchlich-theologisch gesehen, um die Frage, ob sich die lebensstärkenden, befreienden, richtungweisenden Inhalte des Evangeliums auch in einem säkularen Kontext vermitteln lassen. Seelsorge – qualitativ angemessen und persönlich glaubwürdig angeboten – scheint mir eine der wichtigsten Präsensformen des Christentums in der säkularisierten Gesellschaft, wie wir sie in Ostdeutschland haben, zu sein.

3.1 Zugänge ermöglichen – offene Kirche Viele, die sich – wie bewusst und aus welchen Gründen auch immer – von Christentum und Religion abgewandt haben, ist es gerade die Institution Kirche selbst, die einmal den Schritt in die Religionslosigkeit begründet oder nachträglich immer wieder bekräftigt hat. Auf der bereits erwähnten Website www.ohne-gott.de ist die Kirche „ein machtvoller, ja übermächtiger, bürokratischer Apparat, der mit hilflosen, dummen, zu eigenem Denken unfähigen Untertanen zu tun hat“.21 Als Mitglied oder Mitarbeiter einer großen Kirche mag man verzweifeln über eine solche Einschätzung, aber es ist so, und manches lässt sich ja auch gut verstehen. Die Kirche im Ganzen ist nicht anziehend, aber man darf die Kirchenkritik auch nicht überbewerten. Entscheidend ist: wie kann Seelsorge Menschen außerhalb der Kirche begegnen, ohne sie mit deren problematisch empfundenen Seiten zu konfrontieren? Drei Formen von Seelsorge seien hier genannt: Erstens: Aufsuchende Seelsorge. Das ist immer ein Aspekt von Gemeinde21 Hçbsch/Riedel, Ohne Gott leben, 22.

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arbeit gewesen: sich aufzumachen an die Orte, an denen Menschen in Not geraten sind, wo sie leiden, wo sie sich abgeschoben fühlen: Krankenhaus, Pflegeeinrichtung, Gefängnis, Unfallort. Manchmal haben wir diesen Aspekt der Seelsorge vernachlässigt, vielleicht auch wegen einer etwas realitätsfernen Erwartung, die Menschen müssten, wenn sie etwas wollten, zu uns kommen. Die Kultur des Hausbesuches ist uns weithin abhanden gekommen, jedenfalls in meinem Erfahrungshorizont und da aus vielen, teilweise auch nachzuvollziehenden Gründen.22 Wenn wir uns aufmachen zu Anderen, sind wir bei ihnen als Gäste, Hörende, Sehende, Lernende, Mitfühlende. Dann bestimmen nicht die Seelsorgerinnen die Regeln und die Tagesordnung. Das kann eine recht verheißungsvolle Konstellation sein! Ein wunderbares Beispiel solcher aufsuchenden Seelsorge erzählt Werner Biskupski aus der Klinikseelsorge: Ein älterer Patient bittet um seinen Besuch. Er geht zu ihm. Der Patient betont, dass er Atheist sein, spricht eingehend über sein Leben, dass es wiewohl kein Gott sei, dennoch Fragen gäbe. Erwartet kaum Antworten. Nach Ablauf einer Dreiviertelstunde streckt er dem Seelsorger die Hand entgegen: „Danke für das Gespräch, es hat mir sehr geholfen.“23 Was brauchte dieser alte Mann? Einen Seelsorger, der kommt, der nicht belehrt, der zuhört, der einfach da ist. Aber ein „Seelsorger“ musste es sein, das war wichtig, was immer das heißt – der alte Mann wird es genau wissen! Zweitens: Durch Medien vermittelte Seelsorge. Diese Form von Seelsorge hat einerseits eine lange Tradition. Man denke an Briefseelsorge, die es in der Kirche praktisch seit dem Apostel Paulus gegeben hat. Aber auch die Telefonseelsorge gehört mittlerweile schon zu den klassischen Angeboten. Inzwischen hat auch die Internet-Seelsorge in ihren verschiedensten Varianten sehr an Bedeutung gewonnen, vor allem für Jüngere. Charakteristisch an diesen Formen ist eine gewisse Einsinnigkeit, die aber auch die Konzentration fördern kann.24 Entscheidend ist, dass der Rezipient dieser medial vermittelten Seelsorge seine Handlungshoheit nicht verliert: Er muss keinerlei Vorleistung erbringen, sich durch nichts erklären, keine Mitgliedschaft nachweisen und sie kann, wann immer sie will, die Lektüre unterbrechen, den Hörer auflegen, den Chatroom schließen. Die Ratsuchende kann hier Seelsorgliches gleichsam konsumieren. Sie kann, gleichsam inkognito, seelsorgliche, ja religiöse Impulse auf sich wirken lassen. Sie kann die Angebote für sich nutzen oder nicht. Sie kann an ihre Grenzen gelangen, sie kann sie ignorieren. Aber sie kann auch zu der Erkenntnis kommen: „Es gibt einen

22 Praxisnah und im Blick auf die Ausbildungssituation wird das pastoralpsychologisch reflektiert bei Janowski, Aufsuchende Seelsorge. 23 Biskupski, „Vielleicht macht es doch Sinn…“, 277. 24 Vestner, Telefonseelsorge, 134 schreibt dazu, es sei „wichtig, sich von einem defizitären Blick auf das Medium zu lösen und eine Neugier für das ,Andere’ dieses Erfahrungsraumes zu entwickeln.“

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realen Ort in der Welt, zu dem du gehen kannst.“25 Das dann auch zu tun, ist ihre Chance und ihre Freiheit. Drittens: Offene Formen von Seelsorge. Hier ist ganz besonders an die „Offenen Räume“ in Kirchen oder Gemeindehäusern gedacht, auch an Kirchencafs, Zeitoasen, Treffpunkte. Eine Stadt wie Leipzig, um auf den Anfang zurückzukommen, bietet da einiges. Auch ein Kurzkonzert mit Orgelmusik kann man durchaus in diese Kategorie einstufen. Es beginnt mit der geöffneten Kirche, in die, wer will, eintreten kann, ohne an etwas teilnehmen zu müssen. Kirche ist in diesen Formen Gastgeberin, und die Eintretenden sind Gäste, sie können kommen und sie können gehen und müssen nicht einmal ihre „Visitenkarte“ da lassen. Es gibt Orte, an denen das gleichsam paradigmatisch praktiziert wird, Taiz zum Beispiel. Wie viel Nähe eine, die dort eintritt, will, entscheidet sie selber, und demzufolge auch was man mitnehmen möchte, was nicht. Als solch eine Zugangform, die gerade auch für Religionslose und gleichzeitig Suchende offen ist, würde ich auch die Angebote Psychologischer Beratung im kirchlicher Trägerschaft ansehen. Da geht es primär um professionelle Hilfe in Lebenskrisen und schwierigen Entscheidungssituationen, aber es ist ein Dienst, in dem auch religiöse Fragen zur Sprache gebracht werden können, wenn sie es wollen, und wo doch frei bleibt, was die einzelnen daraus für Folgerungen für sich ziehen.26

3.2 Was einen Menschen trägt – Begegnung unter Gleichen Für das Gespräch mit religionslosen Menschen, das eine seelsorgliche Intention hat oder im Laufe der Zeit gewinnt, gibt es zwei anregende Gesprächsmodelle: das Modell interreligiöser Seelsorge, beispielhaft vorgestellt von Helmut Weiß27, und das Modell einer pastoralpsychologisch fundierten Gesprächsführung. Das Modell der interreligiösen Seelsorge lässt sich leicht erweitern um eine Art interideologische Seelsorge. Zumal in Ostdeutschland die kulturelle Situation ja nicht so sehr durch eine Vielzahl von Religionen bestimmt ist, sondern eher durch das Miteinander von Religion und Nichtreligion. Auch dafür gilt, was Weiß von der interreligiösen Seelsorge sagt: Es gehe „nicht darum, wer recht, wer eine dogmatische oder systematische Wahrheit besitzt, sondern wie Menschen in ihrer Kontingenzerfahrung zu ,Lebensvergewisserung‘ kommen.“28 Dem dient genau auch eine pastoralpsychologische Herangehensweise. Sie muss hier im Detail nicht vorgestellt werden. Für unseren thematischen Zusammenhang – Seelsorge im Kontext von Säkularität – ist primär der ein25 26 27 28

Reuter, Seelsorge, 77. Vgl. Ziemer, Zur Theologie. Weiss, Grundlagen. Weiss, Grundlagen, 83.

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stellungsmäßig und methodisch konsequente Subjektbezug von Bedeutung. Es geht nicht darum, dem Gesprächspartner etwas zu bringen, ihn oder sie von einem Defizit (an Religion, Glauben, Gott) zu befreien. Es geht vielmehr um ein hermeneutisches Gespräch, also darum, Selbstauslegung anzuregen, entdecken zu helfen, was einen – religiös oder nicht religiös – beschäftigt, trägt oder vielleicht nicht trägt. Es geht darum, diesen nebulösen Schubladenbegriff der Religionslosigkeit persönlich zu verifizieren (oder falsifizieren!), zu konkretisieren, zu modifizieren. Da wird Seelsorge spannend, wo ich also mit einem Mal nicht mehr darauf aus bin zu ermitteln, was dem Anderen „fehlt“, damit ich das ausfüllen kann, sondern wenn ich mich darauf ausrichte, was bei dem anderen zum Vorschein kommt, wie er sich, sein Leben, seine Verhältnisse sieht, über welche Ressourcen er verfügt oder gern verfügen würde. Wir können dann auch an den Punkt kommen, an dem von den Hoffnungen und Enttäuschungen geredet werden kann, vom Verlust des Bodens unter den Füßen und von Aufkeimen neuer Zuversicht.

3.3 Die Zeit des Anderen – Gespräch ohne Zwecke Für die Verkündigung mag es richtig sein zu sagen: „Die Predigt muss etwas wollen“ (Gottfried Voigt), für die Seelsorge dagegen gilt: erst einmal da sein, ohne etwas Bestimmtes zu „wollen“. Es ist wie mit der Poesie. So erzählt Ulla Hahn, wie sie anfing, Gedichte zu schrieben: „Nicht: Für wen? Nicht: Wie? Und nicht: Warum? Nicht um zu… – zu belehren, zu beichten, zu räsonieren, zu reflektieren, zu verkündigen. Ich schrieb. Es machte mir Freude.“29 Etwas von dieser Leichtigkeit tut unserer Seelsorge gut. Sie öffnet uns auch emotional für das, was im Moment wichtig ist, nämlich für den Menschen, der mir begegnet. Die Annahme des Anderen ohne Vorbedingungen und, was mir noch wichtiger erscheint. ohne geheimen Plan und ohne Vorerwartungen – das muss deshalb das Herzstück von Seelsorge sein, gerade dann, wenn Religiosität ungewiss ist. Menschen spüren das sofort. Ein Strafgefangener kann dann etwa von dem Gespräch mit dem Seelsorger sagen: „In so ’m Gespräch darf man MENSCH sein.“30 Das ist viel, da ist Seelsorge „angekommen“, so kann sie weiter führen. Natürlich sind wir dann in der Kirche schnell mit der Frage konfrontiert: Ist das nicht viel zu wenig? Können das nicht auch Therapeuten, vielleicht sogar besser? Man kann nur mit der Gegenfrage kommen: Haben wir davon etwa genug? Orte, wo man Mensch sein darf ? Ich sehe heute in unserer religiösen Situation nicht die Gefahr, dass wir Seelsorge billig verschleudern, eher die, dass wir sie zu leicht versäumen und versagen. Das ist keine Kleinigkeit. 29 Hahn, Süßapfel, 86. 30 Gnther, Seelsorge, 209.

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In der chassidischen Frömmigkeit gilt der Satz: „Der Mensch ist die Sprache Gottes.“31 Das Wort sollte man nicht dogmatisch pressen wollen, aber es hat für Seelsorge etwas Befreiendes. Wo einer Mensch sein darf, ist die „Sprache Gottes“ verstanden, welche Worte auch immer dafür gewählt werden mögen.32 Das Entscheidende ist nicht evaluierbar.

3.4 Warten können – „religiöse Gespräche“ mit Atheisten Ich schließe mit zwei Beispielen aus der Praxis von ostdeutschen Krankenhausseelsorgern. Wolfgang Geilhufe, Seelsorger in einem Dresdner Krankenhaus, berichtet von Erfahrungen, die sich hier einfügen. Er fragt sich: „Woher nehme ich eigentlich das Recht her zu sagen, dem andern ,fehlt etwas‘?“ und hält dagegen: „In der Begleitung von atheistisch geprägten Menschen habe ich Respekt gelernt, Achtung vor der gewonnenen Lebenseinsicht und Lebenshaltung des Anderen.“ Mit dieser Einstellung wird wirkliche Seelsorge möglich, ein miteinander Teilen von Gemeinsamem, ein Anteilnehmen am Leiden und Ergehen des Anderen. Manchmal beginnt es wie beiläufig… Ein älterer Triebwerksingenieur, lange in der Forschung beschäftigt, hatte mich über längere Zeit auf der Station wahrgenommen, bittet mich um einen Besuch: „Ich habe Sie rufen lassen, aber ich möchte mit ihnen kein religiöses Gespräch führen. Ich habe nur das Verlangen nach einem sinnvollen Gespräch. Verstehen Sie das?“ So hat das Gespräch eine klare Abgrenzung, die wichtig ist und Sicherheit gibt. Die Themen bestimmt der Gesprächspartner. Als er mir seine eindrücklichen Träume erzählt, sichert er sich ab: „Aber ich möchte keine Deutung.“ Nach mehreren Gesprächen sagt er schmunzelnd: „Ich habe jetzt den Eindruck, wir führen doch so etwas wie religiöse Gespräche.“ Wir haben sie in einer berührenden Offenheit bis zu seinem Sterben geführt. Es gibt eben eine Scheu, religiöses Terrain zu betreten, weil man darin ungeübt ist.33

Hier ereignet sich also etwas, das für seelsorgliche Kontakte mit Religionslosen, Säkularisierten gar nicht so selten ist. Man kann im Gespräch fast unbemerkt in religiöses Terrain gelangen. Aber die Voraussetzung dafür ist in vielen Fällen, dass man die Selbstzuschreibung eines Gesprächspartners uneingeschränkt akzeptiert. Indem ich mich vorurteilslos auf die Person meines Gesprächspartners einlasse, wird ein Kommunikationsgeschehen ermöglicht, in dessen Verlauf die dem Patienten vielleicht zunächst unheimliche religiöse 31 Zitat von Elie Wiesel bei Fritsch, Chassidische Seelsorge, 149. 32 Zur weiteren Vertiefung verweise ich auf die Ausführungen von Ralf Günther im Anschluss an Emmanuel Levinas, Gnther, Seelsorge, 264 ff. 33 Geilhufe, Offenheit, 190.

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Dimension in den Blick geraten kann. Ja, wie soll ein Gespräch in dieser Ernsthaftigkeit und angesichts der Nähe des Sterbens nicht dahin führen! Wie gut, wenn ein Mensch wie dieser Patient dann die Freiheit hat, das auch – „schmunzelnd“! – sagen zu können. Wichtig ist, dass ein Seelsorger, sich wie Wolfgang Geilhufe zurückhält und den Bogen nicht überspannt. Er lässt unkommentiert, was der Patient gesagt hat. Er vermeidet das „Pfäffische“, vor dem Bonhoeffer immer gewarnt hatte. Wenn das Religiöse ins Gespräch mit Menschen kommt, die so zu sprechen nicht gewohnt sind, entsteht oft eine ganz sensible Situation, die viel Diskretion verlangt und genau so ihre Tiefenwirkung erlangt.34 Ein zweites Beispiel entnehme ich dem schon zitierten Beitrag von Werner Biskupski: Es handelt sich um ein Gespräch mit einer pensionierten Schuldirektorin. Der Seelsorger war schon mehrmals während ihres Klinikaufenthaltes bei ihr gewesen. Viele Themen aus Bildungswesen, Philosophie und Politik kamen zur Sprache. Es brauchte lange Zeit, ehe auch Persönliches berührt wurde: Es ging um die Frage nach der Schuld, die bei einem Menschen dieser Position an einer DDR-Schule hinter der Tür lauerte. Sie sprach davon, dass es sie manchmal den Schlaf kostete, wenn sie daran denke, wie sie mit anders denkenden Schülerinnen umgegangen sei. Immer wieder prüfe sie sich, ob sie durch sie Schaden erlitten hätten. Was hätte sie denn tun können, sie war doch selbst genötigt. Und ihr würden dann Situationen einfallen, wo Schüler, die nicht auf der ,Linie‘ lagen, öffentlich bloßgestellt worden seien. Da habe sie in ihrer Verantwortung als Erzieherin versagt. Heute würde sie manches anders machen. Sie schaute ein Weile still aus dem Fenster. Mir schien, dass eine Frage im Raum stand. Ich sagte, sicher könne man das Erlebte nicht ungeschehen machen, doch sei mir gerade dann wichtig, dass es eine Vergebung gäbe. Sie schaute mich nachdenklich an. Das mag wohl sein. Jetzt sei es ihr wichtig gewesen, dass sie diese Dinge endlich einmal habe aussprechen können.35

Dies ist für unser Nachdenken über Seelsorge im Kontext von Säkularität ein sehr interessanter Text. Der Seelsorger braucht einen langen Atem. Diese alte Pädagogin benötigt die Zeit, um Vertrauen zu fassen. Was sie dann „endlich“ mit wenigen klaren Worten ausspricht, ist – in religiösen Kategorien gesprochen – eine große Beichte. Es gibt wenige DDR-Pädagogen, die auch nur im Ansatz dazu fähig wären. Sie schafft es, und sie verzichtet fast ganz auf entlastende Selbstentschuldung. Der Seelsorger nimmt sie ernst, er relativiert nichts, er weiß das würde der Situation nicht gerecht werden. Vorsichtig und eher auf sich selbst bezogen spricht er von Vergebung. Vielleicht greift sie den Faden auf. Aber die alte Lehrerin bleibt bei sich selbst. Die Situation erlaubt ihr das, und der Seelsorger begreift es sofort. Er hakt nicht nach. Für sie war es wichtig, „diese Dinge“ endlich mal sagen zu können. 34 Vgl. Ziemer, Seele. 35 Biskupski, „Vielleicht macht es doch Sinn…“, 279.

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Das war genug. Mit Bedacht hatte die Frau diese Adresse gewählt. Vielleicht war es für sie so etwas wie eine „letzte Instanz“. Dahin gehörte, was sie zu sagen hatte. Gleichwohl: Das Religiöse bleibt in der Schwebe. Gerade so konnte das Gespräch für die Lehrerin tatsächlich zur Seelsorge werden, und sie hat selbst entscheiden können, wie weit diese gehen darf. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es noch einmal einen Schritt weiter geht. Die alte Lehrerin wird da für sich sorgen, wenn sie es will. Sie kennt ja den Weg.

Literatur Bernet, Walter, Weltliche Seelsorge, Zürich 1988. Biskupski, Werner, „Vielleicht macht es doch Sinn…“. Seelsorge mit nicht kirchlich gebundenen Menschen, PrTh 40, 2005, 276 – 283. Dubach, Alfred/Campiche, Roland J. (Hg.), Jede(r) ein Sonderfall. Religion in der Schweiz, Zürich 21993. Ebertz, Michael N., Säkularisierung, Entchristlichung oder Entkirchlichung? Eine religionssoziologische Perspektive, in: H. Denz (Hg.)., Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002, 17 – 42. Fritsch, Stefan, Die chassidische Seelsorge, Frankfurt 1997. Geilhufe, Wolfgang, Offenheit für spirituelle Erfahrung. Sterbende begleiten – in ihrer gelebten atheistischen Prägung – in ihrem bewusst gelebten Glauben, in: U. Liedke/F. Oehmichen (Hg.), Sterben. Natürlicher Prozess und professionelle Herausforderung, Leipzig 2008, 187 – 209. Gnther, Ralf, Seelsorge auf der Schwelle. Eine linguistische Analyse von Seelsorgegesprächen im Gefängnis, Göttingen 2005. Hahn, Ulla, Süßapfel rot, Stuttgart 2003. Hçbsch, Werner/Riedel, Bernhard, Ohne Gott leben. Wie geht das? In: Sebastian Murken (Hg.), Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des „Unglaubens“, Marburg 2008, 15 – 25. Janowski, Gudrun, Aufsuchende Seelsorge – Sendung Gottes in die Welt, in: B. Grosche/P. Scherle (Hg.); In göttlicher Mission? Zur Diskussion um die (Neu) Orientierung der Kirche, Wuppertal 2007, 155 – 169. Jçrns, Klaus-Peter, Die neuen Gesichter Gottes, Berlin 1997. Morgenthaler, Christoph, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 32002. Murken, Sebastian (Hg.), Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des „Unglaubens“, Marburg 2008. Pickel, Gert, Atheistischer Osten und gläubiger Westen, in: G. Pickel/K. Sammet (Hg.), Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, Wiesbaden 2011, 43 – 77. – Konfessionslose in Ost- und Westdeutschland – ähnlich oder anders? In: D. Pol-

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lack/ G. Pickel (Hg.), Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989 – 1999, Opladen 2000, 206 – 236. – Religiosität versus Konfessionslosigkeit, in: M. Glaab/W. Weisenfeld/M. Weigl (Hg.), Deutsche Kontraste 1990 – 2010, Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt a.M. 2010, 447 – 484. Pollack, Detlef/Mller, Olaf, Die religiöse Entwicklung in Ostdeutschland nach 1989, in: G. Pickel/K. Sammet (Hg.): Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, Wiesbaden 2011, 125 – 144. Ratzmann, Wolfgang, Universitätsaula und Universitätskirche, PTh 98, 2009, 282 – 298. Reuter, Ingo, Seelsorge in der Mediengesellschaft, in: D. Bell/G. Fermor (Hg.), Seelsorge heute. Aktuelle Perspektiven aus Theorie und Praxis, Neukirchen 2009, 65 – 79. Schmidt-Lux, Thomas, Kirchenkampf und Aulastreit, in: G. Pickel/K. Sammet (Hg.), Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, Wiesbaden 2011, 343 – 356. Vestner, Gunhild, Telefonseelsorge – die Chancen und Herausforderungen medial vermittelter Seelsorge, in: D. Bell/G. Fermor (Hg.), Seelsorge heute. Aktuelle Perspektiven aus Theorie und Praxis, Neukirchen 2009, 122 – 145. Weiss, Helmut, Grundlagen interreligiöser Seelsorge, in: H. Weiß/K. Federschmidt/ K. Temme (Hg.), Handbuch interreligiöse Seelsorge, Neukirchen 2010, 73 – 96. Wohlrab-Sahr, Monika/Karstein, Uta/Schmidt-Lux, Thomas, Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik, Frankfurt a.M. 2009. Ziemer, Jrgen, Die Seele ertasten. Tastende Seelsorge?, ZGDP 23, 2006, 12 – 15. – Seelsorge und Mission – zur Orientierung in einem schwierigen Feld, in: Kirchenamt der EKD, Seelsorge – Muttersprache der Kirche, EPD-Dokumentation, Hannover 2010, 6 – 12. – Zur Theologie der Psychologischen Beratung im kirchlichen Kontext, Focus Beratung 18, 2011, 9 – 16. Zulehner, Paul M., GottesSehnsucht. Spirituelle Suche in säkularer Kultur, Ostfildern 2008.

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III Spezialisierte Seelsorge

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Kathleen J. Greider

Offenheit und Religionsvielfalt: Grundlagen für die Pastoraltheologie und für Spiritual Care1

Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage nach den Anforderungen an Personen, die im Bereich religiöser Begleitung und Beratung tätig sind („religious caregivers“) und sich für Menschen anderer Glaubensrichtungen öffnen möchten. Ich gehe das Thema von zwei Seiten an: Im ersten Teil dieses Aufsatzes bespreche ich einige Schwierigkeiten interreligiöser Begleitung. Ich betrachte dies als entscheidenden Ausgangspunkt, da die guten Absichten, die mit interreligiösen Spiritual Care-Begegnungen meistens verbunden sind, und auch die Unausweichlichkeit solcher Begegnungen eine Tendenz schaffen, unsere eigene Bereitschaft für sie zu überschätzen und unvermeidbare Schwierigkeiten zu unterschätzen. Im zweiten Teil des Beitrags wende ich mich dann mehr konstruktiven pastoraltheologischen Reflexionen zu. Von meiner Verortung innerhalb des Christentums und von meiner Lehrund Praxistätigkeit im Bereich der Pastoraltheologie und der Seelsorge/Beratung her, befasse ich mich mit der – im Christentum so bezeichneten – cura animarum in interreligiösen Beziehungen. Ich verwende dabei zwei Methoden, die in Pastoraltheologie und Care gemeinhin zur Anwendung kommen. Mittels Eigenreflexivität artikuliere ich einige jener persönlichen Geschichten und theologischen Grundsätze, die mich zu Offenheit und Care inmitten von religiöser Vielfalt motivieren und mich in ihnen bestärken. Anhand der Reflexion über eine Care-Beziehung entdecke ich drei Qualitäten der Seele, die zu Offenheit gegenüber Personen mit einer von unserer verschiedenen religiösen

1 Dieser Beitrag beruht auf einem im September 2010 in Strasbourg (F) gehaltenen Vortrag am 22. Internationalen Seminar der Gesellschaft für Interkulturelle Seelsorge und Beratung (SIPCC). Das Thema der Konferenz lautete: „Dynamiken der Migration heute: Seelsorge und Beratung in einem soziopolitischen und kulturellen Kontext“. Angesichts der Tatsache, dass zu den Dynamiken von Migration vermehrte Kontakte zwischen Menschen verschiedener Religionen gehören, wurde ich darum gebeten, mich dem Thema zu widmen, wie religious caregivers sich für andersgläubige Menschen „auftun“ können. Die Seminar-Teilnehmenden waren unterschiedlicher christlicher Herkunft und stammten aus etwa zwanzig verschiedenen Ländern. Für weitere Informationen siehe die Website der SIPCC: http://www.ekir.de/sipcc/fr_set_engl-stras-start1. htm. Ich danke für die Erlaubnis des Wiederabdrucks dieser Fassung des Beitrags, die auch zur Veröffentlichung in Pistis e Praxis, a journal of the Pontifcia Universidade Catlica do Paran, Brazil, bestimmt ist. Die für diese Festschrift vorgenommene leichte Kürzung und deutsche Übersetzung hat Isabelle Noth besorgt.

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Offenheit und Religionsvielfalt

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Identität ermutigen: unsere Leere (emptiness), unser Fremdsein (strangeness) und unsere Kindsähnlichkeit (childlikeness).

1. Schwierigkeiten beim „sich Öffnen“ für interreligiöse Beziehungen Um der Realität willen sollen zumindest ein paar der Schwierigkeiten vergegenwärtigt werden, die sich einstellen, wenn wir uns für Seelsorge im Kontext religiöser Vielfalt zu öffnen versuchen. Erstens ist das Ziel selbst mehrdeutig: Was z. B. qualifiziert uns, um als offen beschrieben zu werden? Gleich wie die Tür zu unserem Heim, Büro, Laden oder zu unserer Kirche können auch die Türen zum menschlichen Verstand und zum Herzen weit offen, halboffen, kaum einen Spalt weit offen und absichtlich oder zufällig geöffnet sein. All diese Formen von Offenheit legen verschiedene Grade und Qualitäten derselben nahe. Die Mehrdeutigkeit von Offenheit kann auch in der Tatsache gesehen werden, dass sie aus Kombinationen recht verschiedener Qualitäten und Beziehungen konstituiert wird. Man betrachte z. B. den denkwürdigen, Jesus zugeschriebenen Ausdruck: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“ (Mt 10,16)2. Er rät uns zu zwei verschiedenen und dennoch in Beziehung miteinander stehenden Formen von Offenheit, wobei die besten Aspekte beider unsere Naivität und unsere Vorsicht sind. Offen zu sein an jedem Tag zu jeder Zeit ist ausserdem für die meisten Menschen beinahe unmöglich. Die spirituelle Forderung, Weisheit und Unschuld genauso wie Schlangen und Tauben konsistent zusammen zu bringen, dürfte auch die spirituell reifsten Personen strapazieren. Eine der tiefgründigsten Dimensionen jener Ambiguität, die der Beziehung zwischen religiösem Pluralismus und seelsorglicher Begleitung inhärent ist, führt uns zu einem zweiten Kernbereich von Schwierigkeiten: Unser Gebrauch von Religion kann sowohl verletzen als auch helfen. Selbst wenn wir die Möglichkeiten von Care in religiös pluralen Beziehungen bejahen, müssen wir rigoros das Bewusstsein kultivieren, dass sich mit Religion verletzen lässt. Sogar wohlmeinende Personen – wir selber als auch andere – können aktiv Offenheit kultivieren und dennoch Personen andersreligiöser Identitäten verletzen. Manchmal verletzen wir, weil wir nicht genügend ausgebildet wurden – und schon gar nicht von Angehörigen jener andersreligiösen Tradition selber.3 Oftmals aber werden religiös Andere und unsere Beziehungen zu ihnen verletzt durch die Art und Weise, wie wir zu unserer eigenen Tra2 Alle biblischen Zitate werden nach der Zrcher Bibel (2007) wiedergegeben. 3 Investitionen im Bereich interreligiöser Bildung – das Studium religiöser Vielfalt in einer religiös vielfältigen Gemeinschaft – nehmen zu und kennzeichnen die Bildungsphilosophie, die der neuen Claremont Lincoln University (http://claremontlincoln.org/) zugrunde liegt.

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dition stehen, z. B. indem es uns an einer kritischen Perspektive fehlt, wir nur eine solche einnehmen oder wir unwissend sind im Hinblick auf die Machtdynamiken zwischen Religionen. Der Schaden, der angerichtet wird, mag beträchtlich oder gering sein. In jedem Fall aber trägt die Verletzung bei zu einer langen Geschichte von Traumata im Zusammenhang mit Religion. Eine dritte Schwierigkeit steht im Zusammenhang mit der Vielfalt theologischer Meinungen über religiösen Pluralismus selbst und darüber, was Care in diesem Kontext ausmacht. Nicht alle religiösen Gemeinschaften fühlen sich von religiöser Pluralität herausgefordert. Die Tendenz gerade christlicher Theologie, Urteile über andere religiöse Traditionen zu fällen, macht ChristInnen besonders dafür anfällig, grosse und oft Streit verursachende Differenzen untereinander in Sachen Offenheit angesichts religiöser Vielfalt zu haben. Integrität in einer Diskussion über Offenheit in der seelsorglichen Begleitung Andersreligiöser beruht auf Ehrlichkeit und Aufmerksamkeit hinsichtlich dieses intrareligiösen Pluralismus und seiner Implikationen für Care. Der Theologe Paul F. Knitter legt in seiner Einführung in die Theologien von Religionen (22008 [2002]) eine nuancierte und ausgewogene Beschreibung vier unter ChristInnen verbreiteter Verstehensweisen von religiösem Pluralismus vor. In dem von ihm mit replacement bezeichneten Zugang führt die tiefe christliche Verpflichtung Jesus Christus und der Bibel gegenüber zu der Position, dass allein durch Christus G-t4 und das Heil erkannt werden können. Deshalb ist der interreligiöse Dialog zwar von Bedeutung, doch letztlich ist das Christentum dazu da, alle anderen Religionen zu ersetzen.5 Der sog. fulfillment-Zugang ergibt sich aus der gleichwertigen Verpflichtung gegenüber der Universalität G-tes und der Partikularität der Offenbarung G-tes in Jesus Christus. Diese ChristInnen verfolgen den interreligiösen Dialog, weil G-tes Universalität auch in anderen Religionen einen Wert garantiert, auch wenn dieser Wert ultimativ erst in der partikularen Offenbarung Gottes in Jesus Christus erfüllt ist. Mutuality ist das Ziel im dritten Zugang, in welchem die christliche Verpflichtung auf die Universalität von Gottes Liebe den interreligiösen Dialog zu einem Imperativ macht, so sehr, dass sie ihren Anspruch auf Jesu Partikularität relativiert in der Hoffnung, gleiche Voraussetzungen für alle zu schaffen. Der sog. acceptance-Zugang schliesslich betont, dass es essentielle Unterschiede zwischen Religionen gibt, die nicht entschieden, sondern lediglich akzeptiert werden können. ChristInnen dieses Zugangs betonen angesichts des Ausmasses an Unterschieden zwischen Religionen die Grenzen interreligiöser Kommunikation. Wie bei ChristInnen generell lassen sich alle vier Zugänge auch bei jenen 4 Aus Respekt vor dem Gebrauch im Judentum schreibe ich jeweils „G-t“. Die unvollständige Schreibweise symbolisiert auch Demut, die angebracht ist, wenn vom Göttlichen die Rede ist, und die menschliche Unfähigkeit, alles zu wissen, was das Göttliche anbelangt. 5 Vgl. Knitter, 22008, 19: „Christianity is meant to replace all other religions“.

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finden, die in Seelsorge und Beratung tätig sind. Dennoch muss nun eine delikate Frage gestellt werden: Sind alle vier Zugänge interreligiöser Seelsorge gleich förderlich? Denken wir an grundlegende Standards interreligiöser Seelsorge wie Respekt vor anderen Religionen und Sorgfalt, um die eigene Religion Hilfesuchenden nicht überzustülpen, mag es offensichtlich scheinen, dass eine Kombination aus dem Gegenseitigkeits- und Akzeptanz-Zugang diese beiden Standards am ehesten gewährleistet. Tatsächlich haben die Haltungen des Gegenseitigkeits- und Akzeptanz-Zugangs Theorie und Praxis der Seelsorge dominiert. Beide Zugänge geben eine philosophische Begründung für eine in der Seelsorge breit abgestützte Priorität: Die Sorge um Einzelne und Gemeinschaften hat Vorrang vor der Bewahrung einer religiösen Tradition oder vor der Treue zu einer Doktrin. Diese Priorität geht auch aus einer zweiten Gemeinsamkeit hervor: Beide Ansätze bejahen die Möglichkeit göttlicher Offenbarung in allen religiösen Traditionen – eine Ausweitung der der Pastoraltheologie zugrunde liegenden theologischen Behauptung, dass das Heilige sich in menschlicher Erfahrung aller Art offenbaren kann. Beide Zugänge trachten danach, die Subjektivität von religiös Anderen zu privilegieren. Dies entspricht auch dem caregivingStandard, dass der/die Seelsorgende sich entschieden darum bemüht, Projektionen und ein Ausagieren von Gegenübertragungen zu verhindern. Nun werden der Mutualitäts- und der Akzeptanz-Zugang jedoch zuweilen in Lehre und Praxis der Seelsorge unkritisch umarmt, obwohl beide potentiell erhebliche Probleme beinhalten. Der Mutualitäts-Ansatz birgt die Gefahr unangemessener Betonung von Ähnlichkeit. Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als ob er das „ministry of presence“ bestätige, dabei verschärft er darin eine Gefahr, nämlich die Betonung von Ähnlichkeit auf Kosten eines sich ganz Einlassens auf religiöse Differenz. Der Akzeptanz-Ansatz wiederum birgt die Gefahr eines damit verwandten Problems, nämlich der unangemessenen Betonung von Differenz. Auf den ersten Blick scheint der Akzeptanz-Zugang eine andere in der gegenwärtigen Seelsorge gepriesene Perspektive zu kultivieren, nämlich postmoderne Achtsamkeit für Partikularität und für das radikale Anderssein Anderer. Aber das Akzeptanz-Modell verstärkt eine Gefahr von postmodernen SeelsorgeAnsätzen, nämlich eine Betonung von Differenz auf Kosten eines Bewusstseins um die Verbundenheit miteinander. Mit beiden Zugängen wird Relativismus riskiert. Wenn wir behaupten, alle religiösen Traditionen ermöglichten Wege zum Göttlichen und zur Heiligung, welche Kriterien haben wir dann, um Böses auszumachen und zu überwinden, welches so oft der Grund ist für das Leiden, das Seelsorge zu lindern versucht? Sowohl der Mutualitäts- als auch der Akzeptanz-Zugang finden Zulauf, weil sie Respekt vor religiöser Differenz einzuimpfen scheinen. Aber ChristInnen, die für Respekt vor religiöser Verschiedenheit eintreten, bringen oftmals genau jene religiöse Intoleranz zum Ausdruck, die sie kritisieren, wenn sie GlaubensgenossInnen mit Verachtung behandeln, die sich mit dem Ersatz-

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und Erfüllungs-Zugang identifizieren. Argumente für die Akzeptanz radikaler Differenz können in eine Verweigerung authentischen Engagements mit radikal Verschiedenen umkippen, wenn deren Ansichten uns verurteilen oder unsere wertvollsten Überzeugungen angreifen. Angesichts dieser kombinierten Schwierigkeiten ist es einsichtig, dass unser Thema – so voll von Ambiguität, Kontextualität und Beziehungsrisiken – nicht angemessen behandelt würde, betrachtete man es als objektive Sache, zu der es verallgemeinerbare Möglichkeiten gäbe, sich zu verhalten. Glücklicherweise berücksichtigen Prioritäten und Methoden in Pastoraltheologie und Care genau diese Bedingungen. Pastoraltheologie richtet sich an die aktuellen, spezifischen, persönlichen, chaotischen und gefährdeten Bedingungen menschlichen Lebens. Wir konstruieren Theologie und formen unsere Praktiken im vollen Bewusstsein der partikularen, partiellen und positionellen Natur unserer Gedanken über die conditio humana und im vollsten Vertrauen auf die Möglichkeit jedes menschlichen Lebens, im Dienste des Göttlichen Mysteriums („Divine Mystery“) zu stehen. Ehrlichkeit über die Partikularität und über die Komplexität menschlicher Erfahrung erfordert unsere Selbstreflexivität und einen gewissen Grad an Transparenz über unsere persönlichen wie auch sozialen Verortungen – unsere eigene Erfahrung der aktuellen, spezifischen, persönlichen, chaotischen und gefährdeten Bedingungen menschlichen Lebens. Als religiöse BegleiterInnen haben wir ein gewisses Mass an Verantwortung für die Traditionen Sorge zu tragen, deren RepräsentantInnen wir sind, doch unsere noch grössere Verantwortung gilt der Sorge für die Menschen und Gemeinschaften, denen wir in unserer Arbeit begegnen. In den folgenden Abschnitten werde ich untersuchen, wie religiöse BegleiterInnen sich für Andersgläubige öffnen können, und benutze dazu zwei in der Pastoraltheologie und in Care breit angewendete Methoden: Selbstreflexivität und Reflexion über eine spezifische Care-Beziehung.

2. Reflexionen zu Seelsorge/Beratung und religiösem Pluralismus: Die pastoraltheologische Methode der Selbstreflexivität Viele am interreligiösen Dialog Beteiligte bezeugen die Erfahrung, dass dessen Kraft und Wirksamkeit primär über persönliche Eindrücke und zwischenmenschliche Beziehungen entstehen und nicht so sehr aus dem Versuch theoretischen Lernens. Kritiker des interreligiösen Dialogs verweisen auf das Risiko von Konversionen. Üblich ist jedoch genau das Gegenteil: Mit der Zeit gelingt es Teilnehmenden dank des interreligiösen Dialogs ihre eigene religiöse Identität besser zu fassen. In ähnlicher Weise werden Theologien, die religiöse BegleiterInnen für Andersgläubige öffnen, für uns eher lebendig,

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wenn sie auf Erfahrungen beruhen, als wenn sie lediglich der rechten Doktrin entsprechen. Solche Theologien sind oftmals das Resultat gemeinsam geteilter Selbstreflexion über die eigene Lebensgeschichte, vor allem über den eigenen spirituellen Weg. Der Gruppenprozess in klinischen Seelsorgeausbildungsprogrammen ist ein Setting, bei dem der gegenseitige Austausch solcher Selbstreflexivität deren Stärke zeigt. Lehrende und Ausübende im Bereich Pastoraltheologie und Care messen der Selbstreflexivität einen hohen Stellenwert bei, weil sie als persönliche Ausdrucksform danach trachtet, die Grundlagen und „Biases“ unserer Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen transparenter zu machen. PastoraltheologInnen und SeelsorgerInnen/BeraterInnen setzen die Methode der Selbstreflexivität in der klinischen Ausbildung ein. Eingeschüchtert von Standard-Methoden anderer Forschungsgebiete und – trotz postmoderner Analyse – nach wie vor Objektivität vortäuschend, sind wir jedoch weniger dazu geneigt, sie in unserem Schreiben über Theorie und Praxis einfliessen zu lassen. Durch die Methode von Selbstreflexivität können wir einander helfen, indem wir persönliche und dennoch analytische Reflexionen über Aspekte unserer Geschichte anbieten – die Familie und Gemeinschaft, in die wir hineingeboren wurden, die religiöse Kultur, die wir geerbt und jene, die wir gewählt haben, die LehrerInnen, die neue Wege eröffneten, die interreligiösen Beziehungen, die wir eingegangen sind und uns mit der Zeit für Menschen anderer Religionen geöffnet haben. In diesem Geist, auf der Grundlage meiner eigenen Selbstreflexivität, biete ich eine Geschichte an, in welcher ich theologische Grundlagen für Offenheit gegenüber religiösem Pluralismus und religiös Anderen artikuliere. Soweit ich mich zurück erinnern kann, habe ich mich stets danach gesehnt zu verstehen, zu lieben und zu antworten auf das, was ich als „Divine Mystery“ bezeichne – jenes Mysterium, das viele als G-t bezeichnen. Im Bezug auf religiöse Vielfalt hat es mir geholfen, in Erinnerung zu behalten, dass ich massgeblich Christin bin, weil ich darin geboren wurde. Zu Beginn meines Lebens habe ich nicht etwa das Christentum gewählt – ich wurde vielmehr in eine christliche Gemeinschaft geboren und die Partikularität ihres Christentums wurde für mich gewählt. Das Christentum ist die Religion meiner Vorfahren, und so wurde es auch von meinen Eltern für mich bestimmt, und von ihren Eltern vor ihnen usw. Deshalb ist meine christliche Identität hauptsächlich dem Zufall meiner Geburt zuzuschreiben. Meine Eltern haben entschieden, mich als Kind in die christliche Kirche hinein taufen zu lassen. Als kleines Kind lernte ich die christliche Sprache, weil es die religiöse Sprache war, die um mich herum gesprochen wurde – sie wurde meine erste religiöse Sprache, meine gebürtige spirituelle Sprache. Die christliche Sprache hat mein ganzes Sein geprägt. Christliche Geschichten, christliches Ideengut, christliche Werte und Praktiken waren grundlegend in der Umwelt, in der ich aufgewachsen bin – wie die Luft, die ich atmete, und das Brot, das ich ass. Als abhängiges und verletzliches Kind hatte ich in dieser Phase meines Lebens

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keine andere Chance, als dem G-t, der mir gegeben, und dem Jesus, der mir gelehrt wurde, zu vertrauen. Die Ausbreitung der christlichen Kirche und die Vielfalt in ihr können verglichen werden mit der gewaltigen Geografie dieses Planeten und den unterschiedlichen Völkern, die ihn bewohnen. Ich wurde geboren und aufgezogen in der Evangelical United Brethren-Region des Christentums.6 Die pietistischen Überzeugungen dieser Denomination nährten und trugen mich in meinen ersten Jahren. Zur selben Zeit war ich voller Anliegen, die ich selber als Fragen empfand, von den Erwachsenen hingegen als Zweifel betrachtet wurden. Die einzige lebendige Erinnerung, die ich an die Sonntagsschule habe, war jene, in welcher ich meine Hand aufhielt, um eine Erklärung für Wunder zu erhalten. Der Lehrer hatte nur einen leeren Blick, und es herrschte eine schmerzliche Stille, bevor er endlich Worte finden konnte. Neun Jahre alt geworden, war es eine Frage zu einer bestimmten Art von Wunder, die sich mir besonders hartnäckig stellte: „Wie genau heilte Jesus die Kranken?“ Heilungsgeschichten versetzten mich in Unruhe. Mir war beigebracht worden, dass G-t allmächtig, allwissend und allgegenwärtig sei. Dies machte klar, dass G-t auch die Wahl hatte, meine schwer erkrankte Mutter zu heilen, sich aber offensichtlich dagegen entschied – eine Folgerung, die ich, aus Gründen, die ich nicht zu erklären vermochte, nicht akzeptieren konnte. Später lernte ich, dass einige der christlichen Leiter im Umfeld meiner Familie, der Pfarrer einbegriffen, glaubten, ihre Krankheit sei die Folge ihres ungenügenden Glaubens. Ich war zutiefst beunruhigt über diese Reaktion. Sie kam mir sowohl selbstgerecht vor wie auch als ein Mangel an Respekt und Mitgefühl von Menschen, die uns kaum kannten. Dieses sehr verbreitete Ringen – wie bringt man das Leiden, die Hartherzigkeit von religiösen Menschen und einen G-t, ausgestattet mit aller Macht und allem Wissen, zusammen – war der erste Aspekt meiner Lebenserfahrung, der mich dazu brachte, mich für andere religiöse Möglichkeiten zu öffnen. Bedrängt wurde ich auch in jungen Jahren durch den Ruf, andere zu evangelisieren: Ich erinnere mich genau daran, mich dagegen gewehrt zu haben, religiöse Literatur an einer Strassenecke zu verteilen; es schien mir stark dem zu gleichen, was man meiner Familie angeboten hatte – christliche Selbstrechtfertigung und einen Mangel an Respekt und Mitgefühl auf der Basis einer nicht wirklich bestehenden Beziehung. Ich war nie anderen Religionen ausser dem Christentum ausgesetzt, ehe ich College-Studentin wurde. Im College traf ich auf Menschen, die das lebten, was meine christliche Gemeinschaft „geist-erfülltes Leben“ nannte, obschon sie 6 Die Evangelical United Brethren Church (EUB) entstand aus dem Zusammenschluss zweier USamerikanischer protestantischer Freikirchen evangelikaler Ausrichtung und schloss sich selbst wiederum 1968 mit The Methodist Church zusammen zur Bildung der United Methodist Church. Vgl. dazu Georg Schmid / Georg Otto Schmid (Hg.), Kirchen, Sekten, Religionen, Zürich 7 2003, 97; “Evangelical United Brethren Church.” The Columbia Encyclopedia, 62008. Encyclopedia.com. (July 23, 2011). http://www.encyclopedia.com/doc/1E1-EvangUBC.html

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keine Christen waren. Sie taten die gute Arbeit, von der mir beigebracht worden war, sie sei die Frucht christlichen Lebens. Aber es war deutlich, dass zahlreiche Menschen ausserhalb der christlichen Kirche mit Mitgefühl, Verantwortung, Brillianz und Liebe lebten. Anhand dieser Qualitäten halfen sie, auf Erden das zu bauen, was ChristInnen das Reich G-tes im Himmel nannten. „Nicht-ChristInnen“ schienen darin manchmal aktiver zu sein als ChristInnen, die ich kannte. Dennoch war mir bis zu diesem Zeitpunkt beigebracht worden, dass diese guten Menschen von G-t verdammt würden, weil sie nicht ChristInnen waren. Dieser zweite Erfahrungsaspekt – die Behauptungen von christlicher Seite, dass Menschen, deren Leben voll jener Heiligkeit war, die das Christentum mich lehrte zu suchen, dennoch verdammt würden – wurde zu einer weiteren Arena tiefer Anfechtungen. Diese Erfahrungen brachten mich an einen Wendepunkt. Ich sah mich vor eine Wahl gestellt, vor die viele ChristInnen gestellt werden: entweder zu glauben, dass G-t gute Menschen verdammt, weil sie nicht ChristInnen waren, oder die bisherige Art zu glauben abzulegen. Dieser Wendepunkt war gleichzeitig beunruhigend und unausweichlich für mich. Es war klar, dass ich meine Erfahrung mit G-t und Liebe zu G-t nicht an eine christliche Doktrin preisgeben wollte, es nicht konnte. In meinen eigenen Andachtsübungen war ich dazu gekommen, G-t als endlose Liebe zu sehen, als Barmherzigkeit und äusserstes Erbarmen. Zudem schien mir diese Verdammung grotesk, da Jesus selbst ja auch kein Christ gewesen war. Es war jedoch zugleich beunruhigend, da ich zu der Zeit noch nicht wusste, ob meine Verweigerung, in die Verdammung von Menschen ausserhalb der Kirche einzustimmen, bedeutete, dass ich nicht länger eine Christin war. Später setzte ich meine Suche nach dem Göttlichen Mysterium fort, indem ich Theologie studierte und dabei andere ChristInnen kennenlernte, die mit denselben und ähnlichen Problemen beschäftigt waren. Meine persönliche Geschichte, die ich hier kurz skizziert habe und die später durch mein Studium von Religion und spirituellen Praktiken noch angereichert wurde, hat langsam zur Bildung theologischer Grundüberzeugungen geführt. Diese stellen ein Fundament bereit für jenes Mass an Offenheit und jene Art von Care, die ich für mich als Christin in Bezug auf religiöse Vielfalt erforderlich finde. Jede einzelne benötigte eine eingehende Begründung, die hier angesichts des Platzes nicht geliefert werden kann. Ich kann sie lediglich auflisten unter Berücksichtigung ihrer logischen Beziehung und ausgewählter biblischer und theologischer Belege. – Am Grundlegendsten für mich: Dass so viel an Ursprünglichem, an Letztgültigem, an Werten und an Bedeutungen unbekannt oder bekannt sind, aber von der Menschheit nicht praktiziert werden, konstituiert ein Divine Mystery – ein wertvolles Enigma gottähnlicher Signifikanz, bewundernswert und Respekt erheischend. Divine Mystery ist zugleich in und jenseits der den Menschen bekannten Welt, nicht anthropomorph, aber immanent und auch transzendent. Die Hebräi-

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sche Schrift sagt dazu, dass G-tes Gedanken nicht unsere Gedanken seien (Jes 55,8); in der Griechischen Schrift steht, dass wir nur Stückwerk erkennen und nicht von Angesicht zu Angesicht (I Kor 13,12). Kein religiöses System kompromittiert die Unerkennbarkeit des Divine Mystery. Der Ursprung des Lebens liegt im Göttlichen Mysterium. Die Schöpfung erschafft nicht sich selbst. Aber die Schöpfung ist mit g-tlicher Kraft und Möglichkeit beschenkt, wie auch mit Schönheit und Leiden. Wie es in Genesis geschrieben steht: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (Gen 1,1) Und er schuf den Menschen “als sein Bild”, und was er schuf, “war sehr gut” (Gen 1,27 u. 31). Daher sind alle Menschen und konsequenterweise auch alle Religionen wertvoll und schützenswert und mit dem Potential ausgestattet, mittels dem ein kurzer Blick auf Divine Mystery erhascht werden kann. Zur selben Zeit, insbesondere aufgrund unseres freien Willens, belegt die Geschichte, dass die Menschheit Religionen und die Macht des Divine Mystery auch dazu benutzt hat, um Schaden anzurichten. Im Christentum wird das unnötige Anrichten von Leid traditionellerweise als Sünde bezeichnet. In meiner Tradition haben ChristInnen das Christentum dazu verwendet, sowohl psychospirituell als auch physisch Schaden anzurichten. Aufgrund der Sünde ist es von grosser Bedeutung, dass die Menschheit als erschaffen im Bilde von YHWH, metaphorisch gesprochen, die Arme und Beine des Göttlichen Mysteriums wird (Sçlle 1978, 98 f). Ich kann weder durch meine Gedanken noch durch meine Taten das Geschenk meines Lebens verdienen oder bezahlen oder es vor Zerstörung retten. Ich kann hingegen das Geschenk ehren und sogar schützen, indem ich den Schaden, der Sünde anrichtet, bekämpfe und zu dem beitrage, was bleibend und essentiell ist: „Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der HERR von dir fordert: Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.” (Mi 6,8) Die Direktheit und Vollständigkeit dieses Textes formt mein persönliches und professionelles Leben, auf dass es soweit wie möglich, Divine Mystery verkörpern und daraufhin verweisen möge. Gerechte Beziehungen angesichts von Unterdrückung, Mitleid bei Leid und Selbstprüfung angesichts von dem, was am meisten heilig ist – dies ist meine Verantwortung in Bezug zur Realität von Sünde. Meine erste Loyalität gilt Divine Mystery. Wie in der Hebräischen Bibel ausgedrückt: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex 20,3; Dtn 5,7); noch sollst Du Dir ein Gottesbild machen (Ex 20,4; Dtn 5,8). Ich habe die Aufgabe zu verhindern, dass eine spezifische Religion, Denomination, Kongregation oder ein Anführer den Platz des Göttlichen Mysteriums in meinem Leben usurpiert. Göttliches Mysterium übersteigt alles menschliche Verstehen. Eine Spiritualität der Demut kultiviert die Voraussetzung meines Rechts, überhaupt von ihm zu sprechen. Das Paradox, einerseits Stille zu bewahren in der Präsenz des Göttlichen und zugleich die Erfahrung des Göttlichen mit anderen zu teilen, kommt im Titel eines Buches des Theologen Peter Rollins zum Ausdruck: How (Not) to Speak of God (2006). Das Göttliche Geheimnis existiert um seiner selbst willen, nicht um von menschlicher Seite her aufgedeckt oder gelöst zu werden. Alle menschlichen Be-

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hauptungen hinsichtlich Sinn und Wert – dem, was am meisten zählt (“What Matters Most”) – sind partiell, auch wenn sie wahr sind. In ähnlicher Weise werden Religion und Theologie angemessen betrieben nicht als ein Reiseziel, sondern als eine suchende Reise zur „Einstellung auf das, was unser Wissen übersteigt“ (Keller 2008, xi). – Das Geheimnis, in welchem Menschliches und Göttliches zusammenkommen, wurde überschwenglich übermittelt im Leben des Juden Jesus von Nazareth. Aufgrund meiner Geburt in einer christlichen Gemeinschaft und meiner späteren Wahl ist der jüdische Rabbi Jesus mein primärer spiritueller Lehrer. – Die biblische Überlieferung zeigt, dass Jesus mich über offensichtliche Antworten und gedankenlosen Gehorsam hinaus drängt. Wenn Jesus sein Vorbild ist, dann sollte das Christentum aus denkenden ChristInnen bestehen, um John Cobbs bemerkenswert ungewöhnliche Kombination eines Adjektivs und eines Substantivs zu gebrauchen (Cobb 1993, Kursivsetzung KG). – Der biblische Auftrag, Jünger zu machen, wird m. E. am besten beleuchtet mit den Worten einer christlichen Schriftstellerin: „We convert, if we do at all, by being something irresistible, not by demanding something impossible.“ (Sarton 1977, 57 f)

3. Reflexionen über Seelsorge/Beratung und religiösen Pluralismus: Die pastoraltheologische Methode der Fallstudie (Case Study) Ich wende mich nun einer zweiten pastoraltheologischen Methode zu, um die Frage zu beantworten, was von uns gefordert wird, wenn wir uns Andersreligiösen öffnen wollen. Eine Grundlage der Pastoraltheologie ist die Bekräftigung, dass jede Lebenssituation das Potential hat, eine Quelle von Weisheit und sogar Offenbarung des Göttlichen Mysteriums zu sein. Fallstudien – eine Form der sogfältigen Reflexion auf eine spezifische Erfahrung, üblicherweise eine Erfahrung der Bedürftigkeit – haben somit das Potential einer spirituellen Übung. Zur dichten Reflexion über menschliche Erfahrung wählen PastoraltheologInnen oftmals Erzählungen von Menschen der Gegenwart, vielleicht Menschen, denen wir in seelsorglichen Situationen begegnet sind. Wir können aber auch beginnen, über Erzählungen zu reflektieren, die aus der menschlichen Imagination stammen. Für unsere Zwecke habe ich mich dazu entschlossen, als Basis eine Geschichte zu verwenden, die in einem Film erzählt wird: The Visitor (McCarthy 2007).7 Dieser Film adressiert nicht explizit religiösen Pluralismus, fokussiert aber auf Migration, die oftmals die sichtbarere Vorderseite in Situationen religiöser Vielfalt ist. Der Film bietet reiches Material für unsere Reflexion an, weil er von einer Geschichte über tief 7 Der Film erschien in deutsch unter dem Titel „Ein Sommer in New York“.

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bedeutsame Themen der Spiritualität handelt: Verletzlichkeit und Sterblichkeit, Verlust und Trauer, Sinn und Werte, und wie die Begegnung mit Menschen, die von uns verschieden sind, bemerkenswerte Veränderungen im Leben aller Beteiligter in Gang zu setzen vermag. Ich beginne, wie diese Methode es stets tut, mit einer sorgfältigen Beschreibung jener menschlichen Situation, die betrachtet werden soll, und vermeide jegliche interpretativen Kommentare, es sei denn, sie stammen von den direkt Beteiligten. Nach der Schilderung kommentiere ich drei Dimensionen menschlicher Erfahrung, die in dieser Erzählung evident sind und zu Offenheit beizutragen scheinen.

Beschreibung Walter Vale ist weiss, männlich und mittleren Lebensalters. Er lebt und arbeitet ausserhalb von New York City. Zwanzig Jahre lang lehrte er als ÖkonomieProfessor an einem College in einer Kleinstadt. Aber Walter war schon seit längerer Zeit über das akademische Leben desillusioniert. Er hielt dieselbe Veranstaltung mit demselben Inhalt, seit er sich erinnern mochte. Er schrieb vermeintlich an einem Buch, auf dessen Gelingen er jedoch schon vor Jahren zu hoffen aufgehört hatte. Im Film lernen wir Walter kennen inmitten der Trauer darüber, dass seine Frau ein paar Monate zuvor verstorben war. Da sie eine Konzertpianistin gewesen war, versucht er, Klavier spielen zu lernen, und verbringt oftmals seine Zeit damit, klassische Musik zu hören. Walter scheint wie schlafwandelnd durch sein Leben zu gehen; all seine Emotionen scheinen wie abgetötet zu sein. Als ein Student wegen persönlicher Probleme eine Arbeit verspätet einzureichen versucht, lehnt Walter sie und den Studenten brüsk ab, ohne Empathie und obwohl Walter allzugut weiss, was es heißt, Probleme zu haben. Als der Dekan Walter auffordert, anstelle eines verhinderten Kollegen einen Vortrag in New York City zu halten, versucht Walter abzulehnen. Bald erfahren wir, dass Walter nicht nach New York City will, da er und seine Frau vor deren Tod dort eine Wohnung miteinander teilten. Walter hatte diese Wohnung nicht aufgegeben, aber seit vielen Monaten nicht mehr benutzt. Der Dekan insistiert. Als Walter in der Wohnung eintrifft, entdeckt er, dass ein junges Paar, Tarek und Zainab, schon seit zwei Monaten dort lebten, da sie einem Maklerbetrug zum Opfer gefallen waren. Walter ist sehr erschrocken, schafft es aber, ihnen höflich mitzuteilen, dass sie gehen müssten. Walter sitzt auf der Couch, schaut gelassen zu, wie sie ihre Habseligkeiten einpacken und mit den Tüten kämpfen. Kurz nach ihrem Weggang findet er ein Bild von ihnen beiden, das sie vergessen hatten und auf dem sie glücklich waren. Plötzlich rennt Walter zur Strasse hinunter und versucht sie zu finden, um ihnen das Bild zu geben. Walter findet sie und realisiert nach ihrem kurzen Gespräch, dass sie keine Bleibe haben. Irgendetwas veranlasst ihn zu einer Wende. Walter lädt Tarek

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und Zainab ein, in seiner Wohnung zu bleiben, bis sie eine eigene Unterkunft gefunden hätten. Tarek ist wie Walters Frau Musiker. Er trommelt. Am nächsten Tag kommt Walter in seine Wohnung zurück und trifft ihn beim Üben an. Tarek lädt Walter ein mitzutrommeln. Walter lehnt sofort ab, aber als Tarek hartnäckig bleibt und anbietet, ihm zu helfen, setzt sich Walter langsam hin und beginnt vorsichtig auf einer Trommel zu klopfen. Die nächsten Tage führt Tarek Walter in eine Welt von Rhythmen ein, die Walter zuvor nicht gekannt hatte. Er geht mit, um Tareks Gruppe in einem Jazz-Club anzuhören und begleitet ihn zu einer Trommel-Gruppe im Park. Walter vernimmt Tareks Migrationsgeschichte, seine Ankunft in den USA in jungen Jahren aus Syrien. Dank Tareks Ermutigung wird Walter ein ziemlich guter Trommler. Walter scheint weniger isoliert und scheu und lächelt etwas häufiger. Eine Freundschaft scheint sich zu entwickeln. Eines Nachmittags eilen Walter und Tarek auf die Untergrundbahn. Nach dem Bezahlen hat Tarek Mühe, sich selber und seine Trommel durch das Tor zu bringen, weshalb er schliesslich drüber springt. Die Polizei, die ihn aus der Nähe beobachtet, benutzt dies als Vorwand, ihn anzuhalten und festzunehmen, Walters Erklärungen und Protest zum Trotz. Walter kehrt zur Wohnung zurück und muss Zainab beibringen, dass Tarek verhaftet wurde. Obwohl Walter davon überzeugt ist, dass Tarek befreit werden wird und alles wieder gut kommt, ist Zainab entsetzt. Beide seien sie ohne Papiere im Land, erzählt sie Walter: „Es wird nicht OK sein.“ In ihr Leben hineingezogen, versucht Walter verzweifelt, ihnen zu helfen. Er stellt einen Immigrationsanwalt an. Er besucht Tarek in Untersuchungshaft. Als Tareks Mutter, Mouna, aus Michigan eintrifft, vernimmt er die ganze Geschichte ihrer Migration: Mouna brachte Tarek in die Staaten, als er noch sehr jung war und vor der Verfolgung in Syrien fliehen konnte; beide immigrierten illegal, um nicht zurückgeschickt zu werden. Sie und Tarek lebten in den USA seit zwanzig Jahren, und sie hatte schwer gearbeitet, um ein stabiles Leben aufzubauen und um Freunde zu gewinnen. Wie Tarek und Zainab war auch Mouna ohne Papiere. Walter kümmert sich nun auch um Mouna. Er lädt sie ein, in der Wohnung zu verbleiben. Sie kann nicht ins Deportationszentrum, um Tarek zu besuchen, weil sie selber keine legalen Papiere vorweisen kann. Aber Walter bringt sie dorthin, und sie wartet draussen, er bringt ihre Briefe zu Tarek. Walter stellt Mouna Zainab vor. Walter und Mouna, beide verwitwet, finden Gemeinschaft und empfinden Zärtlichkeit füreinander. Aber alle Bemühungen Walters für diese Familie verlaufen im Sande. Innerhalb weniger Tage und ohne jegliche Vorwarnung wird Tarek nach Syrien ausgeschafft. Walter schreit die Ausschaffungsverantwortlichen an und realisiert, dass seine Staatsbürgerschaft ihn nicht dazu ermächtigt, die Situation zu beeinflussen. Zainabs Herz ist gebrochen. Sie verschwindet aus Furcht vor der Polizei. Um Tarek zu helfen, kehrt Mouna nach Syrien zurück, in Unge-

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wissheit darüber, ob sie in Sicherheit sein wird, und traurig über die Gewissheit, dass sie in die USA nie mehr wird einreisen dürfen und dass sie ihr bisheriges Leben verliert. Am Schluss ist Walter wieder allein, ausser dass er die Trommeln besitzt, die Tarek zurückgelassen hatte. Die letzte Szene des Filmes zeigt Walter, der in der Subway Trommeln spielt. Im Verlauf von nur zehn Tagen hat sich Walters Perspektive in grundlegender Weise verändert.

Überlegungen zur Erzählung Nach meiner Ansicht handelt es sich bei der Frage, wie wir uns öffnen können für Menschen anderen Glaubens, mindestens so sehr um eine Frage der Spiritualität wie um eine der Lehre. Ernstes Leid und akute menschliche Not können manchmal ziemlich plötzlich die Unvollkommenheit einer Lehre offenbaren. Vielleicht ist es deshalb, dass ein Spruch, den man dem Dalai Lama zuschreibt – „My true religion is kindness.“ – so oft zitiert wird. Aber Güte, die es verdient, als wahre Religion bezeichnet zu werden, ist nicht einfach zu praktizieren. Sie erfordert spirituelle Ressourcen und Reife. Aufgrund der spirituellen Anforderungen von Offenheit und Begleitung in Situationen religiöser Vielfalt versuche ich absichtlich, die gängigsten Gemeinplätze zu vermeiden, die in solchen Diskussionen verwendet werden, wie zum Beispiel Inklusivität, Respekt, Willkommen, Gastfreundschaft, Empathie, Mitgefühl. Dies sind selbstverständlich wesentliche Elemente unserer Begleitung und Beratung. Auf der Grundlage der Reflexion über den Film The Visitor wende ich mich drei weniger üblichen Aspekten von Offenheit zu: unserer Leere, unserer Fremdheit und unserer Kindsähnlichkeit. Unsere Leere Ein zentrales Moment für unser Thema zeigt sich im Film, als Walter umkehrt und Tarek und Zainab zurück in seine Wohnung einlädt. Wie kommt es, dass dies möglich wird? Als wir Walter begegnen, scheint er ein leerer Mann zu sein. Der Tod scheint ein psychospiritueller Tsunami gewesen zu sein, der nicht bloss seine Frau wegschwemmte, sondern auch die wackeligen Strukturen, die sein Leben zusammengehalten hatten. Dennoch, es scheint, als ob dieser letzte Angriff alles ausser die letzten Sehnen seiner Lebenskraft wegzufegen vermochte. Es ist nicht so, dass Walter sich in seinem Unglück suhlen würde. Aber seine natürliche menschliche Trauer hat keinen guten Verlauf genommen. Er sucht Trost in der klassischen Musik, die seine Frau liebte, findet aber keine Erfüllung. Als er Tarek und Zainab mitteilt, dass sie gehen müssen, schaut er ihnen aus der Distanz nach, nicht unfreundlich, aber dennoch in einer desinteressierten und unberührten Art. Dann findet er jedoch ein zurückgelassenes Foto, auf dem die beiden glücklich zusammen sind,

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und bei diesem Anblick öffnet er sich ein wenig. Er öffnet sich weit genug, um den Versuch zu unternehmen, ihnen das Foto zurückzugeben. Danach, schon mehr engagiert, lädt er sie schliesslich nach Hause ein. Das bekannte buddhistische Koan über Nan-in, einen japanischen Meister der Meiji Ära (1868 – 1912), der einen Universitätsprofessor empfing, welcher sich über Zen kundig machen wollte, war mir immer wieder eine Hilfe. Nan-in servierte Tee. Er goss die Tasse seines Besuchers voll und hörte nicht auf, sie zu füllen. Der Professor sah zu, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte. „Sie ist übervoll. Es geht nichts mehr rein!“ „Wie diese Tasse,“ sagte Nan-in, „bist auch Du voll von Deinen Meinungen und Spekulationen. Wie soll ich Dir Zen zeigen, ausser Du leerst zuerst Deine Tasse?“ Die Beobachtung von Meister Nan-in über den Universitätsprofessor mag für uns instruktiv sein, wenn wir in eine interreligiöse Begegnung gehen in der Meinung, wir seien offen, aber in Tat und Wahrheit voll von eigenen Meinungen und Spekulationen über religiöse Vielfalt sind. Interreligiöse Seelsorge und Begleitung erfordern von uns soviel Leere wie alle anderen professionellen Begleitungs-Beziehungen. Diese Leere ist ein klarer Raum, in welchem wir uns konzentrieren, wahrnehmen, unterrichtet werden, lernen und, wenn wir Glück haben, Verbundenheit zwischen uns und Andersreligiösen schaffen können. Solche fruchtbare Leere wird manchmal schon durch unser Verlangen nach ihr kreiert. Häufiger jedoch verlangt uns nicht nach Leere, weil wir Mühe bekunden, sie vom Totsein zu unterscheiden, wie es Walters Leben charakterisierte. Offene Wunden tendieren dazu, uns von Ambitionen zu befreien, und die Befreiung von hohen Ansprüchen (wie auch von Meinungen und Spekulationen) ermöglicht es uns, anderen gegenüber offener zu sein. Unsere Fremdheit Auf unserer Suche nach Möglichkeiten, uns für Andersgläubige zu öffnen, zeigt sich ein weiteres wichtiges Moment im Film, als Walter zum ersten Mal eine Trommel anfasst. Dieses Moment baut auf den vorderen auf – Walter kann sich nach einer Trommel ausstrecken u. a. aufgrund seiner Leere. Vor dem Tod seiner Frau war Walter voll vom Üblichen und Typischen. Wenn wir erfahren, dass er dieselben Unterrichtseinheiten in Ökonomie für zwanzig Jahre gelehrt hatte, so verweist dies darauf, dass Walter wohl zahlreiche Dinge routinemässig tat, die auch nichts Überraschendes mehr an sich hatten. Doch mit dem Verlust seiner Frau fehlte das Herz seiner Routine, und Fremdheit bemächtigte sich seines Lebens. Als er Tarek trommeln hört, scheint es wie ein Ruf an Walters Körper zu sein, und er reagiert wie magnetisch angezogen von der Fremdheit. Aber es ist nicht Tareks Fremdheit oder jene der Trommel, die Walter letztlich öffnen. Es ist vielmehr seine Bereitschaft, die Begegnung mit der Fremdheit in ihm selber zu riskieren. Wenn Tarek ihn zuerst einlädt zu spielen, können wir den inneren Kampf in Walters Gesicht ablesen. Will ich

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das Risiko eingehen, mich evtl. unwohl zu fühlen? Will ich mir selber erlauben, diesem Mann gegenüber verletzlich zu sein, den ich gerade erst kennengelernt habe, und ihm erlauben, mein Lehrer zu sein? Will ich ihm in seine Welt folgen, in Jazz Clubs und Trommelzirkel im Park? Will ich mir erlauben, mich nicht verantwortlich zu fühlen, nicht wissend, verletzlich? Während wir über Migration nachdenken und darüber, wie wir uns für Andersreligiöse öffnen können, richten wir kaum Aufmerksamkeit auf die Andersheit von MigrantInnen und die Andersheit Andersreligiöser. Aber ihre Andersheit ist nicht das einzige und vermutlich nicht einmal das grösste Hindernis für unsere Offenheit. Wir können uns nur in dem Ausmass für Anderes öffnen, wie wir die Begegnung mit der Fremdheit in uns selber tolerieren können. Walters Aufblühen geschieht nicht so sehr, weil er gastfreundlich sein Heim öffnet für Tarek, Zainab und Mouna, sondern weil er sich erlaubt, dem Fremden in sich selber zu begegnen. Wir können uns ihn vorstellen, wie er sich ungläubig Fragen stellt: „Was mache ich da eigentlich mit Fremden im Haus, trommeln, Musik machen auf der Strasse?“ ChristInnen haben Hebr 13,2 unzählige Male gehört: „Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht – so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“ Der Text wird üblicherweise dazu verwendet, Gastfreundschaft gegenüber der Fremdheit Anderer in Erinnerung zu rufen. Wir könnten jedoch Gewinn daraus ziehen, ihn als Ruf an uns selbst zu lesen, nämlich uns selber zu öffnen für unsere eigene Fremdheit und dort etwas vom Göttlichen Geheimnis zu erkunden. Eine weitere biblische Stelle bringt es auf den Punkt: „Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.“ (Dtn 10,19) Unsere Kindsähnlichkeit Auf unserer Suche nach Wegen, uns für Andersgläubige zu öffnen, tritt ein drittes zentrales Moment in Erscheinung, als Walter offen genug ist, sich wie ein Kind zu benehmen. Wiederum baut dieser Aspekt auf den vorhergehenden auf: Walter, mit seiner Leere, ist bereit, Ungewohntes zu versuchen, und dadurch kommt seine Kindsähnlichkeit zum Vorschein. Er ist scheu, als Tarek ihn einlädt zum Trommelspiel. Er geniert sich, im Trommelzirkel im Park mitzumachen. Aber er ist nicht einfach ein verlegenes Kind. Als Tarek plötzlich ausgeschafft wird, kriegt Walter einen Wutanfall. Mit dem tiefen Gerechtigkeitsempfinden eines Jugendlichen schreit Walter den gelassenen Immigrationsbeamten an und berichtet ihm von Tareks Herzensgüte und Leben und prangert das Böse und die Ungerechtigkeit an, die seinem Freund widerfährt. Uns Andersreligiösen gegenüber verschlossen zu halten, ist meistens gekoppelt an das Denken und die Strategien Erwachsener. Es ist unsere Kindsähnlichkeit, die uns hilft, uns zu öffnen. Wenn wir uns ihr gegenüber zu öffnen

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vermögen, wird es uns nicht soviel ausmachen, ob andere in unserer Tradition uns als naives oder schlecht erzogenes Kind behandeln aufgrund unserer Offenheit für religiöse Vielfalt. Wenn es uns gelingt, kindsähnlich zu sein, werden wir nicht nur bewegt von der Musik anderer Religionen; wir werden in sie einstimmen und die Musik kennenlernen wollen, die andere Menschen anderer Religionen so lieben. Wenn es uns gelingt, den Weg freizumachen für das Bedürfnis des Kindes nach Liebe und Gerechtigkeit und ab und zu die Regeln brechen können aufgrund unseres liebenden Respekts vor anderen, dann werden wir mehr als bloss offen sein für Andersgläubige. Wir werden dazu fähig, manchmal alle Vorsicht in den Wind zu schlagen, um das zu verlangen, was in dieser Welt schier unmöglich scheint: Gleichberechtigung mit unseren religiösen Schwestern und Brüdern und ein Ende des Tötens im Namen von Religion.

4. Schlussfolgerung Die Geschichte von Walter, Tarek, Zainab und Mouna erinnert daran, dass es nicht immer klar ist, wer BesucherIn und wer GastgeberIn ist. Sie ist auch eine Ermutigung dazu, dass wir sowohl als Gastgebende wie auch als Besuchende gütig sein können, wenn wir uns erlauben, unserer eigenen Leere, Fremdheit und Kindsähnlichkeit gegenüber offen zu sein. In ähnlicher Weise sind wir alle MigrantInnen, auf der Reise in der Gegenwart des Göttlichen Mysteriums. Unsere Offenheit und unser Caring für Menschen anderen Glaubens wird letztlich von unserer Offenheit fürs Göttliche Geheimnis abhängen, die Andersheit, auf die es am allermeisten ankommt.

Literatur Cobb, John B., Jr. 1993. Becoming a Thinking Christian. Nashville: Abingdon. Ellens, J. Harold, ed. 2008. The Destructive Power of Religion: Violence in Judaism, Christianity, and Islam. Condensed and updated ed. Westport, CT: Praeger. Keller, Catherine, 2008. On the Mystery : Discerning Divinity in Process. Minneapolis: Fortress. Knitter, Paul F., 22008. Introducing Theologies of Religions. Maryknoll, N.Y.: Orbis. McCarthy, Tom, director. 2008. The Visitor. Beverly Hills, CA: Overture. Rollins, Peter, 2006. How (Not) to Speak of God. Brewster, MA: Paraclete. Sarton, May, 1977. The House by the Sea. New York: Norton. – Society for Intercultural Pastoral Care and Counseling. Program materials for 22nd International Seminar : „Dynamics of Migration Today : Pastoral Care and Co-

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unseling in a Socio-Political and Cultural Context.“ Accessed December 17, 2010. http://www.ekir.de/sipcc/fr_set_engl-stras-start1.htm. Sçlle, Dorothee, 1978. Death by Bread Alone. Trans. David L. Scheidt. Philadelphia: Fortress.

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Der Islamische Gruß Der Beginn eines Ausbildungskurses in „Islamischer Seelsorge im Krankenhaus“

Christoph Morgenthaler hat uns in seinem Buch „Systemische Seelsorge“1 gelehrt, für die Seelsorge „alte neue Perspektiven“ zu entdecken. Er hat dargestellt, was mit „System“ gemeint ist, und mit ihm konnten wir lernen, Menschen in ihren Beziehungssystemen zu sehen. Er bezieht sich vor allem auf das „System“ Familie, und systemische Seelsorge findet er besonders im System Gemeinde hilfreich, wie viele seiner Beispiele zeigen. In vielen Kursen habe ich mit den Gruppen sein Buch gelesen und besprochen, und für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren die Aussagen über die „Selbstdifferenzierung“ von entscheidender Bedeutung, nämlich „die Fähigkeit, eigene Lebensziele zu bestimmen und persönliche Werte unabhängig von äusserem Druck zu realisieren, ein ,Ich‘ zu sein und gleichzeitig mit anderen Menschen verbunden zu bleiben und die höchstmögliche Verantwortung für das eigene Schicksal und emotionale Sein zu übernehmen“.2 Seit vielen Jahren bin ich mit interkultureller und interreligiöser Seelsorge beschäftigt. Bei dieser Beschäftigung habe ich entdeckt, dass Kulturen und Religionen ebenfalls Beziehungssysteme sind, in denen sich Menschen in „Netzen von Bedeutungen“3 antreffen. Ohne diese Netze von Bedeutung können Menschen nicht sein,4 denn sie brauchen Orientierungs- und Kontrollmechanismen für ihr Verhalten.5 Und so „spinnen sie ein Netz von Bedeutung“, um sich verhalten zu können. Gleichzeitig brauchen sie einen dauernden Diskurs über Bedeutungen, um sich entwickeln zu können. 1 Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart. Ich beziehe mich hier auf 22000. Inzwischen gibt es schon eine 4. Aufl., was für ein Seelsorgebuch enorm ist. 2 Ebd., 114. 3 Geertz, Interpretation, 5: „Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs.“ Ebd., 12: „Culture consists of socially established structures of meaning.“ 4 Ebd., 49: „Without men, no culture, certainly ; but equally, and more significantly, without culture, no men.“ 5 Ebd., 44: „Culture is best seen not as complexes of concrete behavior patterns – customs, usages, traditions, habit clusters – as has, by and large, been the case up to now, but as a set of control mechanisms – plans, recipes, rules, instructions (what computer engineers call ,programs‘) – for the governing of behavior (…). Man is precisely the animal most desperately dependent upon such extragenetic, outside-the-skin control mechanisms, such cultural programs, for ordering behavior.“

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Wenn wir Menschen mit ihren Einstellungen und Verhaltensweisen verstehen wollen, werden wir auf ihre Kulturen verwiesen: Was ist für die Menschen einer bestimmten Gemeinschaft oder gar für einen bestimmten Menschen bedeutungsvoll, und in welchen Zeichensystemen drücken sie Bedeutung aus? Es geht darum, diese Zeichen ungefähr so zu lesen, dass mit diesen Menschen oder mit einer bestimmten Person Kommunikation erfolgen kann.6 Systemische und kulturelle Betrachtungen überschneiden sich also in vieler Hinsicht. Wie ist es nun mit Religion? Hier möchte ich mich an Gerd Theißen anschließen, der Religion folgendermaßen umschreibt: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“7 Und er fährt fort: „Was ist nun das Besondere des religiösen Zeichensystems? Es lässt sich als Kombination von drei Ausdrucksformen charakterisieren, die sich so nur in der Religion verbinden: durch Mythos, Ritus und Ethos.“8 In Seelsorge kommt vielleicht noch eine weitere Ausdruckform hinzu, nämlich die personale Beziehungsarbeit zwischen Menschen, die sich in religiöser Tradition („Mythos“) gründet, aus ethischen Grundsätzen speist und Lebensgewinn und Lebensvergewisserung vermitteln möchte.9 Im Folgenden möchte ich den Vorlauf und den Beginn eines Kurses in „Islamischer Seelsorge im Krankenhaus“ darstellen. Er ist eine besondere Herausforderung, weil in vielerlei Hinsicht verschiedene Zeichensysteme aufeinandertreffen, sowohl kulturell wie religiös. In der Gruppe der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die später vorgestellt werden, sind unterschiedliche Muttersprachen, unterschiedliche Länder der Herkunft und auch unterschiedliche Prägungen des Islam vorhanden – und diese Zeichensysteme treffen auf uns als Leiter, die Deutsch als Muttersprache haben und der „Mehrheitsgesellschaft“ angehören. Für uns als Leiter und professionelle Seelsorger gehört das Wort „Seelsorge“ zu einem in unsrer Gesellschaft akzeptierten „Zeichen“ und für uns persönlich selbstverständlich zu einem „Programm“, das uns über unsere Berufsjahre geformt hat. Die Muttersprachen der Gruppenmitglieder kennen kein Wort für „Seelsorge“, und insgesamt gibt es im Islam für diese spezifische religiöse Sorge keinen Begriff.10 Der Islam kennt – bisher – auch keine vergleichbare Ausgestaltung der Seelsorge, wie sie v. a. in den westlichen Kirchen als Gespräch und Beziehungsarbeit erarbeitet

6 Ebd., 24: „The whole point of a semiotic approach to culture is (…) to aid us in gaining access to the conceptual world in which our subjects live so that we can, in some extended sense of the term, converse with them.“ Dies ist aus der Perspektive der Ethnologie gesprochen, in der es darum geht, die Lebenswelt von Menschen kennen zu lernen. 7 Theissen, Religion, 19. 8 Ebd., 21. 9 Vgl. Morgenthaler, Seelsorge, 22ff unter der Überschrift „Dimensionen der Seelsorge“: „Seelsorge ist Beziehung“; „Seelsorge ist personal vermittelt“. 10 Vgl. Hauschildt/Ucar, Islamische Seelsorge, 257.

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wurde. Was aber deutlich wird, ist der Bedarf an „Seelsorge“ unter den Muslimen, die Gesprächspartner für ihre Bedürfnisse suchen.11 In vieler Hinsicht können wir entdecken, dass sich menschliches Erleben gleicht und dass ganz ähnliche Bedürfnisse bestehen, gleich welcher Religion Menschen angehören. Wir entdecken aber auch, dass dem Erleben unterschiedliche Bedeutungen gegeben werden und unterschiedliche Verhaltensweisen im Hinblick auf die jeweils unterschiedliche „letzte Wirklichkeit“ angesagt sind. So kommt es bei ähnlicher emotionaler Betroffenheit doch zu unterschiedlichen Reaktionen, die dann irritieren. Alle Beteiligten in diesem Kurs befinden sich in einem Diskurs, der an vielen Stellen interessant und schwierig ist und dessen Ausgang offen bleibt. Aber wir in SIPCC wollten uns diesem Diskurs stellen – und möchten die Leserinnen und Leser in ihn hinein nehmen. Allerdings sind keine fertigen Antworten zu erwarten. Es ist ein nicht einfacher Prozess der Annäherung, in dem Differenzen sich profilieren.

1. Erste Kontakte (2004 – 2007) Der Initiator in der SIPCC, sich mit islamischer Seelsorge zu beschäftigen, war Klaus Temme. Er hatte mehrere Jahre in dem Stadtteilladen der Diakonie in Düsseldorf mitgearbeitet, in dem viele interkulturelle und interreligiöse Aktivitäten stattfanden. Er organisierte dann auch im März 2004 eine eintägige SIPCC-Konsultation mit Muslimen und Christen zu der Frage, wie relevant der „persönliche Glauben für Migrantinnen und Migranten“ sei. Allerdings wurde deutlich, dass es trotz eines gewissen Interesses an diesem Thema und trotz vieler Kontakte mühsam blieb, zu gemeinsamen Planungen und Vorhaben zu kommen. Ein Besuch bei Vertretern der DITIP (Dachverband Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. – www.ditib.de) in Köln brachte ebenfalls keinen Fortschritt, obwohl gute Kontakte zu einigen Mitarbeitenden dort bestanden. Immer wieder überlegten Klaus und ich, was die Schwierigkeiten seien. Auf jeden Fall wurde uns deutlich, dass kulturelle und religiöse Differenzen nicht einfach zu überbrücken seien. Nur ein Beispiel: Wochen oder gar Monate vor einem Treffen eine Einladung zu verschicken, bewegte unsere muslimischen Ansprechpartner nicht, zu dem Treffen zu kommen, auch wenn sie bereits zugesagt hatten. Erfolg brachte nur, wenn man sie einige Tage vor dem Treffen noch einmal persönlich oder telefonisch einlud. Dennoch setzte Klaus Temme die Aktivitäten fort, Anstöße zu geben, um zwischen Christen und Muslimen einen Diskurs über Seelsorge zu führen. Sein Bemühen führten zu einem Erfolg beim 31. Evangelischen Kirchentag in Köln 2007. Im „Zentrum der Begegnung mit Muslimen“ in Köln-Mülheim und 11 Ebd., 256.

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in Zusammenarbeit mit der „Christlich-Islamischen Gesellschaft“ (CIG e.V. – www.chrislages.de) und dem Christlichen-Islamischen Forum wurde ein Werkstatt-Tag gestaltet mit dem Thema: „Christliche und muslimische Begleitung im Krankenhaus“, der in der SIPCC-Schriftenreihe „Interkulturelle Seelsorge und Beratung“ Nr. 14. dokumentiert ist. Uns war bekannt, dass es an anderen Orten, etwa an einer Klinik in Mannheim, Zusammenarbeit zwischen christlichen und muslimischen Ehrenamtlichen, die muslimische Patientinnen und Patienten besuchten, gab. Deshalb luden wir Vertreter des Seelsorgeteams aus Mannheim zu einem Gespräch nach Köln ein, über ihre Erfahrungen zu berichten. Dort hörten wir, dass muslimische Ehrenamtliche in die christliche Krankenhausseelsorge einbezogen würden. Anders würde die Verwaltung das nicht akzeptieren. Konnte das eine Weise der Zusammenarbeit sein? Oder musste eine islamische Seelsorge nicht eine selbständige Größe werden und sein? Diese Fragen führten zu der Erarbeitung einer Projektskizze.

2. Erarbeitung einer Projektskizze (2007 – 2009) Bei dem Werkstatt-Tag während des Kirchentages arbeitete von islamischer Seite Dr. Ali Topcuk mit, ein Lehrer für Islamunterricht an einer Duisburger Schule. Er zeigte großes Interesse, das Thema weiter zu verfolgen. Bei einer anderen Tagung in der Evangelischen Akademie unterrichteten Klaus Temme und ich Herrn Prof. Dr. Eberhardt Hauschildt von unseren Aktivitäten in Beziehung zur „Islamischen Seelsorge“, und er zeigte ebenfalls großes Interesse daran. Dadurch entstand eine Arbeitsgruppe (Prof. Hauschildt, Dr. Topcuk, Klaus Temme und ich), die sich mehrere Male traf und schließlich ein Papier ausarbeitete und ein Projekt vorschlug, in dem praktische muslimische Seelsorgearbeit, die Reflexion dieser Praxis in Kursen und die Bildung einer Theorie „Islamische Seelsorge im Krankenhaus“ miteinander verbunden werden sollten. Dieses Papier soll hier in Auszügen zitiert werden, weil es m. E. wesentliche Punkte festhält. Zu beachten ist, dass es auf die Szene in Deutschland zugeschnitten ist. Es geht also um eine Entwicklung in unserem hiesigen deutschen Kontext.

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Projektskizze:12 „Islamische Seelsorge im Krankenhaus“ Ziel und Zweck des Projektes Das Projekt „Islamische Seelsorge im Krankenhaus“ will einen Beitrag zur Integration13 von muslimischen Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesellschaft leisten, indem ihnen in der schwierigen Situation eines Krankenhausaufenthaltes religiöse Begleitung und Unterstützung gewährt wird. Gerade in einer Zeit persönlicher und familiärer Unsicherheit oder gar Gefährdung sollen Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige die Hilfe und den Trost erhalten können wie Menschen aus anderen Glaubensrichtungen auch, denen Seelsorge zuteil wird. Das Grundgesetz Art 140 in Verbindung mit Art 141 der Weimarer Reichsverfassung richtet ausdrücklich die Aufmerksamkeit des Staates auf die angemessene Deckung des Bedarfs an Seelsorge in Krankenhäusern: Soweit ein „Bedürfnis nach (…) Seelsorge (…) in Krankenhäusern besteht, sind Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.“ Seelsorge erhalten zu können, ist Teil der positiven Religionsfreiheit. Beim Aufenthalt im Gefängnis wird ein Seelsorgeangebot sogar staatlich finanziert. Das Projekt „Islamische Seelsorge im Krankenhaus“ ist ein Pilotprojekt zur Ausbildung ehrenamtlicher muslimischer Seelsorgehelfer/innen. Es dient der Qualifizierung islamischer Seelsorge. So will es dazu beitragen, das Angebot zur Heilung und zur Bewältigung von Krankheit zu verbessern. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass zum elementaren Aufgabenbereich von Krankenhäusern auch das „spiritual care“ gehört. Schon die bekannte WHO-Definition von Gesundheit spricht nicht nur vom körperlichen, sondern auch vom geistigen und sozialen Wohlergehen. Nach der WHODefinition ist etwa Aufgabe der Palliativmedizin „die Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.“ Die Fragen einer zukünftigen Professionalisierung und Institutionalisierung islamischer Seelsorge sind gegenwärtig offen. Es fehlen derzeit Personen wie Strukturen und Finanzierungen für diese gesellschaftliche Herausforderung. Der Anerkennung muslimischer Träger ordentlicher Anstaltsseelsorge steht derzeit entgegen, dass die Anforderungen für eine Körperschaft öffentlichen Rechts als gegenwärtig nicht erfüllt gelten. Schon jetzt aber ist unterhalb mittel- und langfristiger denkbarer Zielbestimmungen eine konkrete Verbesserung der Integration auf dem Gebiet der Seel12 Diese Projektskizze ist bisher ein internes Papier und nicht veröffentlicht. 13 Unter „Integration“ verstehe ich hier die Einbeziehung von Menschen islamischen Glaubens in den kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und religiösen Diskurs in Bezug auf unser Gesundheitswesen.

