Sprachkontakt, Sprachvergleich, Sprachvariation: Festschrift für Gottfried Kolde zum 65. Geburtstag [Reprint 2010 ed.] 9783110917437, 9783484730557

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Sprachkontakt, Sprachvergleich, Sprachvariation: Festschrift für Gottfried Kolde zum 65. Geburtstag [Reprint 2010 ed.]
 9783110917437, 9783484730557

Table of contents :
Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen und die perfektive Kohäsionsstrategie
Deixis im literarischen Text
Nominaldetermination im Deutschen und Französischen. Beobachtungen an zwei Gedichten und ihren modernen Übersetzungen (Rimbauds Bateauivre in Celans Fassung und Hölderlins Ister in du Bouchets Version)
Lorenzos Wunde. Sprachgebung und psychologische Problematik in Thomas Manns Drama Fiorenza
Trausers, shoues und Eis – Englisches im Deutsch von Französischsprachigen
Wie sag ich's meinem Kinde? Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule am Beispiel Deutsch im Wallis und in Genf
Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis
Die Syntax des Begehrens. Zum Sprachwandel am Beginn der bürgerlichen Moderne. Sophie La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Goethe: Die Leiden des jungen Werther
Der lîp wandelt sich nach dem muot Zur nonverbalen Kommunikation im 'Rolandslied'
“L'usage du patois est sévèrement interdit dans les écoles.” Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten
Word classes in Germanic: the case of West Flemish
Fremdsprachenvermittlung an einer zwei-/mehrsprachigen Universität. Realität und Zukunftsperspektiven des Modells der Universität Freiburg/Fribourg
Der Bauer im Ehren-Feld. Zur Inszenierung eines Begriffs im Nationalsozialismus
Sprachen in der Stadt – am Beispiel Basels
“Senza esclamativi”. Sopra un testo di Giorgio Caproni
Erwartungen und Routinen beim Lesen. Strategien beim Leseverstehen in der Erstsprache (Französisch) und in der Fremdsprache (Deutsch)
A la frontière de l'ordre de la langue et de l'ord re du discours: a clause et l'acte
Zur Rolle der Semantik in Humboldts linguistischem Forschungsprogramm
Lächelndes Sprechen und Lachen als Kontextualisierungsverfahren
Sprachwandel, Sprachverfall – oder nur die ganz alltägliche Schlamperei?
“Weisst du der deutsch?” Vom Umgang frankophoner Deutschlernender mit den Artikelwörtern
Die Einsamkeit des ‘unbestimmten Artikels’
Predicative adjective agreement: Where German may be “easy”, but French and Danish are not “easies”
Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule
Biel zwanzig Jahre danach. Die Erfahrungen der ersten gemeinsamen zweisprachigen Maturaabteilung des Deutschen und des Französischen Gymnasiums Biel aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler
Verzeichnis der Schriften von Gottfried Kolde

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Sprachkontakt Sprachvergleich Sprachvariation

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Festschrift f r Gottfried Kolde zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Kirsten Adamzik und Heien Christen

Max Niemeyer Verlag T bingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sprachkontakt, Sprachvergleich, Sprachvariation: Festschrift für Gottfried Kolde zum 65. Geburtstag / hrsg. von Kirsten Adamzik und Heien Christen. Tübingen: Niemeyer, 2001 ISBN 3-484-73055-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Vorwort

Am 7. Februar 2001 feiert Gottfried Kolde seinen 65. Geburtstag. Dies war für die hier versammelten Autoren - Kollegen, Freunde und Schüler des Jubilars ein willkommener Anlass, ihm einen Beitrag zu widmen, der ihre persönliche Verbundenheit mit ihm zum Ausdruck bringt. Die thematische Breite der hier vorgelegten Aufsätze, die aus der Linguistik, Literaturwissenschaft und Mediävistik und aus dem germanischen und romanischen Sprachraum stammen, spiegelt nicht nur die Offenheit und Vielfalt der Interessen und Arbeitsgebiete von Gottfried Kolde, sondern auch seine Neugier und freundschaftliche Verbundenheit über Sprach-, Länder- und Disziplingrenzen hinweg. Selten begegnet man in der akademischen Welt einem Forscher, der so viel Anerkennung gefunden hat, so sehr in seiner Arbeit aufgeht und der sich gleichzeitig mit solcher Bescheidenheit zurücknimmt. Undenkbar, dass wissenschaftliche Kontroversen ihm je mehr bedeuten würden als der herzliche Umgang, den er, ohne Ansehen von Rang und Namen, mit seinen Mitmenschen pflegt. Man darf es einen glücklichen Zufall nennen, dass Gottfried Kolde von Göttingen gerade nach Genf kam, wo er im Jahre 1972 auf den ersten Lehrstuhl für Germanistische Linguistik berufen wurde. Dort fand er ideale Bedingungen für seine universitäre Tätigkeit, aber auch eine soziale und landschaftliche Umgebung, von der er und seine Familie sich faszinieren ließen und in der sie heimisch geworden sind. Der neue Arbeitsort hat Gottfried Koldes weitere wissenschaftliche Arbeit entscheidend geprägt: Das mehrsprachige Land lenkte seine Aufmerksamkeit zunächst auf Fragen des Sprachkontakts. Davon zeugt besonders sein soziolinguistisches Grundlagenwerk zu zweisprachigen Gesellschaften, exemplarisch untersucht an den unterschiedlichen Verhältnissen in den Städten Biel und Fribourg. Dieses Thema und die Sprachsituation in der Schweiz insgesamt haben ihn bis in die jüngste Zeit immer wieder beschäftigt. Die besonderen Arbeitsbedingungen - der Unterricht germanistischer Linguistik vor allem an Französischsprachige und die Zusammenarbeit mit Linguisten verschiedener Einzelsprachen - regten Gottfried Kolde zu zahlreichen Studien in den Bereichen Sprachvermittlung und Sprachvergleich an. Und es war vielleicht auch die anderssprachige Umgebung, die seine frühe Sensibilität für Fragen der Sprachpflege und der Sprachkritik, wie sie schon seine Disser-

VI

Vorwort

tation von 1964 bezeugt, noch steigerte und ihn zu weiteren viel beachteten Forschungen auf diesem Gebiet anregte. Fragen der Sprachkritik waren auch der erste Ausgangspunkt für die intensive Beschäftigung mit dem Thema, das in den letzten Jahren im Vordergrund seiner Arbeit stand: das schwierige Gebiet der Nominaldetermination, deren Erfassung besonders in sprach vergleichender und universalgrammatischer Perspektive höchst umstritten ist. Dass er die Spezialliteratur zu diesem Gegenstand umfassend aufgearbeitet hat, dafür werden ihm auch noch künftige Forschergenerationen dankbar sein. Wir wünschen Gottfried Kolde, dass er an seinem 65. Geburtstag zusammen mit seinen Gratulanten sich freut über den Reichtum seines bisherigen Schaffens und dass er mit eben solcher Freude dem entgegensieht, was ihm die Vielfalt seiner Interessen an künftiger Ernte eintragen wird. Genf, im August 2000

Kirsten Adamzik und Heien Christen

Inhaltsverzeichnis

Werner Abraham Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen und die perfektive Kohäsionsstrategie

l

Peter Blumenthal Deixis im literarischen Text

11

Bernhard Böschenstein Nominaldetermination im Deutschen und Französischen. Beobachtungen an zwei Gedichten und ihren modernen Übersetzungen (Rimbauds Bateauivre in Celans Fassung und Hölderlins Ister in du Bouchets Version)

31

Renate Böschenstein Lorenzos Wunde. Sprachgebung und psychologische Problematik in Thomas Manns Drama Fiorenza

39

Heien Christen / Anton Näf Trousers, shoues und Eis - Englisches im Deutsch von Französischsprachigen

61

Erika Diehl Wie sag ich's meinem Kinde? Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule am Beispiel Deutsch im Wallis und in Genf

99

Jürgen Dittmann Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis

123

Verena Ehrich-Haefeli Die Syntax des Begehrens. Zum Sprachwandel am Beginn der bürgerlichen Moderne. Sophie La Röche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Goethe: Die Leiden des jungen Werther

139

Karl-Ernst Geith Der lip wandelt sich nach dem muot Zur nonverbalen Kommunikation im 'Rolandslied'

171

VIII

Inhaltsverzeichnis

Walter Haas "L'usage du patois est severement interdit dans les ecoles." Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten

185

Liliane Haegeman Word classes in Germanic: the case of West Flemish

201

Michael Langner Fremdsprachenvermittlung an einer zwei-/mehrsprachigen Universität. Realität und Zukunftsperspektiven des Modells der Universität Freiburg/Fribourg

227

Walter Lenschen Der Bauer im Ehren-Feld. Zur Inszenierung eines Begriffs im Nationalsozialismus

235

Heinrich Löffler Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels

245

Emilio Manzotti, "Senza esclamativi". Sopra un testo di Giorgio Caproni

261

Matthias Marschall Erwartungen und Routinen beim Lesen. Strategien beim Leseverstehen in der Erstsprache (Französisch) und in der Fremdsprache (Deutsch)

281

Eddy Roulet A la frontiere de l'ordre de la langue et de l'ordre du discours: la clause et l'acte

297

Peter Schmitter Zur Rolle der Semantik in Humboldts linguistischem Forschungsprogramm

307

Johannes Schwitalla Lächelndes Sprechen und Lachen als Kontextualisierungsverfahren

325

Horst Sitta Sprachwandel, Sprachverfall - oder nur die ganz alltägliche Schlamperei?

345

Therese Studer "Weisst du der deutsch?" Vom Umgang frankophoner Deutschlemender mit den Artikelwörtem

357

Heinz Vater Die Einsamkeit des 'unbestimmten Artikels'

379

Inhaltsverzeichnis

IX

Sten Vikner Predicative adjective agreement: Where German may be "easy", but French and Danish are not "easies"

399

Iwar Werlen Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

415

Bettina Wetzel-Kranz Biel zwanzig Jahre danach. Die Erfahrungen der ersten gemeinsamen zweisprachigen Maturaabteilung des Deutschen und des Französischen Gymnasiums Biel aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler

437

Verzeichnis der Schriften von Gottfried Kolde

455

Werner Abraham

Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen und die perfektive Kohäsionsstrategie

Negativ-polare Ausdrücke unterliegen typischen und wohlumschriebenen Beschränkungen, die aber nach Kontexten noch feinere Klassifikationen erlauben (Abraham/Akkerman 1996, Akkerman/Abraham 1996). Es gilt hier derartige Ausdrücke nach zwei Kriterien näher zu beleuchten: einmal inwiefern sie in typischen Zeitausdrücken wie deutsch (schon) Jahre (lang) ... (mehr)/seit Jahren eigenen Anwendungskriterien folgen, und zum zweiten inwiefern solche in ihrer Anwendung typischen Ausdrücke sich in den drei Hauptsprachen des Westgermanischen unterscheiden. Über die rein empirisch festzustellenden Unterschiede und Übereinstimmungen hinaus wird möglicherweise zu fragen sein, wieso sich gerade solche Unterschiede und Übereinstimmungen einstellen und warum gerade in welchen der drei Sprachen gemeinsam bzw. in welchen gerade auseinanderlaufend.

l. Beispiele und erste Distributionsunterschiede Negative-polare Ausdrücke sind Lexeme, die nur in beschränkten, explizit oder implizit negativen Kontexten vorkommen, in positiv-affirmativen dagegen ungrammatisch sind (vgl. etwa anfangend zum Deutschen von Kürschner (1983, 106ff.), der mehr als 100 solcher Lexeme anführt, bis zu van der Woude (1994/1997) und Giannakidou (1997) mit allgemeineren, über Einzelsprachen hinausgehenden Überblicken). Typische Beispiele sind im Englischen anyfbody), anything, yet, ever, bother to, give a red cent, im Deutschen brauchen (als Hilfs- oder Modalverb, also bei Ergänzung eines Vollverbs), im geringsten/mindesten, nur das geringste, gar, auch nur, die Bohne/einen nassen Staub/die leiseste Ahnung, sich entblöden. Der vorliegende Aufsatz beschränkt sich auf einen kleinen Ausschnitt solcher negativ-polarer Ausdrücke in drei Sprachen: im Englischen, Niederländischen und Deutschen. Die folgenden Beispiele sind, soweit nicht eigens angegeben, Illustrationen bei Hoeksema (1996) nachgedacht. Die Reihenfolge unter den drei Sprachen ist fest: Englisch, Niederländisch und Deutsch. Es zeigt sich, dass sich das Niederländische und Englische in der Morphemfolge sehr ähneln, während das Deutsche ausschert und nicht nur eigene lexikalische Morpheme vorsieht, sondern auch Sonderbedingungen zur negativen Polarität erfüllen