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sorge möglich. Das Projekt unterstützt die Bemühungen für die noch ausstehenden Entscheidungen, ohne diese inhaltlich vorwegzunehmen, und fördert die Möglichkeiten, lokale Lösungen als Zwischenschritte auf diesem Weg zu testen. Es sollen für eine „Islamische Seelsorge im Krankenhaus“ muslimische Personen so vorbereitet und ausgebildet werden, dass sie sensibel auf die Menschen und ihre Situation eingehen können. Dafür sollen anerkannte seelsorgliche Standards, wie sie in Deutschland für den Bereich der christlichen Kirchen gelten, angewandt werden. Die Zusammenarbeit mit christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern dient dazu, die Einhaltung der bestehenden Seelsorgestandards zu sichern. Die Seelsorgestandards sind im Wechsel von Praxiserfahrungen und Theoriereflexion so zu konkretisieren, dass daraus etwas entsteht, das von Muslimen als genuin islamische Seelsorge anerkennbar ist. Zwar kennt der Koran – ebenso wie die christliche Bibel auch! – keinen Begriff der Seelsorge. Während in den christlichen Bereich der Begriff ab dem 4. Jh. aus der platonischen Philosophie einwandert, gibt es einen direkten Parallelbegriff im islamischen Bereich nicht. Die Seelsorge, die mit dem Antrag14 gemeint ist, meint nun aber darüber hinausgehend eine bestimmte Form von Seelsorge, die sich auch im Christentum erst in der Moderne ergibt, als nämlich neben die rituelle Versorgung und die autoritative Weisung durch religiöse Leitungspersonen der Bedarf an Gesprächen wie zwischen Freunden über ethische Dilemmata, Unsicherheiten der Lebensführung und religiöse Zweifel tritt. In diesen Gesprächen muss sich erst immer je neu die Relevanz der Religion und ihre helfende Kraft für die einzelne Biografie erweisen. Dazu bedarf es gekonnten Hinhörens, vorsichtiger Interpretation und gemeinsamer Suche nach dem rechten Weg im Horizont des Glaubens. Ein solcher Bedarf nach muslimischer Gesprächsführung tritt erst im Kontext von modernisierter Lebensführung auf. Auch wenn bislang nicht so recht ein Begriff etwa im Arabischen oder im Türkischen dafür zuhanden ist und darum das Fehlen von Seelsorge vielen Muslimen in Deutschland nicht unmittelbar auffällt, liegt doch die Notwendigkeit, hier zu handeln, deutlich zutage. Indizien sind: 1. ein hoher Bedarf und großes Interesse an Seelsorge in bireligiösen Beziehungen, 2. die Angebote von „muslimischer Seelsorge“, nicht zuletzt auch durch radikalere Gruppen, die sich der deutschen Sprache bedienen, 3. die Literatur zur islamischen Seelsorge im englischsprachigen Bereich, 4. eine zunehmende Anzahl von interreligiösen Initiativen für die Seelsorge an Muslimen. Ganz ausdrücklich soll darauf hingewiesen werden, dass dieses Projekt alle muslimischen Mitbürger, gleich welcher Herkunft sie sind, einbeziehen will. Deshalb ist Zusammenarbeit mit allen interessierten islamischen Organisationen gewollt.

14 Gemeint ist die Projektskizze.

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Das Projekt wird in deutscher Sprache durchgeführt. Die Seelsorgegespräche selbst werden in vielen Fällen nicht auf Deutsch, sondern in einer anderen Sprache geführt werden, eben der Muttersprache von muslimischen Migranten erster und zweiter Generation. Im Ausbildungskurs selbst ist aber die Kern- und Kommunikationssprache das Deutsche, weil nur so ein muslimisches Seelsorgeverständnis für Deutschland, das Nationalkulturen des Islam übergreift und sich mit den Standards klinischer Seelsorgeausbildung in Deutschland auseinandersetzt, sich entwickeln kann und weil so am leichtesten der wissenschaftliche Diskurs über das Entstehende mit der deutschsprachigen Seelsorgetheorie geführt werden kann.

Zum Hintergrund Von den ca. 3,5 Mio. Muslimen, die zur Zeit in Deutschland leben, werden in Zukunft mehr und mehr Staatsbürger dieses Landes sein, deren erste Sprache deutsch ist. Es gibt Krankenhäuser mit einem Anteil von 40 % und mehr an muslimischen Patienten. Pro Jahr kommen in der Bundesrepublik Deutschland ca. 620.000 Muslime zur Behandlung in ein Krankenhaus und ca. 12.000 Menschen mit islamischer Religionszugehörigkeit sterben jährlich in deutschen Krankenhäusern. Eine Sterbebegleitung muslimischer Menschen ist unbedingt nötig. Die häufig allzu geringe interreligiöse und interkulturelle Sensibilität (bzw. schlicht Unkenntnis) des medizinischen und pflegerischen Personals ist das eine, aber hinzu kommt noch, dass in der Regel weder ein Raum für das Gebet noch islamische Seelsorge im Hause vorhanden ist. Manchmal ist dann der christliche Seelsorger Ansprechpartner – dies kann aber auf die Dauer keine alleinige Lösung sein. Deshalb sind Curricula zu entwickeln, die die Ausbildung strukturieren. Sie sollen auf theologischer wie menschlicher Ebene verbindlich die zu erwerbenden Lernziele, Qualifikationen und Kompetenzen formulieren und damit zur islamischen Seelsorge in Krankenhäusern befähigen. Eine enge Verknüpfung der christlichen und islamischen Seelsorge ist wünschenswert, insbesondere um im Rahmen des Erfahrungsaustausches voneinander und miteinander zu lernen. Dabei soll methodisch von den Erfahrungen des „Clinical Pastoral Training“ (USA ab 1950er Jahre) bzw. der „Klinischen Seelsorgeausbildung“ (KSA) (Deutschland ab 1970er Jahre) ausgegangen werden. Diese führten zu einer Reform der Seelsorgepraxis und Seelsorgetheorie über eine neue Art der Seelsorgeausbildung. Deren maßgebliches Instrument ist die Arbeit in der Gruppe an von den Auszubildenden vorgestellten anonymisierten Erinnerungs-Verbatims über Kernszenen in zuvor durchgeführten seelsorgerlichen Einzelgesprächen.

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Diese inzwischen weltweit bewährte und weiter fortgeführte Weise der Entwicklung von Seelsorge gewährleistet dreierlei: Erstens werden die tatsächlichen Inhalte, Themen und Verhaltensweisen in den Blick genommen, die die der Seelsorge Bedürftigen in das Gespräch einbringen. Zweitens geschieht eine Verbesserung der Seelsorge so, dass ausgegangen wird von den vorhandenen Fähigkeiten derer, die die Seelsorge erlernen. Drittens ist ein solches Curriculum offen dafür, die speziellen Inhalte und Formen der Seelsorge im Kontext einer bestimmten Religion in einer bestimmten Umwelt (hier : des Islams im Kontext des europäischen bzw. des deutschen Krankenhauses) zu erarbeiten und zu reflektieren.

Weiterhin werden dann in dieser Projektskizze die Phasen des geplanten Projekts und die Verantwortlichen und Durchführenden beschrieben. Trotz vieler Bemühungen der Arbeitsgruppe und besonders durch Eberhard Hauschildt, gelang es nicht, für die wissenschaftliche Begleitung und Erarbeitung eines Entwurfes einer „Islamischen Seelsorgelehre“ Geldgeber zu finden. Daraufhin traf die Gruppe die Entscheidung, mit einem Ausbildungskurs zu beginnen und auf diese Weise erste Erfahrungen zu sammeln. An dem Ziel, auch Theoriearbeit zu leisten, wurde festgehalten, auch wenn jetzt noch nicht klar war, wie sie bewältigt werden könnte. Der nächste Schritt war, muslimische Interessierte an einer Ausbildung einzuladen. Ali Topcuk übernahm dafür die Verantwortung. Zu einem ersten Treffen in der Begegnungsstätte der Moschee in Duisburg kamen etwa dreissig Frauen und Männer. Ein deutliches Zeichen, dass Interesse an einer Ausbildung bestand. Ausführliche Informationen zu Inhalt und Organisation eines Kurses wurden gegeben. Vielen war die Qualifizierung wichtig, um sowohl vor Patientinnen und Patienten, aber auch gegenüber der Krankenhausverwaltung und den Mitarbeitenden in Krankenhäusern deutlich machen zu können, dass eine qualifizierte Betreuung während der Krankenhausaufenthalte von muslimischen Frauen und Männern gewährleistet sei. Eine Kursausschreibung wurde geplant, konnte aber aus Krankheitsgründen und dann auch aus internen Gründen in der Begegnungsstätte nicht realisiert werden.

3. Ein Einführungskurs (Januar – Juni 2010) In dieser Situation wurden Klaus Temme und ich von ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern an den Universitätskliniken Essen angesprochen, ihnen Informationen über einen Seelsorgekurs zu geben, was wir gerne taten. Alle gehörten dem Verein „Medical Muslim Bridge“ – MMB (www.medicalmuslimbridge.de) an, der sich unter anderen Aufgaben zum Ziel gesetzt hatte, muslimische Patienteninnen und Patienten zu besuchen, um

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ihnen zu zeigen, dass sie auch in dieser schwierigen Situation der Krankheit von ihren Glaubensbrüdern und -schwestern nicht vergessen seien. Motiv war das islamische Gebot, Kranke zu besuchen. Nach einem Informationsnachmittag beriet die „Seelsorgegruppe“ von MMB darüber, ob sie sich auf einen Kurs einlassen wolle und kam schließlich zu einem positiven Entscheid. Acht Männer und Frauen waren bereit, einen Kurs zu absolvieren. Allerdings war von Anfang klar, dass einem 6-Wochen-Kurs ein Einführungskurs vorausgehen müsse. In ihm sollte überprüft werden, ob die angewandten Methoden für die muslimischen Seelsorgerinnen und Seelsorger hilfreich seien, v. a. auch, ob sie in ihren islamischen Glauben zu integrieren seien. Die Methodik war den KSA-Standards der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP; www. Pastoralpsychologie.de; dort unter Sektion KSA – Standards nachzulesen) übernommen: Besuche bei Patienten/Patientinnen im Krankenhaus (was die Teilnehmenden schon praktizierten); Schreiben von Gesprächsprotokollen; Reflexion der Protokolle in der Gruppe unter Supervision; Reflexion der Kommunikation und Beziehung zwischen Seelsorgenden und Patienten, um dadurch kommunikations- und Beziehungsfähigkeit zu fördern; Theorie zu Kommunikation und erste Ansätze der Reflexion der eigenen Person durch Biographiearbeit. Der Einführungskurs sollte insgesamt acht Tage umfassen, viermal zwei Tage mit jeweils vierzehn Arbeitseinheiten von 45 Minuten, insgesamt 64 Einheiten. Begonnen wurde der Einführungskurs im Januar 2010 mit acht Teilnehmenden, drei Frauen und fünf Männern. Hier eine kurze Auflistung der Tätigkeiten dieser Personen, ihr Geburtsjahr und ihre sprachlichen Kompetenzen: Sozialpädagogin (1973) deutsch, türkisch; Studentin Lehramt (1978) deutsch, türkisch; Studentin Medizin (1984) deutsch, arabisch; Dozent Fachbereich Recht und Psychologie (1963) deutsch, italienisch; Student Wirtschaftsinformatik (1985) deutsch; Diplom-Kaufmann (1974) deutsch, türkisch; Student Lehramt (1984) deutsch, türkisch; Student Psychologie (1979) deutsch, türkisch. Der Kurs fand in den Räumen von MMB statt. Die Kosten wurden in gegenseitigem Einvernehmen sehr günstig gestaltet, so dass alle daran teilnehmen konnten. Allerdings wurde nicht persönlich abgerechnet, sondern über den Verein. Veranstalter des Kurses war SIPCC unter der Leitung von mir als anerkanntem Lehrsupervisor in der DGfP und Klaus Temme. Schon bei den Informationen zu dem Kurs legten Klaus Temme und ich großen Wert darauf, deutlich zu machen, dass Seelsorge nach unserem Verständnis „personale Beziehungs- und Kommunikationsarbeit“ sei.15 Darauf zielten wir dann auch bei der Praxisreflexion in dem Einführungskurs. Für uns

15 Vgl. oben Anm. 9.

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wurde dies erstaunlicherweise sofort akzeptiert und mit großem Engagement aufgenommen. Überhaupt entdeckten wir ein großes Engagement zu lernen, eine Offenheit, über sich selbst nachzudenken und die eigene Person zu reflektieren und eine hohe Kompetenz in islamischer Theologie und Frömmigkeit. Es gab keine Schwierigkeiten, an Verbatims zu arbeiten und sich dabei auf die Frage einzulassen, wie die jeweilige Beziehung zu Patienten und Patientinnen gestaltet werden könnte. Diese Reflexion fand auch bei dem folgenden Gespräch statt. „Ich habe starke Kopfschmerzen“ Patientin (P): E.Z. , 40 – 45jährigeTürkin S = Seelsorgerin (ca. 30 Jahre alt) Auf der Station stellte ich mich einer Schwester vor und fragte, ob es muslimische Patientinnen gäbe, die islamische Seelsorge benötigen. Uns wurde der Name E.Z. mit der Zimmernummer genannt. Nach dem Anklopfen öffnete ich die Tür. Im Zimmer befanden sich Frau E.Z., eine weitere ältere Patientin und ein Arzt bei der Visite. Ich wurden gebeten, draußen zu warten. Nach Beendigung der Visite betrat ich das Zimmer. S 1: Selamu aleykum P 1: Wa aleykum salam. (Patientin beugt sich zu mir und umarmt mich, sie küsst mich auf die Wangen. Die Patientin hat einen auffälligen Verband um den Kopf und am rechten Auge) S 2: I ch wollte Sie besuchen. P 2: Herzlich Willkommen. S 3: Gute Besserung! Wie geht es Ihnen? P 3: Ich habe starke Kopfschmerzen. S 4: Was haben Sie? P 4: Ich hatte einen Tumor am Kopf, der auch mein rechtes Auge befallen hat. Er wurde mir vor ein paar Tagen entfernt. S 5: Möge Allah Ihnen baldige Genesung geben. Amin. P 5: Amin. P 6: Sind sie von der Moschee in G.? S 6: Nein, ich bin von der islamischen Seelsorge und besuchen muslimische Patienten, wenn sie wollen. P 7: MaschaAllah, wie schön. S 7: Brauchen Sie irgendetwas? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? P 8: Danke. Mein Mann und meine Kinder kommen regelmäßig und bringen mir das, was ich brauche. (ca. 5 Sek. Stille). Macht bitte Dua (Bittgebet) für mich. S 8: (Ich mache Dua). P 9: Ich kann nicht die Gebetswaschung vollziehen. Die Ärzte verbieten mir die Pflichtgebete zu verrichten. Sie sagen, dass sich die Nähte von der Operation lösen können von den ständigen Auf- und Abbewegungen. S 9: Allah hat den Kranken Erleichterung gegeben: Wenn sie kein Wasser benutzen können, nehmen sie Erde, verreiben ihre Hände darin, und streichen damit auf ihr Gesicht. Wenn das nicht geht, streichen sie ihre Hände an einem Stein. (…) Wer nicht stehen kann, soll im Sitzen beten. Wer nicht sitzen kann, soll im Liegen beten. Ihr Gebet wird auch inschaAllah angenommen.

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P 10: InschaAllah. S 10: Ich will Sie nicht länger stören. Ruhen Sie sich aus. Ich komme inshaAllah wieder. Wie lange werden Sie voraussichtlich noch hier sein? P 11: Ich weiß nicht genau. Das wird sich morgen herausstellen. Wahrscheinlich werde ich in ein anderes Krankenhaus verlegt. S 12: Ich versuche, in den nächsten Tagen noch einmal vorbei zu kommen. Falls wir uns nicht mehr sehen sollten… alles Gute für Sie. (Abschiedsumarmung) S 13: Selamu aleykum. P 13: Wa aleykum salam. Ich war einige Tage später noch einmal da. P war verlegt worden.

Von Anfang an besteht eine herzliche Verbindung zwischen der Patientin und der Seelsorgerin, wobei dies offensichtlich von der Patientin ausgeht. Dies kann mit vielen Faktoren zusammen hängen, in der Gruppe wurde aber immer wieder betont, dies hänge v. a. auch an dem „islamischen Gruß“, der sofort Nähe und Vertrautheit signalisiere. Allerdings wurde auch nachgefragt, was wohl hinter der Äußerung „Ich kann nicht die Gebetswaschung vollziehen“ verborgen sei und wieso die Seelsorgerin da nicht weiter nachgefragt habe. Es könnte doch sein, dass sich dahinter emotionale Befindlichkeiten verbergen, die in der Situation der Patientin Bedeutung haben. Solche Fragen wurden gehört, und wir waren gespannt, ob sie in der Zukunft auch umgesetzt würden. Auf diese Weise suchten wir in der Gruppe, emotionales Beziehungslernen zu fördern. Eine ganze Reihe von Themen kamen in dem Einführungskurs zur Sprache, v. a. aber : Begleitung von Sterbenden, Familienprobleme und besonders auch Erziehungsschwierigkeiten. Für mich war erstaunlich, dass i. d. R. Männer Patienten, Frauen Patientinnen besuchen. Die Differenz zwischen Männern und Frauen spielte von Anfang eine Rolle und wurde von uns als Kursleitern auch angesprochen. Diese Differenz – ich hatte den Eindruck von Unterordnung – wurde als gegeben betrachtet und erschien den Männern kaum diskussionswürdig, was die Frauen duldeten. Deutlich wurde eine hohe Akzeptanz von Patienten und Patientinnen gegenüber den Seelsorgenden. Nur in Ausnahmefällen bestand wenig Interesse an einer Begegnung. Hohe Akzeptanz gibt es auch bei den Mitarbeitenden in den Kliniken, auf muslimische Personen hinzuweisen. Gegenüber uns Kursleitern als Pfarrer und christliche Seelsorger konnte ich keine Vorbehalte entdecken. Auch wenn wir im Gespräch immer wieder Hinweise gaben, wie in bestimmten Fällen christliche Seelsorgerinnen und Seelsorger sprechen, handeln und ihren Glauben einbringen könnten, wurde dies mit Interesse aufgenommen. Die muslimischen Schwestern und Brüder unterrichteten uns dann, was von ihrem Glauben her angemessen sei. Die Auswertung des Einführungskurses ergab: Der Aspekt, die Kommunikations- und Beziehungsgestaltung in den Mittelpunkt zu stellen und von den Bedürfnissen und Situationen der Patienten her zu gestalten, wurde als ungewohnt und wichtig gesehen. Alle betonten trotz der Anstrengung, die

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aufzubringen war, hier noch mehr lernen zu wollen: Menschliche und religiöse Bedürfnisse sollen bewusst wahrgenommen und auf sie eingegangen werden. Und so war das Ergebnis des Einführungskurses: Alle acht Teilnehmenden entschieden sich, am 6-Wochen-Kurs teilzunehmen.

4. Der Beginn eines 6-Wochen-Kurses ( September 2010 – April 2011) Für den 6-Wochen-Kurs wurden organisatorisch vergleichbare Vereinbarungen getroffen wie für den Einführungskurs: Es sollten insgesamt dreissig Tage sein, also 15-mal jeweils zwei Tage an einem Freitag und Samstag. Inhaltlich aber sollte der Kurs sich weiter ausdifferenzieren: Zu der Reflexion der Seelsorgepraxis sollten Biographiearbeit, Selbsterfahrung und Seelsorgetheorie intensiviert werden, außerdem sollten Einzelsupervisionen stattfinden, um die Standards der Sektion KSA zu erfüllen. Diese neuen Elemente wurden bejaht, aber nur zögerlich aufgenommen. Sie mussten von uns in der Leitung immer wieder angemahnt werden. Eindrücklich sind mir zwei Vorstellungen der Biographien – beide von Frauen. Vor allem eine erzählte sehr lebendig aus ihrem Leben. Sie kommt aus der Türkei, aber von einem Stamm, der früher aus Russland dorthin eigewandert ist und eine eigene Sprache hat. Dies war gerade auch für die türkischen Mitglieder von großem Interesse, da dieser Stamm eine Minderheit in der Türkei darstellt. Die Kursteilnehmerin erwähnte ihre enge Verbindung zu ihrer Familie, vor allem zu ihrer Tochter und von einem Ereignis, bei dem sie große Angst hatte, sie zu verlieren. Am Schluss aber erzählte sie, sie würde jeden Abend Allah danken für alles, was Er ihr gegeben habe. Mir kam in den Sinn – und ich sagte dies auch –, was Klaus Winkler zum „Persönlichkeitsspezifischen Credo“16 geschrieben hat. Mein Eindruck war, dass hier solch ein Credo in einem islamischen Sinne deutlich wurde. In einer Theoriesitzung referierten zwei Teilnehmer die „Sterbephasen“ nach Kübler-Ross.17 Dies führte nachher zu einer heftigen Diskussion in der Gruppe, da einige sehr deutlich sagten, dass es nach islamischem Glauben unmöglich sei, in der Sterbesituation Angst, Wut oder Zorn zu entwickeln, da dies auch gegen Gott gerichtet sei. Gott sei der Herr über Leben und Tod, und was er einem schicke, sei anzunehmen. Ebenso entspreche auch Depression nicht dem Glauben des Islam. Denn der Tod sei für einen Muslim der Übergang ins Paradies – und darauf freue er sich. Ich fand diese Diskussion, in die wir uns kaum einschalteten, bemerkenswert. Sind die Emotionen, die durch das Erleben des Sterbens hoch kommen, 16 Winkler, Seelsorge, 266 ff. 17 Kbler-Ross, Interviews.

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allgemein menschlich oder kulturell bedingt? Weden emotionale Empfindungen durch Religion vermieden oder gar geächtet? Es bleibt notwendig, an solchen Fragen dran zu bleiben.

5. Schwierigkeiten nach dem ersten Drittel des Kurses Nach dem ersten Drittel des Kurses werden Schwierigkeiten immer deutlicher. Ich möchte das zunächst an einem Protokoll deutlich machen: Er will sich nicht mit mir unterhalten HNO/Augenklinik & OPZ II Es war Donnerstagvormittag, ich war eingeteilt für die HNO/Augenklinik und war auf dem Weg zum Klinikum. Ich dankte Allah und war froh, dass Er mir erlaubt hat, mich auf den Weg zu machen. Am Klinikum angekommen stellte ich mich auf der ersten Station vor und fragte nach muslimischen Patienten. Dort lagen aber zurzeit keine, also verteilte ich meine Flyer über die islamische Seelsorge und ging in die nächste Etage. In der 2. oder 3. Etage stellte ich mich wieder vor und alhamdulillah gab es auch zwei Patienten. Bei einem erwähnte die Schwester, mit der ich sprach, dass er schlecht höre. Ich fragte nach, ob er Deutsch sprechen könnte, das bejahte sie. So ging ich zu dem Patienten, der schlecht hörte, klopfte an, öffnete die Tür und kam zu einem Patienten, der aber kein Muslim war. Ich begrüßte ihn und fragte nach dem muslimischen Patienten. Dieser saß mit dem Rücken zu mir gewandt am Ende des Zimmers. Ich ging zu ihm und fand ihn beim Essen vor. Ich begrüßte ihn mit dem Islamischen Gruß. Erst hörte er mich wohl nicht, dann nahm er mich aber doch wahr (er machte einen nicht gerade fröhlichen Eindruck, als er mich sah) und gab mir mit Handbewegungen zu verstehen, dass er sich gestört fühle und in Ruhe essen wolle. Also verabschiedete ich mich und ging etwas enttäuscht aus dem Zimmer zum nächsten Patienten. Dieser war schon etwas gesprächiger, sagte mir aber sofort, dass er keine Seelsorge haben wollte und genug Besuch bekomme. Nachdem ich ihn fragte, wie es ihm ginge und warum er hier sei, erzählte er mir, dass er sich vor einigen Tagen selbst umbringen wollte, indem er aus dem Fenster sprang. Ich erschrak und fragte ihn, ob er mit mir darüber reden wollte. Das wollte er aber nicht. Ich merkte, dass er lieber allein bleiben wollte. Ich verabschiedete mich und war traurig über seine Situation und dass wir nicht in Beziehung gehen konnten. So ging ich weiter. Auf einer anderen Station lag ein elfjähriger Junge. Ich entschied mich aber, ihn nicht zu besuchen, da ich durch die Glastür sah, dass seine Mutter bei ihm war und sie sich miteinander beschäftigten. Als ich dann auf jeder Station mich vorgestellt und Flyer verteilt hatte, war ich etwas traurig, dass kein intensiveres Gespräch, bei dem ich in Beziehung gehen konnte,

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stattgefunden hatte. War aber gleichzeitig doch dankbar, dass ich das HNO Gebäude besuchen durfte. Da ich noch ein bisschen Zeit bis zum Gebet hatte, entschied ich mich noch ins OPZ II zu gehen. Ich ging dann auf die Stationen, aber fand keinen Patienten bis ich zur obersten Etage kam. Dort ging ich dann ins Schwesternzimmer. Die sagten mir, dass es einen türkischen Patienten gebe, der etwa 55 Jahre alt sei. Ich klopfte an und öffnete die Tür. S1: Salamualeykum, ich bin von der Islamischen Seelsorge, darf ich rein kommen? P1: Ja, okay, kommen Sie rein. S2: (Ich ging zum Bett des Patienten) Salamualeykum, wir sind Muslime, die ihre Brüder besuchen, mit ihnen reden und ihre Sorgen teilen wollen. Wie geht es Ihnen? P2: Gut, gut (schaut dabei auf den Fernseher). S3: Darf ich Sie fragen, weswegen Sie hier sind? P3: Mein Darm funktioniert nicht mehr, da sind Löcher drin. Die Ärzte versuchen sie immer wieder zu schließen, aber die gehen immer wieder auf. Das kann man nicht mehr heilen. S4: Wie kommen Sie darauf ? P4: Ja, das kommt immer wieder, das kann man nicht mehr heilen. S5: Und macht Ihnen das Angst? P5: Nein, nein, mir geht’s gut, ich brauch nichts. (Die meiste Zeit schaut er auf den Fernseher, und ab und zu zu mir.) S6: (Ich habe das Gefühl, dass er sich nicht mit mir unterhalten will). Okay, dann will ich mich von Ihnen verabschieden. P6: Oke. S7: Salamualeykum: P7: Warten Sie, haben Sie Bücher dabei? S8: Nein, aber ich kann unten in der Mescid (Gebetsraum) nachschauen, ob es Bücher für Sie gibt, und Ihnen diese gleich hoch bringen. P8: Ja, okay, das ist nett. S9: Okay bis gleich, Salamualeykum. P9: Tschüss.

Im Laufe der Ausbildung wird die Motivation der Teilnehmenden zunehmend schwieriger, weil sie das „Ideal“ der Beziehungsarbeit vor Augen haben und gleichzeitig merken, wie schwierig sie ist. Es wäre viel einfacher, zu den Patienten hinzugehen und sie „einfach zu besuchen“. So wurden die regelmäßigen Besuche immer weniger, und es musste ein Plan gemacht und Strukturen geschaffen werden, um mehr Kontinuität in den Besuchsrhythmus zu bringen. Allerdings wird kaum der Widerstand oder die Schwierigkeit angesprochen und analysiert, obwohl wir von der Leitung nachgefragt haben, sondern es wird mit „organisatorischen“ Maßnahmen versucht, die Probleme zu lösen. Ich bin gespannt, ob sich das ändern wird. Eine andere Schwierigkeit ist die Teilnahme an den Sitzungen. Immer wieder fehlen Teilnehmer aus persönlichen oder beruflichen Gründen. Deshalb ist ein kontinuierlicher Lernprozess fast unmöglich. Von uns als Leitern fordert dies eine hohe Frustrationstoleranz. Ich versteh noch nicht, ob die vorgebrachten Gründe fürs Fehlen äußerer Druck sind oder innerer Widerstand. Noch habe ich keine Lösung gefunden, wie fordernd ich sein kann –

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vielleicht spiegelt sich darin wieder die Angst vor Auseinandersetzungen auch in der Gruppe. Konflikte werden nicht ausgetragen, nur wie soll ich es fördern, sie offener zu machen? Sind dies kulturelle und/oder religiös bedingte Schwierigkeiten? Sehr deutlich haben wir als Leitung betont, dass Einzelsupervision ein Bestandteil des Kurses ist. Bisher wurden nur ganz wenige wahrgenommen. Was steckt hier dahinter? Immer wieder kommen in der Gruppe normierende Tendenzen auf. So sei dies oder jenes im Islam. Dies oder jenes entspreche nicht dem islamischen Glauben. Dies sind für mich die schwierigsten Teile der Gespräche. Wie soll ich damit umgehen? Wird hier von „letzter Wirklichkeit“ her geredet oder ist es Selbstbehauptung einer Meinung? Aus welchen Gründen wird hier ein „System“ oder ein „Zeichensystem“ geschlossen? Ist die Normierung hilfreich? Bedeutet die Bindung „Lebensgewinn“ durch klare Orientierung oder engt sie ein? Ganz offensichtlich sind die allgemeinen „Standards“ der KSA-Kurse nicht ohne weiteres anwendbar für die Arbeit mit diesen Teilnehmern. Ganz offensichtlich treffen unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse aufeinander. Für mich ist hilfreich, dass ich diese Erfahrungen immer wieder schon vorher in anderen kulturellen Kontexten (so z. B. in Polen, der Slowakei oder in Indonesien) gemacht habe, v. a., wenn dort eine beziehungsorientierte Seelsorgearbeit neu war. So bleibt es für mich eine „Forschungsaufgabe“, wie wir in Zukunft arbeiten können. Interkulturelle und interreligiöse Kompetenz ist vor allem emotionale Arbeit, also Beziehungsarbeit.18 Sie erfordert Flexibilität und Beharrlichkeit. Sie bleibt also eine spannende Angelegenheit.

6. Schlussbemerkungen Ich komme zurück zu meinem Anfang, wo es um die systemische Wahrnehmung ging. Christoph Morgenthaler behandelt in seinem Buch „Systemische Seelsorge“, wie notwendig es ist, sich einem System anzuschließen und gleichzeitig ein Gegenüber zu bleiben.19 Dieser Schwierigkeit entgeht niemand, der sich in einen interkulturellen und interreligiösen Diskurs begibt. Hilfreich bleibt für mich die schon zitierte Selbstdifferenzierung: „Wenn es Seelsorgerinnen und Seelsorgern gelingt, in einem System eine nicht-ängstliche Gegenwärtigkeit zu realisieren und sich dabei selber zu definieren und zu verdeutlichen, werden sie am ehesten führen und verändern können und jenen Tendenzen entgegenwirken, die normierend und entmachtend wir18 Vgl. dazu Weiss, Bildung. 19 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 146: „Sich einem System anschließen – das Joining“.

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ken.“20 Als ich diese Sätze vor Jahren zum ersten Mal las, war ich begeistert. Was aber bedeuten sie, wenn Menschen sich – wie es rechte Muslime tun – entmachten und sich ganz dem Willen Gottes hingeben wollen? Was, wenn die göttlichen Normierungen Freiheit bedeuten? Meine seelsorglichen Grundannahmen blieben durch diesen Kurs nicht unhinterfragt – und ich bin gespannt, wie der Diskurs weiter geht. Auf jeden Fall danke ich Christoph Morgenthaler für vielfache Anregungen auch für diesen Kurs in „Islamischer Seelsorge im Krankenhaus“.

Literatur Geertz, Clifford, The Interpretation of Cultures, Basic Books 1973. Hauschildt, Eberhard/Ucar, Blent, Islamische Seelsorge in Deutschland im Aufbruch, in: Pastoraltheol, 99, 2010, 256 – 263. Kbler-Ross, Elisabeth, Interviews mit Sterbenden, München 2001. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Lehrbuch Praktische Theologie, Band 3, Gütersloh 2009. – Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 22000. Theissen, Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 22001. Weiss, Helmut, Zur Bildung interreligiöser Kompetenzen in der Seelsorge, in: Ders./ K. Federschmidt/K. Temme (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2010, 343 – 357. Winkler, Klaus, Seelsorge, Berlin 1997.

20 Ebd., 114.

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Seelsorge auf der psychiatrischen Akutstation1

1. Hinführung Seelsorgerinnen und Seelsorger treffen an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Kontexten auf psychisch belastete Menschen – nicht nur in der Psychiatrie oder im Gefängnis, sondern auch im Allgemeinspital, in der Schule, auf der Strasse, in jeder Kirchgemeinde. Nationale wie auch internationale Untersuchungen kommen hinsichtlich des Ausmaßes psychischer Erkrankungen zu bedenklich hohen Zahlen. So steht wörtlich im Nationalen Gesundheitsbericht Schweiz von 2008: „Jedes Jahr erkranken etwa 25 bis 30 % der Bevölkerung erstmals oder wiederholt an einer psychischen Störung“.2

Das heißt, dass gut jede vierte Person direkt betroffen ist. Etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung „leidet mindestens einmal im Leben“ an einer diagnostizierbaren psychischen Erkrankung.3 Zuoberst rangieren Depressionen, Ängste und Substanzabhängigkeiten. Nun mag man Statistiken allgemein und Hochrechnungen über die Häufigkeit psychischer Störungen insbesondere mit einer gewissen Skepsis begegnen. Was jedoch mit Sicherheit zutrifft, ist erstens der Umstand, dass psychische Störungen bedeutend häufiger auftreten, als Nichtfachleute meinen, und zweitens, dass – so die Ergebnisse des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums in Neuchtel4 – nur ein geringer Teil dieser Erkrankungen wirklich erkannt und professionell behandelt wird. Als Beispiel mögen die 1 Überarbeitete Fassung eines Gastvortrags gehalten an der Universität Bern am 05. Mai 2011. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2 Meyer, Gesundheit, 215. Vgl. dazu die leicht zurückhaltendere Angabe des Bundesamts für Gesundheit (BAG): http://www.bag.admin.ch/themen/medizin/00683/01916/index.html?lang= de: „Nationale und internationale Studien zeigen, dass jährlich schätzungsweise 20 – 25 % der gesamten Bevölkerung an einer diagnostizierbaren psychischen Störung leiden.“ (Accessed: 18. Juni 2011) 3 Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, Kurzfassung, 17. Die WHO hat beschlossen, „den problematischen Gebrauch von Begriffen wie Krankheit oder Erkrankung“ nach Möglichkeit zu vermeiden und sie mit dem Begriff „Störung“ zu ersetzen (ICD-10, 22). Es sind m. E. letztlich Verlegenheitslösungen. Dies merkt man, wenn man vermeiden will, von „psychisch kranken“ Menschen zu sprechen: psychisch gestörte Menschen klingt nicht weniger pejorativ. 4 Vgl. http://www.obsan.admin.ch/bfs/obsan/de/index/01.html.

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unterdiagnostizierten Depressionen gelten, die in ca. neunzig Prozent der beunruhigenden Zahl von rund 1.300 Suizid-Fällen in der Schweiz vorliegen.5 Seelische Erkrankungen kommen so häufig vor, dass Bund und Kantone – in Umsetzung der Aufforderung der Weltgesundheitsorganisation WHO an ihre Mitgliedstaaten – gemeinsam beschlossen haben, das Thema psychische Gesundheit prioritär zu behandeln.6 Dies geschieht auch aus volkswirtschaftlichen Gründen: So steigt z. B. die Zahl psychisch kranker IV-RentenbezügerInnen erheblich und stetig an.7 Nun benötigen dank der Fortschritte in der Psychiatrie und der gesundheitspolitischen Strategie „ambulant vor stationär“8 immer weniger Menschen mit einer psychischen Störung einen Klinikaufenthalt und wenn doch, fällt er kürzer als in früheren Zeiten aus. Dennoch steigt die Kostenentwicklung in der psychiatrischen Versorgung im stationären Bereich. Die Schweiz hat 62 psychiatrische Kliniken. Pro tausend EinwohnerInnen stehen über 1.3 Betten zur Verfügung, und die Hospitalisierungsrate beträgt 7.5 pro tausend EinwohnerInnen.9

2. Poimenischer Forschungsstand Vor dem Hintergrund dieses in aller Kürze geschilderten empirischen Befunds hat mich interessiert, wie der poimenische Forschungsstand zum Thema Seelsorge an psychisch Erkrankten aussieht bzw. welche Konzepte zur spezialisierten Seelsorge in der Psychiatrie entwickelt wurden. Auf der Suche nach der entsprechenden Fachliteratur fiel als Erstes auf, dass Psychiatrieseelsorge in aller Regel unter Krankenhausseelsorge subsumiert wird.10 Das heißt, es herrscht in diesem Bereich in der poimenischen Fachliteratur ein relativ geringer Differenzierungsgrad. Denkt man an den mehrfach psychiatrisierten Begründer des Clinical Pastoral Training Anton T. Boisen (1876 – 1965) und an die Bedeutung, die er selber seinen Krankheitserfahrungen beimass, aber auch an die frühe Forderung Oskar Pfisters (1873 – 1956) nach einer „pastorale(n) Psychiatrie“11, so erstaunt dieser Befund. Er widerspiegelt sich in der Praxis z. B. im „ewigen Kampf“ mancher PsychiatriepfarrerInnen gegen ihre Bezeichnung als SpitalpfarrerInnen. Sie machen die Erfahrung, dass alles, was mit Psychiatrie zu tun hat, gern kaschiert und 5 Ricka, Depression, 5. 6 Vgl. Weltgesundheitsorganisation, Psychische Gesundheit, hier insbes. 9 – 16. 7 Vgl. BAG (wie Anm. 2): „Die Anzahl psychisch kranker IV-Rentenbezügerinnen und -bezüger stieg in den letzten Jahren kontinuierlich und stark überproportional an.“ 8 Andreae et al., Case Management, 7. 9 Ricka, Depression, 6. Dies ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine eher hohe Zahl. 10 So auch Klessmann, Handbuch der Krankenhausseelsorge. 11 Pfister, Ein Fall, 188 (Anm. 1).

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tabuisiert wird. Es spielt in unserer Gesellschaft nach wie vor eine grosse Rolle, ob jemand mit einem Beinbruch im Bettenhochhaus des Berner Inselspitals oder – gleich um die Ecke – mit einer Angst- oder Essstörung in der psychiatrischen Poliklinik ist. Eine Ausnahme bildet das Seelsorge-Lehrbuch des Praktologen Michael Klessmann von 2008, das die Institution Krankenhaus bewusst ausdifferenziert und einen eigenen Paragraphen über „Seelsorge in der psychiatrischen Klinik“ aufweist.12 Hier wird festgehalten, dass aufgrund der Pluridimensionalität psychischer Erkrankungen auch Seelsorgende Teil eines „multiprofessionellen Team[s]“ seien; gerade diese Vielfalt „fördert die Vollständigkeit der Wahrnehmung.“13 Damit verabschiedet Klessmann Spätfolgen von Modellen, die in der Tradition kerygmatischer Seelsorge stets das „von-aussenKommen“ des Seelsorgers und sein Einzelkämpfertum betonten.14 Die Rolle des/r Seelsorgers/in wird nicht mehr über die Abgrenzung, sondern über die Kooperation definiert. Klessmann formuliert in seinem Lehrbuch auch Grundregeln im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen. Die erste lautet: „Die Begegnung sollte so normal wie möglich sein: Wer Angst spürt, sollte sie vorsichtig ansprechen (…).“15 Darüber müsste man jetzt diskutieren können. Meines Erachtens kann dies je nach Situation angemessen oder auch problematisch sein – insbesondere auf der forensisch-psychiatrischen Abteilung oder im Zusammensein mit Menschen, die mit Phobien zu kämpfen haben. Die einzige neuere grössere Studie – neben einer kleinen Zahl sehr gehaltvoller Aufsätze16 –, die sich explizit dem Bereich der Psychiatrieseelsorge als Ganzem zuwendet, ist die Dissertation der Ärztin und Theologin Doris Nauer von 1999: „Kirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger im Psychiatrischen Krankenhaus?“ Nauer knüpft an ihre Erfahrung an, dass eine auffallend grosse Zahl von „SeelsorgerInnen ihre Theorie- und Praxiskonzepte kaum verständlich formulieren bzw. plausibel transparent machen“ können; die „fehlende[r] konzeptionelle[r] Fundierung“ insbesondere von PsychiatrieseelsorgerInnen habe „Signalcharakter“ und tangiere deren Glaubwürdigkeit – darauf verweist auch das Fragezeichen im Titel.17 Diese ertragreiche Abhandlung untersucht 19 verschiedene Seelsorgemo12 Klessmann, Seelsorge, 359 ff.: § 11.1.3 Ausdifferenzierungen der Institution Krankenhaus [361 f: §11.1.3.2 Seelsorge in der psychiatrischen Klinik]. 13 Ebd., 361. Die interdisziplinäre Einbindung der Seelsorge – zusammen mit Sozialdienst und psychologischem Dienst – in eine vierte Säule im Gesundheitswesen (neben Medizin, Pflege und Verwaltung) vertreten pointiert Allwihn/Schneider-Harpprecht/Skarke, Psychosoziale Dienste und Seelsorge. 14 So noch Klessmann 1996 selber: Ders., Seelsorge in der Psychiatrie, 26: „Ein Seelsorger/eine Seelsorgerin ist als Außenseiter in der Klinik (…).“ 15 Klessmann, Seelsorge, 364. 16 Dazu gehört v. a. auch Elisabeth Grçzinger, Religion. 17 Ebd., 7. Nauer beschreibt lediglich eine Tendenz und will nicht verallgemeinern (vgl. ebd., Anm. 1).

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delle auf ihre „speziellen konzeptionellen Vorgaben für die Psychiatrieseelsorge“. Diese spezifischen Vorgaben muss Nauer grossteils aus den impliziten theoretischen und theologischen Vorannahmen (z. B. im Blick auf das Krankheitsverständnis) ableiten und anschliessend auf die Psychiatrieseelsorge übertragen.18 Explizit hält Nauer fest, im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stünden die „SeelsorgerInnen“ und „nicht die abstrakte ,Seelsorge‘“.19 Auch nicht die PatientInnen seien im Fokus, sondern die „Analyse der organisationalen Dimension seelsorglicher Alltagspraxis“.20 Der Schwerpunkt liege „deutlich auf der Theorieebene“.21 Ihre „erkenntnistheoretischen Zielsetzungen“ bestimmt Nauer wie folgt: „Der Frage, ob SeelsorgerInnen in der säkularen Institution Psychiatrisches Krankenhaus eine für PatientInnen sinnvolle, persönlich sinnerfüllte, interdisziplinär glaubwürdige und gesamtgesellschaftlich sowie kirchlich erwünschte Tätigkeit ausüben bzw. dies auch künftig tun sollen, wird in Abhängigkeit von den vorgegebenen strukturellen Rahmenbedingungen nachgegangen.“22

Dieser von Nauer gewählte Fokus lässt sich auch im grösseren Kontext einer von Christoph Morgenthaler mit Emphase beförderten systemischen Denkweise ansiedeln.23 Gerade die Berücksichtigung der „strukturellen Dimension“ bezeichnete eine evidente „Forschungslücke“, die Nauer methodisch u. a. durch ihren organisationspsychologischen Schwerpunkt überzeugend geschlossen hat,24 aufgrund der Strukturveränderungen gerade im Gesundheitsbereich aber auch schon wieder aufgebrochen ist.25 Grundsätzlich muss die Frage nach der Bedeutsamkeit der Seelsorge für PatientInnen in der Psychiatrie zunächst durch eine eingehende Beschäftigung mit der Tätigkeit selber und v. a. unter Einbezug der PatientInnen selbst erfolgen. Aber zu eben diesen PatientInnen liegen in der Schweiz meines Wissens hinsichtlich ihrer Einstellung zur Seelsorge noch keine Studien vor. Unter den 679 befragten PatientInnen in der letztjährig veröffentlichten Studie zur Patientenzufriedenheit mit der „Krankenhaus-Seelsorge“ waren zwar auch 55 PsychiatriepatientInnen,26 aber eben: Sie wurden wiederum subsumiert unter Krankenhausseelsorge. Ich will im Folgenden nicht nur die Psychiatrieseelsorge gesondert in den 18 Nauer entwickelt schliesslich ein eigenes, in vielerlei Hinsicht überzeugendes sog. „perspektivenkonvergentes Seelsorgemodell“, vgl. ebd., 326 ff. 19 Ebd., 8. 20 Ebd., 13. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Vgl. auch ebd., 88. Nauer ordnet Christoph Morgenthalers ebenfalls 1999, d. h. gerade erst erschienene Systemische Seelsorge therapeutischen Seelsorgekonzepten zu (ebd., 352). 24 Nauer, Kirchliche Seelsorgerinnen, 13. 25 Zudem bezieht sich Nauer auf die psychiatrischen Versorgungsstrukturen in Deutschland, die sich nicht ohne weiteres auf die Situation in der Schweiz übertragen lassen. 26 Winter-Pfndler/Morgenthaler, Wie zufrieden.

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Blick nehmen, sondern auch noch innerhalb der Psychiatrie selber differenzieren, und ich versuche kurz am Beispiel der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD Bern) aufzuzeigen, wieso das Sinn hat.

3. Seelsorge bei akuten psychischen Erkrankungen Die UPD Bern haben in der Erwachsenenpsychiatrie eine Vielfalt stationärer, teilstationärer und ambulanter Angebote. In der „Waldau“ in Ostermundigen bei Bern verfügen sie über mehrere Akutstationen. Letztes Jahr wurden zur Errichtung „krankheitsbilder- und methodenspezifischer Kompetenz- und Exzellenzzentren“ Schwerpunkte gebildet.27 Die beiden mir vertrautesten Stationen haben nun den Schwerpunkt Psychose und Psychotherapie. Hier sind Menschen mit akuten Erkrankungsbildern, die auch von selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten begleitet sein können. 2010 hat das Gesundheitsobservatorium Schweiz eine Studie über den sog. „Heavy Use“ veröffentlicht, die belegt, dass neun von zehn Erkrankten nach einer einmaligen Krise die Klinik dauerhaft wieder verlassen können.28 Im Durchschnitt bleibt ein/e PatientIn ca. zwei bis drei Wochen. Das heißt, in der Regel handelt es sich um kürzere seelsorgliche Begleitungen in der akuten Krisenzeit. Wie gestaltet sich nun diese Seelsorge?

a) Wie gestaltet sich Seelsorge auf einer psychiatrischen Akutstation? Sehr verschieden! Anders auf der Station mit dem Schwerpunkt Psychotherapie als auf jener mit Psychose. Zwei kurze Beispiele mögen dies veranschaulichen: Zwei Frauen – Frau A. befindet sich auf der Station mit dem Schwerpunkt Psychotherapie und Frau B. auf jener mit dem Schwerpunkt Psychose –, beide sind im selben, mittleren Lebensalter. – Frau A. musste am Wochenende fixiert werden (mit Gurten), weil sie nicht aufhören konnte, sich selber zu verletzen, insbesondere ihre Arme zu ritzen und Zigaretten darauf auszudrücken. Nun, neben mir sitzend, kratzt sie Stücke des Schorfs auf ihren Armen weg und blutet. Sie glaube an Gott, hielte aber ihre Schmerzen nicht aus. – Frau B. (unruhig) erzählt mir, sie sei „fanatischer Christ“ und begründet dies mit 27 Vgl. die Strategieziele für die Jahre von 2010 bis 2015 unter : http://www.upd.gef.be.ch/ upd_ gef/ de/index/ueber-die-upd/ueber-die-upd/portraet/strategie.html (Accessed: 01. 07. 2011). 28 Frick, Ulrich/Frick, Hanna, Obsan Dossier 11: «Heavy Use» in der stationären Psychiatrie der Schweiz? Ergebnisse aus der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser, Neuchtel 2010. http://www.obsan.admin.ch/bfs/obsan/de/index/05/publikationsdatenbank.html?publicationID=3966 (Accessed: 01. 07. 2011).

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einem Erlebnis im Isolierzimmer. Dort sei ihr plötzlich Christus am Kreuz erschienen, es sei ihr ganz warm geworden, und seither ginge es nur bergauf mit ihr. Sie hätte aufgehört mit Drogen, da in der Bibel stehe, man solle nicht rauchen. Beim nächsten Besuch irrt sie auf der Station umher und erzählt aufgeregt, eine Sekte hätte ihr Kind beklaut. Die Sekte würde immer wieder bei ihm einbrechen und Geld stehlen.

Dies zwei Beispiele von zwei verschiedenen psychiatrischen Akutstationen. Mir ist eine beiläufige Aussage einer Pflegerin im Stationszimmer im Ohr geblieben. Sie sagte zu mir : „Die Patienten die müssen ja immer Gespräche führen – mit dem Arzt, dem Psychologen, dem Sozialdienst etc.“ Ich war betroffen, denn auch ich hatte ja genau das vor, nämlich mit ihnen zu reden. Heute bin ich froh um diese Bemerkung, denn sie hat mir den Anstoss gegeben, nochmals genauer zu reflektieren, was Seelsorge in diesem spezifischen Kontext bedeuten könnte, und im Rückgriff auf unsere Tradition zu wagen, den seelsorglichen Spielraum auszuloten. Ich will dies an den beiden Beispielen in aller Kürze illustrieren: – Ich frage Frau A., ob wir miteinander ihren Arm anschauen wollen. Wir sprechen über die Haut als Organ, über ihre Funktion, uns auch zu schützen, über die Haut als Gabe Gottes. Unsere Blicke ruhen dabei auf ihrem Arm. Ich frage sie, ob sie sich vorstellen könne, ihre Haut bei der Heilung zu unterstützen, damit sie ihr Schutz böte. Wir gehen zusammen zur Pflegerin und fragen nach einer Wundsalbe. Wieder nebeneinander sitzend, öffne ich die Salbe und verstreich sehr vorsichtig etwas auf ihrem Arm und gebe dann ihr die Salbe. Sie fährt fort, langsam und zart. Ich frage sie, als sie aufhört, ob ich ein Gebet sprechen und ihre Haut segnen dürfe.

Dies als kleiner Ausschnitt einer Seelsorgebegegnung, die zeigt, dass Seelsorge Möglichkeiten hat, die das Wort deutlich überschreiten. Wir verfügen dank unserer Tradition über einen Schatz an Ritualen, Zeichenhandlungen, Geschichten, Gebeten, Segen, die gerade in akuten Krisen ihre besondere Kraft entfalten können. Seelsorge ermöglicht eine Freiheit hinzuschauen, zu berühren, zu segnen – dies stets im fragenden Modus, als Angebot. Gerade auf einer Akutstation, in der Zwang latent und manifest vorhanden ist, scheint mir die Betonung der Freiheit und Freiwilligkeit besonders wichtig. Man weiß und soll wissen, dass die SeelsorgerIn weder zwangsmediziert noch fixiert noch sich bemächtigt noch sonst irgendwelche evtl. aus medizinischer oder institutioneller Sicht notwendige Maßnahmen ergreift. Diese Form fundamentaler Gewaltabstinenz gehört mit zum besonderen Kapital der Seelsorge – insbesondere in der Psychiatrie.29 Gerade psychisch erkrankte Menschen, die häufig 29 Zum Zwang in der Psychiatrie vgl. das jüngst erschienene Interview von Ruedi Spöndlin mit Jürg Gassmann, Lösungen im Konsens mit den Patienten suchen, in: Soziale Medizin, 2011/1, 36 – 42. Gassmann verweist u. a. auf die grossen kantonalen Unterschiede in der Zahl fürsorgerischer Zwangseinweisungen (im neuen Erwachsenenschutzrecht: „fürsorgerische Unter-

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schwerste persönliche Verletzungen mit sich herumtragen und zuweilen himmelschreiende Gewalt schon erlebt haben, erfahren in der Seelsorge eine Verlässlichkeit, die in der akuten Krise einen (Vertrauens-)Halt geben kann. Exkurs: Es laufen in der Schweiz seit einiger Zeit Bestrebungen, das Berufsgeheimnis Art. 321 StGB sowohl einzuschränken (im Zuge des Verschweigens sexuellen Kindsmissbrauchs von Geistlichen)30 als auch auszuweiten (z. B. auf alle Angehörige eines Gesundheitsberufes)31. Seelsorge lebt vom Vertrauen und vom offensichtlich tief ins Allgemeinbewusstsein eingesickerte Wissen, dass die/der SeelsorgerIn nicht aufgrund irgendeiner persönlichen oder anderweitigen Eigenschaft, auch nicht aufgrund einer amtlichen oder dienstlichen Stellung (Amtsgeheimnis), sondern aufgrund ihres/seines Berufs als sog. Geistliche/r dazu verpflichtet ist, ihm/r Anvertrautes für sich zu behalten. Forderungen nach Einschränkung der Geheimhaltungspflicht sind nach meinem heutigen Dafürhalten mit grosser Zurückhaltung zu begegnen, da ihre Tauglichkeit zweifelhaft ist. Es fragt sich, ob ihre Umsetzung die an sie geknüpften Erwartungen, deren Motivation selbst durchweg zu unterstützen ist, wirklich erfüllten. Melderechte wie das erst am 1. 1. 2011 im StGB Art. 364 in Kraft getretene scheinen hier vermutlich wirksamer zu sein als Meldepflichten. – Frau B. ist schizophrenieerkrankt. Es gebe auf der Welt keinen so einsamen Menschen wie jemand, der psychotisch sei, heißt es. Wir kennen in unserem Alltag unterschiedliche Wahrnehmungen, Meinungen, Erfahrungen etc. Aber Frau B. hat ihren Alltag bzw. die Realität nicht mehr ausgehalten. In ihrer neuen Welt, in ihrer selbst erschaffenen Logik – da lebt nur sie. Niemand kann sie teilen. Sie ist darin gänzlich allein. Ich höre ihre Schilderungen und nehme etwas von dem wahr, was für sie gegenwärtig Wirklichkeit ist. Ich stelle fest, dass sie ihrem Kind nur das Beste wünsche. Ich frage sie, ob wir etwas für ihr Kind tun können. Sie will beten. Es folgen Worte voller Schuld und Strafe, zwischen Himmel und Hölle, Sünde und Teufel. Mir stockt der Atem. Ich spüre etwas von den vernichtenden Moralvorstellungen, die jedes Leben ersticken müssen. Als Frau B. aufhört, führe ich das Gebet weiter ins Unser Vater.

Selten je zuvor ist mir das Unser Vater so wichtig geworden wie hier. Wie hilfreich, in einer solchen Situation auf ein Gebet von einer solchen Würde und einem solchen Gewicht zurückgreifen zu können, das uns mit ChristInbringungen“). Vgl. auch: Pro Mente Sana Aktuell. Informationen aus der Psychiatrieszene Schweiz: Gewalt und Zwang vermeiden, 2006/1. 30 Vgl. 10.540 – Parlamentarische Initiative „Berufsgeheimnis von Geistlichen“, eingereicht vom Genfer Nationalrat Carlo Sommaruga am 17. 12. 2010: „Mit einer Änderung von Artikel 321 des Strafgesetzbuches soll bewirkt werden, dass Angriffe auf die sexuelle Freiheit Unmündiger nicht länger durch das Berufsgeheimnis von Geistlichen geschützt sind.“ http://www.parlament.ch/ d/ suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20100540 (Accessed 1. 7. 2011). 31 Vgl. 00.3344 – Motion „Berufsgeheimnis. Anpassung“, eingereicht von Nationalrätin Pia Hollenstein am 22. 6. 2000 und Antwort des Bundesrates vom 30. 8. 2000. Die Motion wurde am 6. 10. 2000 in ein Postulat umgewandelt und überwiesen. http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/ geschaefte. aspx? gesch_id=20003344 (Accessed 1. 7. 2011).

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nen in Vergangenheit und Gegenwart und über verschiedenste Grenzen hinweg verbindet. Es vermag auch Gebete wie jenes von Frau B. in sich aufzunehmen, aufzufangen und zu transformieren. Seelsorge akzeptiert psychische Realitäten als vollgültige Wirklichkeiten; sie nimmt Anteil und lässt sich auf diese ein, ohne sie für sich übernehmen zu müssen. Seelsorge heißt, verlässlich und zugewandt bei einem Menschen bleiben – gerade auch in seiner grössten Einsamkeit, gerade auch wegen der Grösse seiner Einsamkeit, die in seinem Wahn, in seinen Halluzinationen, in seinen inadäquaten Affekten, in den Stimmen, die ihn plagen und vernichten wollen, zum Vorschein kommt.

b) Erste (tastende) Versuche einer theoretischen Reflexion Das waren zwei kurze Fallbeispiele, die einen Eindruck von Seelsorge auf der psychiatrischen Akutstation vermitteln wollten. Aber : Was habe ich da eigentlich getan zwischen Intuition, Spontaneität und Hilflosigkeit? Ich nehme nochmals Michael Klessmann auf: Seelsorgende seien Teil eines „multiprofessionellen Teams“ aufgrund der Pluridimensionalität psychischer Erkrankungen. Zur Veranschaulichung möge ein Ausschnitt des Formulars dienen, das jeweils in den Patientendossiers vorliegt (s. Abb.). Die Seelsorge wird unter „Behandlungsteam“ aufgeführt, obwohl wir ja keine Diagnosen stellen, keine Therapien durchführen, nicht einmal irgendwelche Heilungsziele verfolgen. Gerade diese berufliche Vielfalt – so Klessmann – „fördert die Vollständigkeit der Wahrnehmung.“32 D.h., ich als Seelsorgende bringe meine eigene professionsspezifische Wahrnehmung ein und mache dadurch zum Wohle der PatientInnen die Wahrnehmung aller um eine Dimension reicher. Die grundlagentheoretische Frage lautet demnach: Was zeichnet meine professionsspezifische Wahrnehmung aus, die mein seelsorgliches Handeln bestimmt? Ich verdanke hier viel einem Praktologen, über den uns Christoph Morgenthaler einst in der Gefängnisseelsorgeausbildung einen Vortrag hielt, der mir bis heute in Erinnerung geblieben ist.33 Er handelte von einem Theologen, der sich auch intensiv mit der Psychoanalyse beschäftigt hatte, leider nicht so viel von Oskar Pfister hielt, aber dennoch in theologisch überzeugender Weise Seelsorge bestimmt hat. Es geht um den Basler Praktologen Eduard Thurneysen (1888 – 1974). Thurneysen half wohl den Boden für einen möglichen ästhetischen Paradigmenwechsel in der Praktischen Theologie vorbereiten, indem er darauf hinwies, dass Seelsorge nicht zuerst ein spezifisches Handeln meint oder eine 32 Wie Anm. 12. 33 Es war am 6. Januar 1996 in Oberhofen, d. h. gleich bei Hilterfingen, wo Christoph Morgenthaler im Pfarrhaus mit Blick auf den Thunersee seine Kindheit verbrachte!

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bestimmte Wahrnehmung hat, sondern Wahrnehmung ist. Es geht bei der Seelsorge „um ein neues Sehen und Verstehen des Menschen (d. h. auch meiner selbst!; IN) (…) von Gott her“.34 Seelsorge rückt das empirisch Vorfindbare – unsere je eigenen Realitäten – ins rechte Licht. So stellte es Rudolf Bohren in seiner Darstellung Thurneysens in für mich nach wie vor gültiger Weise fest: „Seelsorge (ist) primär ein Sehakt“.35 Seelsorge vermittelt eine neue „Optik“. Einer seiner Spitzensätze lautet: „Im Glauben an die Rechtfertigung sieht der Seelsorger den, der zu ihm kommt, anders, als dieser sich selbst sieht.“36 Übertragen auf die Psychiatrie: Im Lichte des Evangeliums wird neue Identität zugesprochen. Sie gründet in der bedingungslosen – an keine Gesundheiten oder Krankheiten oder gesellschaftlichen Strukturkategorien gebundene – Zuwendung, ja Liebe Gottes zu seiner Schöpfung. Hier finden wir die ganze Metaphorik des Sehens, des Lichts, der Perspektive. Wenn die Seelsorge also ihre Sicht einbringt, dann bringt sie alles ein, was sie hat bzw. was sie ist. Alles andere leitet sich von diesem Sehakt ab, „von de[m] Akt des Glaubens, der eine, alles begründende Akt des Glaubens, (…) 34 Thurneysen, Rechtfertigung, 93. Hervorhebung IN. 35 Bohren, Prophetie, 218. 36 Ebd., 226.

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durch den die Menschen unter die Gnade kommen und dadurch unsere Nächsten werden.“37 Rechtfertigung begründet Seelsorge. Als Wahrnehmungsperspektive ist sie profetisch, weil sie Fixierungen in Frage stellt. Menschen werden nicht auf ihre Krankheiten festgelegt, sondern entstigmatisiert. Konkret: Thurneysen sieht Seelsorge als Wahrnehmungsakt auf zwei Ebenen: der Mensch, der Seelsorge sucht, bringt seine Sicht ein, „sein altes Sehen“. Er bringt seine Nöte, seine Krankheit, seine Verzweiflung ein. „Der Seelsorger wird den andern ,ganz aufnehmen‘ in seiner Lebenslage, er wird also zunächst mit den Augen dessen, der Seelsorge sucht, die Lage sehen. Aber er kann und darf seinen Glauben nicht verleugnen, er kann und darf nicht an dieser Sicht erblinden, sondern wird dem anderen die neue Sicht eröffnen.“38 Das heißt bei Frau A.: In Aufnahme einer im systemischen Ansatz entwickelten und in der systemischen Seelsorgeausbildung insbesondere für Kurzgespräche eingeübten und sich auch im Setting auf der Akutstation eignenden Technik, gehe ich davon aus, dass Frau A. mir gleich am Anfang den sogenannten „Schlüssel“, den „Kernsatz“ oder das Thema präsentiert, vermittelt bzw. anbietet, um den es in der SeelsorgeBegegnung gehen soll.39 Die ratsuchende Person bietet die genauen „Passstellen“ an, und es gilt, dafür aufmerksam und wachsam zu sein und daran präzise anzukoppeln. Ich für mich habe diese Methodik erweitert über das Wort hinaus und beziehe körperliche Signale mit ein – in diesem Fall z. B. das Kratzen des Arms und das Bluten. Ich nehme es als nonverbalen Hinweis bzw. Schlüssel auf. Bei Frau B.: Ich nehme ihre Wirklichkeit ernst. Die Sekte beklaut ihr Kind. Das ist ihre Vorgabe, die ich respektiere und die ich nicht hinterfrage. Ich würdige im Sinne eines Reframings ihre Sorge um ihr Kind, indem ich festhalte, dass sie nur das Beste für ihr Kind möchte und es beschützt wissen will. Aber : Ich bleibe nicht hier stehen, ich „erblinde nicht“. Bei Frau A.: Auch hier wieder erweitere ich die Methodik um nonverbale Elemente. Ich initiiere eine Art Krankensalbung, die körpersprachlich und symbolisch jene neue Sicht eröffnet, die ein Einüben in Selbstannahme und in Selbstsorge anstösst.

Diese Versuche der theoretischen Reflexion meines seelsorglichen Handelns verbinden Thurneysens Seelsorgeverständnis mit systemisch-orientierten Methoden des Kurzgesprächs, wie wir sie in der systemischen Seelsorgeausbildung lernen und üben, um sie wiederum für die spezialisierte Seelsorge u. a. auf der psychiatrischen Akutstation fruchtbar zu machen. Viele Aspekte und Akteure blieben unerwähnt, die gerade in einem systemischen Ansatz zentral wären, wie z. B. die Angehörigen psychisch Erkrankter, die Seelsorge an den Mitarbeitenden etc. Gerade die Doppelrolle der 37 Thurneysen, Rechtfertigung, 85. 38 Bohren, Prophetie, 226. 39 Das sog. „Sesam, öffne dich!“ Lohse, Kurzgespräch, 47 – 54.

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Seelsorge in den Konzepten erforderte dringend zusätzliche Reflexion. So steht einerseits im Leitbild, man sei auch für die Mitarbeitenden zuständig, andererseits ist man Teil des Behandlungsteams! Hier sind Rollenkonflikte vorprogrammiert. Vermutlich handelt es sich um einen Ausdruck des gewandelten, aber noch nicht vollständig implementierten Neuverständnisses von Seelsorge, die sich von ihrer früheren Aussenseiterposition zu einem Teil eines multiprofessionellen Teams hinbewegt. Ich will mich zum Schluss auf einen kurzen akademischen Ausblick konzentrieren.

4. Ausblick: Was tut Not? Was meines Erachtens im Bereich Psychiatrieseelsorge fehlt, ist so etwas wie ein praxisbezogenes Lehrbuch „Seelsorge mit psychisch belasteten Menschen“. Es stellt sich nämlich die grundlagentheoretische Frage – gerade angesichts der Spannweite psychischer Erkrankungen – , wann und wo bei wem welche Seelsorge angemessen ist. Vorbildcharakter hat dabei das Kapitel in Christoph Morgenthalers Seelsorge-Lehrbuch, das auf der Grundlage sowohl neuester religionspsychologischer als auch psychotherapeutischer Erkenntnisse am Beispiel Depression poimenische Perspektiven aufzeigt.40 Dies müsste man auch am Beispiel weiterer psychischer Störungen tun und zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Methodisch wegweisend ist dabei das Vorgehen der US-amerikanischen Praktologin Kathleen J. Greider. In ihrem Seelsorgebuch hat sie ebenfalls am Beispiel Depression eine Vielzahl an Quellen (von Selbstzeugnissen, Briefen, Gedichten etc.) verwendet und die Personen damit selber zu Worte kommen lassen.41 Das Eruieren und Nutzen des Erfahrungswissens jener, um die es geht, wäre m. E. die logische empirisch-methodische Konsequenz von Seelsorge selbst. In Aufnahme und Weiterführung der PatientInnenbefragungen ist nach der Wirkung von Seelsorge zu fragen. Das heißt, es ist konkret nachzufragen, was Psychiatrie-Erfahrene in ihrer Krise von Seiten der Seelsorge geholfen hat. Aufmerksam zu verfolgen und konsequent auf- und einzuarbeiten ist, was auf Seiten der Betroffenenbewegung geschieht und welche ethischen Fragen aufgerollt werden.42 Im Sinne einer Aufnahme der Anliegen des Recovery-Modells, das auch hier in der

40 Morgenthaler, Seelsorge, 183 – 190: „9.3 Verletzlichkeit, psychische Krisen und Erkrankungen – das Beispiel Depression.“ 41 Greider, Much Madness. Vgl. dazu Noth, Verrücktheit. 42 Vgl. dazu Kçrtner, Psychiatrie, 122: „Wer wiederum die Eigenverantwortung psychiatrischer Patienten stärken will, muss ihnen die Freiheit einräumen, sich letztlich auch dafür entscheiden zu können, ob sie mit den Symptomen, mit denen sie bislang gelebt haben, weiterleben möchten (…). Die Fragen reichen bis dahin, ob es gar ein Recht auf Depression und Suizid gibt (…).“

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Schweiz zunehmend AnhängerInnen findet, gilt es, die PatientInnen selber zu hören.43 Das wäre Seelsorge „von unten“. Andr Gide habe einmal gesagt, ihm kämen Menschen, die nie krank gewesen seien, etwas beschränkt vor; wie solche, die nie gereist seien. So weit möchte ich jetzt nicht gehen, … aber fast!

Literatur Amering, Michaela/Schmolke, Margit, Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit, Bonn 42010. Andreae, Andreas/Heim, Gisela/Raupp, Klaus/Von Wyl, Agnes, Case Management unter erschwerten Bedingungen, in: CARE MANAGEMENT. Zs. für integrierte Versorgung, Qualität und eHealth 2011/1, 7 – 11. Bohren, Rudolf, Prophetie und Seelsorge. Eduard Thurneysen, Neukirchen 1982. Greider, Kathleen J., Much Madness is Divinest Sense: Wisdom in Memoirs of Soul-Suffering, Cleveland/OH, 2007. Grçzinger, Elisabeth, Religion im Dialog unter Grenzgängern. Seelsorge in der Begleitung psychisch kranker Menschen, in: A. Grözinger/J. Lott (Hg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns, Rheinbach-Merzbach 1997, 270 – 284. – Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V [F]. Klinisch-diagnostische Leitlinien, hg. v. H. Dilling/W. Mombour/M.H. Schmidt, Bern 5 2005. Klessmann, Michael, Seelsorge in der Psychiatrie – eine andere Sicht vom Menschen?, in: WzM 48, 1996, 25 – 36. – Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 32008. – Seelsorge. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2008. Kçrtner, Ulrich H.J., Psychiatrie im Kontext von Diakonie und Ökonomie, in: ZEE 55, 2011, 119 – 129. Lohse, Timm H., Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung, Göttingen 32008. Meyer, Katharina (Hg.), Gesundheit in der Schweiz. Nationaler Gesundheitsbericht 2008 [Schweizerisches Gesundheitsobservatorium], Bern 2009. Morgenthaler, Christoph, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 42005. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Gütersloh 2009. Nauer, Doris, Kirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger im Psychiatrischen Krankenhaus? Kritische Reflexionen zu Theorie, Praxis und Methodik von 43 Vgl. Amering/Schmolke, Recovery ; Pro Mente Sana Aktuell. Informationen aus der Psychiatrieszene Schweiz: Recovery konkret, 2008/3. Am 29.–30. März 2012 findet in den UPD Bern der 1. Internationale Psychiatriekongress zu „Seelischer Gesundheit und Recovery“ statt.

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KrankenhausseelsorgerInnen aus pastoraltheologischer Perspektive mit organisationspsychologischem Schwerpunkt, Münster/Hamburg/London 1999. Noth, Isabelle, „Verrücktheit hat oft höchsten Sinn“. Die amerikanische Pastoralpsychologin Kathleen J. Greider u¨ ber Seelenqual, Sozialkritik und Spiritualität, in: WzM 61, 2009, 385 – 390. Pfister, Oskar, (1909c): Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge und Seelenheilung, in: EvFr 9, 108 – 114.139 – 149.175 – 189. Ricka, Regula, Depression und mehr, in: CARE MANAGEMENT. Zs. für integrierte Versorgung, Qualität und eHealth 2011/1, 5 f. – Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Hg.), Gesundheit in der Schweiz. Nationaler Gesundheitsbericht 2008. Kurzfassung, Bern 2008. Thurneysen, Eduard, Rechtfertigung und Seelsorge, in: Zwischen den Zeiten 6, 1928, 197 – 218. Wiederabdruck in: F. Wintzer (Hg.), Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 2 1985, 73 – 94. Weltgesundheitsorganisation (Hg.), Psychische Gesundheit: Herausforderungen annehmen, Lösungen schaffen. Bericht über die Europäische Ministerielle WHOKonferenz, 2006. Winter-Pfndler, Urs/Morgenthaler, Christoph, Wie zufrieden sind Patientinnen und Patienten mit der Krankenhausseelsorge?, in: WzM 62, 2010, 570 – 584.

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„Ich armer, elender, sündiger Mensch…“ Das Christentum, die Schuld und die Scham – im Kontext der Gefängnisseelsorge1

1. Einleitung Am Anfang der Bibel wird in drei wichtigen Geschichten von der Scham der Menschen erzählt: Adam und Eva schämen sich, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben und nun plötzlich aus dem Stand der Unschuld herausgefallen sind und sehen, wer sie sind (Gen 3); Kain wird von Gott aus Gründen, die in der Geschichte nicht benannt werden, zutiefst beschämt und schlägt aus diesem Affekt heraus Abel tot (Gen 4). Und Noah, der sich betrunken hat und nackt irgendwo liegt, fühlt sich zutiefst beschämt dadurch, dass sein Sohn Ham ihn in seiner Nacktheit sieht und seinen Brüdern davon erzählt. Ham wird für diese Beschämung seines Vaters verflucht (Gen 9). Drei heftige Schamgeschichten gleich am Anfang der Urgeschichte. Man könnte denken, dass auf Grund dessen die Auseinandersetzung mit diesem rätselhaften Affekt ein wichtiges Thema für die Judentums- und Christentumsgeschichte geworden wäre. Wie Sie wissen, ist es nicht so gekommen: natürlich haben jüdische und christliche Exegeten sich mit den drei genannten Geschichten ausführlich beschäftigt,2 aber für die theologische Anthropologie sind sie kaum wirkungsmächtig geworden. Christliche Theologen, angefangen von Paulus über Augustin und Luther, haben sich vorwiegend mit der Schuld des Menschen befasst, haben Sünde als Schuld interpretiert – und die Scham weitgehend außen vor gelassen. So ist eine Anthropologie entstanden, die den Menschen einseitig von den Phänomenen der Sünde und der Schuld – und damit von seinen Taten her zu verstehen sucht. Kulturkritiker haben diese Einseitigkeit immer wieder angeprangert – auch wenn sie das Christentum in ihrer Kritik moralisierend falsch verstehen: Friedrich Nietzsche nennt das Christentum eine neurotische Schuldkultur, der Philosoph Herbert Schnädelbach sieht in der Erbsündenlehre einen der Geburtsfehler des Christentums und der So-

1 Überarbeitete und hier leicht veränderte Fassung eines im Reader GefängnisSeelsorge Nr. 18/ 2010 bereits veröffentlichten Vortrags vor der Bundeskonferenz für Gefängnisseelsorge am 28. 4. 2010 in Waldfischbach. Der Vortragsstil ist beibehalten. 2 Einen Eindruck von der jüdischen Exegese dieser Geschichten durch den berühmten Talmudkommentator Rashi (1040 – 1105) vermittelt Wurmser, Maske, 89 ff.

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„Ich armer, elender, sündiger Mensch…“

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ziologe Gerhard Schulze schreibt, die Sündenmoral des Christentums stelle „das gute Leben unter Generalverdacht“.3 Wie gesagt, die Frage nach der Scham bleibt in der christlichen Anthropologie weitgehend unberücksichtigt.4 Interessanterweise hat es in der Psychoanalyse eine ähnliche Tendenz gegeben: Sigmund Freud hat dem Schamgefühl wenig Aufmerksamkeit gewidmet,5 erst Erik Erikson beschreibt in seinem 1950 erschienenen Buch „Kindheit und Gesellschaft“ die Bedeutung der Scham, dass sie entwicklungspsychologisch der Schuld vorausgeht, leicht im Schuldgefühl untergeht und übersehen wird, und dass sie vorrangig mit den Augen der anderen zu tun hat. Erikson schreibt einen Satz, der in beklemmender Weise durch den Film „Das weiße Band“ illustriert wird: „Zu viel Beschämung führt nicht zu echtem Wohlverhalten, sondern zu dem geheimen Entschluss, unentdeckt zu tun, was man will […].“6 Dieser Satz wird uns im Blick auf das Christentum noch beschäftigen. Erst die große Monographie von Lon Wurmser „Die Maske der Scham“ von 1981 hat dann auch in der Psychoanalyse den Fokus auf das Thema der Scham gelegt. Seither gibt es eine Fülle von Literatur zum Thema. Der Zusammenhang und der Unterschied von Scham und Schuld scheinen mir in Theologie und Seelsorge noch wenig bedacht. Ich will diese Thematik entfalten, indem ich das Stichwort vom Generalverdacht aufgreife: Eine an Sünde und Schuld orientierte christliche Anthropologie, so Gerhard Schulze, stelle „das gute Leben unter Generalverdacht.“ Ich muss gestehen, dass ich ihm da erst einmal zustimme. Für mich kulminiert dieser Generalverdacht im lutherischen Sündenbekenntnis (das in unterschiedlichen Versionen kursiert), das ich in die Themenformulierung übernommen habe: „Ich armer, elender, sündiger Mensch, bekenne vor dir, allmächtiger Gott, meinem Schöpfer und Erlöser, dass ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken und auch von Grund auf sündig und unrein bin. Ich habe aber Zuflucht zu deiner grundlosen Barmherzigkeit, suche und begehre Gnade um des unschuldigen Leidens und Sterbens deines Sohnes Jesu Christi willen.“ Die Fragen, mit denen ich mich in diesem Vortrag beschäftigen möchte, sind folgende: Was löst die christliche Tradition in Menschen aus, wenn das Thema der Sünde und Schuld so stark im Vordergrund ihrer Anthropologie steht? Was erleben Gottesdienstbesucher, insbesondere Strafgefangene, wenn sie das lutherische Sündenbekenntnis (oder vergleichbare moderne) sprechen oder hören? Wird dadurch Selbsteinsicht, Selbsterkenntnis und damit Umkehr (im Wortsinn von metanoia: ein anderes Denken und Fühlen) angeregt? Oder wird – und das ist meine Hypothese – gerade das Gegenteil bewirkt, dass 3 Schulze, Sünde, 12. 4 Das zeigt beispielsweise ein Blick in W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen 1983. 5 Vgl. Till/Hilgers, Kain. 6 Erikson, Kindheit, 247.

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sich Menschen beschämt fühlen und entsprechend mit Abwehr und Verleugnung reagieren? Und wenn das so sein sollte: Gibt es andere Wege für den Umgang mit den Themen Schuld und Scham?

2. Zur Unterscheidung und Zusammengehörigkeit von Schuld und Scham 2.1 Scham in Schuld verwandeln Die in Gen 3 erzählte Geschichte vom Sündenfall beginnt mit einer schuldhaften Tat, dem Übertreten des Gebotes Gottes, und endet in Scham. „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren“ (Gen 3,7). D.h. sie sehen, wie sie wirklich sind. Sie nehmen sich als Mann und Frau in ihrer Unterschiedlichkeit wahr und als solche, die die selbstverständliche Einheit mit dem Ursprung, mit Gott, verloren haben, so interpretiert es Dietrich Bonhoeffer.7 Sie haben sich eine Blöße gegeben, und das heißt, ihr So-Sein wird ungeschminkt und ungeschönt vor den Augen anderer sichtbar. Mängel, Schwächen oder Hässlichkeiten, die man lieber versteckt gehalten hätte, liegen nun offen zutage. Sich schämen heißt: Man fühlt sich vor den Augen anderer erniedrigt, entwürdigt, verachtet, entehrt. Und weil das die ganze Person betrifft, ihr Sein, ihr Wesen, geht Scham so tief und kann so unbändige Wut als Reaktion auslösen – eben, weil man sich darin als ganze Person aufgedeckt, schutzlos und durchschaut weiß. Wurmser fasst diesen Sachverhalt so zusammen: „Ihrem Inhalt nach ist ursprünglichste Scham der Schmerz des Gefühls, ungeliebt und liebensunwert zu sein.“8 Scham betrifft das gesamte Sein, Schuld das Tun oder Lassen. Bei Scham geht es um Versagen, bei Schuld um Übertretung.9 Im Schamgefühl erlebt man das eigene Selbst als verletzt (Kränkung des Selbstwertgefühls), Schuld entsteht, wenn man ein anderes Selbst verletzt hat. Scham ist ein Geschehen, das man erleidet, das einen unversehens überfällt. Schuld entsteht durch eigenes Handeln, durch eigenes Entscheiden: Man hätte auch anders gekonnt. Scham hat eine stark körperliche Dimension in doppelter Hinsicht: Sie entzündet sich leicht an Defekten des Körpers – ich bin schwach, ich bin dreckig, ich habe einen Defekt, ich habe die Kontrolle über meinen Körper verloren10 – und sie wird vorrangig körperlich wahrgenommen durch Erröten, Schwitzen, den Blick abwenden müssen. Die Bedeutung des Blicks der Anderen ist hier noch einmal zu unterstrei7 8 9 10

Bonhoeffer, Ethik, 22 ff. Wurmser, Maske, 164. Wurmser, Maske, 133. Vgl. Wurmser, Maske, 40.

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chen: Der Blick kann vernichten und zu Schanden werden lassen oder – und darauf komme ich am Schluss beim Thema Segen zurück – er kann wertschätzen, anerkennen und aufrichten. Noch einmal Wurmser : „Liebe wird durch das Gesicht bewiesen, und dasselbe geschieht mit dem Liebesunwert […].“11 Nun nimmt die Geschichte vom Sündenfall die erstaunliche Wendung, dass Gott offenbar nicht will, dass die Beschämung der ersten Menschen grenzenlos und zerstörerisch ausfällt. Lapidar heißt es: „Und Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an“ (Gen 3,21). Damit wird die eingetretene Beschämung eingegrenzt: Das, was einmal kurz aufgedeckt worden ist, wird nun gnädig wieder zugedeckt. Denn mit permanenter Beschämung kann man nicht leben! Die Fortsetzung der Urgeschichte (Gen 4) verdeutlicht einmal mehr, was Scham ist und wie nahe liegend der Ausweg erscheint, sie in Schuld zu verwandeln. Gott verweigert Kain seine Anerkennung: „Der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, Kain und sein Opfer aber sah er nicht gnädig an“ (Gen 4,4 f). Ein Grund wird nicht genannt; es entspricht nur einer verbreiteten Erfahrung: Die einen erfahren Anerkennung von Menschen, von Gott, den anderen wird sie vorenthalten. Scham entsteht auch hier vor den Augen anderer – und oft weiß man nicht warum, womit man das verdient hat. Die Scham kommt über einen wie ein Platzregen. Ein erwachsener Mann erzählt immer noch mit heftigen Gefühlen von Scham, wie er sich als zehnjähriger Junge in ein Mädchen verliebt und insgeheim ein Lied für sie geschrieben hat. Die Mutter findet beim Aufräumen das Blatt, fordert ihn auf, ihr das Lied vorzusingen, er tut es gutgläubig – und dann lacht sie ihn schallend aus, erzählt noch dem Vater und dem Bruder davon und alle schütteln sich vor Lachen. Der Junge hat sein Innerstes gezeigt – und wird dafür zutiefst beschämt.12

Auf die Erfahrung des Bloß-Gestelltseins, von Demütigung und Beschämung, auf das Gefühl, nichts wert zu sein oder ungerecht behandelt worden zu sein, so sagt es die Geschichte vom Brudermord, folgen Zorn und Groll, Rachgier und Mordlust.13 Was man selber erlitten hat, will man dem anderen zufügen. Das passiv Erlebte wird ins Aktive gewendet, weil man im Aktiven Macht ausüben und die beschämende Ohnmacht abwehren kann. „Die Verwandlung von Scham in Gewalt gegen andere wendet Ohnmacht in Macht, Schwäche in Stärke, indem andere nun erleiden, was man eben noch selbst empfand.“14 So wird die unerträgliche Scham auf dem Weg über Gewalt in besser erträgliche Schuld umgewandelt – eben, weil man im Prozess des Schuldigwerdens zu11 12 13 14

Wurmser, Maske, 163. Vgl. Bastian/Hilgers, Kain. Vgl. Wurmser, Scham, Rache. Hilgers, Scham, 332.

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mindest das Gefühl hat, dass man noch etwas tun kann, dass man noch Herr der eigenen Entscheidungen und nicht nur ohnmächtig ist.15 Schamgefühle können also in Schuldgefühle umgewandelt werden. Aber auch umgekehrt gilt: Schuldempfinden und Schuldgefühle können etwas Beschämendes an sich haben: In der Übertretung, die ich begangen habe, wird deutlich, wer ich wirklich bin. Allerdings muss man dem bisher Gesagten hinzufügen, dass begrenzte, maßvolle Scham und die damit verbundene Schamangst auch eine sozialisierende Wirkung haben kann.16 Sie sensibilisiert für die Getrenntheit vom anderen, damit für die eigenen Grenzen und spornt zu sinnvollen Ich-Leistungen an, die wiederum Stolz, das Gegengefühl zu Scham, bewirken. Scham und Stolz regulieren das Selbstwertgefühl, so dass Hilgers von der Scham als der „Hüterin des Selbst“ gesprochen hat. Was in diesem Zusammenhang die verbreitete Schamlosigkeit unserer Medienkultur für die Ich-Entwicklung bedeutet, kann ich hier nur als Frage andeuten.

2.2 Schuld, Schuldgefühle und Beschämung17 Es gibt reale Schuld und nicht nur Schuldgefühle. Das mag in der Gefängnisseelsorge selbstverständlich erscheinen, in einer psychologisierenden Öffentlichkeit ist es das oft nicht. Da wird eher so getan, als ob es auf Grund der komplexen globalisierten Interaktionszusammenhänge keine individuelle Verantwortung und damit auch keine Schuld mehr gäbe, sondern eben nur noch mehr oder weniger neurotische Schuldgefühle, die man doch eigentlich nicht zu haben brauchte. Beim Begriff der Schuld muss man unterscheiden zwischen Existentialschuld und Tatschuld. Existentialschuld (debitum) bezeichnet das, was wir unausweichlich anderen oder uns selbst schuldig bleiben oder antun: Bei allem guten Bemühen bleiben Eltern ihren Kindern etwas schuldig, Paare geraten trotz liebevoller Absichten in Lieblosigkeiten und kleinliche Streitigkeiten, Seelsorger oder Therapeutinnen verfehlen trotz fachlicher Kompetenz Bedürfnisse und Anliegen ihrer Klienten. Nie und nimmer gelingt es uns, das Potential an Möglichkeiten, das sich in jeder Beziehung eröffnet, voll und ganz auszuschöpfen. Immer bleibt ein Zwiespalt zwischen wirklicher und möglicher Welt; wir schaffen es nicht, diese Differenz aufzulösen. Und im Weltmaßstab sind wir alle unausweichlich verstrickt in die Ungerechtigkeiten der Weltwirtschaft, in den Gegensatz von arm und reich. Damit ist ein quasi 15 Von dem Hypnotherapeuten Milton Erickson wird berichtet, dass er sehr erfolgreich tiefliegende Schamkonflikte und ihre Maskierungen erkannte und sie zunächst in Schuldkonflikte verwandelte, ehe er mit der Therapie weiter machte. 16 Vgl. Hilgers, Scham, 17 ff. 17 Vgl. zum Folgenden Klessmann, Seelsorge, 234ff; Hirsch, Schuld.

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vormoralischer Lebensbereich angesprochen, der vor jeder schuldhaften Einzeltat angesiedelt ist und deswegen zu Recht „Erbsünde“ oder Urschuld genannt wird. Der Schriftsteller Philipp Roth hat diesen Zusammenhang – ohne Gottesbezug – den „menschlichen Makel“, „the human stain“, dem wir nicht entgehen können, genannt. Wie gehen wir mit diesem Sachverhalt um? Kann man uns Menschen einen Vorwurf machen aus dieser Verstrickung, die man durchaus tragisch nennen könnte? Sich schuldig machen setzt in den meisten Fällen eine Freiheit der Entscheidung und damit Verantwortung voraus – auch wenn wir wissen, dass viele Täter selber vorher Opfer (z. B. von familiärer Gewalt) geworden sind. Wenn wir trotz vermeintlicher Freiheit immer wieder in solche Verhängnisse hineingeraten, kann man dann im klassischen Sinn von Schuld als Übertretung sprechen und Vergebung dafür anbieten? Vergebung gehört in einen juristisch-forensischen Zusammenhang und meint den Prozess, in dem jemand auf den Schuldvorwurf und den Anspruch auf Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts verzichtet. Um eine solche auf eine Tat bezogene Vergebung kann es sich hier nicht handeln. Es gibt jedoch viele Menschen, die an der erwähnten Diskrepanz von Möglichkeit und Wirklichkeit, an den Verstrickungen einer globalisierten Welt leiden, darüber verzweifeln oder depressiv werden. Ihnen können wir im Namen Gottes sagen: Du darfst leben, sogar fröhlich leben, trotz dieser Existentialschuld. Du musst nicht ständig mit einem gequälten Gewissen leben. Die kirchlichen Schuldbekenntnisse formulieren aber allzu oft einen Schuldvorwurf an Stellen, an denen Menschen sich eher in ein Verhängnis verstrickt erleben. Umso wichtiger ist dann die Unterscheidung zur Tatschuld, weil da erst wirklich die individuelle und freie Verantwortung ins Spiel kommt. Eine Tatschuld (culpa) ist gegenüber der existentiellen Schuld eine relativ klar abgegrenzte Sache: Da übertritt jemand vorsätzlich oder fahrlässig ein Gebot (du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten) und macht sich angesichts dieses Maßstabs schuldig. Tatschuld kann und muss man zu vermeiden suchen, diesbezüglich kann man relativ schuldlos durchs Leben kommen. Vergebung einer Tatschuld muss konkret und spezifisch auf die Tat bezogen sein, hier sind die klassischen Schritte, die wir bereits aus der Scholastik kennen, angezeigt: confessio oris, contritio cordis, absolutio, satisfactio operis. Maßstab für das Entstehen von Tatschuld sind sittliche Ordnungen. Das Problem unserer Gegenwart besteht darin, dass sich die Allgemeingültigkeit grundlegender Normen mehr und mehr auflöst und durch individualisierte Ansprüche und Erwartungen ersetzt wird. Je pluralisierter die moralischen Normen und Werte ausfallen, desto individualisierter erscheinen auch die Schuldgefühle. Man kann kaum noch vorhersagen, was der eine oder die andere als schuldhaft empfindet. Schuldgefühle stellen die psychische Reaktion auf ein Verhalten dar ; sie enthalten Angst vor Strafe oder Liebesverlust, Reue, Gewissensbisse, Selbstvorwürfe, andauerndes Grübeln. Schuldgefühle werden, psychoanalytisch

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gesprochen, im Über-Ich, dessen bewusster Anteil das Gewissen darstellt, erzeugt; je nach Strenge des Über-Ichs, in dem bekanntlich die Maßstäbe der Eltern bzw. der umgebenden Gesellschaft internalisiert sind, fallen Schuldgefühle im Blick auf die Schwere der Schuld angemessen bzw. realistisch aus, sie können aber auch das Geschehen emotional verzerren, indem sie dramatisieren (man spricht dann von übertriebenem Schuldgefühl) oder im Gegenteil bagatellisieren (mangelndes Schuldgefühl). Schuldgefühle wirken in der Regel verhaltensregulierend, sie tragen dazu bei, dass moralisch nicht akzeptables Verhalten unterbleibt, sie fördern Anpassung an die Maßstäbe sozialen Zusammenlebens. Das erscheint einerseits sinnvoll und notwendig: Wir empfinden es vermutlich alle als bedenklich, dass in der Postmoderne klare ethische Maßstäbe, an denen man sich orientieren kann, immer mehr verloren gehen. Man muss es doch als ein bedrohliches Zeichen empfinden, wenn einer Untersuchung zufolge siebzig Prozent der strafgefangenen Jugendlichen in einer bayrischen JVA angaben, keine Schuldgefühle zu empfinden.18 Andererseits kann die Angst vor Schuldgefühlen Menschen auch zur Überanpassung treiben und ihre Freiheit und Selbstständigkeit einschränken. Die frühe Psychoanalyse vertrat die These, dass Schuldgefühle sich ausschließlich an ödipalen Impulsen entzünden, also innerpsychisch entstehen. Inzwischen gehen Psychoanalytiker davon aus, dass alles Schulderleben an reale Beziehungen geknüpft ist: Schuldig wird man immer an einem Gegenüber – und sei es am vorgestellten eigenen Selbst als Gegenüber. Dann wird aber die zunächst ziemlich klar erscheinende Unterscheidung zwischen realer Schuld und Schuldgefühl schwieriger und undeutlicher. Mathias Hirsch hat in einer wichtigen Studie dargestellt, in welchem Ausmaß „subtile Beziehungstraumata innerhalb der Familie“ bei Kindern und Jugendlichen Schuldgefühle auslösen. Er unterscheidet:19 Ein Basisschuldgefühl, das entsteht, wenn ein Kind sich als letztlich nicht von den Eltern gewollt erlebt. Ein Schuldgefühl aus Vitalität: Der Drang des Kindes nach Lebendigkeit und Expansion kollidiert mit dem Bedürfnis der Eltern nach Ruhe und Stille, besonders etwa in dem Fall, wenn ein Elternteil chronisch krank ist. Ein Trennungsschuldgefühl: Das Streben nach Autonomie, nach Loslösung von den Eltern wird als Aggression gegen die Eltern erlebt, vor allem natürlich, wenn die Eltern selber nicht loslassen können und auf Trennungsimpulse des Kindes ängstlich und depressiv reagieren. Ein traumatisches Schuldgefühl: Menschen, die Opfer einer Gewalttat geworden sind, entwickeln merkwürdigerweise selber Schuldgefühle. Das Gefühl der absoluten Ohnmacht und Hilflosigkeit wird offenbar ein wenig er-

18 Zimmermann-Brunner, Mensch, 147. 19 Zum Folgenden Hirsch, Schuld, 69 ff.

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träglicher, wenn man es durch eine solche Selbstattributierung von Schuld ersetzt.20 Hinzufügen müsste man noch ein Überlebensschuldgefühl, das Überlebende der Schoah oder Überlebende nach Verkehrs- oder Umweltkatastrophen empfinden; und Schuldgefühle, die auf der Grundlage eines überstrengen Gewissens entstehen (z. B. in einer strikten religiösen Erziehung): Bereits bestimmte Gedanken oder Gefühle können da schon heftige Schuldgefühle auslösen. Die Aufzählung dieser verschiedenen Schuldgefühle lässt erahnen, wie viele sogenannte dissoziale Menschen unter so einem Schuldgefühl gelitten haben bzw. leiden und dass die Tat, deretwegen sie straffällig geworden sind, möglicherweise auch den Versuch darstellt, ein diffuses und umfassendes Basisschuldgefühl oder Schuldgefühl aus Vitalität endlich einmal durch eine klar abgrenzbare Tat und ein entsprechend deutlicher konturiertes Schuldgefühl abzulösen. Das Schuldgefühl wegen einer benennbaren und abgrenzbaren Tatschuld ist leichter zu ertragen als ein weitgehend diffuses und umfassendes Schuldgefühl. Die Wahrnehmung eigener Schuld löst vielfach Schamgefühle aus: „So einer bin ich. Dazu war oder bin ich fähig – und das vor aller Augen! Was ich getan oder unterlassen habe, offenbart den anderen mein Innerstes, meinen Charakter.“ Hilgers spricht von einer Scham-Schuld-Spirale,21 die man auch umgekehrt als Schuld-Scham-Spirale darstellen kann. D.h. Betroffene versuchen, Scham durch Schuld abzulösen, umgekehrt kann Scham zur Schuld bzw. zu Schuldgefühlen hinzutreten oder sie überlagern. Niemand möchte als defekt und mangelhaft bloß gestellt werden, deswegen greifen Betroffene zu Abwehrmechanismen: Wer einen anderen bei schuldhaftem Verhalten ertappt oder deswegen verdächtigt, muss mit heftigen Aggressionen rechnen. Die narzisstische Kränkung, als ein solcher gesehen zu werden, kann unbändige Wut auslösen. Die Schuld wird projektiv anderen zugeschoben: Die gesellschaftlichen Umstände oder die Eltern oder die Ausländer werden verantwortlich gemacht. Dieser Abwehrmechanismus wird dadurch begünstigt, dass psychoanalytisches und systemisches Denken individuelle Verantwortungszuschreibungen zunehmend erschweren: Wenn alles irgendwie mit allem zusammenhängt, bzw. gegenwärtiges Verhalten mit biographisch frühen Defiziten und Verletzungen verknüpft ist, wird es zunehmen schwer, eindeutige Verantwortungszuschreibungen vorzunehmen. Auf eine weitere Variante der Entstehung von Schuldgefühlen möchte ich noch kurz hinweisen: Die Narzissmustheorie hat die Beobachtung eingebracht, dass Schuld und Schuldgefühl nicht nur gegenüber dem Über-Ich, sondern auch gegenüber dem Selbst, gegenüber dem Ich-Ideal entstehen 20 Vgl. Auchter, Unschuld, 73 f. 21 Hilgers, Scham, 15.

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kann: Ich lebe nicht so, wie ich sein möchte oder könnte, ich nutze meine Potentiale und Ressourcen nicht aus, bleibe hinter meinen Möglichkeiten zurück. Diese Schuldwahrnehmung äußert sich nicht so sehr als schlechtes Gewissen, sondern eher als diffuses Gefühl von Leere, Ungenügen und Langeweile – die Nähe dieser Art Schuldgefühl zum Schamempfinden ist groß. Da ist eine Art quälender Leerstelle – und die kann man füllen, indem man eine konkrete, fassbare Straftat begeht.

3. Die Ambivalenzen des Sündenbekenntnisses Die liturgische Gestaltung des Gottesdienstes ist als Spiegel vorherrschender kirchlich-theologischer Grundannahmen zu sehen. Struktur, Inhalte und Sprachformen spiegeln die dominanten theologischen Paradigmen einer Kirche und eines bestimmten Zeitabschnitts; abweichende theologische Differenzierungen der akademischen Theologie verändern solche Paradigmen nur sehr langfristig. Das Sündenbekenntnis, das am Beginn der meisten Gottesdienste gesprochen wird, nennt die Realität der menschlichen Situation beim Namen: Wir, die wir den Gottesdienst besuchen, gestehen ein, dass wir Sünder sind, d. h. Menschen, die immer wieder ihre Bestimmung zum Leben und zur Liebe verfehlen, die sich – meistens trotz guter Absichten – immer neu in Kommunikationszusammenhängen von Misstrauen, Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit vorfinden, die durch Narzissmus und Egozentrismus kleine und große Schuld auf sich laden, die in kleinem oder großen Ausmaß scheitern.22 Wir treten vor Gott nicht als die Tüchtigen und moralisch Fehlerlosen, die alles im Griff haben, sondern anerkennen gleich zu Beginn des Gottesdienstes unsere grundsätzliche Begrenztheit und Fehlerhaftigkeit. Ein Theologe hat es so formuliert: „Ohne ein Confiteor [zu Beginn] würde der Gottesdienst der Gemeinde zur Selbstfeier verkommen.“23 Psychoanalytisch könnte man sagen: Wir legen unsere Größenphantasien und den gesellschaftlichen wie individuellen Narzissmus vorübergehend ab. Dieses Anliegen erscheint unbedingt sinnvoll und notwendig. Bereits ein flüchtiger Blick in die Zeitung oder die Menschheitsgeschichte führt uns überdeutlich vor Augen, dass, biblisch gesprochen, das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf (Gen 8,21). Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, dass es keine „reinen“ Absichten gibt, dass alles, was wir denken und tun, von egoistischen Motiven, Begierden oder Rachegelüsten durchzogen ist. Wo ist Raum und Zeit vorhanden, um diese conditio humana zur Sprache zu bringen und zu bedenken, wenn nicht im Gottesdienst? Wo – 22 Im Anschluss an die Erläuterung des Sündenbegriffs bei Brandt, Definitionsversuch. 23 Lins, Buße und Beichte, 363.

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außer im Gebet oder in der Seelsorge bzw. Therapie – gelingt es uns ansatzweise, ehrlich mit uns selbst zu sein, unsere Schattenseiten anzuschauen und darüber nachzusinnen, was wir an uns selbst nicht akzeptabel finden? Wo fühlen wir uns einmal nicht genötigt, Schuld sogleich abzuweisen und sie auf andere, auf die Umstände, auf die Gene etc. zu projizieren und damit den Täter zum Opfer zu machen? Also, dieses Anliegen erscheint mir notwendig und heilsam. Aber – es enthält mehrere Kehrseiten oder Ambivalenzen, die in der Theologie und in der kirchlichen Praxis zu wenig bedacht werden. 1. Wenn das Benennen von Sünde und Schuld wie in der sog. „Offenen Schuld“ im Gottesdienst allgemein und pauschal bleibt, also keine konkreten Erfahrungszusammenhänge benennt, verpufft das Bekenntnis weitgehend wirkungslos. Ein Satz wie „wir haben gesündigt mit Gedanken, Worten und Werken“ erscheint belanglos: Wenn alle sündig sind, trifft es niemanden persönlich. Und wenn quasi „alles“ sündig ist, muss es einen auch nicht mehr kümmern. Wenn das Bekenntnis nicht konkrete Taten, Unterlassungen oder Verblendungszusammenhänge anspricht, lädt es kaum zur Nachdenklichkeit und Selbstreflexion ein. Und weiter : Solche pauschalen Zusammenfassungen verschleiern eine notwendige und heilsame Differenzierung der Frage nach der tatsächlichen Verantwortung. Ein wichtige Frage im Gespräch über Schuld ist eigentlich immer die: „Wofür warst oder bist du wirklich verantwortlich und wofür nicht?“ Wer Schuldgefühle empfindet, neigt leicht dazu, ihren Radius unabgegrenzt groß zu machen und sich gleich in einem Abwasch für alles und jedes schuldig zu fühlen. Die Frage nach der tatsächlichen Verantwortung leitet dazu an, das eigene Erleben zu differenzieren. Wirkliche Schuldübernahme ist nur möglich, wenn sie auf der Basis einer solchen Differenzierung – und eben nicht im Zusammenhang mit pauschalen Zuschreibungen geschieht. 2. Es besteht bei einem solchen Sündenbekenntnis immer die Gefahr der Funktionalisierung, des subtilen Missbrauchs: Kirche hatte und hat Macht über die Gewissen der Menschen, über ihr Denken, Fühlen und Verhalten. Ein solches Sündenbekenntnis kann Mosaikstein einer Hierarchie sein, in der Menschen klein gemacht, abhängig und gehorsam gehalten werden sollen. „Die sanfte Macht der Hirten“24 lebt eben auch von solchen Bekenntnissen, in denen Menschen sich selbst bezichtigen und sich der Möglichkeiten begeben, ihr Selbst zu entfalten, Kraft und Stolz zu entwickeln. Das ist gerade im Gefängnis, dessen Struktur bereits Menschen klein macht und erniedrigt, zu bedenken. 3. Im Confiteor klingt es so, als ob der Mensch ausschließlich auf seine Sünde und Schuld festgelegt wird, als ob es nichts Anderes daneben gäbe.25 Dieser eine Aspekt wird so exklusiv betont (zumal im „Vater unser“ noch einmal um die Vergebung der Schuld gebetet wird; wenn der Gottesdienst eine Abendmahlsfeier 24 Steinkamp, Macht. Steinkamp greift hier Gedanken des französischen Philosophen Michel Foucault auf. 25 Vgl. Riess, Zeit der Schuldlosen?

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einschließt, rückt das Bekenntnis von Sünde und Schuld und die Zusage der Vergebung noch ein weiteres Mal in den Vordergrund), dass alle anderen Dimensionen des Menschseins (Glück und Gelingen, Hoffnung, Stolz, Kraft und Zielstrebigkeit) ausgeblendet sind. Konfrontation mit der eigenen Begrenztheit und Fehlerhaftigkeit in einer so totalen und einseitigen Form löst jedoch tendenziell Beschämung aus; Beschämung wiederum wird als höchst unangenehm erlebt und entsprechend abgewehrt. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie in den Gottesdiensten in der Anstalt Bethel das lutherische Sündenbekenntnis gebetet wurde. Ich muss gestehen, dass ich es schwer ausgehalten habe, diesen Text mitzusprechen, und zwar sowohl im Blick auf meine eigene Person wie auch im Blick auf die behinderten Menschen, die den Gottesdienst mitfeierten. Mein Gefühl war : Formulierungen wie „mit Gedanken, Worten und Werken“ oder „von Grund auf sündig und unrein“ lassen buchstäblich kein gutes Haar an mir, sie verletzen und beschämen mich und die anderen. Die Sünde, von der hier die Rede ist, besteht nicht darin, dass ich etwas Verbotenes getan habe, sondern dass ich schlecht und böse bin. Mein ganzes Wesen wird als sündig und unrein dargestellt.26 Und genau das löst Scham aus. Ein solches Schamempfinden dürfte besonders bei als dissozial einzuschätzenden Menschen auftreten, weil ihr Selbstwertempfinden sowieso schwach ausgeprägt ist oder extrem zwischen kleinheitsund Größenphantasien hin und her schwankt und dann leicht Gewalt auslöst oder in Depression umschlägt.

Dieter Funke schreibt, dass eine christliche Theologie, die die Sündhaftigkeit und Schuld des Menschen in den Vordergrund stellt, in der Gefahr steht, Menschen in einen „Kreislauf von Angst, Selbstentwertung und Scham“ zu treiben.27 Ich kann diese These aus eigener seelsorglicher Erfahrung nur bestätigen: Bei Menschen mit depressiven Neigungen habe ich es oft genug gehört, wie sie sich von der Schwere vermeintlicher Schuld niedergedrückt fühlten, der zugesagten Vergebung nicht trauen konnten und sich für dieses „nicht trauen und nicht glauben können“ wiederum intensiv schämten und damit ihre depressive Neigung verstärkten. Nun betrifft diese Problemanzeige nicht nur Texte aus zeitlich weit zurückliegender Vergangenheit. Es lassen sich mühelos zeitgenössische Texte finden, die der Aussage des klassisch lutherischen Sündenbekenntnisses in Nichts nachstehen. Ein Beispiel für viele aus einer Arbeitshilfe der bayrischen Landeskirche für Gottesdienste zum Buß- und Bettag 2009: „Keiner von uns ist so, wie du es willst, Gott. Wir vergeuden unsere Zeit. Wir sitzen auf unserem Geld. Wir suchen unseren Vorteil. Wir geizen mit der Liebe. Wir verspielen 26 Im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche berichtet ein Priester in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe 29. 3. 2010), dass er erlebt, dass viele alte Menschen mit der Sexualmoral der Kirche nicht zurecht kommen. „Sie fühlten sich ein Leben lang nur schuldig und schmutzig, weil sie dem Ideal der Kirche nicht entsprechen konnten.“ 27 Funke, Schulddilemma, 141.

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unsere Chancen […]. Wir sind kleinmütig, engherzig, müde. Taub sind wir und blind, die Zeichen der Zeit zu erfassen […].“28 Meine These ist: Solche liturgischen Formulierungen (man könnte hier auch auf viele Passionslieder verweisen) fördern nicht die Selbsteinsicht, sie laden nicht dazu ein, dass Menschen sich selbst realistischer wahrnehmen und erkennen, sondern lösen Beschämung aus, die wiederum Abwehr und Verleugnung provoziert. Zu diesem Konflikt will ich noch einige theologische und psychologische Bemerkungen anfügen: Aus theologischer Sicht geht es hier um eine Wiederauflage des pelagianischen Streits aus dem 5. Jahrhundert: Auf der einen Seite stehen Augustin und Luther, die die grundsätzliche Verderbtheit des Menschen und die entsprechende Exklusivität der göttlichen Gnade betonen; auf der anderen Seite traut Pelagius dem Menschen eine begrenzte Freiheit und Fähigkeit zur Vermeidung der Sünde zu (wie übrigens das Judentum und der Islam auch!). Wo stehen wir heute in dieser Konfliktlage? Ich möchte folgende These vertreten29 : Sünde als Verfehlung der uns zugedachten Lebensbestimmung erleiden wir, das ist die Macht der Sünde, in die wir von Beginn des Lebens an verstrickt sind. Entwicklungspsychologie und systemische Psychotherapie verdeutlichen anschaulich, wie wir als Kinder in die Verhaltens- und Denkmuster familiärer und gesellschaftlicher Traditionen und Muster hineingeboren werden und solche Muster dann in der Folge selber an die nächste Generation weitergeben. Weil wir von Anfang an in Kommunikationszusammenhänge von Misstrauen, Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit verstrickt sind30, kommt es immer wieder zu schuldhaften Handlungen. Das heißt nicht, dass das gesamte Wesen des Menschen korrumpiert ist, wie es das lutherische Bekenntnis suggeriert. Er kann sich in Grenzen für eine positive Entwicklung entscheiden, er kann wählen, Gutes zu tun oder Böses zu lassen und damit durchaus eine justitia civilis, eine Art von Alltagsgerechtigkeit realisieren. Darin hat die humanistische Psychologie Recht, wenn sie die These vertritt, dass der Mensch in einer förderlichen Umgebung wachsen und zu sich selbst finden kann, dass Heilung und Nachsozialisation möglich sind. Gleichwohl wird ein Mensch durch diesen Prozess nicht komplett heil und vollkommen, er wird immer wieder erleben, dass er die Bestimmung seines Lebens, dass er die Liebe verfehlt. Das Kreuz als zentrales Symbol des Christentums gibt auch dieser Einsicht Ausdruck. Wir sollten uns bewusst sein, dass die conditio humana so beschaffen ist und dieses Bewusstsein mit Trauer und Klage verbinden. Es gehört zum Menschsein, schuldig zu werden – und gleichzeitig 28 www.ekkw.de/busstag/09/download/bbtag09_arbeitshilfe_gottesdienst.pdf. 29 Im Anschluss an Hrle, Dogmatik, 476 ff. Härle unterscheidet ein substanzontologisches von einem relationsontologischen Sündenverständnis; beide Ansätze finden sich bereits in den reformatorischen Bekenntnisschriften. 30 So umschreibt Sigrid Brandt den Begriff der Sünde und bezieht ihn damit auf gut nachvollziehbare Erfahrungszusammenhänge, vgl. Brandt, Definitionsversuch.

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können wir uns bemühen, so wenig Schuld wie möglich auf uns zu laden. In dieser Spannung sollten wir von Sünde und Schuld reden. Aus psychologischer Sicht muss man sagen31: Niemand will und soll als ganz und gar böse oder schlecht hingestellt werden. Es gibt Schlechtes in kleinerem oder größerem Ausmaß an einer Person, dadurch kommt es zu schuldhaften Taten, dadurch entsteht Scham – aber niemand ist durch und durch schlecht und vollständig verachtenswert. Wenn letzteres der Fall wäre, gäbe es keinerlei Anknüpfungspunkte mehr für Psychotherapie und Seelsorge. Systemisch gesehen muss man im Blick auf sog. schwierige Klienten immer sagen: Es ist nicht nur die dissoziale Persönlichkeit meines Gegenüber, sondern auch meine eigene Begrenztheit als Seelsorger oder Therapeutin, die dazu beitragen, dass es nicht gelingt, eine vertrauensvolle und heilende Beziehung aufzubauen. Ein weiterer Aspekt: Es gilt gemeinhin als Fortschritt, dass Freud das Denken des Menschen als Probehandeln bezeichnet und damit Denken und Handeln relativ deutlich unterschieden hat. Man kann in Gedanken ein Handeln durchspielen und sich dann dafür oder dagegen entscheiden. Das ist ein Fortschritt gegenüber jedem spontanen, triebbestimmten Handeln – ein Fortschritt, der im lutherischen Sündenbekenntnis nun auch wieder unter Generalverdacht gestellt wird, wenn es heißt, dass ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken. 4. Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass auf jedes gottesdienstliche Schuldbekenntnis umgehend und quasi automatisch die Vergebungs- oder Gnadenzusage folgt: Schon das Schuldbekenntnis „kostet“ mich nichts, es wird von einer anderen Person gesprochen und meistens mit Worten, in denen ich mich nicht selbst und meine konkrete Lebenssituation wirklich unterbringen kann. Unmittelbar auf das Bekenntnis erfolgt eine Gnadenzusage, die ich häufig wie ein „es ist doch nicht so schlimm“ erlebe. Wenn doch sowieso schon feststeht, dass es immer und überall Vergebung gibt, muss ich mich da noch lange mit meiner Schuld beschäftigen?

Die theologischen und psychologischen Ambivalenzen des Sündenbekenntnisses und der dahinter stehenden Theologie sind, so hoffe ich, deutlich geworden. Einerseits erscheint mir ein Sündenbekenntnis unverzichtbar, um die Realität des Menschen nicht auszublenden; andererseits sind die Schattenseiten ausgeprägt. Gibt es Auswege?

31 Vgl. Auchter/Hilgers, Delinquenz.

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4. „Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön“32 : Zum Umgang mit Schuld und Scham in Gottesdienst und Seelsorge Eine Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum im Jahr 2008 trug den Titel „Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde“.33 Soll heißen: In Werken der Gegenwartsliteratur ist zwar nicht vom Begriff der Sünde die Rede, aber es wird ausführlich der mit diesem Begriff bezeichnete Sachverhalt beschrieben: Der menschliche Makel, die Verfehlung der Freiheit, die immer wieder zu beobachtende Verstrickung in Schuldgeschichten. Offenbar ist es den Autoren wichtig zu verdeutlichen, dass wir uns mit den genannten Phänomenen auseinandersetzen müssen, an unserer Selbsterkenntnis arbeiten bzw. die Folgen möglicher Verblendung wahrnehmen müssen – auch ohne die Prämisse Gott oder Transzendenz. Ist das nicht ein Anliegen, das wir Theologinnen und Theologen teilen? Was können wir als Pfarrerinnen und Pfarrer in Gottesdienst und Seelsorge dazu beitragen, dass Menschen angesichts dieses Befundes nicht noch zusätzlich beschämt, aber schuldfähig werden? Was können wir anbieten, damit sich Menschen zur Selbsterkenntnis, zur Selbstreflexion, zur „Erlebensdifferenzierung“ (Klaus Winkler) eingeladen und nicht abgeschreckt fühlen? Ich nenne einige Punkte, die im Gespräch sicherlich vertieft und ausgeweitet werden müssen. Am Anfang einer seelsorglichen Beziehung muss immer der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung stehen, ehe Themen von Schmerz und Schuld, Verletzung und Scham zur Sprache kommen können. Über Schuld und Scham zu reden, kann selbst etwas Beschämendes haben, deswegen geht es nur in einer Atmosphäre, die von Annahme und Wertschätzung getragen ist. Seelsorge sollte einen Raum der unbedingten Wertschätzung darstellen, in dem dann Schuld und Scham angeschaut werden können – lässt sich das auf den Gottesdienst übertragen? Dann müsste am Anfang die Zusage stehen, dass vor Gott jeder Mensch eine unveräußerliche Würde und Ehre hat. Dass sie ihm in dieser Gottes-Beziehung nie und nimmer genommen werden kann, auch wenn er oder sie im Alltag beschämt, entehrt und missbraucht wird. Der Gottesdienst findet nach christlichem Glauben gleichsam vor den Augen Gottes statt – und diese Augen blicken letztlich wohlwollend und liebevoll, betont das christliche Bekenntnis. Diese Glaubensaussage kommt im Segen am Schluss jedes Gottesdienstes besonders deutlich zum Ausdruck: „Gott, der Herr, lasse sein Angesicht leuchten über dir“. Könnten wir nicht auch entsprechend beginnen, so dass der Gottesdienst eingerahmt wäre vom Bild der wohlwollenden Augen Gottes? In einem solchen Raum der unbe-

32 Gedichtzeile von Gabriela Mistral, abgedruckt in: Neues Evangelisches Pastorale, 95. 33 Dazu Grb, Makel. Gräb verweist hier auf Autoren wie Philipp Roth, Günter Grass, Uwe Timm. Vgl. auch das Theaterstück von Dea Loher mit dem Titel „Adam Geist“.

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dingten Wertschätzung könnte Scham gelindert und Schuld angeschaut werden.34 Schuldbekenntnisse müssten so formuliert sein, dass sie nicht noch zusätzlich beschämen, sondern einladen, mit Leon Wurmser gesagt, zum „Exploring instead of judging“35. Das kann auch so geschehen, dass man die Anwesenden auffordert, für sich selbst in der Stille das zu bedenken, was sie belastet, wodurch sie andere verletzt haben, wodurch ihnen selbst Leid angetan worden ist.36 Es geht darum, sich in kleinen Schritten und vorsichtig der Schuld zu nähern. Verurteilen verhindert das Verstehen – gerade das ist aber unbedingt notwendig, um die Zusammenhänge von Schuldverstrickung wahrzunehmen. Wurmser, der sich selbst als säkularen Juden bezeichnet, sieht im Judentum „einen […] Geist der Selbstverurteilung“; ich meine, man kann diesen Geist auch in manchen Formen und Ausprägungen des Christentums antreffen. Wurmser fügt dann hinzu: „Ich aber trete für ein viel duldsameres, viel weniger verurteilendes Gewissen ein […].“37 Ist das eine Richtung, auf die hin wir uns als christliche TheologInnen auch bewegen sollten – ohne damit in das Klischee des immer nur „lieben Gottes“ zu verfallen? Der englische Psychoanalytiker Michael Balint hat den Satz gesagt: „Man wird schlecht durch Leiden.“38 Er bestätigt damit die bekannte These, dass Menschen gewalttätig und böse werden, weil sie Gewalt, Missbrauch, Verachtung und Bindungslosigkeit erlitten haben. Was heißt das für unser Reden von Sünde und Schuld, besonders im Kontext eines Gefängnisses? Vergebung bedeutet, dass die Schuld dem Täter nicht länger angerechnet, nicht länger vorgehalten wird, oder : „dass Gott mich von meiner Schuld unterscheidet“.39 Die Person geht nicht in ihrer Schuld auf, sie ist mehr als das, was sie getan oder unterlassen hat. Diese tröstliche Zusage markiert allerdings nur den Beginn eines langen Weges: Denn für den Täter beginnt jetzt erst die entscheidende Arbeit, mit der Schuld leben zu lernen, sich mit der Schuld als von Gott angenommen selbst zu bejahen – vor allem da, wo das Opfer nicht vergeben kann oder will. Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg besteht darin, dass sich die ursprüngliche Wut, der Hass über erlittene Kränkungen und Verletzungen, die der Ursprung einer bösen Tat waren, in Trauer verwandelt,40 in den Schmerz der ungeschminkten Selbstwahrnehmung. Eine solche ungeschönte, mit Trauer und Schmerz verknüpfte Selbsterkenntnis eröffnet die Möglichkeit, sich mit dem eigenen So-Sein zu versöhnen. „So bin 34 Ausführlicher zum Zusammenhang von Segen und Scham vgl. Wagner-Rau, Blick. 35 Wurmser, Scham, Rache, 954. 36 Ich beziehe mich hier auf eine Gottesdienstpraxis des Wuppertaler Gefängnispfarrers Jönk Schnitzius. 37 Wurmser, Scham, Rache, 986. 38 Zitiert bei Auchter, Unschuld, 73. 39 Gestrich, Beichte, 194. 40 Vgl. Funke, Schulddilemma, 214: „Es bestätigt sich dann immer wieder, dass Trauer der kreativste Affekt ist, dessen der Mensch fähig ist“.

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ich, das habe ich getan – und ich darf trotzdem weiter leben.“ Das ist ein anderes Verständnis von Vergebung: Es bezeichnet die Fähigkeit, Schuld anzuerkennen und persönliche Verantwortung zu übernehmen. Ob die liturgisch formulierte Vergebungszusage im Gottesdienst in dieser Weise wirksam sein kann, mag man bezweifeln. Vielleicht kann sie ein erster (oder wiederholter) Anstoß sein, dem eine intensive Bearbeitung der Schuld im Einzelgespräch folgen muss. Was die christliche Tradition mit dem Begriff der Erbsünde, besser der Ursünde oder Urschuld bezeichnet, kann nicht vergeben, sondern nur betrauert werden. Wir können das Phänomen der Sünde als trotz bester Absichten immer wieder auftretende „Verfehlung der Liebe“ nicht beseitigen, sondern nur beklagen.41 Die Annahme dieser Realität könnte dazu beitragen, dass Menschen weiser und in mancher Hinsicht realistischer und bescheidener werden, ihre Größenphantasien ablegen. Umso wichtiger wird dann allerdings auch das ernsthafte Bemühen, trotz dieser anthropologischen Rahmenbedingungen in alltäglichen Zusammenhängen möglichst wenig Schuld auf sich zu laden.

5. Schluss: Der Mensch als simul justus et peccator Vielleicht eine der wichtigsten anthropologischen Erkenntnisse Luthers ist die Charakterisierung des Menschen als eines Wesens, das durch eine tiefe Gleichzeitigkeit verschiedener Strebungen gekennzeichnet ist.42 Wir sind immer beides: gut und böse, gütig und gemein, gerecht und ungerecht, altruistisch und egoistisch, offen und verschlossen, hoffnungsvoll und verzweifelt. Einsicht in diese abgründige Ambivalenz und Doppelgesichtigkeit kann uns vor platten Optimismen  la „ich bin o.k., du bist o.k.“ schützen, aber auch vor pessimistischen Einseitigkeiten, wie sie das lutherische Schuldbekenntnis formuliert. Solche Einsicht schützt vor allzu tiefer Beschämung, die dann in Gewalt umschlägt, aber sie rechnet damit, dass wir immer wieder schuldig werden und stärkt die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen. Noch einmal: In diesem Wissen sich mit Schuld und Scham auseinanderzusetzen, gleichsam durch sie hindurch zu gehen und nicht an ihnen vorbei, macht Menschen nicht klein, wertet sie nicht ab, sondern ermutigt sie, mit aufrechtem Gang und erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen – auch im Gefängnis. Eine der chassidischen Geschichten, die ich besonders liebe, sagt es so:

41 Vgl. Hrle, Dogmatik, 466. 42 Zum Folgenden vgl. Kroeger, Umbruch, 235 ff.

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Rabbi Bunam sagt zu seinen Schülern: Der Mensch soll immer zwei Taschen haben, um nach Bedarf in die eine oder die andere greifen zu können. In der rechten liegt das Wort „Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden“, in der linken: „Ich bin nur Erde und Asche“.43

Literatur Auchter, Thomas, Von der Unschuld zur Verantwortung, in: M. Schlagheck (Hg.), Theologie und Psychologie im Dialog über die Schuld, Paderborn 1996, 41 – 138. Auchter, Thomas/Hilgers, Micha, Delinquenz und Schamgefühl, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 77, 1994, 102 – 112. Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, München 121988. Brandt, Sigrid, Sünde. Ein Definitionsversuch, in: S. Brandt/M.H. Suchocki/M. Welker (Hg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997, 13 – 34. Buber, Martin, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949. Erikson, Erik. H., Kindheit und Gesellschaft Stuttgart 41971. Funke, Dieter, Das Schulddilemma. Wege zu einem versöhnten Leben, Göttingen 2000. Gestrich, Christoph, Ist die Beichte erneuerungsfähig?, BThZ 10, 1993, 187 – 196. Grb, Wilhelm, Der menschliche Makel. Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde, PTh 97, 2008, 238 – 253. Hrle, Wilfried, Dogmatik, Berlin 32007. Hilgers, Micha, Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen 2006. Hirsch, Mathias, Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt, Göttingen 2007. Klessmann, Michael, Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 22009. Kroeger, Matthias, Im religiösen Umbruch der Welt. Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche, Stuttgart 22005. Lins, Hermann, Buße und Beichte, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber/K.-H. Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Leipzig/Göttingen 21995, 319 – 334. Neues Evangelisches Pastorale. Texte, Gebete und kleine liturgische Formen für die Seelsorge, hg. von der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 42010. Riess, Richard, Zeit der Schuldlosen? Zur Zukunft einer Illusion, in: Ders. (Hg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbewusstsein, Opfer und Versöhnung, Stuttgart 1996, 74 – 94. Schulze, Gerhard, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, München 2006. Steinkamp, Hermann, Die sanfte Macht der Hirten, Mainz 1999. Till, Bastian/Hilgers, Micha, Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis, Psyche 44, 1990, 1100 – 1112. Wagner-Rau, Ulrike, Den Blick nicht abwenden. Über einen vom Segen inspi43 Buber, Erzählungen der Chassidim, 746.

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rierten Umgang mit der Scham, in: E. Herms (Hg.), Leben, Verständnis, Wissenschaft, Technik, Gütersloh 2005, 527 – 543. Wurmser, Lon, Die Maske der Scham, Frankfurt 52008. – Scham, Rache, Ressentiment und Verzeihung, Psyche: Sonderheft 62, 2008, 962 – 989. Zimmermann-Brunner, Gustav, Der schuldfähige Mensch. Ein integratives Therapieziel?, Integrative Therapie 2, 2003, 133 – 163.

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Gefängnisseelsorge als theologische Herausforderung

1. Rahmenbedingungen für eine Seelsorge im Gefängnis Gefängnisseelsorge ist ein Tätigkeitsfeld von Theologinnen und Theologen, das besondere Herausforderungen an die theologische Identität stellt. Im Folgenden sollen diese Herausforderungen auf der Grundlage der spezifischen Rahmenbedingungen der Gefängnisseelsorge betrachtet werden, mit denen sich die Seelsorger am Ort ihres Wirkens auseinandersetzen müssen und die sie in ihrer Arbeit theologisch herausfordern. Sie lassen sich in acht Punkten zusammenfassen: 1. Die Dialektik ist das zentrale Phänomen im Strafvollzug. Die gesamte Welt des Gefängnisses ist mit dem Begriff der Dialektik zu beschreiben. Die Institution, die Insassen, die Mitarbeiter stehen in einem dialektischen Bezug zueinander. 2. Um keine voreiligen Urteile und Beurteilungen zu fällen, ist es für den Seelsorger wichtig, dass er, vor aller Theorie, die Menschen und Dinge phänomenologisch wahrzunehmen in der Lage ist. Er darf sich die Freiheit nehmen, die Dinge anzuschauen, ohne den Zwang zu spüren, etwas bewirken zu wollen und zu sollen. Dies impliziert eine Schärfung der Wahrnehmung im Sinne einer erhöhten Wahrnehmungskompetenz. 3. Die starke Zunahme von Ausländern im Strafvollzug verlangt vom Seelsorger, dass er in der Lage ist, multinational, multireligiös und multikulturell zu arbeiten. 4. Die revidierten Bestimmungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches zum Straf- und Maßnahmenvollzug bringen wesentliche Neuerungen für den schweizerischen Straf- und Maßnahmenvollzug. 5. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im schweizerischen Straf- und Maßnahmenvollzug erhalten im „Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal“ in Fribourg nach einer zweijährigen Ausbildung ihr Diplom als „Mitarbeiterin und Mitarbeiter“ im Freiheitsentzug. Die Mitarbeitenden, mit denen der Seelsorger zusammenarbeiten kann, sind gut ausgebildete Fachleute in ihrem Beruf. 6. Die materielle und vor allem die immaterielle Wiedergutmachung erhalten durch die neue Ausrichtung des revidierten Strafgesetzbuches eine spezielle Würdigung. Die Seelsorge im Gefängnis muss sich intensiv mit diesem wichtigen Teil der Vollzugsziele auseinandersetzen. 7. Die „Gefangenenseelsorge“ wird zur „Gefängnisseelsorge“, weil es innerhalb der

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versöhnlichen Bemühungen um eine Auflösung der Dialektik nicht geht, nur den einen Pol der Spannung, nämlich die Insassen, wahrzunehmen. Eine Seelsorge im Strafvollzug muss sich um alle Menschen, die hier arbeiten, kümmern. 8. Gefängnisseelsorge kann nicht von einem Defizitmodell des Helfens ausgehen. Sie nimmt weniger das Pathologische wahr – ohne dieses allerdings zu verkennen oder zu verdrängen –, sondern sucht ihren Ansatz bei den Ressourcen eines Menschen.

Ad 1: Die Welt der Insassen, innerhalb der Welt des Gefängnisses, lässt sich dialektisch beschreiben. Auf der einen Seite haben die Insassen eine Sehnsucht nach Grenzen, auf der anderen Seite eine Sehnsucht nach Zuwendung. Eine weitere Facette der Dialektik zeigt sich darin, dass die Mitarbeitenden die Insassen einerseits ablehnen, andererseits zeigen sie ein hohes soziales Engagement den Insassen gegenüber. Der Seelsorger spürt in seiner Arbeit weniger die Ablehnung. Dafür ist er umso mehr herausgefordert, Grenzen zu setzen: – Grenzen setzen gegenüber all den Projektionen, die auf ihn übertragen werden. Der Seelsorger ist nicht nur der „liebe Vater“ oder das „Lieb-Kind“. – Grenzen setzen in Bezug auf das Engagement (Gesprächszeiten, Übernahme von Aufgaben usw.). Es ist selbstverständlich, dass sich jeder Insasse als „Spezialfall“ der Seelsorge ansieht. Trotzdem gilt es auch hier, die nötige Distanz zu wahren, um die Wahrnehmung dessen, was ist, nicht zu trüben oder zu verstellen. – Der Seelsorger steht zur Institution im Verhältnis einer kritischen Solidarität. Wünsche, die an ihn herangetragen werden und die weit über seine beruflichen Befugnisse hinausgehen, sind als solche zu erkennen und die entsprechenden Grenzen sind zu setzen. Der Seelsorger ist im Strafvollzug kein „Deus ex machina“. – Obschon der Seelsorger absolut dem Schweigegebot verpflichtet ist, kann er Situationen antreffen, in denen er auch diesem Gebot gegenüber Grenzen setzen muss. Dabei geht es nicht darum, gleichsam über den Kopf des Insassen hinweg das Gebot zu missachten. Weil der Seelsorger ein Mitarbeiter unter Mitarbeitern ist und im Sinne der kritischen Solidarität zur Institution steht, wird er in kritischen Fällen die anstehende Thematik und ihre Implikationen mit dem Insassen besprechen, um eine möglichst adäquate Lösung zu erarbeiten. Hier wird das Grenzen-Setzen zu einer äusserst schwierigen und aufwendigen Aufgabe. – Vielfach wird der Seelsorger auch aufgefordert, für Insassen gleichsam „Schmuggel“ zu betreiben: Gewisse Dinge in die Anstalt mitzunehmen oder andere aus der Anstalt hinauszubringen. Weil der Seelsorger ebenfalls dem Sicherheitsdispositiv einer Anstalt untergeordnet ist, muss er auch hier seine Grenzen ziehen. – Beziehungen zu Menschen, und vor allem personale Begegnungen, führen immer wieder zu starken emotionalen Bindungen. Es gehört gleichsam zur Arbeit des

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Seelsorgers, dass er immer wieder in der Versuchung steht, sich einseitig mit den Insassen zu solidarisieren oder sich emotional zu binden.

Der Konflikt, der im liberalen Strafvollzug entsteht, ist mit den beiden sozialwissenschaftlichen Kategorien „Systemwelt“ und „Lebenswelt“ beschrieben worden. Der Konflikt spiegelt sich vor allem in der Berufsgruppe der Betreuer wider, die sich auf der einen Seite im „System“ und auf der anderen Seite in der „Lebenswelt“ bewegen. Die Arbeit des Seelsorgers, vor allem mit den Insassen, bewegt sich auch in einem dialektischen System. Allerdings ist es eine andere Spannung als bei den Mitarbeitern der Betreuung. Der Seelsorger bewegt sich zwischen den beiden Polen „Sehnsucht nach Grenzen“ und „Sehnsucht nach Zuwendung“, während sich die Vollzugs-Mitarbeiter zwischen den Polen „Resozialisierung“ und „Strafe“ bewegen. Die Tätigkeit des Seelsorgers lässt sich eher in die „Lebenswelt“ integrieren, weil er weniger nach Zweck und Absicht handelt, stattdessen treiben Wünsche, Bedürfnisse und Hoffnungen seine Handlungen an. Seelsorge kann als ein „Ort des Waffenstillstandes“ bezeichnet werden, weil der Seelsorger a priori nichts will und nichts tun muss, im Sinne einer Leistung. Obschon der Seelsorger seine Arbeit in der „Lebenswelt“ festmacht, ist es von grossem Vorteil, wenn er die berufliche Situation der Mitarbeiter, die im weitesten Sinne in der Betreuung arbeiten, verstehen und richtig einschätzen kann. Es ist ja, wie weiter oben beschrieben wurde, das Dilemma von Strafe und Resozialisierung, das vom Mitarbeiter viel emotionale Energie verlangt. Äusserst belastend wird es für einen Mitarbeiter dann, wenn eine Beziehung, die er mit einem Insassen aufgebaut hat, missbraucht wird und er dadurch sogar noch Schwierigkeiten mit dem System Vollzug bekommt. Nach einem solchen Ereignis ist es zu einem grossen Teil verständlich, dass der Mitarbeiter die Dialektik auflöst, indem er den Insassen als einen „Verbrecher“ oder „Vagabunden“ bezeichnet. Das Entstehen einer solchen Haltung ist sicher nicht ideal und nach Möglichkeit aufzuarbeiten; doch kann sich der betroffene Betreuer damit auch schützen, um nicht an seiner Arbeit zu zerbrechen. Wenn es dem Seelsorger gelingt, solche Mechanismen zu erkennen und richtig einzuschätzen, kann er gleichsam als Vermittler wirken, indem er die Mitarbeiter über solche psychischen Phänomene aufklärt und mit ihnen nach Lösungsmöglichkeiten sucht, die über Entwertungen und Abwertungen der Insassen hinausgehen. Ad 2: Um zum Selbstbild des Gefangenen vorzudringen und dessen Wirklichkeitsverständnis und seine jeweiligen kulturellen Kontexte zu erfassen, braucht der Seelsorger eine geschärfte Wahrnehmung. Damit ist die Wahrnehmungsein-

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stellung des Seelsorgers in Bezug auf die Delinquenten angesprochen: Geht er in seiner Wahrnehmung eher von der Perspektive von Wachstum und Perfektion aus oder eher von Fragment, Stückwerk und Grenze? Kann der Seelsorger z. B. nur das hören und sehen, was gelungen ist oder besser wird, was perfekt ist und problemlos, oder nimmt er sensibel die Schmerz- und Trauergeschichten und die damit zusammenhängenden Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche der Menschen wahr? Wenn der Seelsorger geneigt ist, nur das wahrzunehmen, was gelungen und problemlos ist oder besser wird, dann wird er in dieser Arbeit sehr bald frustriert und wird resignieren. Wenn er auf der anderen Seite nur das wahrnimmt, was schwach, mangelhaft und zerstört ist, und er keine Hoffnung gelten lassen kann, verliert er den Blick für das, was trotz allem in einem Menschenleben gelungen ist, was stark ist. Das Fremdbild vieler Insassen ist ambivalent: Auf der einen Seite zeigen sie sich gerne hart, abweisend und unnahbar, auf der anderen Seite können weiche, traurige, anlehnungsbedürftige und hilflose Seiten aufscheinen. Wie weit kann nun der Seelsorger solche Erscheinungsweisen der Insassen wahrnehmen, sie als momentan, nicht als unveränderlich, stehen lassen und entsprechend darauf eingehen? Diese Frage stellt sich v. a. am Anfang einer Beziehung, wenn der Seelsorger gleichsam geprüft und beobachtet wird. Es geht in diesem Punkt darum, dass der Seelsorger den Menschen, mit dem er es gerade zu tun hat, vorurteilsfrei wahrnimmt und ihn so gelten lässt, wie er sich im Moment zeigen möchte. Dies allerdings immer mit dem Bewusstsein, dass sich hinter einer ersten Wirklichkeit noch weitere Dimensionen auftun können. Der Delinquent hat das Recht, Rollen zu spielen und gerade in einer ersten Begegnung Fassaden zu wahren. Besonders schwierig kann sich das „Eröffnungsmanöver“1 gestalten. Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl, die sich schon durch kleinste Verunsicherungen fundamental in Frage gestellt fühlen, versuchen „ihr Selbstwertgefühl zu retten, indem sie in arrogant anmutender Weise ihren Interaktionspartnern begegnen und die ihnen unerträgliche Asymmetrie, in der sie sich als die total Ausgelieferten und Unterlegenen erleben, dadurch zu ihren Gunsten zu verändern versuchen, dass sie ihrem Gegenüber vermitteln, sie seien auf dessen Hilfe und Wohlwollen in keiner Weise angewiesen“.2 Diese Entwertung zur Abwehr von Ohnmachts- und Insuffizienzgefühlen erfordert vom Seelsorger sehr viel Einfühlung und eine hohe Frustrationstoleranz. Der Seelsorger kann in seinem Berufsfeld „Gegensatz-Erfahrungen“ machen. Weil er nichts muss und will, ist er in der Lage, anderes wahrzunehmen und zu deuten. Seine Wahrnehmungen und Erfahrungen sind nicht besser oder wahrer als die der übrigen Helfer. Sie können zum Teil aber anders sein. Es können andere Gesichtspunkte sein, weil sie sich nicht primär innerhalb 1 Rauchfleisch, Menschen, 53. 2 Ebd.

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der Dialektik Strafe versus Resozialisierung zeigen, sondern in der Spannung Wunsch nach Grenzen versus Wunsch nach Zuwendung.

Ad 3: Ein prozentual hoher Anteil von Ausländern im schweizerischen Strafvollzug bedeutet, dass der Seelsorger eine theologische und berufliche Identität mitbringt, die es erlaubt, mit Menschen seelsorgerlich zu arbeiten, die einen anderen religiösen Hintergrund mitbringen als den christlichen und die unter anderen kulturellen und nationalen Gegebenheiten aufgewachsen sind. Für den Seelsorger ist es auch wichtig, dass er in der Lage ist, mit den Insassen in den gängigen Weltsprachen zu kommunizieren. „Am 1. September 2010 waren in der Schweiz 6181 Personen in Einrichtungen des Freiheitsentzuges inhaftiert.“3 Gemäss dem Bundesamt für Statistik ist das der höchste Bestand seit 1999. Gegenüber 2009 nahm die Belegungsrate um 1,5 Prozent auf 92,5 Prozent zu. „Von den Inhaftierten befanden sich 31 Prozent in Untersuchungshaft, 61 Prozent im Straf- und Maßnahmenvollzug. Interessant ist, dass seit 2004 der prozentuale Anteil an ausländischen Inhaftierten stabil ist und 72 Prozent des Gesamtbestandes ausmacht.“4 Ad 4: Am 1. Januar 2007 traten die neuen Bestimmungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches in Kraft. Der Sinn der Strafe besteht neu nicht mehr in erster Linie in der Vergeltung, sondern ein Hauptanliegen von Strafe ist die Spezialprävention. Damit wird die Hauptaufgabe des Strafvollzuges im Lichte der spezialpräventiven Straftheorie beurteilt. Hierdurch steht nicht mehr die Zufügung eines Übels im Zentrum des schweizerischen Strafvollzuges, sondern zentral ist, das soziale Verhalten des Insassen derart zu fördern, dass er nach der Haft straffrei leben kann. Vier besondere Vollzugsgrundsätze stehen neben dem allgemeinen Vollzugsziel der Wiedereingliederung: a) das Normalisierungsprinzip; b) das Entgegenwirkungsprinzip (sog. Prinzip des „nil nocere“); c) das Prinzip der besonderen Fürsorgepflicht (Betreuungsprinzip);d) das Sicherungsprinzip.

Der Begriff des Vollzugsplanes findet erstmals seit der Kodifizierung des materiellen Strafrechts im Jahre 1942 Erwähnung im Strafgesetzbuch. Der 3 Bundesamt für Statistik, 11. 01. 2011: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19/ 01/new.html?gnpID=2011 – 712 (Zugriff am 11. 06. 2011). 4 Ebd.

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Vollzugsplan soll namentlich Angaben über die angebotene Betreuung, die Wiedergutmachung, die Arbeits- sowie die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die Beziehungen zur Aussenwelt und die Vorbereitung der Entlassung aufweisen. Diese neuen Maßnahmen haben zum Ziel, die soziale Integration des Täters nach der Entlassung zu verbessern und sein Rückfallrisiko zu mindern. So werden in einigen Anstalten BiSt-Kurse (Bildung im Strafvollzug) angeboten, in denen eine Basisbildung – Deutsch, Rechnen, Lebenskunde sowie PC-Anwenderkenntnisse – vermittelt werden.

Ad 5: Das Personal im schweizerischen Justizvollzug wird von den Kantonen und Anstalten eingestellt und durchläuft im ersten Ausbildungsjahr eine praktische Ausbildung in der Institution. Daran anschliessend absolvieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während 15 Wochen verteilt auf zwei Jahre in Fribourg ihre Grundausbildung. Diese Ausbildung wird mit der eidgenössischen Berufsprüfung abgeschlossen. Der Bereich der Weiterbildung hat im heutigen Strafvollzug eine grosse Bedeutung. Mitarbeitende müssen sich über erfolgte Veränderungen auf dem Laufenden halten. Ein motiviertes, engagiertes und gut ausgebildetes Personal ist ein wichtiger Garant für eine qualitativ hochstehende Durchführung des Freiheitsentzugs.

Ad 6: Durch die neue Ausrichtung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches zum Straf- und Maßnahmenvollzug nimmt auch die Wiedergutmachung einen wichtigen Teil innerhalb der Vollzugsziele ein. Vor allem der Seelsorger ist eingeladen, sich dieser Thematik anzunehmen, weil für ihn der Begriff der Versöhnung eine zentrale Rolle spielt. Versöhnung wird hier verstanden als Zuspruch der Vergebung und gleichzeitig als Anspruch der Wiedergutmachung. Es geht darum, konkrete Hoffnung in „lebendiger Emotionalität“ und in „praktischen Grundhaltungen“ zu verbreiten.5 Versöhnung „ist die Hoffnung, dass Gott die Elemente der Vergangenheit, aus denen unsere Gegenwart besteht, nicht zur Zerstörung unserer Zukunft verwenden, sondern vielmehr zu ihrer Ermöglichung umgestalten möge.“6 Es geht darum, dass die Seelsorge im Gefängnis in der Lage ist, mittels eines entsprechenden theologischen Instrumentariums, sich diesem Aufgabenbereich entsprechend anzunehmen. 5 Ritschl, Zur Logik, 300. 6 Ebd.

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Ad 7: Die „Gefangenenseelsorge“ muss zur „Gefängnisseelsorge“ werden, weil die Aufgaben im System der Institution vernetzt sind und sich gleichzeitig gegenseitig bedingen. Der theologische Ausgangspunkt dieser Gefängnisseelsorge – die Rechtfertigung – verbietet es, nur eine Seite im System wahrzunehmen, weil es vom theologischen Deutungsmodell her, keine Bevorzugungen geben kann. Wichtig werden damit immer die Situation eines Menschen im Strafvollzug, seine Bedürfnisse und Wünsche und nicht seine soziale Stellung oder seine Vergangenheit. Ad 8: Der theologische Ansatz der Gefängnisseelsorge lässt es nicht zu, den Menschen als ein „Mängelwesen“ zu deuten und zu beschreiben. Er lässt auch keine einlinige, herablassende Einstellung zu und kein Oben-Unten-Gefälle, in dem Starke, Gescheite und Gesunde sich helfend den Schwachen zuwenden. Eine zu schnelle Pathologisierung und eine oberflächliche Festschreibung von gesund und krank kann durch den theologischen Ansatz in der Rechtfertigungslehre vermieden werden. Gottes Ebenbildlichkeit des Menschen verbietet es, den Fokus v. a. auf den „sündigen“ Menschen zu setzen. Gerade die „sündigen Seiten“ der Gefangenen stehen immer in der Gefahr, die positiven Seiten zu überlagern. Es geht deshalb speziell darum, bei den Stärken anzusetzen und Vertrauen zu vermitteln: Es geht um ein neues Sehen des Menschen. Die Arbeit ist für den Seelsorger in der „totalen Institution“7 Gefängnis komplexer und schwieriger geworden, weil sich, wie oben aufgezeigt, die Rahmenbedingungen stark verändert haben. Wenn er es vermeiden will, seine Identität von anderen Berufsgruppen auszuleihen, dann ist er aufgefordert, eine eigene theologische Identität zu entwerfen, um nachher seine berufliche Identität zu definieren. Gerade die Dialektik von Systemen und Menschen verleitet den Seelsorger immer wieder dazu, einseitig Position zu beziehen. Bei Menschen, die eine lebenslängliche Haftstrafe verbüssen müssen oder die massive psychische Störungen aufweisen (wie Sexualdelinquenten und Mörder), ist es manchmal äusserst schwierig, eine nötige Distanz zu halten, gerade dann, wenn diese Gefangenen zum Teil angenehm, freundlich und charmant im Umgang mit dem Seelsorger sind. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit vielen Menschen mit gebrochener Biografie und erheblichen psychosozialen Schwierigkeiten, die vielfältigen Hilfeerwartungen von Seiten der Opfer, wie auch die Einsicht, dass bestimmte Menschen sich weder verändern lassen noch verändert werden 7 Goffman, Asyle.

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können, verlangen vom Seelsorger eine hohe Frustrationstoleranz und eine theologische und ethische Grundhaltung, die es ermöglicht, mit diesen Problemen, Fragen und Nöten umzugehen. Meine langjährigen Erfahrungen in der Gefängnisseelsorge haben mir deutlich gezeigt, dass die Arbeit schwierig wird, wenn die theologische Identität nicht definiert ist und als Konsequenz die berufliche Identität unklar bleibt. Ohne Reflexion des theologischen Ausgangspunktes steht die Arbeit des Gefängnisseelsorgers in Gefahr, durch Frustration, Ohnmacht und Resignation sehr rasch behindert zu werden, weil der Seelsorger in der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit den anderen helfenden Berufen eine klare Ausgangs- und Zielposition vermissen lässt. Je nach Definition der theologischen und beruflichen Identität wird sich zeigen, wen der Seelsorgekreis einschliesst oder wer ausgespart wird: Gehört „nur“ die Arbeit mit Insassen zum Aufgabenbereich des Seelsorgers, oder werden die Mitarbeiter, die Familienangehörigen der Insassen, die Opfer, die Behörden usw. auch dazu gezählt?

2. Die theologische Identität Die hier dargestellte Gefängnisseelsorge differenziert das Wesen des Menschen in Person und Tat. Sie setzt bei der Person an, ohne dass aber die Tat ausgeblendet oder vernachlässigt wird. Die Person wird in theologischem Sinne aus der Rechtfertigungslehre beschrieben. Die bekannte Doppelthese von Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ lautet folgendermassen: „Christianus homo omnium dominus est liberrimus, nulli subiectus. Christianus homo omnium servus est officiosissimus, omnibus subiectus.“8 („Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“) Den scheinbaren Widerspruch dieser These versucht Luther in der Weise zu überbrücken, dass die Einheit die Gestalt von Freiheit werden kann. Luther benutzt für die Auflösung des in diesem Doppelsatz enthaltenen Gegensatzes die theologisch wie philosophisch bekannte Unterscheidung eines „inneren“ und eines „äusseren“ Menschen.9 Massgeblich ist dabei der „innere“ Mensch, denn von ihm gehen die Impulse aus. Die Freiheit ist nur von innen her zu gewinnen. Die Trennung von Tat und Täter, von Person und Praxis ist eine vom Menschen konstruierte Differenzierung, die nur wieder vom Menschen selbst geeint werden kann. Der entscheidende Gedanke dabei 8 Zit. nach Jngel, Freiheit, 55. 9 Vgl. Jngel, Freiheit, 116 ff.

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ist der, wie der Mensch sein Selbst verwirklicht, d. h. wie er die Differenzierung integriert und bearbeitet. Von diesen Voraussetzungen her soll eine theologische Identität aufgezeigt werden, die a) den Seelsorger im Gefängnis davor schützt, sich ständig zu überfordern, weil er es ausgesprochen mit der Vorläufigkeit und Gebrochenheit des menschlichen Lebens zu tun hat und er die dialektische Spannung in seinem Arbeitsfeld aushalten muss; b) das Defizitmodell des Helfens (der Mensch als ein „Mängelwesen“) und eine zu schnelle Pathologisierung zu überwinden versucht; c) es möglich macht, mit allen Menschen, die mit der „totalen Institution“ Gefängnis in Berührung kommen, seelsorgerisch zu arbeiten und sich dabei als christlichen Theologen zu verstehen; d) den Seelsorger befähigt, im Team der internen und externen Mitarbeiter im Strafvollzug als „Spezialist“ mitzuwirken, der ernst genommen wird.

Weil der Seelsorger in der Auseinandersetzung mit anderen helfenden Berufen steht, durch diese auch herausgefordert wird, ist die Versuchung gegeben, Methoden der Psychologie und der Psychotherapie in die Seelsorge einzuführen, um seine Botschaft effizient zu vermitteln. Entscheidend wäre dabei allerdings, dass er sich Rechenschaft darüber gibt, ob diese Methoden mit seinem theologischen Ansatz kompatibel sind. Fallen nämlich die eingeführten Methoden und der theologische Ausgangspunkt beträchtlich auseinander, entstehen für den Seelsorger berufliche und theologische Identitätsprobleme. Die theologische Identität für einen Gefängnisseelsorger stützt sich somit auf vier Voraussetzungen: a) Theologischer Ausgangspunkt für den gesamten Entwurf ist die Rechtfertigungslehre. Die Rechtfertigungslehre mit ihrer identitätskonstituierenden Bedeutung ist die Basis für den Aufbau einer theologischen Identität. b) Die ontologischen Implikationen der Rechtfertigung haben eine kritische Funktion innerhalb der Welt und ihres Selbstverständnisses. Das Mögliche und das Wirkliche sind Faktoren des Seins, wobei das, was Gottes freie Liebe ermöglicht, die ontologische Prävalenz vor dem hat, was Gottes Allmacht durch unsere Werke wirklich macht. c) Was im theologischen Sinne „Subjekt“ heissen kann, wird allein durch die Rechtfertigungslehre begriffen. d) Luthers theologische Unterscheidung eines inneren und eines äusseren Menschen verhindert es, den Menschen ausschliesslich als Handelnden zu verstehen. Die theologische Kategorie des inneren Menschen (Person) sieht ihn vor allem als Seienden und Werdenden, der gerade durch sein Tun nicht wird, was er ist. Freiheit ist vom inneren Menschen her zu gewinnen.

Die Rechtfertigungslehre kann aufzeigen, warum der Mensch immer wieder

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scheitert, wenn er die innere Freiheit gewinnen will: Er versucht, seine Selbstbestimmung vom äusseren Menschen her zu entwickeln, wird durch das Gesetz (die eine Seite des Evangeliums) in diesen Konstitutionsversuchen noch angetrieben und erlebt dadurch immer wieder Verzweiflung, was ihn zu neuen Taten motiviert, um wiedergutzumachen. Wenn dieser prinzipiell zirkuläre Aufbau des Selbstbewusstseins nicht unterbrochen wird, dreht sich der Mensch immer mehr im Kreis, und das Scheitern wird immens; die Angst, seine Freiheit zu verfehlen, sein Leben zu verlieren, wird damit zu einem existenziellen Thema. Wenn der Mensch seine Selbstbestimmung vom äusseren Menschen her zu gewinnen sucht, schwenkt er in die Position dessen ein, der meint, alles-sein, alles-können, alles-haben und alles-machen zu müssen.

3. Die personalen Grundhaltungen des Seelsorgers Von der beschriebenen theologischen Identität her lassen sich die personalen Grundhaltungen des Seelsorgers bestimmen. 3.1 Authentizität Eine wichtige personale Grundhaltung für den Seelsorger im Strafvollzug ist die Authentizität. Man kann diese auch Echtheit oder Wahrhaftigkeit nennen: Der Mensch zeigt sich als die Person, die sie in der Beziehung tatsächlich ist. Sie täuscht den anderen nicht, macht sich und den anderen nichts vor und baut keine Fassaden auf. Authentizität hat mit persönlicher Identität zu tun. Wer starke Identitätsprobleme hat, dem wird es entsprechend schwer fallen, authentisch zu sein. Wenn ein Seelsorger das eigene Sosein und die damit verbundenen Mängel bereit ist zu akzeptieren, umso mehr wird er echt und wahrhaftig sein können. Es geht nicht um die „Authentizität an sich“, d. h. um ein beliebiges Umgehen mit den anderen, sondern um die Verbindung mit einer anderen wichtigen Grundhaltung, nämlich der Annahme. Diese allerdings ist in der theologischen Identität, die in diesem Text aufgezeigt wird, bereits enthalten und muss nicht eingeübt oder erlernt werden. Bei der Authentizität geht es um Echtheit, Kongruenz und Wahrhaftigkeit der Person, d. h. darum, ob die Person glaubwürdig und glaubhaft ist. Konkret in der Arbeit des Seelsorgers zeigt sie sich darin, dass das innere Erleben und das äussere Verhalten zur Deckung kommen; ansonsten täuscht der Seelsorger sich selber oder den anderen. V.a. wenn der Seelsorger mit Insassen zu tun hat, die kapitale und scheussliche Verbrechen begangen haben, steht er in der Gefahr, Fassaden aufzurichten, so dass das innere Erleben und das äussere Verhalten nicht mehr deckungsgleich sind. Vielleicht empfindet der Seelsor-

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ger in der Situation des Gesprächs Ekel, Abscheu oder Antipathie. Dem Gefangenen gegenüber zeigt er aber eine Haltung, die den Anschein vermittelt, als verstehe der Seelsorger alles, als tauche alles gleichsam ab in den Sog der Alltäglichkeit. Damit erhält der Insasse falsche Rückmeldungen über seine Geschichte, die er erzählt, und wird der Möglichkeit beraubt, sich in der personalen Begegnung mit seinen Erzählungen auseinanderzusetzen. Mit seiner theologischen Identität kann der Seelsorger dem Missverständnis entgegenwirken – das allerdings nicht nur unter den Seelsorgern anzutreffen ist, sondern auch bei anderen helfenden Berufen im Strafvollzug – dass akzeptieren gleichbedeutend ist mit „gutheissen“. Akzeptieren ist nicht ein Fürwahrhalten von Tatsachen. Wenn die theologische Identität in die Person des Seelsorgers integriert werden konnte, wenn dem Seelsorger die Differenzierung von Person und Tat gelingt, dann bedeutet eine positive Zuwendung zu einer Person und ihrem Erleben nicht automatisch die Akzeptanz der Taten oder Handlungen. Die Diskrepanz zwischen Erleben und Verhalten kann sich so zeigen, dass der Seelsorger gleichsam eine pseudoprofessionelle Rolle spielt, dass er vorgibt zu verstehen und vielleicht sogar zu entschuldigen, wo er innerlich Abscheu empfindet oder urteilt und verurteilt, ohne dies in seinem äusseren Verhalten irgendwie auszudrücken. Authentisch ist der Seelsorger auch dann nicht, wenn er gegenüber dem Gefangenen Gefühle zeigt, die seinem tatsächlichen inneren Erleben widersprechen, so z. B. wenn er vorgibt, den Menschen, der in einer seelsorgerlichen Situation mit ihm zusammen ist, anzunehmen, während er innerlich Abscheu, Ekel oder Antipathie empfindet. Gerade Menschen im Strafvollzug sind in dieser Hinsicht äusserst sensibel. Für den Gefangenen ist es wichtig, dass der Seelsorger seine Person zeigt, d. h. seine Gefühle und Einstellungen, dass er nichts „vormacht“, um gut „anzukommen“, und dass er nicht in einer falschen Routine aufgeht. Die entscheidende und schwierige Frage lautet: Kann der Seelsorger so sein, dass der andere ihn als vertrauenswürdig, verlässlich und beständig wahrzunehmen in der Lage ist? 3.2 Annahme Aus der Authentizität entwickelt sich Annahme. In dieser Arbeit wird Annahme als mehr denn eine psychologische Haltung begriffen, die eingeübt oder erlernt werden kann. Annahme entwickelt sich aus der Solidarität, wie sie aus der Rechtfertigungslehre gewonnen werden kann, und meint die Antwort des Seelsorgers auf seine eigene Schuldhaftigkeit. Solidarität übersteigt in diesem Sinne, in der theologischen Begrifflichkeit, die Annahme. Annahme ist im Selbstverständnis der theologischen Identität bereits enthalten und muss deshalb nicht eingeübt oder erlernt werden. Annahme und positive Zuwendung in der Gesprächssituation der personalen Begegnung kennt keine Bedingungen wie: Wenn du dich so oder so verhältst,

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dann mag ich dich. V.a. für den Seelsorger im Gefängnis, der mit vielen ungewöhnlichen, schrecklichen und traurigen Geschichten konfrontiert wird, ist es wichtig, dass er seine Abwehr und seine Schutzbedürftigkeit, seine Angst und sein Zögern annehmen kann. Er muss es selber erleben und erfahren, dass er mit seinen ambivalenten Gefühlen so sein darf, dass er keine Fassaden aufrichten muss, um sich zu schützen. Aus der theologischen Haltung heraus kann der Seelsorger zu der beruflichen Haltung heranreifen und -wachsen, die Carl Rogers – der Begründer der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie – treffend formuliert hat: „Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, ob meine Gefühle ,therapeutisch‘ sind. Das, was ich bin, […] ist gut genug.“10 Die Arbeit des Seelsorgers im Gefängnis steht immer wieder in der Gefahr, dass Gesprächssituationen durch Vorurteile und die entsprechenden Phantasien behindert oder sogar blockiert werden. Sobald der Seelsorger in der personalen Begegnung mitschwingen kann, sich einlassen kann mit seiner inneren Offenheit, ohne etwas erreichen zu wollen, und sobald er versucht, phänomenologisch wahrzunehmen, was der Erzählende auszudrücken versucht, verblassen monströse Vorurteile und ihre Phantasien, weil es jetzt darum geht, entweder die Handlungen oder den sozialen und kulturellen Kontext oder das Gefüge der Beziehungen oder die emotionale Atmosphäre gut und immer besser zu verstehen. Sobald Details ins Blickfeld der Betrachtung kommen, verlieren Vorurteile an Bedeutung, weil die phänomenologische Wahrnehmung automatisch andere Bilder und Inhalte vermittelt, die eher die Wirklichkeit abbilden. Gemäss der relationalen Grundstruktur des menschlichen Daseins, wie sie die Rechtfertigungslehre Luthers skizziert, ist die Annahme, die Akzeptanz des anderen gleichsam die Umlagerung der Vertikalen in die Horizontale. Der Selbstwert eines Menschen, die Selbst-Akzeptanz, kann sich jedoch nur bilden, wenn zuvor das entsprechende Vertrauen sowohl gegenüber Menschen wie auch gegenüber sich selbst wachsen kann.

3.3 Begegnung Für die Gefängnisseelsorge ist der Begriff der „Begegnung“ von zentraler Bedeutung. „Begegnung“ ist der Ausdruck, die Konsequenz der theologischen Identität. Von ihr ausgehend, wird „Begegnung“ hier verstanden als mit der „Person“, dem „inneren“ Menschen des anderen in Beziehung treten. PersonSein ist stets Bezogen-Sein, und zwar in der speziellen Weise der Begegnung. Der Sachverhalt einer Begegnung lässt sich folgendermassen beschreiben: „Beim Zusammentreffen oder Zusammensein zweier Menschen kann es geschehen, dass einem jeden von ihnen etwas vom inneren Sein und Wesen des 10 Rogers, On becoming a person, 80.

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anderen zukommt, und zwar so, dass er dieses ihm Zukommende in sein eigenes Leben aufnimmt und sein eigenes Leben dadurch bereichert findet. Solches Zukommen hat jedes Mal etwas Erschütterndes, manchmal mehr Erhebendes, manchmal mehr Bedrückendes, immer aber Bereicherndes. Das hängt davon ab, ob es mehr als Geschenk oder mehr als Aufgabe empfangen und empfunden wird.“11 Begegnung in diesem Sinne kann nicht technisch manipuliert und „gemacht“ werden. Entscheidend ist, dass jemand dafür offen und bereit ist. „Das blosse Vorübergehen an einem mir unbekannten Menschen kann unvermutet und aus mir unbekannten Gründen zur Begegnung werden. Andererseits kann ich mit einem mir vertrauten Menschen, der mir nahe steht, ein paar Stunden zusammen sein, und es entsteht nur langsam und unmerklich eine Begegnung.“12 Man kann sich in diesem Sinne offen halten für eine Begegnung, indem man verweilt, Zeit hat, wartet, zuhört und erwartet. Psychologische oder therapeutische Methoden sind nicht in der Lage, a priori eine Begegnung zu schaffen, aber sie können Zugänge für Begegnungen eröffnen und aufzeigen. In jeder Begegnung, in der mich etwas heraushebt aus dem Gefangensein in den alltäglichen Sorgen und mich wieder mutiger und zuversichtlicher macht, um zu den Alltagsdingen zurückzukehren, ist eine göttliche Erfahrung. Dabei ist vorher nicht auszumachen oder zu entscheiden, ob eine solche sich ereignet. Es liegt im Wesen der Begegnung, dass der Mensch erfahren darf, dass er begnadet ist und dass er, wenn er dies auch annehmen kann, sensibler und hellhöriger wird für das, was sich in der Begegnung zwischen den Personen ereignet.

4. Aus- und Weiterbildung von Gefängnisseelsorgern Die Arbeit im Gefängnis macht deutlich, dass der Beruf des Seelsorgers ohne eine entsprechende Aus- und Weiterbildung kaum auszuüben ist. An der Universität Bern wird seit April 1991 innerhalb der evangelisch-theologischen Fakultät ein Nachdiplomstudium für Gefängnisseelsorge angeboten. Im schweizerischen Raum gab es bis 1990 kein spezifisches Angebot an Aus- und Weiterbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern für die Seelsorge im Strafvollzug. Seit Jahren handelte es sich dabei um ein dringendes Postulat. Obschon viele Pfarrerinnen und Pfarrer im Straf- und Maßnahmenvollzug engagiert sind, erfüllen sie ihre Aufgabe ohne spezifische Ausbildung und Begleitung und sind nicht selten fachlich und persönlich überfordert. Ein Nachdiplomstudium kann sowohl stützend wie qualifizierend eine wesentliche Hilfe zur Erfüllung des seelsorgerlichen Auftrages an vielfach 11 Moor, Reifen, 147 f. 12 Ebd., 149.

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belasteten Mitmenschen sein. Das Nachdiplomstudium der Universität Bern befähigt Pfarrerinnen und Pfarrer zu kompetentem seelsorgerlichem Handeln im Straf- und Maßnahmenvollzug. Das Ergänzungsstudium umfasst verschiedene Elemente theoretischer und praktischer Weiterbildung und dauerte bei der ersten Durchführung zwei Jahre, bei der zweiten vier und dauert seit 1998 drei Jahre. Es bietet die Möglichkeit, ein interdisziplinäres, prozess- und praxisbezogenes Modell der Weiterbildung zu erfahren, in dem Institutionen der Universität, der Erwachsenenbildung und der Kirche exemplarisch zusammenarbeiten. Bei erfolgreichem Abschluss der Ausbildung wird ein Diplom erworben. Die sach- und personengerechte Erfüllung des geistlichen Auftrages steht im öffentlichen Interesse. Qualifizierte Gefängnisseelsorge kann einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Resozialisierung leisten. Im Bereich der theologischen Bildung gab es bisher nur wenige Möglichkeiten von zielgerichteten Ergänzungsstudien. Ein Studiengang für Gefängnisseelsorger bedeutete hier einen Anfang mit Pioniercharakter.

Literatur Goffman, Erving, Asyle: über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1973. Jngel, Eberhard, Zur Freiheit eines Christenmenschen, München 1991. Moor, Paul, Reifen, Glauben, Wagen. Menschwerdung durch Erziehung, Zürich 1981. Rauchfleisch, Udo, Menschen in psychosozialer Not, Göttingen/Zürich 1996. Ritschl, Dietrich, Zur Logik der Theologie, München 21988. Rogers, Carl, On becoming a person, Boston 1961.

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Tobias Brandner

Seelsorge und Freundschaft. Pastorale Rollenvielfalt und Rollenambiguität in der Gefangenenseelsorge

1. Annäherung: Fallbeispiele zu Rollenverständnis, Nähe und Distanz, Freundschaft Das Thema des seelsorgerischen Rollenverständnisses und der Frage nach Nähe und Distanz haben mich seit meinen frühesten Schritten in der Gefangenenseelsorge begleitet und, vielleicht weil ich eben noch sehr jung war, beschäftigt. Dies sollen drei kurz skizzierte Begebenheiten aus der Strafanstalt Pöschwies illustrieren, die zwar weit zurückliegen, mir jedoch immer noch in Erinnerung sind: 1. Ein junger Ex-Drogenkonsument, nennen wir ihn Fredi, kommt regelmässig zum Gespräch. Die Beziehung entwickelt sich gut; er erzählt mir offen und selbstkritisch über seine Vergangenheit und ist einigermassen zuversichtlich, dass er durch Entzug und Maßnahmen während des Vollzugs seine frühere Drogenabhängigkeit überwinden könne und in Zukunft nicht mehr rückfällig werde. Anlässlich eines bevorstehenden Hafturlaubs möchte Fredi gerne seine Freundin treffen, aber er habe in Zürich kein Zuhause, ob ich ihm helfen könne. Nach einigem Zögern erkläre ich mich bereit, ihn in meiner zentral gelegenen Wohnung aufzunehmen. Meine Entscheidung ist zum Teil motiviert davon, ihm mein Vertrauen auszudrücken, zum Teil davon, einen Schritt über die konventionelle seelsorgerische Beziehung hinaus zu gehen, schliesslich zum Teil davon, mich selbst herauszufordern und mir zu beweisen, dass ganzheitliche Nachfolge Christi möglich sei. Fredi kommt an besagtem Abend tatsächlich zu mir, und ich richte ihm eine Schlafstatt ein. Er geht nochmals aus und kommt zu nicht allzu später Stunde mit seiner Freundin zurück. Sie sind noch wach, als ich mich zum Schlafen zurückziehe. Am nächsten Morgen sind beide ausgeflogen. Zerknüllte Schokoladepapiere, einige sonstige rumliegende Reste und ein leerer Kühlschrank, die von einer nächtlichen Orgie zeugen, lösen bei mir gemischte Gefühle aus. 2. Wöchentliche Bibelgruppe für deutschsprachige: Zur Bibelgruppe gehören eine Gruppe von etwa acht Männern aus dem Balkan, die meisten aus Kosovo, einer aus Serbien (friedlich, trotz der damaligen politischen Spannungen zwischen Serbien und Kosovo), zudem ein Schweizer, Typ radikaler Aussenseiter. Die Mehrheit sind Muslime. Regelmässig kommen sie und lassen sich auf ein Gespräch ein. Im Mittelpunkt stehen Klagen über das Management. Ich offeriere Biskuits und Kaffee. Die Männer rauchen. Alles in allem ist es eine freundschaftliche und

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entspannte Runde. Als ich, zum Teil als Selbstschutz, zum Teil quasi als Versuch einer spirituellen Veränderung, irgendwann ein Rauchverbot einführe, bleiben die Teilnehmer aus. 3. Die schwierige Frage des Duzens: Mein katholischer Kollege, wohl etwa zwanzig Jahre älter als ich, scheint mit allen per Du und allen kollegial und freundschaftlich verbunden; ich selbst versuche, beim formelleren Sie zu bleiben, doch halte ich die teils künstlich wirkende Distanz nicht ganz aus und breche sie immer wieder mal auf – etwas zufällig und konzeptlos.

Verschiedene Themen liessen sich anhand der Fälle diskutieren: Nähe und Distanz, richtige Kommunikation von Gruppenregeln, Abgrenzung im Privatleben usw. Es gab damals noch keinen der Ausbildungskurse für GefangenenseelsorgerInnen – sie hätten mir wohl bei der Klärung der Fragen geholfen. Der baldige Wechsel in einen anderen kulturellen Kontext hat diese Fragen in den Hintergrund gedrängt. In einem autoritätszentrierten Kontext wird der Pfarrer so selbstverständlich mit Autorität konnotiert, dass sich die Frage nach der seelsorgerischen Rolle und nach Nähe und Distanz anders stellt. Seelsorge im asiatischen Kontext ist viel mehr verbunden mit einer natürlichen Distanz zwischen Seelsorger und Insasse. Die Beziehung würde sich zumindest vordergründig nie in gleicher Weise als Freundschaft präsentieren.

2. Zehn Thesen zur Frage nach der Rolle von SeelsorgerInnen Das Thema hat sich mir neu in einer längeren Arbeit zur Seelsorge im Gefängnis gestellt, wo ich die verschiedenen Rollen von SeelsorgerInnen in der Beziehung mit Gefangenen bedenke.1 Im vorliegenden Essay geht es um eine Rolle unter mehreren möglichen seelsorgerischen Rollen, jener des Freundes, der Freundin: Wie sehr kann die seelsorgerische Beziehung in den Kategorien der Freundschaft verstanden werden? Wie sehr sind, sollen, dürfen SeelsorgerInnen den Menschen, denen sie begegnen (um diese nicht schon präjudizierend ,KlientInnen‘ zu nennen), Freund sein? Bei den folgenden Gedanken geht es um eine Problemanzeige und ein Abstecken des Feldes der Thematik. Ich möchte mich dabei stilistisch von der von Christoph Morgenthaler so kunstvoll beherrschten thetischen Methode leiten lassen und in einigen Thesen das Thema abstecken.

1 Vgl. Brandner, Gottesbegegnungen, 190 – 201.

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1. Das Rollenproblem in der Seelsorge im Rahmen der Gemeinde ergibt sich durch eine Vielzahl von Bezugspunkten zwischen SeelsorgerInnen und potentiellen KlientInnen. GemeindepfarrerInnen teilen eine Vielzahl von Rollen und damit auch von Beziehungen mit anderen kirchlichen Mitgliedern: Verbundenheit als BürgerInnen einer politischen Gemeinde, Mitglied in nicht-kirchlichen Vereinen, Beziehungen über Kinder und Schule, etc. Zu dieser Vielfalt gehört eine ebensolche Vielfalt an Begegnungsgelegenheiten und -formen, die seelsorgerische Qualität annehmen können – der Einkauf, der Spaziergang, der Elternabend der Kinder, nicht-kirchliche Gemeindeanlässe und natürlich alle möglichen kirchlichen Anlässe. Bei der seelsorgerischen Begegnung muss deshalb nicht nur das, worum es in einem Gespräch gehen könnte, immer wieder neu quasi ausgehandelt werden,2 sondern auch die Beziehung selbst muss immer wieder geklärt und damit auch die seelsorgerische Rolle neu verhandelt werden. Die meist nur implizite, gelegentlich auch explizit angesprochene Bestimmung der seelsorgerischen Rolle hängt von verschiedenen Faktoren ab. Alle in seelsorgerischer Kommunikation beteiligten Menschen bringen bestimmte Rollenpräferenzen mit ins Spiel. Ebenso werden Rollen durch Projektionen festgelegt:3 Die meisten Menschen haben eine sehr klare Vorstellung, wer und was ein Pfarrer (sic!) ist. Offensichtlich schränken Rollenpräferenzen und -projektionen die Vielfalt und Flexibilität seelsorgerischer Kommunikation ein. Es gehört deshalb zur Kunst der Kommunikation, solche Rollenfixierungen durch das Gegenüber kreativ zu durchbrechen oder zu dekonstruieren, ganz im Sinne von „ich habe die Rolle, aber nicht die Rolle hat mich“.4 2. Anstaltsseelsorge ist in einer gegenüber dem Gemeindepfarramt einfacheren Situation. Die Beziehungsvielfalt ist reduziert und weitgehend auf den Kontakt innerhalb der Anstalt beschränkt. Dennoch bleibt eine Vielfalt der Rollen bestehen. Auch wenn es, im Gegensatz zu Begegnungen in der Gemeinde, kaum vorkommt, dass das Gegenüber gleichzeitig der Vater einer Schulfreundin der Tochter ist oder sich SeelsorgerIn und Insasse über Turnverein oder Kulturclub der Gemeinde kennen, so sind auch AnstaltsseelsorgerInnen mit einer Vielzahl von möglichen Rollen und damit Beziehungsgestalten konfrontiert. Ebenso wie in der Gemeindesituation treffen Rollenpräferenzen und Rollenprojektionen aufeinander. Viele Insassen haben in der Vergangenheit Erfah2 Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 35 und 164 – 169. 3 Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 168. 4 Winkler, Seelsorge, 357.

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rungen mit PfarrerInnen gemacht und meinen, sehr genau zu wissen, was von ihnen zu erwarten ist. Prägend für die Bestimmung der seelsorgerischen Rolle wirkt zudem, dass AnstaltspfarrerInnen zunächst oft als VertreterInnen gesellschaftlicher Ordnung wahrgenommen werden. Sie vertreten eine gesellschaftlich prägende Institution und eine Moral, die vielen Insassen voreingenommen erscheint und nicht mit eigenen Erfahrungen übereinstimmt. Die Vielfalt pastoraler Rollen wird teils inspiriert von der Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungsformen, teils von der Vielfalt der pastoralen Tätigkeit.5 Zur Wahl stehen eine breite Palette möglicher Rollen, von väterlichen oder mütterlichen über heilende, lehrende, weisende, spirituell anleitende bis zu fürsprecherischen.6 Viele der Rollen, die PfarrerInnen typischerweise zugeschrieben werden, prägen die Menschen als Berufs- und Handlungsweisen seit Urzeit.7 Unterschiedliche Verständnisse von Seelsorge führen zu verschiedenen seelsorgerischen Rollenverständnissen. Wer in der Seelsorge eine spezielle und auf das Individuum zugespitzte Form der Verkündigung sieht, versteht die eigene Rolle wesentlich als jene des Trägers und Übermittlers des Wortes Gottes;8 wer christliche Seelsorge als Einweisung in die biblische Tradition sieht, wird sich gerne als LehrerIn sehen, und wer die eigene Rolle pastoralpsychologisch versteht, wird sich eher in Anlehnung an therapeutische Rollenverständnisse verstehen. Dabei können SeelsorgerInnen als konkrete Personen hinter dem durch Übertragungs- und Gegenübertragung geprägten Bild quasi verschwinden.9 Oder sie erscheinen als RatgeberInnen, TherapeutInnen, HeilerInnen, spirituelle FührerInnen,10 Geistliche,11 BrückenbildnerInnen, theologische KommunikationsexpertInnen, WegbegleiterInnen, Vorbilder oder Verhaltenstrainer, charismatische Persönlichkeiten, die mit dem heiligen Geist seelsorgerisch handeln,12 oder in einer Vielzahl anderer Rollen.

5 Vgl. Diagramm in: Clinebell, Basic Types, 39. 6 Brandner, Gottesbegegnungen, 192ff; vgl. auch die Tabelle verschiedener Rollenprofile in: Nauer, Seelsorgekonzepte, 421. 7 Etwa der Typus des Königs, Vaters, Richters, der grossen Mutter, des Jägers, Sklaven, grossen Weisen, etc. Vgl. Thilo, Beratende Seelsorge, 31. 8 Thurneysen, Lehre von der Seelsorge, 298. 9 Gestrich, Seelsorge, 163. 10 Clinebell, Basic Types, 113 – 116. 11 Josuttis, Segenskräfte, 108. 12 Zimmerling 2000. Zit. nach Nauer, Seelsorgekonzepte, 78.

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3. Es gehört zur grundlegenden Kompetenz von SeelsorgerInnen, aus einer Vielzahl vorhandener Rollenmöglichkeiten zu wählen und Präferenzen sowie kontextuelle Eignung bestimmter Rollen kritisch zu hinterfragen. Seelsorgerische Rollen werden von zwei Seiten definiert, von SeelsorgerInnen ebenso wie von deren Gegenüber, dessen Bedürfnissen, Gewohnheiten oder Projektionen. Der Anteil des Gegenübers ist nur indirekt zugänglich und erschliesst sich teils explizit durch Worte, teils non-verbal durch Anspielungen oder Körpersprache; teils müssen SeelsorgerInnen aufgrund von Kenntnissen des familiären oder kulturellen Umfelds Rollenbedürfnisse, -erwartungen und -projektionen des Gegenübers vermuten. Der Anteil des Seelsorgers, der Seelsorgerin, bei der Wahl einer bestimmten Rolle hängt von verschiedenen Faktoren ab, wobei subjektive Präferenz, subjektive Eignung und das vermutete Bedürfnis des Gegenübers eine wichtige Rolle spielen. Traditionell pflegten kirchliche Kreise besonders, die Rolle des Hirten (Pastor) und des Vaters (Pater) zu betonen.13 Es gehört zur fachlichen Kompetenz von SeelsorgerInnen, über die weit über diese Standardrollen hinausgreifende Vielfalt möglicher Rollen Bescheid zu wissen und zu verstehen, wie sie unterschiedliche Verständnisse dessen reflektieren, worum es in der Seelsorge geht. Ebenso gehört zu solcher Grundkompetenz, die eigenen durch theologische Grundüberzeugungen, spirituelle Orientierung, Erziehung oder sozialen Hintergrund bedingten Präferenzen kritisch auf ihre Eignung für die vorliegende Begegnungssituation zu hinterfragen. Grundsätzlich müssen wir uns selbstkritisch daran erinnern, dass eine Rolle, die mir am liebsten ist und die ich, aus welchen Gründen auch immer, vorziehe, möglicherweise weder jene ist, die mir am besten liegt, noch jene, die am besten der Situation angemessen ist. Umgekehrt müssen wir uns auch der ständigen und unvermeidbaren Rollenprojektionen bewusst bleiben: Auch nach aller aktiven Rollengestaltung wird die seelsorgerische Begegnung und die darin eingenommene Rolle weiterhin auch von dem geprägt, was das Gegenüber zulässt und in welche Rolle es mich drängt.

4. Vielfalt und Komplexität der möglichen seelsorgerischen Rollen wird durch die interkulturelle Qualität der Seelsorge im Strafvollzug noch verstärkt. Gefangenenseelsorge ist immer auch interkulturelle Seelsorge. Ihre Interkulturalität ergibt sich vor allem in Gefängnissen in Europa und den USA aus dem überdurchschnittlich hohen Anteil an Menschen aus fremden kulturellen Kontexten. Der Ausländeranteil in Schweizer Gefängnissen beläuft sich auf 13 Thilo, Beratende Seelsorge, 35.

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unterdessen etwa siebzig Prozent der Insassen.14 In anderen Ländern Europas sind es deutlich weniger, in Deutschland zwischen zwanzig bis dreissig Prozent. Der hohe AusländerInnenanteil in Schweizer Gefängnissen hat auch damit zu tun, dass für SchweizerInnen sehr viel eher Alternativen zum geschlossenen Vollzug erwogen werden.15 Die Gefängnispopulation in Kontexten ausserhalb Europas ist ethnisch und kulturell homogener, in Hong Kong sind nur etwa zehn Prozent der Insassen kulturell nicht-chinesisch. Dennoch ist Interkulturalität auch in der Gefangenenseelsorge in Asien, Afrika oder Lateinamerika ein Thema, insbesondere deshalb, weil SeelsorgerInnen und Insassen oft aus sozial weit auseinander liegenden Schichten stammen. Gesellschaftlich, gemessen an Bildung, Einkommen, Interessen oder Beziehungen, gehören SeelsorgerInnen gewöhnlich einer anderen Gruppe an als die Insassen.16 Seelsorge, die nicht milieublind sein will, muss anerkennen, dass Seelsorge nicht nur mit AusländerInnen, sondern ebenso mit Einheimischen interkulturell geschieht.17 Rollenerwartungen und -projektionen werden in solchem Kontext um die interkulturelle Dimension erweitert. SeelsorgerInnen werden mit Erwartungen der Heilsvermittlung und spirituellen Führung konfrontiert, die mitteleuropäisch nüchternem Protestantismus fern liegen. Umgekehrt mag das Rollenverständnis mitteleuropäischer SeelsorgerInnen Insassen aus dem afrikanischen oder asiatischen Raum befremden. Kulturell bedingte Differenzen im eigenen und fremden Rollenverständnis werden übersehen.