2

Werner Abraham

muss. Über die lexikalischen und positionellen Distributionen hinaus werden auch die Akzente markiert und zwar mit Versalien, (lMO gehen vom englischen Leitbeispiel aus, während (5}-{8) vom niederländischen Leitbeispiel ausgehen. (1)

a b C d e

(2)

a b c d e f

(3)

a b c

(4)

I haven't made it in YEARS Ik heb dit in jaren niet GEDAAN Ich habe so etwas schon jahrelang/seit Jahren/*in Jahren nicht getan Schon jahrelang/seit Jahren/*in Jahren habe ich so etwas nicht (mehr) getan *Nicht seit Jahren/schon jahrelang habe ich so etwas getan None of them have had dates in months Niemand van hen is er in maanden met een meid uitgegaan *Niemand von ihnen ist schon seit Monaten mehr ausgewesen Schon Monate/seit Jahren sind sie nicht mit jemandem ausgewesen Schon Monate/seit Monaten sind sie mit niemandem *(mehr) ausgewesen *Mit niemandem/keinem von ihnen bin ich schon monatelang/seit Monaten mehr ausgewesen This movie has attracted a larger audience abroad than any Western in decades Deze film heeft in net buitenland een GROTER publiek weten aan te trekken dan ELK ANDERE in (tijds)tijden/zolang/eeuwigheid Der Film hat MEHR Zuschauer angelockt als irgendein ANDERER Film in den letzten Jahrzehnten

a b c a

I haven't seen you in a COON'S AGE Ik heb je in een EEUWIGHEID niet GEZIEN Ich habe dich eine EWIGKEIT schon nicht (mehr) GESEHEN Hij had al in geen UREN meer iets GEGETEN

(6)

a b

Ik heb je in DAGEN niet meer GEZIEN Ich habe dich TAGELANG/SEIT TAGEN nicht mehr GESEHEN

(7)

a b

In geen WEKEN zal ik aan wie ook kunnen SCHRIJVEN WOCHENLANG/SEIT WOCHEN werde ich NIEMANDEM SCHREIBEN können

(8)

a b

Opgewekter dan hij in TUDEN geweest was snelde hij naar een TAFELTJE Munter wie schon LANGE (ZEIT)/SEIT LANGEM nicht (mehr) sprang er auf einen kleinen TISCH zu

(5)

b

Er hat schon STUNDENLANG/SEIT STUNDEN nichts mehr GEGESSEN

Im Englischen lässt sich ein solcher /n+Zeitangabe-Ausdruck auch nicht-polar verwenden wie etwa in the cut will heal in days. Von solchen Verwendungen soll hier nicht die Rede sein. Wir notieren auf Grund von (l)-(8) folgende Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede: zuerst die Zeitausdrücke, um die es hier geht (Hoeksema 1996, 1). (9)

a

ENGLISCH: in hours, in days, in weeks, in months, in years, in decades, in a long time, in eons, in many years, in ages, in a coon's age, in a million years

b

NIEDERLÄNDISCH: in uren, in dagen, in weken, in maanden, in jaren, in ecu wen, in lang, in tijden, in een eeuwigheid, in tijdstijden, in zolang, in lange tijd

Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen

3

Die Listen in (9a, b) umfassen eindeutige negativ-polare Ausdrücke. Dem stehen im Deutschen in den zitierten Beispielen, die den englischen und niederländisch nachempfunden bzw. ins Deutsche übersetzt wurden, keineswegs eindeutig negativ-polare Ausdrücke gegenüber: schon lange/schon seit langem ist neutral gegenüber irgendeiner und damit auch gegenüber fallender Monotonie; erst der Zusatz mehr macht den komplexen Zeitausdruck sensitiv für nichtpolare Distributionen. Dieses mehr braucht allerdings nicht immer zu stehen; vgl. (8b). Auffällig sind weiter die Akzentdistributionen. Was konstituentennegiert ist, steht in allen drei Sprachen im Allgemeinen im kontrastiven Fokus des Satzes, während der grammatische (nicht kontrastive) Normalakzent des Satzes (nach der Fokusnullhypothese auf dem Kopf der tiefsteingebetteten Konstituente; vgl. Cinque 1993, Abraham 1993; 1995a, b) unberührt bleibt. Da die Negation in den niederländischen und deutschen Illustrationen oben mehrmals erst auf den negativ-polaren Ausdruck folgt und der Zeitausdruck ausnahmslos kontrastiv fokussiert ist, während z. B. (1) im Deutschen zeigt, dass eine eindeutige Negationsnachstellung zu Ungrammatikalität führt, bleibt zu schließen, dass die negativ-polaren Zeitausdrücke im Skopus der Konstituentennegation stehen, was sich in einer semantischen Repräsentation als Negationselement links von der negierten Konstituente, dem lokalen Skopus nachweisen lassen muss; es handelt sich also nicht um Satznegation. Dies ist für negativ-polare Ausdrücke kennzeichnend: Sie müssen im Skopus der expliziten Negation stehen, ja, sie werden durch die Negation erst lizensiert. Es fragt sich allerdings, wieso die an sich recht unschuldigen tn+Zeitdauerlexemausdrücke im Englischen und Niederländischen bloß als negativ-polare Elemente auftreten und weshalb sich die deutschen Ausdrücke einer derartigen Negationssensitivität verschließen.