5. Freundschaft steht zunächst im Widerspruch zur Seelsorge, wo immer schon eine bestimmte Rollendefinition vorliegt und eine notwendige Distanz gegeben ist. Freundschaft ist ein Thema in der seelsorgerischen Betreuung, weil die seelsorgerische Beziehung zwingend aus einer breiten Palette von möglichen Beziehungsgestalten auswählt, darunter eben auch jene der Freundschaft. SeelsorgerInnen als Freund oder Freundin wahrzunehmen, widerspricht jedoch in vieler Hinsicht der Grundsituation der seelsorgerischen Begegnung. Erstens ist Freundschaft zu subjektiv. Seelsorge soll nicht von persönlichen Präferenzen und subjektiven Empfindungen abhängen. Zweitens bedingt Freundschaft Gegenseitigkeit, Gleichheit, Freiheit und Spontaneität der Beziehung und eine auf einer gemeinsamen Geschichte oder geteiltem Leben 14 http://bazonline.ch/schweiz/standard/Haeftlinge-in-der-Schweiz-sind-zu-70-Prozent-Ausla ender/ story/22243843 vom 19. 1. 2010 (Zugriff am 10. Juni 2011). 15 Gemäss einer Studie der Universität Bern, vgl. http://www.swissinfo.ch/ger/Home/Archiv/ Strafvollzug:_Vor_allem_Auslaender_bleiben_hinter_Gitter.html ?cid=5284004 Swissinfo.ch 26.6.2006 (Zugriff am 10. Juni 2011). 16 Pattison, Pastoral Care, 195 – 202 (bezogen auf die Seelsorge in psychiatrischen Kliniken). 17 Vgl. Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge, 263.

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basierende Vertrautheit, die in der immer zum Teil künstlich bleibenden Beziehung der Seelsorge nicht gegeben ist. Gemeinde- wie auch AnstaltsseelsorgerInnen (und auch im seelsorgerischen Dienst freiwillig Mitarbeitende) sind ja immer mehr oder weniger formell beauftragt und repräsentieren dadurch eine Institution und Tradition, die weit über ihre individuelle Person hinausreicht. Die seelsorgerische Beziehung in Anlehnung an eine Freundschaftsbeziehung zu verstehen, wäre deshalb eine Illusion, welche Grenzen verwischen würde und deshalb im Widerspruch zu den meisten pastoralpsychologischen Ansätzen steht. Gerade die systemische Seelsorge hat mit Hilfe der Transaktionsanalye den Blick geschärft für die Verwischung von Grenzen zwischen den Generationen und zwischen verschiedenen Rollen. Drittens begeben sich SeelsorgerInnen, die ihre Rolle im Rahmen der Freundschaft verstehen, in ein kompliziertes Beziehungsnetzwerk. Sie verlieren die vermittelnde Distanz, die im Dialog mit dem Gegenüber spirituelle, psychische oder beziehungsmässige Veränderungsprozesse auszulösen vermag. Freundschaft schafft persönliche Bindung und Abhängigkeit, die der Reifung und der Heilung von Konflikten hinderlich sein können. SeelsorgerInnen sollten deshalb immer wieder den Moment der Vergänglichkeit, der Kontingenz und der eigenen Ersetzbarkeit aufleuchten lassen. Dass SeelsorgerInnen nicht FreundInnen sind und damit auch nicht zum eigenen Kreis gehören, macht sie in vieler Hinsicht erst wertvoll. Die Fremdheit und Aussenperspektive des Seelsorgers, der Seelsorgerin, ist so eine unaufgebbare Bereicherung, die Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit garantiert. Ich habe diesen Vorteil in der interkulturellen Seelsorge im chinesischen Raum öfters erlebt. Der Nachteil meiner gegenüber lokalen MitarbeiterInnen verminderten sprachlichen Kompetenz konnte zum Teil dadurch kompensiert werden, dass ich als ausländischer Seelsorger einem gänzlich anderen Kreis entsprang und einige Insassen mir im Vergleich zu lokalen MitarbeiterInnen mit weniger Schamgefühlen begegneten. Auch war ich nicht in lokale Abhängigkeiten und Beziehungsnetze verstrickt, die in einer Kultur, die stärker durch Beziehungen als durch Strukturen definiert ist, wichtig sind.

6. Freundschaftliche Vertrautheit ist eine wichtige Voraussetzung und Vorbereitung der eigentlichen seelsorgerischen Beziehung. Sie schafft den Boden dafür, dass sich Menschen bei Bedarf auf ein seelsorgerisches Gespräch einlassen. Seelsorge ist zunächst schlicht ein Beziehungsgeschehen und nichts anderes.18 Freundschaft im Sinne der Freundlichkeit und der freundschaftlichen Verbundenheit ist deshalb eine Grundform, die der Vielfalt möglicher weiterer 18 Parsons, Pastoral Care, 97.

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Beziehungsentwicklungen am weitesten Raum lässt. Eine Art der freundschaftlichen Vertrautheit, die dem Bedarfsfall vorausgeht, hilft bei der Wahl eines bestimmten Pfarrers oder einer Pfarrerin für ein vertieftes Gespräch, wenn es dann nötig ist. Seelsorge ist ja nicht monopolisiert durch eine Amtsperson, sondern es stehen meist mehrere mögliche seelsorgerische GesprächspartnerInnen zur Wahl, ebenso der Verzicht auf ein Gespräch. Der Aufbau einer freundschaftlichen Vertrautheit kann deshalb als Vorbereitung zum bei Bedarf vertieften seelsorgerischen Gespräch verstanden werden.19 Die freundschaftliche Beziehung findet weitere Vertiefung, wenn sich SeelsorgerInnen, wie es der systemische Ansatz vorsieht, einem Familiensystem auf Zeit anschliessen20 und so eine Rolle entstehen lassen, die jener des Freundes, der Freundin der Familie nahe kommt. Freundschaftliche Vertrautheit entsteht durch gemeinschaftliches Leben und Präsenz im Leben anderer Menschen. Solche Anteilnahme, Konvivenz,21 ist das, worauf Paulus hinweist, als er sich an die Gemeinde in Thessalonich wendete: „So waren wir voll herzlicher Zuneigung zu euch willig, euch nicht allein am Evangelium Gottes teilhaben zu lassen, sondern auch an unsern eigenen Seelen, weil ihr uns lieb geworden wart“ (1 Thess 2,8). Teilhabe am und Präsenz im Leben der anderen Menschen schaffen Vertrauen und Verbundenheit, die eine wichtige Voraussetzung für die Verständigung und für das Verstehen im fremden Gefängniskontext bilden. Je länger sich SeelsorgerInnen der Gefängniswelt aussetzen, desto näher kommen sie der Erfahrungswelt der Insassen, auch wenn sie das, was Freiheitsentzug und Einschliessung bedeuten, letztlich nie wirklich erahnen können, ohne selbst in der Situation gewesen zu sein. Für die Seelsorge im Gefängnis bedeutet das als praktische Anleitung, dass SeelsorgerInnen ihre teils vorhandenen Büro- oder Besprechungsräume wenigstens zu einem Teil ihrer Arbeitszeit verlassen sollten, um in den Werkstätten und sonstigen Aufenthaltsräumen sichtbar und ansprechbar zu werden. Auf diesem Weg ein Stück weit Leben mit den Insassen zu teilen, kompensiert für die notwendige lebensmässige Getrenntheit, die Seelsorge im Gefängnis mit sich bringt.

19 Hiltner, Pastoral Counseling, 128ff, nennt das pre-counseling. 20 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 273. 21 Sundermeier, Konvivenz, 51 – 59.

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7. Über diese vorbereitende Funktion hinaus ist Freundschaft ein wichtiges Orientierungsbild für Seelsorge, das ein hierarchisches Gefälle zwischen SeelsorgerIn und Gegenüber vermeidet. Sucht man seelsorgerische Lehrbücher nach dem Thema Freundschaft ab, so findet sich zunächst wenig. Angesichts der oben beschriebenen Differenz zwischen der Rolle des Seelsorgers und jener des Freundes überrascht das nicht. Dennoch und trotz dieser grundsätzlichen Andersartigkeit der beiden Rollen benutzen vereinzelte seelsorgerische Konzepte das Modell der Freundschaft zur Beschreibung des seelsorgerischen Rollenverständnisses. Hans van der Geest hält fest: „Der Seelsorger ist nicht unbedingt Pastor oder Helfer, aber er ist unbedingt freundlich. Freundschaft ist ein besseres Orientierungsbild für den Seelsorger als Verkündigung oder Dienst.“22 Das Paradigma der Freundschaft vermeidet ein Gefälle, wie es viele der seelsorgerischen Beziehungsformen wie etwa Prediger-Hörer oder Therapeut-Klient ausdrücken.23 Andere Modelle sprechen zwar nicht von Freundschaft, doch betonen sie ähnlich wie beim Orientierungsbild der Freundschaft die Wichtigkeit, die Beziehung von SeelsorgerIn und Gegenüber als eine reziproke und gleichwertige zu verstehen. Modelle wie die ,Biblische Seelsorge‘, auch bekannt als ,Bibelorientierte‘ oder ,Partnerschaftliche Seelsorge‘,24 betonen durch ihren rechtfertigungstheologischen und christozentrischen Ansatz ein niedriges Rollenverständnis, wo sich SeelsorgerIn und Gegenüber ebenbürtig begegnen. Tiefenpsychologisch orientierte Seelsorge sieht SeelsorgerInnen in der Rolle eines idealen Du oder eines gnädigen Nächsten, also von Personen, die in guter Beziehung zum Gegenüber stehen, doch wird diese Rolle nur durch Übertragung und Gegenübertragung konstruiert.25 Begleitende Seelsorge26 rückt die Ohnmacht und Machtlosigkeit der SeelsorgerInnen in den Mittelpunkt. Besonders der Mystik nahestehende TheologInnen und SeelsorgerInnen betonen die Reziprozität und Verbundenheit in gemeinsamer Ohnmacht. Der holländische Priester Henri Nouwen beschreibt diese Haltung mit dem Bild des ,verwundeten Heilers‘.27 Leiden und die Erfahrung von Scheitern führen zu tieferer Feinfühligkeit und spiritueller Wahrnehmung. Der Schmerz des Gegenübers wird zum eigenen Schmerz und schafft eine Affinität, die in die gemeinschaftliche Erfahrung eigener Sterblichkeit führt.

22 23 24 25 26 27

Van der Geest, Unter vier Augen, 235. Nicol, Gespräch , 180. Zit. nach Nauer, Seelsorgekonzepte, 51. Nauer, Seelsorgekonzepte, 41 – 52, v. a. 50 f. Nauer, Seelsorgekonzepte, 189. Nauer, Seelsorgekonzepte, 100 – 111, v. a. 108. Nouwen, Wounded Healer.

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8. Die Betonung der Freundschaft in der seelsorgerischen Beziehung im Gefängnis soll die Fremdheitserfahrung des Lebens in Gefangenschaft kompensieren. Leben im Gefängnis ist ein Leben in radikaler Entfremdung, geprägt von Entbehrung,28 von Unfreiheit und von hierarchischen und dualistischen Beziehungen. Das Gefängnis steht im Gegensatz zu unserem Bedürfnis nach Heimat, und es soll auch nie Heimat werden. Wo Insassen anfangen, sich in der Gefängnisrealität heimisch zu fühlen, liegt eine Überanpassung vor und man spricht von ,kolonisierten Persönlichkeiten‘.29 Entsprechend ist auch Seelsorge im Gefängnis in besonderer Weise ein Gang ins Fremde.30 Die Betonung der Freundschaft in der seelsorgerischen Beziehung soll diese Fremdheitserfahrung kompensieren. Das Bedürfnis nach schlichter Freundschaft und der Egalität der darin zum Ausdruck kommenden Beziehung steht im Gegensatz zur allseits hierarchischen Struktur der Beziehungen im Gefängnis. Gerade weil Freundschaft im Gegensatz zu anderen Beziehungsformen ausserhalb jeglicher Pflicht, Funktion oder jeglichen Amtes existiert und somit die freieste, kostbarste und seltenste Beziehung ist,31 spielt sie in einem Kontext, der so von Zwang dominiert ist wie das Gefängnis, eine wichtige Rolle. Diese Form der Beziehung kommt besonders im Einbezug von freiwilligen MitarbeiterInnen in der Arbeit im Gefängnis deutlich zum Ausdruck. Im Gegensatz zu den in vielen Kontexten besoldeten SeelsorgerInnen, die ihren Dienst immer auch als Teil eines bezahlten Amtes verrichten, drücken Freiwillige stärker dieses freiwillige und freiheitliche Element der Freundschaft aus. Diese gegenkulturelle Funktion der Freundschaft ist wiederum besonders im Kontext von autoritätszentrierten Kulturen wie jenen in Asien, Lateinamerika und teils auch in Afrika wichtig, wo ein potentielles Machtgefälle zwischen SeelsorgerIn und ,KlientIn‘ sowie das natürliche und kaum vermeidbare Machtgefälle zwischen SeelsorgerIn und Gefängnisinsasse durch das zusätzliche Machtgefälle zwischen Autoritätsträger und Autoritätsempfänger vergrössert wird.32 Der Kontext des Gefängnisses verlangt stärker als andere Kontexte, Insassen in einer Haltung der grössten Demut und Bescheidenheit zu begegnen, um das ständig spürbare Machtgefälle, dem Insassen unterworfen sind, und der 28 Eine soziologische Analyse der verschiedenen Aspekte von Entbehrung im Gefängnis findet sich bei Sykes, Society, v. a. 63 – 78. 29 Goffman, Asyle, 66. 30 Morgenthaler, Strafvollzug, 4. 31 Bonhoeffer, Widerstand, 102 f – Brief vom 23. Januar 1944. 32 Gemessen als power distance, vgl. Hofstede, Culture’s Consequences, 65ff – vgl. auch die Tafel mit verschiedenen Werten der Machtdistanz ebd., 77. Weiteres zur Verkündigung im Kontext der Ungleichheit vgl. Brandner, Gottesbegegnungen, 201 ff.

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Ungleichheit in der Beziehung zu überwinden.33 Wo SeelsorgerInnen den Insassen in Freundschaft begegnen, wo sie ihnen nicht nur als professionelle Ratgeber erscheinen, sondern bereit sind, Leben mit ihnen zu teilen, da kommunizieren sie in sehr praktischer und direkter Form Annahme. SeelsorgerInnen tragen an den meisten Orten keinen Schlüssel zum Gefängnis mit sich herum. Es liegt nicht in ihrer Macht, über die wichtigsten Fragen von Insassen, insbesondere deren Entlassung zu entscheiden. Es ist deshalb in vielen Fällen am ehrlichsten, die Ohnmachtserfahrung von Insassen nicht durch eigenen Aktivismus zu überdecken, sondern auch die eigene Erfahrung von Machtlosigkeit zuzulassen und gerade dadurch den Insassen näher zu kommen. 9. Das Rollenverständnis hat eine wichtige theologische Dimension. SeelsorgerInnen kommunizieren durch ihre Rolle ein bestimmtes Verständnis von Gott. Wenn SeelsorgerInnen väterliche oder mütterliche, heilende oder transformierende, strafende oder liebende Rollen betonen, so handelt es sich dabei um spirituelle Kommunikation, die auf entsprechende Attribute Gottes verweist. Sie bringen einen nährenden oder heilenden, einen weisenden oder befreienden, einen herrschenden oder richtenden – kurz: einen nahen oder einen fernen Gott ins Spiel. Dasselbe gilt für die Rolle der Freundschaft. Die theologische Tradition hat die Rolle der Freundschaft nur selten bedacht. Sie bewegte sich überwiegend in einem Bezugssystem, das von Kategorien der Herrschaft geprägt war. Diesem blieb auch die Befreiungstheologie teils verhaftet, auch wenn sie sich in vielen anderen Punkten von traditionellen Paradigmen verabschiedete. Es ist besonders der feministischen Theologie zu verdanken, dass die Herrschaftsstruktur der bisherigen Theologie kritisch in den Blick gekommen ist. Rosemary Radford Ruethers Interpretation der biblischen und kirchlichen Tradition zielt darauf, die darin enthaltenen prophetischen und gegen Herrschaftstheologie gerichteten Elemente freizulegen. Kritisch zeigt sie, wie klassische Christologie im Rahmen eines Herrschaftsparadigmas konzipiert ist: Der Logos herrscht über den Kosmos, der christliche Kaiser herrscht zusammen mit der Kirche über das Reich der Politik, Herren herrschen über Sklaven, Männer herrschen über Frauen. Im Kontrast zu dieser Herrschaftstheologie erscheint Jesus als Kenosis des Patriarchates, als Ankündigung einer neuen Menschheit und eines Lebensstiles jenseits hierarchischer Privilegien.34 Sallie McFague untersucht verschiedene Metaphern der Gottesrede und fragt nach ihrer Tauglichkeit im Kontext eines vom ökologischen und nuklearen Kollaps bedrohten Zeitalters. Dabei beschreibt sie die Metapher des 33 Rayburn, Prison, 362. 34 Radford Ruether, Sexism, 137.

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Freundes – in einiger Anlehnung an Moltmann35 – als eine mögliche und sinnvolle Form der Gottesrede.36 Gegen den aristotelischen Einwand, dass Freundschaft zwischen Gott und Menschen nicht möglich sei, weil eine Partei weit von der anderen entfernt stehe,37 führt sie das egalitäre Modell Jesu an, der als Freund von Zöllnern und Sündern erscheint (Mat 11,9) und seinen Jüngern eine Beziehung der Freundschaft jenseits der Knechtschaft anbietet (Joh 15,15). Im Gegensatz zur hellenistischen Tradition rechnet die biblische Tradition tatsächlich mit der Möglichkeit einer Freundschaft zwischen Gott und Mensch, wie die mehrfache Beschreibung Abrahams als Freund Gottes zeigt (2Chr 20,7; Jes 41,8; Jak 2,23). Die Beziehung zwischen Gott und Menschen als Freundschaftsbeziehung zu verstehen, führt zu einem vertieften Verständnis einiger Aspekte dieser Beziehung. Freundschaft ist eine Form der Solidarität, freiheitlich eingegangen, inklusiv und interdependent, die festhält, dass wir nicht einfach monadisch in uns selbst ruhen. Gemäss McFague beschreibt die Metapher der Freundschaft am besten Gottes rekreative, also neuschöpfende Wirksamkeit. Im Kontext der Gefangenschaft, wo zumindest subjektiv, meist auch im gesellschaftlich verbreiteten Verständnis der Gedanke des Strafens dominiert, erscheint die Freundlichkeit Gottes als Kontrasterfahrung, die nicht nur tröstet und Kraft spendet, sondern dem totalitären System des Gefängnisses eine alternative Beziehungsform zur Seite stellt und so befreiende Wirkung entfaltet. Die Freundlichkeit Gottes muss wiederum besonders in autoritären Kontexten betont werden, wo autoritäre und monarchische Gottesverständnisse oft zur Stärkung bestehender Gehorsamsstrukturen verwendet werden. Andererseits sind autoritäre Kontexte meist auch Kulturen, die der Gemeinschaft, meist der familiären Gemeinschaft, mehr Gewicht einräumen als dem Individuum und damit das eher individuell etablierte Beziehungssystem von Freunden entwerten. Im Konfliktfall hat die Familie gegenüber Freunden den Vortritt. Die Gefahr besteht dann, dass die Zweitrangigkeit auch Gott betrifft, wenn Gott in Kategorien der Freundschaft verstanden wird anstatt in den traditionell üblicheren familialen Kategorien.

10. Ein freundlicher Gott ist nicht ein domestizierter Gott, sondern ein gegenkultureller. Bei aller Freundlichkeit und Freundschaft – zum Abschluss einige Worte der Zurückhaltung: Erstens, wenn wir Gott als freundlichen Gott kommunizieren und die seelsorgerische Beziehung (auch!) im Paradigma der Freundschaft verstehen, so laufen wir Gefahr, die Fremdheit und Verborgenheit Gottes in 35 Moltmann, Friendship, 50 – 63. 36 McFague, Models, 157 – 180, v. a. 157 – 167. 37 Aristoteles, Ethik 1155a, zit. nach McFague, Models, 158.

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einer unspezifischen Freundlichkeit zu verlieren. Freundschaft ist ja im Zeitalter von Facebook und von globaler Vernetzung ständig verfügbar und präsent, gleichzeitig aber auch stets in Gefahr, in Belanglosigkeit zu versinken. Freundschaft kann per Mausklick angeboten, angenommen und ebenso schnell und ohne jegliches Beziehungsgeplänkel beendet werden.38 In solchem Kontext besteht die Gefahr, dass Gott zu einem beliebigen, leicht zugänglichen und ebenso leicht auswechselbaren Gut wird. Zweitens, im Kontext des Gefängnisses und der Beziehungserfahrungen vieler Insassen dürfen wir nicht vergessen, dass Freundschaft oft auch destruktiven Charakter hat, gerade auch im Milieu des organisierten Verbrechens, seien es die sogenannten Triaden, die Gruppen organisierten Verbrechens im chinesischen Kontext, oder mafiöse Gruppen in Europa. Freundschaft bedeutet in diesem Kontext eine Beziehung der gegenseitigen strikten Loyalität, Unterstützung und freiwilligen Bindung, die auch vor stellvertretendem Verbrechen nicht Halt macht. Diese Bindung ist eine Form der Abhängigkeit, die Insassen oft weit über die Gefangenschaft hinaus in einer kriminellen Subkultur gefangenhält. Die durch SeelsorgerInnen und teils sogar stärker noch durch freiwillige MitarbeiterInnen kommunizierte Freundschaft muss deshalb ihre paradoxe oder dialektische Spannung von Freiwilligkeit und Verantwortlichkeit, von personaler Bezogenheit und solidarischer Offenheit aufrecht erhalten und muss vermeiden, strukturell in ähnliche Abhängigkeitsformen zu führen. Das führt zum dritten Punkt: Freundschaft darf in der Seelsorge nicht deshalb eine Rolle spielen, weil SeelsorgerInnen so ihr eigenes Bedürfnis nach Anerkennung, Freundschaft oder Geliebtsein befriedigen wollen oder schlicht Konflikten aus dem Wege gehen. Freundschaft auf solcher Basis wird eine ängstlich um die eigene Existenz besorgte und auf gegenseitige Bestätigung ausgerichtete Vergewisserung der eigenen Wichtigkeit. Viertens, ich habe in den hier vorgelegten Gedanken mehrfach auf den autoritätszentrierten Kontext Asiens hingewiesen und auf die gegenkulturelle Bedeutung von Freundschaft an einem Ort, wo ein grosses Autoritätsgefälle herrscht. SeelsorgerInnen im westlichen Kontext müssen sich dagegen fragen, ob das Gegenüber der seelsorgerischen Begegnung mehr geprägt ist vom autoritären und hierarchischen Kontext des Gefängnisses oder möglicherweise mehr von einem biographischen Hintergrund, in dem es an Strukturen und Gelegenheiten mangelte, sich an Autoritäten abzuarbeiten. Die Betonung der Freundschaft in der seelsorgerischen Beziehung kann deshalb dazu führen, dass SeelsorgerInnen ihr Gegenüber um die Gelegenheit bringen, sich mit Widerstand, wie ihn Autorität natürlich hervorruft, auseinanderzusetzen. 38 Es tut gut, sich in diesem Zusammenhang an den Mark Twain zugeschriebenen Ausspruch zu erinnern, wonach der glücklichste Mensch der Welt jener sei, der, wenn er starb, einen Menschen seinen Freund nennen konnte. Hatte er zwei Freunde, so empfahl er sogar eine entsprechende Inschrift auf dem Grabstein.

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Sykes, Graham, The Society of Captives. A Study of a Maximum Security Prison, Princeton 1958. Thilo, Hans-Joachim, Beratende Seelsorge, Göttingen 31986. Thurneysen, Eduard, Die Lehre von der Seelsorge, München 1948. Winkler, Klaus, Seelsorge, Berlin 22000.

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IV Beratung und (Religions-)Psychologie

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Ulrike Wagner-Rau

Religiosität in der psychologischen Beratung

1. Religiosität in der Beratung? Christoph Morgenthaler hat im Zusammenhang seines – gemeinsam mit Gina Schibler entwickelten – Modells einer religiös-existenziellen Beratung die Frage nach dem theologischen Profil kirchlicher Beratungsstellen angesprochen. Er stellt fest, dass „religiöse Einflüsse und Ressourcen (…) in der durchschnittlichen beraterischen Praxis oft ausgeblendet werden“1. Zugleich aber weiß er auch: Eine Beratung, die den Prozess um einen religiös-existentiellen Fokus zentriere, könne und dürfe „in einem strikten Sinn auch in Zukunft nur eine Beratungsform unter vielen im weit gespannten kirchlichen Beratungsspektrum sein.“2 Der Ort der Religion in der psychologischen Beratung und in der Psychotherapie, das wird im Spannungsfeld dieser beiden Aussagen deutlich, ist nicht selbstverständlich, sondern bedarf gesonderter Reflexion. Und das gilt nicht nur für die kirchliche Beratungsarbeit. Im Zusammenhang einer funktional differenzierten Gesellschaft gehören Religion und Lebensberatung in differente gesellschaftliche Kommunikations- und Funktionsbereiche. Sie sind mit je eigenen professionellen Kompetenzen und Expertisen verbunden. Man kann zwar heute davon ausgehen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer über grundlegende Kenntnisse in Kommunikationstheorie, helfender Gesprächsführung und Psychopathologie verfügen. Ebenso kann man davon ausgehen, dass nicht wenige Psychotherapeutinnen und Berater selbst religiös sind bzw. Kenntnisse über religiöse Überzeugungen, Traditionen und Praxisformen haben. Aber ein Pfarrer oder eine Pfarrerin handelt im Kontext der Gemeindearbeit in der Regel seelsorglich und nicht psychotherapeutisch. Und ein Psychologe, auch wenn er in einer kirchlichen Beratungsstelle tätig ist, orientiert sich an den Regeln psychotherapeutischer Kunst. Es ist also zunächst ungeklärt, wie Religion im Zusammenhang von Therapie und Beratung situiert werden kann, ohne dass dies als ein Übergriff empfunden wird. Psychotherapie und Beratung sind offen für Menschen aller Weltanschauungen und religiösen Hintergründe. Das ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal auch kirchlicher Beratungsstellen, das ihrer Arbeit Vertrauen 1 Morgenthaler/Schibler, Beratung, 9. 2 Vgl. ebd., 13.

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weit über die Grenzen der Kirchen hinaus eingebracht hat. Zugleich wächst in der Psychotherapie und Beratung überhaupt und auch in der kirchlichen Beratungsarbeit das Interesse an der Frage, wie die religiöse Dimension des Lebens in therapeutische Prozesse eingehen könne. In Religion wie Psychotherapie spielen die Auseinandersetzung mit der Erschütterung von Lebensgewissheit und der Versuch, auf diese Erschütterung heilsame Antworten zu finden, eine zentrale Rolle. Der Umgang mit Verletzlichkeit und Leiden, mit Destruktivität und Schuld, mit Gefährdungen von Identität und Lebenssinn sind psychotherapeutische und religiöse Themen zugleich. Darum ist es nicht erstaunlich, dass die Therapiekultur Affinitäten zu religiösen Fragen aufweist, aber auch christliche Theologie und kirchliche Praxis durch psychotherapeutische Konzepte und Methoden beeinflusst werden. Trotzdem bleibt die Frage, wie die verschiedenen Praxen unterscheidbar bleiben. Was ist signifikant für Seelsorge im Unterschied zur Beratungsarbeit in der Kirche, oder kann man Beratungsarbeit der Kirche als Teil der Seelsorge ansehen? Welche Differenz besteht zwischen der Auseinandersetzung mit Religion im therapeutischen Kontext und der religiösen Praxis in der Kirche? Zu diesen Fragen möchte ich im Folgenden einige Überlegungen beisteuern: Zunächst möchte ich auf eine implizite Verbindung von ,Glauben‘ in einem weiten Sinn und Therapie aufmerksam machen, die meines Erachtens im Hintergrund therapeutischen Handelns wirksam wird, noch ehe es um konkrete Formen der Religiosität geht (Abschnitt 2). Das Bewusstsein für diese Dimension kann die therapeutische Wahrnehmung für die Erscheinungsformen konkreter Religiosität in der spätmodernen Gesellschaft unterstützen, wie sie auf der Basis empirischer Religionsforschung erkennbar wird (Abschnitt 3). Empirische wie objektbeziehungstheoretische Perspektiven orientieren über die Ambivalenz von Religiosität, die zu berücksichtigen für Therapie und Beratung unverzichtbar ist (Abschnitt 4). Mit Differenzierungen zwischen einer religiösen und einer therapeutisch-beratenden Praxis werden schließlich vorläufige Folgerungen im Blick auf die oben aufgeworfenen Fragen formuliert (Abschnitt 5).

2. ,Glaube‘ in der Praxis von Beratung und Psychotherapie Glauben als eine spezifische Lebenshaltung und -erfahrung kann man nicht nur explizit christlich – d. h. in einer interpretativen Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition –, sondern auch in einem offeneren Sinn verstehen. Das wird nicht zuletzt in manchen Spitzenformulierungen christlicher Theologie deutlich, die ein Glaubensverständnis von umfassender existenzieller Weite anbieten, wenn man sie aus ihrem christologischen Begründungszusammenhang löst: „Worauf du nun dein Herz hängest und verlässest,

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das ist eigentlich dein Gott“,3 lautet Martin Luthers berühmte Formulierung in seiner Auslegung des Ersten Gebotes. Das, was im Tiefsten das Lebensvertrauen gründet, was dazu bewegt, jeden Morgen aufzustehen, obwohl wir doch über alle Zwiespältigkeit des Lebens nicht hinauskommen und schließlich sterben müssen, darin zeigt sich Glaube an Gott als eine vertrauensvolle Abhängigkeit von einem letzten Grund und Halt der menschlichen Existenz. Ähnlich weit ist das Gottesverständnis Paul Tillichs, wenn er sagt: „Glaube ist das Ergriffensein von dem, was mich unbedingt angeht.“4 Auch hier erscheint Gott als ein Unbedingtes, was das Bedingte trägt, ist der Glaube eine Orientierung auf ein letztes Anliegen, in dem alle endlichen Anliegen zusammenfinden. Jenseits davon, ob sie mit einem christlichen oder einem nicht christlichen Selbstverständnis leben, können viele Menschen solche Sätze nachvollziehen. Es sind Formulierungen, die in ihrer Weite auch im Zusammenhang einer psychotherapeutischen Arbeit bedeutsam sein können, und zwar in drei verschiedenen Hinsichten: 1. Zunächst gilt das für die Orientierung und Haltung des Beraters oder der Beraterin selbst. In den therapeutischen Begegnungen mit Menschen sind nicht nur produktive Kräfte, sondern auch Trauer, Ängste, Aggression und der Sog der Resignation unablässig gegenwärtig. Um sich damit konfrontieren zu können, ist die Frage nach den eigenen tragenden Überzeugungen unvermeidlich. Was gibt die Zuversicht, die es möglich macht, dem Dunklen Raum zu geben und es auszuhalten? Woher kommen die positiven Phantasien über die Ratsuchenden, die für eine weiterführende Therapie unentbehrlich sind, die Vorstellung davon, was im Leben dieser Familie, dieser Frau, dieses Jugendlichen anders werden könnte auch gegen jeden Anschein? Und was macht Misserfolge, Aussichtslosigkeit und den Abbruch der Beratung erträglich? Ist die Wirklichkeit, die wir als schrecklich und wunderbar gleichermaßen erfahren, letztlich von Freundlichkeit bestimmt, so dass wir hoffen können? Das ist eine Glaubensfrage, die nicht empirisch beantwortet werden kann. Die therapeutische Arbeit und die im Kontext von Beratung konfrontiert nicht nur mit den Gestaltungs- und Beziehungskräften der Menschen, sondern auch mit den Abgründen des Menschlichen. Eine positive Antwort auf die Frage danach, ob letztlich etwas trägt, ist gefährdet, muss sich auch in Gefahr bringen lassen, um nicht in „die Lügen der Tröster“5 zu verfallen. Aber zugleich ist es unerlässlich, immer wieder zu einem Ja im Blick auf diese Frage zu finden, wenn man die Arbeit fortsetzen will. Das heißt, es braucht ein Suchen nach und ein Warten auf so etwas wie ,Glaube‘ im Sinn eines grundlegenden Vertrauens in das Leben und seine Zukunft. 2. Aber auch die, die eine Beratung aufsuchen, haben hinter und unter ihren Problemen etwas wie ,Glauben‘. Sie hoffen nämlich darauf, dass ihr Leben sich klären, verändern und entwickeln kann. Sie widersprechen der Aussage „Mir kann doch 3 Luther, Katechismus, 560. 4 Tillich, Wesen und Wandel, 102. 5 Luther, Die Lügen.

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keiner helfen“, indem sie den Schritt in die Beratungsstelle hinein tun. Dieser Schritt ist ja eine Entscheidung gegen die Verlockung, sich der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit und Angst auszuliefern. Er widerspricht auch der Kränkung und der Scham, allein nicht mit dem Leben fertig werden zu können, sondern angewiesen zu sein auf andere. In der Vereinbarung eines Termins für eine Therapiestunde steckt ein Vertrauensvorschuss gegenüber den Professionellen. Zugleich zeigt sich darin ein noch umfassenderes Vertrauen. Es setzt darauf, dass andere überhaupt hilfreich sein können, dass schwierige Lebenslagen sich verwandeln, wenn man sie mitteilt, dass es möglich ist, auch mit Schwerem leben zu lernen. Es ist etwas lebendig in diesen Menschen, was die Hoffnung schürt, die jetzige Situation könne nicht alles sein, was es gibt. Dieses Differenzbewusstsein – das Leben ist anders gemeint, als es jetzt ist – ist der Anfang allen religiösen Fragens. 3. Eine dritte Hinsicht ist die, dass therapeutisches Handeln auch etwas wie einen ,Glauben‘ an den Prozess der Beratung kennt. Am Anfang jeder Begegnung steht ja ein Nichtwissen, der Mut, sich auf einen unabsehbaren Weg zu begeben, der alle Beteiligten affiziert und auch in Bedrängnis bringen kann. Mit ,gleichschwebender Aufmerksamkeit‘ (S. Freud) auch abgründige Wege mitzugehen, ohne zu wissen, wo sie enden – das braucht ein Vertrauen, dass irgendwann eine Wende kommt, etwas Lebensförderliches sichtbar wird, eine neue Kraft sich zeigt, von denen man zuvor nichts wusste. Eine der Predigten Paul Tillichs endet mit den Worten: „Der Augenblick, in dem wir die letzte Tiefe unseres Lebens erreichen, ist der Augenblick, in der wir die Freude erfahren, die Ewigkeit in sich hat, die Hoffnung, die nicht zerstört werden kann, und die Wahrheit, auf die Leben und Tod gegründet sind. Denn in der Tiefe ist Wahrheit, und in der Tiefe ist Hoffnung, und in der Tiefe ist Freude.“6 Dies sind Sätze eines Theologen, gesprochen in einem Gottesdienst. Aber etwas von dem, was sie ausdrücken, kann in therapeutische Situationen übertragen werden. Denn sie formulieren den Glauben, dass neben und hinter der Arbeit nach allen Regeln der therapeutischen Kunst sich unerwartet und unvermittelt ein Drittes einstellen kann, ein „Mut zum Sein“,7 der das Weitergehen ermöglicht und inspiriert.

Immer bleiben Beratung und Therapie also Teil eines offenen Begegnungsgeschehens, das sich auf mehr gründet als auf die jeweilige therapeutische Theorie und Methodik und das mehr ist als das, was man machen kann. Dieses ,Mehr‘ ist implizit im Prozess vorhanden, in der Erwartung der Beteiligten und im Zwischenraum ihrer Beziehungen. Es muss nicht ausdrücklich werden. Es muss auch nicht christlich gedeutet werden, sondern findet sich in unterschiedlichen religiösen oder philosophischen Überzeugungen. Der Glaube an den liebenden Gott, der wider allen Anschein und alle Erfahrung am Menschen festhält und ihm Zukunft schenkt, ist aber ein starker Ausdruck solchen 6 Tillich, Von der Tiefe, 61. 7 Vgl. Tillich, Mut zum Sein.

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Vertrauens. Meines Erachtens ist es für eine therapeutische Praxis schwer, nicht anzuerkennen, dass es ein solches ,Mehr‘ gibt, und sich Rechenschaft darüber abzulegen, aus welchen Quellen sich das je eigene Vertrauen speist, das in die Arbeit mit Ratsuchenden eingeht. Diese Rechenschaft öffnet das Bewusstsein dafür, dass auch die Klientinnen und Klienten ein solches ,Mehr‘ mitbringen und unter Umständen zur Sprache bringen möchten. Über den Begründungszusammenhang und die Wurzeln des eigenen ,Glaubens‘ im hier angesprochenen, weiten Sinn nachzudenken, erhöht die Aufmerksamkeit und die Akzeptanz dafür, dass nicht selten religiöse Überzeugungen und Fragen in der Auseinandersetzung mit den Lebensthemen eine Rolle spielen, die in Beratung und Therapie im Focus stehen.

3. Erscheinungsformen von Religiosität in der Spätmoderne Religion wird im Kontext von Therapie als Religiosität bzw. Spiritualität thematisch, als „die subjektive Innenseite“8 der Religion. Das heißt, es geht um die Frage, auf welche Weise Religion für den je einzelnen Menschen oder eine Gruppe von Menschen bedeutsam ist: Welche Rolle spielt sie als Moment des Selbstverständnisses? Wie nimmt sie Einfluss auf die Lebenspraxis und das Beziehungsfeld? Wie wirkt sie ein auf Orientierungsfragen und ethische Entscheidungen? Wie prägt sie die Sicht auf die Wirklichkeit, die Sprache, die Sehnsuchtsbilder und die Abwehrstrategien? Religiosität, so haben qualitativ-empirische Untersuchungen der Religionsforschung in den letzten Jahrzehnten gezeigt, ist für die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft eine eher untergründige Dimension ihres Lebens, der man über weite Strecken des Alltags wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das gilt auch für den überwiegenden Teil der Kirchenmitglieder. Für viele aber wird diese religiöse Dimension ausgesprochen relevant, wenn lebensgeschichtliche Brüche, Übergänge, Krisen und Veränderungen anstehen. Solche Zeiten in der Biographie, in denen sich Mehrdeutigkeitserfahrungen im Alltag einstellen, sind religionsproduktiv, denn sie erfordern, dass man sich der Frage nach Sinn, Grund und Bestimmung des eigenen Lebens stellt.9 An den lebensgeschichtlichen Schwellen brechen die Fragen auf, die auch die Religion stellt.10 Es beginnt die Suche und die Sehnsucht nach einem Sinn, 8 Henning/Murken/Nestler, Einführung, 7. Die Unterscheidung der Begriffe Religiosität und Spiritualität ist unscharf. Eine mögliche Differenzierung ist es, Religiosität als subjektiven Ausdruck der Bindung an eine bestimmte Religion zu verstehen, Spiritualität als ein offeneres Selbstverständnis, das sich nicht an eine Religion binden will. 9 Vgl. H. Luther, Schmerz und Sehnsucht, 244 ff. 10 Entsprechend ist die Lebensgeschichte als „eines der impliziten Integrale der neueren praktischtheologischen Diskussion“ (Grçzinger, Religion und Lebensgeschichte, 266) bezeichnet worden.

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der tragfähig genug ist, um Verluste, Einschränkungen, belastende Konflikte auszuhalten, sich darin als heilsam erweist. Nicht selten intensiviert sich auch das Fragen nach Gott, oder es werden Erinnerungen wach an Erfahrungen und Symbole, die in der Kindheit den Alltag unterbrochen und transzendiert haben.11 Menschen entwickeln in der Auseinandersetzung mit existenziellen Konflikten ihre je eigenen, mehr oder weniger reflektierten, religiösen Ausdrucksformen. Das kann man in Interviews nachvollziehen, die im Zusammenhang qualitativ-empirischer Untersuchungen geführt wurden. Die Interviews dienen einem wissenschaftlichen Zweck, aber sie stellen ungewollt selbst eine Art therapeutischer Praxis im Umfeld religiösen Selbstverständnisses dar.12 Es ist eine überraschende Erfahrung solcher Forschung, mit welcher Bereitschaft auch kirchenferne Menschen sich auf religiöse Thematiken einlassen und viel von ihren eigenen Überzeugungen preisgeben. Das zeigt sich z. B., wenn eine ostdeutsche Ärztin, die sich selbst als kirchenfern einschätzt, in einer Lebensphase, in der Beruf und privates Leben besondere Anforderungen an sie stellen, freimütig davon erzählt, dass sie abends im Bett manchmal wie eine Art Stoßgebet denke – und das trotz aller Skepsis dem Glauben gegenüber : „So, mein Gott, hast es wieder geschafft.“13 Oder es wird sichtbar in der Wohnung einer sozial randständigen Frau, die drei Kinder allein erzieht und konstant von gesellschaftlicher Exklusion bedroht ist.14 Auf ihrem Wohnzimmerschrank finden sich die Taufurkunden und die Taufkerzen ihrer Kinder, aufgebaut wie ein kleiner Hausaltar. Die Mutter besteht zwar ausdrücklich darauf, dass niemand sie zwingen könne, in die Kirche zu gehen, und sie auch nicht vorhabe, diese nach dem Taufgottesdienst noch einmal zu betreten. Aber dass ihren Kindern durch die Taufe Akzeptanz und eine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zugesprochen wurde, ist offenkundig ein Versprechen, das für ihr Leben am Rande der Gesellschaft unverzichtbar ist. Menschen, von denen man es nicht erwartet, gehen intensiv mit religiösen Themen um und sind in erstaunlichem Maß bereit, darüber zu sprechen. Nicht selten erleben es die Forscherinnen und Forscher, dass sich die Interviewten am Schluss des Gesprächs bedanken: Es war gut, dies alles zu erzählen – unabhängig davon, dass es für einen wissenschaftlichen Zweck geschah. Die Grenze zwischen wissenschaftlicher Exploration und therapeutischer Zuwendung verwischt. Freilich haben diese Haltungen meist wenig zu tun mit einem traditionellen christlichen oder gar kirchlichen Selbstverständnis. Die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens ist für die Menschen nicht mehr in kollektiven Mustern 11 Die Bedeutung der religiösen Kindheitserfahrungen sind erneut verdeutlicht in Morgenthaler, Abendrituale. 12 Vgl. Wagner-Rau, Ein Ort der Auseinandersetzung. 13 Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen, 435. 14 Vgl. Sommer, Kindertaufe, 172 – 192.

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aufgehoben, in die sie sich mit ihren Erfahrungen mehr oder weniger fraglos einfügen können. Sie sind darauf angewiesen, eigene Antworten zu finden, die überzeugen. Und sie bestehen auch auf ihren eigenen Antworten, die sich als subjektiv plausibel erweisen. Mit dieser Entwicklung sind fraglos Freiheitsgewinne verbunden. Zugleich ist es herausfordernd, auf lebensgeschichtlich wichtige Fragen individuelle Antworten zu formulieren. Wozu lebe ich? Was gibt mir Hoffnung? Worauf kann ich mich verlassen? Wo und wie bringe ich meine Sehnsucht und meine Angst zum Ausdruck? Wie bearbeite ich die unwiderruflichen Verluste und die Erfahrungen des Scheiterns? Wie kann ich mich schließlich versöhnen mit dem, was ich geworden bin? Diese Fragen nach Grund, Sinn und Bestimmung des Lebens sind traditionell in einer kollektiven religiösen Praxis aufgehoben gewesen. Jetzt aber gehen die Individuen je für sich mit diesen Fragen um. Sie suchen Kommunikation darüber. Sie sprechen mit denen, die für sie bedeutsame Beziehungspartner sind. Sie finden Versatzstücke von Antworten in medialen Angeboten.15 Sie werden beeinflusst und verführt durch die Strategien kapitalistischer Ökonomie, die mit den Wünschen und Ängsten von Menschen spielen. Nicht zuletzt aber gehen die Fragen nach Sinn auch ein in den therapeutischen Kontext. Ja, die hohe Bedeutung therapeutischer Kommunikation ist selbst ein Ausdruck der Individualisierung. Alle sind angewiesen auf Orte, die Selbstreflexivität und Selbstsorge ermöglichen, um die Konflikte und Kontingenz des Alltags zu verarbeiten. Dies gilt vermehrt in Zeiten lebens- und familiengeschichtlicher Krisen, also dann, wenn man eine Therapie aufsucht. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass im therapeutischen Kontext die Aufmerksamkeit für die Sinn- und Orientierungsfragen wächst, die die Klientinnen und Klienten – vermischt und eingebunden in ihre konkreten Probleme – in die Beratungssitzungen mitbringen. Religiöses Fragen und Suchen ist in nicht wenigen Fällen Teil eines psychischen oder kommunikativen Problems. Aber die individuellen Voraussetzungen sind unterschiedlich: – Es gibt Ratsuchende, die mit einer lebenslangen christlichen – oder einer anderen religiösen – Sozialisation in die Beratung kommen. Ihre Religiosität ist ein selbstverständlicher – förderlicher und hinderlicher – Teil ihrer Geschichte, der Beachtung und Auseinandersetzung erfordert. – Es gibt Ratsuchende, die einen eher unbestimmten Glauben haben, aber intensiv mit religiösen Fragen und Überlegungen aus unterschiedlichen Traditionen und aus Medienangeboten umgehen. – Es gibt Ratsuchende, und vielleicht sind das sogar die meisten, die in religiöser Hinsicht einer gewissen Form- und Sprachlosigkeit unterliegen, ohne religionsfeindlich zu sein. Sie haben Fragen, aber sie haben wenig geprägte Texte, Metaphern, Rituale und andere Ausdrucksformen zur Verfügung, die ihnen zum Me15 Vgl. Knoblauch, Populäre Religion, 197 f; Nassehi, Religiöse Kompetenz, 113 – 132.

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dium werden könnten, um ihre Angst, ihre Hoffnung, ihre Trauer, ihre Schuld, ihre Dankbarkeit darzustellen. – Schließlich gibt es die, für die Religiosität klar und ausdrücklich kein Thema ist.

Wie auch immer im Einzelfall die Religiosität der Ratsuchenden aussieht, sie fordert eine eigene Stellungnahme des therapeutischen Gegenübers heraus, ohne dass diese im Gespräch geäußert werden muss. Sie zeigt sich unweigerlich implizit und zuweilen auch explizit. Die Thematisierung von Religiösem berührt alle Beteiligten, weckt Fragen, lange nicht bedachte Erinnerungen und Wünsche, oder sie provoziert Abwehr. Psychotherapie, so schreibt Helmut Radebold, erhalte „aufgrund der Übertragungskonstellation und der psychotherapeutischen Kompetenz“ häufig eine normative Funktion. „Entscheidend hierbei ist, ob Psychotherapeuten und -therapeutinnen ein bestimmtes Thema tolerieren, akzeptieren und sich für eine Fragestellung interessieren (…) oder ob sie durch ihr Desinteresse vorbewusst ein diesbezügliches Verbot vermitteln. Diese Aussage gilt selbstverständlich auch für die (…) Spiritualität.“16 Die Haltung der Beratenden zur Religion ist also prägend für den Beratungsprozess. Das ist nicht überraschend, gilt dies doch auch für andere Themen: Was der Therapeut, die Therapeutin nicht hören will oder kann, kommt auch nicht zur Sprache, obwohl es eigentlich ein wichtiges Thema wäre.

4. Religiosität als psychische Ressource und Problem In der gegenwärtigen religionspsychologischen Diskussion liegt ein Akzent darauf, die gesundheitsförderliche Wirkung von Religiosität und religiöser Praxis herauszustellen. Darin spiegelt sich die Rezeption einer Fülle empirischer Studien, die – vor allem in den USA – in den letzten Jahrzehnten angestellt wurden und die in ihrer Überzahl auf eine positive Korrelation von Religion und psychischer Gesundheit hinweisen.17 Gläubige Menschen – so ein häufig bestätigtes Ergebnis – haben eine stabilere Psyche und im Fall von psychischen Belastungen bessere Ressourcen des Copings. Allerdings ist die wissenschaftliche Valenz vieler Studien umstritten und wird insofern relativiert, als ein religiöses Selbstverständnis in den USA deutlich verbreiteter und persönliche religiöse Ausdrucksformen weitaus selbstverständlicher sind als in Mitteleuropa. Europäische Studien zum gleichen Thema liegen aber bisher nicht in großer Zahl vor, so dass die empirische Basis, um Aussagen für die deutsche Situation zu treffen, schmal ist. Generell ist es methodisch schwierig, zwei komplexe Themenbereiche wie Religiosität und psychische Gesundheit 16 Radebold, Förderung, 311. 17 Vgl. zum Folgenden Schowalter/Murken, Psychische Gesundheit.

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für quantitative empirische Untersuchungen so zu operationalisieren, dass man ihnen durch einen Fragebogen ausreichend differenziert gerecht werden kann. Dennoch: Die Hinweise darauf, dass Religiosität eine hilfreiche Ressource im Leben darstellt, sind unübersehbar. Wie kann man das erklären? Schowalter und Murken rekurrieren auf sechs religionspsychologische Hypothesen, die eine solche positive Relation zwischen Religion und psychischer Gesundheit theoretisch erklären könnten:18 – Religiosität führe meist in den Zusammenhang eines sozialen Netzes, in dem vertrauensvoller Austausch und wechselseitige Unterstützung möglich werden. So besagt es die Kohäsionshypothese. Allerdings ist dies ein Faktor, der in den sozial eng verknüpften Gemeinden der USA für mehr Menschen bedeutungsvoll ist als im lockeren Verbund einer volkskirchlichen deutschen Gemeinde. Hier wird man diese Hypothese vor allem für diejenigen in Anschlag bringen können, die mit alltäglicher Regelmäßigkeit in der Kirchengemeinde oder in einer anderen religiösen Gruppierung aktiv sind. – Religion stelle einen Erklärungszusammenhang der Wirklichkeit dar, der für die widersprüchlichen und unüberschaubaren Erfahrungen des Alltags einen integrierenden Rahmen anbietet. So die Kohärenzhypothese. Religiöse Menschen können das, was ihnen widerfährt, mit Hilfe ihres Glaubens deuten und in religiösen Vollzügen, zum Beispiel in Ritualen, Gebeten, Gesängen und ähnlichen Vollzügen, praktisch damit umgehen. – Religiöse Menschen hätten eine gesündere Lebenspraxis. Sie konsumieren weniger Rauschmittel, und sie gehen miteinander sozialer und rücksichtsvoller um, weil sie sich an religiöse Verhaltensnormen gebunden fühlen. Dadurch ist ihr Alltag weniger belastet. Das besagt die Hypothese der Verhaltensregulierung. – Im Glauben an einen liebenden Gott – so die Copinghypothese – könne sich das Gefühl reduzieren, verstörenden Erfahrungen des Lebens hilflos und ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Indem man das, was einem widerfährt, als Teil eines Lebens ansieht, das Gott so gemeint hat, sei es möglich, auch in schwierigen Lebensphasen eine vertrauensvolle Haltung aufrecht zu erhalten und sich im Gebet an Gott zu wenden. – Der Glaube daran, dass Gott einen bedingungslos annimmt und liebt – so die Selbstwerthypothese –, sei die Basis für ein positives Selbstverhältnis bzw. könne ein labiles Selbstwertgefühl stabilisieren. – Und schließlich könne Religiosität Werte und Orientierungen fördern, die es ermöglichen, sich von destruktiv und belastend wirkenden gesellschaftlichen Anforderungen – wie z. B. Jugendlichkeit, Leistungsfähigkeit, Reichtum, Erfolg – abzugrenzen und ihnen eigene Werte entgegenzusetzen.

Auch in einer theologischen Perspektive kann man diese Hypothesen bejahen: Vertrauen in die Zuwendung Gottes, die als Gnade empfangen wird und nicht ,erarbeitet‘ werden muss, Zugehörigkeit zu einer Raum und Zeit umfassenden 18 Vgl. ebd., 148 – 155.

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und – vor Ort – auch ganz konkreten Gemeinschaft, eine eigene sinnstiftende Perspektive auf die Wirklichkeit und eine entsprechende ethische Orientierung sind signifikante Merkmale eines christlichen Selbstverständnisses. Freilich muss man hinzufügen, dass der Zweifel und die Krise des Glaubens gleichermaßen Anteil am christlichen Leben haben, und zwar aus theologischen wie aus existenziellen Gründen: Der Glaube ist unverfügbar, weil Gott den Menschen unverfügbar ist. Lebenskrisen sind oft auch Glaubenskrisen, in denen das Vertrauen darauf, dass Gott die Menschen liebevoll ansieht, zusammenbricht. Man kann also nicht nur von einer Stabilisierung durch den Glauben sprechen, sondern die „unruhige“ (Augustin) und verunsicherte Seele gehört in die Glaubensgeschichte ebenso wie die vertrauensvolle. Auch religionspsychologisch lassen sich die Hypothesen umgekehrt lesen.19 Religion kann sozialen Druck erzeugen. Sie kann einen knebeln in einem engen kognitiven Rahmen, der Denkverbote und Unselbständigkeit fördert. Sie kann durch rigide moralische Richtlinien die Fähigkeit und die Möglichkeit zum Lebensgenuss einschränken. Sie kann bewirken, dass sich das Individuum gegenüber einem allmächtigen Gott ohnmächtig und hilflos fühlt. Sie kann als Angst vor Strafe, Sünde und Glaubensverlust das emotionale Leben negativ bestimmen und zu einer strengen Selbstverurteilung führen. Schließlich können auch ihre moralischen Alternativen so rigide sein, dass sie soziale Beziehungen erschweren. Die Manifestationen des christlichen Glaubens und Lebens sind eingewoben in die Muster des Menschlichen und haben damit Anteil an dem Wunderbaren und dem Furchtbaren, dem Freisetzenden und Einschränkenden, dem Ermutigenden und dem Beängstigenden, was den Menschen möglich ist. Entsprechend wirkt die Integration religiöser Orientierungen in die Lebensgeschichte verschieden. Die Qualität des Gottesbildes hat einen wichtigen Einfluss darauf, ob Religiosität die Psyche unterstützt oder aber Probleme verstärkt bzw. diese sogar verursacht. Es gibt die Gottesvergiftung ebenso wie heilsame Wirkungen des Glaubens20 – und beides ist nicht immer klar zu unterscheiden. Wenn man z. B. die Glaubens- und Lebenspraxis des Heiligen Franz von Assisi anschaut, dann ist diese am Armutsideal und am spirituellen Leiden orientierte Praxis mit Sicherheit nicht gesundheitsförderlich. Dennoch ist sie so eindrucksvoll, dass sie bis heute zur Auseinandersetzung, auch zu begrenzter Nachahmung anstiftet. Religiosität ist nicht für die psychische Gesundheit zu funktionalisieren. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Moser, Gottesvergiftung; ders., Von der Gottesvergiftung. Im Blick auf seinen eigenen Umgang mit religiösen Themen in der Psychotherapie schreibt Moser in: Utsch, Religiöse Fragen, 269: „Im übrigen ist es eine Frage der langsam gewachsenen Kultur innerhalb einer Therapie, wie und wann man bestimmte Überzeugungen vorsichtig abklopfen kann, in Frageform, oder zunächst sogar bestätigend: ,Ihr Glaube scheint mir eine wichtige Lebenshilfe“ (…). Religiös-spirituelle Fragen beziehe ich in die Behandlung ein, wenn ich sicher zu sein glaube, dass sie sich atmosphärisch oder in Übertragung und Gegenübertragung zeigen.“

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Niemand entscheidet sich dafür, religiös zu werden, weil es dem persönlichen Wohlergehen dient. Vielmehr ist eine religiöse Bindung einerseits das Ergebnis einer Sozialisation, die einen gelehrt hat, das Leben religiös zu verstehen und zu deuten. Zum anderen ist Glaube – theologisch verstanden – etwas, was einem widerfährt. Das muss kein überwältigendes Erlebnis oder eine Bekehrung sein – obwohl Menschen auch davon immer wieder berichten. Vielmehr ist theologisch zentral die Erkenntnis, dass der Glaube nicht selbst herzustellen, sondern ein Geschenk ist. So hat Martin Luther es aufgefasst: Die Wahrheit des Glaubens für das eigene Leben zeigt sich ohne menschliches Zutun. Glaube kann man sich nicht erarbeiten. Dem entspricht die Erfahrung, dass sich Gewissheit im Blick auf den tragenden Grund des Lebens überraschend einstellt und etwas Überwältigendes hat, das Dankbarkeit und Freude auslöst. Weder in psychologischer noch in theologischer Perspektive kann also eine positive Korrelation von Religiosität und psychischer Gesundheit unmittelbar in Maximen für das beratende und therapeutische Handeln umgesetzt werden. Ein wichtiger Beitrag der empirischen Studien aber ist es, aufmerksam zu machen für die Bedeutung der religiösen Dimension im Leben überhaupt. Soziale Konflikte und seelisches Leiden führen in existenzielle und ethische Fragestellungen, die für viele Menschen religiös konnotiert sind. Weil sich im Laufe der menschlichen Entwicklung Beziehungserfahrungen in psychischen Strukturen niederschlagen, die das eigene Handeln ebenso prägen, wie die Erwartungen im Blick darauf, wie andere mir begegnen werden, sind auch religiös bestimmte Beziehungen in diesen Prozess eingebunden. Die Objektbeziehungstheorie ist ein hilfreicher Referenzrahmen, um die Muster und Verbindung unterschiedlicher Beziehungsebenen miteinander ins Gespräch zu bringen. Schon früh hat die Psychoanalytikerin Ana-Maria Rizzuto nach dem Zusammenhang zwischen Gottesrepräsentanz und anderen Objektrepräsentanzen gefragt und diesen auch empirisch verfolgt.21 Dabei hat sie verdeutlicht, dass die religiösen Vorstellungen eines Menschen, die sich auf „die Welt im Ganzen“22 richten, eng verknüpft sind mit seinen Vorstellungen über einzelne Aspekte der Wirklichkeit von Beziehungen. Jeder Mensch hat sein „persönlichkeitsspezifisches Credo“23 : Auch wenn man sich innerhalb derselben religiösen Tradition bewegt, unterscheidet sich die je persönliche Religiosität von der anderer, weil sie durch die Lebensgeschichten und ihre Kontexte ein spezifisches Gesicht erhält. Die Beziehung zu mir selbst, die Beziehung zu anderen, die Beziehung zu Gott und zu den Vorstellungen und Vollzügen im religiösen Umfeld sind nicht unabhängig voneinander, sondern 21 Vgl. Rizzuto, Birth. 22 Vgl. Santer, Persönlichkeit, 251, der hervorhebt, dass Rizzuto häufiger formuliere, dass sich in der Gottesrepräsentanz die Beziehung des Menschen zur „Welt im Ganzen“ („world at large“) ausdrücke. 23 Vgl. Winkler, Seelsorge, 267 ff.

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sie stehen in einem Zusammenhang und beeinflussen sich wechselseitig.24 Die Arbeit am Gottesbild wirkt sich aus auf das Bild, das ich von mir selbst habe, und umgekehrt. Das, was mir im Vollzug eines Rituals begegnet, kann die Beziehung zu anderen Menschen durchsichtig machen. Die Bearbeitung einer Vater- oder Mutterproblematik wirkt zurück auf den Charakter der Religiosität. In religionskritischer Perspektive war dieser Zusammenhang schon bei Freud Teil der psychoanalytischen Theorie; denn er hat ja die religiösen Bindungen identifiziert mit Überresten kindlicher Wünsche und Ängste, die mit fortschreitender Bewusstwerdung und Rationalität aus dem menschlichen Leben verschwinden würden.25 Diese Sichtweise ist auch insofern zutreffend, als dass sich im religiösen Selbstverständnis Momente finden können, die psychische Belastungen und Einschränkungen verstärken oder sogar verursachen und deren unbewusste Motivation zu erhellen, befreiend wirkt. Nicht richtig aber ist es, Religiosität auf diese negativen Wirkungen einzuschränken. Denn die Religion und ihre Manifestationen stellen Beziehungsangebote, Metaphern und praktische Verarbeitungsformen zur Verfügung, die die Psyche nicht nur beklemmen, sondern ebenso erweitern und bereichern können. Sie ist nicht an und für sich lebenshinderlich oder lebensförderlich, sondern in der je eigenen Art, wie sie in die existenziellen Lebensvollzüge eingebunden wird. Sie kann Ängste und übermäßige Schuldgefühle verstärken. Sie kann auch Gewalt erzeugen. Aber sie ist ebenso ein kreativer Spielraum, ein ,Potential Space‘ im Sinn Donald W. Winnicotts, der den Menschen hilfreiche und heilsame Umgangsweisen mit den rational nicht auflösbaren Widersprüchen ihrer Existenz schenkt. Insofern ist es notwendig – und ich glaube: nach wie vor nicht selbstverständlich –, dass Beratung und Therapie offen sind für Religiosität als für eine Dimension der Lebensgeschichte, die ebenso Raum und Selbstreflexivität braucht wie persönliche Beziehungsmuster und Sexualität, Arbeit und Liebe, soziales Umfeld und materielle Ressourcen.

5. Differenzierungen Wie aber lässt sich Offenheit für Religiosität in der Beratung näher bestimmen? Zunächst scheint mir vor allem dies wesentlich: Eine Beraterin rechnet damit, dass es um Religiosität gehen kann in einer therapeutischen Begegnung, und hat Klarheit darüber, wie sie selbst zur Religion steht. Sie ist aufmerksam dafür, wo sich religiöse Themen und Fragen andeuten, sie kann 24 Vgl. Morgenthaler/Schibler, Beratung, 193 – 199. 25 Vgl. Freud, Illusion.

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ihnen zum Ausdruck verhelfen und die Auseinandersetzung mit ihnen begleiten. Offenheit heißt auch, dass es möglich ist, nach der religiösen Bindung eines Menschen im Zusammenhang einer Anamnese zu fragen, weil das unter Umständen ein bedeutsames Moment der Lebensgeschichte darstellt. Aber es könnte als übergriffig empfunden werden, wenn Beratende die Auseinandersetzung mit Religiosität offensiv initiieren würden. Die Initiative zum Einbringen religiöser Themen oder zur Frage nach religiösen Bindungen sollte vielmehr auf Seiten der Ratsuchenden liegen. Als problematisch würde ich es ansehen, wenn sich im Kontext von Beratung umstandslos die Kommunikation über Religion in religiöse Kommunikation – z. B. in der Form eines Gebetes – verwandeln würde.26 Zur Begründung dieser Bestimmungen ist die Differenzierung zwischen religiöser und psychologisch beratender Praxis unerlässlich. Die neue Intensität des Fragens nach der religiösen Dimension in Therapie und Beratung kann zuweilen den Eindruck erwecken, dass die historisch gewachsene gesellschaftliche Ausdifferenzierung von priesterlichem und therapeutischem Handeln dadurch aufgehoben werden könne, dass die Beratenden und Therapierenden nun ihrerseits priesterliche Aufgaben in ihr Handeln integrieren. Theologisch ist das in der evangelischen Kirche, die das Priestertum aller Gläubigen vertritt, grundsätzlich zwar unproblematisch. Dennoch gibt es m. E. gute Gründe, die Differenzen zwischen psychotherapeutisch und religiös begründeter Praxis zu beachten.27 Therapie und Beratung legen den Akzent darauf, Bewusstheit im Blick auf bisher Unbewusstes in der Dynamik der Kommunikation und des Erlebens herzustellen. Religiöse Praxis aber stellt den Glauben dar in Formen, die auf ein Erleben abzielen, das gerade nicht bewusst gemacht werden muss. Im Einzelnen ist diese Unterscheidung nicht völlig trennscharf: Im Vollzug eines Rituals z. B. kann mir sehr viel bewusst werden im Blick auf Lebensthemen, mit denen ich umgehe, auch wenn es nicht explizit besprochen wird. Und umgekehrt sind in einer Therapie erlebnisnahe Praxisformen wichtig, die an die emotionale Qualität der behandelten Themen heranführen. Dennoch ist es sinnvoll, dass im Kontext psychologischen Handelns primär die Reflexion des Geschehens und der Phantasien nach psychotherapeutischen Kriterien handlungsleitend bleibt. Im Vordergrund steht der lebensgeschichtliche Zusammenhang, in dem das religiöse Thema gerade jetzt in einer Beratung oder Therapie auftaucht. Im Raum religiösen Handelns dominieren hingegen die theologischen und religiösen Perspektiven, die das darstellende Handeln der religiösen Praxis als in sich wertvollen Ausdruck des religiösen Bewusstseins und der Gottesbeziehung ansehen, die auch jenseits des aktuellen Lebenszusammenhanges wichtig und wahr bleiben. Auch im professionellen seelsorglichen Handeln, bei dem der Dialog zwi26 Vgl. zu dieser Differenzierung Dressler, Religiöse Bildung. 27 Vgl. zu diesem Thema auch Raguse, Grenzübertritte.

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schen Theologie und Psychotherapie in den letzten Jahrzehnten eine Erweiterung der hermeneutischen und methodischen Möglichkeiten gebracht hat, ist es notwendig, religiöse Praxis und theologische und psychologische Reflexion über diese Praxis voneinander zu unterschieden und methodisch reflektiert aufeinander zu beziehen.28 Wer als Pfarrer oder Pfarrerin eine therapeutische Ausbildung erworben hat, wird mindestens für sich selbst, aber vielleicht auch denen, mit denen er oder sie im Gespräch ist, durchsichtig machen müssen, in welchem Begründungszusammenhang und welcher Handlungslogik man sich gerade befindet. Wer zum Pfarrer geht, erwartet keine Therapie, es sei denn, eine solche wird mit ihm verabredet. Aber alle werden dankbar sein, wenn das Seelsorgegespräch kommunikativ hilfreich und vielleicht auch mit therapeutischem Hintergrundwissen geführt wird. Wer aber in eine Beratungsstelle geht – auch wenn diese von der Kirche unterhalten wird –, hat sich entschieden, nicht die Pfarrerin oder den Pfarrer aufzusuchen. Die Erwartung richtet sich auf eine psychotherapeutische, beraterische Kompetenz. Diese Erwartung kann durchaus das Gespräch über Religion umfassen und die Auseinandersetzung mit religiösen Vorstellungen und Praxisformen. Das gilt allemal, wenn die Beratung im Kontext der Institution Kirche stattfindet. Wenn Beratung aber selbst zur religiösen Praxis wird, z. B. in der Gestalt von Meditation, Gebet etc., bedarf das einer gesonderten Reflexion und Entscheidung aller Beteiligten, weil der methodische Rahmen psychologisch reflektierten Handelns überschritten wird. Man muss aufmerksam bleiben dafür, wann die neue Aufmerksamkeit für Religiosität in eine narzisstisches Haltung umschlägt, die in der Handlungsform der Beratung „ganzheitlich“ integrieren will, was sich durch Ausdifferenzierungsprozesse voneinander unterschieden hat. Diese Ausdifferenzierung ist ja nicht nur zu beklagen, sondern auch eine (Selbst)Beschränkung der Macht und des Geltungsanspruches der jeweiligen Perspektiven und damit auch eine Begrenzung der Übertragung in der therapeutischen Beziehung. Denn es ist gut, wenn Menschen, die eine Beratung oder eine Psychotherapie aufsuchen, sich u. U. distanzieren können von dem, was sie in der therapeutischen Beziehung erleben bzw. nicht von dieser alles erwarten, was der Heilung oder Konfliktlösung dienen kann. Es ist eine Chance, dass es mit Beratungsstelle und Pfarrhaus, Gesprächen und gottesdienstlichen Ritualen, Reflexion und religiös bestimmter Meditation verschiedene Beziehungspartner, Orte und Methoden gibt, die sich für einen Umgang mit bewegenden Lebensthemen anbieten und durch deren Spezifik jeweils Unterschiedliches, einander Ergänzendes oder Korrigierendes, gewonnen werden kann. Wer Rat und Unterstützung sucht, ist dankbar dafür, wenn alle Lebensbereiche, die für das eigene Leben als bedeutsam angesehen werden, selbstverständliche Akzeptanz und Aufmerksamkeit finden. Zugleich aber darf auch die Fähigkeit

28 Vgl. Eulenberger/Friedrichs/Wagner-Rau, Gott ins Spiel bringen.

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Ulrike Wagner-Rau

der Ratsuchenden, unterschiedliche Begegnungen und Erfahrungen für die je eigene Konfliktbearbeitung zu verwenden, nicht unterschätzt werden. Insofern möchte ich im Blick auf die eingangs aufgeworfenen Fragen vorläufig folgendes Fazit ziehen: – Generell müssen religiöse Überzeugungen und Fragen als bedeutsame Dimension des Selbstverständnisses vieler Menschen Aufmerksamkeit finden im Kontext einer Beratungsarbeit, die Menschen im Umgang mit existenziellen Fragen und Konflikten unterstützen will. Zur Professionalität von Beraterinnen und Beratern gehört es, sich mit den bewussten und unbewussten Implikationen ihrer eigenen religiösen Haltung auseinanderzusetzen. Entsprechend braucht Religiosität als Thema einen Raum in Ausbildung und Supervision. – Ein Markenzeichen der Beratungsarbeit im Kontext der Evangelischen Kirche ist es, die Ratsuchenden nicht auf ein religiöses Selbstverständnis festzulegen. Gleichwohl haben Ratsuchende gerade im Raum der Kirche die berechtigte Erwartung, dass sie bei Bedarf religiöse Themen und Fragen ansprechen können. So, wie es wichtig ist, dass niemand, der Beratung in Anspruch nimmt, religiös sein muss, ist es auch wichtig, dass die, die religiös sind, dies offen sein können. – Psychologische Beratungsarbeit bewegt sich wesentlich im Modus der Kommunikation über Religion, sie ist nicht selbst religiöse Kommunikation. Wichtig aber und wünschenswert scheint es mir zu sein, Kooperationen mit Personen und Einrichtungen zu pflegen, an die man religiös Suchende gern weiter verweist und die auch in unterschiedliche religiöse Praxisformen einweisen können. – Für überlegenswert halte ich die Frage, ob es zum besonderen Profil einer kirchlichen Beratungsstelle gehören könnte, über die normale Beratungsarbeit hinaus und in Kooperation mit Pfarrerinnen und Pfarrern spezielle Angebote für eine religiös-existenzielle Beratung bzw. Gruppenarbeit anzubieten, in der die Auseinandersetzung mit der Religiosität programmatisch und konzeptionell reflektiert gesucht wird.

Literatur Dressler, Bernhard, Religiöse Bildung als Unterscheidungsvermögen, in: Blickwechsel. Religionspädagogische Einwände, Leipzig 2007, 23 – 56. Eulenberger, Klaus/Friedrichs, Lutz/Wagner-Rau, Ulrike, Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007. Freud, Sigmund, Zur Zukunft einer Illusion, GW XIV, 325 – 380. Grçzinger, Albrecht, Religion und Lebensgeschichte in der neueren praktischtheologischen Diskussion. Eine Bücherschau, in: PrTh 36 (2001), 262 – 268. Henning, Christian/Murken, Sebastian/Nestler, Erich (Hg.), Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn 2003. Knoblauch, Hubert, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt/New York 2009.

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Luther, Henning, Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: PrTh 33 (1998) 163 – 176. – Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 239 – 256. Luther, Martin, Der große Katechismus, BSLK 543 – 733. Morgenthaler, Christoph, Abendrituale. Tradition und Innovation in jungen Familien, Stuttgart 2011. Morgenthaler, Christoph/Schibler, Gina, Religiös existentielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart 2002. Moser, Tilmann, Gottesvergiftung, Frankfurt/M. 1980. – Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott – Psychoanalytische Überlegungen zur Religion, Stuttgart 2003. Nassehi, Armin, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in: Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 113 – 132. Radebold, Hartmut, Förderung von Kreativität und Spiritualität – eine Aufgabe der Psychotherapie Älterer?, in: P. Bäurle u. a. (Hg.), Spiritualität und Kreativität in der Psychotherapie mit älteren Menschen, Bern 2005, 305 – 311. Raguse, Hartmut, Grenzübertritte zwischen Seelsorge und Psychoanalyse, in: WzM 51 (1999), 462 – 474. Rizzuto, Ana-Maria, The Birth of the Living God, Chicago 1979. Santer, Hellmut, Persönlichkeit und Gottesbild. Religionspsychologische Impulse für eine Praktische Theologie, Göttingen 2003. Schowalter, Marion/Murken, Sebastian, Religion und psychische Gesundheit – empirische Zusammenhänge komplexer Konstrukte, in: Chr. Henning/S. Murken/ E. Nestler (Hg.), Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn 2003, 138 – 162. Sommer, Regina, Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung, Stuttgart 2009. Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen religiöser Selbst- und Weltdeutung. Die themenorientierten Erzählinterviews der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Bd. 1, Hannover 1998. Tillich, Paul, Der Mut zum Sein (1953), GW XI, 13 – 139. – Von der Tiefe, in: Religiöse Reden, Berlin/New York 1987, 51 – 61. – Wesen und Wandel des Glaubens (1961), GW VIII, 101 – 196. Utsch, Michael, Religiöse Fragen in der Psychotherapie. Psychologische Zugänge zu Religiosität und Psychotherapie, Stuttgart 2005. Wagner-Rau, Ulrike, Ein Ort der Auseinandersetzung über Gott und die Welt. Kasualpraxis in den Transformationen der Frömmigkeit, in: A. Kubik (Hg.), Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge, Göttingen 2011, 259 – 271. Winkler, Klaus, Seelsorge, Berlin/New York 1997.

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Gina Schibler

Nachhaltigkeit im erweiterten Bezugsrahmen Religiös-existentieller Beratung

1. Einleitung: das Beratungsumfeld Vier Erbschaften der Schwestern Psychotherapie und Kunst haben in unserem Beratungsmodell, von Christoph Morgenthaler und mir entwickelt, eine herausragende Rolle gespielt: Intentionen psychoanalytischer Kurztherapie, Systemische Therapie, Intermediale Kunsttherapie und Genderfragen. Die Religiös-existentielle Beratung ist eine Weiterentwicklung der Systemischer Beratung, indem wir weitere therapeutische und gesellschaftliche Konzepte (genauer : Genderfragen und Kunsttherapien) für die Seelsorge fruchtbar machten. Dabei nutzten wir nicht nur Impulse der Psychotherapie und Kunst für die Seelsorge und Theologie, sondern zeigten umgekehrt, dass die Theologie als Quelle von Erweiterung therapeutischer Konzepte dienen kann.1 Heute, im Jahr 2011, geht es um eine Erweiterung des seelsorglichen Konzeptes und damit um Perspektiven der Religiös-existentiellen wie auch der Systemischen Beratung. Wie soll sie sich weiterentwickeln in einem veränderten gesellschaftlichen, global oekologischen Umfeld? Welche Themen und Herausforderungen hat sie neu aufzunehmen und seelsorgliche Lösungen mit und für die Klient/innen zu entwickeln? Denn die religiösen und existentiellen Fragen, welche den Menschen unter den Nägeln brennen, handeln nicht von zeitlosen Fragen, sondern sind vor allem vom gesellschaftlichen, ja globalen Kontext der jeweiligen Zeit geprägt. Einführend dazu die Zusammenfassung vierer seelsorgerisch orientierter Gespräche, die ich kürzlich führte: 1. Richard F., ehemaliger Pfarrer, krankgeschrieben, vorübergehend in der Landwirtschaft als Knecht tätig, schildert mir unter Tränen sein berufliches Burn-out, nach eigener Aussage bedingt durch Überforderung resp. Lähmung durch Sorgen nach dem Wohlergehen der Welt, der Sorge um die Klimaerhitzung, des gegenwärtigen Umgangs mit Tieren und Pflanzen. 2. Regula B. sucht mich mit der Diagnose der Depression auf. Sie ist Mutter dreier Kinder und berichtet mir ihre Ängste um die Zukunft der Erde. „Wir sind dabei, die Lebensgrundlage unserer Kinder zu zerstören“, lautet ihr Fazit. „Ich erfahre 1 Morgenthaler/Schibler, Religiös-existentielle Beratung.

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die Kirche nicht als hilfreich dabei. Sie lässt mich mit meinen Sorgen allein, das überfordert mich, treibt mich in die Depression. Warum gelangen wir nicht von Einsicht zu Tun, warum kommen wir nicht vom Denken zum Handeln? Wenn christliche Spiritualität für diese Fragen nichts anzubieten hat, überlässt sie mich der Verzweiflung. Ich fühle mich vollkommen verlassen.“ 3. Ganz anders tönt es bei Stefan G., 24-jährig, konfirmiert, bei einer zufälligen Begegnung auf dem Bahnhof meiner Heimatgemeinde: Er erzählt von seinen Lebenszielen. Es gehe ihm gut, er sei arriviert, plane aktuell eine Reise in die Südsee. „Ich will sie sehen, solange es sie noch gibt“, fügt er grinsend an. Er scheint zwar zufrieden und finanziell gut gestellt, aber von einem tiefen Zynismus geprägt. Von der Kirche hält er nicht viel. Seelsorgliche Fragen scheint er keine zu haben. 4. Sarah Z., ca. 25-jährig, ist hingegen auf der Suche nach Spiritualität im Buddhismus. „Im Christentum spielt der versöhnliche Umgang mit der Natur keine Rolle“, erläutert sie mir. „Machet Euch die Erde untertan, lautet das Verdikt, dem bis heute gnadenlos nachgelebt wird. Mir ist das zu wenig. Ich suche Spiritualität in den Weiten der Natur und erlebe Erfüllung in Tibet, im Buddhismus.“ Sie plant, wieder nach Tibet zu fliegen.

Vier Personen, vier Begegnungen. In allen ist das Thema Ökologie irritierend bis bedrohlich anwesend. Wie gelingt es uns Seelsorgern und Seelsorgerinnen, diesen Personen spirituelle Anstösse für ihr Handeln zu geben? Meine These: Dies gelingt uns nur, wenn wir in unsere Beratung eine weitere Dimension einbeziehen, die Einbettung allen Seins in das Gesamtsystem des Planeten Erde, kurz die ökologischen Belange unseres Daseins. Seelsorge erfolgt nicht ausserhalb von diesen Systemen. Wir haben es uns als Seelsorger/innen und Klient/innen vielleicht bis jetzt nicht eingestehen müssen, weil die Einbettung unbewusst und – im Zeitalter des materiellen Überflusses – zu voller Zufriedenheit und ohne materielle Not erfolgte, doch wir sind im Grunde mit Haut und Haar von Prozessen des Lebens abhängig, insbesondere von einem gemässigten Klima auf dieser Erde. Heute kommt es im Bewusstsein der Menschheit zu einer Erweiterung der Wahrnehmung des systemischen Umfeldes: Nicht nur die Familie, die Sippe, die Genealogie, das Kollektiv, in das man sich eingebettet erfährt, das einem in Kindheit und Gegenwart prägt und das man mitprägt, ist heute im Blickfeld. Mehr und mehr geraten auch nichtmenschliche Systeme, in die wir als biologische Wesen eingewoben sind, in den Fokus der Aufmerksamkeit: das Klima, der Reichtum der Arten. Es geht um Lebensgrundlagen, welche uns die Natur zur Verfügung stellt und damit die Achtsamkeit für Prozesse des Lebens und der Vielfalt der Evolution überhaupt. Neu ist diese Erkenntnis keineswegs, bereits Albert Schweitzer schrieb: „Wir sind Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Wir sind demnach nicht nur abhängig von familiären und gesellschaftlichen Systemen, wir sind vor allem vollständig abhängig vom System Erde, gebildet und geformt von Prozessen des Lebens.

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Gina Schibler

Der bereits einsetzende bzw. absehbare Klimawandel konfrontiert viele Menschen mit den Konsequenzen ihres Tuns und des modernen Lebensstils, mit Schuld und Verantwortung. Immer mehr Menschen suchen auch aus spirituellen Gründen nach einer nachhaltigen Lebensweise. Die Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, lässt sich meiner Meinung nach nur auf Grundlage einer ökologischen Spiritualität meistern. Ich werde zeigen, welche Impulse das Evangelium für eine ökologische Spiritualität bereithält. Für die Seelsorge bedeutet das, ökologische Aspekte in ihre Religiös-existentielle Beratung einzubeziehen und Konzepte dafür zu entwickeln. Wie das aussehen könnte, werde ich ansatzweise skizzieren. Bevor ich dazu komme, werde ich einen kurzen Abriss zur ökologischen Befindlichkeit des Systems Erde geben, die sich auf die Psyche von uns Menschen niederschlägt, um deutlich zu machen, warum mich die Weiterentwicklung der Religiös-existentiellen Beratung umtreibt.

2. Einschätzung der ökologischen Befindlichkeit Die Gefahr eines bedrohlichen Klimawandels durch eine Zunahme anthropogenen CO2 in der Atmosphäre und die Tatsache des nicht-nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen ist den Fachleuten schon vor mehr als dreissig Jahren deutlich geworden und ist inzwischen wissenschaftlich belegt (vgl. die Sachstandsberichte des IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change).2 Besonders empfohlen sei die gerade erschienene detaillierte und allgemeinverständliche Darstellung der Klimaproblematik.3 Die Konsequenzen aus der Faktenlage blieben im Handeln der Menschen aus, wie die UNO-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 zeigte: Die Staatengemeinschaft konnte sich nicht auf griffige Maßnahmen zur Beschränkung der Klimaerhitzung um max. zwei Grad einigen. Für viele Experten ist die Zwei-Grad -Grenze deswegen entscheidend, weil jenseits dieser Marke mit grosser Wahrscheinlichkeit unkontrollierbare Rückkoppelungseffekte zu befürchten sind, welche die Erde für die Menschen weitgehend unbewohnbar werden.

2 IPPC, Vierter Sachstandsbericht. 3 Schwarzenbach/Mller/Rentsch/Lanz, Mensch Klima!

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3. Eine Nachhaltigkeit einbeziehende seelsorgerliche Beratung Der Klimawandel bedroht tendenziell uns alle – besonders junge Menschen und Familien, die ihren Kindern das Beste mit auf den Weg geben möchten und die nun vor beängstigenden Zukunftsszenarien stehen. Er konfrontiert uns mit historisch neuartigen Verantwortlichkeiten und der Notwendigkeit des Handelns. Er stellt unseren Lebensstil in Frage und verlangt dringend Neuorientierungen in Bezug auf Werte, Spiritualität und Achtsamkeit im Alltag. Dabei steht für die meisten von uns die Effizienz des Umgangs mit Ressourcen, mit den Gütern dieser Erde, welche Gott uns geschenkt hat, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ziel ist, sowohl als Einzelpersonen wie auch als Organisation (Kirche, Schule, Unternehmen o. ä.), kurzum als Gesellschaft einen nachhaltigen Umgang mit der Schöpfung zu erreichen. Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geborgt, wir laden deshalb gewaltige Verantwortung auf uns, wenn wir Eingriffe ohne Rücksicht auf die Generationen nach uns vornehmen. Für Christen hat das Klimaproblem einen unmittelbaren spirituellen Bezug: Wir deuten die Klimahülle als Gottes Heimstatt, als Ruach, durchdrungen von göttlichem Odem, welcher dem Leben in seiner ganzen Vielfalt, auch uns Menschen, Heimat schenkt und damit Humanität, Kultur, Religion und Mitmenschlichkeit erst möglich macht. Jeder Angriff auf die Klimahülle ist deshalb ein Angriff auf die Werte der Menschlichkeit, auf das menschliche Klima im wahrsten Wortsinn. Liegt der Kern der Krise in unserer inneren Haltung? Die erwähnte Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 legt dies nahe. Die Staatschefs waren sich zwar einig darin, vordringlich die Klimaerhitzung zu begrenzen. Und dennoch waren nur wenige bereit, konkrete Schritte zu gehen. Nicht nur auf Staaten, sondern auch auf den einzelnen Menschen trifft dieser Befund zu. Was passiert da? Wie gelingt es der Staatengemeinschaft, wie gelingt es dem Einzelnen, gute Vorsätze im Sand verlaufen zu lassen? Welcher Umgang mit Widerständen zeigt sich da aus pastoralpsychologischer Sicht? Mit dieser Frage sind wir mitten in der seelsorgerlichen Dimension des Themas angelangt. Der ursprüngliche Auftrag ist klar : Gott hat uns die Schöpfung anvertraut, sie zu bebauen und zu bewahren. Wie können wir dieses Ziel erreichen? Was hindert uns zu tun, was wir eigentlich gerne tun würden? Systemische, die Natur und damit Nachhaltigkeit einbeziehende Seelsorge muss die bedrohliche Realität des Klimawandels ins Auge fassen und, gestützt auf biblische Quellen, zu einem klimafreundlichen Handeln ermächtigen. Mein Konzept führt in zwei Schritten zum Ziel: Schritt eins (Abschnitt 3.1) macht bewusst, welche Hindernisse, welche Verweigerungen zu überwinden sind. Schritt zwei (Abschnitt 3.2) wird die konkreten Schritte auf den Weg zu einem nachhaltigen Lebensstil umreissen.

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3.1 Problemanzeige: Die Verweigerung ökologischer Verantwortung Wie gesagt, das tägliche Wetter können wir nicht beeinflussen, das langfristige Klima jedoch schon. Diese paradoxe Tatsache konfrontiert uns mit aktuellen Formen von Schuld und Verantwortung, denen frühere Generationen nicht in die Augen sehen mussten. Gut nachvollziehbar reagieren gegenwärtig viele Zeitgenossen auf den Hinweis auf die eigene Verantwortung mit Abwehr, sie verschliessen sich jeder Einsicht, verdrängen und verharren in einer überkommenen Lebensweise oder reagieren mit Depression, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und damit mit selbstgewählter Ohnmacht. Damit verhärtet sich jedoch der Einzelne, das ökologische Problem verschärft sich, individuell und kollektiv macht sich psychisch wechselseitig Rücksichtslosigkeit und Resignation breit. Erklären lässt sich das mit neurobiologisch unterlegten Abwehrmechanismen. Diese Mechanismen sind zunächst quasi wertfrei genauer ins Blickfeld zu bekommen. Moralische Appelle allein – das zeigt die Gegenwart deutlich – scheinen wenig bis nichts zu nützen. Woran liegt das? Die genaueren Beweggründe einer Verweigerung geben Aufschluss und übertragen der Seelsorge die Aufgabe, nachzufragen, um besser zu verstehen, von welchen ethischen, seelsorglichen und physischen Dilemmata der Mensch geprägt ist. Damit erlaubt die Seelsorge im Gegensatz zum moralischen Appell, zum schuldzuweisenden Weckruf, Ängste und Abwehr nicht zu verurteilen und damit zu verdrängen, sondern zu verstehen und aufzulösen. Es gibt keine andere Angstüberwindung und Widerstandsanalyse als Begleitung und anteilnehmendes Interesse. Damit vermeiden wir den moralischen Zeigefinger, den Menschen oft als Verurteilung empfinden, die sie verstärkt in den Widerstand treibt anstatt sie befähigt, ihn aufzulösen. 3.1.1 Konsensstreben und die Macht der Gruppe Hirnforschungen zeigen : Dissens ist anstrengend – das Gehirn will ihn meiden. Das Gehirn ist ein träges Stück Fleisch, es strebt auf gefährliche Weise den Konsens an. Da Dissens beschwerlich ist, werden auch Diskussionen als stressig empfunden. Anstrengung ist jedoch etwas, was unser Gehirn zu vermeiden versucht. In Hirnscans lässt sich erkennen: Wenn wir uns von Experten beraten lassen (z. B. von einem Finanzexperten), schaltet unser Gehirn auf Ruhezustand. Für unser Handeln bedeutet das : Wir stellen das selbständige Denken ab, ordnen uns lieber unter, als dass wir widersprechen, eine (unangenehme) Wahrheit nur denken oder sogar sagen. Bei Überläufern, d. h. Menschen, die sich einer Gruppe angeschlossen haben, herrscht sogar Funkstille in Regionen des Frontallappens, wo Entscheidungen getroffen werden. Aktiv sind dagegen Regionen im Gehirn, welche

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mit der Wahrnehmung beschäftigt sind. Das heißt : Die Überläufer werden vom eigenen Gehirn hinters Licht geführt. Die manipulierte falsche Antwort einer Gruppe vermag real im Gehirn des Probanden sogar ein zutreffend erscheinendes Bild zu erzeugen, das ohne Gruppendruck als falsch abgewiesen würde. Auch die Umkehrung gilt : Eine Sinneswahrnehmung verschwindet, wenn eine Gruppe ihre Existenz abstreitet.4 Das Gehirn ermächtigt häufig die Mehrheit so stark, dass wir uns ihr – von uns selbst unbemerkt – beugen, sogar wenn uns niemand dazu zwingt. Wir verraten unsere Überzeugungen mitunter, nur um in einer Gruppe nicht allein zu stehen – selbst wenn wir dieser Gruppe nicht einmal angehören. Querdenker, alttestamentlich Propheten genannt, stören die Harmonie. Insbesondere bei einschneidenden, Angst auslösenden Themen gibt es offenbar nur diese beiden Alternative: Entweder folgen wir dem Mainstream – oder bleiben unserer Meinung treu, bisweilen allein, dafür eigenständig.5 Welchen Wert hat übrigens eine einzelne dissidente Stimme in einer Mehrheit? Und gibt es so etwas wie einen freien Willen? Manche Wissenschaftler dementieren diesen nach wie vor. Doch Hirnforscher sagen uns heute: Es gibt ein Grundrauschen von ca. zwanzig Prozent freier Wille. In den anderen achtzig Prozent sind wir beeinflusst von der Mehrheit, unsere Wahrnehmung verändert sich sogar, wir beginnen wortwörtlich zu sehen, was alle sehen. Aber in einem Bereich von +/- zwanzig Prozent sind wir frei, Verantwortung zu übernehmen und Welt zu gestalten.