2. Syntaktische Kriterien Hoeksema (1996) stellt die folgenden syntaktischen Vorkommensbedingungen für das Niederländische fest. Siehe jeweils (a) fürs Niederländische, (b) fürs Deutsche. ZEITDAUERAUSDRUCK NICHT UNMITTELBAR RECHTS VON DER NEGATION (10)

a i ii

*Ik heb hem niet in jaren gesproken Ik heb hem in jaren niet gesproken

iii Ik heb hem in geen jaren gesproken b i

*Ich habe ihn () nicht () jahre(langVeine Ewigkeit gesprochen

Konstituentennegation Satznegation

Neg-Inkorporation Konstituentennegation

ii

Ich habe ihn seit Jahren/jahre(lang)/ eine Ewigkeit nicht gesprochen Satznegation

iii

*Ich habe ihn in keinen Jahren/in keiner Ewigkeit (mehr) gesprochen

Neg-Inkorporation

4

Werner Abraham iv Ich habe ihn keine *(zig/10) Jahre (lang) (mehr) gesprochen v

Ich habe ihn ganze *(zig/10) Jahre (lang) nicht (mehr) gesprochen

Sowohl im Deutschen wie auch im Niederländischen darf der Zeitdauerausdruck nicht im Konstituentenskopus der expliziten Negation stehen. Bei Satznegation dagegen, wo der Gesamtsatz im Wertebereich der Negation steht, ist der Zeitdauerausdruck grammatisch und sinnvoll. Auch dies gilt für beide Sprachen gleichermaßen. Bei der Inkorporationserscheinung gehen die beiden Sprachen auseinander, doch ist dies nicht überraschend: Neg-Inkorporation ist beim deutschen /«-Ausdruck ungrammatisch, da ja der w-Ausdruck als solcher ungrammatisch ist. Dass Neg-Inkorporation im Deutschen nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, zeigt das zig-Beispiel allerdings darf im Unterschied zum Niederländischen das Zahlwort im Deutschen nicht fehlen. Wir werden auf genau diese Einschränkung im Deutschen zurückkommen.

NEGATION IST NÖTIG, ABER EBEN NICHT IN DERSELBEN KONSTITUENTE MÖGLICH (11)

a i ii

Niemand had hem in jaren gesproken Ik geloof niet dat ik hem in jaren gesproken heb

Subjektnegation Neg-Transport

Niemand hatte ihn *jahrelang/*Jahre/°kseit Jahren/ ok in all den Jahren mehr gesehen ii *Ich glaube nicht , dass ich ihn jahrelang / gesprochen habe. Neg-Transport iii Ich glaube, dass ich ihn (schon) jahrelang nicht (mehr)/okin den Jahren noch gesprochen habe iv Ich glaube, dass ich ihn (schon) Jahre/eine Ewigkeit nicht (mehr) gesprochen habe

b i

Die deutschen grammatischen Beispiele in (b) zeigen allerdings, dass die Folgerung anhand von (lOa, b) oben, dass der negativ-polare Zeitdauerausdruck bei Satznegation zu Grammatizität führt, weiter eingeschränkt werden muss: nicht steht ja vor mehr, das allerdings weggelassen werden kann. Dasselbe gilt fürs Niederländische, wo es eben noch systematischer ausgespart wird, aber prinzipiell stehen kann. Das heißt, es liegt eine Satznegationssyntax einer besonderen Form vor, in welcher der Negationsnoperator aus dem gesamten negativ-polaren Ausdruck besteht, aus welchem das Negationsmorphem keineswegs noch einmal herausgehoben werden kann. Keine der Varianten in (12a) gibt die Bedeutung von (l Ib-ii, iii, iv) richtig wieder. Vielmehr gilt allein (12b) als Äquivalent. (12)

a i

*Es ist nicht der Fall, dass ich ihn (schon) jahrelang (mehr) gesprochen habe ii *Es ist nicht (schon) jahrelang/eine Ewigkeit der Fall, dass ich ihn (mehr) gesprochen habe iii *Es ist nicht mehr der Fall, dass ich ihn (schon) jahrelang/eine Ewigkeit gesprochen habe

b

Es ist (schon) jahrelang/eine Ewigkeit nicht (mehr) der Fall, dass ich ihn gesprochen habe

Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen

5

Das bedeutet zweierlei: Einmal zusammen mit (l l a), dass es in dem Zeitdauerausdruck selbst einen Negationsreflex gibt, selbst wenn explizite Satznegation vorläge; und zum ändern dass der gesamte negativ-polare Zeitdauerausdruck mit dem Negationsreflex (NR.) eine komplexe syntaktische Binnenstruktur aufweist. Siehe dazu (13a, b) als eine der Möglichkeiten.

(I3)a NegP

mehr

Jahre

(Neg-Reflex)

Nehmen wir im Sinne der Minimalismussyntax (Chomsky 1995, Abraham et al. 1996) an, dass das finite Prädikat zumindest im unabhängigen Satz nach AgrS vorrückt. Dann sollte sich an dieser Stelle auch NR, der Negationsreflex, an V heften; vgl. (13b).

(13)b

AgrSP Spez

"

AgrS'

Das finite Verb V adjungiert sich an den Kopf der Neg-Konstituente mit NR und rückt von dort nach AgrS auf, um die Kongruenzmerkmale abzusättigen, so jedenfalls im Minimalismusjargon. Man beachte, dass ich NegP für das Deutsche jeglicher Entwicklungsstufe innerhalb von VP situiere, anders als Annahmen, die anhand des Französischen entwickelt wurden (Pollock 1989).

6

Werner Abraham Prüfen wir nun noch weitere Distributionskriterien.

TOPIKALISIERUNG MÖGLICH AUSSER OBER DIE SATZGRENZE HINAUS (AUS DEM ABHÄNGIGEN SATZ HERAUS) (14)

a In jaren heb ik niet zo gelachen In jaren heeft hem niemand gesproken *In jaren dacht ze dat ze niet zo gelachen had

In geen jaren dacht ze dat ze zo gelachen had b () Jahre(lang) () habe ich nicht mehr so gelacht () Jahre(lang) () hat ihn niemand mehr so lachen gesehen ) Jahre(lang) () glaubte sie, dass sie nicht mehr so gelacht hatte "Keine Jahre(lang) dachte sie, dass sie ihn (mehr) gesprochen hatte

Die Distributionen in (14) erlauben die Annahme, dass zwischen dem Satznegator und dem Zeitdauerausdruck c-Kommando auf LF vorliegen muss; vgl. auch (13a).