3.1.2 Trauer, Abwehr und Konsumismus Forschungen zeigen weiter : Sich von einem lieb gewordenen Weltbild zu verabschieden führt zu Trauer resp. zu Abwehr. Selbst in einer Krise – z. B. die ökologische Krise – werden Menschen nicht von sich heraus offener, sondern sie verharren im Gegenteil beim Alten. Einzige Ausnahme: Nur wenn es aufwärts geht, wenn die Veränderung Fortschritt verspricht, sind Menschen offen. Geht es jedoch abwärts, empfinden Menschen Veränderungen als Bedrohung und blenden sie aus. Sie meiden dann sogar solche Menschen bzw. deren Gedanken, welche die Veränderung realisieren und gesellschaftliche Reaktionen fordern.6 Diese Vorgänge beruhen auf der Weigerung, Vergangenes loszulassen, allenfalls Abschied von liebgewonnenen Gewohnheiten zu nehmen resp. Verluste zu betrauern und zu einem neuen Lebensstil zu finden. Unser Umgang mit dem Klima zeugt von Verantwortungslosigkeit. Er dokumentiert den kalten Unwillen, Schuld einzugestehen und zu einer veränderten, nachhalti4 Berns, Querdenker, 58. 5 Ebd. 6 Marris, Querdenker, 59.

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gen Lebenshaltung zu finden. Neutestamentliche Texte bezeichnen die wahren Ursachen solcher Verweigerung wahlweise als Habgier (Lk 12,13 ff), Selbstsucht, Eitelkeit oder Eigennutz (Lk 14,7ff), mit anderen Worten ein verkrustetes Gewissen und Egoismus. Menschen heute, von der Industrialisierung profitierend, verhärten kollektiv und individuell ihr Herz gegenüber den Schattenseiten des Fortschrittes, was die seelische Gesundheit z. B. durch Burnout oder Depression beeinträchtigt. Das Wertesystem, von dem das nicht-nachhaltige Konsummuster der heutigen Menschen in der entwickelten Welt geprägt ist und das in die Schwellenländer ausstrahlt, lässt sich als Credo Ich konsumiere, also bin ich auf den Punkt bringt. Dabei verformen die vielfältigen, zu schnellem Genuss reizenden Konsumangebote unser Wollen, weil durch die pausenlose Erregung des Zentrums von Angst und Stress das Individuum die Fähigkeit zu Mitgefühl und zu langfristigen, verantwortungsvollen Entscheiden verliert.

3.1.3 Mediale Informationsüberflutung – depressive Blockade des Denken Nach eine Basler Studie verursachen negative Ereignisse wie Terror-Anschläge (z. B. nine-eleven) oder Amokläufe mit vielen Opfern lang anhaltende Depressionen: Es wurden 1000 repräsentative Schweizerinnen und Schweizer befragt, die von den Ereignissen nur über die Medien erfuhren. 56 Prozent hatten vorher angegeben, nicht an Depressionen oder Stimmungen wie Hoffnungslosigkeit zu leiden. Nach der Katastrophe waren jedoch nur noch 35 % so gut gestimmt wie zuvor, die Werte normalisierten sich erst Jahre später wieder halbwegs.7 Experimentell nachgewiesen wurde, dass sich Reaktionen der Weisheit, Toleranz, Mitgefühl oder Einfühlungsvermögen nur bilden können, wenn das Gehirn unbeeinträchtigt 6 – 8 Sekunden Zeit für die Wahrnehmung eines Lebensschicksals hat, während instinktive Reaktionen wie Ablehnung, Ekel oder Angst in Sekundenbruchteilen ablaufen.8 Bei der gegenwärtigen Informationsflut bedeutet dies: Negative Nachrichten, die schnell auf uns einprasseln, wecken kein Mitgefühl, sondern Erregung und Begierde auf Katastrophen. Unser Hirn kann nur dadurch auf die Schnelle die Datenflut zur Kenntnis nehmen, indem es Mitgefühl, Verantwortung, soziale Fähigkeiten und Weisheit auf der Strecke lässt. Zusätzlich zeigen Experimente, dass Menschen unter Stress zu Gewohnheitstieren erstarren – selbst wenn dies schadet. Nicht gestresste Versuchspersonen schaffen es leichter, ihr Verhalten an veränderte Situationen anzupassen und zweckmässig zu handeln. Chronischer Stress schaltet gar unser Denken aus. Das führt zu einem Dilemma: Die Szenarien der Klimaforschung konfrontieren uns mit beunruhigenden Einsichten, wel7 Tages-Anzeiger, 7. Januar 2010. 8 Carr, google, 16.

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che enormen Druck auslösen. Genau diese Belastung verführt uns jedoch dazu, verstärkt an gewohnten, schädlichen Lebenshaltungen festzuhalten. Wer das Gefühl hat, kaum Einfluss auf sein Schicksal zu haben, aber davon ausgehen muss, dass jederzeit alles Mögliche passieren kann, gerät leichter in eine Depression. Auch posttraumatische Störungen nehmen zu. Die mediale Berichterstattung zur globalen Klimaerhitzung dürfte sich vergleichbar auswirken, vermutlich sogar in stärkerem Masse. Denn diese Bedrohung liegt nicht jenseits unserer Verantwortung, sondern ist menschengemacht, was die Betroffenheit verstärkt: Schlechte bzw. bedrohliche Klima-Nachrichten machen Menschen vermutlich depressiv, sie führen zu mehr Arztbesuchen, Medikamentengebrauch – und sie steigern leider nicht ohne Weiteres unsere Fähigkeit, unser Verhalten zu ändern. Nachrichten über bedrohliche Klimaentwicklungen können – unsorgfältig vermittelt – paradoxerweise Lethargie und Passivität vergrössern anstatt zu Handeln zu motivieren.

3.2 Seelsorgerliche Unterstützung für einen nachhaltigen Lebensstil In der Seelsorge helfen wir Menschen, als Christen Profil zu zeigen, Ichstärke zu entwickeln, Tatkraft und Überwindungskompetenz zu stärken, um nach Möglichkeit zu einem nachhaltigen und zukunftsfähigen Lebensstil im Individuellen wie – ebenso wichtig – im Gesellschaftlichen beizutragen. Jeder individuelle kleine Schritt führt gemeinschaftlich zu einem riesigen Sprung, so wie viele kleine Bäche und Flüsse der Welt riesige Ströme bilden, die sich ins Meer ergiessen.

3.2.1 Vom evangelischen Umgang mit Widerständen In der Seelsorge begegnen wir der Hilflosigkeit von Menschen angesichts der gewaltigen Herausforderungen. Die individuellen und kollektiven Widerstände erscheinen unüberwindbar. Die christliche Tradition bietet seelsorgliche Möglichkeiten an, diese Blockaden zu überwinden, indem sie ermutigt, um Vergangenes zu trauern, Abschied zu nehmen und neue Lebenswege zu wagen. Als Seelsorgerin weiss ich: Erst die Anerkennung der eigenen Verantwortung und Schuld sowie das Bewusstwerden der Angst vor dissidentem Verhalten gewährt Befreiung und führt zu adäquaterem Verhalten (Metanoia, Sinnes- und Haltungsänderung). Welche Wege zu Versöhnung und Veränderung unseres Verhaltens liefert eine seelsorgliche Sicht?

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3.2.2 Trauer um die eigene Mitschuld Sich als Mittäter der Klimakrise zu begreifen und seine Mitschuld anzuerkennen heißt letztlich, Freiräume für Verhaltensänderungen zu gewinnen. Christus warnt uns vor dem Tod am Brot allein: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert oder Schaden nimmt?“ (Lk 5,29). Die Klimakrise bedroht nicht nur die Zukunft unserer Kinder, sie beschädigt auch unsere Seele – nur spüren wir dies nicht unbedingt. Haben wir möglicherweise unser Gewissen an den Konsum verkauft resp. ans Materielle überantwortet? Uns das ohne Wenn und Aber einzugestehen führt zu Prozessen der Trauer, die erfahrungsgemäss durch viele Gefühle und Stadien führen: Verharren wir im Zustand des Schocks, der Weigerung und Verdrängung bzw. beim Nicht-Wahrhaben-Wollen? Oder tauchen wir bereits ein ins Land der mit Macht aufbrechenden Emotionen? Erleben wir uns wahlweise überflutet von Trauer oder von Angst, manchmal gar erfüllt von Wut und Hader auf die Untätigkeit der Verantwortlichkeiten? Erfasst uns bisweilen purer Schmerz um die Zukunft unserer Kinder?9 Es gibt keinen Weg an diesen – schmerzhaften und unangenehmen – Gefühlen vorbei. Nur so betreten wir das Land des wiedererstarkenden Vertrauens und des neuen Weltbezugs. Die Güter des Lebens werden uns – bewusst genossen – wieder kostbar. Die Einsicht in die Endlichkeit der Ressourcen der Erde lehrt uns – parallel zu der Erfahrung der Endlichkeit des Daseins – wie einzigartig das Leben ist. Die Klimahülle ist ein derart einmaliges Geschenk der Evolution, als dass wir mit ihr fahrlässig umgehen sollten.

3.2.3 Vom evangelischen Umgang mit Angst Wir alle haben Angst, auch als Christen sind wir nicht vor Angst gefeit. Deshalb müssen wir den konstruktiven Umgang mit Angst lernen. Das bedeutet, Angst weder zu verdrängen noch in Panik zu verfallen, sondern sie auszuhalten. Können wir es wagen, der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Meinung, dem eigenen Glauben treu zu bleiben – auch angesichts von Widerstand? Wer die Maxime beherzigt Wenn dein Herz klopft – rede! wandelt sich von einem Vielschwätzer oder – das Gegenteil – einem Schweiger zu einem Zeugen der Wahrheit. Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen – und werdet meine Zeugen sein gilt auch in Bezug auf die unangenehme Wahrheit des menschengemachten Klimawandels. Jesu Botschaft der Bergpredigt lädt uns zwar ein, uns nicht von Sorge zerfressen und von Angst lähmen zu lassen – doch diese Botschaft entfaltet ihre Kraft erst dann, wenn 9 Schfer, Trauer, 80 – 85.

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wir uns unserer Verantwortung bewusst werden. Vorher – in der Phase der Verdrängung – sind wir unempfänglich für sie, wehren sie ab. Die Gefahren der Moderne rufen nach aktuellen Formen des Helden- und Märtyrertums. Der patriarchale Macho, der furchtlos und besonnen zugleich gegen die Wildnis, wilde Tiere und unbekannte Gefahren kämpfte und bereit war, dafür sein Leben zu opfern, hat ausgedient: Wir haben die Wildnis dezimiert und sie nach unserem Bild gestaltet, die wilden Tiere haben angesichts unserer technischen Möglichkeiten ihren Schrecken verloren. Das einst nützliche männliche Heldentum degeneriert heute dagegen zur Sucht nach dem Adrenalinkick durch Angsterleben, zu automobilen Geschwindigkeitsexzessen, Gewaltbereitschaft und unmässiger Risikobereitschaft in Sport und Freizeit. All dies erfordert nicht mehr wirklichen Mut und den Einsatz körperlicher Kräfte – Fähigkeiten, die einstmals den männlichen Selbstwert förderten – sondern Ersatzbefriedigung und männliche Pseudoidentität. 3.2.4 Dissens riskieren – prophetisch-zeichenhaft handeln Die Bereitschaft zur Hingabe an übergeordnete Ziele und Aufgaben angesichts des drohenden Klimakollapses ist gefragter denn je: Mutige Frauen und Männer, die Angst, Egoismus, Partikularinteresse und Bequemlichkeit überwinden und für das Gemeinwohl einzustehen bereit sind. In nachhaltiger Seelsorge lernen Menschen, eine eigene Stimme zu erlangen, sich zu engagieren bzw. exponieren. Sie lernen, kritische Themen einzubringen und es gelingt ihnen zunehmend besser, auf innere Stimmen, ja auch auf Christi Ruf hören. Christus hat Menschen jahrtausendelang inspiriert, sich selber treu zu bleiben und auch angesichts von Verfolgung und Widerstand eine eigenständige Position beizubehalten – warum in der ökologischen Seelsorge nicht daran anknüpfen? Was auch immer uns die nötige Unabhängigkeit und Eigenständigkeit verleiht, um angesichts eines verführerischen, gesellschaftlich hoch akzeptierten Lebensstils der Verschwendung eine dissidente Position zu vertreten: Würdigen wir diese Ressource! Helfen wir mit, Selbstentmächtigung und Delegation von Verantwortung an Experten zu vermeiden, denn das führt nur dazu, das eigene Denken abzuschalten. Als evangelische Christen vertreten wir das Priestertum aller Gläubigen, es gibt kein religiöses Oberhaupt, welches Unfehlbarkeit für sich beansprucht und keine kirchliche Hierarchie, die alles besser weiss als wir. Das gibt uns den Mut, die Verantwortung und die Pflicht zum eigenen Weg und zum mutigen, bisweilen prophetischen Wort. Zudem nützen wir die Kraftquelle der Gemeinschaft seelsorglich zu wenig. Die Schärfung des (ökologischen) Gewissens als Kraftquelle der christlichen Gemeinschaft haben wir irgendwie aus den Augen verloren. Wir fördern ja vielleicht noch das individuelle Unrechtsbewusstsein, der billige Stossseufzer spricht davon: Wir alle leben auf zu grossem Fuss. Doch wir tun zumeist nur im

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stillen Kämmerlein etwas dagegen. Seelsorger und Seelsorgerinnen versäumen es, die Kraft der Gemeinschaft als Gegenkraft zu mobilisieren. Dass heute Menschen – von der Kirche allein gelassen – ihre zeitlichen und finanziellen Ressourcen zu oft nur dazu nutzen, um in virtuelle Welten abzutauchen resp. die letzten Paradiese vor ihrer (angeblichen oder tatsächlichen) Zerstörung heimzusuchen anstatt Verantwortung zu übernehmen, ist im Grunde verständlich, ist doch die Aufgabe, vor der die Menschheit steht, für den Einzelnen furchterregend. Doch wir als Kirche lassen Menschen seelsorglich im Stich, wenn wir das Thema ausblenden. Wir geben Menschen in ihrer Angst, Abwehr und Verdrängung verloren und überlassen sie schutzlos dem flüchtigen Trost der Medien. Erst die Handlungsspielräume, welche die Gemeinschaft eröffnet, helfen, Vereinzelung zu überwinden, zu gemeinsamem Handeln zu finden und uns von Gefühlen der Ohnmacht, Lähmung und Resignation zu erlösen. Seelsorge stärkt jedoch auch den Spielraum des Einzelnen. Was kann ein Einzelner schon ausrichten, sagen wir bisweilen pessimistisch. Doch Nachfolge Christi hiess und heißt immer, einen eigenständigen Weg zu gehen, wenn auch nicht alleine, sondern im Geist Christi und in der Gemeinschaft von Christen. Dabei handelt es sich nicht um einen Zusammenschluss Gleichgeschalteter, sondern von Eigenständigen. Die biblischen Texte stellen uns ein Amt und eine Aufgabe zur Verfügung: Das Amt des Propheten und die Aufgabe der Willenserziehung. Propheten sind quasi die religiöse Variante des Querdenkers: Sie wagen, den Finger auf wunde Punkte zu legen, sie nehmen keine falschen Rücksichten, sie beziehen Stellung und Position und bringen ethische Fragen zu Gehör. Die prophetische Dimension der Botschaft Christi ist angesiedelt im Freiraum des menschlichen Handelns. Seelsorge hilft Menschen, diesen Freiraum zu erobern und mit nachhaltigem Leben auszufüllen. 3.2.5 Gute Entscheidungen treffen Mit dem Center for Research on Environmental Decisions an der Columbia University in New York City wurde eines der grössten Sonderforschungsprojekte der USA über Umweltverhalten gegründet. Die Wirtschaftspsychologin Elke Weber leitet dieses Forschungsprojekt. Im Interview sagt sie: „Wir suchen nach Wissen, mit dem wir Menschen helfen können, bessere Entscheidungen für den Umwelt- und Klimaschutz zu treffen. Wie können wir die verbreitete Haltung Nach mir die Sintflut überwinden?“ Das eigentliche Problem liegt nach ihren Forschungen unter anderem darin, dass wir zu viele widersprüchliche Ziele gleichzeitig verfolgen. „Menschen vergessen in Umweltfragen oftmals, was ihnen selbst wichtig ist, weil sie sich die eigenen Ziele und Werte nicht immer bewusst machen.“ Beispiel: Wir wollen unseren CO2-Ausstoss verringern. Aber wir wollen ebenso aus Bequemlichkeit Auto fahren, um Joggen zu gehen. Wenn wir diese

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gegensätzlichen Ziele gleichzeitig verfolgen, gewinnt in der Regel die Bequemlichkeit und das Greifbare. Wir vergessen im Konkreten oft unsere übergeordneten Ziele. „Welches Ziel dann eine Entscheidung tatsächlich beeinflusst, hängt davon ab, worauf wir uns gerade konzentrieren, welches Ziel im Hirn konkret aktiviert ist.“10 Jede Entscheidung für etwas ist gleichzeitig eine Entscheidung gegen etwas, ist also mit Verzicht und Verlust verbunden. In Experimenten zeigte sich: Menschen halten sich potentiell zu viele Optionen offen. Wir haben Angst davor, eine Tür definitiv zu schliessen. Doch damit vertun wir uns zumeist, wie Experimente mit einer Computer-Simulation zeigen. In einer Variante des Experimentes verschwanden Türen, die nach zwölf Klicks nicht geöffnet worden waren, für immer vom Bildschirm. Was zur Folge hatte, dass die Teilnehmer ganz nervös von einer Tür zur anderen hetzten. „Besessen von dem Versuch, zu verhindern, dass sich eine Tür schloss, erzielten unsere Teilnehmer wesentlich geringere Gewinne als die Studenten, die es nicht mit verschwindenden Türen zu tun hatten. Es war nämlich so, dass sie mehr Geld hätten verdienen können, wenn sie sich einen Raum auserkoren hätten, egal welchen, und einfach dort geblieben wären.“11 Mit anderen Worten: Auf der Suche nach dem grösstmöglichen Glück, nach der individuellen Erfüllung, verzichten wir möglichst auf keine Konsumoption – setzen uns damit aber erheblich unter Druck. Intensiv beschäftigt mit der individuellen Glückssuche, lassen wir den Gedanken nicht zu, dass möglicherweise die kollektiven Grundlagen des Glücks (ein lebensfreundliches Klima stellt gewiss so etwas dar) in Frage gestellt sind und deren Abhandenkommen uns längerfristig die grösseren Einbussen auch an individuellem Glück bescheren. Um fähig zu sein, in nachhaltiger Perspektive zu leben, müssen wir langfristig denken, planen und entscheiden lernen. Susy Welch hat dazu eine interessante Regel entwickelt, welche nachhaltige Denkweisen zu stärken vermag. Bei jeder Entscheidung sollten wir uns fragen: Wie fühle ich mich damit in zehn Minuten, in zehn Monaten und in zehn Jahren?12 Diese Regel hilft, die Relevanz der Klimagefahr in unserem Alltag und in der Lebensplanung gebührend zu berücksichtigen und Fehlentscheide und Impulskäufe zu vermeiden. Sich übergeordnete Klimaziele zu setzen hilft zudem, sich innerlich nicht zu verzetteln. Doch das allein genügt nicht. Dieses Ziel täglich zu reflektieren ermöglicht es, gegen die Tendenz des Vergessens anzukämpfen. Proaktive Investitionsentscheide verhelfen dazu, langfristig Dilemmata zu verringern (z. B. Häuser isolieren, energieeffiziente Autos erwerben, kein Ferienhaus, weniger Besitz). Die Klimakrise fordert uns auf, in Bezug auf persönliche Ansprüche Prioritäten zu setzen: Was ist wirklich wichtig? Ist meine 10 Weber, Vergessene Katastrophen, 28. 11 Ariely, Denken, 22. 12 Welch, 10 Minuten.

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Sehnsucht CO2-neutral zu haben? Eine weitere Kraftquelle liegt darin, seine Ziele zu entrümpeln. Wenn wir zu viel aufs Mal wollen, werden wir nicht zu dem kommen, was wirklich wichtig ist. Die Klimakrise fordert uns heraus, einzielig zu werden, was nicht gleichzusetzen ist mit Uniformität – im konkreten Vollzug wird es Tausende von Wegen geben, das Ziel zu erreichen. Das Streben nach Klimaneutralität an erste Stelle zu setzen ist zudem nur scheinbar ein Verzicht. Langfristig führt dies zu einer Fülle sinnstiftender Effekte für Menschen, Tiere und die ganze Welt. Hat man den Vorteil eines klimaschonenden Lebensstil entdeckt, wird der Vorgang zum Selbstläufer : Er belohnt sich selbst durch die Erfahrung von Sinn, Sinnlichkeit und Selbstwert. Möglicherweise gelangen auch suchthafte Tendenzen zur Ruhe: nach Dingen, nach Kitzel, nach Zerstreuung, nach ständig Neuem, nach leerem Luxus. Im Bewusstsein um die Dringlichkeit und Möglichkeit des Handelns narkotisieren wir nicht mehr länger unsere Seele, liquidieren nicht mehr unsere Verantwortung. Gewissensbissen, spürbar in Verstimmungen, in Melancholia, ertränken wir nicht in Alkohol, überdecken wir nicht mit Medikamenten. Wir, zutiefst heilsbedürftige Menschen, müssen nicht mehr suchen, sondern erfahren uns geborgen im verheissenen Leben in Fülle.

3.2.6 Sinngebende Entscheidungen für immaterielle Werte Poetisch gesprochen: Christus ruft uns erneut in die Nachfolge. Kommt, folgt mir nach. Es winken euch weder Silber noch Gold, kein Urlaub im Luxushotel, kein ultimativer neuer Genuss, kein Prestigegewinn durch Statussymbole. Aber weniger ist mehr! Die besten Dinge sind frei, lasst nicht zu, dass sie vereinnahmt oder zerstört werden: sauberes Wasser, ein gutes Klima, Luft, Sonne, die Liebe Gottes. Befreit euch zum Leben in Fülle, zur Wahrnehmung der eigenen Gefühle, zum Bekennen von Schuld jenseits von Verdrängung und zu frischer Tatkraft. Verkrümmt auch nicht in der Gier nach Haben, erstarrt nicht im Zorn oder Lähmung über Verlust und das Verspielte, versteinert nicht im Tod am Brot allein. Ein klimaneutraler Lebensstil verurteilt niemanden zu dürftiger Askese, sondern ermöglicht im Gegenteil die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit und der Gemeinschaft, des Reichtums jenseits der Verödung unserer Seele durch Katastrophenmeldungen und Erlebnissucht. Die neuen – ewig uralten – evangelischen Luxusgüter Zeit, Raum, Gemeinschaft und Beziehung setzen in stolzer Herausforderung den ihrerseits uralten Götzen Besitz und Status neue Werte und Traditionen entgegen und ermöglichen Verwurzelung und Sinnstiftung. Derzeit führt eine subtile Beeinflussung der Konsumenten (Werbung, Setzen von Trends und Werten) dazu, sich einseitig an materiellen Werten zu orientieren. Warum nicht zum Wertewandel beitragen, indem man es als schick und trendy hinstellt, einen

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nachhaltigen Lebensstil zu pflegen, z. B. ein Auto mit max. drei Liter Verbrauch zu besitzen? Wenn wir unserer Seele das Luxusgut Zeit als Allheilmittel gegen die moderne Reizüberflutung schenken, wächst sie an Anteilnahme und Weisheit, Voraussetzung für einen nachhaltigen Lebensstil. Zuhören, liebevolles Nachdenken und Reflektieren, auch das Leisten von Nachbarschaftshilfe, Zusammenarbeit, Anteilnahme, Freiwilligenarbeit, Fürsorge für konkrete Einzelne und ausgewählte Projekte helfen Menschen, Mitgefühl und Anteilnahme zu entwickeln. Seelsorge per se ist darüber hinaus schon Gegenprogramm genug: nicht mehr darauf fokussiert, gierig und schnell Katastrophenmeldungen zu konsumieren, ist ihr Fokus Anteilnahme, Empathie, Verständnis und konkrete Hilfe. Zusätzlich betont die kirchliche Praxis den Sinn, sich Zeit zu gönnen für (biblische) Weisheit. Meditation, das persönliche Gebet, ja die tägliche Bibellese, das besinnliche Nachdenken, der tägliche heilsame Kontakt mit der Natur, die Feier der Gemeinschaft in Gottesdiensten – alles dies stellen grossartige Mittel dar, sich Zeit für Anteilnahme und Empathie zu schaffen. Spirituelle Praktiken, inspiriert vom Neuen Testament, ergänzen zudem unsere moderne Ferienindustrie. Jesus suchte den Rückzug in die Wüste, auf den Berg, gerade weil ihn viele Heilsuchenden bedrängten. So kann es auch für uns bisweilen sinnvoll sein, das mediale Trommelfeuer zu meiden und auf Pilgerschaft zu gehen, um ethisch nicht abzustumpfen. Sich nicht alles Elend der Erde vor Augen zu führen wirkt bisweilen ebenfalls hilfreich. Sich für ein einziges Projekt zu entscheiden und konkret mitzuhelfen, ist zumeist psychisch gesünder, anstatt sich für alles und nichts zu interessieren.

3.2.7 An die Zukunft denken – gegen Verlustaversion „Es ist ein Gesetz im Leben: Wenn sich eine Tür vor uns schliesst, öffnet sich dafür eine andere. Die Tragik besteht jedoch darin, dass wir den Verlusten nachtrauern und die soeben geöffnete Tür nicht beachten.“ (Andr Gide). Menschen mit gesundem Gottvertrauen bauen darauf, dass auch bei Verlusten immer wieder eine neue Tür aufgeht. Das hilft ihnen, sich von der Vergangenheit zu lösen und die Augen offen für neue Türen zu haben. Die Metanoia, zu der uns Jesus mit seinem provozierenden Ruf Du musst dein Leben ändern! aufruft, betrifft uns heute als Einzelne wie als Gemeinschaft, als Nation wie als menschliche Gattung und bedeutet nichts weniger als Wählt das Leben – und nicht den Tod. „Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen.“ (Dtn, 30,19)

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4. Das Potenzial einer Ökologie einbeziehenden Seelsorge Religiöse wie existentielle Fragen, welche Menschen unter den Nägeln brennen, sind mitgeprägt vom gesellschaftlichen, ja globalen Kontext der jeweiligen Zeit, so meine eingangs aufgestellte These. Seelsorgliche Fragen in Zeiten der Emanzipation der Frauen in der Kirche (1968 und später), aufgenommen in der Genderperspektive der religiös-existentiellen Beratung, lauten anders als seelsorgliche Fragen von kirchlich verwurzelten Menschen von heute, die von der Sorge um ein sich erhitzendes Klima geprägt sind. Die übliche Trennung individuelles Seelenheil – Gemeinwohl ist nicht wirklich hilfreich. Die aktuelle Klimakrise zeigt deutlich auf: Privates Seelenheil resp. seelischspirituelle Gesundheit in einer sich erhitzenden, zukünftige Lebensgrundlagen infrage stellenden Welt ist nicht möglich. Seelsorgliche Begleitung hat – neben den vielen weiteren Fragen, welche Menschen in der Beratung nach wie vor zu erörtern wünschen – heute Menschen zu helfen, Kraftquellen zu mobilisieren für die Überwindung der kollektiven und individuellen Trägheit des Herzens gegen den notwendigen Umbau des Lebensstils und damit der Industriegesellschaft. Zusätzlich verhilft sie in einer am Individuum ausgerichteten, individualistischen Zeit zur Widerentdeckung von uralten christlichen Kraftquellen. Nur gemeinschaftlich in welcher Form auch immer – als Gemeinden, Nationen, Religionen, Konfessionen, aber auch als Kontinente und Machtblöcke in Kooperation – werden Menschen die Tatkraft entfalten, die Klimaerhitzung wirksam zu beschränken; nur gemeinschaftlich werden sie die Solidarität aufbringen, besonders verwundbare Einzelne wie Nationen (gemäss Prognosen werden ausgerechnet Staaten in Afrika, die am wenigsten zum CO2Ausstoss beitrugen, am meisten von der Klimaerhitzung betroffen sein) befähigen, sich anzupassen. Es genügt zudem nicht, diese Aufgabe den gesellschaftlich Verantwortlichen allein zu übertragen: Zu gross ist die Gefahr, als Einzelner in Passivität oder sogar Ohnmacht und Lähmung zu verharren, zu intensiv spüren Einzelne ihre Verpflichtung zu Mitverantwortung. Ohne die Mobilisation der Kraft der Gemeinschaft jedoch erstarrt der Einzelne in Selbstüberforderung, wie kompetent auch immer er in der Seelsorge von uns Berater/innen begleitet wird. Die am Anfang dieses Artikels geschilderten vier seelsorglichen Beispiele sind deshalb nicht zufällig, sondern repräsentieren weit verbreitete fehlgeleitete Grundhaltungen: Selbstüberforderung, Zynismus, Lähmung, Depression und Hoffnungslosigkeit. Sie repräsentieren damit auch nicht nur die Erkrankung von einzelnen, sondern offenbaren den Schatten einer Zivilisation, welche die Entschlusskraft des projektiven Handelns und der Übernahme von Verantwortung verloren zu haben scheint. Die vier Seelsorgebeispiele weisen jedoch auch auf die spirituelle Chance hin, individuell und kollektiv Glaube, Liebe, Hoffnung, überquellende Gnade (als Gegenpol zur Selbstüberforderung) und Entschlusskraft wiederzuerlangen.

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Literatur Ariely, Daniel, Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen, München 2008 (auch in Psychologie Heute 2, Weinheim 2010, 22ff). Berns, Gregory, Querdenker (Ein Loblied auf den Störenfried), GEO 2, Hamburg 2010, 58. Carr, Nicholas G., Is google making us stupid?, Atlantic Monthly 7/8, 2008 (auch in Psychologie Heute 2, Weinheim 2010). Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Vierter Sachstandsbericht, Bern/Wien/Berlin 2007. Marris, Peter, Querdenker, GEO 2, Hamburg 2010, 59. Morgenthaler, Christoph/Schibler, Gina, Religiös-existentielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart 2002. Schfer, Otto, Trauer und Zuversicht/Energie und spirituelle Prüfungen, Geist und Klima, Zürich 2008. Schwabe, Lars/Wolf, Oliver T., Stress prompts habit behavior in humans, Journal of Neuroscience 29, 2009, 7191 – 7198 (auch in Psychologie Heute 2, Weinheim 2010). Schwarzenbach, Ren/Mller, Lars/Rentsch, Christian/Lanz, Klaus (Hg.), Mensch Klima!, Baden 2011. Weber, Elke, Vergessene Katastrophen. Warum wir uns in wirtschaftlichen Situationen oft falsch entscheiden, Psychologie Heute 2, Weinheim 2010, 28 ff. Welch, Susy, 10 Minuten, 10 Monate, 10 Jahre. Die neue Zauberformel für intelligente Lebensentscheidungen, München 2009.

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Anne M. Steinmeier

„Gedächtnis haben wir, Erinnerung sind wir.“1 Eine Annäherung an Lou Andreas-Salom

„Es ist gewiß nicht oft vorgekommen, daß ich eine psa. Arbeit bewundert habe, anstatt sie zu kritisieren“,2 kommentiert Sigmund Freud das Werk von Lou Andreas-Salom. Dennoch blieb ihre Arbeit lange unbekannt, interessanter schien ihr Leben, ihr nie ganz für die Öffentlichkeit aufgeklärtes Verhältnis zu Nietzsche, ihre Liebesbeziehung zu dem jüngeren Rilke. Anlässlich ihres 150. Geburtstages im Februar 2011 hat sich das Interesse für das eigene Werk dieser Analytikerin der ersten Stunde verstärkt.3 Die Arbeit, auf die sich Freud bezieht, konzentriert sich in ihrer ihm gegenüber kritisch begründeten Konzeption eines „narzisstischen Doppelphänomens“, die sie 1921 in einem Aufsatz mit dem Titel „Narzißmus als Doppelrichtung“ dargelegt hat. Mich interessiert das Werden dieses Gedankens und sein Potential, in dem spätere Relecturen Freuds angelegt sind. In religionspsychologischer Orientierung werden Wege gegangen, die in vielfacher Hinsicht gegenwärtige Lektüren im interdisziplinären Diskurs der Sorge um die Seele vorbereiten. In kritischer Absetzung von Freud versteht Andreas-Salom Narzissmus nicht nur als „primitive(n) Ausgangspunkt der Entwicklung“, sondern als Basis „bis in alle späteren Objektbesetzungen der Libido hinein“. Nicht auf ein einzelnes Libidostadium beschränkt, begleitet der Narzissmus „als unser Stück Selbstliebe alle Stadien“.4 Dabei zieht das „Doppelphänomen“ des Narzissmus einen „Bindestrich zwischen erlangter Einzelhaftigkeit und deren Rückbezug“ auf das, was sie „Urzustand“ nennt, „dem wir, entsteigend, dennoch einverleibt“ bleiben, gleich einer Pflanze, die „trotz ihres entgegengesetzt gerichteten Wachstums ans Licht“ dem Erdreich verbunden bleibt.5 Wie ist das zu verstehen? Auf psychoanalytischer Seite wurde in früheren Rezeptionen die Betonung und Konzeptionierung des Narzissmus als „philosophischer Ballast“ empfunden, an dem Andreas-Salom sich „abgearbei1 Andreas-Salom, Narzißmus, 214. 2 Pfeiffer (Hg.), Sigmund Freud – Lou Andreas-Salom, 213. Diese briefliche Äußerung Freuds bezieht sich auf ihre „Festschrift“ „Mein Dank an Freud“ zu Freuds 75. Geburtstag. 3 Vgl. z. B. Wieder, Psychoanalytikerin; Vuilleumier, Heim und Unheimlichkeit. Als frühe Auseinandersetzungen in Konzentration auf das Werk sind v. a. Kronauer, Ikone und Gropp, Lou Andreas-Salom zu würdigen. 4 Andreas-Salom, Narzißmus, 191. 5 Ebd., 192.

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„Gedächtnis haben wir, Erinnerung sind wir.“

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tet“ hat.6 Eine Haltung, die ein vorwiegend klinisches Interesse nur wenig überzeugen konnte.7 Demgegenüber steht eine Würdigung im Horizont eines Verständnisses, das Psychoanalyse als Möglichkeit erfasst, durch das Ergründen unbewußter Prozesse den Menschen (also auch sich selbst) in seinem „Lebenszusammenhang“ zu erfassen: die Einheit des Lebens als Einheit von Denken und Fühlen, von Geist und Körper, von „Geschlecht und Ich“ mit der historischen Dimension der individuellen und kollektiven Entwicklungsgeschichte.8

Auf diesen Spuren wird in jüngster Zeit im Kontext einer Öffnung der Psychoanalyse für religiöse Dimensionen Andreas-Saloms Rede von Verwurzelung und Urzustand in Verbindung zu einem Urvertrauen verstanden, wie es sich in ihrem Ausspruch ausdrückt: „Es mag mir geschehen, was will, ich verliere nie die Gewißheit, dass hinter mir Arme geöffnet sind, um mich aufzunehmen.“9 Ich knüpfe an diese psychoanalytischen Wahrnehmungen an, möchte aber noch einmal den Blick schärfen. Gerade auf den Spuren des Religiösen ist hier keine vorfindliche Alleinheit zu verstehen, in die ein vorgängiges Subjekt sich in einer bloß regressiven Bewegung wieder einfügen könnte. Das wäre eine Verwechslung dessen, was Andreas-Salom als „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ unterscheidet. Diese Unterscheidung führt an den Kernpunkt dessen heran, was das Denken von Lou Andreas-Salom in Bewegung gesetzt hat: ihre religiöse Suchbewegung nach dem Verlust eines Gottesbildes der Kindheit. Was sie in das Gespräch am Anfang der Psychoanalyse einträgt, ist gerade auf dem Weg eines Verlorenen zu sehen, einer „Obdachlosigkeit“, die ihr widerfuhr, als ihr der Gott der Kindheit „entschwindet“.10 Dieser Gott entschwindet ihr, aber sie bleibt auf den Spuren des Verlorenen, indem sie den Bezug zu der Leerstelle innerer Bilder offenhält, die sich verändern.11 Diese Spuren führen sie als Analytikerin zum Gedächtnis des frühen Gottesdienstes, in gedankliche Nähe zu Friedrich Nietzsche und zugleich in Distanz zu ihm, sie führen zu Rainer M. Rilke und seiner Dichtung und lassen sie schließlich bei Sigmund Freud ankommen, um bei ihm die eigene Stimme eines Anderen zu hören. Im Rahmen dieses Aufsatzes sei diese Bewegung in einigen Grundzügen skizziert.

6 Welsch, Wiesner, Vom „Lebensurgrund“ zur Psychoanalyse, 321; vgl., ebd., 320. 7 Vgl. Rothe/Weber, Zum Briefwechsel zwischen Anna Freud und Lou Andreas-Salom, in: Rothe/Weber (Hg.), Lou Andreas-Salom – Anna Freud, Briefwechsel, 2, 884. 8 Weber/Rempp, Einführung, 23. 9 Pfeiffer, Nachwort zu Andreas-Salom, Lebensrückblick, 300 f. Vgl. Wieder, Psychoanalytikerin. 10 Vgl. Andreas-Salom, Lebensrückblick, 23. 11 Vgl. Pfeiffer, Nachwort zu Andreas-Salom, Lebensrückblick, 301.

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1. Vom frühen Gottesdienst – Grundriss des Lebens Nach ihrem Studium der Psychoanalyse 1912/13 in Wien verfasst AndreasSalom ihre erste, im eigentlichen Sinne psychoanalytische Schrift „Der frühe Gottesdienst“. „Gedächtnis haben wir …“ – Andreas-Salom gedenkt des kleinen Mädchens Louise, dem die Welt reich und voller Möglichkeiten, alles mit allem verbunden schien und „noch jeder geringste Teil“ für das Ganze stand.12 In ihrer eigenen, kreativen Bildung der Welt war „Gott“ ihr persönlicher, ihr „allerbeste(r)“ Freund. Sie brauchte nicht, wie die Eltern, in Hausandachten eine „gleichsam offizielle(.) Eingangspforte“.13 Mit ihrem „Gott“, der als Schutz ihres wachsenden Selbst zugleich ein Gott der „Opposition“ war,14 stand sie in ständigem Zwiegespräch. In vertrauensvollem Lebensgebet hat sie diesem Freund die Geschichten des Tages anvertraut – „wie Du weißt“,15 wie er verstand, und wie er wunderhaft verwandeln konnte. Was er dem Kind gab, war „vor allem der Spielraum“, in dem alle „selbstschöpferischen Gemütskräfte“ sich ausleben, in dem das „individuell Besonderste“ sich bergen, in dem man sich wie in einem Mantel „mit tausend Falten und Taschen“ verhüllen und verstecken konnte.16 Aber dieser Gott „entschwand“. Was dieses Erlebnis ihr bedeutete, findet sie „fein definiert“ in der „christlichen Kirchendogmatik“. Hölle bedeutet „Selbstverlassenheit, weil Gottverlassenheit: in der Tat ist ja erst dies der äußerste Grad von Vereinsamung, wo wir uns selbst entwendet werden, also zwiespältig werden, also nicht einmal mehr allein, sondern in der Gesellschaft des Unheimlichen sind“.17 Der Gott der Kindheit war, wie die werdende Psychoanalytikerin urteilt, „eine Hilfsaktion“, „wunscherfüllend“, „ein Kompromiß“.18 Im Unterschied zu Freud aber wertet sie ihre frühe Gottesbeziehung nicht als ein bloß infantil und regressiv abzuwertendes, zu überwindendes Stadium ab, das um der erwachsenen Bildung des Selbst zurückzulassen wäre. Das Gedächtnis jener Tage führt sie vielmehr zur progressiven Erinnerung, die wir sind. Mag sich in der Kindheit die Kraft dieser Gottesvorstellung „als Selbstwehr gegen viele Gespenster“ bewährt haben,19 so erkennt die Erwachsene, „daß es lebenslang kaum etwas an Wunder und Wundervollem gab, zu dem ich nicht 12 13 14 15 16 17

Andreas-Salom, Gottesdienst, 38. Andreas-Salom, Gottesschöpfung, 169. Andreas-Salom, Gottesdienst, 40. Vgl. Andreas-Salom, Lebensrückblick, 14. Andreas-Salom, Gottesschöpfung, 170 f. Andreas-Salom, Gottesdienst, 44. Diese Sätze lassen sich auch in Bezug auf ihre religionspsychologische Arbeit über Nietzsche lesen (Andreas-Salom, Nietzsche). 18 Andreas-Salom, Gottesdienst, 40. 19 Ebd., 41.

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zutraulich hätte sein können infolge dieser Kindereindrücke von einem Gott.“20 Den Grund für die kindliche Religiosität sieht sie darum nicht in ihrer „befremdliche(n) Schwärmernatur“, sondern „in jener naiven Nüchternheit der Auffassung, denen nur ein Kindesverstand noch fähig ist, der noch nicht scharf zu unterscheiden weiß zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem, äußerlich Wahrgenommenem und innerlich Erlebtem.“ Eine „Nüchternheit“, die „vielleicht im Götterglauben primitiver Menschen ausschlaggebend gewesen sein mag“.21 So ist der frühe Gottesdienst keine bloße Regression, sondern beschreibt ein schöpferisches Verhältnis zur Welt, ein Handeln, von dessen Kraft noch „späteste Erinnerungen“ ausgehen, von dem aus „Wege sich auftun, vergessene, verwachsene, auf denen die Alten noch sich zurückfinden zu rätselhaften Schätzen, und um die jeder Schaffende heimlich weiß wie um eine Heimat.“22 Eine Heimat aber, die nicht einfach zurückruft, sondern den Weg in sich trägt, das Wissen, verlassen oder verloren zu haben, auf eigenem Weg oder durch fremde Einflüsse aus ihr vertrieben worden zu sein. Heimat ist nicht einfach Regression, zur Heimat bricht ein Mensch erst auf. In Gedächtnis und Sehnsucht ist Heimat Metapher der Erinnerung, die wir sind. Nicht nur in Bezug auf die eigene Biographie, sondern in grundsätzlicher Perspektive spricht Andreas-Salom von einem sich verändernden Sinn des Religiösen, den sie als Psychoanalytikerin nicht nur festhalten, sondern theoretisch ausformulieren und anthropologisch begründen wird. Der Gedanke entwickelt sich über die Differenzierungen der Bilder, der „Gehäuse“, die ihren Sinn nicht in sich selbst haben, sondern sich entwickeln können. „Gott“ ist ein „sehr armseliges und jeder Mißdeutung tausendfach zugängliches Wort“.23 Was den Sinn dieses Wortes für den einzelnen Menschen belebt, was ihm „Gott“ zum Gott macht, das erhält in diesen verschiedenen Erkenntnisformen gewissermaßen nur ein officielles Gehäuse, das von seinem gotthaftesten, religiös inspiriertesten Inhalt manchmal gar nicht, manchmal nur zwischendurch und bei officiellen Anlässen bewohnt wird, denn dieser Inhalt ist nichts, was sich fixiert und verkapselt – sei es auch in der goldenen Kapsel kostbarer Gottesweisheit – übertragen läßt, sondern stets nur wieder aufs neue aus dem tiefsten Contact mit dem Leben selbst erzeugt werden kann.24

Dieser „tiefste Contact mit dem Leben“ begründet, was sie mit Nietzsche verbindet und zugleich von ihm abwenden und sich trennen lässt. An Nietzsche fasziniert sie die Polyphonie seiner Leben: vieles oder besser viele „lebten“ „in Nietzsche“: „ein Musiker von hoher Begabung, ein Denker von 20 Ebd., 40. 21 Andreas-Salom, Gottesschöpfung, 170. Zur Entfaltung vgl. ebd., 169ff, und Andreas-Salom, Religion und Kultur. 22 Andreas-Salom, Gottesdienst, 38. 23 Andreas-Salom, Religion und Kultur, 6. 24 Ebd.

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freigeisterischer Richtung, ein religiöses Genie und ein geborener Dichter“,25 aber diese Polyphonie seiner Seele zerbricht, indem sie sich „zu sich selber nicht nur wie zu einem anderen, sondern auch wie zu einem höhern Wesen“ empfindet. So bringt er „einen Theil seiner selbst sich selber zum Opfer“ und „(i)n den Erschütterungen seines Geistes, in denen er das heroische Ideal eigener Preisgebung und Hingebung zu verwirklichen wähnt, (…) an sich selbst einen religiösen Affekt zum Ausbruch.“26 In dieser „Rückbeziehung auf sich selbst anstatt auf eine ihn mit umfassende, außer ihm liegende Lebensmacht“, kann ein Mensch in der Vielstimmigkeit seiner Seele keine „höhere Einheit“ gewinnen, sondern erleidet „das gerade Gegentheil des Angestrebten“, die „innerste Zweitheilung“ seines Wesens, seine „Spaltung zum ,Dividuum‘“.27 Mit dieser Andeutung des Bezugs auf eine „mit umfassende, außer ihm liegende Lebensmacht“28 rekurriert Andreas-Salom nicht auf die verlorene Figur des Kinderglaubens, sehr wohl aber auf das Widerstandspotential des kreativen Weltbezugs, dessen Leerstelle sie bewahrt.

2. Kunst als Sprachland der Seele Nach einem Vortrag von Stefan George schreibt Andreas-Salom einen konzeptionellen Aufsatz „Grundformen der Kunst“. In großer Übereinstimmung mit Rilke, den sie 1897 kennen- und lieben gelernt hat, der ihr bis zum Herbst 1900 alle seine Liebesgedichte widmet, fragt sie nach den Antrieben künstlerischer Produktivität und Rezeption, der lebensdienlichen Kraft eines Kunstwerks.29 Ein Kunstwerk kann zum Betrachter oder zur Leserin sprechen und etwas erwecken, was sonst in der „Seele stumm und verhüllt“ bliebe. Als „individuellste Äußerung“ „spricht“ ein Werk aus dem „emotionelle(n) Untergrund“, durch die „Gefühlsmächte und deren Qualität“ zu jedem in seiner eigenen Sprache.30 Es ist ein Lebendiges, das in Verschiedenen „ganz verschiedene seelische Nüancen anklingen“ lässt, in jedem Einzelnen „sein einzelnes besonderes Leben leise in seine Kreise zieht und ihm schmeichelnd seine besondersten Töne entlockt.“31 Im „Symbolischwerden der Dinge“, im schöpferischen Verhalten zu ihnen, wirken sie auf uns „ästhetisch“, wird 25 26 27 28 29 30 31

Andreas-Salom, Nietzsche, 49. Ebd., 61. Ebd., 62. Ebd. Vgl. Renner, Lou Andreas-Salom, 31 ff. Andreas-Salom, Grundformen, 177 f. Ebd., 178.

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Kunst zu einer „Zeichensprache (…), um uns einander unsere Geheimnisse zuzuraunen.“32 In diesem Zusammenhang findet Andreas-Salom den Ausdruck des schöpferischen Produktivpunktes, den jeder Mensch für sich finden muss.33 Hier brennt das Religiöse als das innere Feuer eines Menschen, von dem er im eigentlichen Sinne lebt. „(D)er religiöse Impuls ist der schöpferische Grundaffekt dem Leben gegenüber.“34 Aber – und hier liegt der entscheidende weitere Schritt – was „(i)m Grunde (…) von unseren sämmtlichen seelischen Fähigkeiten“ gilt – „daß wir uns nur dann produktiv selber an ihnen ausdrücken, wenn wir dabei selbstvergessen von uns fortgehen.“35 Fortgehen, das bedeutet: dass ein Mensch, wie sie im biblischen Bild formuliert, durch die „schmale Pforte“ ins Leben, über sich selbst hinaus und „in das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“ eingeht.36 Das scheinbar sich Ausschließende ist als Gleichzeitiges lebendig: Je mehr Schöpfer ein Mensch sich fühlt, (…) desto mehr fühlt er sich nur noch als ein geweihtes Werkzeug an Dem, was er da schafft, desto entblößter aller eigenen, bewußten, vereinzelten Macht lebt er in der Grundstimmung der Andacht und Hingebung.37

Die schöpferische Individualisierung zieht nach Andreas-Salom gerade nicht den Zerfall des Gemeinsamen nach sich, sondern trägt die lebendige Kraft in sich, aus der eine gemeinsame Welt entstehen kann. Das Schöpferische ist nicht machbar. Es setzt in Bezug. Eine Erkenntnis, die zur Wiederentdeckung des Rituals und des Liturgischen führt.

32 Ebd., 179. 33 „Wir leisten naturgemäß Alle am meisten da, wo wir unserm Produktivpunkt am nächsten kommen, und thun es um so menschlich vornehmer, je entschiedener wir an jedem andern Punkt, gleichviel für wie autoritativ er gilt, unsere letzte Hingebung und Andacht verweigern“ (Andreas-Salom, Grundformen, 178). Bezüglich der hier angesprochenen, Seelsorge und Psychoanalyse betreffenden und wechselseitig dekonstruierenden, Problematik narzisstischer Verwundbarkeit vgl. Steinmeier, Kunst der Seelsorge, „Narzisstisch gekränktes Gewissen“ und „schlechthinnige Empfänglichkeit“, 108 ff. 34 Andreas-Salom, Vom religiösen Affekt, 152. 35 Andreas-Salom, Tagebuch der Reise, 128. 36 Andreas-Salom, Grundformen, 178. Zu einer ähnlichen Bedeutung der Pforte findet heute die Schweizer Psychoanalytikerin Danielle Quinodoz (vgl. Quinodoz, Älterwerden, 147ff). 37 Andreas-Salom, Vom religiösen Affekt, 151.

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3. Dichtung als Ikone Mit Rilke entdeckt Andreas-Salom während einer Reise im April 1899 in Russland die Bilder, die Ikonen, das Ritual der Kirche als Gefäße, die die Seele braucht.38 Gefäße, die ein Mensch braucht, um seiner eigenen Innerlichkeit nicht fremd zu werden. Entscheidendes Ereignis ist das Erleben der Osternacht in der Kremlkathedrale. Mochte Tolstoi sie und Rilke „auf das heftigste“ ermahnt haben, derart „abergläubischem Volkstreiben nicht noch durch dessen Mitfeier zu huldigen“, so „fand die Osternacht uns doch, direkt von ihm kommend, unter der Gewalt der Kremlglocken“, schreibt Andreas-Salom in ihrer Monographie über Rilke.39 Die passivische Formulierung ist nicht zu überlesen. Hier sind nicht jene vor der Reflexion gemeint, sondern hier ist ein Gefundenwerden „nach dem Bruch dieser Naivität“ bezeichnet, all diejenigen ansprechend, die aufgebrochen sind und ihren eigenen Weg suchen, in Individualität und Einsamkeit.40 Gerade für diese sind die Formen nicht nur äußerlich. Denn eine Gebärde, eine Verneigung, ein Kelch, ein Glanz vermögen das Individuelle aufzunehmen und zu bergen, mögen ihm Gestalt, Gewand, Heimat geben.41 Das Ritual, so erlebt und erkennt sie in Rußland, ist „trotz seines Formalismus (…) weiter und schmiegsamer zur Aufnahme individueller Stimmungen der Religion“ als eine Rationalität, wie sie gegen Tolstoi schreibt, in der ein Mensch nicht „merkt“, dass er mit der Beseitigung von religiösen Stimmungen „nicht nur die Gedanken klären, sondern auch die Gemüther verflachen würde“.42 Die Gemüter zu verflachen, das bedeutet die Empfindungsfähigkeit zu verlieren für das, was im Letzten die Ehrfurcht begründet, wie Andreas-Salom in ihrem „Lebensrückblick“ schreibt,43 jene sinnliche Berührung mit dem anderen Lebendigen, die nie verloren gehen darf. Im Klang der Osterglocke hört sie das Leben: „Das Leben ist aber nicht eine (…) vielspältige Urtheilerei, es ist in seiner Wahrheit wie die Osterglocke des Iwan Welikij.“44 Es ist der „Zusammenstoß“ mit dem uns Unvertrauten, „dem Gott“, vor den wir nicht nur „eine kleine Kulturarabeske“, sondern unser Leben als solches hin(tragen), mit dem dunkelsten Gesammtinhalt aller Tage. (…) allerdings in unserer individualisiertesten, selbsteigensten Persönlichkeit (…), aber nicht in jener von heute oder morgen, nicht in jener, die etwas mehr oder weniger lernte, etwas höher oder niedriger aufstieg, sondern in einer von Ewigkeit 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Steinmeier, Kunst der Seelsorge, 191 ff. Andreas-Salom, Rilke, 19. Vgl. Andreas-Salom, Religion und Kultur, 6. Vgl. Kronauer, Ikone, 15, 30. Andreas-Salom, Tagebuch der Reise, 37. Vgl. Andreas-Salom, Lebensrückblick, 25. Andreas-Salom, Tagebuch der Reise, 93.

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her, die weder in ihren Thaten noch in deren Motiven voll enthalten ist, vielmehr nur zugleich in dem, was ihrem eigenen Bewußtsein entschlüpft.45

Denn das Leben wird auch dort verschüttet, wo „das Unzeitliche“ vergessen wird, das „von keinem Strom Mitfortgerissene, das in jedem Gebete lebt.“46 Jahre später, lange nach ihrer Trennung von Rilke, als sie die Psychoanalyse kennengelernt hat, spielt die Dichtung Rilkes im Briefwechsel mit der zur Freundin gewordenen Anna Freud eine wichtige Rolle. Als Freud an Krebs erkrankt, erinnert sich Anna Freud im Nachsinnen über Leben und Sterben der Neunten Elegie, die sie gemeinsam mit Lou in Göttingen gelesen hat. Anna bittet die Freundin, ihr eine Abschrift zu besorgen. Diese schreibt die Verse selber ab und sendet sie ihr. Als der Brief „ganz langsam nach Wien gekommen (ist), als ob er wüßte, daß er mit etwas Schwerem und Schönen beladen ist“, antwortet Anna: (D)as mit dem Seiler in Rom und dem Töpfer am Nil ist, glaube ich, ähnlich gemeint wie etwas, das mir beim Webenlernen so gut gefallen hat; das Einfachste und Sichtbarste ist plötzlich für das andre Unzeigbare und Unsagbare gesetzt als ob es das, besser als alles andre in sich enthalten könnte.47

Die Verse, auf die Anna Freud sich bezieht, lauten: Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil. Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, (…) Und diese, von Hingang lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich, traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.48

„Ist das nicht ebenso wie Du einmal gesagt hast“, fragt Anna Freud, „die kindliche Gottesvorstellung kann man als das allerweiteste und dehnbarste 45 Ebd., 136. 46 Ebd., 137. 47 Anna Freud an Lou Andreas-Salom, Wien, 24. Mai 1923, in: Lou Andreas-Salom – Anna Freud, Briefwechsel, 1, 189 f. Rilke hat zu dieser Stelle geschrieben: „ich frage mich oft, ob nicht das an sich Unbetonte den wesentlichsten Einfluß auf meine Bildung und Hervorbringung ausgeübt hat: (…) die Stunden, die ich zubringen konnte, in Rom einem Seiler zuschauend, der in seinem Gewerb eine der ältesten Gebärden der Welt wiederholte, (…) genau wie jener Töpfer, in einem kleinen Nil-Dorf, neben dessen Scheibe zu stehen, mir unbeschreiblich, in einem geheimsten Sinne ergiebig war“ (Rilke an A. Schaer, 26. 2. 1924, zit. in: KA, Bd. 2, 685). 48 KA, Bd. 2, 228 f.

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Symbol für Gottvorstellungen verwenden (so wie im Stundenbuch)? Wie in einen Rahmen läßt sich alles in sie hineinfügen.“49 Mit der Einschränkung, dass sie am „schwerfälligsten auszusprechen versteh(t)“, was ihr „tiefnahe liegt“, antwortet die Freundin: (I)n den Momenten, wo etwas über uns Hinausgehendes uns (in Gefühl, Gedanke oder Handlung etc.), dem persönlich Ichhaften ganz entreißt, „sachlich“ hingegeben einstellt (…), merken wir, (…) daß wir unsere letzte Betonung (…) außerhalb der Ichbetonung haben.50

Diese Formulierung ist psychoanalytisch in ihrem Narzissmusverständnis begründet.

4. „Narzißmus als Doppelrichtung“ – „Erinnerung sind wir“ Auf ihren eigenen Spuren findet Andreas-Salom bei Freud, was sie als seine Schülerin doch über ihn hinaus schreibt. In Abgrenzung zu einer „Wortverwechslung mit bloßer Selbstliebe“51 entwickelt Andreas-Salom die Konzeption eines „gesunden, unbeschädigten Narzißmus“, in dem ein „übersubjektive(s) Moment wirksam“ ist,52 und zwar „innerhalb unserer Objektbesetzungen, innerhalb unserer Wertsetzungen, und innerhalb narzistischer Umsetzung ins künstlerische Schaffen.“53 In der bewahrten „Erinnerung“ des Verlorenen begründet sie die „Konzeption des Passiven als genuine Libidotendenz, die Einführung des ,Triebpassiven‘ in die psychoanalytische Theorie“54 mit den weitreichenden Konsequenzen der Differenz zu Freud, vor allem im Konzept des Unbewussten und des Verständnisses des Narzissmus. Ihr Verständnis des Narzissmus ist aus dem Blick für die Phänomenalität eines Unbewussten entstanden, das nicht bloße Negation des Bewussten ist, kein bloß dem Subjekt zugehöriger, abgelagerter Satz unbewältigter Erfahrungen. Hier wird vielmehr die Anerkennung einer „Stimme des Anderen“55 in der Psychoanalyse formuliert, in der sich spätere Relecturen Freuds vorbereiten. Freud über Freud hinaus lesend schreibt sie ihm zu seiner Schrift „Jenseits des Lustprinzips“:

49 Anna Freud an Lou Andreas-Salom, Wien, 24. Mai 1923, in: Lou Andreas-Salom – Anna Freud, Briefwechsel, 1, 190. 50 Ebd., 193. 51 Andreas-Salom, Narzißmus, 193. 52 Ebd., 219. 53 Ebd., 193. 54 Weber/Rempp, Einführung, 29. 55 Vgl. auch Bossinade, Stimme. Vgl. zu dieser Perspektive auch Wieder, Psychoanalytikerin, 76.

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(W)elche Freude mir’s war, können Sie leicht ermessen, da ich mich sogar in Briefen mit der Befürchtung herumschlug, bezüglich des „Triebpassiven“ nicht Ihre Zustimmung zu haben. (…) Von den Gedanken über Leben und Tod (…) kann ich, in einer eigentümlichen Weise sowohl sagen: da geh ich mit, wie auch: ich geh in der Richtung umgekehrt. (…) Tod und Leben stehen eben in einer Aufeinanderbezogenheit, die uns notwendig als Ganzes entgeht, sind immer die Hälfte eines Geschehens: wie die unsichtbar bleibende Mondhälfte steht das Abrundende um den Begriff unfasslich herum.56

Ihre „umgekehrte“ Lektüre weist nach vorn auf die Interpretation Paul Ricœurs, der bei Freud „ein empfindliche(s) Gleichgewicht“ – oder einen „subtilen Konflikt?“57 – zwischen dem „wesentlich kritische(n), gegen die archaischen Objekte und Illusionen gerichtete(n) Thema“ des Realitätsprinzips und dem „wesentlich lyrischen, gegen den Todestrieb gerichteten Thema“ des Eros wahrnimmt.58 Zugleich wird hier jene „bance“ im Verständnis des Unbewussten wieder geöffnet, die Jacques Lacans Relecture Freuds motiviert hat.59 Der „Bindestrich“ zwischen „erlangter Einzelhaftigkeit“ und deren Rückbezug auf den „Urzustand“ bedeutet, in Bezug auf Lacan formuliert, eine Verbindung allen Sprechens zur ersten Sprache des Begehrens. Er ist die Metapher für jene Achtsamkeit, die Lacan später in der Einsicht der Differentialität der Sprache und des Sprechens formuliert, in der ein Analytiker, eine Analytikerin in der Anerkennung eines unverfügbaren Voraus der Sprache,60 in Anerkennung dessen, dass es einen „Andern des Andern“ nicht gibt,61 sich mit ihren Deutungen als Feld des Andern zur Verfügung stellen.62 Das Unbewusste trägt die Variation jenes unabschließbaren Spiels der Signifikanten in sich, die nicht die Auflösung ins Beliebige bedeutet, sondern die „Zeitlichkeit“ der Erinnerung, die wir sind, offenhält: Gewissermaßen ist ja Erinnerung ein nie nur „praktischer“, immer auch schon „poetischer“ Vollzug: sie ist damit sozusagen das einem jeden von uns aufbewahrte Stück Dichtertum, Ergebnis zugleich Distanz schaffender, bewußte Überschau ermöglichender Vergangenheit, und ewig-erneuter Aktualität und Affektivität, auch wo sich beides nicht so formend zusammentut wie im Werk des Poeten. (…) Poesie ist perfekt gewordene Erinnerung.63

56 57 58 59 60 61 62 63

Briefwechsel, Freud – Andreas-Salom, 116 f. Ricœur, Interpretation, 346. Ebd., 345 f. Vgl. Gondek, Lacan, 512 in Bezug auf Lacan, Grundbegriffe, 27 ff. Vgl. Steinmeier, Kunst der Seelsorge, 31 ff. Vgl. Gondek, Lacan, 507. Lacan, Schriften, II, 188, 194. Vgl. Gondek, Subjekt, Sprache und Erkenntnis, 155. Andreas-Salom, Narzissmus, 214.

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Diese Spur führt zu dem, was Thomas Ogden als „Zwischenreich des Träumens“ entfaltet, das in jedem kreativen Gespräch lebendig ist. Für die Begründung des „metaphorischen Ortes“, eines zwischen Unbewusstem und Vorbewusstem verorteten „Grenzbereichs“ als dem Zentrum menschlicher Lebendigkeit, wo Träume und Träumereien, „Spiel und Kreativität jeder Art geboren werden“,64 bezieht sich Ogden explizit auf Lou Andreas-Salom. Er zitiert aus ihrem Briefwechsel an Freud eine ihre Narzissmuskonzeption vorbereitende Äußerung: Impulse „zur symbolischen Repräsentation“ entstehen „nicht nur durch das unablässige Streben nach unbewusstem und bewusstem Ausdruck (…), sondern auch durch das Phänomen, ,daß das Bewußte nirgends dem Unbewußten entläuft, überallhin ihm entgegenläuft‘.“65 Der „Bindestrich“, so interpretiere ich, wird in der von Ogden so genannten „Dialektik“ des Diskurses aufgenommen und erweitert, in der „(u)nbewusstes Erleben und vorbewusste Erfahrung, ,Es-heit‘ und ,Ich-heit‘, unmittelbares sensorisches Erleben und verbal vermittelte Erfahrung“ ein Leben lang im Gespräch bleiben, indem sie einander „schaffen, negieren, erhalten und beleben“.66 Die für die Sorge um die Seele, in Bezug auf Seelsorge und Psychoanalyse gemeinsame, wesentliche Konsequenz liegt in einer Resonanz für die Öffnung der Zeiten im imaginierenden, auferweckenden Hören, im Wagnis sich überschneidender Träumereien, in denen die Subjekte dezentriert sind. In der „beunruhigenden“ Anerkennung dessen, „dass wir unser Traumerleben, unsere Träume und Träumereien – also einen großen Teil dessen, was wir für äußerst persönlich halten und was unser Selbstverständnis prägt – nicht mehr ausschließlich“ als uns eigen ansehen können, sondern als eines gemeinsamen, aber asymmetrisch konstruierten und individuell erlebten, „Dritten“,67 ist der „Bindestrich“ in den „Zwischenraum“ transformiert, aus dem kein „,Stück‘ des Unbewussten“68 nur aufsteigt und sichtbar würde, sondern neues Erleben möglich werden, zu Gehör und in Erfahrung kommen kann. Darum haben wir Gedächtnis, aber sind Erinnerung. Und weil wir Erinnerung sind, hört das seelische Leben nicht auf, Formen, Metaphern zu suchen, in denen es schöpferisch lebendig sein kann. Nicht nur im Gespräch mit Anna Freud, sondern in ihrer praktischen Arbeit als Analytikerin hat Andreas-Salom „Zwischenreiche des Träumens“ eröffnet, indem sie erkannte, dass ein Vers, ein Gedicht, die Möglichkeit eines schöpferischen Erkennens in sich tragen kann. In einem Brief erzählt sie Rilke von „einem Leidenden, (…) der, durch nichts zum Kunstverständnis erzogen, sich zum ersten Mal an den ,Elegien‘ Hoffnung holte: ein Erkanntsein von 64 Vgl. Ogden, Gespräche im Zwischenreich, 14. 65 Ebd., 15 im Anschluss an Lou Andreas-Salom, Brief an Sigmund Freud, 9. April 1916, in: Briefwechsel, Freud – Andreas-Salom, 47. 66 Ogden, Gespräche im Zwischenreich, 14. 67 Ebd., 17. 68 Ebd., 39.

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unbeschreiblicher Leuchtkraft, ein hoffendes Eingehen in Ordnung und Ruhe“.69 Ein Umgang, den Rilke nicht ablehnt, sondern im Gegenteil beantwortet: „Meine liebe, liebe Lou, ich kann Dir nicht sagen, was Du mir für große, großmächtige Ostern bereitet hast mit Deinem Brief. (…): ich lese es immer wieder und hole mir daraus ein unbeschreibliches Geborgensein.“70 In der Deutung des Narzissmus als der schöpferisch-responsiven Verbindung von Subjektivität und Alterität als eines „imagining ear“, wie Ogden im Anschluss an Robert Frost formuliert, für die lebendige Metapher, für die Form, die sich je und anders zeigen mag, für jene beunruhigende, unverfügbare Gegenwärtigkeit des Anderen, des eigenen Selbst, des anderen, Gottes, liegt jenseits der Deutungen im möglichen Wahrnehmen und Anerkennen eines unverfügbaren Voraus, der Traumfähigkeit der Sprache und des Sprechens eine wechselseitig mögliche Annäherung im Diskurs von Seelsorge und Psychoanalyse. In ihrer Narzissmusschrift findet Andreas-Salom die Formulierung der „narzistischen Wesenheit Gottes“: Und wenn der Mensch sich einen Gott als Weltenschöpfer vorstellt, so ist das nicht nur, um die Welt, sondern auch des Gottes – narzistische – Wesenheit zu erklären: mag solcher Welt Böses und Übel in Menge anhaften, der fromme Glaube würde erst zunichte an einem Gott, der nicht wagt, Werk, Welt, zu werden.71

„Diesem Gott“, hat Andreas-Salom im Rückblick auf Gedächtnis und Erinnerung der Kindheit geschrieben, „dankt man nicht ab: man dankt ihm durch die Lebendigkeit des Lebens“,72 die Lebendigkeit und Leidenschaft auch sachlicher Hingabe der Traumfähigkeit eines reifen Narzissmus. Es ist „die schöpferische Tätigkeit par excellence“, jene Unbedingtheit, die doch nur „,von Fall zu Fall‘, d. h. im lebendigen Vollzug allein“,73 vollziehen kann, „was nie und nirgends sich begeben.“ Es ist die libidinöse Kraft, die die Energie entwickelt, das „Unvorgeschriebene, schlechthin Gedichtete“, das Mögliche und Wirkliche in der Realität zu wagen, weil sie deren „Abseits (…) nicht ertrüge“. Darum ist die Ethik „das äußerste Wagestück des Narzißmus, (…) der Ausbruch seines letzten Mutes und Übermutes ans Leben“. Denn in das gelebte Leben hinein, in der Erfahrung von Realität, in Brüchen, „in Drangsal, (…) an den Anprall aller Zufälle und Wirrnisse“ ist ethisches Handeln gerichtet, wagt ein Mensch seinen Traum in der Realität und verleiht dem „Bruchstückhaften“ Würde, eine Würde, in der allenfalls etwas gelingen kann, aber nichts vollendet wird.74 Zu dieser Leidenschaft gehört auch die Wahrnehmung der „Unerschöpf69 70 71 72 73 74

Andreas-Salom, Rilke, 121 f, vgl. Rilke – Salom, Briefwechsel, 463 f. Andreas-Salom, Rilke, 122; Rilke – Salom, Briefwechsel, 465 f. Andreas-Salom, Narzißmus, 222. Andreas-Salom, Gottesdienst, 47. Andreas-Salom, Narzißmus, 212. Ebd., 213.

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lichkeit dessen, der seine seelische Kapazität nur nicht aussprechen“ kann.75 In ihrem Russlandtagebuch beschreibt Andreas-Salom die Plastik einer Frau, Das Alter der Bildhauerin Anna Semjonowna Golubkina, einer Schülerin Rodins.76 Ein verschrumpftes, hart und knöchern hingekauertes Weib (…). Man könnte meinen: nur Häßlichkeit und Verfall. Und doch könnte hinter dieser Müdigkeit, nach außen unsichtbar, irgend eine letzte Erkenntniß, irgend ein Traum stecken, als Frucht des Lebens, – aber heimlich, unsichtbar, unerfaßbar und begraben mit dem Leben selbst.77

Das Narzissmusverständnis Lou Andreas-Saloms lässt sich als frühe Phänomenologie gelebter Religion lesen, die die „Untrennbarkeit von Sinn und Sinnlichkeit, die Verankerung der Sozialität in der Mitgeschöpflichkeit als Inkorporiertheit, die bleibende Anbindung der Wahrheits- und Evidenzfrage an Leiblichkeit, die Fragilität von Fremd- und Selbsterfahrung“ festhält.78 Im Lebensrückblick spricht sie von „Ehrfurcht“ als einer anderen „Benennung“, einem „zweite(n) Wort für jene Verbundenheit unseres Allgeschickes, wovon das Größte noch unterschiedslos mitbetroffen und worin auch das Kleinste noch bedeutsam gemacht ist.“79 In der Wahrnehmung dieser Herausforderung 75 76 77 78

Kronauer, Ikone, 16. Vgl. Andreas-Salom, Tagebuch der Reise, 31 (Anm. 7). Ebd., 32. Failing/Heimbrock, Praktische Theologie, 45. „Mit dem Lebensbegriff als Leitkategorie kann heute der funktionalistischen Reduktion von Religion auf Krisenbearbeitung im Lebenszyklus gewehrt werden, ohne daß ihr Beitrag zur Lebensbewältigung im Alltag aus dem Blick geraten soll. Aber auch der Alltagsbegriff gewinnt seine Bedeutung und Komplexität erst durch Bezogenheit auf den Lebensbegriff. Er wird nicht sozialphänomenologisch gefaßt als umfassende Institution, sondern erfährt eine Vitalisierung und damit eine Öffnung hin auch zum Sinnlosen, Sinnwidrigen, Unordentlichen“ (vgl. ebd., 44). Der Gedanke einer schöpferischen Einheit des Lebendigen lässt sich mit Andreas-Saloms Äußerungen zu Spinoza verbinden, den sie als „Philosoph der Psychoanalyse bezeichnet“ (Andreas-Salom, Schule, 69; vgl. ebd., 68 f). Hilfreich ist an dieser Stelle die Interpretation Paul Ricœurs. Auf der Spur einer ontologischen Interpretation der Selbstheit trägt Ricœur die Spinozistische essentia actuosa und den spinozistischen Begriff des conatus ein als die „Schaltstelle zwischen der Phänomenologie des handelnden und leidenden Selbst und dem zugleich wirklichen und mächtigen Grund, von dem sich die Selbstheit abhebt“ (Ricœur, Selbst als ein Anderer, 380; vgl. Greisch, Fehlbarkeit und Fähigkeit, 137). Was Ricœur an Spinoza interessiert, ist weder Pantheismus noch Atheismus bzw. die mit diesen Begriffen verbundenen Vorwürfe, sondern der Begriff des Lebens (vgl. Ricœur, Selbst als ein Anderer, 380, ebd. [Anm. 23]). „Wer aber Leben sagt, sagt auch Potenz, wie es die Ethik von Anfang bis Ende bezeugt. Potenz besagt hier nicht Potentialität, sondern Produktivität und darf daher nicht dem Akt im Sinne von Verwirklichung, von Vollstreckung entgegengesetzt werden. Beide Wirklichkeiten sind Grade des Vermögens zu existieren. Hieraus ergeben sich einerseits die Definition der Seele als ,die Idee eines wirklich existierenden Einzeldings‘ (Ethik II, 11. Lehrsatz, S. 60) und andererseits die Behauptung, daß dieses Beseelungsvermögen ,allen Dingen gemein (ist) und für die Menschen nicht mehr (gilt) als für die übrigen Individuen, die alle, wenn auch in verschiedenen Graden, beseelt sind‘“ (ebd., Anm. zum 13. Lehrsatz, S. 62, [Ricœur, Selbst als ein Anderer, 380]). 79 Andreas-Salom, Lebensrückblick, 24.

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liegt die Zukunft der Sorge um die Seele, der Seele des Einzelnen und der Seele der Kultur. Das für den 40. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie im Jahre 2012 gewählte Thema „Compassion“ könnte auch den Untertitel tragen: „Gedächtnis haben wir, Erinnerung sind wir“.

Literatur Andreas-Salom, Lou, Gottesschöpfung, in: Freie Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit, 3. Jg. 1892, 169 – 179. – Religion und Kultur. Religionspsychologische Studie, in: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst (Wien), 14, Nr. 183, 1898, S. 5 f. – Vom religiösen Affekt, in: Die Zukunft, Bd. 23, 1898, 149 – 154. – Nietzsche in seinen Werken (1894), hg. von E. Pfeiffer, Frankfurt a.M./Leipzig 1983. – Grundformen der Kunst. Eine psychologische Studie, in: Pan, 4, Berlin 1898/99, 177 – 182. – „Russland mit Rainer“. Tagebuch der Reise mit Rainer Maria Rilke im Jahre 1900, hg. von St. Michaud, in Verbindung mit D. Pfeiffer, Marbach 22000. – In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1915, Zürich 1958. – Vom frühen Gottesdienst (1913), in: I. Weber/Br. Rempp (Hg.), Lou AndreasSalom. Das zweideutige Lächeln der Erotik. Texte zur Psychoanalyse, Freiburg i.Br. 1990, 37 – 49. – Narzißmus als Doppelrichtung (1921), in: I. Weber/Br. Rempp (Hg.), Lou Andreas-Salom, Das „zweideutige“ Lächeln der Erotik. Texte zur Psychoanalyse, Freiburg i.Br. 1990, 191 – 222. – Rainer Maria Rilke, Leipzig 1928. – Mein Dank an Freud (1931), in: I. Weber/Br. Rempp (Hg.), Lou Andreas-Salom. Das zweideutige Lächeln der Erotik. Texte zur Psychoanalyse, Freiburg i.Br. 1990, 245 – 324. – Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlass hg. von E. Pfeiffer, Frankfurt a.M. 51984. Bossinade, Johanna, Die Stimme des Anderen. Zur Theorie der Alterität, Würzburg 2011. Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Gnter, Praktische Theologie als Theorie gelebter Religion. Problemhorizonte und Leitbegriffe, in: W.-E. Failing/ H.-G. Heimbrock/T.A. Lotz (Hg.), Religion als Phänomen. Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt, Berlin/ New York 2001, 15 – 45. Gondek, Hans-Dieter, Jacques Lacan. Von der sprachlichen zur ethischen Verfasstheit des Unbewussten, in: M. Buchholz/G. Gödde (Hg.), Macht und Dynamik

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Anne M. Steinmeier

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„Gedächtnis haben wir, Erinnerung sind wir.“

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Claudia Kohli Reichenbach

Gemeinschaft der Heiligen – heilende Gemeinschaft? Zur salutogenetischen Funktion kirchlicher Gemeinschaft1

2007 ist der Welt der FilmliebhaberInnen mit „Lars and the real girl“ eine faszinierende und gleichzeitig skurrile Kinoparabel geschenkt worden. Der Plot: Lars, der Protagonist, lebt in einer Kleinstadt im Norden der USA zurückgezogen in der Garage seines Bruders Gus, dessen Frau Karin mit dem ersten Kind schwanger ist. Erfreut reagieren die Verwandten, als Lars, der sonst soziale Kontakte meidet, seine neue Bekanntschaft ankündigt. Ratlos sind sie dann jedoch, als sich beim ersten Treffen im Wohnzimmer eine lebensgrosse Puppe neben Lars einfindet, die er als Bianca vorstellt. Sie kam Tage zuvor nach einer Internetbestellung per Postpaket in der Garage an. Von nun an ist Bianca Lars’ neue Lebensgefährtin, der er Essen anbietet, mit der er Konversationen führt, die er liebt. Gus und Karin sind beunruhigt und benachrichtigen die Hausärztin Dagmar. Sie lädt Lars und seine neue Freundin zu einem Gespräch ein und macht Lars deutlich, dass Bianca in den nächsten Wochen regelmässig zu ihr kommen müsse, da sie erkrankt sei. Dies gibt Dagmar die Möglichkeit, Lars in seinen Wahnvorstellungen therapeutisch zu begleiten. Spannend ist nun, wie die Umgebung auf Lars reagiert. Natürlich sind die Menschen um ihn zuerst einmal vor den Kopf gestossen und müssen ihre verständliche Beklemmung überwinden. Eindrücklich ist aber, wie sie sich zunehmend auf die Situation einlassen. Ein Highlight des Filmes ist der erste Gottesdienstbesuch des Liebespaares in der örtlichen Kirche, in welcher Lars regelmässig verkehrt. Zwar zeugen auch hier die ungläubigen Blicke auf die Puppe von der Situationskomik; was aber überwiegt sind Menschen wie Lady Gruner, die Bianca mit einem Blumenbouquet begrüsst und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Als sich gegen Ende des Filmes – gemäss Lars – Biancas Gesundheitszustand drastisch verschlechtert und sie schliesslich stirbt, nimmt die Umgebung grossen Anteil. Gruner und andere Frauen der Kirche besuchen das Trauerhaus, bringen Essen mit und erklären: „That’s what people do when tragedy strikes.“ „They come over and sit.“ Die dörfliche Gemeinschaft, darin insbesondere die Gemeinschaft der Kirche, übernimmt im Genesungsprozess des Protagonisten eine zentrale Funktion. Die Menschen um Lars nehmen ihn in seiner Realität ernst, un1 Überarbeitete Fassung eines am 23. Mai 2011 im Rahmen der Tagung „Von der Pastoralpsychologie zur Religionspsychologie. Neue Tendenzen in der Seelsorge in den USA und in Europa“ gehaltenen Vortrags an der Universität Bern.

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terstützen ihn, schenken ihm menschliche Wärme und helfen so, dass er allmählich seine frühkindlichen traumatischen Erfahrungen aufarbeiten kann und wieder beziehungsfähig wird. Was hier im Kino dargestellt ist, liest sich wie die Umsetzung einer in der Fachliteratur der religionspsychologischen Gesundheitsforschung empirisch erwiesenen Erkenntnis: Gemeinschaft kann heilen. Ein vertiefter Blick in die unterdessen breit angelegte Forschung ermöglicht, differenzierter wahrzunehmen, inwiefern Gemeinschaft heilend wirksam werden kann.

1. Einblick in die religionspsychologische Gesundheitsforschung Wer in den USA U-Bahn fährt, wird schnell feststellen, dass in Zügen neben der üblichen Werbung für eine Teilnahme an allen erdenklichen Studien geworben wird – für Studien zum Schlafverhalten, zu Essensgewohnheiten, depressiven Verstimmungen, Rückenschmerzen. Heute werden auch ProbandInnen gesucht für Studien, welche die Zusammenhänge zwischen Meditation oder anderen religiösen Praktiken und Gesundheit untersuchen. Noch vor kurzer Zeit war dies kaum denkbar. Im Gefolge der Freud’schen Religionskritik gab es nur wenige Studien zur Wirkung von Religion auf das physische und psychische Wohlbefinden, da ausgesprochen oder unausgesprochen die Annahme vorherrschte, dass Religion lediglich eine schädigende Wirkung habe. Kenneth I. Pargament notiert: „When I first began to study religion and health in 1975, keeping up with the research in the field was not particularly difficult. A leisurely day in the library every few months was sufficient to review recent publications. That is no longer possible.“2 Denn in den 1990er Jahren kehrte das Blatt und eine Unsumme von Studien zur Thematik wurde publiziert, die meisten davon in den USA. Unterdessen haben sich auch in Europa interdisziplinäre Forschungsgruppen formiert. Ein erstes Übersichtswerk zu „Gesundheit – Religion – Spiritualität“3 wurde vor wenigen Monaten auf den europäischen Markt gebracht. Bevor Resultate solcher Forschung vorgestellt werden, die für die Seelsorge relevant sein könnten, scheint mir eine Vorbemerkung angezeigt: Zuerst einmal wird der Theologin ein Schmunzeln entlockt, wenn sie sich 2 Pargament, Geleitwort, 7. 3 Klein et al., Gesundheit. Bereits der Titel des Buches verweist auf eine gewisse Unschärfe der Begrifflichkeit, die das Forschungsgebiet bestimmt und in diesem Übersichtswerk reflektiert wird (vgl. Utsch/Klein, Religion). Die beiden Begriffe „Religion“ und „Spiritualität“ haben in unterschiedlichen Milieus Karriere gemacht. Heute wird „Spiritualität“ oft abgegrenzt von „Religion“ und seinem Bedeutungsspektrum, das die institutionalisierte Seite des Glaubens abdeckt. Spiritualität steht für Selbstentfaltung im Gegensatz zu religiöser Gehörigkeit, für eine „selbstgewählte, kreative, offene, auf Selbsterfahrung hin ausgerichtete Religiosität“ (Stolz/ Ballif, Zukunft, 46).

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einen Überblick über die Studienlage zu verschaffen versucht. Da existieren in der Tat wissenschaftliche Studien, die untersuchen, wie gross die Angst von anglikanischen ChristInnen vor und nach dem Kirchgang ist.4 Ein Schmunzeln wird der Theologin auch entlockt, wenn sie Erwägungen liest, ob der Zusammenhang zwischen Kirchenzugehörigkeit und positiven Wirkungen auf die Gesundheit damit erklärt werden könnte, dass Kirchen in den USA oft Sport Teams stellen.5 Die gesundheitsförderliche Wirkung von Religion müsste dann eigentlich derjenigen des Sportes zugeschrieben werden und würde nur indirekt auf die Religion zurückfallen, insofern als im spezifischen kirchlichen Setting Sportverhalten gefördert wird.6 Empirische Forschung ist eine komplexe Geschichte (und die Gefahr besteht natürlich, dass die komplexe Geschichte grob vereinfacht wird und Daten überinterpretiert werden, die wegen schlechtem Studiendesign, insbesondere wegen zu kleinen Datenmengen, im Grunde wenig sagen).7 Was sind nun Resultate, welche aussagekräftige Studien zum Zusammenhang zwischen Religion bzw. Spiritualität und Gesundheit hervorbringen? Klein und Albani8 fassen die Ergebnisse in einem Modell zusammen und verstehen Gesundheit als Reaktion auf gegebene Anforderungen (Die AutorInnen nennen Alltagsstress, chronische Stressoren und kritische Lebensereignisse). Ob nun jemand gesund bleibt oder nicht, hängt einerseits mit den Prädispositionen zusammen (genetische Anlagen, Sozialisation), zum andern mit Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Hier nun liefert die Religion wichtiges Material. Klein und Albani nennen drei individuelle Ressourcen: 1) Positive Gefühle/Selbstwert. Glaube an einen liebenden Gott fördert „das Gefühl eines unbedingten Angenommenseins, Vertrauens und der fürsorglichen Liebe“. Studien bestätigen: Ein positiv gefärbtes Gottesbild vermittelt oft „ein positives Selbstwertgefühl“, führt zu „weniger Einsamkeitsgefühlen“ und verminderter „emotionale[r] Instabilität“.9 2) Kognitive Orientierung. Religionen deuten Wirklichkeit und transportieren Erklärungs- und Sinnsysteme. Damit nähren und stärken sie das für die Salutogenese zentrale „Kohärenzgefühl“ (Antonovsky). 3) Wertvorstellungen. Viele Religionen sind von Grund auf gesellschaftskritisch und fördern alternative Werte, die „von Erfolgs- und Konformitätsdruck befreien“ und daher Entlastung schaffen.10 Bedeutsam 4 Vgl. Maltby, Church Attendance. 5 Vgl. George et al., Explaining, 193. 6 Gezielte Sportförderung lässt sich übrigens auch für die Theologische Fakultät der Universität Bern nachweisen. Alljährlich fand das TheologInnenfussballturnier statt. Die Autorin selbst konnte sich wiederholt von der filigranen Technik des Empfängers der Festschrift überzeugen. Er galt als „der beste Fussballer unter den Berner Theologieprofessoren“, wie verlässlichen Quellen zu entnehmen ist. Dass diese Sportanlässe zu guter Gesundheit beitrugen, steht ausser Zweifel. 7 Vgl. auch Nelson, Psychology, 318 f. 8 Vgl. im Folgenden Klein/Albani, Religiosität. 9 Ebd., 228. 10 Ebd., Religiosität, 230.

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sind auch Wertvorstellungen wie Dankbarkeit oder die Bereitschaft zum Verzeihen. Die durch Religiosität geförderten individuellen Ressourcen werden durch soziale ergänzt. So übernimmt die religiöse Gemeinschaft wichtige salutogenetische, also gesundheitsförderliche und gesundheitserhaltende Funktionen. Weiter beeinflussen Verhaltensweisen den Gesundheitszustand (z. B. Empfehlungen zum Umgang mit Alkohol, zu Ruhezeiten), dann aber auch zur Verfügung stehende Bewältigungsstrategien, die in einer Krisensituation abgerufen werden können. Der religiöse Blick auf eigene Belastungssituationen – beispielsweise die Zuversicht, dass ein gnädiger Gott hilft, die Gewissheit, dass ein starker Gott eingreift, das Vertrauen, dass ein sanfter Gott tröstet – kann entlastend wirken. Je mehr Religiosität intrinsisch motiviert ist, desto mehr beeinflusst sie den Ressourcenhaushalt und die Verhaltensweisen. Zusammenfassend sei zur Studienlage bemerkt, dass Studien nie sagen können, ob Gott heile, aber sie können sagen, ob und wie Glaube an Gott die Gesundheit beeinflusst: „Science cannot tell us whether God heals, but it can tell us whether belief in God affects health.“11 Gott ins Spiel zu bringen ist das Privileg der Theologie, die religionspsychologische Gesundheitsforschung kann aber zumindest mit dem Placeboeffekt rechnen.

2. Religiöse Gemeinschaft im Fokus Nach diesem Überblick gilt es nun den Faktor „religiöse Gemeinschaft“ vertiefter anzuschauen und zu fragen, welche Aspekte religiöser Gemeinschaft heilsam sein können. Gegenüber institutionalisierter Religion war man in der Forschung lange Zeit sehr skeptisch. So wurde die Kirche verstanden als „the dark side of religious experience“12, will heissen: Im besten Fall verhindert sie das wahre Wesen von Religion, nämlich die religiöse Erfahrung, nicht. Eine wirklich positive Wirkung konnte man in der psychologischen Forschung der kirchlichen Gemeinschaft lange Zeit nicht abgewinnen. Das hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Forschung hat ihr Augenmerk vermehrt auf Gemeinschaften gerichtet und dabei festgestellt, dass im Blick auf gesundheitsförderliche Aspekte Partizipation in einer religiösen Institution sogar wichtiger sein kann als individuelle Praxis.13 11 George et al., Explaining, 198. 12 Roehlkepartain/Patel, Congregations. 13 Vgl. Nelson, Psychology, 390. Mehnert/Hçcker, Religion, 249, verweisen auf Studien, die „stärkere Effekte für öffentliche, institutionalisierte religiöse Aktivitäten (z. B. Häufigkeit der Kirchgänge, Zugehörigkeit zu religiösen Gruppen) auf die körperliche Gesundheit als für persönliche, individuelle religiöse Praktiken (z. B. Häufigkeit häuslicher Gebete, Lesen von Bibeltexten oder das Schöpfen von Trost und Kraft aus den eigenen religiösen Überzeugungen)“ nachweisen.

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Im folgenden Fallbeispiel wird greifbar, was Untersuchungen zum Ressourcencharakter religiöser Gemeinschaft bestätigen: Sarah M., 35, lebt mit ihrer 6 jährigen Tochter und ihrem 5 jährigen Sohn in einer Agglomerationsgemeinde. Sie ist alleinerziehende Mutter, mit dem Vater der Kinder ist der Kontakt abgebrochen. Zwar geht sie einer Teilzeitarbeit nach, verdient aber zu wenig, um nicht mehr vom Sozialamt abhängig zu sein. Wir lernen uns kennen nach einem Taizabendgebet, das alle zwei Monate in unserer Kirchgemeinde stattfindet. Wenn immer möglich organisiere sie eine Kinderhüte und komme hierher, bemerkt Sarah. Das liturgische Gebet mit den wiederholenden Gesängen täten ihr so gut und schenkten ihr Entspannung. Sarah M. verkehrt sonst in der Methodistengemeinde der nahe gelegenen Stadt. Was ihr in ihrer Gemeinde sehr viel bedeute, sei die Gemeinschaft, insbesondere diejenige ihrer Kleingruppe, in der man sich 14-täglich trifft. Auch in schwierigen Zeiten hat sie in der Kleingruppe Unterstützung gefunden, bisweilen sogar materiell. Neulich habe ihr jemand in einem Couvert einen Batzen zugesteckt, damit sie mit ihrer Tochter den freien Mittwochnachmittag am Skilift verbringen könne. In der Gemeinschaft sei sie gut integriert, erzählt Sarah, sie fühle sich zugehörig, das trage sie im Alltag.

Ich möchte vier Aspekte hervorheben, die im Beispiel von Sarah M. deutlich werden:14 1) Religiöse Gemeinschaft kann soziale Integration schaffen und das Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln, was positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und damit auch auf den Gesundheitszustand haben kann. Man teilt Glauben und Überzeugungen. Das kann entlastend wirken. 2) Religiöse Gemeinschaft bietet emotionale Unterstützung und wird damit zur Quelle von Sinn und Halt. 3) In Studien wird immer wieder auch die konkrete materielle Unterstützung erwähnt. Spannend ist dabei, dass nicht nur das Empfangen von Unterstützung positive Effekte auf die Gesundheit zeigt, sondern auch das Geben.15 Diese drei Punkte treffen auch auf andere social networks zu, z. B. auf die Community derjenigen, die ihre Freizeit im Camper auf einem Areal der Naturisten verbringen: Soziale Integration geschieht durch gegenseitiges Bestärken der geteilten Überzeugungen (im Naturistencamp sind das Überzeugungen wie Verzicht auf Fleisch, auf Alkohol, auf Textilien). Emotionale Verbundenheit – gelegentlich auch materielle Unterstützung (im Sinne von unkompliziertem einander Aushelfen) – sind wichtige Aspekte auch ihrer Gemeinschaft. Was nun bei der religiösen Gruppe noch dazu kommt ist ein vierter Aspekt. Sarah M. erfährt ihn in den Taizabendgebeten: Das gemeinsam vollzogene Ritual im gemeinsamen Gottesdienst. Im Ritual wird ein Raum für eine weitere Dimension, für die Transzendenz eröffnet. Es entspricht gleichsam der kulturellen Erwartung, dass im Ritual Gott erfahren wird: „The 14 Vgl. auch Klein/Albani, Religiosität, 226 f. 15 Vgl. Mehnert/Hçcker, Religion, 253.

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spaces and rituals of congregational life invite transcendence. We expect to meet God – at least on occasion – when we go to church or synagogue or mosque“.16 Der eigene Gottesbezug wird im Ritual eingebettet in einen sozial geteilten und er wird dabei bestärkt. Im Sprachspiel der Religionspsychologie heißt das: „Neben dem Aspekt des sozialen Netzwerkes, wird bei einer hohen Intensität der öffentlichen religiösen Praxis auch die psychologische Repräsentation der Transzendenz gestärkt. Menschen, die regelmässig an Gottesdiensten teilnehmen, erfahren einen sozial geteilten Glauben. Dies führt zu einer zusätzlichen Validierung des eigenen Bezugs zur Transzendenz.“17 Im Ritual kann ich mein eigenes Narrativ hineinlegen in das grössere Narrativ der Tradition. Im grösseren Narrativ der Tradition finde ich eine Sprache, finde ich Interpretationsmuster für mein eigenes Narrativ, für meinen eigenen Gottesbezug. Im grösseren Narrativ der Tradition finde ich ein sozial geteiltes Sinnsystem, das zu einer wichtigen Ressource werden kann.18 Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch das Klima, in dem ein Ritual, ein Gottesdienst stattfindet, wie Roehlkepartain und Patel in ihrer Übersichtsarbeit zu spiritueller Entwicklung Jugendlicher nachgewiesen haben.19 Dass religiöse Gemeinschaften bisweilen auch ein äusserst gesundheitsschädliches Potential in sich bergen können, ist aus der Seelsorgepraxis allzu gut bekannt und in umfassenden religionspsychologischen Studien ebenfalls belegt. Das Fragezeichen im Titel dieses Referats darf nicht vorschnell ausradiert werden. Zentral ist, ob Gruppen eine gute Balance gefunden haben zwischen Individuum und Vergemeinschaftung, ob sie also das Individuum zu integrieren vermögen ohne es zu erdrücken. Idealtypisch ist dies in Gemeinschaften verwirklicht – Nelson fasst sie als „communitarian“ zusammen – welche Schwachstellen sowohl des Individualismus als auch des Kollektivismus überwinden und je ihre Chancen vereinigen.20 Weil man, so meine ich, in der deutschsprachigen praktischen Theologie sensibilisiert ist für destruktive Aspekte religiöser Gemeinschaft,21 werde ich sie hier nicht weiter beleuchten. Was lässt sich aber aus religionspsychologischen Erwägungen zu positiven Aspekten religiöser Gemeinschaft für die Seelsorge gewinnen?22 16 Roehlkepartain/Patel, Congregations (Zitat von N.T. Ammerman). 17 Huber, Religiosität, 179. 18 Schneider-Flume, Grundkurs, 354, spricht von der Kirche als „Erzählgemeinschaft der Geschichte Gottes, die Gemeinschaft derer, denen die Geschichte Gottes erzählt wird, denen sich die Geschichte Gottes als befreiende Lebensgeschichte bewahrheitet und die die Geschichte Gottes als befreiendes Lebensangebot weitererzählen.“ 19 Vgl. Roehlkepartain/Patel, Congregations. 20 Vgl. Nelson, Psychology, 399 – 402. 21 Vgl. exemplarisch die Fallbeispiele in Morgenthaler/Schibler, Religiös-existentielle Beratung. 22 Ramsay, Time, spricht im Blick auf den US-amerikanischen Kontext neben einem „intercultural paradigm“ von einem „communal contextual paradigm“, welche die Praktische Theologie und insbesondere die Seelsorge ab 1995 bestimme.

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3. Folgerungen für die Seelsorge23 Die Gemeinschaft der Heiligen kann also zu heilender Gemeinschaft und damit zu einer wichtigen Ressource werden. In der gegebenen kirchlichen Situation ist dies nun allerdings einfacher postuliert als tatsächlich erfahren. Pargament, der sich u. a. mit der salutogenetischen Funktion kirchlicher Gemeinschaft auseinander gesetzt hat, benennt die heutige Schwierigkeit, in Kirchen das Gemeinschaftselement erfahrbar zu machen. Er schlägt vor, das Gemeinschaftserlebnis gezielt zu fördern und somit die Ressource „Gemeinschaft“ besser verfügbar machen: „One apparently effective organizational response to these problems has been to base ongoing activities in small, decentralized units within the church. Ongoing small group prayer, bible study, and mission groups are increasingly frequent means of enhancing intimate sharing and interpersonal commitment among members of diverse congregations. Small group involvement likely contributes to an integrated, strengths view of participants, and provides the opportunity for balanced individual involvement in providing and giving.“24 Was Pargament hier propagiert, ist klassischer Gemeindeaufbau, der kleine Zellen fördert, in denen Gemeinschaft intensiv erfahrbar wird. Auch theologisch liberale Gemeinden setzen in den USA oft auf diese Karte. Sarah M. aus unserem Fallbeispiel hat in ihrer Gemeinde ebenfalls von dieser Art von Gemeindeaufbau profitiert. Im Blick auf die neusten Zahlen der Studie von Stolz et al. zur „Religiosität in der modernen Welt“25 kann ich mir auch noch eine andere Art vorstellen, wie unsere Kirche die Ressource „Gemeinschaft“ weiter zugänglich machen und seelsorgliche Kirche sein kann. Die Studie des Schweizerischen Nationalfonds hat den spezifischen schweizerischen Kontext im Blick, der sich in mancher Hinsicht stark von demjenigen des religiös virtuosen Amerika unterscheidet.26 Vier Religiositätsprofile werden unterschieden: 1) die Institutionellen (Die Studie spricht von Mitgliedern der Kerngemeinde), 2) die Alternativen, 3) die Distanzierten und schliesslich 4) die Säkularen. Eine Hauptaussage der Studie ist, dass die Distanzierten zahlenmässig zulegen und die grosse Mehrheit der Kirchenmitglieder aus Distanzierten bestehe. Die Zahlen sind wenig überraschend. Kaum aufschlussreich sind in der Studie leider die Profilbeschreibungen dieser Distanzierten. Wer sie sind, was ihre 23 Eine etwas anders gelagerte Frage wäre, was sich für den gegenwärtigen Spiritualitätsdiskurs gewinnen liesse. Spirituelle Praxis folgt oft dem Individualismus-Prinzip, weil nur so – so die Annahme – Authentizität gewährleistet ist. Wird allerdings die Wichtigkeit der Gemeinschaft zur Kenntnis genommen, gilt es, individuelle Praxis und gemeinschaftliche Gestaltformen von Spiritualität in ein kreatives Wechselspiel zu bringen. 24 Pargament/Maton, Religion, 508. 25 Stolz et al., Religiosität. 26 Insgesamt warnt Klessmann, Religion, 30 f, davor, Resultate der US-dominierten religionspsychologischen Gesundheitsforschung unkritisch auf den europäischen Kontext anzuwenden.

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religiöse Suche ist, bleibt in der Untersuchung im Dunkeln. Sicherlich gibt es unter den Distanzierten Menschen, die für verbindlichere Gemeinschaft ansprechbar wären, aber sie bislang nicht gefunden haben. Sei es, weil die Kerngemeinde – um die Terminologie der Studie aufzunehmen – zu geschlossen erscheint, sei es, weil ihre Peers in ganz andern Gruppierungen anzutreffen sind und daher die u. U. milieuverengte Parochialgemeinde vor Ort wenig attraktiv ist. Ich vermute aber auch, dass es unter den Distanzierten Menschen gibt, die religiös unverbindlich bleiben wollen und darum in der Kirche prima vista auch keine so verbindliche Gemeinschaft suchen wie sie Sarah M. aus dem Fallbeispiel gefunden hat. Sie sehen keinen Anlass, die Schwelle hinein in den Sonntagmorgengottesdienst zu überwinden und zu riskieren, beim Friedensgruss vor dem Abendmahl zum Händedruck aufgefordert zu werden. Distanz wahren lautet die Devise. Will die Kirche seelsorgliche Kirche sein, wird es für sie zum Gebot der Stunde, Formen zu entwickeln, welche die Ressource „Gemeinschaft“ auch solchen anbietet, die unverbindlich bleiben wollen. Also Gemeinschaft für Unverbindliche? Das tönt zuerst einmal wie ein Widerspruch, aber ich meine verschiedene spannende Initiativen wahrzunehmen, die genau mit einem solchen Ansatz arbeiten. Zwei Projekte seien kurz skizziert: Bern/Schweiz.27 Jeden Donnerstagabend um 18 h lädt die Offene Kirche in der Heiliggeistkirche zum „Sinnieren, nachsinnen, besinnlich werden“ ein. „Den Lärm ausatmen. Sich anvertrauen“. Jeden Donnerstagabend findet das Feier-Abend-Gebet statt und verleiht PassantInnen für einen Moment eine „Maske des Glaubens“ (Steffensky). Die eigene Geschichte wird für einen Moment eingebettet in die Geschichte und Gemeinschaft des Glaubens. Sie wird eingebettet in die Schönheit des Kirchenraums, in den Reichtum der biblischen Geschichten, welche die Geschichte Gottes mit den Menschen weitererzählen. Berlin/Deutschland.28 Zweimal pro Tag, von Montag bis Freitag, feiert die Gemeinschaft des Stadtklosters im Prenzlauer Berg ihre Stundengebete und öffnet dazu die Kirchentüren. Wer vorbei geht, ist eingeladen, eine Viertelstunde mitzufeiern. Die Liturgie lässt sich bewohnen, auch auf Probe. Bei beiden Angeboten sind Menschen verlässlich präsent – in Berlin Menschen einer Communität, in Bern Freiwillige, einige davon, die zur Parochialgemeinde Heiliggeist gehören. Wer unverbindlich Gemeinschaft sucht, kann für einen Moment einklinken und wieder gehen. Die Gemeinschaftserfahrung konzentriert sich auf den vierten Aspekt, den ich erwähnt habe. Wer mehr Gemeinschaft sucht, emotionalen Support, vielleicht auch weitergehende Unterstützung, findet offene Ohren. Sowohl die Offene Kirche als auch das Stadtkloster bieten seelsorgliche Gespräche bzw. Geistliche Begleitung an. Für diejenigen, die das wollen. 27 Vgl. http://www.offene-kirche.ch/angebote/tag-fuer-tag/feier-abend/. 28 Vgl. http://www.stadtklostersegen.de/gebete.html.

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Vielleicht sind es insbesondere liturgische Gebete, zu fixen Zeiten, die es Menschen ermöglichen zu kommen und auch wieder zu gehen. Anders als im Wortgottesdienst, wo ich von der Pfarrerin, vom Pfarrer frontal angesprochen werde, bieten liturgische Gebete mehr Möglichkeit, mein Bedürfnis nach Nähe und Distanz ein Stück weit selbst zu regulieren. Vielleicht sind es insbesondere liturgische Gebete, die im Ritual Entlastung und Beheimatung auf Zeit schaffen.29

4. Und doch keine Gottespille… Eine Schlusserwägung: Im Anfang waren religionspsychologische Studien zur Gesundheit, gelandet bin ich bei liturgischen Gebeten, die auf Zeit heilende Gemeinschaft bieten können. Dies ist ein sehr bescheidener Vorschlag. Selbstverständlich sind liturgische Gebete keine allgemein bekömmlichen Gesundheitsrezepte. Nelson bringt es auf den Punkt, wenn er zusammenfassend fragt: „What are the practical implications of the findings on religion and health? At first glance, they suggest that religious participation should be encouraged, as it will lead to better health. However, religion is not just a set of discrete behaviors and attitudes, or a variety of alternative medicine – a kind of ,God pill‘ that one takes to get healthy.“ Religion ist also keine Alternativmedizin, keine Gottespille. Weiter schreibt er : „Rather, it is a culture, a way of life and worldview with many implications for people who adopt it“.30 Religion ist eine Kultur, ein „way of life“, der Initiation und Partizipation in einem spezifischen Narrativ verlangt. Im Blick auf die biblische Tradition im Übrigen ein Narrativ, das zu flache Gesundheitskonzepte kritisiert, das nochmals neu fragt, was Gesundheit denn eigentlich ist und auch Schwäche und Gebrochenheit einen würdigen Platz gibt. Lady Gruner und die ihren scheinen das begriffen zu haben.

29 Vgl. auch Sr. Doris Kellerhals, Heilende Gemeinschaft, 301 – 304. 30 Nelson, Psychology, 345.

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Schneider-Flume, Gunda, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, Göttingen 2004. Stolz Jçrg et al., Religiosität in der modernen Welt. Bedingungen, Konstruktionen und sozialer Wandel, http://www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/medienmitteilungen/RM_Rapport_final5_15.pdf. (Accessed: 21. 06. 2011) Stolz, Jçrg/Ballif, Edme, Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen, Zürich 22010. Utsch, Michael/Klein, Constantin, Religion, Religiosität, Spiritualität. Bestimmungsversuche für komplexe Begriffe, in: C. Klein et. al. (Hg.), Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze, Weinheim und München 2011, 25 – 45

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V Über Fach- und Ländergrenzen hinweg

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David Plüss

Ist Seelsorge Religion? Variationen zum Verhältnis von Seelsorge und Liturgie 1. Theologie als anfängliche Wissenschaft Die Theologie ist eine anfängliche Wissenschaft. Sie erlaubt und sie nötigt, immer wieder von vorne zu beginnen, be’reshit, am Anfang. Sie erlaubt und sie nötigt, die Bibel immer wieder neu aufzuschlagen, die Texte zu lesen und wieder zu lesen, die Vokabeln und Metaphern in Kenntnis der Auslegungsund Wirkungsgeschichte und zugleich entdeckungslustig zu drehen und zu wenden, um sie in der jeweiligen Gegenwart neu zum Leuchten zu bringen. Sie erlaubt und sie nötigt, die Trinitäts- und die Rechtfertigungslehre immer wieder neu zu drehen und zu wenden, sie durchaus kritisch zu befragen, damit sie für unsere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Leben zu erschliessen und Unverständliches zu deuten vermögen. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Theorie der Seelsorge. Sowohl die Frage nach dem Proprium christlicher Seelsorge als auch die enzyklopädische Frage nach ihrer Verortung im Ensemble theologischer Disziplinen und kirchlich-religiöser Praxen sind solch anfängliche Fragen. Um diese soll es im Folgenden gehen.

2. Ist Seelsorge Religion? Die Frage, ob Seelsorge ein religiöser Vollzug sei, mag verwundern, auch nach dem anfänglichen Plädoyer für die Anfänglichkeit der Theologie. Sie verwundert insbesondere deshalb, weil der Hirtendienst, das pastorale Amt die institutionalisierte Form der Seelsorge darstellt und bis in die Alte Kirche zurück reicht.1 Aber sie erstaunt auch angesichts des aktuellen Erfolgs der Seelsorgebewegung. Der Erfolg der Pastoralpsychologie, der Aus- und Weiterbildungen in Systemischer Seelsorge, in Clinical Pastoral Training (CPT) oder in Lösungsorientierter Seelsorge (LOS), auf den die Einschreibungszahlen der in Bern angesiedelten Seelsorgekurse hinweisen, ist beeindruckend. Die Pastoralpsychologie hat in den letzten dreissig Jahren einen Siegeszug ohnegleichen angetreten. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass sie mittlerweile zur pastoralen und ekklesiologischen Leitdisziplin avanciert ist. Pfarramt und 1 Vgl. Bonhoeffer, Ursprung.

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Kirchenleitung haben unverkennbar einen pastoralpsychologischen Einschlag erhalten. Das von Karl Barth, seinen Weggefährten und Anhängern vertretene Paradigma der Verkündigung scheint definitiv abgelöst worden zu sein durch dasjenige der seelsorgerlichen Beratung und Begleitung. Dazu haben Christoph Morgenthaler sowie die Expertinnen und Experten der Seelsorgebewegung Wesentliches beigetragen. Ein Blick auf das Berner Pfarrleitbild von 2005 bestätigt und verdeutlicht diesen Befund. Die Berner Pfarrerinnen und Pfarrer verstehen sich zunächst als Lebensbegleiterinnen und -begleiter.2 Die Lebensbegleitung stellt das Rollenmodell, den pastoraltheologischen Rahmen dar für die unterschiedlichen pfarramtlichen Tätigkeiten, die im Leitbild angeführt werden. Pfarrerinnen begleiten Neues, vermitteln zwischen Konfessionen und Kulturen, bauen Brücken zwischen den Generationen und suchen hilfreiche rituelle Formen. Gewiss, sie stehen auch ein für ihre Tradition, setzen sich ein für Bildungsanliegen und Werte und stellen Machtmechanismen in Frage. Aber der Cantus firmus ist die pastorale Rolle der Lebensbegleitung. Die Verkündigungsaufgabe der Verbi Divini Ministri wird nicht einmal erwähnt. Oder aber sie wird pastoralpsychologisch umformuliert. Wie ist nun aber angesichts dieser offenkundigen Evidenz des pastoralpsychologischen Paradigmas die Frage nach der religiösen Valenz der Seelsorge zu verstehen? Erübrigt sie sich nicht a limine? Ich meine nicht. Ganz im Gegenteil! Und zwar kann die Frage aus zwei Richtungen gestellt werden, nämlich von innen und von aussen. Die Frage aus der Innenperspektive ist diejenige nach dem Selbstverständnis der Seelsorge, namentlich die Frage nach dem Säkularisierungsgrad der Seelsorgebewegung. Die empirische Wende in der Praktischen Theologie vor vierzig Jahren verband sich mit einem bemerkenswerten Säkularisierungsschub der praktisch-theologischen Handlungsfelder und Disziplinen. Dies gilt nicht zuletzt für die Seelsorge und die Pastoralpsychologie. Die Propriumsfrage, die Frage also nach dem dominanten Unterscheidungsmerkmal zwischen Seelsorge und Psychotherapie bzw. Beratung, drängte sich auf und wurde durchaus kontrovers verhandelt.3 Immer wieder wird seither auf Dietrich Stollbergs Formel rekurriert, wonach Seelsorge nichts anderes sei 2 Vgl. URL: www.refbejuso.ch/uploads/tx_docmngr/II-B-2_Leitbild_Pfr.pdf (Zugriff am 15. 4. 2011): Leitbild Pfarrerin/Pfarrer: „Als Lebensbegleiterinnen und -begleiter sind Pfarrerinnen und Pfarrer besonders herausgefordert durch den Wandel und neue Entwicklungen in der Gesellschaft: Sie stehen ein für die christlichen Traditionen und tragen Sorge zu ihnen. Sie begleiten Neues kritisch und konstruktiv. Sie setzen sich für die Ausbreitung christlicher Inhalte und Werte ein. Sie halten das Bewusstsein für den Zusammenhang von Beheimatung und konfessioneller Identität wach. Sie vermitteln zwischen Konfessionen, Religionen und Kulturen. Sie stellen Machtmechanismen und gesellschaftlich erstarrte Rollenzuteilungen in Frage. Sie bauen Brücken zwischen den Generationen. Sie suchen mit den Menschen ihres Wirkungskreises liturgische und rituelle Formen zur Bewältigung besonderer Lebenssituationen.“ 3 Vgl. hierzu Haendler, Tiefenpsychologie; Lpple/Scharfenberg, Psychotherapie; Scharfenberg, Einführung; Rauchfleisch, Seele.

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als „Psychotherapie im kirchlichen Kontext“.4 Nach Stollberg handelt es sich bei der Seelsorge um eine begleitende und beratende Praxis, welche sich methodisch am durchaus säkularen Modell der humanistischen Psychologie und Gesprächspsychotherapie orientiert, auch wenn sie im institutionellen Rahmen der Kirche und innerhalb des christlichen Symbolsystems erfolgt. Viele Seelsorgerinnen und Seelsorger in Spezialpfarrämtern mit Zusatzausbildung in CPT/KSA verstanden und verstehen ihr Handwerk denn auch zunächst als therapeutisches und beratendes und weniger als genuin religiöses. Sie verstehen sich als Lebensbegleiterinnen und weniger als Verkündiger5 oder geistliche Führer in die verborgenen und verbotenen Zonen des Heiligen.6 Die Professionalisierung der Gesprächsführungstechnik und die Verbesserung der Selbstwahrnehmung liegen ihnen näher als etwa die Wiederbelebung der Beichtpraxis. Die Frage kann aber auch von aussen, gewissermassen religionsphänomenologisch gestellt werden: Inwiefern lässt sich Seelsorge als religiöse Praxis identifizieren? Dabei ist zunächst der Religionsbegriff zu klären, der dieser Frage zugrunde gelegt wird. Der an der University of Chicago lehrende Religionssoziologe Martin Riesebrodt hat vor wenigen Jahren eine substantielle Religionstheorie vorgelegt, mit der er innerhalb der religionswissenschaftlichen Grundlagendiskurse neue Akzente gesetzt hat und die mir für unsere Fragestellung fruchtbar zu sein scheint. Riesebrodt bestimmt Religion im Anschluss an Max Weber handlungstheoretisch, nämlich „als ein System sinnhafter Praktiken mit Bezug auf übermenschliche (persönliche oder unpersönliche) Mächte“7, wodurch Unheil abgewendet, Krisen bewältigt und Heil erlangt werden soll. Ein solcher Religionsbegriff lässt – im Unterschied zu den gängigen funktionalen Theorien8 – Religion trennscharf unterscheiden von nichtreligiösem Verhalten. Riesebrodt nimmt aber auch innerhalb des religiösen Feldes Differenzierungen vor und unterscheidet sein handlungstheoretisches Religionskonzept von der religiösen Tradition (Symbolsysteme, Kanones, Vorschriften) wie von der Religiosität als individuelle Aneignungsgestalt von Religion. Innerhalb der religiösen Praxis differenziert er zwischen diskursiven, interventionistischen und verhaltensregulierenden Praktiken und bestimmt die interventionistischen Praktiken, welche „Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heil zu stiften“9 vermögen, als den Wesens- und Glutkern von Religion. Er fokussiert somit auf die „Liturgien“. Riesebrodts Religionstheorie gibt der Religionsforscherin nicht nur ein 4 5 6 7 8

Stollberg, Gott, 33; vgl. auch Stollberg, Beratung 196 f. Vgl. hierzu Thurneysen, Ausrichtung. Vgl. Josuttis, Einführung, 11 – 33; Josuttis, Segenskräfte. Riesebrodt, Grundzüge, 326. Als Negativfolien dienen ihm die Theorien von Luckmann und Berger (vgl. Luckmann, Religion; Berger, Zwang/Sinn). 9 Riesebrodt, Grundzüge, 333.

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trennscharfes Instrument an die Hand, sondern weist den evangelischen Theologen auch auf die fast durchgängige, theologisch motivierte Ausblendung religiöser Praxis im Protestantismus hin. Einer Praxis, nota bene, welche auch das protestantische Christentum auszeichnet und die der praktischtheologischen Theoriebildung bedarf. Vor dem Hintergrund eines solchen Religionskonzepts lässt sich die Ausgangsfrage präziser formulieren: Stellt seelsorgerliches Handeln eine interventionistische Religionspraxis im Sinne Riesebrodts dar? Bei einer solchen Zuspitzung der Frage dürften bei einigen Protestanten tief sitzende Reflexe und Bedenken gegenüber magischen Handlungen wach werden. Es scheint mir aber ratsam, die Frage nicht vorschnell zu verneinen, sondern genauer hinzuschauen. Vor allem scheint es mir ratsam, die Frage indirekt zu stellen, indem sie durch einen Vergleich von seelsorgerlichem und liturgischem Handeln bearbeitet wird. Denn beim aaronitischen Segen, beim liturgischen Gruss oder bei der Fürbitte leuchtet die Riesenbrodt’sche Religionsdefinition unmittelbar ein, obwohl auch hier Bedenken bezüglich des Missverständnisses der Magie zu erwarten sind. Wie verhält sich nun die Seelsorge zur Liturgie? Um diese Frage zu beantworten, werden im Folgenden drei so prominente wie exemplarische Seelsorgekonzepte untersucht, in welchen typisch unterschiedliche Verhältnisbestimmungen vorgenommen werden, nämlich die poimenischen Konzepte von Friedrich Schleiermacher, Eduard Thurneysen und Christoph Morgenthaler.

3. Die Seelsorge als Ambulatorium der Liturgie: Friedrich Schleiermacher Friedrich Schleiermacher, der protestantische Kirchenvater des 19. Jahrhunderts und Begründer der Praktischen Theologie als Wissenschaft, hat eine zugleich pragmatische und eigenwillige Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Liturgie vorgenommen. Religion ist für ihn bekanntlich weder Belehrung noch Moral, sondern im Wesentlichen Gefühl: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen“.10 Dieses frühromantisch gestimmte und responsiv grundierte Religionskonzept des jungen Schleiermachers korrespondiert nicht unmittelbar mit Riesebrodts interventionistischen Praktiken. Ein Näheverhältnis stellt sich dadurch ein, dass Schleier10 Schleiermacher, Religion, 29.

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macher den Cultus als den genuinen Ort der Religionspraxis bestimmt. Die Abgrenzung gegenüber Moral und Belehrung hält er zwar bei, Religion findet ihren authentischen Ausdruck aber gleichwohl in einer bestimmten Praxis, nämlich im darstellenden Handeln innerhalb der Liturgie: „Der Zweck des Cultus ist die darstellende Mitteilung des stärker erregten religiösen Bewusstseins“, und zwar mit dem Ziel, „die religiöse Tätigkeit aller anderen zu erhöhen“11. Liturgisches Handeln ist für Schleiermacher expressives Handeln. Dieses verleiht dem Glauben eine Gestalt, welche die religiösen Subjekte anzurühren und in ihrem eigenen Glauben zu stärken vermag. Dabei geht Schleiermacher davon aus, dass alle Gottesdienstteilnehmer bereits vom christlichen Glauben und Hoffen bewegt werden, allerdings in unterschiedlicher Kraft und Innigkeit. Dem Geistlichen kommt dabei die Aufgabe zu, das religiöse Bewusstsein aller durch darstellendes Handeln zu erhöhen und ihnen damit eine erhöhte religiöse Vitalität und Kreativität zu vermitteln. „Dies Hervorheben des religiösen Bewusstseins muss aber ein gemeinsames sein; anachoretische Betrachtung bringt immer krankhafte Einseitigkeit hervor“.12 Dabei gilt: „Der öffentliche Gottesdienst ist eigentlich nur für Menschen, die religiös sind; ebenso wie die geselligen Vereinigungen nur für Menschen sind, die schon fröhlich sind“13. Wer noch nicht religiös ist, der soll durch katechetische Bemühungen befähigt werden, sich an der Circulation des religiösen Bewusstseins zu beteiligen. Und wer – aus welchem Grund auch immer – aus der Circulation des religiöse Bewusstseins herausfällt, der bedarf der Seelsorge bzw. soll von sich aus diese in Anspruch nehmen, damit er wieder zur religiösen Eigenständigkeit und christlichen Freiheit gelangt, wie sie im Cultus ihren authentischen Ausdruck gewinnt: „Überall, wo solche Anforderung [der Beratung] Anm. DP] an den Geistlichen geschieht, hat er sie dazu zu benutzen, die geistige Freiheit des Gemeindegliedes zu erhöhen und ihm eine solche Klarheit zu geben, dass jede Anforderung nicht mehr in ihm entstehe“14. Seelsorge ist für Schleiermacher demnach keine genuin religiöse Tätigkeit. Sie ist nicht darstellendes, sondern wirksames Handeln. Sie bezeichnet das Ensemble von Handlungen des Geistlichen, die nötig sind, um einzelne Gemeindeglieder zu befähigen, sich als selbständige religiöse Subjekte wieder am Cultus zu beteiligen und dadurch ihrem Glauben authentischen Ausdruck zu verleihen. Seelsorge ist somit dem Cultus nicht untergeordnet, sondern ihm als unabdingbare Tätigkeit des pastoralen Amtes beigeordnet. Der Grund dieser spezifischen Zuordnung ist im erwähnten Religionskonzept Schleiermachers zu finden, welches vom Individuum und der religiösen Gemeinschaft her konzipiert ist. Das Beichtinstitut der katholischen Kirche und die unabdingbare Funktion der priesterlichen Absolution dagegen sind ihm fremd. Die 11 12 13 14

Schleiermacher, Theologie, 75. Schleiermacher, Theologie, 131. Schleiermacher, Theologie, 73. Schleiermacher, Theologie 431.

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Seelsorge ist für Schleiermacher weder eine genuine noch eine konstitutive religiöse Praxis, sondern hat ambulatorische Funktion für den Cultus. Die Pastorin sucht die verlorenen Schafe und führt sie zurück in die inspirierende Feier der Gläubigen. Eine solch direkte Zuordnung von Seelsorge und Liturgie wird heute kaum noch vertreten. Sie hat aber noch immer ein hohes Anregungspotential. Bedenkenswert scheint mir vor allem die klare Systematik der kirchlichen Handlungsfelder. Der Seelsorge wird ein bestimmter Ort zugewiesen. Sie wird als pastorale Tätigkeit im Ensemble kirchlicher Praxisformen und auf diese bezogen konzipiert. Aus diesem Bezug oder diesen Bezügen ergeben sich auch Anlass und Ziel der Seelsorge. Diese erscheint nicht als Passepartout für die pastorale Praxis wie im erwähnten Berner Pfarrleitbild, sondern erfolgt aufgrund der religiösen Unselbständigkeit Einzelner und anlässlich ihres Begehrens. Und sie findet in der Vitalität und liturgischen Ausdrucksmöglichkeit des religiösen Individuums ihr Ziel und ihre Begrenzung. Damit werden pastorale Bevormundung und Abhängigkeiten abgewehrt. Die Seelsorge wird als religiöses Coaching verstanden und mit einem klaren Auftrag versehen. Sie unterstützt Menschen darin, religiös selbständig und tätig zu werden, wobei diese religiöse Tätigkeit von Schleiermacher als eine liturgische, das heißt als eine symbolische und rituelle Praxis konzipiert wird. Damit verbindet sich ein Verständnis für die Eigenart und das Potential christlich-religiöser Praxis, welches in aktuellen Seelsorgekonzepten – von Ausnahmen und Aussenseitern abgesehen15 – nicht in vergleichbarer Deutlichkeit anzutreffen ist. Andererseits ist zu fragen, ob Seelsorge in diesem Modell zureichend erfasst ist oder nicht zu sehr auf eine Hilfsfunktion reduziert wird. Oder anders gewendet: Sollte Seelsorge nicht verstärkt als religiöse Praxis sui generis, als darstellendes und mitteilendes Handeln im Sinne Schleiermachers verstanden und vollzogen werden?

4. Seelsorge als Beichte und Verkündigung in nuce: Eduard Thurneysen Karl Barth und Eduard Thurneysen gelten gemeinhin als die theologischen Antipoden von Schleiermacher. Ihnen geht es keineswegs um die Erhöhung des religiösen Bewusstseins im Cultus, sondern um die Verkündigung des Evangeliums, um die Ausrichtung der Vergebung, auch und gerade in der Seelsorge. Die Seelsorge wird als spezifische Liturgie konzipiert, insofern sich 15 Zu den Aussenseitern gehört insbesondere Josuttis (vgl. Josuttis, Einführung/Seelsorge/Segenskräfte); zu den Ausnahmen sind die Konzepte und Angebote geistlicher Begleitung zu zählen (vgl. Hermisson, Paradox), die sich allerdings bis anhin primär an Pfarrpersonen richten.

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die Verkündigung nicht an eine Gemeinde, sondern an den Einzelnen richtet. Im Zentrum der Seelsorge steht die Beichte. Allerdings wird diese – in scharfer Abgrenzung gegenüber der katholischen Beichtpraxis – als Verkündigung des Evangeliums verstanden und durch diese bewirkt: „Die Ausrichtung des Evangeliums in der Form des Gebotes führt zur Busse, diese verstanden als die konkrete Umdrehung des Lebens des Menschen durch die Vergebung“16. Die Verkündigung des Evangeliums und die dadurch bewirkte Umkehr bestimmen allerdings auch Ziel und Wesen der Predigt und des Gottesdienstes: „Dieses Hinlegen meiner Sünde vor Gott heißt und ist meine Beichte. Sie vollzieht sich im Gebet jedes Einzelnen für sich und Aller miteinander im Gottesdienst der Gemeinde“17. Die Seelsorge hat gegenüber der Liturgie den Vorzug der grösseren Verbindlichkeit von Bekenntnis und Vergebenszuspruch: „Der Herbeiführung solcher Busse vor Gott und Jesus Christus gegen alle Widerstände der Sündenmacht dient die Beichtaussprache, in der Einer dem Andern seine Sünde bekennt und Einer dem Andern die Vergebung verkündigt und die heilsame Ermahnung zuteil werden lässt“18. Die Urszene der Seelsorge ist bei Thurneysen somit die Beichte, und zwar nicht als Voraussetzung, sondern als heilsame Wirkung der Verkündigung des Evangeliums. Damit sind Seelsorge und Liturgie sowohl aufeinander bezogen als auch unterschieden. Die Seelsorge verfolgt dieselben Ziele wie die Predigt: Verkündigung und Busse. Seelsorge ist ein Verkündigungsgeschehen in nuce. Dabei gilt, dass der erhoffte Effekt der Verkündigung nirgends so augenfällig wird wie in der Situation der Seelsorge, in der die Verkündigung von Angesicht zu Angesicht erfolgt – und somit auch das Bekennen der Schuld und der Zuspruch der Vergebung. Seelsorge will zwar auch – wie bei Schleiermacher – zurück in die Versammlung der Gemeinde im Gottesdienst führen.19 Aber sie ist nicht nur die Ambulanz der Liturgie, sondern eine Liturgie in konzentrierter Gestalt und mit erhöhter Intensität und Verbindlichkeit. Hier ist der Bezug von Bibelwort und Lebensgeschichte des Einzelnen in einer Weise möglich, wie es in der Predigt kaum gelingen kann: „Es vollzieht sich demgemäss als Gespräch im Raum der Gemeinde in der Weise eines steten Hinhörens auf das Wort Gottes und eines steten Hinhörens auf den Menschen, der im Lichte dieses Wortes erst wirklich zum Verstehen seines Lebens kommen kann“20. Zudem erfolgt in der Seelsorge eine Umsetzung des reformatorischen Grundsatzes des Priestertums aller Getauften, wie es im Gottesdienst nicht möglich ist. Die eine wird der anderen zur Seelsorgerin, ohne pastorale 16 17 18 19

Thurneysen, Ausrichtung, 114. Thurneysen, Ausrichtung, 114 Thurneysen, Ausrichtung, 114 Vgl. Thurneysen, Ausrichtung, 111: „Seelsorge ist ein Mittel, das zum Ziele hat, den Einzelnen, da ihn ja Gott nicht preisgeben will, zu Predigt und Sakrament und damit zum Worte Gottes zu führen, ihn in die Gemeinde einzugliedern und dabei zu erhalten.“ 20 Thurneysen, Ausrichtung, 112.

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Weihen und Allüren. Allerdings stellt Thurneysen hohe Ansprüche an die Tätigkeit der Seelsorgerin, die von Laien kaum zu erfüllen sind. Thurneysen vertritt somit ein genuin theologisches und religiöses Konzept von Seelsorge. Seit dem Zürcher Pfarrer und Psychoanalytiker Oskar Pfister21 sind zwar die Psychopathologie und die Psychoanalyse zu prominenten Bezugstheorien der Seelsorge avanciert,22 auch für Thurneysen, aber es liegt ihm daran, Grundlagen und Praxis der Seelsorge als religiös zu bestimmen. Die Psychologie hat die Funktion einer Hilfswissenschaft. Sie kann die Menschenkenntnis und das Urteilsvermögen der Seelsorgerin verbessern, aber diese weder begründen noch orientieren. Die Richtung der Seelsorge ist vorgegeben und durch das Handeln Gottes in Jesus Christus begründet. Sie findet ihre eigene Praxis darin, diese Begründung und Ausrichtung in symbolisch verdichteten und ritualisierten Sprechhandlungen zum Ausdruck zu bringen: in der Verkündigung des Evangeliums, in der Beichte. Der Charme dieser Seelsorgekonzeption wurde vielfach verkannt. Die beissende Kritik seitens prominenter Vertreter der Seelsorgebewegung an diesem genuin religiösen und über weite Strecken rituellen Modell von Seelsorgepraxis erfolgte oft seinerseits in ritualisierter Gestalt.23 Thurneysen diente und dient als Negativfolie der Seelsorgebewegung, indem er eines illegitimen autoritären Gestus’ bezichtigt wird. Die Attraktivität von Thurneysens Modell liegt dabei gerade in dessen religiöser Gestalt und theologischer Profilierung. Seelsorgerliches Handeln wird als religiöses Handeln sichtbar und in die alte Tradition christlicher Religionspraxis eingezeichnet. Der Bezug zur Liturgie ist grundlegend, wenn auch die eigentümliche religiöse Formsprache der Seelsorge, von Thurneysen deutlicher erkannt und propagiert wird als von Schleiermacher. Seelsorge erfolgt im Modell der Verkündigung und orientiert sich daran.

5. Seelsorge als kasuelles Handeln: Christoph Morgenthaler Der Sprung von Eduard Thurneysen zu Christoph Morgenthaler bedarf der Begründung. Zwischen den Beiden liegt der erwähnte pastoralpsychologische Aufbruch der 1970er Jahre, der mit guten Gründen als Seelsorgebewegung bezeichnet wird und sich mit Namen wie Joachim Scharfenberg, Dietrich Stollberg, Hans-Christoph Pieper und Hans van der Geest verbindet, aber auch mit dem Ausbildungskonzept des Clinical Pastoral Training CPT24. 21 Vgl. Pfister, Seelsorge; dazu Noth, Ehrfurcht; Noth, Leben. 22 Vgl. dazu die massgebliche Arbeit von Noth (vgl. Noth, Aktualität). 23 Vgl. Scharfenberg, Schuldprinzip/Einführung. Eine ausführliche und anregende Kritik dazu und zur Seelsorgebewegung insgesamt hat Karle (vgl. Karle, Moderne) geliefert. 24 In Deutschland ist die eingedeutschte Bezeichnung Klinische Seelsorgeausbildung KSA üblich in Aufnahme des neueren in den USA verwendeten Begriffs Clinical Pastoral Education CPE.

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Morgenthaler hat selber diese Bewegung mitgeprägt, insbesondere deren psychoanalytische Spielform.25 Er hat sie aber auch weiter entwickelt und über sich selbst hinausgeführt. Die Generalabrechnung Isolde Karles mit der Pastoralpsychologie von 199626 trifft Morgenthaler nicht, im Gegenteil! Er hat das eingeschränkte Blickfeld der herkömmlichen Pastoralpsychologie, die Fixierung auf intrapsychische Prozesse des Individuums und die Ausblendung sozialer Zusammenhänge seelsorgerlicher Problemlagen frühzeitig erkannt und konstruktiv bearbeitet. Allerdings ist Morgenthaler, im Unterschied zu Karle, stärker auf Kontinuitäten als auf Abgrenzungen und Frontstellungen bedacht. Die von ihm entwickelte Systemische Seelsorge nimmt die zentralen Anliegen und Erkenntnisse der Pastoralpsychologie auf und stellt sie in einen neuen Rahmen.27 Dass an dieser Stelle Morgenthaler und kein klassischer Vertreter der Seelsorgebewegung gewählt wurde, ist nicht nur durch den Anlass dieser Festgabe, sondern besonders auch durch den letztgenannten Punkt begründet. Morgenthaler hat Seelsorge – stärker als die Pastoralpsychologie vor ihm – als religiöse Praxis im kirchlichen Kontext modelliert und sie damit wieder erkennbar in eine lange Tradition der christlichen Kirchen eingezeichnet.28 Er nimmt damit die Fäden auf, die bereits Zwingli, dann aber vor allem Schleiermacher und Thurneysen ausgelegt haben, indem sie Seelsorge als kirchliches Handeln konzipierten. Stollbergs bereits zitiertes Diktum, wonach Seelsorge nichts anderes sei als Psychotherapie im kirchlichen Kontext29, wird von Morgenthaler in einer Weise konzeptualisiert, die Stollberg nicht im Blick hatte.30 Und zwar dadurch, dass Morgenthaler das zweite Element betont und herausarbeitet, nämlich den kirchlichen Kontext. Seelsorge wird innerhalb des kirchlichen Kontextes praktiziert und ist bleibend auf diesen bezogen.31 Dabei ist dieser komplex verfasst, indem er sich nicht nur auf die Gottesdienstgemeinde bezieht, sondern auf weitere Gruppen und Systeme: auf Familien und Milieus, auf zivilgesellschaftliche Akteure und den Staat, aber auch auf Einzelne. Eine solcherweise kontextuell profilierte Seelsorge ist vielgestaltiger als das sprichwörtliche Gespräch unter vier Augen32. Sie agiert zurückhaltender, lässt sich beauftragen, aber nicht vor den Karren partikularer Interessen spannen. Sie solidarisiert sich mit ganzen Familiensystemen, ohne vorschnell oder einseitig Partei zu ergreifen. Sie versteht Leiden nicht ausschliesslich personal, sondern auch, oder noch stärker, systemisch bedingt. Die systemisch orien25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Morgenthaler, Funktion. Vgl. Karle, Moderne. Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge/Bezugrahmen/Seelsorge. Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 18. Stollberg, Gott, 33. Vgl. Stollberg, Beratung. Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 19. Van der Geest, Augen.

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tierte Seelsorgerin agiert rollenbewusst. Sie weiss, dass sie ihre Arbeit nur dann gut und wirksam tun kann, wenn sie nicht aus ihrer Rolle fällt, sondern präzis wahrnimmt, welcher Spielraum sich mit ihrer pastoralen Rolle in einer bestimmten Situation eröffnet. Rollensicherheit bedeutet für die systemisch orientierte Seelsorgerin, die religiöse Kontur ihrer Rolle zu akzeptieren und als Ressource zu investieren. Sie leidet nicht daran, dass sie Pfarrerin ist, Kirche und Christentum personal repräsentiert und Bekenntnisse prägender religiöse Erlebnisse provoziert. Sie leidet nicht an den rollenbedingten Zumutungen und Stereotypen, sondern erkennt die Potentiale und den Reiz ihres pastoralen Amtes. Sie weiss, dass von ihr zwar Authentizität, aber nicht als Privatperson erwartet wir, sehr wohl aber die Glaubwürdigkeit und Echtheit als Pfarrerin.33 Die Seelsorgerinnenrolle verbindet sich damit unauflösbar mit der Rolle der Liturgin und Predigerin. Die poimenische Urszene von Morgenthalers Seelsorgemodell ist denn auch das Kasualgespräch. Systemische Seelsorge im Sinne Morgenthalers ist kasuelle Seelsorge, ist Seelsorge bei Gelegenheit eines lebensgeschichtlich veranlassten und familiär konturierten Ereignisses. Liturgie und Seelsorge sind bei Morgenthaler kasuell aufeinander bezogen und ineinander verwoben. Das Trauergespräch geht über in die Abdankungsfeier und führt zu weiteren kasuell bedingten Kontakten mit der Trauerfamilie. Dadurch erhält das Seelsorgegespräch einen liturgischen Ziel- und Ausgangspunkt. Es erfolgt mit Mitgliedern eines Familiensystems, seien diese aktuell oder nur virtuell anwesend, wobei die Verstorbenen gerade nicht ausgenommen sind.34 Andererseits ist die Liturgie des Kasualgottesdienstes auf Familiensysteme bezogen und wird leicht zum Ausgangspunkt für weitere Kontakte mit dem System. Seelsorge wird so von Morgenthaler kirchlich kontextualisiert und kasualisiert. Die Pfarrerin wird in ihre anspruchsvolle und traditionelle Rolle eingeführt. Es ist mitunter die Rolle der Liturgin, welche im Kasualgottesdienst „Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heil zu stiften“35 hat. Wenn die Rolle dezidiert übernommen und gut gespielt wird, erweist sie sich als archaisch, traditionsgeleitet und zugleich erstaunlich aktuell, und zwar nicht zuletzt aufgrund der Verschränkung von Seelsorge und Liturgie. Diese Profilierung der Seelsorge kann als typisch volkskirchlich angesprochen werden. Sie rechnet mit der Normalität volkskirchlichen Beteiligungsverhaltens. Die Pfarrerin wird für die Seelsorge dann in Anspruch genommen, wenn ein lebenszyklisch bedingter Kasus rituell gestaltet und gedeutet werden soll. Dem entspricht das liturgische Beteiligungsverhalten. Es sind Trauerfeiern, Hochzeiten und Taufen, auf die sich die systemische Seelsorge zunächst bezieht. Der Sonntagsgottesdienst ist nicht im Blick und spielt

33 Vgl. dazu Plss, Inszenierung. 34 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 27 f. 35 Riesebrodt, Grundzüge, 333.

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für eine solcherweise konzipierte Seelsorge und Pastorenrolle nur auf einem Nebenschauplatz. Werden nun aber die kasuellen Konturen der Volkskirche zum poimenischen und pastoraltheologischen Programm erhoben, ergeben sich Einseitigkeiten. Die Fokussierung pastoralen Handelns auf Familiensysteme lässt die Kerngemeinde und andere kirchliche Gemeinschaftsformen in den Hintergrund treten. Aber auch die öffentliche und politische Dimension kirchlichen Handelns zeigt sich als eine durch Familiensysteme vermittelte. Dies ist nicht zu tadeln, aber zu reflektieren. Und zwar nicht nur, weil Familiensysteme sich weitgehend pluralisiert haben, sondern weil die familia dei,36 der Leib Christi, welcher in der Liturgie Gestalt gewinnt,37 gerade nicht mit dem Sozialsystem Familie identisch ist, sondern von diesem programmatisch unterschieden.

6. Seelsorge als religiöse Praxis – ein Ausblick Die Frage nach der Religiosität der Seelsorge wurde in den bisherigen Ausführungen auf das Verhältnis von Seelsorge und Liturgie bezogen und an drei exemplarischen Modellen untersucht, in welchen diesem Verhältnis eine konstitutive Bedeutung zugemessen wird. Damit ist ein Aspekt der Ausgangsfrage ins Blickfeld gerückt. Seelsorge erscheint bei Schleiermacher, Thurneysen und Morgenthaler als religiöse Praxis insofern, als sie im kirchlichen Kontext geschieht. Mehr noch: Seelsorge wird als pastorales Handeln begriffen und konzipiert. Das pastorale Amt, die traditionell geprägte und religiös grundierte Rolle der Seelsorgerin ist für alle drei Konzepte grundlegend. Die Verbindung zur Liturgie wird aber nicht nur über das Pfarramt bzw. die Seelsorgerin hergestellt. Vielmehr ist in allen drei Modellen ein innerer Bezug zwischen poimenischen und liturgischen Praxisformen feststellbar. Während Schleiermacher die liturgische Gemeinschaft, in welcher das religiöse Bewusstsein zirkuliert und die Einzelnen, in ihrer im Glauben begründeten Freiheit und Selbstständigkeit, gestärkt werden, als Zielgestalt der Seelsorge bestimmt, stellt für Thurneysen die Seelsorge eine individualisierte und dadurch intensivierte Gestalt des Gottesdienstes dar. Morgenthaler dagegen bindet die Seelsorge in die lebenszyklisch bedingten Schwellenrituale ein. Diese liturgische Kontextualisierung der Seelsorge scheint mir für deren theologische Konzeptualisierung entscheidend und weiterführend. Anders als in vielen Modellen der Seelsorgebewegung erhält das seelsorgerliche Handeln einen theologisch, ekklesiologisch und kybernetisch bestimmten Ort. 36 Vgl. dazu Roh, Evangelien. 37 Vgl. Ziemer, Gemeindeaufbau; Cornehl, Individuum.

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Allerdings ist nun auch zu fragen, ob sich diese klare – wenn auch im Einzelnen unterschiedliche – Ortzuweisung auch in der poimenischen Praxis niederschlägt. Oder mit Stollberg gefragt: Ist Seelsorge tatsächlich nicht mehr als Psychotherapie im kirchlichen Kontext? Inwiefern wird in der Seelsorge genuin religiös gehandelt? Inwiefern geht es im Handeln der Seelsorgerin darum, „Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heil zu stiften“38 ? Bei Schleiermacher werden diese Funktionen – wenn überhaupt – dem Gottesdienst zugewiesen, zu dem der Seelsorger die liturgisch Unlustigen wieder zurückführt. Thurneysen konzipiert die Seelsorge als durch die Verkündigung des Evangeliums (qua Heilstiftung) begründetes und motiviertes Beichtgespräch, welches tatsächlich der Krisenbewältigung dienen soll. Bei Morgenthaler ist durch den volkskirchlich bedingten Zusammenhang von Seelsorge und Kasualgottesdiensten die poimenische Praxis in das rituelle Handeln eingebunden oder zumindest von den schwellenrituellen Kasualien her als religiöses Handeln identifizierbar. Allerdings hat das poimenische Handeln – anders als bei Schleiermacher – ein eigenes Gewicht und eine selbständige religiöse Bedeutung. Der systemisch ausgebildeten Seelsorgerin geht es tatsächlich darum, „Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heil zu stiften“39. Allerdings erfolgt diese Zielbestimmung in systemtherapeutischer Begrifflichkeit. Religiöses oder theologisches Vokabular wird von Morgenthaler eher vermieden. Oder anders gesagt: Es wird eine systemtherapeutische Übersetzung der herkömmlichen Poimenik vorgenommen. Diese Übersetzungsleistung erzielt eine hohe Plausibilität unter den Pfarrpersonen und gewährt zugleich die Kommunikabilität der Pastoralpsychologie gegenüber säkularen, beraterischen oder therapeutischen Diskursen. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich damit nicht eine Fokussierung und Einengung der Aufmerksamkeit wie des Handlungsspielraums auf säkulare Praxisformen verbindet. Seelsorge erfolgt bei Morgenthaler vornehmlich gesprächsweise und diese Gespräche sind mehrheitlich alltäglich verfasst. Zumindest fehlt ihnen oft das gesprächstherapeutische Setting der Seelsorge unter vier Augen. Sie erfolgen auf der Busfahrt im Rahmen eines Altersauflugs, als Telefongespräche oder anlässlich eines Trauer- oder Taufbesuchs. Sie dienen der Beratung, der Klärung und der Deutung. Allerdings erfolgt die Deutung nicht vornehmlich innerhalb eines religiösen Symbolsystems, zumindest nicht ausdrücklich. Identifizierbare religiöse Sprechakte wie Segenshandlungen, der Zuspruch des Evangeliums oder die Absolution in der Beichte fehlen in den im Lehrbuch angeführten Beispielen. Die Pfarrerin betet zwar am Krankenbett, aber das Gebet erfolgt nicht als interventionistische Praxis im Sinne Riesebrodts, sondern als Deutungsangebot oder als Summierung und Bekräftigung des Besprochenen. Die seelsorgerliche Praxis

38 Riesebrodt, Grundzüge, 333. 39 Riesebrodt, Grundzüge, 333.

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selbst erscheint weitgehend in säkularer Gestalt – wie bereits bei der Seelsorgebewegung festgestellt wurde. Dies ist nicht zu kritisieren. Eine Rückkehr zu einer traditionellen, religiösen Sprache scheint in der Seelsorgediskussion der Gegenwart weder vermittelbar noch zielführend. Die Übersetzung seelsorgerlicher Praxis in säkulare Beratungsmodelle stellt die grosse Leistung der Seelsorgebewegung dar und scheint mir, im weitgehend säkularisierten volkskirchlichen Kontext, unhintergehbar. Die systemische Seelsorge hat dabei die sozialen Systeme volkskirchlicher Seelsorge in ausgesprochen hilfreicher Weise fokussiert und konzeptualisiert. Allerdings bleibt zu fragen, ob mit diesem offensiv betriebenen Säkularisierungsprozess nicht auch Verluste eingefahren werden. Oder anders gefragt: Würde sich die Praxis der Seelsorge verändern, wenn diese – über den Bezug zur Liturgie hinaus – selber als liturgische oder zumindest als religiöse Praxis verstanden, konzeptualisiert und vollzogen würde? Was würde es für eine systemisch orientierte Seelsorge bedeuten, wenn das Gebet vermehrt als expressive, darstellende Handlung im Sinne Schleiermachers – etwa als Anrufung oder als Klage – praktiziert würde und Segensgesten und -formeln eine prominentere Rolle zukäme? Wäre es denkbar, die Beichte mit Absolution als hilfreiche Seelsorgepraxis wiederzugewinnen, ohne damit Menschen vor den Kopf zu stossen oder sie zu kulpabilisieren?40 Oder wie steht es mit dem poimenischen Singen am Krankenbett?41 Diese Fragen sind nicht ganz neu. Seit einigen Jahren ist ein neues Interessse an Ritualen in der Seelsorge feststellbar.42 Es wird immer deutlicher, dass der Umgang mit Krankheit und Sterben nicht nur Gespräche, sondern auch stimmige Formen des Ausdrucks der Klage, der Zweifel, der Ängste oder der Schuld erfordert. Solche Formen können – wie etwa im Rahmen der systemischen Seelsorge nach Morgenthaler – aus einer Situation, gemeinsam mit den Betroffenen, entwickelt werden.43 Oder es werden traditionelle Formen aufgegriffen und an die jeweilige Situation angepasst. Doch gilt es grundlegender anzusetzen. Es geht nicht nur um neue Formen, sondern auch und vor allem um eine neue Perspektive auf bestehende Formen. So dient Sprache in der Seelsorge nicht bloss der Information, der Belehrung oder der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern immer auch der Expression. Wird diese Funktion wahrgenommen und bewusst gestaltet, können Befindlichkeiten, Ängste und Hoffnungen in symbolisch oder rituell verdichteter Weise zum Ausdruck gebracht werden. Dafür steht nun allerdings geprägte Sprache, stehen vertraute Bilder, Texte und Formeln zur Verfügung. 40 Vgl. dazu Rauchfleisch, Überlegungen; Gestrich, Beichte; Stollberg, Gott. 41 Vgl. Spçrri, Worte. 42 Vgl. hierzu insbes. die neueren Arbeiten von Enzner-Probst (vgl. Enzner-Probst, Beglei tung/Rituelle Seelsorge). 43 Vgl. Morgenthaler, Seelsorge, 268 – 282.

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Bilder, Texte und Formeln, die nicht nur bekannt, sondern auch von besonderem Gewicht, von einer ,sakralen Aura‘ umgeben sind – man denke an den Psalm 23 oder an Lieder Paul Gerhardts. Alte Texte und Bilder, die schon über viele Generationen ihre Tragkraft und Ausdrucksintensität bewiesen haben und die von der häufigen Verwendung glatt poliert sind. Texte, die, wenn sie vertraut sind, nicht kognitiv verstanden werden müssen, zumindest nicht en dtail, sondern die gesprochen oder gesungen tragen. Es geht dabei nicht vornehmlich um deren Interpretation, nicht um eine reflexive Hermeneutik, sondern um die expressive, symbolische Kraft religiöser Texte, Bilder und Formeln. Es stünden der religiös versierten Seelsorgerin neben der Sprache noch andere Medien zur Verfügung: die Musik44, der Gesang, die Stille, der Raum, das Licht, Symbole oder auch Düfte. Alle diese Medien und Dimensionen liturgischer Gestaltung können helfen, bestimmten Emotionen und Befindlichkeiten einen hilfreichen, befreienden Ausdruck zu geben. Im Unterschied zum beratenden Gespräch am Bett oder mit der Familie geht es in der liturgisch sensiblen Seelsorge auch oder vor allem um den Gottesbezug. Gott wird angesprochen, angerufen, herbeigerufen. Nöte und Fragen werden vor Gott gebracht. Die liturgisch konzipierte Seelsorge wäre insgesamt als Gestus der Hinwendung zu Gott zu verstehen. Liturgien dienen aber nicht nur der Expression und Hinwendung zu Gott, sondern auch der Gemeinschaft, der Orientierung und der Transformation. Im gemeinsamen Lied, im Gebet oder auch in der gemeinsamen Stille klingt die Gruppe der Feiernden zusammen, verbindet sich zu einer liturgischen Gemeinschaft, die sehr ergreifend sein kann (wie sie auch beklemmend sein kann).45 Insgesamt sollen liturgische Vollzüge in der Seelsorge nicht nur Vorhandenes stimmig zum Ausdruck bringen, sondern auch eine Transformation erzielen: neue Kraft, neue Freiheit, neue Hoffnung, ein verändertes Selbstverständnis und neue Gelassenheit vermitteln. Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage angelangt: Ist Seelsorge Religion? Die Antwort erfolgte in mehreren Schritten und unterschiedlichen Perspektiven. Dabei wurde ein besonderes Augenmerk auf die von Christoph Morgenthaler entwickelte systemische Seelsorge gerichtet. Eine Zusammenfassung des Ertrags könnte lauten: Ja, Seelsorge ist Religion, und zwar zunächst durch ihren kirchlichen Kontext und liturgischen Bezug. Sie hat allerdings in den letzten Dezennien einen Säkularisierungsprozess durchlaufen, der unhintergehbar scheint und sich auch mit Einseitigkeiten und selbstauferlegten Einschränkungen im Handlungsrepertoire verbindet. Durch eine stärker religiöse Profilierung seelsorgerlicher Praxis wäre womöglich ein grösseres und hilfreiches Handlungsspektrum zu gewinnen.

44 Vgl. hierzu die Arbeiten von Renz (vgl. Renz, Urangst/Grenzerfahrung). 45 Vgl. auch dazu Spçrri, Worte.

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– Oskar Pfister (1873 – 1956), Leben und Werk, in: dies./C. Morgenthaler : Sigmund Freud/Oskar Pfister, Briefe (1909 – 1939), Zürich 2012. Pfister Oskar, Was heisst „analytische Seelsorge“ (1927)?, in: F. Wintzer, Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1988, 62 – 70. Plss, David, Gottesdienst als authentische Inszenierung von Authentizität, in: R. Kunz/A. Marti/D. Plüss, Liturgik kontrovers, Zürich 2011, ??–??. Rauchfleisch, Udo, Pastoralpsychologische Überlegungen zur Bewältigung von Schuld, in: I. Baumgartner, Handbuch der Pastoralpsychologie, Regensburg 1990, 349 – 365. – Wer sorgt für die Seele?, Grenzgänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge, Stuttgart 2004. Renz, Monika, Zwischen Urangst und Urvertrauen. Musik, Symbol und Spiritualität in der therapeutischen Arbeit, Paderborn 2009. – Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit, Freiburg i.Br. 2010. Riesebrodt, Martin, Grundzüge einer verstehenden Religionstheorie: Cultus und Heilsversprechen, in: F. Neubert/M. Baumann, Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft, Studien zur Neuformierung von Religion in der Gegenwart, Zürich 2011, 321 – 341. Roh, Teaseong, Die „familia dei“ in den synoptischen Evangelien. Eine redaktionsund sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld, Göttingen 2001. Scharfenberg, Joachim, Jenseits des Schuldprinzips?, in: ders.: Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, Hamburg 1972, 189 – 208. – Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen 1985. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher, Berlin 1850. – Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Hamburg 1958. Spçrri, Theophil, Wenn Worte fehlen, findet sich vielleicht ein Lied. Lieder als Vehikel bei der Krankenhausseelsorge, Liturgie und Kultur 1(Heft 3), 2010, 55 – 63. Stollberg, Dietrich, Wenn Gott menschlich wäre. Auf dem Weg zu einer seelsorgerlichen Theologie, Stuttgart/Berlin 1978. – Zur klientenzentrierten Beratung nach Carl Rogers (1970), in: F. Wintzer, Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1988, 191 – 199. Thurneysen, Eduard, Seelsorge als Ausrichtung der Vergebung der Sünden (1948), in: F. Wintzer : Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1988, 111 – 115. Van der Geest, Hans, Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge (1981), Zürich 1985.

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Ziemer, Jrgen, Gottesdienst und Gemeindeaufbau, in: H.-C. Schmidt-Lauber/M. Meyer-Blanck/K.-H. Bieritz, Handbuch Liturgik, Göttingen 2003, 634 – 644.

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Seelsorge in der Konfirmationsarbeit

1. Aktuelle Innovationen und ein blinder Fleck Intensiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr werden gegenwärtig weit reichende Überlegungen zur Profilierung der Konfirmationsarbeit angestellt. In vielen deutschen und schweizerischen Landeskirchen sind in den vergangenen Jahren neue Rahmenordnungen entstanden, die Fülle an innovativen Materialien und Arbeitsmitteln ist kaum noch überschaubar, und auch in praktisch-theologischer Hinsicht ist in jüngster Zeit eine Vielzahl von systematischen und empirischen Studien zu konzeptionellen und methodischen Aspekten dieses kirchlichen Arbeitsfeldes zu notieren. Allerdings ist festzustellen: Dieser Reformschwung findet weitgehend jenseits einer systematischen Berücksichtigung der seelsorgerlichen Dimension der Konfirmationsarbeit statt. Zwar ist im Blick auf die Ziele dieses kirchlichen Angebots viel von der Stärkung und Entwicklung der Persönlichkeit sowie der Lebens- und Alltagsrelevanz die Rede – und dies durchaus auch mit knappen Hinweisen auf die notwendige seelsorgerliche Begleitung1. Aber die pädagogische Aufmerksamkeit auf gelingende Gruppenaktivitäten und erlebnisorientierte Gemeinschaftserfahrungen in der Konfirmandenzeit haben die Frage der Ermöglichung dichter und existentieller Begegnungen und Gespräche sowie den Aspekt der individuellen Wahrnehmung und seelsorgerlichen Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen Jugendlichen deutlich in den Hintergrund treten lassen. So sind etwa die einschlägigen Grundsatzorientierungen und Arbeitsmaterialien primär auf zentrale Inhalte des christlichen Glaubens und die entsprechende didaktische Profilierung ausgerichtet, ohne dass dabei von einer explizit seelsorgerlichen Perspektive auf die gegenwärtigen Herausforderungen dieses Arbeitsfeldes die Rede wäre. Die in der religionspädagogischen Debatte über die Konfirmandenarbeit wesentliche Kategorie der Subjektorientierung ist damit in ihrem Potential für 1 So wird exemplarisch in einer landeskirchlichen Rahmenordnung aus dem Jahr 2000 konstatiert: Jugendliche „müssen als Teil der Gemeinde ihre eigenen Lebens- und Sinnfragen stellen und beantworten können. Dabei benötigen sie seelsorgerliche Begleitung und Gesprächspartnerinnen und -partner, die offen und fähig sind, die eigenen Wege junger Menschen zu respektieren“, Evangelische Landeskirche in Wrttemberg, Mit Kindern und Jugendlichen, 7.

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eine verstärkt poimenische Sicht auf dieses Praxisfeld noch nicht umfassend wahrgenommen. Für den Kontext der Konfirmationsarbeit und die Zielgruppe der Konfirmandinnen und Konfirmanden liegt weder eine interdisziplinär angelegte religionspädagogische noch vice versa eine entsprechend grenzüberschreitende poimenische Studie vor2. Dieser geradezu blinde Fleck zeigt sich im Übrigen auch für die kirchliche Bildungspraxis im weiteren Sinn und deren praktisch-theologische Reflexion: So ist ein keineswegs ungarstiger Graben zwischen kirchlicher Bildungsarbeit und Seelsorge ebenso wie zwischen Religionspädagogik und Poimenik festzustellen. Die zunehmende Spezialisierung der kirchlichen Praxis wie auch die weiter gehende Ausdifferenzierung der praktisch-theologischen Teildisziplinen führt dazu, dass der inhaltliche Zusammenhang zwischen seelsorgerlichem und bildungsorientiertem Handeln der Kirche offenkundig nicht mehr selbstverständlich ist und auch in theoriebezogener Hinsicht gegenwärtig kaum näher reflektiert wird. Angesichts der vielfältigen pädagogischen Herausforderungen, Innovationen und der pluralen Konnotationen des Konfirmationsverständnisses und seiner Inszenierungsmuster3 ist somit gerade die seelsorgerliche Dimension stärker in den Blick zu nehmen. Im Folgenden soll deshalb deutlich gemacht werden, worin die Herausforderungen und Chancen eines neuen Zusammendenkens beider Perspektiven auf dem Feld der Konfirmationsarbeit liegen und welche weiteren Forschungsperspektiven sich daraus ergeben können. Votiert sei schon an dieser Stelle grundsätzlich dafür, dass eine zukünftige Konfirmationsarbeit sich erkennbarer für diese Dimension öffnen und darauf ausgerichtet sein muss, dass die gemeinsame Konfirmationszeit auch als eine sorgsame und seelsorgerlich bedeutsame erlebt werden kann – und dies nota bene von allen daran Beteiligten. Damit soll an dieser Stelle schon darauf hingewiesen werden, dass das hierfür in Anschlag gebrachte Seelsorgeverständnis eine defizitorientierte Engführung auf die reine Bearbeitung von existentiellen Krisenfällen Jugendlicher zu vermeiden sucht. Vielmehr wird von der Aufgabe einer sorgsamen und aufmerksamen, immer auch auf die kirchliche Gemeinde bezogenen, verbalen wie nonverbalen, Begleitungs- und Anerkennungskultur für alle lebensrelevanten Erfahrungen innerhalb der Konfirmationszeit ausgegangen – kurz der „Begleitung bei der Entwicklung der persönlichen Identität auf den heute besonders verschlungenen und langen Wegen des Erwachsenwerdens“4 Jugendlicher. Dass von daher zugleich dieses „Feld“ der Beteiligten weitaus grösser ist und 2 Die einschlägigen, vom Comenius-Institut in den Jahren 1984 und 1998 herausgegebenen Handbücher für die Konfirmandenarbeit verwenden keine grössere und schon keine systematische Aufmerksamkeit auf die seelsorgerliche Dimension dieses Feldes und erwähnen diese überhaupt nur im Zusammenhang mit der Berufsrolle des Pfarrers. 3 Vgl. Klie, Konfirmation. 4 Morgenthaler, Seelsorge, 159.

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sehr viel mehr Akteure als nur die Pfarrerinnen und Pfarrer und die Jugendlichen umfasst, sei an dieser Stelle bereits angedeutet. Bevor nun allerdings konkrete konstruktive Überlegungen in dieser Sache angestellt werden können, ist zuerst auf die Hintergründe des gegenwärtigen blinden Flecks näher einzugehen. Die weitgehende Vernachlässigung der seelsorgerlichen Perspektive im Kontext der Theorie und Praxis der Konfirmationsarbeit ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich und bedenkenswert:

2. Erstaunliche Vernachlässigungen Bei Jugendlichen ist die Erfahrung, im Lauf der Konfirmandenzeit persönlich wertgeschätzt und mit den eigenen offenen Fragen, freudigen oder sorgenvollen Gefühlslagen sowie in ihrer nicht selten höchst instabilen und prekären Lebenslage angenommen zu werden, von grosser Bedeutsamkeit. Entsprechende Untersuchungen und Befragungen verdeutlichen, dass Jugendliche in hohem Mass wahrnehmen und auch nachhaltig in Erinnerung behalten, wie ihnen von Seiten der verantwortlichen erwachsenen Akteure entgegengetreten wird bzw. wie sie im wahrsten Sinn des Wortes als Persönlichkeiten wahrgenommen und begleitet werden – oder eben nicht5. Auch im letztgenannten Fall kann die Nachhaltigkeit intensiv sein, dann allerdings in geradezu fataler Weise. Die Sensibilität Jugendlicher dafür, wie ihnen in diesem Konfirmationszeitraum in den entscheidenden Momenten begegnet wird, ist jedenfalls kaum zu überschätzen: „Vor allem die Erfahrung seelsorgerlicher Begleitung und das Erlebnis, ernst genommen und gebraucht zu werden, prägen nachhaltig“6. Somit steht und fällt die Wahrnehmung der Konfirmationszeit in erheblicher Weise mit dem, was Jugendliche in dieser Hinsicht tatsächlich für sich – im Sinn der Anerkennung und Annahme – seelsorgerlich erleben und als identitätsbedeutsam erfahren können. Das Jugendalter ist grundsätzlich von besonderen Herausforderungen für alle gekennzeichnet, die es in dieser Zeit mit Jugendlichen zu tun haben, denn dieser Lebensabschnitt stellt eine bedeutsame und teilweise krisenhafte Orientierungsphase jugendlichen Aufwachsens mit erheblichen Herausforderungen auch für die Erwachsenenwelt dar. Gerade in dieser Zeit wird für viele Jugendliche aus unterschiedlichen Gründen das bisher mehr oder weniger vertraute Lebenssystem in Frage gestellt oder gerät ganz und gar aus den Fugen. Insofern kann es gerade im Zeitraum der Konfirmationszeit dazu kommen, dass aktuelle Krisenbewältigung und Begleitung von aussen her notwendig werden. Zugleich eröffnet die zunehmende Eigenständigkeit aber auch einen sehr viel weiteren Erlebenshorizont im Blick auf positive Gefühle 5 Vgl. die Ergebnisse in ILG u. a., Konfirmandenarbeit in Deutschland. 6 Ebd., 275.

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und eigene Erfahrungen, die dann für Expression und Mitteilung und eine anerkennende Wahrnehmung hin offen sind. Somit stellt die sorgsame Aufmerksamkeit auf die Seele am Ort des jugendlichen Individuums ein entwicklungspsychologisch bedeutsames Grundfaktum und für die erwachsenen Begleitenden damit eine erhebliche Herausforderung dar. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das inhaltliche Angebot der Konfirmationszeit mehr und mehr dahingehend entwickelt, Jugendliche ohne Vorbehalt und Einschränkung als Subjekte wahrzunehmen. Dies zeigt sich sowohl in der deutlichen Ausrichtung auf lebensweltrelevante Themen, der deutlichen Verstärkung der partizipativen Anteile wie auch in der deutlichen Ausweitung des unterrichtsnahen formalen Rahmens von der klassischen Unterrichtsstunde hin zu längeren, zusammenhängenden Blöcken, etwa an Wochenenden oder auf Freizeiten. Damit bestehen im Lauf des Konfirmationszeitraums sehr viel mehr Gelegenheiten, sich sowohl als Gruppe wie auch zwischen Leitenden und Jugendlichen intensiv persönlich wahrzunehmen und kennen zu lernen. Dadurch ist im Vergleich zum Konfirmandenunterricht des 20. Jahrhunderts ein deutlich grösserer Raum für nonformale und informelle Bildungsprozesse sowie für den persönlichen Austausch entstanden. Zudem ist durch die sich deutlich ausweitende Einbeziehung von jugendlichen Teamern und Mentoren auch noch eine weitere Bezugsgruppe zum wichtigen Bestandteil des konfirmandlichen Bezugssystems geworden, wodurch sich die Kontaktfläche persönlicher Begegnungen nochmals deutlich ausweitet. Gerade weil das kirchliche Angebot der Konfirmation seinen Charakter religiös-kultureller Selbstverpflichtung im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr und mehr verloren hat und Freiwilligkeit zu einem wesentlichen Charakteristikum geworden ist, kann von erheblichen Potentialen freier Gestaltung und der entsprechenden Bereitschaft zur offenen Begegnung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ausgegangen werden. Da im Prinzip alle Formen des gesellschaftlichen und Gruppenzwangs verloren gegangen sind, ist auch die seelsorgerliche Dimension frei von allen äusseren Zwängen und erst recht vor vermeintlich notwendig eindeutigen Lippenbekenntnissen. Somit trägt diese Veränderung weg von den „alten volkskirchlichen Selbstverständlichkeiten“ keineswegs nur problematische Züge, sondern ein erhebliches Potential für eine gelingende Konfirmationsarbeit in sich. Sowohl in pastoraltheologischer wie in ekklesiologischer Hinsicht sind Bildungs- und Seelsorgearbeit sachlich intensiv miteinander verwoben, was sich sowohl auf Seiten der professionellen Akteure wie in der Wahrnehmung der Gemeindeglieder zeigt. Die Konfirmationsarbeit stellt kein kirchliches „Sonder-Angebot“ dar, sondern ist inhaltlich, personell, institutionell und organisatorisch mit dem Erscheinungsbild der Kirche vor Ort verbunden. Zwar sind entsprechende Aufgabenteilungen und unterschiedliche Bezugssysteme der kirchlichen Arbeit vor Ort in vielen Fällen die Regel, gleichwohl kann es sich dabei dem kirchlichen Selbstverständnis nach nicht um strikt voneinander getrennte Bereiche handeln. So wie es im Bereich der schulischen Bil-

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dung längst eine mehrfach grenzüberschreitende Schulseelsorge gibt, erscheint gerade auch in der Konfirmationsarbeit eine ausdrücklichere wechselseitige Aufmerksamkeit notwendig.

3. Gute Gründe für die Vernachlässigung Angesichts dieser genannten Aspekte erscheint die anfangs angedeutete aktuelle Vernachlässigung der seelsorgerlichen Dimension erstaunlich. Nun lassen sich dafür aber auch einige gute Gründe anführen, die es im Folgenden zu beleuchten gilt, da diese dann auch für eine zukunftsfähige, wieder stärker seelsorgerlich ausgerichtete Konfirmationsarbeit Berücksichtigung finden müssen: Im Zug der pädagogischen Professionalisierung der Konfirmationsarbeit im Lauf der vergangenen Jahrzehnte hat sich eine deutliche Konzentration sowohl in der Ausbildung wie in der Praxis insbesondere auf die didaktischen und methodischen Herausforderungen ergeben. Damit rückte die Konfirmationsarbeit in eine grössere Nähe zur allgemeinen Bildungsdebatte, was eine eingehende Beachtung seelsorgerlicher Aspekte mindestens nicht beförderte. So ist das formale pädagogische Setting für dieses Angebot relativ klar, während ein gleichermassen „seelsorgerliches Setting“ ja immer erst wieder hergestellt werden muss und dies inklusive einer für gelingende Seelsorgegelegenheiten notwendigen anderen Taktung und eines alternativen Zeit- und Aufmerksamkeitsrhythmus. Die Orientierung an Standards der Jugendarbeit wie etwa der Erlebnis- und Projektorientierung förderte die seelsorgerliche Aufmerksamkeit auf den Einzelnen nicht unbedingt, worauf auch die nur wenigen dezidiert ausgerichteten Arbeitsmaterialien schliessen lassen7. Indem die Pfarrerinnen und Pfarrer sich selbst immer stärker als dialogische Begleiter auf Augenhöhe und Motivatoren einer erlebnisorientierten Praxis verstanden, wurde auch die eigene seelsorgerliche Rolle weniger deutlich betont. Der praktisch-theologische Blick auf die Jugendlichen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eindeutig weg von defizitorientierten Beschreibungen hin zur der Orientierung an den Potentialen und Ressourcen der Jugendlichen gewandelt. Man traut diesen zu, auf ihre entscheidenden Lebensfragen im Einzelfall eigene und stimmige Antworten zu finden. Damit hat sich aber möglicherweise im Umkehrschluss die Wahrnehmung verstärkt, dass diese grundsätzlich in ihrer eigenen persönlichen Lebensführung kaum noch intensiver unterstützt zu werden brauchten – was, kurz gesagt, nun dazu 7 Etwa Zgel u. a., Seelsorge an KonfirmandInnen sowie das aus dem Jahr 1997 datierende Heft der Arbeitsstelle für KU im PTI Kassel, Seelsorge im KU.

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führen könnte, dass man den Jugendlichen gleichsam mit dem seelsorgerlichen Bad ausschüttet. Grundsätzlich – und dies nicht erst nach den jüngsten Missbrauchsdiskussionen – ist in der Tat ernsthaft zu fragen, wie viel Intimität im Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen denkbar und vertretbar ist. Aus guten professionellen Gründen haben sich hier manche Pfarrerinnen und Pfarrer bei Gefahr der Grenzüberschreitung – von beiden Seiten her! – aus zu engen seelsorgerlichen Kontakten eher zurückgezogen bzw. diese frühzeitig abgeblockt oder vermieden. Im Kontext der Konfirmationsarbeit ist es in den letzten Jahren deutlich zu einer Neuentdeckung liturgischer und glaubensbezogener Fragen gekommen. Aspekte jugendlicher Spiritualität rücken immer deutlicher in den Mittelpunkt. Möglicherweise gerade deshalb ist es bisher noch nicht zu einer Neuentdeckung der seelsorgerlichen Dimension gekommen, da man wesentliche existentielle Fragen durch diese Neuorientierung bereits ausreichend thematisiert sieht, ohne dabei immer mitzubedenken, dass liturgische Vollzüge die Ebene einer qualitätsvollen Begleitung nicht automatisch ersetzen können. Schliesslich ist nicht zu unterschätzen, dass es für Pfarrerinnen und Pfarrer aufgrund ihrer weiteren beruflichen Verpflichtungen und Belastungen oftmals schlicht auch auf knappe zeitliche und energetische Ressourcen zurückzuführen ist, wenn sie intensivere seelsorgerliche Beziehungen zu ihren Konfirmandinnen und Konfirmanden eher nicht eingehen – abgesehen davon, dass aufgrund der zeitlichen Taktung oftmals schlicht nicht die Möglichkeit besteht, etwaige Krisensituationen überhaupt „auf die Schnelle“ zu identifizieren. Möglicherweise, und dies sei durchaus provokativ formuliert, sehen sich Pfarrerinnen und Pfarrer hier „im Ernstfall“ selbst in einer Situation der Überforderung, der theologischen Sprachlosigkeit oder schlicht des Ungenügens, mit ihren eigenen Deutungsangeboten bei Jugendlichen glaubwürdig Anklang zu finden. Dazu kommen nun aber auch auf Seiten der Jugendlichen bestimmte Gründe, die Pfarrperson nicht mehr automatisch als besonders vertrauenswürdige Gestalt anzuerkennen oder diese für persönliche Fragen als zentrale Ansprechperson wahrzunehmen; zu fragen ist hier, ob das Beichtgeheimnis und die Amtspflicht zur Verschwiegenheit tatsächlich noch durchgängig einen festen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses bilden. Zudem stellt sich in vielen Familien und auch gesamtgesellschaftlich die Rolle der Eltern noch einmal anders dar als vor Jahrzehnten, so dass hier gleichsam im unmittelbaren Nahbereich der Jugendlichen durchaus mit ausreichend empathischen, wahrnehmungs- und hörbereiten Begleitpersonen zu rechnen ist. Grundsätzlich gilt zudem, dass die Peers selbst wichtige Ansprechpartner sind und darüber hinaus neue mediale Formen der Kommunikation, wie etwa die SMS- und Onlineseelsorge sowie entsprechende Foren und Chat-

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rooms weitere Möglichkeiten bereitstellen, über brisante persönliche und existentielle Fragen ausserhalb des pastoralen Settings zu kommunizieren.

4. Notwendigkeiten und Chancen – Seelsorgerliche Perspektiven für die Konfirmationsarbeit Wie ist nun mit dem Faktum der erstaunlichen Vernachlässigung einerseits und den guten Gründen für diese Vernachlässigung produktiv umzugehen? Es kann ja, wie angedeutet, nicht darum gehen, die letztgenannten Gründe einfach zu überspielen oder für unerheblich zu halten. Eine der wenigen expliziten Aussagen zu dieser notwendigen Kontur lautet: „Als therapeutische Veranstaltung für 12- bis 14-Jährige wäre der Konfirmandenunterricht überfordert. Trotzdem sollte er, auch in Zukunft, eine seelsorgerliche Dimension haben. In jeder Konfirmandengruppe sitzen inzwischen Jugendliche mit erheblichen Problembelastungen – von krimineller Auffälligkeit bis zu erheblichem Schuldruck, mit Essstörungen oder mit Gewalterfahrungen. Wir werden ihre Probleme im Konfirmandenunterricht nicht lösen können und wir sollten uns hüten, solche Fälle selbst bearbeiten zu wollen. Aber wir dürfen den Unterricht auch nicht unbeeindruckt von der Situation dieser Jugendlichen einfach durchziehen. Wir können eine erkennbare Anlaufstelle sein, vielleicht Hilfen vermitteln, eventuell sollten wir uns auch einmischen“8.

So richtig diese Hinweise in mancher Hinsicht sind, eröffnet die Konfirmationsarbeit bei einem sachgemässen und behutsam differenzierenden Handeln aber auch noch weitergehende seelsorgerliche Perspektiven:

4.1 Aufgaben und Möglichkeiten des Seelsorgers Angesichts der angedeuteten neuen medialen und virtuellen und auch hoch getakteten Gesprächsangebote könnte sich gerade ein gleichsam real präsentes Seelsorgeangebot für junge Menschen wieder als attraktiv erweisen. Jedenfalls ist gerade das alternative Angebot personaler Präsenz nicht zu unterschätzen. Dafür muss Jugendlichen aber tatsächlich transparent und auch erkennbar gemacht werden, wohin bzw. an wen sie sich im Fall des Falles wenden können. Es kann jedenfalls nicht mehr selbstverständlich damit gerechnet werden, dass Jugendlichen der Unterschied etwa zum Religionslehrer oder nur schon die Vielfalt der pastoralen Aufgaben überhaupt klar ist. Notwendig erscheint damit – und dies kommt in den gegenwärtigen Materialien und Arbeitshilfen 8 Lbking, Neues Kursbuch Konfirmation, 10.

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deutlich zu kurz – eine informierende Thematisierung der Rolle und der vielfältigen, eben auch seelsorgerlichen Aufgabe des Pfarrers und der Pfarrerin selbst. Denn es ist davon auszugehen, dass sich dieser Beruf und sein Profil aus Sicht der Jugendlichen keineswegs mehr wie selbstverständlich erklärt. Insofern stellt sich die poimenische Herausforderung eben immer auch als eine eminent pastoraltheologische und bildungsorientierte Chance zur Erläuterung und Aufklärung über diesen spezifischen Beruf dar. Dass es dabei allerdings nicht um eine rein informationelle Grundaufgabe geht, versteht sich von selbst. Vielmehr besteht die Aufklärungskunst darin, Jugendlichen gerade die besondere dialogische Beziehungsorientierung dieses Berufs sowie die Tiefenschärfe theologischer Existenz im Miteinander von Beruf und Existenz deutlich zu machen. Eine seelsorgerlich dimensionierte Konfirmandenarbeit ist damit zugleich von ihrem Anfang an nicht nur Bildungs-, sondern zugleich immer auch Vertrauens- und Beziehungsarbeit, wobei zugleich gilt: „Wer Jugendseelsorge treiben will, muss in besonderer Weise zu kritischer Selbstwahrnehmung in der Lage sein.“9 Es sind nun aber noch weitere Rahmenbedingungen für eine solche gelingende Praxis zu schaffen und im wahrsten Sinn des Wortes zu erschliessen: Wenn gilt, dass Jugendliche gerade in dieser entwicklungspsychologisch hoch bedeutsamen Lebensphase schützende Übergangsräume brauchen, dann steht auch die Konfirmationsarbeit vor der Herausforderung, Möglichkeiten geschützter Räume anzubieten bzw. Jugendliche sich diese erschliessen zu lassen. Damit sind einerseits angemessene äussere Räumlichkeiten gemeint, andererseits aber auch die notwendigen Zeiträume. Zudem ist von bestimmten Erfahrungs- und Spielräumen zu sprechen, da gerade seelsorgerliches Handeln eine erhebliche Experimentierfläche benötigt. Zudem ist im wahrsten Sinn des Wortes notwendiger Gruppenraum zu eröffnen, wovon unten noch zu sprechen sein wird. Dies bringt automatisch die Notwendigkeit eines gleichsam konfirmationspraktischen poimenischen Paradigmenwechsels hin zum Jugendlichen als Mit-Subjekt lebensbedeutsamer Gespräche mit sich, d. h. zugleich, dass der einst übliche Begriff einer „Seelsorge an Jugendlichen“ bestenfalls antiquiert und durch eine „Seelsorge mit Jugendlichen“ zu verändern ist. Dabei bietet die Konfirmationsarbeit insofern besondere Chancen einer systemisch orientierten Seelsorge, als das jugendliche Lebensweltsystem – bestehend vor allem aus Familie, Schule, Peers – von besonderer Dynamik, Komplexität und oft auch erheblicher Instabilität ist. Diese grundlegende Beziehungs- und Begleitungsaufgabe Jugendlicher ist nun aber poimenisch und kommunikationsorientiert weiter auszudifferenzieren, indem Facetten und Grundaufgaben seelsorgerlicher Kommunikation in der Konfirmationsarbeit aufgezeigt werden.

9 Ziemer, Seelsorgelehre, 258.

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4.2 Facetten und Grundaufgaben seelsorgerlicher Kommunikation a) Wahrnehmen und Zuhören Die Konfirmationsarbeit stellt insofern ein pastorales Aufgabenfeld sui generis dar, als wohl in kaum einer anderen Tätigkeit das Wahrnehmen und Hören unter ähnlich verschärften Bedingungen stattfindet. Denn die für alle Seelsorge notwendige Mindestbedingung einer konzentrierten Atmosphäre ist nur in besonderen Situationen dieses Angebots gegeben und schon gar nicht auf Dauer herstellbar – was im Übrigen so unnatürlich wie wenig wünschenswert wäre. Dies bedeutet dann aber auch, dass Raum und Struktur für ein intensiveres Wahrnehmen und Zuhören immer wieder bewusst hergestellt werden müssen. Alles seelsorgerliche Handeln setzt die unabdingbare Kompetenz voraus, wahrzunehmen, was sich an offenen Fragen und Befindlichkeiten tatsächlich im Raum befindet und mindestens zu imaginieren, was sich unter der sicht- und hörbaren Oberfläche des gemeinsamen Interaktions- und Konfirmationssystems abspielen könnte. Da dies eben nur in seltenen Fällen umfassend gelingen wird, umfasst die notwendige Wahrnehmungskompetenz noch einen weiteren und vielleicht sogar den viel zentraleren Aspekt: Gerade die Konfirmationszeit bietet aufgrund der angedeuteten organisatorischen Innovationen inzwischen viele Kontaktflächen gleichsam „en passant“. Man kann insofern von einem vorhandenen seelsorgerlich relevanten Dauersetting über die gesamte Konfirmationszeit sprechen, vorausgesetzt, dass dieses von den Pfarrerinnen und Pfarrern tatsächlich selbst auch als ein solches wahrgenommen wird. Der Möglichkeiten und Gelegenheiten, Jugendlichen in den unterschiedlichsten Situationen ausserhalb des klassischen Unterrichts zu begegnen, sind also viele: Sei es die Vorbereitung und Durchführung eines Projekts, sei es die aktive Mitwirkung an einem Gottesdienst, sei es die Planung und Reise im Rahmen einer Freizeit oder eines Wochenendes, seien es die nicht zu unterschätzenden Rand- und Pausenzeiten (manchmal nur wenige Minuten oder gar Sekunden!) vor oder nach einer „normalen“ Unterrichtsstunde. Gerade in diesen Fällen können bei entsprechender Wahrnehmungs- und Hörbereitschaft wichtige Befindlichkeiten durch die manchmal nur beiläufig getroffenen Selbstaussagen und Krisenformulierungen Jugendlicher identifiziert werden. Zudem eröffnen gerade die unterschiedlichen Artikulationsformen im Zusammenhang der thematischen Arbeit Möglichkeiten, mehr von dem mitzuerleben, was Jugendliche beschäftigt, sorgt – und begeistert! – sei es, was sie in eigenen Gebeten oder Gedanken selbst formulieren oder in entsprechenden Gruppengesprächen, bibliologischen Artikulationen oder bibliodramatischen Inszenierungen artikulieren. Schliesslich ist die inzwischen breit etablierte Form der Konfirmandenelternbesuche eine ausgesprochen gute – und um es deutlich zu sagen: not-

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wendige! – Gelegenheit, einem wichtigen Teil der faktischen Lebenswelt und Lebenswirklichkeit der Jugendlichen tatsächlich zu begegnen. Dabei ist es selbstverständlich, dass diese besondere und oftmals einmalige Chance, die persönlichen und familiären Lebensverhältnisse des einzelnen Jugendlichen wahrzunehmen, nicht im Sinn des oftmals noch klischeehaft tradierten Kirchenzuchtauftrags und Aushorchens zu verstehen ist, sondern im Sinn eines fundamental interessierten Gesprächsangebots. Kurz gesagt: Gelegenheiten des Wahrnehmens und Hörens müssen auch professionell geschaffen werden, und eine erwünschte Nachhaltigkeit kommt ohne die entsprechenden zeitlichen und emotionalen Investitionen nicht aus. b) Begleiten Was im Terminus des „Begleitens“ auf den ersten Blick so einleuchtend wie notwendig erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ausserordentlich herausforderndes und aufwändiges Kerngeschäft. Hier sei aber gerade nach dem eben Ausgeführten für eine machbare Eingrenzung plädiert: Weder können Pfarrerinnen und Pfarrer Jugendliche dauerhaft im engeren Sinn begleiten, noch sollte man von Jugendlichen erwarten, dass sie dazu selbst tatsächlich zweifelsfrei bereit wären. Gleichwohl wird das Begleiten Jugendlicher in den einschlägigen Dokumenten, seien es Handreichungen oder Materialien – geradezu als pastoraltheologische Grundtugend ausgegeben. So wird etwa formuliert: „Angesichts der Sehnsucht nach religiöser Orientierung und der Vielfalt der Angebote wird für viele Jugendliche die Begleitung im persönlichen seelsorgerlichen Gespräch von immer größerer Bedeutung. Die Kirche bietet Jugendlichen Menschen, die zuhören können, seien es ehrenamtliche Jugendgruppenleiterinnen und Jugendgruppenleiter oder Mitglieder einer Kirchen-Band, Jugenddiakone, Religionslehrkräfte, Pfarrerinnen und Pfarrer oder Pädagoginnen und Pädagogen in Gemeinde und Sozialdiensten“10.