3. Echte Negativpolarität? Ob echte Negativpolarität wie bei erwiesenen, geeichten negativ-polaren Elementen vorliegt, ist anhand eines Vergleichs der Distributionscharakteristiken auszumachen. Zu den geeichten lexikalischen Elementen dieser Charakteristik gehört jefmals). Wir durchlaufen dieselben Distrubutionsproben wie in (10), (l 1) und (14). Die niederländischen Beispiele sind von Hoeksema (1996, 3).

ZEITDAUERAUSDRUCK NICHT UNMITTELBAR RECHTS VON UND LINKS VON DER NEGATION (15)

a *Ik heb hem niet ooit gesproken *Ik heb hem ooit niet gesproken Ik heb hem nooit gesproken

Konstituentennegation Satznegation Neg-Inkorporation

b *Ich habe ihn nicht je(mals) gesprochen *Ich habe ihn je(mals) nicht gesprochen Ich habe ihn nie gesprochen

Konstituentennegation Satznegation Neg-Inkorporation

Beide Sprachen erfüllen dieselben Distributionsbedingungen. Im Unterschied zu den Zeitdauerausdrücken führt allerdings Nachstellung der expliziten Negation keineswegs zu Grammatizität. Wir ziehen aus diesem Unterschied den Schluss, dass man von zweierlei negativ-polaren Ausdrücken sprechen muss: von solchen, bei denen Negation in jeder strukturellen Position in die Konstituente eindringt wozu je(mals)/ooit gehören; und zum ändern von solchen, die sich dieses Eindringens in die Konstituente erwehren können bzw. deren Konstituentenstruktur dieses Eindringen verhindert: dazu gehören die in (9a, b) verlisteten und hier untersuchten Zeitdauerausdrücke. Es wird eine besondere syntakti-

Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen

7

sehe Aufgabe sein, diesen Unterschied so ähnlicher negationssensibler Elemente entsprechend und plausibel zu beschreiben. NEGATION IST NÖTIG, ABER EBEN NICHT IN DERSELBEN KONSTITUENTE MÖGLICH (16)

a Niemand had hem ooit gesproken Ik geloof niet dat ik hem ooit gesproken heb

Subjektnegation Neg-Transport

b Niemand hatte ihn je(mals) gesehen Ich glaube nicht, dass ich ihn je(mals) gesprochen habe

Neg-Transport

Die Fälle mit Negationstransport in den unabhängigen Satz bei den Zeitdauerausdrücken waren im Unterschied zu (16a, b) ungrammatisch. Auch hier zeigt sich somit eine stärkere Negationsattraktion bei je(mals)/ooit. Dies ließe sich auf zweierlei Weise ausdrücken: Entweder entzieht sich die strukturelle Beschreibung der ye-Klasse den Möglichkeiten einer uns bekannten Syntax und wir haben mit semantischen oder pragmatischen Verwendungsbedingungen zu rechnen; oder wir müssen bei den beiden negativ-polaren Klassen mit unterschiedlichen kategorialen Negationsrezeptoren rechnen: bei der Klasse der starken Neg-Attraktion mit einem expliziten strukturellen Negationsknoten, bei der Klasse der schwächeren Neg-Attraktion mit einem "Negationsreflex". Wie dies genauer und plausibel in eine syntaktische Beschreibung aufzunehmen ist, steht noch dahin. TOPIKALISIERUNG (17)

a i *Ooit heb ik niet zo gelachen ii *Ooit dacht ze dat ze niet zo gelachen had in Nooit dacht ze dat ze zo gelachen had b i *Je(maIs) habe ich nicht so gelacht ii *Je(mals) glaubte sie, dass sie nicht so gelacht hatte iii Nie glaubte sie, dass sie so gelacht hatte

Anders als bei (14) erlauben die Distributionen in (17) die Annahme, dass zwischen dem Satznegator und dem Zeitdauerausdruck c-Kommando nicht nur auf LF, sondern auch in der sichtbaren syntaktischen Struktur vorliegen muss. Auch hier trennen sich also die beiden lexikalischen Klassen, und das Gemeinsame der Unterschiede scheint darin zu fassen zu sein, dass die je(ma!s)-K\asse der expliziten Negation stärker bedarf als die Klasse der Zeitdauerausdrücke, cKommando z. B. muss bei der je-Klasse bereits in der sichtbaren Struktur vorliegen, was bei Topikalisierung wie in (17) nicht gegeben ist. Wir haben dagegen bei der Klasse der Zeitdauerausdrücke die c-Kommandierungsbedingung bloß auf LF geortet.

Werner Abraham 4. Zeitdauerausdruck und Perfektivitätsbedingung Die folgenden Beispiele und Überlegungen dazu betreffen eine Unterklasse der oben behandelten Zeitdauerausdrücke: nämlich solche mit definiter Zeitzählung. Hoeksema (1996, 4) meint, bei der Perfektivitätsbeschränkung bei den Negationspolaren definiter Zeitdauerausdrücke Ausnahmen registrieren zu müssen. Folgende Distributionsunterschiede wie die in (18) scheinen zum einen darauf zu weisen, dass sich definite Zeitdauerangaben nur bei punktuell perfektiven Prädikaten verwenden lassen, nicht jedoch bei Zuständen und imperfektiven Ereignissen. (18)

a Wir haben innerhalb von) zwei Tagen sieben Torten gegessen

perfektiv

Er rechnete in(nerhalb von) zwei Tagen die Lösung aus b *Wir haben in zwei Tagen (Torten) gegessen *Er rechnete in zwei Tagen

imperfektiv

Der Einwand Hoeksemas bezieht sich auf die Perfektivitätsbedingung: Sie sei zu grob; es erfüllten auch rein punktuelle Ereignisse die Setzungsbedingungen des Zeitdaueradverbs in + Zeitangabe; vgl. (19). (19)