Und Jugendliche selbst haben oftmals nach wie vor einen erheblichen Sensus, dass ihnen in schwierigen Situationen der Glaube und ganz direkt auch Gott zu helfen vermag, indem ihnen Kraft und Zuversicht geschenkt wird11. Vor dem Horizont einer „jugendsensiblen Kirche“12 empfehlen sich gleichwohl möglichst sensible Begleitungssignale. Die Begleitung wird deshalb oftmals überhaupt erst darin bestehen, das den einzelnen Jugendlichen betreffende Lebensweltsystem genauer in den Blick zu nehmen und von dort aus etwa im entsprechenden Fall eine seelsorgerliche Begleitung bis hin zur möglichen Krisenintervention anzubieten. Systemische seelsorgerliche Professionalität erweist sich hier darin, einerseits an die vorhandenen Ressourcen 10 Rat der EKD, Kirche und Jugend, 30. 11 Gerstner, Wie religiös, 344. 12 Rat der EKD, Kirche und Jugend, 17 ff. u. 78 ff.

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der jugendlichen Person und seines Bezugssystems anzuknüpfen, andererseits aber auch in kompetenter Weise eine Beratungstätigkeit im Sinn des Verweisens auf weitere professionelle Angebots- und Hilfsstrukturen zu leisten, falls sich dies als notwendig erweist. Zudem ist aus genderspezifischen Gründen zu bedenken, dass eine seelsorgerliche Begleitung des Pfarrers bzw. der Pfarrerin von Jugendlichen des jeweils anderen Geschlechts gerade in diesem Alter nochmals eine besondere Herausforderung darstellt und hier alle Abgrenzungen und Distanzierungen von Seiten der Jugendlichen unbedingt ernst zu nehmen sind. Zugleich braucht es – vor allem anderen! – immer die unbedingte Möglichkeit für den einzelnen Jugendlichen, sich in seinen Schutzraum zurückzuziehen und nicht Auskunft geben zu müssen, wenn er oder sie dies nicht will. Im Zusammenhang einer seelsorgerlichen Begleitung Jugendlicher gilt schliesslich aber auch, dass nicht alles versprachlicht werden kann und muss, was eine gelingende Beziehung ausmachen kann. Hier ist an Formen der Annahme und Anerkennung zu denken, die auf der nonverbalen Ebene mindestens ebenso stark und deutlich sein können wie auf der verbalen. Dass Jugendliche gerade in diesem Zusammenhang ausgesprochen sensibel und mit erheblicher Intuition wahrnehmen können, was ihnen hier an Positivem oder Negativem entgegengebracht wird, braucht kaum eigens betont zu werden. c) Deuten Wenn Seelsorge auch mit Jugendlichen ein differenziertes Kommunikationsgeschehen darstellt, dann bedeutet dies, dass neben das Wahrnehmen, Hören und Begleiten auch eine eminent theologische Deutungsaufgabe treten muss. Sieht man dies als notwendigen und sachgemässen Ausdruck des pastoralen Verkündigungsauftrags an, so ist zu fragen, wie diese Deutungsaufgabe selbst kommunikationstheoretisch und theologisch bestimmt werden kann. Nicht mehr sinnvoll und mindestens zu relativieren ist in diesem Zusammenhang die klassische Unterscheidung Walter Neidharts zwischen der Berücksichtigung theologischer und nichttheologischer Faktoren. Denn entscheidend ist gerade, dass prinzipiell jede Lebensbewegung des einzelnen Jugendlichen und jede Form der seelsorgerlichen Begleitung theologisch deutungsfähig ist und auch sein sollte. „Je mehr die Zuwendung zum einzelnen Menschen bei den Kasualien und also auch bei der Konfirmation im Vordergrund stehen soll, desto weniger plausibel kann es sein, bestimmte Motive theologisch auszuschließen oder gar abzuqualifizieren“13.

Dabei gilt in jugendtheologischer Hinsicht, dass die möglichen Deutungen konsequent gemeinsam mit den Jugendlichen und deren Zuschreibungen 13 Ilg u. a., Konfirmandenarbeit in Deutschland, 209.

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eines lebensrelevanten Sinnes erschlossen werden müssen14. In bibeldidaktisch-poimenischem Sinn kann dabei von einem experimentell-deutenden Gebrauch der Bibel gesprochen werden: „Bibelgebrauch in der Seelsorge verlangt in jedem Fall eine Elementarisierung und eine Dialogisierung biblischer Gehalte sowie hermeneutische Reflexion über den symbolischen Status religiöser Rede“15. Zur Diskussion steht dabei zugleich nicht weniger als die Frage danach, was tatsächlich inhaltlich eine solche gemeinsame Konfirmandenzeit tragen kann – und zwar nicht nur im Blick auf die Person des Pfarrers und der Pfarrerin, sondern auch hinsichtlich der Botschaft, die durch sie bzw. ihn vertreten und verkündigt wird. Es geht folglich darum, in einer seelsorgerlich ausgerichteten Kommunikation des Evangeliums Tradition und Situation aufeinander zu beziehen „und in einem dynamischen Prozess die Botschaft des Evangeliums mit der Lebenswelt von Jugendlichen als Subjekten dialektisch“16 zu verschränken. In einem solchen beziehungsorientierten Deutungsgeschehen verbinden sich die bildungspraktische und seelsorgerliche Dimension wiederum miteinander. Seelsorge kommt hier somit als ein wichtiges, Bildungsgerechtigkeit und Empathie beförderndes nonformales Angebot kirchlicher Praxis in den Blick. Dies bedeutet dann aber auch grundsätzlich, dass es einer theologisch begründeten Sorgsamkeit des jeweiligen Deutungsangebots unbedingt bedarf und alle Formen der Überwältigung unbedingt zu vermeiden sind. Ein solches Angebot zur Sinndeutung kann folglich nicht anders als „dialogisch und narrativ, probeweise und in kleinen Schritten“17 erfolgen. In diesem Zusammenhang des Deutens kommt dem Konfirmationsgottesdienst eine besondere Seelsorgedimension zu: Diese bezieht sich zum einen auf das vielfach von Jugendlichen betonte Motiv, bei der Konfirmation den Segen zu empfangen. Dadurch kann diese Kasualie gerade von den Jugendlichen aus sowohl in der gemeinsamen Vorbereitung wie Durchführung des Gesamtaktes nochmals eine besondere Tiefe gewinnen. Zum anderen ereignet sich die mit dem Konfirmationsgottesdienst verbundene Verkündigungssituation im Licht des gesamten – präsenten oder eben auch nicht-präsenten! – familiären Bezugssystems. Insofern sind hier alle Deutungen des jeweiligen rite de passage bzw. dieses besonderen persönlichen und familiären Ereignisses einer biologischen, sozialen und spirituellen Umorganisation18 in besonderer Intensität und Sorgfalt vorzunehmen.

14 15 16 17 18

Vgl. Schlag/Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Klessmann, Seelsorge, 211. Rat der EKD, Kirche und Jugend, 20 f. Klessmann, Seelsorge, 205. Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 199.

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d) Zeigen Seelsorgerliche Praxis in der Konfirmationsarbeit kann auch praktisch so erfahrbar gemacht werden, dass diese in ihrem Bedeutungsgehalt aufgezeigt wird, ohne dass dies sogleich direkt mit den Jugendlichen und deren persönlicher Lebenslage in Verbindung gebracht wird. Ein „Zeigen“ kann etwa in der Weise erfolgen, dass Jugendlichen Formen und Beispiele gesellschaftlicher und gesellschaftsdiakonischer Seelsorge – durchaus auch in historischem Sinn – vor Augen geführt werden oder sie solcher selbst ansichtig werden können. Im Modus der Narration kann Jugendlichen die seelsorgerliche Kommunikation gleichsam über die Erfahrung Dritter verdeutlicht und veranschaulicht werden. Dies entspricht zudem durchaus der religionssoziologischen Einsicht einer vicarious religion19, wonach Jugendliche zwar auf bestimmte kirchliche Angebote selbst nicht zurückgreifen würden, es gleichwohl aber gut und wichtig finden, wenn Kirche in dieser seelsorgerlichen Weise gesellschaftlich und öffentlich präsent ist. Für Jugendliche ist in diesem Zusammenhang von erheblicher Bedeutung, dass sie Pfarrerinnen und Pfarrer selbst in der Weise als glaubwürdig erleben, dass sich an ihnen ein eigenes Getragen-Sein sowie ein sorgsamer Umgang mit der eigenen Person abbildet. Jedenfalls zeigen die aktuellen empirischen Untersuchungen zur Gesamteinschätzung des Angebots die erhebliche Bedeutung, die dabei gerade den Leitenden zukommt. Eine solche vorbildhafte Funktion, erst recht im Zusammenhang mit der seelsorgerlichen Aufgabe, stellt zugegebenermassen eine erhebliche und nicht selten das eigene Professionsverständnis und die individuellen Ressourcen massiv überschreitende Selbstverpflichtung dar. Gleichwohl nehmen Jugendliche gerade in den intensiven Begegnungszeiten des Gesamtzeitraums – der im Übrigen sinnvollerweise lange vor der Konfirmationszeit beginnt und möglichst lange darüber hinaus anhält! – die pastoralen Begleiter immer auch in dieser Hinsicht wahr. Dies kann im Übrigen bedeuten, dass jugendliche Fremdheitserfahrungen mit diesem Beruf unter Umständen nachhaltiger und bedeutsamer sind als eine blosse Akkommodation an die Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Jugendlichen, indem man etwa meint, sich als widerstandsfreier, freundschaftlicher und allezeit verständnisvoller Begleiter der jeweiligen Konfirmandengruppe zeigen zu müssen. Mit den letzten Bemerkungen ist nochmals die bereits angedeutete Frage danach aufgeworfen, ob denn unter den genannten Bedingungen eine Seelsorge im Gesamtkontext der Konfirmandengruppe denkbar, möglich und wünschenswert ist:

19 Vgl. Davie, Vicarious religion.

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4.3 Weitere Seelsorge-Interakteure a) Seelsorge in der Konfirmandengruppe Die Konfirmationsarbeit hat sich nach Modellüberlegungen zu einem sozialisationsbegleitenden, auf intensive Gespräche hin orientierten und psychodramatische Elemente beinhaltenden Gruppenunterricht seit den 80er Jahren von einer solchen eindeutigen Ausrichtung abgewendet bzw. diese wurde wohl auch nur in seltenen Fällen tatsächlich intensiver praktiziert20. In der Tat kann das Ziel dieses Bildungsangebotes nicht darin gesehen werden, mögliche jugendliche Problemlagen gleichsam auch noch coram publico gemeinsam zu bearbeiten und aufzuarbeiten. Zwar ist unbestreitbar, dass ein bestimmtes Gruppensetting eine wichtige stützende Funktion erlangen kann, allerdings ist man hier aus guten Gründen für die Gruppe der Konfirmandinnen und Konfirmanden eher zurückhaltend geworden. Die übergreifende Zielsetzung wird jedenfalls nicht in einer Revitalisierung des therapeutischen Unterrichts bestehen können und eben so wenig in der Gewissenserforschung der einzelnen jugendlichen Menschenseele, wie dies in einer bestimmten pietistischen Ausrichtung bzw. seelsorgerlich-erwecklichen Motivik des Konfirmandenunterrichts und der Kasualie noch gang und gäbe gewesen sein mag21. Andererseits ist gerade angesichts der in den entsprechenden Studien festgestellten wichtigen Rolle der Gesamtgruppe für die individuelle Beurteilung der gesamten Konfirmandenzeit zu überlegen, welche Möglichkeiten sich hier eröffnen. Dabei scheint mir aber nun die Fragestellung zu präzisieren zu sein: Also nicht, ob die Gruppe als ganze gleichsam in einen von aussen angestossenen seelsorgerlichen Prozess eher passiv involviert wird, sondern ob diese gleichsam selbst seelsorgerlich tätig werden kann und zwar im durchaus weiten begleitenden und anerkennenden Sinn. So kann eine solche Aktivität darin bestehen, die Freude gelingender Gemeinschaft miteinander zu teilen oder sich in konkreten Krisensituationen tatsächlich anerkennend und solidarisch zu verhalten. Allerdings ist zugleich davor zu warnen, den professionstheoretischen Bezug des Seelsorgehandelns zu schnell und zu weit auf die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Konfirmandengruppe auszudehnen. Insofern ist hier nur sehr zurückhaltend von einer seelsorgerlichen Funktion der Gesamtgruppe zu reden, d. h. nicht jedes sicherlich notwendige empathische Handeln ist automatisch auch schon als ein seelsorgerliches oder gar intentionales im engeren Sinn auszugeben.

20 Vgl. exemplarisch Bohris, Begleitender Konfirmandenunterricht. 21 Vgl. Starck/Scholz, Konfirmationsgottesdienst, 303.

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b) Seelsorge in der Gemeinde Ebenso wenig wie die Konfirmationsarbeit ohne den grösseren Kontext der jeweiligen Ortsgemeinde gedacht werden kann, ist ein konfirmierendes Handeln der Kirche vor Ort ohne seinen seelsorgerlichen Bezug verstehbar. Insofern muss auch die Gemeinde – in Gestalt ihrer vielen personalen Repräsentanzen von Kirche – einen entsprechenden Vertrauensraum für die Konfirmandinnen und Konfirmanden öffnen. Zugleich kann Jugendlichen dadurch vor Augen geführt werden, dass sich dieser Vertrauensraum nicht nur auf den engeren, architektonisch und personell begrenzten Vertrauensraum der Gemeinde bezieht, sondern der weitere kirchliche Seelsorgeauftrag in vielfacher institutioneller Hinsicht zum Tragen kommt. So kann etwa das Bekanntmachen mit Angeboten wie der Telefon- oder der Notfallseelsorge diese Dimension deutlich machen, die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung und ihrem, nicht selten auf das Jugendalter selbst bezogenen, dramatischen Hintergrund für Jugendliche von besonderer Faszination, Eindrücklichkeit und Plausibilität sind. Zudem sind gerade die aktuellen Formen etwa einer Onlineseelsorge ausgesprochen gut dazu geeignet, die Grundaufgabe und -intention von Seelsorge gemeinsam mit Jugendlichen anschaulich werden zu lassen.

4.4 Forschungsperspektiven Wie angedeutet, erfolgte manche der bisherigen Ausführungen vor dem Hintergrund umfassender deutscher, schweizerischer und weiterer internationaler Studien zur Konfirmandenarbeit22, wenngleich die seelsorgerliche Dimension hier bisher nur sehr am Rand vorgekommen ist. Das bisher inhaltlich noch am nächsten liegende Item „Wenn ich persönliche Probleme habe, würde ich mich an einen Pfarrer oder eine Pfarrerin wenden“ ist ebenso wenig aussagekräftig und interpretationsfähig wie die abgefragte – übrigens sehr hohe – Bereitschaft der Mitarbeitenden, die Jugendlichen „in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung“23 zu unterstützen. Für die bereits wieder anvisierten weiteren empirischen Analysen wird somit zu überlegen sein, wie sich diese Dimension sowohl im Blick auf die Erwartungen wie der Erfahrungen der Beteiligten in quantitativer Hinsicht hier zielgenauer als im ersten Design erheben lässt. Hier kann etwa an Fragen wie „Kirchliche Seelsorger sind in persönlichen Krisen/in Notfallsituationen eine wichtige Hilfe“, „Seelsorge ist eine wichtige Aufgabe der Kirche“, „Pfarrerinnen und Pfarrer 22 Vgl. auch Schweitzer/Ilg/Simojoki, Confirmation Work in Europe. 23 Vgl. zur Auswertung der Ergebnisse im deutschen Zusammenhang Ilg u. a., Konfirmandenarbeit in Deutschland, 369 bzw. zur Mitarbeiterfrage 378 und zum schweizerischen Kontext Schlag/Voirol-Sturzenegger, Konfirmationsarbeit, 206 mit dem Ergebnis, dass 81 % der Zürcher KonfirmandInnen hier zu einem „Nein“ kommen bzw. tendieren, zugleich aber 94 % der Mitarbeitenden eine solche Unterstützung leisten möchten.

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kümmern sich in besonderer Weise um die Seele der Menschen“ gedacht werden. Zum anderen ist geplant, im Rahmen des nächsten Designs auch eine qualitative Studie zu den konkreten Erfahrungen der Jugendlichen und verantwortlich Leitenden im Lauf der Konfirmandenzeit durchzuführen. Dazu wird im Rahmen der entsprechenden Interviews in jedem Fall auch die Ebene solcher Erfahrungen mit zu bedenken sein, die sich als seelsorgerlich bedeutsam identifizieren lassen: etwa die Erinnerung an besonders bedeutsame und hilfreiche Gespräche und Begegnungen, des Umgangs mit Krisensituationen während des Jahres und die Formen und inhaltlichen „Signale“ der Begleitung in der jeweiligen Situation, sei es durch die erwachsenen Leitenden oder die Gruppe der Mitkonfirmandinnen und -konfirmanden. Schliesslich wird es nach der oben angestellten Differenzierung auch sinnvoll sein, die Jugendlichen Erfahrungen und in dieser Zeit erworbene Kenntnisse über die seelsorgerliche Praxis von Kirche und Gemeinde rekapitulieren und beschreiben zu lassen. Es steht zu vermuten, dass die empirische Frage nach der längerfristigen Wirksamkeit gerade im Blick auf seelsorgerliche Erfahrungen gut und eindrücklich eruiert werden kann.

5. Fazit: Seelsorge-Konturen der Konfirmationsarbeit Durch diesen Beitrag hindurch wurde ohne nähere Erläuterung der durchaus ungewöhnliche Begriff der Konfirmationsarbeit verwandt, um Desiderate, Herausforderungen und Chancen einer bildungs- und seelsorgeorientierten Profilierung dieses kirchlichen Praxisfeldes zu erörtern. Die Begründung für diesen Wortgebrauch soll nun abschliessend selbst poimenisch erläutert und mit einem Fazit verbunden werden: Im Unterschied zum althergebrachten Begriff des Konfirmandenunterrichts und dem stark an die Jugendarbeit angelehnten Begriff der Konfirmandenarbeit wird der Begriff der Konfirmationsarbeit bevorzugt, weil darin der prozessuale Charakter und das dynamische Prozessgeschehen dieses Angebotes angemessen zum Ausdruck kommen kann24. Die Konfirmationszeit ist – theologisch wie pädagogisch gesprochen – als eine gemeinsame dynamische Entdeckungsphase und Klärungsphase für alle Beteiligten zu verstehen, während der sich die Frage nach dem eigenen Glauben für alle daran beteiligten Akteure stellt und somit prinzipiell nur graduelle Unterschiede hinsichtlich der individuellen Sinnsuche bestehen. Von diesem gemeinsamen Deutungs- und Erfahrungsweg im Sinn einer theologia viatorum beziehen die Bildungs- und Seelsorgedimension der Konfirmationsarbeit ihre besondere Kontur. 24 Vgl. dazu Schlag/Voirol-Sturzenegger, Konfirmationsarbeit, 11 f.

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Hier kann aus gegebenem Anlass an die Überlegungen Christoph Morgenthalers im Rahmen seiner Habilitationsvorlesung aus dem Jahr 1981 erinnert werden, in denen nicht nur die hohe Fähigkeit des Autors zur sorgsamen Beobachtung „seiner Konfirmanden“ erkennbar wird, sondern immer noch gegenwartsrelevant formuliert ist: „Die Thematisierung von sinn- und wertsteuernden Deutungssystemen kann … geradezu als eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche, mithin auch kirchlicher Bildungsprozesse angesehen werden. Für den Konfirmandenunterricht ergeben sich besondere Chancen. … Im jugendlichen Protest können Motive aufleben, die seit jeher das reformatorische, ja revolutionäre Potential biblischer Tradition ausmachten. Die Vermittlung von christlicher Tradition und alternativem Lebensstil erhält zentrale Bedeutung“25.

Im besten Fall führt ein solches seelsorgerliches und pädagogisches Erfahrungsgeschehen tatsächlich zu einer gemeinsamen confirmatio der eigenen auf die Taufe gegründeten und von dort her ermöglichten Glaubensorientierung. Das 1974 von Weert Flemming ausgegebene Ziel von Konfirmandenarbeit, zu „lernen, was es heißt, als Christ in unserer Zeit zu leben”, sollte dementsprechend mindestens ergänzt, wenn nicht umformuliert werden in das Ziel, zu erfahren, was es heisst, als Mensch in unserer Zeit im Geist Jesu Christi angenommen zu werden und selbst andere anzunehmen. Von daher kann mit gutem Grund zugespitzt werden, dass die Plausibilität und Überzeugungsmacht der inhaltlichen Angebote der Konfirmationsarbeit entscheidend von ihrer seelsorgerlichen Dimensionierung lebt. Wenn die Begleitung des jugendlichen Lebenslaufs eine gleichermassen eminente Bildungs- und Seelsorgeaufgabe darstellt, bedeutet dies auch, dass die Offenheit für das Überraschende und Ungeplante wesentlich zu diesem kirchlichen Angebot gehört. Pädagogisch wie poimenisch gilt: Der Wert der Konfirmationsarbeit zeigt sich in der besonderen Grenze seiner Machbarkeit, im besonderen Charakter seiner Unverfügbarkeit und in einer Nachhaltigkeit, die aus guten theologischen Gründen weder geplant noch vorhergesehen werden kann. Die seelsorgerliche Anerkennungs-Kunst mit Jugendlichen besteht dann darin, im Sinn einer Alltagsseelsorge Chancen der kleinen, informellen „im guten Sinn“ beiläufigen Begegnungsmöglichkeiten herzustellen und diese in aller Sorgfalt und im Zweifelsfall eher bescheiden und zurückhaltend zu nutzen – und all dies im Bewusstsein, dass schon solche punktuellen Gelegenheiten und elementaren Erfahrungen fragloser Anerkennung und Annahme von erheblicher Nachhaltigkeit für jeden einzelnen Jugendlichen sein werden.

25 Morgenthaler, Wie Konfirmanden Jesus verstehen, 494 f.

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Friedrich Schweitzer / Katja Dubiski

Wie Kinder mit religiöser Differenz umgehen Prozesse von Konstruktion und Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung

Die Zeiten, in denen Kindheit so etwas wie einen festen religiösen Wurzelboden bedeutete, scheinen endgültig vorbei. Auch wenn die religiöse Familienerziehung ihre Bedeutung für die religiöse Biografie keineswegs verloren hat und sich vielfach schon in der Kindheit zu entscheiden scheint, welche Zugänge zu Religion Menschen auch in ihrem späteren Leben finden oder eben nicht finden,1 heißt dies nicht, dass Kindern heute noch eine klare und feste religiöse Orientierung, etwa auch im Sinne der Bindung an eine bestimmte Glaubensweise oder Kirche, vermittelt würde. Stattdessen haben religiöse Individualisierung und Pluralisierung längst auch die Zeit der Kindheit erfasst. Das Aufwachsen in der Pluralität gilt als Signatur unserer Zeit. Zugleich haben sich auch die Sichtweisen von Kind und Kindheit insgesamt stark verändert. Kinder werden als aktive Subjekte wahrgenommen und sollen als solche von den Erwachsenen auch anerkannt werden. Darin konvergieren neuere humanwissenschaftliche Befunde und religionspädagogische Auffassungen. Vor allem unter dem Einfluss des Konstruktivismus ist es üblich geworden, auch das Kind als Konstrukteur von Wirklichkeit anzusehen. Damit geht es nicht mehr einfach um die Frage, wie das Kind zu einer immer realitätsangemesseneren Sicht der Wirklichkeit kommt, sondern von Interesse sind die Arten und Weisen, wie Wirklichkeit vom Kind selbst konstruiert wird. Für Prozesse der religiösen Erziehung und Bildung bringt dies ebenfalls eine veränderte Sichtweise mit sich, die in der religionspädagogischen Forschung allerdings noch zu wenig berücksichtigt wird. Wenn Kinder als Konstrukteure von Wirklichkeit tätig sind, dann müssen auch religiöse Erziehung und Bildung in einem grundlegenden Sinne als Interaktion verstanden und entschlüsselt werden. Eine Deutung, bei der religiöse Erziehung ausschließlich als unidirektionaler Prägungsvorgang gefasst wird, ist damit von vornherein ausgeschlossen. Für ein nunmehr angemessenes Verständnis kann der Begriff der Ko-Konstruktion stehen, wie ihn vor allem Christoph Morgenthaler auf religiöse Sozialisationsprozesse im Umkreis von Abendritualen bezogen hat.2 Auch in ihrer rituellen Dimension funktioniert religiöse Erziehung in dem Sinne interaktiv, dass Kinder aktiv und mitgestaltend daran beteiligt sind. 1 Vgl. dazu Biesinger/Kerner/Krosinski/Schweitzer (Hg.), Brauchen Kinder Religion? 2 Vgl. Morgenthaler, Abendrituale.

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Der Begriff der Ko-Konstruktion enthält allerdings auch noch weitere Implikationen, die sich auf das vom Konstruktivismus ausgehende Bild des Kindes als aktivem Subjekt und als Konstrukteur von Wirklichkeit beziehen. Vielfach erscheint dieser kindliche Konstrukteur, zumindest bei manchen Spielarten des Konstruktivismus, nämlich als ein von seinem sozialen, aber auch etwa medialen Kontext losgelöstes Individuum, während die Eingebundenheit des Kindes besonders etwa in familiäre Kontexte aus dem Blick zu schwinden droht.3 In dieser Hinsicht kann der Bezug auf Ko-Konstruktion bewusst machen und bewusst halten, dass diese Kontexte auch bei kindlichen Konstruktionsprozessen eine entscheidende Rolle spielen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf den heute für die religiöse Sozialisation zunehmend bedeutsamen Aspekt der religiösen Differenz. Ausgehend von einem Tübinger Forschungsprojekt4 wollen wir untersuchen, welche Prozesse von Konstruktion und Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung zu finden sind. Am Ende stehen Überlegungen zu religionspädagogischen Perspektiven, die sowohl die weitere Forschung als auch die Praxis betreffen.

1. Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter – Fragestellung und Stand der Forschung Angesichts der allgemein konstatierten multireligiösen Situation auch in der westlichen Welt ist es erstaunlich, dass religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter lange Zeit kaum ein Thema der Forschung war. Als frühe Pionierleistung ist auf die bereits in den 1950er und 1960er Jahren durchgeführten Untersuchungen des amerikanischen Entwicklungspsychologen David Elkind zu verweisen, die sich auf die kindliche Sicht von Protestanten, Katholiken und Juden beziehen.5 Schon Elkinds Studien, die in der Tradition Jean Piagets stehen, lassen erkennen, dass sich die kindliche Wahrnehmung religiöser Differenz deutlich von der bei Jugendlichen oder Erwachsenen unterscheidet. Aus diesen Untersuchungen hat sich aber keine fortlaufende Forschungsrichtung ergeben. In einer Reihe von Tübinger Forschungsprojekten konnte vor allem in den letzten zehn Jahren untersucht werden, wie Kinder und Jugendliche unterschiedliche Konfessionen im Christentum sowie verschiedene Religionen und Religionszugehörigkeiten insgesamt verstehen. Den Rahmen bildete dafür 3 Vgl. kritisch dazu Burggraeve, Ethical Voice. 4 Es handelt sich um das Projekt „Interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten“ an der Universität Tübingen, unterstützt von der Stiftung Ravensburger Verlag. Eine Beschreibung und Literaturhinweise dazu finden sich unten. 5 Elkind, Conception; als Überblick vgl. Schweitzer, Kinder und Jugendliche.

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zunächst der konfessionell-kooperative (evangelisch-katholische) Religionsunterricht, bei dem Kinder konfessionsübergreifend zusammenarbeiten und sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Konfessionen erschließen.6 Bei diesen vor allem qualitativen Untersuchungen konnte als Hypothese herausgearbeitet werden, dass von einer Entwicklung des Konfessionsbewusstseins im Kindes- und Jugendalter, verstanden als religiöse Eigenund Fremdwahrnehmung, gesprochen werden kann. Wichtige Parameter für die Rekonstruktion entsprechender Entwicklungsprozesse können vor allem in der zunächst vorherrschenden, fast ausschließlichen Konzentration auf beobachtbare Einzelphänomene (unterschiedliche Kirchengebäude, Feiern wie Erstkommunion und Konfirmation, Pfarrerinnen und Priester usw.) sowie in der besonders im Übergang zum Jugendalter deutlich zunehmenden Weite des Orientierungsraumes über das Christentum hinaus gesehen werden. Bemerkenswert sind aber auch etwa die kindlichen Erklärungsversuche für das Zustandekommen von Konfessions- und Religionszugehörigkeiten, die teils auf eine Art göttlicher Vorherbestimmung und teils auf das Handeln von Pfarrern zurückgeführt werden (der Pfarrer sagt es bei der Taufe, ob ein Kind evangelisch oder katholisch ist…), manchmal aber auch als Folge natürlicher Anlagen angesehen werden können (es zeigt sich nach ein oder zwei Jahren, ob ein Kind evangelisch oder katholisch ist…).7 Eine weitere Studie zur religiösen Differenzwahrnehmung bei Kindern im Kindergartenalter, auf die wir uns in der vorliegenden Darstellung vor allem beziehen,8 machte allerdings deutlich, dass auch schon bei Kindern im Alter von fünf bis sechs Jahren sowohl mit einer deutlichen Wahrnehmung religiöser Unterschiede als auch mit darauf bezogenen kindlichen Deutungsprozessen zu rechnen ist. Dies konnte im Blick auf unterschiedliche Beispiele wie religiöse Feste und Riten, aber auch Gottesvorstellungen und Auffassungen von Jesus Christus herausgearbeitet werden. Auch ein Zusammenhang mit der jeweiligen religiösen Sozialisation im Elternhaus wird dabei greifbar.9 Genauer untersucht wurde dieser Zusammenhang in der Studie bislang aber nur im Blick auf eine mögliche Typenbildung, die sich an Aspekten wie dem Bewusstsein von Religion, der Identifikation mit einer Religion, Einstellungen gegenüber verschiedenen Religionen, Ausprägung von Wissen gegenüber Eigenem und Fremden, Vorurteilsanfälligkeit usw. orientieren könnte.10 Noch nicht untersucht wurden dabei hingegen die angesprochenen Prozesse einer Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung, denen wir uns hier zuwenden. 6 Vgl. Schweitzer/Biesinger/Boschki, Gemeinsamkeiten; Schweitzer/Biesinger/Conrad/Gronover, Religionsunterricht. 7 Vgl. Schweitzer/Biesinger/Boschki, Gemeinsamkeiten, bes. 33 ff. 8 Vgl. Edelbrock/Schweitzer/Biesinger (Hg.), Götter ; darin besonders Dubiski/Essich/ Schweitzer/Edelbrock/Biesinger, Differenzwahrnehmung. 9 Vgl. Dubiski/Essich/Schweitzer/Edelbrock/Biesinger, Differenzwahrnehmung, 150 ff. 10 Dubiski/Essich/Schweitzer/Edelbrock/Biesinger, Differenzwahrnehmung, 158.

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In den bislang vorliegenden, freilich wenigen Untersuchungen zur religiösen Differenzwahrnehmung im Kindesalter werden, pädagogisch wie gesellschaftlich, erfreulicherweise nur wenige Vorurteile beobachtet, so dass von einer ausgeprägten Xenophobie bei den untersuchten Kindern nicht gesprochen werden kann. Sehr eindrücklich ist allerdings auch der Befund, dass die soziale Kategorisierung offenbar sehr früh einsetzt und die meisten Kinder von einem klaren „Wir“ und „Ihr“ ausgehen.11 Die Kategorisierung bezieht sich gerade auch auf Religionszugehörigkeiten, wobei sowohl im Elementarbereich als auch im Grundschulalter immer wieder Verwechslungen und Vermischungen von Nationalität und Religionszugehörigkeit auftreten – eine Beobachtung, die sich bereits bei Elkind findet. So stehen dann die „Deutschen“ den „Muslimen“ gegenüber oder werden die Muslime als die „Türken“ den „Deutschen“ gegenübergestellt. Zumindest mitunter finden sich auch Ansätze einer Stereotypenbildung, die negativ bis ablehnend ausfallen kann und, in Einzelfällen, auch rassistisch, etwa auf körperliche Merkmale bezogen („dunkle Haut“) ist. Insofern lassen die Befunde auch allzu optimistische Einschätzungen der kindlichen Offenheit für das Andere und Fremde als voreilig erscheinen.12 Im Blick auf die Vorurteilsbildung ist auch auf die entsprechende psychologische Forschung zu verweisen, die sich allerdings nur selten auf religiöse Aspekte eingelassen hat. Herkömmlicherweise wurde stattdessen die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht untersucht. Vor allem die sozial-kognitive Theorie der Vorurteilsentwicklung von Frances E. Aboud erwies sich aber als ein interessanter Hintergrund für die entsprechende Interpretation von Kinderäußerungen.13 Im Blick auf sichtbare Merkmale erklärt die Theorie den Anstieg von Vorurteilen bei der Mehrheit der Vorschulkinder durch deren enge Bindung an die Eigengruppe sowie durch die kognitive Entwicklung, die eine multiple Klassifizierung und damit eine ausgewogenere Bewertung anderer nur bei einem kleinen Teil der Kinder ermöglicht. Hinsichtlich nicht-sichtbarer Merkmale ist die Bevorzugung der Eigengruppe im Vorschulalter nach Aboud lerntheoretisch durch Imitationslernen oder durch gute Erfahrungen mit der Eigengruppe zu erklären.14 Allgemein lässt das Modell Abouds erwarten, dass sich bei Kindern im Vorschulalter auch im Bezug auf verschiedene Kulturen und Religionen eine Bevorzugung der eigenen Gruppe zeigt. Auch Aboud geht davon aus, dass Kinder aktiv an der Ko-Konstruktion von Normen beteiligt sind.15 Offen bleibt dabei aber, welche Rolle das soziale Umfeld, d. h. Eltern und Erzieherinnen bei der Vorurteilsentwicklung bezüglich verschiedener Kulturen und Religionen 11 12 13 14 15

Dubiski/Essich/Schweitzer/Edelbrock/Biesinger, Differenzwahrnehmung, 193. In diesem Sinne etwa Hofmann, Interreligiöses Lernen. Die Darstellung erfolgt anhand von Aboud, Theory of Prejudice. Vgl. Aboud, Theory of Prejudice, 58. Vgl. ebd.

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spielen – und damit die Frage, die wir im Folgenden unter dem Aspekt von Konstruktion und Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung aufnehmen.

2. Das Forschungsprojekt „Interkulturelle und Interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten“ Die Studie zur religiösen Differenzwahrnehmung im Kindesalter, auf die wir uns hier stützen, ist Teil eines größeren Gesamtprojekts, das sich auf interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten bezieht.16 Im Vordergrund steht die interreligiöse Bildung, der in der Vergangenheit, vor allem in empirischer Hinsicht, wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. In einer Pilotstudie wurden Erzieherinnen an ausgewählten Orten befragt. Die Studie konzentrierte sich dabei auf Standorte mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Migranten in der Wohnbevölkerung und umfasste sowohl eine qualitative als auch eine quantitative Befragung.17 Im Hauptprojekt wurde eine repräsentative Befragung von Erzieherinnen im gesamten Bundesgebiet durchgeführt. Dazu kommen qualitative und quantitative Studien zu den Erwartungen und Erfahrungen von Eltern sowie die Begleitung von Best-Practice-Beispielen. Nicht zuletzt konnte eine Untersuchung zu den Kindern selbst realisiert werden. Im Zentrum der Kinderstudie stand die Frage nach der religiösen Differenzwahrnehmung. Insbesondere waren dabei folgende Einzelfragen von Interesse18 : Über welches Wissen verfügen Kinder im Blick auf verschiedene Religionen? Sind sie in der Lage, dieses Wissen aktiv einzusetzen? Wie bestimmt ihr Wissen oder NichtWissen ihre Einstellungen etwa zu anderen Kindern? Wie erleben Kinder religiöse Vollzüge anderer Religionen? Welche Formen des Erlebens stehen ihnen offen bzw. werden ihnen etwa vom Kindergarten eröffnet? Wie verhalten sich Wissen und Erleben bei den Kindern zu einander? Welche Einstellung gegenüber Angehörigen anderer Religionen bilden Kinder aus? Zeichnen sich Vorurteile ab oder kann von einer aller Vorurteilsbehaftetheit vorausliegenden kindlichen Offenheit ausgegangen werden?

Über welche sprachlichen Fähigkeiten verfügen Kinder, um über religiöse Sachverhalte wie beispielsweise Feste oder Riten, an denen Sie selbst in Familie oder Kin16 Vgl. Edelbrock/Schweitzer/Biesinger (Hg.), Götter. 17 Vgl. Schweitzer/Biesinger/Edelbrock (Hg.), Mein Gott. 18 Die Fragen im Folgenden übernommen aus unserer Darstellung in Edelbrock/Schweitzer/ Biesinger (Hg.), Götter, 25.

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dertagesstätte beteiligt sind oder denen sie in der Gesellschaft begegnen, mit anderen zu kommunizieren? Wie verhalten sich ihre entsprechenden Fähigkeiten zu Kommunikationsanforderungen, die den Kontext der eigenen Religionen überschreiten?

Auf Einzelheiten des Designs und der Methodologie der Untersuchung kann hier nicht eingegangen werden.19 Einige Informationen zur Durchführung der Untersuchung sind jedoch zum Verständnis des Folgenden erforderlich. Insgesamt nahmen an der Untersuchung 140 Kinder (71 Mädchen, 69 Jungen) im Alter von vier bis sechs Jahren (97 Kinder waren fünf Jahre alt) aus insgesamt 15 christlich-konfessionellen, städtischen und muslimischen Kitas in verschiedenen Großstädten Deutschlands teil. Die Gesamtgruppe bestand aus 65 christlichen, 49 muslimischen und zwanzig konfessionslosen Kindern. Der Altersgruppe gemäß wurde als Forschungsmethode eine qualitative Vorgehensweise mit Gruppeninterviews (max. vier Kinder) gewählt. Alle Interviews wurden digital aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Befragung erfolgte über drei Erhebungszeitpunkte mit unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzung. Die Befragungsmethoden wurden jeweils so gewählt, dass sie die Kinder dazu motivierten, ihre Erfahrungen und ihre Deutungen mitzuteilen. Beim ersten Befragungszeitpunkt stand das Wissen der Kinder im Zentrum. Dazu wurden die Kinder mithilfe von Bildern und Gegenständen aus dem privaten und öffentlichen Bereich gelebter Religiosität zu ihrem Wissen über Christentum und Islam befragt. Beim zweiten Befragungszeitpunkt stand zusätzlich zum Wissen der Kinder die Frage nach den Einstellungen der Kinder im Zentrum. Diese wurden indirekt u. a. über ein Rollenspiel erhoben, bei dem z. B. der Verzehr von Schweinefleisch sowie die Frage nach gemeinsamen Tischritualen in der Kita angesprochen wurden. Beim dritten und letzten Befragungszeitpunkt ging es um das Erleben der Kinder. Die Kinder wurden dabei zu dem in allen Kitas gefeierten Osterfest sowie zu ihrer Vorstellung von „Gott“ bzw. „Allah“ befragt.

3. Ausgewählte Befunde zur Konstruktion und Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung Die gewählte Untersuchungsmethode „Gruppengespräch“ beruht auf erinnerndem und deutendem Erzählen der Kinder, umfasst aber anders als z. B. die teilnehmende Beobachtung kein aktuelles Erfahren der religiösen Dimension durch die Kinder. In den meisten Fällen erkannten die Kinder folglich die religiöse Dimension von Fremdem im Gespräch vor allem dann, wenn sie vorher bereits Erfahrungen religiöser Fremdwahrnehmung gemacht hatten. Nur in wenigen Fällen machten Kinder explizit, auf welche Quelle sie bei 19 Dazu sei verwiesen auf ebd.

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ihren Deutungen Bezug nahmen. Wo sie aber in ihren Aussagen in irgendeiner Form auf religiösen bzw. interreligiösen Wissensbestand zugreifen, ist von einer solchen Quelle, sei es im sozialen oder medialen Kontext, auszugehen. Die Interpretation von Kinderaussagen als deren Konstruktionsprozesse muss dementsprechend vorsichtig erfolgen. Welche Deutungen stammen von den Kindern selbst? Welche Deutungen der Wirklichkeit sind Umdeutungen von zuvor erworbenem Wissen im (inter)religiösen Bereich? Mit Sicherheit können als Konstruktionsprozesse nur diejenigen Aussagen herangezogen werden, welche offensichtlich eine spontane Reaktion der Kinder auf eine Art „Erstbegegnung“ mit religiös Fremdem während des Interviews sind. Ein Beispiel für eine solche Erstbegegnung und einen Konstruktionsprozess liefert Cedric (chr), der eine evangelische Kita in einem gut betuchten Stadtviertel besucht. Nur ein muslimisches Kind besucht seine Kita, allerdings nicht in seiner Gruppe. In den vorangegangenen Interviews war bereits deutlich geworden, dass interreligiöse Arbeit in dieser Einrichtung keine Rolle spielt. Für seine Überlegungen zur Frage, warum nicht alle Kinder Ostern feiern, kann Cedric also wahrscheinlich nicht auf Erfahrungen mit Kindern anderer Religionen im Alltag zurückgreifen, sondern muss eine eigene Interpretation finden. Er stellt die Vermutung auf, dass Kinder kein Ostern feiern, weil sie hungern (IW145): I: C: I: C: I: C:

Meinst du, alle Kinder feiern Ostern? (3) M-m [verneinend]. Manche ja, aber manche nicht. Manche nicht? Wer feiert denn kein Ostern? In Amerika. Weil die wissen ja nicht, was Ostern ist. Ach so. Warum wissen die das nicht? Weil in Amerika gibt’s kein Wasser und gar nix. Nix als Sand. Und es regnet da nur einmal im Jahr. I: Mhm. Was machen denn die Menschen da in Amerika die ganze Zeit? C: Die hungern.

Cedric assoziiert bei der suggestiven Frage nach „allen Kindern“ sein Wissen über die „Kinder der Einen Welt“. Anschließend an die Überlegung, inwiefern Unterschiede zwischen Kindern bestehen, sieht er den größten Unterschied zwischen „allen“ Kindern darin, dass manche deshalb anders leben, weil sie nichts zu essen haben. Cedric folgert daraus, dass sich dieser Unterschied auch auf Religion bzw. Kultur auswirkt. Mit der Deutung, dass es Kinder, die kein Osterfest feiern, nur in einem fernen Land geben kann, spiegelt Cedric seine Erfahrungen einer kulturell und religiös homogenen und wohlhabenden Alltagswelt. Er weiß um „Fremdes“, allerdings steht dies in keinerlei Bezug zu seiner alltäglichen Erfahrungswelt. Von Konstruktionsprozessen unterscheidet sich die Ko-Konstruktion dadurch, dass nun auch ausdrücklich das einbezogen und thematisiert wird, woran Konstruktionsprozesse anknüpfen. Dabei kann es sich um Wissen handeln oder um persönliche Aussagen etwa von Eltern. Bei der Darstellung im Folgenden nehmen wir zunächst solche Beispiele auf, die sich eher auf

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Wissen beziehen, dessen Herkunft nicht eindeutig ist. In einem zweiten Schritt sollen dann Beispiele untersucht werden, bei denen etwa Eltern ausdrücklich als Informationsquellen genannt werden. In beiden Fällen kann von Ko-Konstruktionsprozessen gesprochen werden. Einen Erfahrungsbezug zu religiösen Unterschieden hat Latif (musl), ein muslimischer Junge in einer katholischen Kita. Als die Interviewerin das auf einem Foto dargestellte Verhalten, das er von seiner Mutter kennt, mit dem deutschen Wort „Gebet“ bezeichnet, wird für ihn, möglicherweise zum ersten Mal, muslimisches Gebet direkt mit christlichem Gebet kontrastiert (IW31): L: Meine Mama macht/ mein Mama macht auch so. [Kinder klatschen im Hintergrund.] I: Deine Mama macht auch so, wenn sie betet? L: Ja. Meine Mama macht auch so wie der hier. I: Mhm. L: Die betet nicht. I: Und dann? L: Die bet/ die betet nicht. I: Nicht? L: Nö. I: Hhm. Warum? Wie macht man, wenn man betet? L: Die betet doch nicht. M: Kokon betet so! [klatscht] L: Da müss/ I: Das ist Klatschen. Das ist was anderes. J: Beten. L: Ne, wenn man betet, dann muss man essen.

Entsprechend den wahrnehmbaren Unterschieden des Gebetsverhaltens und der Gebetsrituale in Familie und Kindergarten erlebt Latif beide Vorgänge unterschiedlich und benennt sie auch dementsprechend verschieden: Das gemeinsame Sitzen bei Tisch mit gefalteten Händen und einem kurzen Tischgebet auf Deutsch bezeichnet er folgerichtig mit dem im Kindergarten verwendeten Begriff „beten“. Auf das rituelle Gebet seiner Mutter kann seiner Meinung nach dieses Wort nicht ebenfalls zutreffen. Latif scheint dabei nicht von zwei Religionen mit unterschiedlichen Bräuchen auszugehen, sondern er erlebt unterschiedliche Verhaltensweisen verschiedener Personen in unterschiedlichen Lebensräumen und Situationen. Diesen ordnet er entsprechend unterschiedliche Begriffe zu. Eben darin kann seine konstruktive Leistung gesehen werden. In einem anderen Gespräch berichten Serap (musl) und Defne (musl) davon, dass und wie sie Bayram feiern und erwähnen in diesem Zusammenhang den Gottesnamen „Allah“ sowie die Tatsache, dass sie „türkisch“ sind. Serap beschreibt Gott bzw. Allah als den, der Regen und Sonnenschein macht, der die Blumen schafft und die Menschen liebt. Außerdem sehe Gott die Menschen, wenn sie Böses sagen, wobei er selbst für Menschen nicht sichtbar sei. Auf die Rückfrage, woher man von Gott wissen kann, äußert Serap die Annahme, dass jedes Land einen Gott braucht. Als Quelle für ihr religiöses

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Wissen nennt Serap ihre Eltern und ihre Schwester. Aus deren Deutungen entwickelt sie dann selbständig ihre „Theologie der Kulturen bzw. Religionen“, indem sie jedem Land einen Gott zuordnet (IW115): I: D: S: I: S: I: D: S: I: S:

Meint ihr, der Allah, der hört uns gerade? beide: Ja. Aber wir hören ihn nicht. Und die sehen uns, und wir sehen sie nicht. Aber wie können wir dann wissen, ob’s ihn gibt? Es gibt! Aber woher weiß man das? Weil – Unser Mutter sagt und unser Papa, unsere Schwester. Oder der Gott. Der sagt’s selber? Weil im jeden, jeden Land muss ein Gott sein. Sonst können doch die Menschen nicht leben.

Auch hier kann von einer kindlichen Ko-Konstruktion gesprochen werden. Eine Mehrzahl an „Gottheiten“ oder eine Gegenüberstellung von „Gott“ und „Allah“ war im Gespräch bis dahin nicht erwähnt worden. Serap verknüpft also an dieser Stelle im Gespräch selbständig Nationalität bzw. Kultur und Religionszugehörigkeit. Sie überträgt ihre Erfahrung mit bzw. ihr Wissen über kulturelle Vielfalt auf den Bereich der Religion. Es ist nicht bekannt, auf welche Art und bei welchem Anlass Serap in ihrer Kita oder in ihrem Alltag religiös Fremdes wahrnimmt. Aber es scheint doch deutlich, dass Serap sich mit der Frage nach Gott für Menschen verschiedener Kulturen bereits beschäftigt und dabei diesen Antwortversuch für sich gefunden hat. Im Zusammenhang der schöpferischen und liebenden Seite Gottes erscheint ihr Ansatz, dass alle Menschen und somit auch jedes Land einen solchen Gott brauche, plausibel. Um die Zugehörigkeit aller Menschen zu Gott geht es indirekt auch im folgenden Gesprächsabschnitt über die Taufe und den Namen Gottes. Hier entwirft Chiara (chr) die Konzeption, dass alle Menschen in der Taufe ihren Namen erhalten und deshalb auch alle Menschen getauft sein müssen. Chiara berichtet zunächst von der Taufe ihres kleinen Bruders in der Kirche und dass dessen Name dabei eine Rolle gespielt hat. An dieses Vorwissen schließt sie ihre These an, dass alle Kinder getauft sind – auch ihre beiden Freundinnen. Als Dilek (musl) sagt, nicht zu wissen, ob sie getauft ist, verstärkt Chiara ihre Position: „Dilek, jeder wird getauft.“ Auf Sevims (musl) Aussage hin, dass sie nicht getauft ist, verstummt Chiara zunächst, während die beiden anderen Mädchen mit der Interviewerin überlegen, welche Sprachen Gott spricht. Sie kommen darin überein, dass Gott deutsch und türkisch können muss, weil es auch deutsche und türkische Kinder gibt. Hier knüpft Chiara wieder mit der Taufe an und findet schließlich eine Begründung für ihre Annahme, dass jedes Kind, auch ihre Freundin Dilek, getauft sein muss (IW112): I: S: C: I:

Und was meinst du, Chiara, warum gibt’s deutsche und türkische Kinder? Oh, der ist aber so süß! Weil die sind so anders getauft. Mhm, ok. Wow habt ihr mir viel erzählt. Jetzt frag ich noch mal/

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C: Und der/, der/ heißt Jonnyboy und dann hat die Kir, die Kirche muss entscheiden, wie der heißt.

Anders als Serap verknüpft Chiara Nationalität und Religion nicht, obwohl sie um die verschiedenen kulturellen Hintergründe weiß und bei ihrer Annahme, dass alle Kinder getauft sind, auf Widerspruch stößt. Sie deutet die Taufe ihres Bruders als dessen Namensgebung und integriert dann im Gespräch zusätzlich die Festschreibung der Nationalität in die Taufe. Wahrscheinlich nimmt Chiara hier Aussagen oder Deutungen ihrer Eltern bzw. des Priesters zum „Namen“ auf und deutet diese so um, wie es zu ihrem Verständnis passt. Auf diese Weise löst sie den wahrgenommen Unterschied von „deutsch“ und „türkisch“ kognitiv, indem sie dessen Ursache in der Entscheidung der Kirche bei der Taufe verortet. Allerdings geht sie dabei über die Aussagen ihrer Freundinnen hinweg, dass diese eben nicht getauft sind. Als viertes Beispiel für Ko-Konstruktion ohne explizite Nennung der Quelle bzw. des Gesprächspartners soll ein Gespräch über Ostern dienen. Ahmed (musl) geht darin deutend mit seinem Wissen über die muslimischen Speisegebote sowie über ein Spiel im Rahmen eines (Oster-)Festes um (IW128): I: A: I: A: I: A: I: A: I: A:

Wisst ihr denn was Ostern ist? Ja. Und was macht man denn an Ostern? Die Christen. Mmh, was machen die Christen da? Christen machen so, so, so Ostern, die machen da so Schokolade rein. Mmh. Und die hängen die so auf. Mmh. Und dann mussen die ham so und die machen so einen großen Ball mit Geschenken so Lutscher und so da machen die so, die machen so Augenbinde, die machen so wie so die so… I: Die drehen sich. A: Bis so der Luftballon und dann kann man alle Bonbons aufessen, aber das ist gar nicht gut wegen haram. Wo machen die so? Und das ist nicht gut zu essen und die machen so Schweinebonbons.

Ahmed feiert selbst kein Ostern, was er indirekt benennt, indem er das Osterfest den „Christen“ zuschreibt, zu deren Gruppe er sich nicht zählt. Er hat ein Bild davon vor Augen, wie dieses Fest abläuft – mit einem Spiel, bei dem Bonbons eine große Rolle spielen. Die „Schweinebonbons“ liefern dabei die Begründung dafür, warum er selbst dieses Fest nicht feiert. Es bleibt im Gespräch offen, ob Ahmed mit dieser Benennung der Bonbons auf die Verwendung von Gelatine Bezug nimmt oder ob er durch die Charakterisierung der Bonbons als „haram“ auf die Verwendung von Schweinefleisch bzw. Gelatine zurückschließt. Sein Gedankengang verdeutlicht aber, dass er sein Nicht-Feiern des Osterfestes unter Heranziehung und Kombination seines (inter)religiösen Vorwissens begründet. In den genannten Beispielen für Ko-Konstruktionsprozesse beziehen sich Kinder auf Vorwissen, dessen Herkunft anhand der Interviews nicht präzise

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bzw. eindeutig rekonstruiert werden kann. Nachfolgend werden drei Gespräche aufgenommen, in denen Kinder die Quelle ihres Wissens benennen bzw. diese wörtlich zitieren, um sie dann in der Gesprächssituation umzudeuten. So gibt z. B. Dino (chr) ausdrücklich an, woher er seine Deutung des Fotos einer Moscheegemeinde beim Beten bezieht. Dino selbst gehört zu einer katholischen Familie, seine Nationalität ist ihm wichtig („Ich bin Italiener“). Er weiß, dass „Türken“ wie sein Freund Dursun „Bayramfest“ feiern und Gott „Allah“ nennen, und verfügt damit über mehr interreligiöses Wissen als die meisten anderen der befragten Kinder. Für die Deutung des Fotos greift er ebenfalls auf Vorwissen zurück: Er ahmt die Haltung der abgebildeten Personen nach und summt dabei „ommm“. Auf die Nachfrage: „Wer macht das?“ antwortet Dino: „Hm, seh ich manchmal im Fernseher“ (IW18). Als eines von wenigen Kindern benennt er mit dem Medium „Fernsehen“ explizit eine Wissensquelle, die heute wahrscheinlich bereits bei Kindern im Vorschulalter eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt für deren Deutungen im Bezug auf religiös Fremdes. In einem anderen Interview zitiert Arzu (musl) im religiösen Streitgespräch mit Ronja (chr) ihre Eltern als Quelle für ihr religiöses Wissen (IW151): I:

Und die Ronja hat gerade gesagt, der ist gestorben und ist dann in den Himmel? Ok, der ist im Himmel. Und der Allah, ist der vielleicht auch im Himmel? Der Allah? R: Ja. I: Sind die da zu zweit? A: Ja. I: Der Gott und der Allah? Meint ihr/ A: Der Allah ist der Gott! I: Das ist der gleiche? Ach so. A: Ja. I: Warum heißt der einmal so und einmal so? A: Weil, die nur deutsch sind nennen den nur Gott und wir nennen den … R: Jesus auch. A: …wir nennen den… R: Nirgendwo [?]. A: …wir nennen den…ähm, Allah und Gott. Beides. I: Ok. Und dann ist der Allah im Himmel und Jesus ist auch im Himmel. Kinder : Ja. I: Dann sind die da zu zweit. Meint ihr die kennen sich? A: Aber… I: Der Allah und der Jesus? R: Ja. A: Aber der Jesus ist nicht oben beim Himmel. I: Wo ist der denn sonst? A: Weiß nicht. Meine Mama und mein Papa sagen, ihr glaubt das nur. R: Doch, der ist im Himmel! A: Gar nicht! R: Doch. A: Gar nicht. [Ronja und Arzu streiten sich weiter, ob Jesus im Himmel ist oder nicht.]

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Arzus Aussagen deuten darauf hin, dass die Auferstehung Jesu, die in ihrer evangelischen Kita in der Osterzeit thematisiert wurde, von Arzu und ihren Eltern auch zuhause besprochen wurde. Arzu wendet das von den Eltern Gelernte in der Diskussion mit Ronja an. Man könnte auch sagen, dass die Eltern für dieses Kind eine Autorität darstellen, auf die es sich berufen kann. Eigene Konstruktionsprozesse werden dadurch aber nicht ausgeschlossen. Eine ähnliche Wissensquelle zitiert Laura (chr) im Gespräch mit Mona (chr). Der Dialog der beiden liefert ein Beispiel dafür, wie Kinder miteinander – bei gedanklicher Anregung durch die Interviewerin sowie unter Verwendung einer Aussage von Lauras Vater – eine (Um-)Deutung dieser Aussage vornehmen, um die Frage nach „Allah“ und „Gott“ für sich zu beantworten (IW148): I:

M: L: I: M: L: I: L: I: L: I: L: I: M: I: M: I: M: L: I: L: M: I: L: M: L:

Es gibt manche Kinder, wenn die beten, dann beten sie zu Allah. Dann sagen sie nicht „Gott“ oder „Jesus“, sondern dann sagen sie „Allah“. Und beten zu dem. Was meint ihr denn, wo der ist, der Allah? (3) Ich kenn den Allah gar nicht. Ich auch gar nicht. Was denkt ihr, wo der ist? Auch wenn ihr ihn nicht kennt? Wo könnte der sein? Auch im Himmel? Oder im Weltall? Mhm, bei den anderen. Oder unter der Erde. Und hebt die Erde hoch. Aha, ok, das kann auch sein. Papa sagt, die Ganzheit hebt auch die Erde hoch. Hat er [unverständlich]. Man sieht es halt nicht. Und meint ihr, der Allah, der kennt den Gott und den Jesus? (3) Nee, der ist ja unter der Erde vielleicht. Ach so. Dann kann er die doch nicht sehen. Und meint ihr, der/ Und im Weltall und im Himmel kann man die auch nicht sehen. Die gucken doch nicht mit dem Kopf aus dem F, aus dem Himmel raus. Meint ihr, der Gott kann den Allah sehen? Meint ihr, der sieht den? Mhm. Wenn er durch die Erde durchgucken kann, ja. Und meint ihr, er kann durch die Erde durchgucken? Aber was befindet sich eigentlich unter der Erde? IN der Erde ist nur Wasser. Und Luft. Aber was ist UNTER der Erde? Ja, ganz ganz unter der Erde und unter den Steinen? Was meint ihr, was da ist? Wissen wir ja nicht. Wissen wir ja nicht, wir waren ja noch nie unter der Erde. Oder im Weltall.

Gleich zu Beginn sagen beide Mädchen offen, dass ihnen „Allah“ als Gott bisher nicht bekannt ist. Auf die Frage danach, wo sich „Allah“ befindet, zitiert Laura ihren Vater, der eine Aussage über die „Ganzheit“ macht, die die Erde hochhebt. Durch das Verb „hochheben“ ergibt sich für Laura, dass sich Gott, der „oben im Himmel“ ist, und „Allah“, der evtl. die Ganzheit sein könnte, welche von unten die Erde hochhebt, nicht sehen können, da sie nicht durch

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die Erde hindurchschauen können. Laura geht dabei von eigenen Seh-Erfahrungen aus und stellt zugleich die philosophische Frage danach, was sich unter der Erde befindet. Mona bleibt im Gespräch konkreter : So wenig, wie Gott oder Allah sich sehen können, so wenig können Menschen „die“ sehen. Diese menschliche Begrenztheit zeigt sich laut Mona auch in der nicht beantwortbaren Frage danach, was tief unter der Erde ist. Beide Mädchen geben sich nicht vorschnell mit den Grenzen ihres Denkens und Wissens zufrieden, sondern suchen – unter Heranziehung und Deutung des Zitats von Lauras Vater – weiter nach Antwortmöglichkeiten. Damit befinden sie sich mitten in einem Prozess kindlicher Ko-Konstruktion in der religiösen Fremdwahrnehmung. Insgesamt lassen sich die Befunde unseres Erachtens so interpretieren, dass sie die beschriebenen Erwartungen in beiden Hinsichten bestätigen, sowohl im Blick auf kindliche Konstruktionsprozesse im Bereich der religiösen Differenzwahrnehmung als auch hinsichtlich deren Charakter als Ko-Konstruktionen. Die Kinder, deren Äußerungen hier wiedergegeben und interpretiert wurden, übernehmen nicht einfach Deutungsweisen, die sie in ihrer Umwelt vorfinden oder die ihnen in Erziehung und Unterweisung gleichsam in fertiger Form angeboten werden. Vielmehr sind sie immer auch selbst rezipierend, deutend und umdeutend sowie mit eigenen Einfällen und von ihnen selbst hergestellten Zusammenhängen aktiv. Leitend ist dabei ihre eigene Sicht von Welt – ihre eigenen Weltzugänge, die in sich durchaus konsistent und logisch sind oder zumindest sein können. Zugleich vollziehen sich die kindlichen Konstruktionsprozesse nicht in Isolation von der sozialen und kulturellen Umwelt. Auch dort, wo die Kinder keine ausdrücklichen Quellen für ihr Wissen, das sie bei ihren Konstruktionen einsetzen, namhaft machen, lässt sich dessen Herkunft von einzelnen Personen oder auch aus den Medien zumindest erschließen. Darüber hinaus nennen die Kinder zum Teil explizit vor allem die eigenen Eltern als solche Quellen und manchmal sogar als ausgesprochene Autoritäten, auf die sie sich berufen wollen, etwa auch gegenüber anderen Kindern, deren Auffassungen sie nicht teilen. Prozesse der Konstruktion und der Ko-Konstruktion greifen dabei ineinander. Beides sollte nicht gegeneinander ausgespielt werden. Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter muss vielmehr als ein mehrdimensionaler Prozess erfasst und erschlossen werden – eine Forderung, die hier allerdings nur noch formuliert, aber im Einzelnen nicht mehr ausgeführt werden kann.

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Wie Kinder mit religiöser Differenz umgehen

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4. Ausblick auf pädagogische Konsequenzen Das Ineinandergreifen von Konstruktions- und Ko-Konstruktionsprozessen ist nicht zuletzt in pädagogischer Hinsicht von enormer Bedeutung. Es wirft kritische Fragen auf vor allem gegen Tendenzen etwa in der konstruktivistischen Didaktik oder in der Kindertheologie20 dazu, Kinder allein in einer individuumsbezogenen Perspektive wahrzunehmen. Die Forderung, Kinder als aktive Subjekte ernst zu nehmen und anzuerkennen, bleibt richtig, muss aber ergänzt werden durch die komplementäre zweite Forderung, sie auch in ihren jeweiligen Lebens- und Erfahrungskontexten wahrzunehmen. Diese zweite Forderung schließt wiederum mindestens zwei Arten von Konsequenzen ein. Zum einen ist genauer darüber nachzudenken, wie religiöse Erziehung und Bildung bewusst im Sinne der Ko-Konstruktion ausgestaltet werden können. Welche Formen des Zusammenwirkens zwischen Erwachsenen und Kindern sowie zwischen verschiedenen Kindern sind anzustreben? Und wie können sie befördert werden? Zum anderen muss die religionspädagogische Forschung verstärkt den sozialen Charakter von Konstruktionsprozessen in den Blick nehmen. Auch dies lässt sich am Beispiel der Kindertheologie verdeutlichen. Bislang stehen dort einzelne Kinderäußerungen ganz im Vordergrund. Prozesse der KoKonstruktion lassen sich aber nur dann erfassen, wenn darüber hinaus auch die Kommunikation zwischen den Kindern sowie das Zusammenwirken von Erwachsenen und Kindern mit im Blick ist und entsprechend analysiert wird. Auch über dieses Beispiel hinaus ist deutlich, dass in der Untersuchung von Prozessen der Ko-Konstruktion ein noch längst nicht ausgeschöpftes Potential für die Religionspädagogik insgesamt liegen dürfte.

Literatur Aboud, Frances A., A Social-Cognitive Developmental Theory of Prejudice, in: S.M. Quintana/C. McKown (Ed.), Handbook of Race, Racism, and the developing Child, Hoboken 2008, 55 – 71. Biesinger, Albert/Kerner, Hans-Jrgen/Klosinski, Gunther/Schweitzer, Friedrich (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven, Weinheim/Basel 2005. Burggraeve, Roger, The Ethical Voice of the Child. Plea for a Chiatic Responsibility in the Footsteps of Levinas, in: A. Dillen/D. Pollefeyt (Ed.), Children’s Voices. Children’s Perspectives in Ethics, Theology and Religious Education, Leuven 2010, 267 – 291. 20 Da es hier um eine allgemeine Tendenz geht, verweisen wir insgesamt auf JaBuKi.

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Friedrich Schweitzer / Katja Dubiski

Dubiski, Katja/Essich, Ibtissame/Schweitzer, Friedrich/Edelbrock, Anke/ Biesinger, Albert, Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter. Eine qualitativ-empirische Untersuchung mit Kindern im Alter zwischen 4 und 6 Jahren, in: A. Edelbrock/F. Schweitzer/A. Biesinger (Hg.), Wie viele Götter sind im Himmel? Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter, Münster 2010, 121 – 194. Edelbrock, Anke/Schweitzer, Friedrich/Biesinger, Albert (Hg.), Wie viele Götter sind im Himmel? Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter, Münster 2010. Elkind, David, The child’s conception of his religious denomination: I. The Jewish child. II. The Catholic child. III. The Protestant child, Journal of Genetic Psychology 99, 1961, 209 – 225; 101, 1962, 185 – 193; 103, 1963, 291 – 304. Hofmann, Eva, „Die Spatzen pfeifen es vom Minarett“. Interreligiöses Lernen von Anfang an!? Empirische Erkenntnisse, in: A. A. Bucher/G. Büttner/P. Freudenberger-Lötz/M. Schreiner (Hg.): „In den Himmel kommen nur, die sich auch verstehen“. Wie Kinder über religiöse Differenz denken und sprechen, JaBuKi 8, 2009, 81 – 92. Morgenthaler, Christoph, Abendrituale. Wenn Eltern und Kinder gemeinsam Rituale kreieren, in: Ders./R. Hauri (Hg.), Rituale im Familienleben. Inhalte, Formen und Funktionen im Verhältnis der Generationen, Weinheim/München 2010, 161 – 186. Schweitzer, Friedrich, Wie Kinder und Jugendliche religiöse Differenzen wahrnehmen – Möglichkeiten und Grenzen der Orientierung in der religiösen Pluralität, in: A. A. Bucher/G. Büttner/P. Freudenberger-Lötz/M. Schreiner (Hg.): „In den Himmel kommen nur, die sich auch verstehen“. Wie Kinder über religiöse Differenz denken und sprechen, JaBuKi 8, 2009, 39 – 49. Schweitzer, Friedrich/Biesinger, Albert/Boschki, Reinhold, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg/Gütersloh 2002. Schweitzer, Friedrich/Biesinger, Albert/Conrad, Jçrg/Gronover, Matthias, Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg 2006. Schweitzer, Friedrich/Biesinger, Albert/Edelbrock, Anke (Hg.), Mein Gott – Dein Gott. Interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten, Weinheim/Basel 2008.

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Pasqualina Perrig-Chiello

Zeiterleben und Zeitgestaltung in biographischen Übergangsphasen Der Mensch im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen 1. Einleitung Die Zeit als lebensstrukturierende Instanz hat die Menschen von alters her fasziniert, beunruhigt und beschäftigt – und sie tut es noch heute. Die zentrale Bedeutung, welche die Menschen der Zeit, dem Zeitverlauf, den zeitlichen Rhythmen oder der Endlichkeit der menschlichen Lebenszeit beimassen, widerspiegelt sich unter anderem in der Tatsache, dass in der antiken Mythologie spezifische Gottheiten dafür verantwortlich waren. So kannte etwa die griechische Mythologie zwei Götter, Chronos und Kairos, die für die Zeit zuständig waren. Der erste versinnbildlichte den Zeitablauf und die Lebenszeit, der zweite war der Gott des richtigen Augenblickes. Sowohl die griechische wie die römische, aber auch die germanische Mythologie kannten zudem Schicksalsgöttinnen (Parzen, Fatae, Nornen), welche den Lebensfaden knüpfen, spinnen und schliesslich abschneiden. Sie versinnbildlichten Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit und wurden in der Kunst häufig als die drei Phasen des Menschenalters, Kindheit, Mannheit und Greisenalter dargestellt (Grant/Hazel, 2004). Diese antiken Mythen haben alle eins gemeinsam: Sie versuchten, das schwer fassbare Phänomen Zeit, begreifbar zu machen, indem sie ihm ein Gesicht und eine Funktion gaben. Aber bloss mit mythologischen Erklärungen wollte und konnte man sich ganz offensichtlich in der Folge nicht begnügen. Die Zeit wurde zunehmend auch Gegenstand analytischer Reflexionen. Ob mythologische Interpretation oder rationale Reflexion, eine Dimension der Zeit war und ist evident und unbestritten: Die Zeit, die dem Menschen zur Verfügung steht (seine Lebenszeit also), ist endlich und damit kostbar und es gilt, sie auch gut einzuteilen. Der richtige Umgang mit der Zeit ist ein lang tradiertes und überdauernd aktuelles Thema in Forschung und Literatur. Reflexionen dazu finden sich etwa schon im Alten Testament (Kohelet), in der römischen Antike (Seneca – von der Kürze des Lebens) als auch in den modernen Wissenschaften. Die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen – von der Physik über die Psychologie bis hin zur Theologie – haben sich mit Zeit, Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung sowie mit deren Determinanten und Auswirkungen befasst. Die dahinterliegende Motivation ist naheliegend: Es ging darum, die Zeit zu entmystifizieren, sie be-greifbar zu

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machen, dies alles mit der Absicht, vermehrt Kontrolle über die zeitlichen (Lebens-)Abläufe zu erlangen, diese besser antizipierbar und gestaltbar zu machen. Dieser Beitrag will Zeiterleben und Zeitgestaltung aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne ausleuchten. Fokussiert werden dabei zentrale biographische Übergangsphasen, d. h. Phasen, die besonders krisenanfällig sind, weil sie im Endergebnis nicht gut antizipierbar sind, wo gewohnte Rhythmen und soziale Rollen abgelegt und neue adoptiert werden müssen. Es sind Zeiten, die eine Herausforderung für die Betroffenen darstellen, und in denen häufig emotionale und soziale Unterstützung und Hilfe benötigt werden. Seelsorge im weitesten Sinne ist dann gefragt. Diese kann von verschiedenen Quellen kommen. An erster Stelle ist wohl die Self-care von Bedeutung, d. h. das selbstverantwortliche Bemühen um Bewältigung (im Sinne von individuellen Bewältigungsstrategien). Seelsorge kann aber auch von Partnern, Freunden, Familienangehörigen geleistet werden. In schwierigeren Fällen genügt diese jedoch nicht. Dann kommt die professionelle Seelsorge zum Tragen – in der Regel geleistet von Fachleuten aus der Psychologie oder Pastoraltheologie. Die Methoden sind zwar unterschiedlich, die Zielsetzung ist jedoch dieselbe, nämlich, den Menschen in Zeiten der Unsicherheit zu helfen, ihre psychische und spirituelle Balance wieder zu finden. Professor Christoph Morgenthaler, unser Jubilar, vereint – aufgrund seiner psychologischen und theologischen Ausbildung – beide Ansätze. Das ist eine seltene und äusserst willkommene und fruchtbare Kombination. In seinen Arbeitsund Forschungsschwerpunkten widerspiegelt sich diese Komplementarität in beeindruckender Weise: systemische Seelsorge, religiös-existentielle Beratung, Pastoralpsychologie und Religionspsychologie. Dieses breit abgestützte und in beiden Disziplinen verankerte Verständnis des Konzepts Seelsorge, zeigt sich auch in seinem Schrifttum. In der reichen Fülle der Beiträge fiel mir ein Aufsatz aus dem Jahr 2002 besonders auf: „Begrenzte Zeit – erfüllte Zeit“. Als Entwicklungspsychologin, die sich intensiv mit Lebenszeiten, biographischen Übergangsphasen und Fragen der verschiedenen Lebensalter befasst, war ich davon fasziniert. In diesem Aufsatz zeigt Christoph Morgenthaler die Bedeutung von Zeit und Zeitkonstrukten für die systemische Seelsorge auf. Er geht dabei von der Grundannahme aus, dass Krisenzeiten unter anderem auch dadurch gekennzeichnet sind, dass Zeitperspektiven der betroffenen Menschen zerbrechen und gemeinsam konstruiert werden müssen. Der Beitrag hat mich inspiriert und animiert, eigene Arbeiten wieder aufzugreifen und hier zu präsentieren. Es sind dies Arbeiten, welche sich mit der Frage nach den psychologischen Determinanten und Auswirkungen von Zeiterleben und Zeitgestaltung in biographischen Übergangsphasen über die Lebensspanne auseinandersetzen.

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Zeiterleben und Zeitgestalten in biographischen Übergangsphasen

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2. Zu früh, zu spät oder gerade rechtzeitig? Die Auseinandersetzung mit Zeiterleben und Zeitgestaltung ist ein immanenter Bestandteil menschlicher Entwicklung. Sie ist eine fortwährende Entwicklungsaufgabe mit immer wieder neuen Inhalten vom Anfang bis zum Ende des menschlichen Lebens. Insbesondere in biographischen Übergangsphasen ist die Erfüllung dieser Entwicklungsaufgabe von entscheidender Bedeutung: – Jugendliche zählen die Jahre, bis sie autonom und erwachsen sind – und diese Jahre scheinen ihnen unendlich lang zu sein. Sie leben einen prospektiven Zeitmodus, der darauf ausgerichtet ist, die eigene Identität zu definieren, sich in dieser Gesellschaft zu verorten, Lebensentwürfe zu planen und Lebensziele zu definieren. – Leute mittleren Alters werden ihres begrenzten Zeitrahmens zunehmend bewusst. Sie trauern möglicherweise um verpasste Möglichkeiten oder aber packen die Chance und geben ihrem Leben eine neue Ausrichtung. Sie leben sowohl einen prospektiven wie auch retrospektiven zeitlichen Modus, in welchem Bilanzierungen, Neuorientierungen und die Frage nach der Generativität zentrale Themen sind. – Alte Leute scheinen mit Vorliebe in Erinnerungen aus der Vergangenheit zu verweilen. Einige schwelgen darin und sind im Einklang mit ihrer Biographe, andere hingegen sind verzweifelt über ihr Leben und würden alles anders machen, wenn sie nur könnten. In beiden Fällen kommt ein retrospektiver Zeitmodus zum Tragen. Zentrales Thema ist allemal die Beantwortung der Frage, inwiefern das bisherige Leben akzeptiert bzw. integriert wird und ob man zur eigenen Biographie stehen kann.

Diese Dynamik der Auseinandersetzung mit Zeiterleben und Zeitgestaltung und damit der Neudefinition von Identität und Lebenssinn im Lebenslauf soll im Folgenden anhand von drei zentralen biographischen Transitionen (Übergangszeiten) illustriert werden: – Transition ins Erwachsenenalter – Transition in die zweite Lebenshälfte – Transition ins Betagtenalter

Zuvor soll jedoch die Frage nach dem Stellenwert spezifischer altersgebundener Entwicklungsaufgaben in der postmodernen Gesellschaft kurz ausgeleuchtet werden.

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Gesellschaftlicher Kontext und Lebenszyklus Moderne Ansätze der Psychologie untersuchen die menschliche Entwicklung zunehmend aus einer Perspektive der gesamten Lebensspanne. Hierbei wird von der Annahme ausgegangen, dass der menschliche Lebenslauf von soziohistorisch bedingten sowie von altersnormativen und nicht-normativen Faktoren beeinflusst wird, welche für eine gesunde Entwicklung förderlich oder aber hinderlich sein können. – Sozio-historisch bedingte Faktoren sind einerseits langfristige gesellschaftliche Phänomene wie z. B. die bessere medizinische Versorgung der Bevölkerung und die damit assoziierte längere Lebenserwartung oder aber die Pluralisierung der Werthaltungen und Rollenvorstellungen mit den damit verbundenen Freiheiten aber auch Unsicherheiten. Andererseits werden mittel- und kurzfristige gesellschaftlich bedingte Phänomene wie z. B. Wirtschaftskrisen oder Kriege unterschieden. Diese historisch-kulturellen Grundbedingungen setzen den Rahmen für die Entfaltungsmöglichkeiten individueller Biographien. – Altersnormierte Faktoren: Des Weiteren wird die in unserer Gesellschaft immer noch übliche Sichtweise der altersstrukturierten Gliederung des Lebenslaufes sicherlich primär mit biologischen Grundvoraussetzungen begründet. Im Wesentlichen wird sie aber auch von den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich des richtigen Zeitpunktes von biographischen Übergängen mit determiniert.

Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne richtet ihre Aufmerksamkeit auf den altersstrukturierten Lebensplan des Einzelnen und auf den nach bestimmten Mustern verlaufenden Weg in einer Vielzahl von Rollen, die eingegangen, erfüllt und wieder verlassen werden und welche für die soziale Integration entscheidend sind. In Übereinstimmung mit dieser grundlegenden Struktur gehört der erfolgreiche Übergang in und die Anpassung an altersbestimmte Rollen zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben, denen der Einzelne im Laufe seines Lebens gegenüber steht. Beispiele für diese altersnormierten Transitionen sind etwa der Schuleintritt, Rekrutenschule oder die Pensionierung. Diese zeitliche Strukturierung des Lebenslaufes reflektiert normative gesellschaftliche Erwartungen über den richtigen Zeitpunkt und die richtige Abfolge von lebenszyklischen Übergängen. Wird dieser zeitliche Rahmen sowie die Abfolge nicht eingehalten, ist mit gesellschaftlichen Sanktionen zu rechnen. Hier ist jedoch anzufügen, dass die gesellschaftliche Toleranz den Altersgrenzen dieser Transitionen gegenüber in den letzten Jahren grösser geworden ist. Neben den genannten historischen und altersnormierten Einflüssen, können nicht-normative Faktoren (stille Transitionen) den individuellen Lebenszyklus wesentlich mitprägen. Hauptcharakteristikum solcher Faktoren ist, dass sie schwerlich antizipierbar sind (z. B. frühzeitige Pensionierung, Scheidung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität), was meist mit

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Zeiterleben und Zeitgestalten in biographischen Übergangsphasen

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grossem Stress verbunden ist und die soziale Integration stark gefährden kann. Lebenszyklen werden nach wie vor gesellschaftlich reguliert Noch vor hundert Jahren waren Lebensläufe in hohem Masse unsicher – der Tod war ein Ereignis, das alle Altersklassen jederzeit treffen konnte. Mit zunehmender Verbesserung der medizinischen und sozialen Versorgung breiter Massen und der damit assoziierten hohen und sicheren Lebenserwartung, fand eine verstärkte Institutionalisierung des Lebenslaufes statt. Das Alter wurde zum zentralen Strukturierungsprinzip des Lebenslaufes (Kohli/ Knemund, 2000). Diese Chronologisierung des Lebenslaufes wirkte sich in Richtung einer verstärkten Planbarkeit aber gleichzeitig auch einer sozialen Normierung von Biographien aus. Seit den 1970er Jahren ist im Zuge der technischen Entwicklung, der neuen Methoden der Geburtenregelung, der grossen politischen Veränderungen und Migrationswellen, insbesondere aber der demographischen Veränderungen (höhere Lebenserwartung auch im hohen Alter, Rückgang der Geburten), eine zunehmende Deregulierung der Lebensläufe und Pluralisierung der Lebensformen sowie eine zunehmende Infragestellung und Liberalisierung von Werten, Normen und Rollenvorstellungen beobachtbar. Zieht man den gegenwärtigen Forschungsstand in Betracht, so kann man – trotz vielfach postulierter Deregulierung des Lebenslaufes – feststellen, dass nach wie vor gesellschaftliche Erwartungen hinsichtlich der Erfüllung von altersassoziierten Entwicklungsaufgaben und Rollenübernahmen bestehen und dies entsprechend auch als Druck empfunden wird. Dieser Druck zur Anpassung gilt jedoch nicht für alle gleich. Die veränderten Sichtweisen bezüglich der Normalität von Biographien variieren nämlich je nach kultureller Zugehörigkeit, Geschlecht, Altersgruppe und Sozialstatus. So sind beispielsweise Lebenszyklen in Deutschland viel stabiler als in den USA oder in Grossbritannien (Wrosch/Freund, 2001). Eigene Untersuchungen ergaben, dass – ähnlich wie in Deutschland – Lebensläufe in der Schweiz immer noch relativ gut antizipierbar sind und, was die Altersnormierung der Transitionen anbetrifft, im Grunde recht ähnlich sind (Perrig-Chiello/Hçpflinger, 2001). Des Weiteren ist die gesellschaftliche Normierung nicht für alle Lebensabschnitte gleich rigide: So sind die Kindheit und die Jugendphase viel weniger von der Deregulierung beeinflusst als die späteren Lebensjahre. Ganz offensichtlich gelten für die Sozialisationsphase noch recht starre Normen, so z. B. hinsichtlich Schul- und Berufsbildung sowie familiärer Verankerung. Diese Tatsache bedeutet gleichzeitig, dass diese normierte biographische Aufbauphase eine sensible Phase für die soziale Integration darstellt und dass die Gefahr der sozialen Desintegration zu verschiedenen Zeitpunkten lauert – so beispielsweise das frühzeitige Verlassen der Schule aufgrund einer

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Schwangerschaft. Aber auch hinsichtlich des Geschlechtes und des sozialen Status variieren die gesellschaftlichen Normierungsansprüche an individuelle Biographien. Wir konstatieren eine grössere Toleranz gegenüber Frauen als Männern, sowie mehr Toleranz bei sozial höher gestellten als bei einfachen Berufen. Der Grund für die Tatsache, dass sich der gesellschaftliche Kontext ganz offensichtlich unterschiedlich auf die Normierung von Biographien verschiedener Gruppen auswirkt und auch verschieden stark empfunden wird, ist darin zu suchen, dass letztere in den ihnen verfügbaren und wahrgenommenen Ressourcen divergieren.

3. Der Übergang ins Erwachsenenalter Noch 1972 resümierte der einflussreiche Psychologe Robert Havighurst die Entwicklungsaufgaben des frühen Erwachsenenalters mit: Beginn einer Berufskarriere, Ehe, Familiengründung. In der Tat war damals noch der Lebenslauf der Zwanzig- bis Dreissigjährigen klar festgelegt: Bis spätestens Dreissig musste ein Mann solide im Beruf stehen und eine Familie gegründet haben. Von der Frau wurde erwartet, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt geheiratet und Kinder auf die Welt gestellt hatte – dass sie deshalb ihren Beruf aufgeben sollte, war selbstverständlich. Dieses Bild änderte sich in der Folge ganz erheblich. Im Zuge des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses der letzten Jahrzehnte nahmen in der Schweiz auch Scheidungen, Kinderlosigkeit und nichteheliche Geburten zu, gleichzeitig sanken die Heiratsraten. Lebensläufe und Lebensformen wurden immer mehr destandardisiert, d. h. die sozial normierten, typischen Erwartungen an die Berufs-, Partner- und Elternrolle wurden weniger starr und konnten zunehmend individuell gestaltet werden. Aus dem einstigen beengenden Rollenzwang ist eine Rollenfreiheit geworden, eine Freiheit, über die die jungen Leute nicht nur glücklich sein können. Denn die Individualisierung und der damit assoziierte Wertepluralismus brachten auch Verunsicherungen, abnehmende soziale Kontrolle und eine schwindende soziale Einbettung mit sich. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass immer mehr junge Leute auf ihr persönliches Recht auf Selbstverwirklichung und Glück pochen, was in krassem Widerspruch zu den Möglichkeiten steht und nicht selten zu Konflikten führen kann. Kennzeichnend für den Übergangsprozess ins Erwachsenenalter in unserer Gesellschaft ist nicht nur, dass es sich um eine stark individualisierte, sondern auch um eine lange Lebensphase handelt. Auffallend dabei ist die Asynchronizität der Entwicklungsmöglichkeiten: Einerseits haben bereits 18-Jährige alle möglichen formalen Rechte (Wahlrecht, Ehemündigkeit etc.), andererseits sind die meisten jedoch noch weit davon entfernt, ihr Leben autonom führen zu können. Dies nicht zuletzt aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit von den Eltern. Die veränderten ökonomischen Realitäten und die

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Zeiterleben und Zeitgestalten in biographischen Übergangsphasen

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damit verbundene verlängerte Ausbildungsphase sowie der erschwerte Einstieg in den Beruf bringen es in der Tat unweigerlich mit sich, dass die Trennung von der Herkunftsfamilie sowie die Gründung einer eigenen Existenz für viele immer mehr aufgeschoben wird. Von Nesthockersyndrom sowie von Hotel Mama ist dann bezeichnenderweise die Rede. Die veränderte wirtschaftliche Lage bringt es zudem mit sich, dass ganz generell die beruflichen Lebensläufe der jungen Erwachsenen unruhiger geworden sind, gekennzeichnet durch häufige Wechsel und Unterbrechungen. Dabei ist den jungen Leuten – trotz der vielfach beschworenen Freiheiten und Möglichkeiten – klar, dass sie in dieser Phase die Weichen für ihren Lebensweg legen und getroffene Entscheidungen nur beschränkt revidierbar sind. Konsequenterweise investieren sie in der Regel sehr viel Zeit und Energie, um ihren Platz in dieser Gesellschaft zu definieren. Das gilt für Männer wie für Frauen – und genau hier fängt auch ein weiteres Problem an: Die jungen Frauen übernehmen nicht mehr automatisch die ihnen traditionell zugewiesenen Rollen als Hausfrau und Mutter. Wie nie zuvor sehen sich junge Frauen gezwungen, sich auf stabile Art und Weise beruflich zu verankern und sind auch nicht so schnell bereit, das Aufgebaute ohne Weiteres für Mann und Kind zu opfern. Heiraten und Kinderkriegen ist heute für junge Frauen keine Selbstverständlichkeit mehr – aber für junge Männer ebenfalls nicht. Statt der einstigen Suche nach der Frau/dem Mann fürs Leben geht es nun allenfalls darum, den/die Lebensabschnittspartner/in zu finden – hierbei wird vor lauter Unsicherheit und Ambivalenz bezüglich Partnerschaft und Berufstätigkeit die Kinderfrage je länger je mehr auf einen späteren Zeitpunkt verschoben (Perrig-Chiello/Hçpflinger/Suter, 2008). Fazit: Auch wenn die Zeitspanne zwischen Zwanzig und Dreissig keine einheitliche Lebensperiode ist, so ist sie doch im subjektiven Erleben der meisten dieser Leute eine entscheidende transitorische Phase. Es ist kein Zufall, dass Leute mittleren und höheren Alters in ihrer biographischen Retrospektive Ereignisse aus genau dieser Zeitspanne besonders erinnern und erwähnen. Der Hauptgrund dafür könnte sein, dass die jungen Leute hier erstmals die Selbstverantwortlichkeit über die eigene Biographie ganz bewusst wahrnehmen. Ebenso bewusst wird ihnen, dass sie aus dem relativen Schonraum der Adoleszenz heraustreten müssen, um die Rolle als Erwachsene zu übernehmen. Selbstverantwortlichkeit, Kontrolle über das eigene Handeln und das Gefühl von Machbarkeit sind wichtige Voraussetzungen, damit junge Leute in dieser Gesellschaft ihren Platz finden können.

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4. Halbzeit: Der Übergang in die zweite Lebenshälfte Beim Übergang in die zweite Lebenshälfte handelt es sich um eine Transition, welche insbesondere die individuelle Auseinandersetzung mit dem Älterwerden und dem veränderten biographischen Zeitraster beinhaltet und von der man nachsagt, dass sie Weichen stellend für ein erfülltes Alter sei. Nun, mit dem Erreichen des Höhepunktes des Lebens ist zugleich das Stadium der Erfüllung bereits überschritten – biographische Festlegungen treten denn auch in der zweiten Lebenshälfte verstärkt hervor. Damit verbunden ist eine Veränderung in der Zeitorientierung: Gedacht wird nicht mehr in Jahren nach der Geburt, sondern in Zeiteinheiten, die noch zum Leben bleiben. Aufgrund der veränderten Zeitperspektive finden eine Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Lebensentwürfen sowie eine Bilanzierung des bisher Erreichten statt. Das bisher Erreichte bzw. Nichterreichte wird vor dem Hintergrund sich allmählich eingrenzender beruflicher, familialer, partnerschaftlicher und physischer Optionen in dieser Lebensphase erstmals in seiner Bedeutung sichtbar. Die in der Aufbauphase des jungen Erwachsenenalters unterdrückten Aspekte des Selbst werden zunehmend manifest und stellen eine Herausforderung dar, unerreichte Ziele, verpasste Chancen drängen nach Realisierung. Selbstrealisierung und Autonomie kommt nun – nach der biographischen Aufbauphase, welche nicht selten mit grosser Verausgabung betrieben wurde – eine verstärkte Bedeutung zu. Und schliesslich wirken sich die altersbedingten körperlichen Veränderungen bei Frauen und bei Männern nicht bloss auf das psychophysische Wohlbefinden aus, sondern können – und dies nicht zuletzt auch aufgrund der in unserer Gesellschaft vorherrschenden jugendbezogenen Attraktivitäts- und Leistungsnormen – als Belastung empfunden werden. Muss nun dies alles zur berühmt-berüchtigten Midlife-Krise führen? Eigene Forschungsergebnisse aus einer interdisziplinären Langzeitstudie zum mittleren Lebensalter (Perrig-Chiello/Hçpflinger, 2001; PerrigChiello, 2010) weisen darauf hin, dass der Übergang ins mittlere Lebensalter in der Tat eine Herausforderung an die psychische Adaptationsfähigkeit darstellt. Bei den von uns untersuchten rund 400 Personen im Alter zwischen 40 und 55 Jahren weisen die 40- bis 45 Jährigen eine weit grössere psychische Instabilität auf als die 50- bis 55 Jährigen. Diese Instabilität zeichnet sich beispielsweise aus durch vermehrte einschneidende biographische Veränderungen. Die meisten genannten Wendepunkte betrafen hauptsächlich die Partnerschaft und den Beruf. Die Tatsache, dass die Transition zum mittleren Lebensalter als eine eher bewegte Zeit empfunden wird, spiegelt sich zudem in der Befindlichkeit der Betroffenen wider : Die 40- bis 45 Jährigen weisen bedeutsam tiefere Werte beim psychischen Wohlbefinden auf als die 50- bis 55 Jährigen, dies obwohl es sich bei der gesundheitlichen Selbsteinschätzung gerade umgekehrt verhält: Die jüngere Altersgruppe schätzt ihre Gesundheit

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Zeiterleben und Zeitgestalten in biographischen Übergangsphasen

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bedeutsam positiver ein als die ältere. Die ältere Altersgruppe scheint sich indes psychisch, trotz zunehmender gesundheitlicher Probleme, an die neue Lebensphase adaptiert und neuäquilibriert zu haben. Dies obwohl sich ihre Lebensentwürfe nicht etwa dem Wunschzustand annähern, sondern sich gar davon entfernen. So zeigen unsere Longitudinaldaten, dass der Wunsch, mehr Zeit für die Partnerschaft investieren zu können und dafür weniger in das Berufsleben, in keiner Weise erfüllt wird. Ganz generell möchten Leute im mittleren Erwachsenenalter mehr Zeit für sich beanspruchen und selbstbestimmter und bewusster leben. Ist nämlich die erste Lebenshälfte primär darauf ausgerichtet, seine eigene Stellung in der Gesellschaft zu definieren und zu konsolidieren (Aufbau von Beruf und Familie), so ist die zweite Lebenshälfte eher durch eine Rückbesinnung auf sich selbst gekennzeichnet. Dieser Prozess der Interiorisation – wie dieses Phänomen in der Literatur bezeichnet wird – ist vor dem Hintergrund der erwähnten anstehenden Veränderungen im mittleren Lebensalter durchaus verständlich. Die Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen und mit den sich daraus ergebenden Aufgaben ist eine notwendige Voraussetzung für die weitere Identitätsentwicklung. In diesem Kontext spielt nach Erikson (1982) die Generativität eine Schlüsselrolle. Laut Erikson sind Generativität versus Stagnation die beiden Pole, denen sich die Menschen im mittleren Lebensalter gegenübersehen. Generativität beschreibt produktive und kreative Ideen und Handlungen zum Nutzen nachfolgender Generationen. Die Lebensinteressen werden auf das Gedeihen der Nachkommen oder anderer Personen der nachfolgenden Generation – gewissermassen als Teil oder Repräsentanten der eigenen Person – gerichtet. McAdams und St. Aubin (1998) haben dieses ursprüngliche Konzept der Generativität weiterentwickelt. Es sei einerseits der Wunsch nach symbolischer Unsterblichkeit – der Wunsch, etwas zu schaffen, das die eigene Existenz überlebt – andererseits aber auch der Wunsch, gebraucht zu werden, für andere Menschen von Bedeutung zu sein, etwas für die nachkommenden Generationen zu tun. In ihren Studien belegen die Autoren auch den hohen Stellenwert und den sinnstiftenden Charakter der Generativität für Menschen im mittleren Lebensalter. Je generativer sich Menschen im mittleren Lebensalter verhalten, desto grösser ist ihr Selbstbewusstsein und desto besser ist ihr physisches und psychisches Wohlbefinden. Generativität ist somit eine Grundvoraussetzung, um mit der zunehmend negativen biographischen Gewinn-Verlust-Balance (mehr negative Erfahrungen bei gleichzeitiger Abnahme der positiven) zurechtzukommen und eine neue Äquilibration des psychischen Wohlbefindens zu finden. Wenn dies nicht gelingt, wenn das Bewusstsein über die eigene Sterblichkeit und die nachlassenden körperlichen Kräfte zu sehr als Bedrohung gesehen wird, und wenn die Entwicklungspotentiale, die in den neuen Qualitäten wie dem grösseren Erfahrungshorizont und dem besseren Einfühlungsvermögen stecken, nicht auch als Chancen erkannt werden können, kommt es zur Stagnation in der Lebensgestaltung. Diese ist durch eine zu starke Beschäftigung

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mit den eigenen Bedürfnissen sowie dem Rückzug aus dem gesellschaftlichen oder familiären Leben gekennzeichnet.

5. Der Übergang ins hohe Alter Etwas anders liegen die Akzente der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bei alten Menschen. Es geht nicht in erster Linie um eine Bilanzierung und um mögliche Neuorientierungen, sondern angesichts des nahenden Todes vielmehr um ein sinnvolles und abschliessendes Zusammenfügen und Integrieren des bisher Gelebten. Auffällig sind diesbezüglich bei einer Mehrzahl der alten Menschen folgende zwei Phänomene: Zum einen berichten sie überzufällig über viele Erlebnisse aus Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter. Zum anderen tendieren sie dazu, diese Erinnerungen emotional hoch zu bewerten, was manchmal bis zur Glorifizierung/Verklärung des Vergangenen und dem Abwerten des Gegenwärtigen gehen kann. Folgendes Zitat aus Rousseaus „Bekenntnissen“ (1985, orig. 1770) illustriert eine mögliche Variante: Fast dreissig Jahre sind vergangen, seitdem ich von Bossey wegging, ohne dass ich mich des Aufenthaltes dort mit Vergnügen erinnert hätte, aber seitdem ich ins reife Alter eingetreten bin, fühle ich diese Erinnerungen wieder wach werden; […] sie prägen sich in mein Gedächtnis ein mit Zügen, deren Reiz und Stärke von Tag zu Tag zunehmen.

Diese Phänomene bedürfen einer Erklärung. Gelten sie für alle alten Menschen? In der Gedächtnisforschung gilt es aufgrund breit abgestützter empirischer Evidenz als unbestritten, dass biographische Erinnerungen keine objektiven Wiedergaben sind, sondern subjektive Rekonstruktionen mit multiplen systematischen Verzerrungen.

Funktionen biographischer Rekonstruktion Biographische Erinnerungen sind also erwiesenermassen subjektive Rekonstruktionen. Was ist aber deren tieferer Sinn, welche Funktion erfüllen sie? 1925 veröffentlichte der Soziologe Maurice Halbwachs, ein Buch mit dem unspektakulären Titel „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“. In diesem Buch, welches erst 1985 auf deutsch herausgegeben wurde und in der Folge von der Scientific Community kaum wahrgenommen wurde, legt der Autor eine scharfsinnige und sehr modern anmutenden Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen und Determinanten der biographischen Rekonstruktion u. a. bei alten Menschen vor.

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Insgesamt interessiert sich der Greis viel mehr für die Vergangenheit als der Erwachsene, aber daraus folgt nicht, dass er in der Lage wäre, mehr Erinnerungen von dieser Vergangenheit sich ins Gedächtnis zu rufen denn als Erwachsener. […] Man wird die Gründe besser verstehen, die in ihm dieses neue Interesse für eine lange vernachlässigte Lebensperiode erwecken, wenn man ihn in der Gesellschaft sieht, für die er kein aktives Mitglied mehr ist. […] Diese Rekonstruktionsarbeit vollzieht sich gleichzeitig unter dem Druck der Vorurteile und Vorlieben der Gesellschaft für alte Leute.1

Mit diesem Traktat nahm Halbwachs einen Diskurs vorweg, der über sechzig Jahre später in aller Aktualität geführt wird. In der Tat rückte die Frage nach der Funktion autobiographischer Erinnerung erst in den letzten zwanzig Jahren zunehmend ins Zentrum des Interesses vieler Forschender. Hierbei lassen sich aufgrund der Akzentuierung verschiedener Erklärungsmodelle grob zwei Forschungsansätze unterscheiden, a) ein eher soziologisch-interpretativer Ansatz (dies im Sinne einer Weiterentwicklung des Ansatzes von Halbwachs) und b) ein eher entwicklungspsychologischer Ansatz.

Der soziologisch-interpretative Ansatz Hier wird davon ausgegangen, dass biografische Erinnerungen in sozialen Interaktionen vor allem die Aufgabe haben, den Wert und die Nützlichkeit einer Person in der Gesellschaft zu demonstrieren und damit ihren Selbstwert zu stärken. Das Mitteilen von Lebenserinnerungen wird primär als eine soziale Aktivität angesehen, als eine Form der Selbstenthüllung (Neisser, 1988). Das Teilen der eigenen Erinnerungen mit anderen macht eine Konversation glaubwürdiger, überzeugender, intimer und ist ein geeigneter Weg andere zu informieren, gegebenenfalls auch zu belehren (Pillemer, 1998). Die belehrende Funktion ist mit zunehmendem Alter und vor allem in familialen intergenerationellen Beziehungen eine äusserst wichtige Form autobiographischer Erinnerung (Fivush et al., 2003). Daneben ist eine weitere Funktion nicht zu unterschätzen, nämlich die, Interesse und empathische Reaktionen seitens des Zuhörenden zu evozieren und eine Stärkung der sozialen Beziehung zu erlangen. Aufbauend auf den theoretischen Annahmen des symbolischen Interaktionismus, hat Goffman (1963) eine weitere soziale Funktion autobiographischer Erinnerung vor allem bei alten Menschen postuliert. Hierbei geht er von der Basisannahme aus, dass menschliches Handeln immer auch Selbstdarstellung ist. Menschen drücken in ihrem Handeln stets auch ihre Identität aus. Vor allem für alte Menschen, welche häufig negativen Stereotypen ausgesetzt sind, sei eine positive Selbstdarstellung von zentraler Bedeutung. Sie müssen ihre positive Identität dauernd verteidigen und be1 Halbwachs, Gedächtnis, 151.

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kräftigen. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Identität führt weiter dazu, dass man sich seine Identität konstruiert, die eigene Lebensgeschichte wird um- oder neu geschrieben. Alte Menschen rekonstruieren somit ihre Lebensgeschichte primär, um sich gegen die Stigmatisierung des Alters zur Wehr zu setzen. Der entwicklungspsychologische Ansatz Der entwicklungspsychologische Ansatz betont die individuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie. Es geht hier somit zum einen um die zentrale Frage nach der kohärenten Kontinuität des Selbst, zum anderen aber auch um die zielgerichtete und antizipierende Gestaltung anstehender Aufgaben. So berichten Personen mit zunehmendem Alter vielfach von den Lektionen, die ihnen das Leben erteilt hat und wie sie dieses Wissen auch nutzen können. Zutreffend ist hier William James’ (1890) hypothetisches Beispiel, wonach eine Person, welche eines Tages aufwacht und alle ihre Erinnerungen verloren hätte, plötzlich und fortan eine völlig andere Person wäre und keine Anhaltspunkte hätte, woran sie ihr Selbst definieren könnte. Dieses Selbst muss eine gewisse Konsistenz und historische Kontinuität aufweisen und hierbei erweist sich als zentraler Referenzpunkt autobiographischer Erinnerung die Adoleszenz, wie dies sehr schön am Phänomen des Reminiscence bump (Rubin/Schulkind, 1997) demonstriert werden konnte. Dieses Phänomen bezieht sich auf die Tatsache, dass Erwachsene im höheren Alter bei der biographischen Erinnerung insbesondere Ereignisse aus der Adoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter wiedergeben. Dieser Befund stellt eine Ausnahme von der Regel dar, dass Erinnerungen im Laufe der Zeit immer schwieriger zugänglich werden. Interpretiert wurde dieses Phänomen dahingehend, dass die verbesserte Zugänglichkeit zu diesen Erinnerungen darauf zurück zu führen ist, dass die Erfahrungen dieser Zeitspanne von zentraler Bedeutung für die Identitätsbildung waren und aus diesem Grunde immer wieder abgerufen werden. Diese Geschichten vom Selbst, deren Ursprung in der fernen Vergangenheit liegt und die immer wieder und wieder erzählt wurden, erleichtern es dem alten Menschen, die zentralen Elemente einer Episode abzurufen und sinnvoll zusammenzufügen. Es ist eine lebenslange Entwicklungsaufgabe des Individuums, das bisher Gelebte kontinuierlich zu einer Sinn-vollen Ganzheit zu amalgamieren. Deshalb verändern sich die individuellen Interpretationen der eigenen Vergangenheit über die Zeit. Aufgrund sozialer und biologischer Veränderungen wird die persönliche Lebensgeschichte kontinuierlich revidiert, damit diese auch Sinn macht. So ist gemäss Erikson (1982) die letzte und wichtigste Entwicklungsaufgabe eines Menschen, eine Balance zwischen Integrität und Verzweiflung bezüglich des eigenen Lebens zu erreichen. Die Konfrontation mit dem nahenden Tod wird nun zwingend zum Anlass der Deutung des eigenen Lebens. Die eigene Biographie wird einer kritischen Prüfung unter-

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zogen – die Geschehnisse werden memorisiert, inventarisiert, bekommen einen bestimmten Platz, die Erfahrungen werden so sortiert und in die Biographie integriert, dass das Ganze allen möglichen Inkongruenzen zum Trotz einen Sinn macht (Integrität).

6. Stabilität in Zeiten der Unsicherheit – alters- und zeitübergreifende Überlegungen Nach Viktor Frankl fallen Einstellungswerte erst dann wirklich ins Gewicht, wenn der Mensch auf unabänderliche Lebensumstände stösst. Hier liegt die Verwirklichung von Werten darin, wie er sich zu seiner Einschränkung einstellt, seine Einengung erträgt und mit seinem Schicksal umgeht. Hierbei spielt die Leidensfähigkeit eine grosse Rolle. Diese muss er sich erwerben, er muss sie sich erst er-leiden. Die nicht mit Apathie zu verwechselnde Leidensfähigkeit erweist sich als innere Bewältigung unter Verzicht auf äussere Gestaltung, bei der durch die Veränderung der Einstellungswerte trotz der äusseren Einengung die Freiheit nach innen erhalten bleibt. Einen interessanten Ansatz zur Erhaltung des Kontrollgefühls trotz widriger Umstände hat Toffler (1971) mit seinen Stability zones gebracht. In Zeiten der Veränderung, des Druckes, der Komplexität, der Verwirrung sollte wenigstens eine Domäne unseres Lebens stabil sein, damit wir besser damit umgehen können. Diese Domäne sollte sinnstiftend sein, Identifikationsmöglichkeiten bieten, Zukunftsperspektiven ermöglichen. Was sind das für Domänen? Menschen: Ideen: Plätze: Dinge: Organisationen:

Partner, Freunde eine Lebensphilosophie, Spiritualität, Religiosität ein Ort der Stille, eine Ecke Erinnerungsstücke, bestimmte Kleidungsstücke ein Verein, ein Club, der Möglichkeit zur Identifikation gibt.

Zeiten des Übergangs sind individuelle Herausforderungen, sie können aber auch gesellschaftlich erschwert oder erleichtert werden. Traditionellerweise wurde die Orientierung innerhalb des menschlichen Lebenslaufes und vor allem in Übergangsphasen dadurch erleichtert, dass die Gemeinschaft Riten der Überführung, sogenannte Transitionsriten, bereithielt, mit deren Hilfe den Menschen anschaulich gemacht wurde, dass sie sich nun in einer neuen Lebensphase mit neuen gesellschaftlichen Rollen befinden. Für jeden Übergang von einer Lebensphase in die andere besass die traditionelle Gesellschaft spezifische Riten (Taufritus, Konfirmation, Heirat, Geburtsriten, Bestattungsriten etc.). Diese rituellen Verrichtungen, die zur Absicherung vor allem des ungeschützten, weil undefinierten Zwischenzustandes zwischen zwei Phasen (Anfang und Ende des Übergangs) dienten, nannte van Gennep

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(1909) rites de passage. Im historischen Verlauf in der westlichen Gesellschaft haben sich das Verständnis von Lebensphasen und biographischen Übergangen, insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, stark verändert. Vieles scheint nicht mehr in Ordnung – zumindest scheinen die Lebensläufe nicht mehr einer allgemeinen Ordnung zu folgen, sondern eher individuellen Entscheidungen. Damit sind Übergänge nicht ohne Weiteres antizipierbar, sie sind idiosynkratisch geworden. Auch die Riten, welche die Übergange in die verschiedenen Lebensphasen erleichtert haben, sind zunehmend im Schwinden begriffen. Taufen, Beerdigungen und Hochzeiten werden – wenn überhaupt – im engsten Kreise gefeiert, sie sind Privatangelegenheit und nicht mehr ein sozialer Event. Die Anteilnahme anderer – das Kernelement von Übergangsriten – scheint nicht erwünscht. Sind sie obsolet geworden? Diese Fragen lassen sich trotz der viel propagierten Individualität und Wertebeliebigkeit klar verneinen. Neueste Forschungen machen deutlich, dass auch der moderne Mensch Rituale braucht – sei es in Form von Ersatzritualen oder in Form einer Rückkehr zu den alten Werten. Und hier komme ich wieder auf die Arbeiten von Christoph Morgenthaler zu sprechen. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 52 „Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen“ hat er – gemeinsam mit seinen Kollegen Christoph Müller und Maurice Baumann – eindrücklich nachweisen können, wie Rituale in Schweizer Familien nach wie vor gelebt werden und einen wichtigen Beitrag für den intergenerationellen Zusammenhalt der Familie leisten. Diese Forschungsergebnisse belegen in überzeugender Weise, dass es lohnenswert ist, sich Zeit für die Gestaltung von Ritualen zu nehmen, da diese die kindliche Entwicklung, aber auch das Wohlbefinden von Eltern und Grosseltern fördern. Ich gratuliere und danke Christoph Morgenthaler für all seine wegweisenden Arbeiten und wünsche ihm für den bevorstehenden biographischen Übergang die richtige Einstellung und die besten familialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Literatur Erikson, Erik H., The life cycle completed: A review, New York 1982. Fivush, Robyn/Berlin, Lisa/McDermott Sales, Jessica/Mennuti-Washburn, Jean/Cassidy, Jude, Functions of parent-child reminiscing about emotionally negative events. Memory, 11 (2), 2003, 179 – 192. Goffman, Erving, Stigma: Notes on the management of spoiled identity, Engelwood Cliffs, NJ 1963. Grant, Michael/Hazel, John, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 18 2004.

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Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 31985/1925. Havighurst, Robert J., Developmental tasks and education, New York 31972. . James, William, The principles of psychology, New York 1890. Kohli, Martin/Knemund, Harald (Hg.), Die zweite Lebenshälfte: gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen 2000. McAdams, Dan P./St. Aubin, Ed (eds.), Generativity and adult development, Washington: American Psychological Association, 1998. Morgenthaler, Christoph, Begrenzte Zeit – erfüllte Zeit, Wege zum Menschen 54 (3), 2002, 161 – 176. Neisser, Ulric, Five Kinds of Self-Knowledge, Philosophical Psychology 1, 1988, 35 – 59. Perrig-Chiello, Pasqualina/Hçpflinger, Francois, Zwischen den Generationen. Frauen und Männer im mittleren Lebensalter. Zürich 2001. Perrig-Chiello, Pasqualina/Hçpflinger, Francois/Suter, Christian, Generationen – Strukturen und Beziehungen. Generationenbericht Schweiz, Zürich 2008. Perrig-Chiello, Pasqualina, In der Lebensmitte. Die Entdeckung der mittleren Lebensjahre. Zürich: NZZ libro, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 42010. Pillemer, David B., Momentous events, vivid memories. Cambridge, MA 1998. Rousseau, Jean-Jacques, Les Confessions: Livres I–IV. Paris 1997, orig. 1770. Rubin, David C./Schulkind, Matthew D., Distribution of import and and wordcued autobiographical memories in 20-, 35-, and 70-year-old adults. Psychology and Aging 12 (3), 1997, 524 – 535. Toffler, Alvin, Future shock, New York 1971. Van Gennep, Arnold, Les rites de passage, Paris 1909. Wrosch, Carsten/Freund, Alexandra M., Self-regulation of normative and nonnormative developmental challenges, Human Development 44, 2001, 264 – 283.

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A Perspective on Pastoral Theology, Pastoral Care, and Counseling in the United States

1. Introduction Pat, a 43 year old, white woman, arranges a pastoral counseling conversation at a center. On the paperwork she fills out when she arrives, she shares that she has been married for over twenty years and has two sons, one of whom is eighteen and a second who is sixteen. In the space on the form that asks her why she is seeking counseling, she writes, „I need to figure out how to follow God’s will for my life.“ As we begin to have conversation, she shares a narrative that includes deep joy about her sons and gratitude for the way in which her husband has been a good partner in parenting. Pat is a member of a more conserving church whose theology is clear about submitting to the authority of husbands and men, as well as attention to „following God’s will.“ When invited to respond to what it is that is not working in her life and what it is that encouraged her to seek out counseling, she notes that she is struggling with her feelings about something and she needs a „Christian“ counselor in order to help her figure things out. Pat has intentionally chosen this pastoral counseling center because a friend of hers was helped by another counselor at the center several years earlier. This pastoral counseling center functions as a Service and Training Center through the American Association of Pastoral Counselors and we serve persons, like Pat, who may not otherwise be able to afford counseling since she has no insurance to cover the costs.1 It takes a long time before the narrative about „discovering that I have feelings for another person besides my husband“ is clarified to the point where the „other person“ is identified as a „woman who has become important“ to Pat. As she tells this part of her story I wonder what it is like for her to disclose this reality to a „Christian counsellor“ or whether she is feeling some anxiety or fear about how I will respond to her narrative. I am curious about how she will come to weave this thread of her narrative into the larger story of her life. I find myself mindful of the questions that pastoral theologian and counselor, 1 While this case is not built around a particular person and is, therefore, fictional, it reflects the stories and narratives of many with whom I have worked in pastoral care and counseling. Additionally, I have located the story in the pastoral care center that was part of Brite Divinity School, but which has recently been closed. And, I am grateful to Dr. Isabelle Noth and her colleagues in Switzerland who offered me the opportunity to present this paper at a conference in Bern in May, 2011.

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A Perspective on Pastoral Theology, Pastoral Care, and Counseling

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John Patton, framed many years ago: Why is this person coming to me, a pastoral theologian and counselor? Why now? And what is it that they think they need? (Patton, 1983, pp. 89 – 92) What difference will it make to her and to our work together that I am trained as a pastoral theologian and counselor? As a pastoral theologian I am not only aware of the present moment, but I am also interested in what our lives reveal about the complexity of God’s story. What does Pat’s story say about who God is or what it is that we think God wants from us? Or, how does Pat’s story invite us to reflect on the dynamic of God’s agency and human choice in developing relationships? How do we come to „know“ what God intends for us? What can Pat teach me and others about finding wisdom on a faithful journey that sometimes makes one feel as if they are crazy, particularly in a church and culture where her behavior will most likely be judged as offensive? This short vignette offers a way to explore the current state of pastoral theology, care and counseling in the United States. Conversations with Pat highlight three sets of questions: 1) How does pastoral counseling function in various contexts in the United States and what are some of the dilemmas facing this field? 2) What is the role of a constructive pastoral theological perspective in care and counseling? 3) What corollary disciplines or other conversation partners offer promise to pastoral theologians and caregiving specialists in the United States? These questions invite consideration of current thinking and future trajectories for pastoral theology, care, and counseling.

2. Pastoral Counseling, Mental Health Professionals, and Spiritual Care In beginning to work with Pat, I am most curious about how it is that she came to this pastoral counseling center in search of a „Christian“ counselor and I remain attentive to what that language means to her and what she hopes for in the conversations between us. I am keenly aware – almost immediately – of the differences between us. She comes from a more conserving tradition where women are not ordained while I am a liberal United Methodist who is ordained and who carries authority to teach. In her tradition men are the heads of households and she has ended up with a woman counselor who believes in the wisdom of women and men. Although we are both white women, my economic status affords me a much wider range of options for care and counseling by paid professionals. And, my suspicion is that many persons in her community of faith view a woman who loves another woman as an „abomination“ or as someone living out perversions and sins; yet she is sitting with a counselor who embodies a healthy sense of being a lesbian child of God. So, I find myself wondering what all of this means to her and to our pastoral counseling

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journey. But, before moving to these questions, let me set a bit more of the context for pastoral counseling in the United States today. Paying attention to context, of course, is one of the most important developments in our field and its significance is already illustrated by the quick comparison of my social location to Pat’s. The mindfulness I bring into the room about similarities and differences between us in terms of our theological commitments, gender, age, class, sexual orientation, and more opens up new creative options for meaningful work in pastoral counseling. Pastoral theology is a form of „contextual theology“ (Pears, 2010) and to ignore the importance of social location and context is to offer less-thanadequate pastoral care. Paying attention to the way in which my biases, experiences, and understandings shape my assumptions about Pat and her life is as significant to the care-giving process as any other dynamic in the room. Pastoral counseling is defined here as the more intentional and focused contexts in which persons seek wisdom and support from another person trained in the art of counseling and who carries a sense of theological formation. Most often this occurs in centers that are non-profit organizations and may be supported by various churches, grants from foundations, or other means of support. These centers work to keep counseling affordable for individuals. Additionally, a number of pastoral counselors in the United States establish individual practices and offices and are compensated by the individual or by their insurance companies. What makes this counseling „pastoral“ is not dependent on whether the one offering the counseling is ordained or not, although pastoral counselors are often connected to a denomination in some way ; rather, what makes the counseling „pastoral“ is the intentional theological perspective that is engaged in the process of the counseling.2 There are multiple contexts in which this counseling occurs and, hence, it is impossible to talk about the United States in any monolithic way. Often „pastoral counselors“ are members of the American Association of Pastoral Counselors (AAPC), an organization that certifies and supports the efforts of pastoral counseling in the United States and Canada. By the early 1960 s, the pastoral care and counseling movement in North America became wellestablished through organizations that sought to provide quality training for care and counseling. Prominent among the organizations that emerged are AAPC and the Association for Clinical Pastoral Education (ACPE) (Stokes, 1985; Thornton, 1970). Numerous religious and/or denominationally-based organizations such as the Association of Professional Chaplains (which was previously known as the College of Chaplains www.professionalchaplains), the National Association of Catholic Chaplains (www.nacc.org), and the National 2 As will be noted later in this chapter, theological formation is central to pastoral counseling and can be different from spiritually informed counseling or counseling that is offered out of a faithbased commitment such as those who self-identify as „Christian counselors“ (Marshall, 1994).

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Association of Jewish Chaplains (www.najc.org) were established in the mid to late 20th century to promote and insure that the pastoral needs of persons in hospitals, prisons, mental health centers, and other locations were met by trained and denominationally-endorsed chaplains. Currently, each of these organizations faces cultural and religious challenges. A cursory look at AAPC illuminates some of the changing dynamics in the United States. When AAPC came into existence (through the merger of other organizations), its leadership included clergy men who understood their primary call to be working in the specialized ministry of pastoral counseling. They were shaped and formed in their denominations, theologically trained, and ordained. Then, as now, AAPC members developed a specialization in psychotherapy and followed the cultural trends related to that field, embracing such therapeutic modalities as traditional Freudian and Jungian perspectives, as well as in contemporary object relations, self or ego psychology. The growth of theories related to family systems in the 80’s and the increasing models of humanistic psychologies led to multiple perspectives in pastoral counseling. Today several of us are moving toward post-modern theories such as narrative or collaborative therapy. Those who participate in AAPC might use language such as „pastoral psychotherapist,“ „pastoral counselor,“ or „mental health provider“ to describe who they are and the services they provide. By the late 1990’s, it became increasingly clear that several new dynamics were emerging, many of which continue to have an impact on pastoral counseling. Among the changes in AAPC is the shift from a largely Protestant, White, male, and clergy-centered organization to one that wrestles with issues of inclusion. For example, as denominations began endorsing and ordaining more women, and as an increasing number of laywomen from traditions who did not ordain women sought out connection with AAPC, a growing literature about gender materialized (Gill-Austern & Miller-McLemore, 1999; Glaz & Stevenson-Moessner, 1999; Gorsuch, 2001; Miller-McLemore, 1994; Neuger, 2001; Stevenson-Moessner, 1996; Stevenson-Moessner & Snorton, 2010). And, as the culture focused more attention on issues for lesbians, gays, bisexuals, transgender persons in the culture, an expansive literature providing resources for pastoral theology, care and counseling continues to emerge (Cooper & Marshall, 2009; Graham, 1997; Griffin, 2006; Kundtz & Schlager, 2007; Marshall; 1997, 2001, 2009; Tanis, 2003; Tigert 1996, 2005). Pastoral care and counseling organizations have responded to gender identity and sexual orientation diversity in ways similar to the rest of the culture in the United States, meaning there is often an ambiguous response to such issues. Efforts toward full inclusion that moves beyond the largely Protestant and White history of AAPC illustrates the difficulty in moving toward increasing change. Early in AAPC there were a small number of Jewish colleagues who ventured into the organization and who offered important perspectives. Likewise, as noted above, pastoral counseling became a viable avenue for Roman Catholic laity who saw this as the embodiment of their ministry. Today,

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there is some attention to religious diversity, but by and large, AAPC is still marked by a fairly Protestant and liberal perspective (Greider, 2010). Moving beyond the bondage of racism has been difficult not simply for AAPC, but for many care specialist organizations in the United States. AfricanAmericans who became early leaders in the academy continue to bring their voices to pastoral care in greater numbers (Ali, 1999; Ashby, 2003; Butler, 2006; Smith 1982, 2004; Snorton, 2010; Walker, 2010; Wimberly 1979, 2006). Along with an increasingly strong African-American presence, Asian and Asian-American scholars (I. Lee, 2010; S. Lee, 2009, 2010; Son, 2010;), as well as Latino and Latina scholars (Montilla & Medina, 2006; Figueroa, 2010), are making a difference in pastoral theology, care, and counseling (KujawaHolbrook & Mantagno, 2009). While AAPC has worked to insure multicultural and cross-cultural competency among its membership, ACPE moved earlier toward formally addressing these issues within its organizational structure and through its educational processes. What is clear is that if pastoral care is to survive in any meaningful way (whether in AAPC or beyond), it must respond increasingly to issues of multi-culturalism and diversity, including attention to white privilege (Miller-McLemore & Sharp, 2010; Ramsay, 2010). Perhaps the biggest changes in pastoral counseling have less to do with what the membership of AAPC looks like and more to do with the self-understanding of pastoral counselors as „mental health providers.“ A heightened cultural interest in high-quality psychotherapy has evolved to the point where, in order to practice as a pastoral counselor in most places in the United States, your affiliation with AAPC is less important than your ability to be licensed by the state as a mental health practitioner. In the United States, the power of insurance companies to determine who is paid for mental health services and the desire of the state to protect its citizens from psychotherapy that may be harmful has increased the need for pastoral counselors to function more competently in the psychological realm, with less emphasis on theological training. Licensure often requires an advanced degree or coursework in psychology and counseling and it is increasingly difficult for seminaries to be able to afford to offer such courses.3 Most pastoral counseling centers today are staffed by an increasing number of licensed people (psychologists, social workers, mental health providers) who have little or no formal theological training but who are interested in the way spirituality and/or religion functions in the lives of their clients. Likewise, across counseling organizations in general, there are fewer pastoral counselors whose identities are shaped by denominational connections and who are seminary-trained while there is an 3 The number of AAPC training centers, particularly those located within seminaries, has continued to diminish in the last several years. Among Universities (particularly Roman Catholic Universities) there is, however, an increase in pastoral counseling Master degrees that are focused on the development of clinical skills with some attention to spirituality or theology.

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increase among persons in clinical work who are interested in „spirituality“ and religion. While this is not a negative thing in and of itself, it does suggest a continuing secularization of pastoral counseling and an increasing loss of theological sophistication in the field.4 Added to the loss of theologically trained pastoral counselors is the discomfort of the word „pastoral“ to describe the perspective from which one offers care. This term is often experienced as referencing and centering particular Christian understandings of care and limiting conversations that are multi-faith or multi-cultural where Christianity is not the dominant conversation partner. The concept of „spiritual“ has replaced „pastoral“ in the culture, including in organizations like AAPC („integrating psychotherapy and spirituality“), and in hospitals, prisons, and mental health centers where chaplains are identified as „spiritual caregivers.“ Likewise, as the culture has come to embrace the word spiritual in new ways, psychologists, social workers, psychiatrists, and others have continued to establish specializations in religious and spiritual issues within their professional guilds and academies. In many ways, this shift to „spirituality“ accurately and positively reflects an increasing respect for multi-faith and multi-disciplinary perspectives in care and counseling. Finally, one other dynamic is at work in the culture as we think about „pastoral counseling“ in its present and future form. Admittedly, the pastoral counseling movement embodied a moderate to progressive theological core. In the contemporary United States, the growth of the more conserving theological movement has emerged in at least two forms important to the field. First, and perhaps most uniquely, the past that was once embodied in the Wayne Oates tradition of Southern Baptists has given way to such things as Biblical and Christian counseling, more closely identified with conserving or conservative ways of interpreting Scripture and culture (www.sbts.edu/ theology/center-for-biblical-counseling). A relatively new organization, the American Association of Christian Counselors (www.aacc.net) serves persons who are licensed in a variety of disciplines (social workers, psychologists, psychiatrists, licensed counselors, laypersons, etc.) and who endorse a particular doctrinal statement of faith. Since its incorporation in 2003, AACC has grown to over 50,000 members. In the same time period, AAPC has gone from its highest point of about 5,000 members to fewer than 2,500. Now, let’s return to Pat who has arrived at a pastoral counseling center looking for a Christian counselor. What difference does all of this make to her, or to her experience of pastoral counseling? First, her choice to seek out a pastoral counseling center as an affordable option for counseling reflects an important dimension of her experience. Because of the growth in the last 4 It should be noted that this matches the increase of post-denominationalism in the culture of the United States in which identifying with any particular denomination is in decline. This coincides with a rise in non-denominational churches (Carroll & Roof, 1993).

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several decades of the number of women, persons of color, and other minoritized groups who are represented in the field of pastoral theology, care, and counseling, I have a wealth of pastoral theological resources upon which to draw as we think together about the complexities of her case, particularly as it relates to gender and sexuality. Second, Pat has come looking for a „Christian“ counselor and, while I count myself as one of those I do not follow the tenets of the more conservative form of Christian counseling that is practiced by many others in my community. More specifically, I am a United Methodist lesbian devoted to theological education, whose understanding of theological issues is shaped by progressive and liberation theologies and whose primary theoretical orientation in counseling follows more along the lines of the postmodern clinical work found in narrative or collaborative therapy, although I have a healthy and deep love of object relations and self psychology. Hence, while I understand the language and dynamics of transference and counter-transference, I am less invested in trying to figure out and discern what is happening between us by drawing on that language and more interested in wondering with Pat about what it means to her to sit with someone as a pastoral counselor who represents such theological and social difference? How might my commitments as a pastoral counselor who works to overcome injustice and oppression in counseling make a difference to Pat? She comes looking for a certainty about the Biblical word and I am less clear that there are „rights“ and „wrongs“ in ways that will give her answers. In an effort to be transparent I will share with Pat something about who I am in order for her to make an informed choice about whether I am the appropriate person for her in pastoral counseling. Third, while I am interested in her spirituality as part of the wholeness of her life, I am also interested in reflecting with Pat about how her theological culture shapes her understandings of God and of life. Part of the pastoral counseling journey with Pat will include my interest in learning from her what she has to teach me about who God is, what the qualities of that God represent to her in life, and what it means for her to „follow God’s will“ and to „fall in love with a woman.“ How has she come to understand these visions for faithful living? This leads, then, to a consideration of constructive pastoral theology as a resource in pastoral care and counseling.

3. Constructive Pastoral Theology Ultimately, the conversations I have with Pat best represent what I mean by constructive pastoral theology. Because I am interested in responding to her pastoral clinical concerns, our counseling will understandably involve theological reflection for it rests at the heart of her questions. My desire is

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to invite us to move beyond a theologically simplistic or purely clinical answer to her question of, „What does God want me to do?“ It is clear theologically and from a postmodern pastoral clinical stance that I know less about the answer to this question for Pat’s life than she might actually know for herself. I want to invite her to ask questions of her faith, trusting that her inner wisdom and experience is infused with God’s grace. She is the expert on her theology and how it contributes to the fullness – or diminishment – of her life. I am also aware that I bring an expertise in theological reflection that can be helpful and important to Pat as she de-constructs and re-constructs her own understanding of faith. Our co-construction in the pastoral counseling experience will ultimately make a difference in both of our theologies, and that is a central dynamic in constructive pastoral theology. Constructive pastoral theologians understand not simply that we must be conversant with theology and know how it functions in the lives of people; rather, central to our work is the understanding that we must be willing to ask questions about the assumptions and self-understandings we have come to hold as „truth“ or „right.“ Encouraging new or diverse imaginations about theology requires that we take apart some of the more traditional, dominant, and powerful ways we have come to interpret Scripture, tradition, experience, psychology, or human behavior. Current perspectives are not self-evident truths; instead, they ought to be held up to new questions and challenges. The work of construction always requires, at the same time, a constant deconstruction of assumptions we have made in the past about God, or about human beings and their motivations or their inner workings or the way in which they engage in relationships. We construct theology out of our experiences with clients, parishioners, parishes, communities of faith, resources in tradition and Scripture, and other conversation partners. Being conversant with postmodern theology, post-colonial theology, queer theology, liberation theologies of various forms, as well as interfaith and multi-faith perspectives invites me to listen to clients with a broader perspective as I invite them into theological imagination. This understanding of pastoral counseling reflects deeper conversations within the field that have arisen in pastoral and practical theology. In the United States, the nomenclature of „practical theology“ has become more prominent than pastoral theology in many seminary circles (Woodward & Pattison, 2000). The connection and differences between these two ways of framing care and counseling are embodied in two academic guilds in the United States. I self-identify as a constructive pastoral theologian and am most connected to the Society for Pastoral Theology, begun in the mid 1980’s. The Society and its Journal of Pastoral Theology, understand their mandate to be „primarily concerned with teaching, research, and publication in pastoral theology, and with the critical and imaginative practice of pastoral care and counseling“ (www.societyforpastoraltheology.com). Initiated by Liston Mills from Vanderbilt University and James Lapsley from Princeton Seminary, the

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Society gathers faculty and scholars in an effort to expand the resources in pastoral theology, care, and counseling. In many ways, The Association of Practical Theology (also with connections to the International Association of Practical Theology and the International Journal of Practical Theology) embarks on similar efforts from slightly different perspectives. APT notes on its website that, „reconstituted from its predecessor organizations in 1984, the APT was sparked by the investigation of practical theology as an integrative hermeneutical endeavor at the heart of theological education, characterizing not only the ministerial subdisciplines but also a manner and method of engaged reflection“ (www.practicaltheology.org). Highly influenced by the methodological stances of Don Browning from the University of Chicago, the APT has attracted a renowned group of inter-disciplinary scholars whose impact in theological education is quite profound. In addition, University-based Divinity schools and other institutions have tapped into external funding (largely through the Lilly Endowment) creating inter-disciplinary doctoral programs that have a farreaching impact on the culture of churches and the practices they embody. (See, for example, Emory/Candler, Vanderbilt, Boston, Princeton and others). Each of these organizations and their membership provide resources central to pastoral theology, care, and counseling. What I am most interested in for purposes here is to think about how my identification as a pastoral theologian offers a distinctive perspective in my conversations with Pat. I will point to four ways that this vision of pastoral theology makes a difference in the counseling room. First, I understand that one of my responsibilities as a pastoral counselor, scholar and teacher is to foster theological reflection in the counseling office as well as in the hallways of the seminary and in the church. Pastoral theology examines the way in which theological issues arise in our lives and, at the same time invites forth theologies that are constructed in response to numerous entities: the lived experiences of persons with whom I work in care and counseling, the various religious traditions to which we are connected, resources in theology and religion, as well as sources from fields outside of religion and faith. Because of my commitments, I am less invested in deciding either how Pat’s religion „functions“ in her life or whether the doctrines of her faith ought to be followed. Instead, what interests me more are Pat’s values and commitments and the way in which those shape her theological perspectives. As a pastoral counselor, I want to walk with care as she discerns how best to access her agency in making decisions that are appropriate, faithful, and meaningful to her. Of major theological interest in working with Pat is that of wondering what Pat’s story – and the stories of others like her – might reveal about God, about humans and our ability to relate to one another as well as to God and to the earth. I want to encourage Pat to ask questions about her theology that might open new doors and windows not only for understanding her own story, but for thinking about the way in which she might participate in

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shaping the future of her story or the story of her sons or the story of her „family“ however that is defined. Together we are engaged in theological reflection. Second, pastoral counseling with Pat involves a cross-cultural and crosstheological experience because we come from very different theological starting points. It would be a mistake to think that my job was to convince her that my way of thinking were right for her, or to simply reinforce how her theology functions in healthy ways in her life. Instead, the task of a pastoral theologian who is a counselor is to invite people into the de-constructing and re-constructive possibilities of their lives. As noted above, I represent some diversity in AAPC as a woman who is partnered with another woman and there is a theology that arises from that lived experience that is coherent, appropriate, and faithful. Yet, it may not be a theology that makes sense to Pat. Because we are in such different theological positions, I want to learn from others who think about cross-cultural and multi-cultural care and counseling (Lartey, 1997, 2003). How do I listen attentively and deeply to Pat’s theological perspective? How do I enter into her narrative in ways that do not make my theology right and hers wrong? How does Pat make sense of her life and of her God at this moment? What might her future story look like as she thinks about flourishing in ways that are theologically grounding for her? Third, pastoral theology comes alive in my conversations with Pat as we imagine and think together about the community of people that surround her, both literally and symbolically. As we reflect on how others have become participants in her interpretation of the world, how do we understand the community’s role in shaping her present and future story? Many in contemporary pastoral theology recognize that pastoral care has, for far too long, encouraged a kind of individualistic perspective that diminishes the gift of community (McClure, 2010). What this means for Pat is that I am less interested in her becoming a long term client and more hopeful that she connect to a community that can support, challenge, and sustain her in life. While she has much individual work to do, it is not done without the companionship of various communities to which she belongs. Finally, this leads to a fourth perspective that recognizes that pastoral theology is a „public theology.“ As I listen to Pat’s voice in my office I am aware that the issues she faces are not confined to her life story or to the pastoral counseling office. Instead, her story represents the multiplicity of ways in which the culture is seeking wisdom about lesbian, gay, bisexual, and transgendered experiences. As I listen to Pat’s story and the story of others like her, I begin to capture a perspective on the public nature of our private conversations as our culture reflects on issues like marriage, lesbian relationships, and the meaning of families. At the same time, Pat’s involvement in pastoral counseling brings her into a larger conversation with others in the church and community who wrestle with public issues about their private lives (Marshall, 1997; Miller-McLemore, 2004).

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Constructive pastoral theology occurs in a dynamic process of deconstructing and re-constructing theological claims by integrative multiple perspectives: clients and parishioners with whom we work, resources of our discipline and field, traditions and histories that have come with us in faith, hoped-for visions of a larger realm of justice in the world. What is abundantly clear is that pastoral theology is, at its best, a co-constructive process. This language of „co-construction“ reflects the contribution of postmodern theories and theologies.

4. Multiple Conversation Partners This leads, then, to a consideration of the third arena in which questions arise in my work with Pat. How have pastoral theologians expanded the way in which we draw upon resources, particularly from the disciplines outside of religion? As always, the more psychological and psychotherapeutic disciplines will continue to have a strong place in the fields of pastoral care and counseling (Cooper-White, 2007; Greider, et al., 2010). As noted above, the work of the „fathers“ of psychology (Freud, Jung, and their multiple descendants) was highly influential in the development of pastoral counseling as a profession. Over the past several decades, just as multiple psychotherapeutic approaches have expanded in counseling, more humanistic psychologies (Rogers, Maslow), developmental theory (Erikson, Kohlberg, Gilligan, Kegan), and family systems (Bowen, Minuchin and others) have become influential in the field of pastoral care and counseling. It is not difficult to see the impact of some of these psychologies upon the academic and clinical work of prominent thinkers in our field. What is apparent today, however, is that the postmodern perspectives of post-structuralists such as Michel Foucault or Judith Butler and the more therapeutic work of narrative and collaborative theories (Anderson & Gehart, 2007; Freedman & Combs, 1996; White, 2007) are having a stronger impact in our field. Increasingly a number of pastoral clinicians and pastoral theologians are drawn to these resources (Doehring, 2006; Lester, 1995; Marshall, 2011; Mucherera, 2009; Neuger, 2001). These therapies value the narratives of persons and communities and recognize that all knowledge is socially constructed. Co-construction recognizes that pastoral clinical work is dynamic, particularly as we invite the „local knowledge“ of clients and communities who are experts in their own lives. The work of de-constructing involves de-centering traditional understandings of power as embodied in particular theologies, theories, languages or perspectives (Neuger, 2004). What this means for pastoral counseling with Pat, particularly as I draw upon narrative and collaborative theory, is to invite Pat to reflect on those things that have taken on an assumed power in her life and to wonder with her

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how she has come to understand these things as „taken-for-granted truths.“ For example, it is assumed that there is only one path to which God might call someone or that there is only one interpretation of Scripture. Helping Pat deconstruct these assumptions in order to get a better look at them, and inviting her to consider what other stories or alternative interpretations fit better with her own experiences and values is part of our work together. Deconstructing and de-centering the power of a traditional theology, or the way in which a culture understands or interprets her life does not mean that she will, necessarily, decide to leave her marriage and partner with a woman. Instead, it simply says that there are no self-evident truths and that the process of discernment requires careful attention to power and the way it functions at systemic and subversive levels. Related to this is the advance by people in the field of pastoral theology to de-center the power of traditional psychotherapeutic interpretations in pastoral care and counseling. Re-framing and challenging the dominant discourse of psychiatry and psychology as it attempts to „define“ existence requires constant attention to how one comes to understand what knowledge is most valuable or important at any point in time. For example, re-imagining the spiritual insight of stories and narratives from persons whose experience we have traditionally understood to be as „mentally ill“ requires that we rethink how we listen carefully enough to hear their wisdom and interpretation of their own lives (Greider, 2007; Neuger, 2001). In working with Pat, while I am familiar with the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders5 and its importance to mental health practitioners in the United States, I am less interested in diagnosing Pat according to their criteria and more interested in listening to the language she uses to describe herself, her relationships, her way of being in the world, and her hope for a future story. Other disciplines, such as neuroscience, continue to invite pastoral theologians to consider new ways of thinking. Reflecting on what we know – and what we don’t know – about the way in which our brains and minds develop and function offers new understandings about our work (Hogue, 2003, 2010). Added to this are other disciplines that offer important perspectives in the present and future of pastoral theology, such as the use of ethnography to expand resources we bring to our understanding of community (Moschella, 2008), the employment of critical race theory to dismantle and challenge racism (Ramsay, 2010), the importance of understanding political dimensions of community (Holton, 2011) or the power of social theory to reflect on class (Ali, 1999). Emerging in the field of pastoral theology, care and counseling are multiple global and international (Lartey, 5 The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders is the common reference work used by psychiatrists and others within the counseling field in the United States to determine a diagnosis for clients. It is comparable to the ICD-10 Classification of Mental and Behavioral Disorders: Diagnostic Criteria for Research (World Health Organization, 1993).

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2004; Mucherera, 2009) as well as multi-faith perspectives (Greider, 2010; Schipani, 2009), many of which draw upon postcolonial theory and theology. It is clear that the next generation of scholars and practitioners will draw upon a vast array of multiple perspectives and the field will be the better because of it. One of my playful curiosities is to imagine what new perspectives might be available to pastoral counselors in 10 years when someone like Pat walks into their counseling office.

5. Conclusion This paper offers one person’s perspective and description of the current state of the field of pastoral theology, care, and counseling in the United States from the perspective of a constructive pastoral theologian. The bibliography to this paper includes many (but not all) of the resources currently available and suggests the multiple ways in which the field is being challenged to expand its understanding and engagement with individuals and communities. Together we represent efforts to continue to expand the horizons and meaning of our collective work.

References Ali, C. A. (1999). Survival and Liberation: Pastoral Theology in African American Context. St. Louis, MO: Chalice Press. Anderson, H., & Gehart, D. (Eds.). (2007). Collaborative Therapy : Relationships and Conversations that Make a Difference. New York: Routledge. Ashby, H. (2003). Our Home is Over Jordan: A Black Pastoral Theology. St. Louis: Chalice Press. Butler, L. H. (2006). Liberating our Dignity, Saving our Souls. St. Louis: Chalice Press. Carroll, J. W., & Roof, W. C. (Eds.). (1993). Beyond Establishment. Louisville: Westminster John Knox Press. Cooper, K. J., & Marshall, J. L. (2009). Where Race, Gender, and Orientation Meet. In J. Stevenson Moessner, & T. Snorton, Women out of Order : Risking Change and Creating Care in a Multicultural World. Minneapolis: Fortress Press. Cooper-White, P. (2007). Many Voices: Pastoral Psychotherapy and Theology in Relational Perspective. Minneapolis: Fortress Press. Doehring, C. (2006). The Practice of Pastoral Care. Louisville: Westminster/John Knox Press. Figueroa, M. (2010). Pentecostal and Female in Puerto Rico: Risking All to Pursue a Call. In J. Stevenson-Moessner, & T. Snorton (Eds.), Women out of Order: Risking

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Christoph Morgenthaler

Verzeichnis der Veröffentlichungen

Monographien 1976 Sozialisation und Religion. Sozialwissenschaftliche Materialien zur religionspädagogischen Theoriebildung, Gütersloh.

1980 Handlungsbegleitende Kognitionen, hekt., Bern.

1990 AIDS – Wahrnehmen – Nachdenken – Handeln. Ein Lese- und Arbeitsbuch für Kirche und Gemeinden, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Münsingen.

1992 Der religiöse Traum. Erfahrung und Deutung, Stuttgart etc.

2002 Zus. mit Schibler, Gina: Religiös-existentielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart etc.

2005 Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart etc., 4. Aufl. Rituale. Warum und wie sie Familien stärken, in: Stiftung Gottesbeziehung in Familien. Impulse und Perspektiven, Tübingen.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen

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2009 Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie 3, Gütersloh.

2011 Morgenthaler, Christoph: Abendrituale. Tradition und Innovation in jungen Familien, Stuttgart.

Herausgeberschaften 1999 Zus. mit Lmmermann, Godwin/Schori, Kurt/Wegenast, Philipp (Hrsg.): Bibeldidaktik in der Postmoderne. FS Klaus Wegenast, Stuttgart etc.

2007 Zus. mit Noth, Isabelle (Hrsg.), Seelsorge und Psychoanalyse, Stuttgart.

2010 Zus. mit Hauri, Roland (Hrsg.): Rituale im Familienleben, München.

2011 Zus. mit Noth, Isabelle / Greider, Kathleen J. (Hrsg.): Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog/Pastoral Psychology and Psychology of Religion in Dialogue, Stuttgart.

Aufsätze 1973 Zus. mit Lutz, Andreas: Zu einer politische Bedürfnistheorie, in: Internationale Dialog-Zeitschrift 2, 113 – 132. Sozialisationsforschung. Eine Einführung, in: Evangelischer Erzieher 25, 166 – 180.

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Christoph Morgenthaler

1977 Sozialisationstheorien in der Religionspädagogik, in: Evangelischer Erzieher 29, 193 – 225.

1981 Wie Konfirmanden Jesus verstehen… Voraussetzungen eines Unterrichts über Jesusworte, in: Evangelischer Erzieher 33, 479 – 496.

1986 Die astrologische Verzauberung des Ichs, in: Reformatio 35, 362 – 368.

1987 Seelsorge im Strafvollzug. Theologische Grundsätze und Konkretionen, in: Kriminologisches Bulletin 13, Nr. 2, 3 – 15.

1988 Angst und die Frage nach Gott, in: Gehört Angst zu unserem Leben? Oekonomische und gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern (Hrsg.), Schriftenreihe der OGG, 7 – 18.

1989 Grenzen des Helfens in der Seelsorge, in: Wege zum Menschen 41, 204 – 218.

1990 Träume – eine vergessene Sprache Gottes? Zur Metaphorik religiöser Erfahrung und Rede und ihrer praktisch-theologischen Bedeutung, in: Evangelischer Erzieher 42, 631 – 645. Schuld und Krankheit, in: Reformatio 39, 353 ff.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen

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1993 Aids-Prävention: ein Lehrstück postmoderner Moral?, in: H.U. Germann et al. (Hrsg.), Das Ethos der Liberalität, FS H. Ringeling, Freiburg, 201 – 216.

1994 Trauer und Familie, in: Wege zum Menschen 46, 310 – 329.

1995 Abschied zu Gott, in: P. Fssler-Weibel (Hrsg.), Wenn Eltern sterben, Freiburg/ Winterthur, 58 – 72. Le rÞve nocturne comme dfi de la thologie pratique, in: Cahiers de l’IRP 21, 3 – 19. Presenze e parole di conforto. Cura pastorale e lutto in famiglia, in: Familia oggi 8, 4 – 10.

1997 Kollektiv-kirchliche Identität, innerkirchliche Pluralität und religiöse Individualität, in: A. Dubach/W. Lienemann (Hrsg.), Aussicht auf Zukunft. Auf der Suche nach der sozialen Gestalt der Kirchen von morgen. Kommentare zur Studie: Jeder ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, Bd. 2, Zürich/Basel, 271 – 287. Der unvollendete Pullover. Pastoralpsychologische und -theologische Betrachtungen zu Kreuz und Auferstehung Jesu, in: Evangelische Theologie 57, 242 – 258. Carl Gustav Jung (1875 – 1961), in: A. Michaels (Hrsg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München, 234 – 245. Zus. mit Schibler, Gina: Gott und die Wut, in: Unipress 97, 19 – 22.

1999 Subjekt, Story und Tradition, in: G. Lmmermann et al. (Hrsg.): Bibeldidaktik in der Postmoderne, FS K. Wegenast, Stuttgart etc., 90 – 103.

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Christoph Morgenthaler

2000 Jenseits von Gott Vater, Sohn und Co.? Unmöglichkeiten und Möglichkeiten einer männlichen Gottesrede, in: H. Kçssler/A. Bettinger (Hrsg.), Vatergefühle. Männer zwischen Rührung, Rückzug und Glück, Stuttgart, 137 – 150. Sterben im Krankenhaus – systemische Aspekte, in: Wege zum Menschen 52, 25 – 40. Zus. mit Schibler, Gina: Gott und die Wut, in: Wege zum Menschen 52, 78 – 94. Im Unterricht Vernetzungen sehen und stärken II, in: Religion und Lebenskunde 1, 6 – 9. „Wunder gibt es immer wieder“. Zur Integration unterschiedlicher Aspekte eines Lernprozesses, in: Heimbrock, Hans-Gnter/von Kriegstein, Matthias (Hrsg.), Predigen lernen, Gottesdienst feiern lernen. Neue Wege in der theologischen Ausbildung, Frankfurt/M., 99 – 128.

2001 Auf dem Surfbrett über den Atlantik. Oder : Praktische Theologie als Handwerk und Abenteuer, in: G. Lmmlin/S. Scholpp (Hrsg.), Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen (UTB 2213), Tübingen/Basel, 183 – 198. Seelsorge im Gemeindeaufbau. Von der amts- zur gemeindezentrierten Seelsorge? in: R. Kunz (Hrsg.), Gemeindeaufbau konkret. Arbeitsfelder einer lebendigen Gemeinde, Zürich, 11 – 30. Kirche und Fakultäten – Orte theologischen Lernens. Weiterführende Überlegungen zu der Debatte zwischen Peter Bukowski und Eberhard Hauschildt, Pastoraltheologie 90, 334 – 348. Theologiestudium, Erwachsenwerden und Gott jenseits. Religiöse Beratung im Theologiestudium, in: Pastoraltheologie 90, 384 – 398.

2002 Begrenzte Zeit – erfüllte Zeit, in: Wege zum Menschen 54, 161 – 176. Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie?, in: Wege zum Menschen 54, 287 – 300. Der Spielraum der Seelsorge, in: Reformatio 51, 261 – 269.

2003 Wie wirklich ist der wirkliche Mensch der Dogmatik? Laute und leise Fragen an die Anthropologie Karl Barths aus der Seelsorgebewegung, in: Zeitschrift für Dialektische Theologie 19, 130 – 143.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen

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Sieben Gründe, warum Spitalseelsorge not-wendig ist, in: Schweizerische Kirchenzeitung 171, 234 – 237.

2004 Normative Implications of Designing Empirical Research. Family Research and Reflective Theological Normativity, in: J.A. van der Ven/M. Scherer-Rath (Eds.): Normativity and Empirical Research in Theology, Leiden/Boston, 179 – 198. Zus. mit Mller, Christoph: Familie: Ort der Liebe – Hort der Gewalt. Praktischtheologische Reflexionen, in: W. Dietrich/W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen, Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart etc., 224 – 240. Zus. mit Znoj, Hans-Jçrg/Zwingmann, Christian: Mehr als nur bewältigen? Religiosität, Stressreaktionen und Coping bei elterlicher Depressivität nach dem Verlust eines Kindes, in: Ch. Zwingmann/H. Moosbrugger (Hrsg.): Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung, New York/München/Berlin, 277 – 297. Träume – eine Sprache Gottes, in: Leben und Glauben 35, 10 – 12.

2005 Fremdheit unter Brüdern. Die Ethik des Helfens im Islam und was daraus in einem christlichen Kontext zu lernen ist, in: H. Weiss/K.H. Federschmidt/K. Temme: Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen. Anregungen zum interreligiösen Gespräch in Seelsorge und Beratung, Neukirchen-Vluyn, 146 – 155. Besuch bei der alten Dame – Seelsorge in christlicher Tradition. Reflexionen zu einem Gespräch, in: H. Weiss/K.H. Federschmidt/K. Temme: Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen. Anregungen zum interreligiösen Gespräch in Seelsorge und Beratung, Neukirchen-Vluyn, 52 – 62. Der Blick des Andern. Die Ethik des Helfens im Christentum, in: H. Weiss/K.H. Federschmidt/K. Temme: Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen. Anregungen zum interreligiösen Gespräch in Seelsorge und Beratung, Neukirchen-Vluyn, 35 – 51. „…habe ich das halt für mich alleine gebetet“ (Mirjam 6-jährig). Zur Ko-Konstruktion von Gebeten in Abendritualen, in: A. Biesinger/H.-J. Kerner/G. Klosinski/F. Schweitzer (Hrsg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven, Weinheim/Basel, 108 – 121.

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Christoph Morgenthaler

2006 Von wem habe ich meinen Glauben? Religiöse Sozialisation und Rituale, in: Stapferhaus Lenzburg (Hrsg.): Glaubenssache. Ein Buch für Gläubige und Ungläubige, Baden, 30 – 35. Zerbrochene Geschichten. Systemische Trauerseelsorge in narrativer Perspektive, in: Familiendynamik 31, 280 – 293. Familienrituale – Kitt der Generationen?, in: Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung, Abteilung orientierte Forschung, Themen/NFP 52, (Hrsg.): Welcher Kitt hält die Generationen zusammen? Bern, 12 – 15.

2007 Rituale. Theoretische Zugänge, in: K. Eulenberger/L. Friedrichs/U. WagnerRau (Hrsg.): Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh, 174 – 184. Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, in: W. Engemann (Hrsg.): Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig, 292 – 307. Beratung, in: W. Grb/B. Weyel (Hrsg.): Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh, 446 – 457. Qualitative, Quantitative and Phenomenological Approaches to Experience – Complementary and Contrary. Empirical-Theological Soundings from a Research Project on Family Rituals, in: H.-G. Heimbrock/C.P. Scholtz (Eds.): Religion: Immediate Experience and the Mediacy of Research, Göttingen, 213 – 241. Zus. mit Hauri, Roland: Tapes and Tables. Mixed Methods Research on Family Religion, in: Journal of Empirical Theology 20, 77 – 99. Zur Funktion der Psychoanalyse in der gegenwärtigen Pastoralpsychologie. Acht Thesen mit Erläuterungen, in: I. Noth/C. Morgenthaler (Hrsg.): Seelsorge und Psychoanalyse, Stuttgart, 59 – 67. Abendrituale und Gebetspraxis bei Familien mit Kindern, Katechetische Blätter 132, 166 – 170. Bewegte Bilder, in: B. Affolter/M. ClemenÅon (Hrsg.): Pfarrbilderbuch – Bilderbuchpfarrerin, Bern, ohne Seitenzahlen. Narrating and Narratives in the Process of Mourning, in: P. Ackermann/B. White (Eds.): Strategies of Belonging: Individual and Collective Construction of Narrative Continuity, Erlangen, 34 – 42. Sieben Gründe, warum Spitalseelsorge not-wendig ist, in: R. Albisser/A. Loretan (Hrsg.): Spitalseelsorge im Wandel, Wien, 89 – 94. Zus. mit Kramer, Marianne: Abendrituale. Nischen im Familienalltag, in: in: Institut für Praktische Theologie Bern (Hrsg.): Rituale in Familien. Religiöse Dimensionen und intergenerationelle Bezüge, Bern, 10 – 11. Zus. mit Zehnder, Sabine: Rituale und Religiosität haben Wirkung, in: Institut für

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Verzeichnis der Veröffentlichungen

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Praktische Theologie Bern (Hg.): Rituale in Familien. Religiöse Dimensionen und intergenerationelle Bezüge, Bern, 14.

2008 Der religiöse Traum, in: Wege zum Menschen 60, 233 – 247. Trauminterpretation als Modell einer pastoralpsychologischen Hermeneutik, in: Wege zum Menschen 60, 248 – 262. Abendrituale. Umrisse einer ethnographischen Liturgik, in: Pastoraltheologie 97, 169 – 186. Zus. mit Hauri, Roland: Druzinski obredi – lepilo med generacijami? Kakowostna Starost 11, 20 – 26.

2009 Kirche und Gesellschaft, in: A. Kramer/G. Ruddat/F. Schirrmacher (Hrsg.): Ambivalenzen der Seesorge. FS Michael Klessmann, Neukirchen-Vluyn, 145 – 158. Zus. mit Hauri, Roland/Zehnder, Sabine: Druzinski obredi – medgeneracijska praska, dojemanje in posredovanie tradicije, in: Kakowostna Starost 12, 40 – 51. Zus. mit Zehnder, Sabine/Kppler, Christoph: Religiöse Sozialisation in der Familie – Eine empirische Studie. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 4, 227 – 239. Zus. mit Zehnder, Sabine/Kppler, Christoph: Religious Socialisation in the Family : A Multi-dimensional and Multi-level Perspective. In: L.J. Francis, M. Robbins & J. Astley (Eds.), Empirical Theology in Texts and tables. Qualitative, Quantitative and Comparative Perspectives, 291 – 320. Leiden/Boston.

2010 Trauern mit System? Trends in der Trauerforschung, in: Aigner, Maria Elisabeth/ Bucher, Rainer/Hable, Ingrid/Ruckenbauer, Hans-Walter (Hrsg.): Räume des Aufatmens. Pastoralpsychologie im Risiko der Anerkennung. FS Karl Heinz Ladenauf, Berlin, 413 – 424. Zus. mit Hauri, Roland: Familienrituale – Fenster zu Kindern und Kindheiten, in: Morgenthaler, Christoph/Hauri, Roland (Hrsg.): Rituale im Familienleben, München, 11 – 20. Abendrituale. Wie Eltern und Kinder gemeinsam Rituale kreieren, in: Morgenthaler, Christoph/Hauri, Roland (Hrsg.): Rituale im Familienleben, München, 161 – 186. Zus. mit Zehnder, Sabine: Familienrituale und Religiosität im Vergleich der Ge-

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Christoph Morgenthaler

nerationen, in: Morgenthaler, Christoph/Hauri, Roland (Hrsg.): Rituale im Familienleben, München, 187 – 211. Zus. mit Zehnder Grob, Sabine: Familie, Ritualisierungen und Wohlbefinden von Eltern und Kindern, in: Familiendynamik 35, 250 – 259. Zus. mit Winter-Pfndler, Urs: Are Surveys on Quality Improvement of Healthcare Chaplaincy Emotionally Distressing for Patients? A Pilot Study, in: Journal of Health Care Chaplaincy 16, No. 3/4, 140 – 148. Zus. mit Winter-Pfndler, Urs: Wie zufrieden sind Patientinnen und Patienten mit der Krankenhausseelsorge?. Entwicklung eines Fragebogens und erste Resultate einer Untersuchung in der Deutschschweiz, in: Wege zum Menschen 62, 570 – 584. Zus. mit Winter-Pfndler, Urs/Morgenthaler, Christoph: Rollen und Aufgaben der Krankenhausseelsorge in den Augen von Stationsleitungen – eine Untersuchung in der Deutschschweiz, in: Wege zum Menschen 62, 585 – 597.

2011 Zus. mit Noth, Isabelle: Eine kulturell sensible Religionspsychologie und klinische Beratungspsychologie – Wunsch oder Wirklichkeit, in: Noth, Isabelle/Morgenthaler, Christoph/Greider, Kathleen J. (Hrsg.): Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog/Pastoral Psychology and Psychology of Religion in Dialogue, Stuttgart, 136 – 154. Zus. mit Winter-Pfndler, Urs/Flannelly, Kevin J.: Referrals to healthcare chaplaincy by head nurses: Situations and influencing factors, in: Holistic Nursing Practice 25/1, 26 – 32. Zus. mit Winter-Pfndler, Urs: Who needs visitation in general hospitals? Evaluation of influencing factors to assess patients with psychosocial and religious needs, in: JPPC 65, No. 2.

Lexikonartikel 1997 Art. Psychologie, in: TRE, Band XXVII, Lieferung 4/5, Berlin/New York, 690 – 699.

2002 Art. Traum VI. Praktisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Band XXXIV Lieferung 1, Berlin/New York, 46 – 49.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen

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Im Druck 2011 Zus. mit Kppler, Christoph, Zehnder, Sabine, Peng, Aristide, & Christl, Taylor (in press): The Significance of Religion for Adolescents. Conception of and first results from the VROID-MHAP-Study. In: Leslie J. Francis / Hans-Georg Ziebertz (Eds.), The Public Significance of Religion, Leiden / Boston: Brill. Zus. mit Peng, Aristide, Christl, Taylor, Zehnder, Sabine & Kppler, Christoph (subm.): The Case of the Minarets: Swiss Adolescents’ Perspectives on Religious Diversity and the Public Presence of Religious Symbols. In: E. Foley (Ed.), Religion, Diversity and Conflict. Berlin. Zus. mit Hill, P., Allemand, M., Zehnder, Sabine, Peng, Aristide, & Kppler, Christoph (subm.): Personality Traits and Aspects of Identity Development during Adolescence.

In Arbeit Zus. mit Noth, Isabelle (erscheint voraussichtlich Herbst 2011): Sigmund Freud/ Oskar Pfister : Briefe. 1909 – 1939, Zürich. Zus. mit Brodbeck, Kathrin/Peng, Aristide; Christl, Taylor; Zehnder, Sabine; Kppler, Christoph: Adolescents’ values and value based reasoning in intercultural dilemma situations, in: Journal of Empirical Theology. Zus. mit Zehnder, Sabine, Christl, Taylor, Peng, Aristide, Brodbeck, Kathrin, & Kppler, Christoph (erscheint 2011): Searching for religious identity between national and religious heritage and global expansion, in: Vincent F. Anthony / Hans-Georg Ziebertz (Eds.): Religious Identity and National Heritage, Münster. Konversion – Zwang oder Befreiung? Religionspsychologische Sondierungen., in: Lienemann-Perrin, Christine/Lienemann, Wolfgang (Hrsg.) (erscheint 2012): Religionswechsel, Konfessionswechsel und Bekehrung in religiös pluralen Gesellschaften, Wiesbaden. Identitätsbildung und Konversion im Lebenslauf: Vergleich und Fazit, in: Lienemann-Perrin, Christine/Lienemann, Wolfgang (Hrsg.) (erscheint 2012): Religionswechsel, Konfessionswechsel und Bekehrung in religiös pluralen Gesellschaften, Wiesbaden.

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Die Herausgeber Noth, Isabelle, PD Dr. theol. habil., Privatdozentin für Praktische Theologie der Universität Zürich und Klinikseelsorgerin in den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern. Forschungsschwerpunkte: Seelsorge und Religionspsychologie. Veröffentlichungen: 1) gem. mit C. Morgenthaler (Hg.), Seelsorge und Psychoanalyse, Stuttgart 2007; 2) Freuds bleibende Aktualität. Psychoanalyserezeption in der Pastoral- und Religionspsychologie im deutschen Sprachraum und in den USA, Stuttgart 2010; 3) gem. mit C. Morgenthaler und K. J. Greider (Hg.), Pastoral Psychology and Psychology of Religion in Dialogue, Stuttgart 2011; 4) gem. mit C. Morgenthaler (Hg.), Sigmund Freud/ Oskar Pfister : Briefe. 1909 – 1939, Zürich (erscheint voraussichtlich 2012). Kunz, Ralph, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich mit den Schwerpunkten Gottesdienst, Seelsorge und Gemeindeaufbau. Veröffentlichungen: 1) Gottesdienst evangelisch reformiert. Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis, Zürich 22007 [2001]; 2) als Herausgeber, Religiöse Begleitung im Alter. Religion als Thema der Gerontologie, Zürich 2007; 3) gem. mit T. Schlag und T. Klie (Hg.), Ästhetik und Ethik. Die öffentliche Bedeutung der Praktischen Theologie, Zürich 2007; 4) gem. mit T. Klie und M. Kumlehn (Hg.), Praktische Theologie des Alterns, Berlin/New York 2009; 4) gem. mit A. Marti und D. Plüss (Hg.), Reformierte Liturgik kontrovers, Zürich 2011.

Die Autorinnen und Autoren Brandner, Tobias, Dr. theol., Assistenzprofessor an der Divinity School of the Chung Chi College, Chinese University of Hong Kong, Gefangenenseelsorger des Hong Kong Correctional Services Department, tätig in verschiedenen Gefängnissen Hongkongs, sowie Mitarbeiter von Mission 21, Basel und Pfarrer der Tsung Tsin Mission Church Hong Kong. Forschungsschwerpunkte: Glaube und Kirche im Gefängnis, Millenarismus, Missions- und Kirchengeschichte Chinas. Wichtigste Veröffentlichung zum Thema: Gottesbegegnungen im Gefängnis. Eine Praktische Theologie der Gefangenenseelsorge, Frankfurt a.M. 2009. Dubiski, Katja, Dipl. Psych. und Dipl. Theol., z. Zt. Vikarin in Lauffen a.N. Forschungsschwerpunkte: Entwicklung von Vorurteilen, Interreligiöse Bildung. Wichtigste Veröffentlichungen zum Thema: 1) gem. mit I. Essich, F. Schweitzer, A. Edelbrock und A. Biesinger, Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter, in: A. Edelbrock/F. Schweitzer/A. Biesinger (Hg.), Wie viele

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Die Autorinnen und Autoren

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Götter sind im Himmel? Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter, Münster u. a. 2010, 121 – 199; 2) gem. mit I. Essich, F. Schweitzer, A. Edelbrock und A. Biesinger, Wie Kinder andere Religionen wahrnehmen. Interreligiöse Bildung im Kindesalter, in: A. Bucher/G. Büttner/P. Freudenberger-Lötz/M. Schreiner (Hg.), „In der Mitte ist ein Kreuz“. Kindertheologische Zugänge im Elementarbereich (Jahrbuch für Kindertheologie 9), Stuttgart 2010, 17 – 27. Graham, Larry Kent, Ph.D., is Professor of Pastoral Theology and Care at Iliff School of Theology in Denver, Colorado, USA. He is a Diplomate in the American Association of Pastoral Counselors (AAPC) and ordained in the United Church of Christ. Main book publications: 1) Care of Persons, Care of Worlds. A Psychosystems Approach to Pastoral Care and Counseling, Nashville, TN 1992; 2) Discovering Images of God. Narratives of Care with Lesbians and Gays, Louisville, KY 1997. He is currently working on a book on the impact of war on the pastoral care of families. Greider, Kathleen J., Ph.D., is Professor of Practical Theology, Spiritual Care, and Counseling at Claremont School of Theology and Claremont Lincoln University, California, USA. She is also a therapist and clinical supervisor at The Clinebell Institute for Pastoral Counseling and Psychotherapy. Latest book publications: 1) Much Madness Is Divinest Sense. Wisdom in Memoirs of Soul-Suffering, Cleveland, OH 2007; 2) co-edited with Deborah van Deusen Hunsinger and Felicity Brock Kelcourse, Healing Wisdom. Depth Psychology and the Pastoral Ministry, Grand Rapids, MI 2010; 3) co-edited with Christoph Morgenthaler and Isabelle Noth, Pastoral Psychology and Psychology of Religion in Dialogue, Stuttgart 2011. Grözinger, Albrecht, Prof. Dr. theol., Ordinarius für Praktische Theologie an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Homiletik, Theologische Ästhetik, Religion und Kirchen in pluralistischen Gesellschaften. Wichtigste Veröffentlichungen: 1) Praktische Theologie und Ästhetik, München 21991; 2) Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995; 3) Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen zum Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 32000; 4) Kirche im Zeitalter der Globalisierung, Waltrop 2002; 5) Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004; 6) Lehrbuch Homiletik, Gütersloh 2008. Grözinger, Elisabeth, Dr. theol., Pfarrerin, Dipl. Analytische Psychotherapeutin, Studienleiterin Advanced Studies der Universität Basel, Dozentin am C.G. Jung-Institut Zürich, Mitglied im Beirat der „Pastoralblätter“. Forschungsschwerpunkte: Homiletik, Religion und Literatur, Spiritualität im Grenzbereich zwischen Psychotherapie und religiöser Praxis. Wichtigste Veröffentlichungen: 1) Dichtung in der Predigtvorbereitung, Frankfurt 1992;

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Die Autorinnen und Autoren

2) Kreativität in der Predigtarbeit, Waltrop 2001; 3) „Mehr als eine blosse Symptomkur“. Ein Blick auf C.G. Jung anlässlich seines 50. Todestages, Magazin für Psychotherapie und Seelsorge 2011, 42 – 45; 4) „Kairos“ als Potential in der Seelsorge, in: WzM 62/4, 2010, 350 – 363; 5) Der Tutzinger Gedichtkreis von Marie Luise Kaschnitz – ein poetisches Mandala, in: Analytische Psychologie 2005, 343 – 375; 6) Impulse zur Rezeption literarischer Texte in der Predigt, in: A. Grözinger/A. Mauz/A. Portmann, Religion und Gegenwartsliteratur, Würzburg 2009, 171 – 176; 7) Religiosität und Spiritualität in der Psychotherapie, in: H. Weiss/K. Temme (Hg.), Schatz in irdenen Gefässen, Berlin/Zürich 2008, 217 – 225. Klessmann, Michael, Dr. theol. habil., Professor emeritus für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Pastoralpsychologie und Supervision an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel; Gestaltberater; Lehrsupervisor der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP). Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter zuletzt: 1) Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen 42009 [2004]; 2) gem. mit Kerstin Lammer, Das Kreuz mit dem Beruf. Supervision in Kirche und Diakonie, Neukirchen 2007; 3) Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen 32010 [2008]. Kohli Reichenbach, Claudia, Dr. theol., Assistentin an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, Abteilung für Praktische Theologie. Schwerpunkte: Spiritualität und Seelsorge. Wichtigste Veröffentlichungen zum Thema: 1) Umgekehrte Vorzeichen in der geistlichen Begleitung. Der Religionskritiker Bonhoeffer als Zwischenrufer, PTh 99, 2010, 316 – 327; 2) (Dissertationsschrift): Gleichgestaltet dem Bild Christi. Kritische Untersuchungen zur Geistlichen Begleitung als Beitrag zum Spiritualitätsdiskurs, Berlin/New York: de Gruyter (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs) (erscheint voraussichtlich 2011). Marshall, Joretta L., Ph.D., is Professor of Pastoral Theology, Pastoral Care and Counseling at Brite Divinity School in Fort Worth, Texas, USA. She is an ordained United Methodist Clergyperson from the Rocky Mountain Conference and a Diplomate in the American Association of Pastoral Counselors (AAPC) where she served as Vice President from 2006 – 2008 and President from 2008 – 2010. Main book publications: 1) Counseling Lesbian Partners, Louisville, KY 2004; 2) How Can I Forgive? A Study of Forgiveness, Nashville, TN 2005; 3) co-edited with Marie Fortune, Forgiveness and Abuse. Jewish and Christian Reflections, New York 2003; 4) co-edited with Duane Bidwell, The Formation of Pastoral Counselors, London 2004. Nafzger, Willi, Theologe und Pfarrer, Zusatzausbildung in Logotherapie und Existenzanalyse (nach Viktor Frankl), Psychotherapeut in eigener Praxis in

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Die Autorinnen und Autoren

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Bern, langjährige Tätigkeit als Gefängnisseelsorger im Straf- und Maßnahmenzentrum Witzwil, Studienleiter des Seelsorge-Nachdiplomstudiums „Kirche im Straf- und Maßnahmenvollzug“ an der Universität Bern, Lehrbeauftragter am „Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal“ in Fribourg/CH; Forschungsschwerpunkte: Gefängnisseelsorge, Viktimologie. Perrig-Chiello, Pasqualina, Prof. Dr. phil., Professorin am Institut für Psychologie der Universität Bern, Abt. Entwicklungspsychologie. Forschungsschwerpunkte: Wohlbefinden und Gesundheit über die Lebensspanne, kritische Lebensereignisse, Vulnerabilität, Geschlechter- und Generationenunterschiede. Wichtigste Veröffentlichungen: 1) gem. mit F. Höpflinger und C. Suter, Generationen – Strukturen und Beziehungen. Generationenbericht Schweiz, Zürich 2008; 2) In der Lebensmitte. Die Entdeckung der mittleren Lebensjahre, Zürich (5. überarb. Aufl. erscheint Sept. 2011); 3) gem. mit F. Höpflinger, Die Babyboomer. Eine Generation revolutioniert das Alter, Zürich 2009. Plüss, David, Prof. Dr. theol., Professor für Homiletik, Liturgik und Theorie der religiösen Kommunikation. Forschungsschwerpunkte: Ritual, Performance, Visible Religion, Religion und Gesellschaft. Wichtigste Veröffentlichungen zum Thema: 1) Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007; 2) Vom Wort zur Performance. Die Wiederentdeckung des Rituellen in der reformierten Theologie, in: Bibel und Liturgie, 1/2011, 28 – 37; 3) Was ist liturgische Kompetenz? Überlegungen zu einem liturgiedidaktischen Curriculum aus evangelisch-reformierter Perspektive, in: M. Durst/H.J. Münk (Hg.), Zwischen Tradition und Postmoderne. Die Liturgiewissenschaft vor neuen Herausforderungen, Theologische Berichte 33, Freiburg 2010, 106 – 138; 4) Le culte est-il un rituel? Quelques rflexions sur l’aspect performatif de la prdication et de la liturgie, in: Vie & Liturgie. Rvue Protestante de Recherche Liturgique et de Spiritualit, 84, 2010, 3 f; 5) Kirchenräume zwischen Leiblichkeit und Heiligkeit, in: C. Sigrist, Kirchen Macht Raum. Beiträge zur kontroversen Debatte, Zürich 2010, 39 – 44. Riedel-Pfäfflin, Ursula, Dr. theol. habil., Professorin em. der Evangelischen Hochschule Dresden für Gender Studies und Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Pastoralpsychologie, interkulturelle Theologie und Frauenforschung. Sie war Präsidentin des International Council on Pastoral Care and Counselling (ICPCC), ist in der Entwicklung interkultureller Kooperation im Bereich Seelsorge engagiert und bietet zusammen mit KollegInnen eine zweijährige Weiterbildung für systemische Beratung und Seelsorge an. Veröffentlichungen: 1) gem. mit A. Smith, Jr., Siblings by Choice. Race, Gender, and Violence, St. Louis, MO 2004; 2) Gestalteter Kairos. Inter-

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Die Autorinnen und Autoren

religiöse Seelsorge in Event, Kunst und Ritual, in: H. Weiß/K. Federschmidt/K. Temme (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, Neukirchen 2010; 3) gem. mit J. Strecker : Flügel für Alle. Feministische Seelsorge und Beratung. Konzeption – Methoden – Biographien, Münster 22011; 4) gem. mit R. Stachowske: Generationen, in: V. Herrmann/R. Hoburg/R. Evers/R. Zitt (Hg.), Theologie und Soziale Wirklichkeit. Grundbegriffe, Stuttgart 2011, 93 – 106. Schibler, Gina, Dr. theol., Pfarrerin in Erlenbach ZH, bis 2000 Studienleiterin „Persönliche Lebensgestaltung und Theologie“ im evangelischen Studienzentrum Boldern. Forschungsschwerpunkt: Spiritualität und Klimawandel. Veröffentlichungen: 1) Kreativ-emanzipierende Seelsorge, Stuttgart 1999 (Dissertation); 2) Sexualität und Spiritualität: Gegensätze oder ergänzende Pole, Dokumentation der Frauenwerkstatt zum Evangelischen Kirchentag 1999; 3) gem. mit Chr. Morgenthaler, Religiös-existentielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart 2002; 4) gem. mit M. Krieg (Hg.), Geist und Klima. Textsammlung zu Spiritualität und Klimawandel, Zürich 2008; 5) Mene-Tekel. Klimathriller, Neckenmarkt/Austria 2010. Schlag, Thomas, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Kybernetik. Veröffentlichungen: 1) Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg i. Br. 2010; 2) Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als didaktische Herausforderung und Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011; 3) gem. m. R. Neuberth und R. Kunz (Hg.), Konfirmandenarbeit in der pluralistischen Gesellschaft. Zürich 2009; 4) gem. mit R. Voirol-Sturzenegger (Hg.), Konfirmationsarbeit im Kanton Zürich, Zürich 2010; gem. mit F. Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik im 21. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2004. Schweitzer, Friedrich, Prof. Dr. rer. soc. et theol. habil., Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: religiöse und moralische Entwicklung und Erziehung, interreligiöses Lernen. Wichtigste Veröffentlichungen: 1) Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 72010; 2) Das Recht des Kindes auf Religion. Ermutigungen für Eltern und Erzieher, Gütersloh 22005; 3) Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011. Steinmeier, Anne M., Prof. Dr. theol., Professorin für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit den Schwerpunkten Seelsorge, Homiletik und Kulturtheologie. Veröffentlichungen: 1) Wiedergeboren zur Freiheit. Skizzen eines Dialogs zwischen Theologie und Psychoanalyse, Göttingen 1998; 2) Schöpfungsräume. Auf dem Weg einer Praktischen Theologie als Kunst der Hoffnung, Gütersloh 2003; 3)

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Die Autorinnen und Autoren

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Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2011. Geschäftsführende Herausgeberin der Zeitschrift WzM, Mitherausgeberin der BThZ und der Buchreihe APTLH. Wagner-Rau, Ulrike, Prof. Dr. theol., Professorin für Praktische Theologie an der Philipps-Universität Marburg mit den Schwerpunkten Pastoraltheologie, Pastoralpsychologie/Seelsorge, Kasualtheorie, Genderfragen in der Praktischen Theologie. Veröffentlichungen: 1) gem. mit K. Eulenberger und L. Friedrichs (Hg.), Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007; 2) gem. mit E. Rohr und M.M. Jansen (Hg.), Die halbierte Emanzipation? Fundamentalismus und Geschlecht, Königstein 2007; 3) Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 2 2008; 4) Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009; 5) gem. mit E. Hartlieb und J. Koslowski (Hg.), Das neue Kleid. Feministisch-theologische Perspektiven auf geistliche und weltliche Gewänder, Sulzbach/Taunus 2010. Weiß, Helmut, Lehrsupervisor der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP), leitete als Pfarrer bis 2007 die Seelsorgefortbildung im Kirchenkreisverband Düsseldorf. Seit 1986 Organisator der Internationalen Seminare für Interkulturelle Seelsorge und Beratung. Initiator und seit 1995 Vorsitzender der „Gesellschaft für Interkulturelle Seelsorge und Beratung – Society for Intercultural Pastoral Care and Counselling“ (SIPCC). Wichtigste neuere Veröffentlichungen: gem. mit K. Federschmidt und K. Temme (Hg.), Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen. Anregungen zum interreligiösen Gespräch in Seelsorge und Beratung, Neukirchen 2005; gem. mit K. Federschmidt und K. Temme (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, Neukirchen 2010. Ziemer, Jürgen, Dr. theol. habil., Professor emeritus für Praktische Theologie an der Universität Leipzig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Seelsorge und Pastoralpsychologie, Gemeindeaufbau, Glaube und Spiritualität in der modernen Gesellschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter zuletzt: 1) Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen 32008; 2) gem. mit G. Schulz, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Gespräch. Zugänge zur Welt des frühen Mönchtums in Ägypten, Göttingen 2010.

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 70: Matthias Biermann 64: Dörte Gebhard »Das Wort sie sollen lassen stahn ...« Glauben kommt vom Hörensagen Das Kirchenlied im »Kirchenkampf« der evangelischen Kirche 1933-1945 2011. 427 Seiten mit 7 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62416-6

Studien zu den Renaissancen von Mission und Apologetik 2010. 350 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62442-5

69: Michael Lorenz Das Wort im Spannungsfeld von Anrede und Interpretation

63: Thomas Erne / Peter Schüz (Hg.) Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion

Erfahrungsbezug und Wirklichkeitsdeutung in der Predigt 2011. 263 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62415-9

2010. 256 Seiten mit 50 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62441-8

67: Silke Harms Glauben üben

Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen 2010. 230 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62412-8

Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der »Exerzitien im Alltag« 2011. 288 Seiten mit 4 Abb. und 2 Tab., kart. ISBN 978-3-525-57016-6

66: Andreas Kubik (Hg.) Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge 2011. 280 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-57125-5

65: Kristin Merle Alltagsrelevanz Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge 2011. 352 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62413-5

61: Ulrich H.J. Körtner Leib und Leben

60: Johannes Block/Holger Eschmann (Hg.) Peccatum magnificare Zur Wiederentdeckung des evangelischen Sündenverständnisses für die Handlungsfelder der Praktischen Theologie 2010. 283 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62411-1

59: Ulf Liedke Beziehungsreiches Leben Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung 2009. 652 Seiten mit 3 Graphiken, kartoniert ISBN 978-3-525-62410-4

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 58: Thomas Micklich Kommunikation des Glaubens

47: Eike Kohler Mit Absicht rhetorisch

Gottesbeziehung als Kategorie praktisch-theologischer Theoriebildung 2009. 357 Seiten mit 21 Graphiken, kartoniert ISBN 978-3-525-62409-8

Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche 2006. 320 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62389-3

57: Jochen Arnold Von Gott poetisch-musikalisch reden Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten 2009. 488 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-57124-8

56: Norbert Schwarz »denn wenn ich schwach bin, bin ich stark« Rezeptivität und Produktivität des Glaubenssubjektes in der Homiletik Hans Joachim Iwands 2008. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62406-7

55: Hans Martin Dober Die Zeit ins Gebet nehmen

46: Thomas Böttrich Schuld bekennen – Versöhnung feiern Die Beichte im lutherischen Gottesdienst 2008. 319 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62388-6

45: Ralf Günther Seelsorge auf der Schwelle Eine linguistische Analyse von Seelsorgegesprächen im Gefängnis 2005. 357 Seiten mit beigelegter Begleit-CD, kartoniert ISBN 978-3-525-62382-4

44: Christian Stäblein Predigen nach dem Holocaust

Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual 2009. 303 Seiten mit 14 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62408-1

Das jüdische Gegenüber in der evangelischen Predigtlehre nach 1945 2004. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62381-7

54: Klaus Kohl Christi Wesen am Markt

43: Barbara Städtler-Mach Kinderseelsorge

Eine Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche 2007. 323 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62402-9

Seelsorge mit Kindern und ihre pastoralpsychologische Bedeutung 2004. 229 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62378-7

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