Er bemerkte die Fälschung innerhalb von) wenigen Minuten

(19) kann aber kaum als Gegenbeispiel zur Perfektivitätsbedingung gelten: Nicht nur enthält das perfektivierende definit determinierte direkte Objekt, sondern es ist bemerken als Verblexem auch perfektiv, was auch anhand der echt punktuell-imperfektiven Beispiele in (20a, b) deutlich wird. (20)

a *Er schnippte mit seinen Fingern in zwei Tagen b *Er stolperte in zwei Tagen

Interessant ist freilich, dass dieselben Verben im werden-Futur die Perfektivitätsbedingung zu erfüllen scheinen. Die Vollverben sind ja keinesfalls ausgesprochen perfektiv. (21)

a Er wird mit seinen Fingern in zwei Tagen schnippen b Er wird in zwei Tagen stolpern

Das periphrastische Futurhilfsverb scheint im Deutschen Folgendes zu bewirken: Es drängt das in (21a, b) mit dem Vollverb beschriebene punktuelle Ereignis an den Randpunkt der perfektiven Periode: entweder an den Anfang oder an das Ende. Da dies nicht vom punktuellen Verb als solchem ausgehen kann, muss dies auf das Futurhilfsverb zurückgehen das ja in bestimmten Selektionen (vor Kategorien der Charakteristik [-V,+N] perfektive Eigenschaften aufweist. Punktuelle Verben lassen sich auf Grund ihrer Distributionseigenschaften dieser Selektionsklasse von werden zuordnen. Wir können annehmen, dass dies auf Grund einer semantisch-aspektuellen Kohäsionsstrategie zustande kommt; vgl. (22). Diese Selektionseigenschaft des semiperfektiven Hilfsverbs werden teilen die Modalverben im Deutschen sowie sein, nicht jedoch haben (vgl. Abraham

Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen

9

1995b). Es gehört übrigens zur stark aspektuellen Verbsemantik des Deutschen, dass das Präsens punktueller und perfektiver Verben in Verbindung mit delimitiven Zeitdaueradverbien insofern futurische Bedeutung designiert, als (22a-c) wirksam ist. (22) scheint ein Charakteristikum aspektsystematischer, so genannter 'deszendenter' Sprachen wie des Deutschen zu sein (vgl. Abraham 1996). PERFEKTIVE KOHÄSIONSSTRATEGIE

(22)

a)

Die Randpunkte einer delimitiven Zeitperiode sind gegenüber den Binnenpunkten ausgezeichnete Orte insofern, als sie zur Identifikation punktueller Ereignisse bevorzugt selegiert werden.

b)

Punktuelle Ereignisverben sind syntaktische Zwischenkategorien insofern, als ihre wahrheitsfunktionale Erfüllung in der Selektion delimitiver Zeitadverbien der kategorialen Charakteristik [-V,+N] (d. h. Adjektiven, Gerundien und Partizipien sowie Nomina) entspricht.

c)

Nach (22a, b) zeigen punktuelle Ereignisverben dieselben Selektionseigenschaften wie perfektive Verben, vgl. (23).

(23) a b c

Er stirbt/wird innerhalb von) zwei Tagen sterben Er wird in zwei Sekunden stolpern/zwinkern OK/ *Er stolpert/zwinkert in zwei Sekunden

Perfektiwerben Punktereignisse Punktereignisse

5. Negation als Imperfektivierer Die Ereignispunktidentifikation, die in (22) eine Rolle spielt, hat ein Pendant dort, wo Zustandsprädikate und Zeitdaueradverbien die Kohäsionsprobe zu bestehen haben. Man vergleiche, was die Negation in den folgenden Beispielen bewirkt. (24)

a Er war in drei Jahren (drei Jahre lang) *(nie/einmal) krank gewesen b Sie hat (in) zwei Stunden *(keinen)/*einen/EINEN Anruf erhalten c Sie hat in den letzten zwei Stunden *(keinen)/(*einen)/ *(EINEN) Anruf erhalten d Sie hat *(keine) zwei Stunden einen Anruf/*Anrufe erhalten e Er ist in (den letzten) zwei Jahren *(nicht (EINMAL)) gelaufen/laufen gewesen

Warum, so haben wir zu fragen, darf die Negation in (24a-d) nicht fehlen? Was macht die Negation derart, dass grammatische Kohäsion zwischen dem Zeitdaueradverb und den Prädikaten vorliegt, eine Kohäsion, die ohne Negation durchbrochen ist? in+ Zeitraum-NP setzt eine delimitive Selektionsspanne, die mit der Ereignisspanne des Prädikats verträglich sein muss. Die Beispiele zeigen aber, dass das Adverb nicht nur einen Zeitraum setzt, sondern Verträglichkeit hinsichtlich definiter punktueller Erfüllung in dieser Spanne verlangt, nie(mals) setzt ebenso wie einmal eine solche definite Punktverträglichkeit. Siehe

10

Werner Abraham

im besonderen (24c, d, e), wo auch das neutrale nicht ein punktuelles Ereignis impliziert. Dies scheint in besonderer Weise die Kohäsionstrategie zwischen perfektiven und punktuellen Prädikaten und delimitiven Zeitdaueradverbien zu bestätigen.

6. Literaturverzeichnis Abraham, Werner (1993): The focus null hypothesis for nominal compounds and numerals. In: Alie de Boer/Helen de Hoop/Henriette Swart (Hg.): Language and Cognition 4. Yearbook of the Research group for linguistic theory and cognition. Groningen, 1-13. - (1995a): Deutsche Syntax im Sprachenvergleich. Tübingen. - (1995b): Structural properties of information packaging in German and in Universal Grammar. In: Travaux du Cercle Linguistique de Prague N.S. 1 (Amsterdam), 125-156. - (1996) How descending is ascending German? On the deep interrelations between tense, aspect, pronominality, and ergativity. Unveröffentlicht. Univ. Groningen. - u. Epstein, Sam / Höski Thrainsson / Zwart, C. Jan-Wouter (Hg.) (1996): Minimal ideas. Amsterdam. - u. Akkerman, Linda (1996): Zu den Monotonieeigenschaften der hohen und extrem hohen Intensivierwörter im Deutschen. In: Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis 1/2,175-218. Akkerman, Linda / Abraham, Werner (1995): Die Monotonieeigenschaften der Intensivierwörter praktisch und so gut wie. In: Edda Weigand/Franz Hindsnurscher (Hg.): Lexical structures and language use. Proceedings of the International Conference on lexicology and lexical semantics. Münster, Sept. 13-15, 1994. Vol. 2: Session Papers. Tübingen, 3-14. Chomsky, Noam (1995): The minimalist program. Cambridge/Mass. Cinque, Guilelmo (1993): A null theory of phrasal stress. In: Linguistic Inquiry 24,239-298. Giannakidou, Anastasia (1997): The landscape of polarity items. Groningen. Hoeksema, Jack (1996): In days, weeks, months, years, ages: a class of negative polarity items. Ms. Univ. Groningen, Juni 1996. (Vortrag TABU-dag 14. Juni 1996). Kürschner, Wilfried (1983): Studien zur Negation im Deutschen. Tübingen. Pollock, Jean-Yves (1989): Verb movement, universal grammar, and the structure of IP. In: Linguistic Inquiry 20, 365-424. Woude, Ton van der (1994): Negative contexts. Groningen, (Oxford 1997).

Peter Blumenthal*

Deixis im literarischen Text

l. Fragestellung und Vorgehensweise Es ist seit langem bekannt, dass sich die deutschen und französischen Deiktika hier und jetzt, ici und maintenant in der Situationsdeixis im Großen und Ganzen gleich verhalten, in der von Karl Bühler so genannten Deixis am Phantasma dagegen unterschiedlich. Innerhalb einer Gesprächssituation, in der der Sprecher sich selber als Zentrum eines raum-zeitlichen Koordinatensystems betrachtet, erweisen sich die genannten Adverbien also als nahezu äquivalent, während sie sich im Recit, zumal im literarischen, nur in einem sehr begrenzten Umfang entsprechen. Dieser soll im Folgenden genauer bestimmt werden. In seiner Modernen deutsch-französischen Stilistik auf der Basis des Übersetzungsvergleichs (1976, 197) beobachtet Grünbeck, dass für deutsches hier im Recit in der französischen Übersetzung grundsätzlich nicht ici steht, sondern das Adverb lä, das deiktisch oder anaphorisch verwendet werden kann. In diesem Sinne erklären auch die französischen Schulgrammatiken dem deutschen Schüler, dass bei der Umwandlung der direkten in die indirekte Rede auf die notwendigen Veränderungen in den Entsprechungen zwischen manchen Adverbien zu achten ist. Bei den zeitlichen Adverbien stellt sich die Situation insofern etwas anders dar, als maintenant in der modernen französischen Literatur häufig auch im Recit auftritt, und zwar an Stelle von a ce moment-lä, alors usw. Grünbeck glaubt sogar, dass jetzt und maintenant - trotz grundsätzlich schärferer Unterscheidung von Deixis und Anaphorik im Französischen - in literarischen Texten ähnliche Funktionen haben: In der Deixis-ad-phantasma-Ebene wird in der deutschen Sprache nicht unterschieden zwischen der aktuellen, absoluten Gegenwart, dem Jetzt zum Zeitpunkt der Berichtabfassung, und dem fiktiven Jetzt, der in der Vergangenheit gedachten Gegenwart, von der subjekiven Perspektive der handelnden Bezugsperson oder der objektiven des Berichterstatters aus gesehen. [...] Im Französischen unterscheidet man die reale von der fiktiven, in die Vergangenheit prqjizierten Gegenwart bei "heute", jedoch nicht bei "jetzt" (202).

Unsere Aufmerksamkeit gilt im Folgenden also sowohl dem zwischensprachlichen Kontrast zwischen einer romanischen und einer germanischen Sprache als auch den kategoriellen Unterschieden zwischen den Ausdrucksmöglichkeiten für Raum und Zeit. Wir werden feststellen, dass Anregungen zu diesem Beitrag sind aus einem gemeinsamen Seminar mit Volker Klotz hervorgegangen. Ihm danke ich für spannende Diskussionen über Deixis.

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Peter Blumenthal

a)

das Adverb jetzt auf eine lange und stilistisch weniger ergiebige Tradition nicht-deiktischer Verwendungen im Recit zurückblicken kann, die allerdings bis in das 19. Jahrhundert hinein an besondere semantische Bedingungen geknüpft waren; b) der nicht-deiktische Umgang mit hier in der Goethezeit einen textlinguistisch und stilistisch höchst interessanten Wandel erlebt hat; c) der Einsatz von nicht-deiktischem maintenant (und seltenerem ä present) in der französischen Literatur von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab ein wesentliches Mittel zur Erschließung neuer stilistischer Möglichkeiten geworden ist; d) ici sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich von seinen ursprünglich strikt situationsdeiktischen Gebrauchsbedingungen befreit. Die Untersuchung erfolgt auf der Grundlage maschinenlesbarer Korpora.1 Für das Französische steht die ausgezeichnete Datenbank Frantext zur Verfügung, die die Literatur seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts erfasst. Für das Deutsche verfügen wir leider noch nicht über einen derart weiten historischen Überblick. In Anbetracht der von mir gewählten Arbeitsmittel kann hier das Korpus erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzen, da für die frühere Zeit noch keine für den verfolgten Zweck brauchbaren Datenbanken vorliegen. Wir stützen uns im Wesentlichen auf die CD-ROM Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur. Der theoretische Rahmen für die folgenden Beobachtungen ist zu einem guten Teil durch K. Bühlers Gedanken über die beiden Haupttypen der Deixis (ad oculos und "am Phantasma"), durch K. Hamburgers (1977, 114ff.) Auseinandersetzung mit Bühler sowie durch u. a. von H. Weinrich betriebene Studien zur Kombinatorik von Deiktika und Tempusmorphemen abgesteckt.

2. Zeitliche Deixis 2. l. jetzt Die Entwicklung des Adverbs jetzt von der deiktischen Markierung des Sprechmomentes zur anaphorischen Angabe der Zeitenfolge in der Erzählung wird schon im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (1877) beschrieben. Soweit die dort versuchte Affiliation der Bedeutungen die historische Entwicklung widerspiegelt, geht der letztgenannten Verwendung (bei Grimm = jetzt 6) eine zeitlich kontrastierende (=jetzt 5) voraus: jetzt mit einem praeteritum oder historischen praesens, und einen jungem, gleichsam der gegenwart näheren abschnitt der Vergangenheit von einem früheren unterscheidend. Hier liegt ein gewaltiger arbeitstechnischer Vorteil gegenüber früheren Arbeiten zum Thema, etwa der heute noch sehr lesenswerten Analyse Weinrichs (1977) zur Kombinatorik von Tempus und Adverb (vor allem 226-244).

Deixis im literarischen Text

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In unserem Korpus sind beide Etappen der Entwicklung von jetzt - auch die bei Grimm nicht klar herausgearbeitete Bedeutung 6) ("auch sonst bei einer zeitfolge") gut dokumentiert. Zeitlich-kontrastierend (= Bedeutung 5) zu interpretieren ist jetzt in den Texten des 18. Jahrhunderts (und auch noch bei Goethe): (1)

Herr F. und Sebaldus lebten nun den Winter über sehr eingezogen. Ihre Unterhaltung, vordem durch die Gesellschaft des Majors viel mannigfaltiger, ward jetzt etwas einförmig. (Nicolai: Sebaldus Nothanker, S. 336. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 75121)

(2)

Don Sylvio, der in tiefen Gedanken da gelegen war, und auf die Reden seines Reisegefährten keine Acht gegeben hatte, wachte jetzt auf einmal auf. Höre, Pedrillo, sagte er, ich will dir meine Gedanken von dieser Begebenheit sagen, und ich bin gewiß, daß ich mich nicht betrüge. Aber, wo ist die Zigeunerin hingekommen. (Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, S. 183. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 100527)

Zeitadverbien (vordem in (1) oder das Plusquamperfekt (in (2) markieren hier die vorausgehende Zeitstufe. Bei den Romantikem mehren sich die Verwendungen, die Grimms Bedeutung 6) entsprechen; Beispiel: (3)

Sie antwortete mit niedergeschlagnen Augen, daß sie noch kein Gelübde abgelegt habe und auch keines ablegen werde, seit sie erfahren müssen, daß nicht die Klostermauern, sondern ritterlicher Mut sie gegen Gewalt geschützt habe. Darauf kniete der König vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und zeigte ihr einen Goldring. Und sie steckte ihren Finger hinein, denn ihre Augen verstanden sich und nannte ihn ihren lieben Ritter, denn sie wußte nicht, daß es der König sei. Als aber jetzt die Grafen ihr mit gebeugtem Knie die Hand küßten und das Heil ihrer neuen Königin ausriefen, da erkannte sie die hohe Würde ihres Verlobten, wie sie sein hohes Herz erkannt hatte, sie verbarg ihr Antlitz auf einer Brust und segnete alles Unglück, in welchem der Himmel geprüft, ob sie dieses Glück ertragen könne, wobei sie (Arnim: Die Kronenwächter. Erster Band, S. 322. Digitale Bibliothek Band l : Deutsche Literatur, S. 1237)

Diese Entwicklung von der zeitlichen Kontrastierung zur (oft Vordergrund markierenden) Bezeichnung der Ereignisfolge ist für uns auch insofern von Interesse, als sie in Anfangs- und Endpunkt der insgesamt allerdings komplexeren Entwicklung von maintenant entspricht.

2.2. maintenant Für die Romane Balzacs - zumindest die in Frantext enthaltenen - gilt, dass maintenant und a present nicht im Recit vorkommen, also auf ihre traditionelle Rolle in der Deixis ad oculos beschränkt sind. In Stendhals Le Rouge et le Noir (1830) finden sich 41 Okkurrenzen von maintenant; a present kommt nicht vor. In 15 Fällen steht maintenant außerhalb der direkten Rede bzw. der unmittelbar wiedergegebenen Gedanken einer Figur.

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Peier Blumenthal

Für sämtliche 15 Verwendungen dieser Art ist die Kontrastierung von maintenant zu einem früheren Zeitpunkt kennzeichnend. Beispiele: (4)

Mme de Renal regardait les grosses larmes qui s'otaient arretoes sur les joues si päles d'abord et maintenant si roses de ce jeune paysan.

(5)

Elle se voyait moprisable. Ce moment fut affreux ; son äme arrivait dans des pays inconnus. La veille eile avait goüte" un bonheur inoprouvd ; maintenant eile se trouvait tout a coup plongoe dans un malheur atroce.

(6)

[...] il se sentait une immense hauteur. Tout ce qui dtait au-dessus de lui la veille. etait ä ses cötds maintenant ou bien au-dessous.

(7)

C'est qu'il avait maintenant pour implacable ennemie cette imagination puissante, autrefois sans cesse employed lui peindre dans l'avenir des succes si brillants.

Im folgenden Zitat wird der Zeitraum eines ganzen Lebens (im Plusquamperfekt) einer neuen Phase (im Passe simple und Imperfekt) gegenübergestellt: (8)

Pour la premiere fois Mathilde aima. La vie, qui toujours pour eile s'dtait trainoe pas de tortue, volait maintenant.

Flaubert knüpft in Madame Bovary (1857; maintenant 62x, ä present 32x) an diese Tradition des kontrastiven maintenant an: (9)

L'apothicaire, autrefois. se fut bien garde" d'une teile expression ; mais il donnait maintenant dans un genre folätre et parisien qu'il trouvait du meilleur gout.

Häufiger sind aber Verwendungen einer ganz anderen Natur (vgl. Weinrich 1977, 231): maintenant als Signal geringer Distanz zwischen der Person des enonciateur, die nach den Maßstäben der theorie de l 'enonciation für den Inhalt des jeweiligen Satzes haftet, und dem wiedergegebenen Sachverhalt. Die Distanz geht gegen Null in den relativ seltenen Sätzen, in denen das Adverb in erlebter Rede auftritt: (10)

Charles les regardait. croyait entendre l'haleine Idgere de son enfant. Elle allait grandir maintenant ; chaque saison, vite, amenerait un progras. II la voyait dejä revenant [...].

In formaler und inhaltlicher Nachbarschaft zur erlebten Rede stehen manche Varianten der indirekten Rede, die sich im Grenzbereich zur berichteten Rede (discours rapporte) befinden (vgl. Jeandillou 1997, 70ff.) und ebenfalls maintenant enthalten können: (11)

Emma, le soir, ecrivit au clerc une interminable lettre ou eile se dogageait du rendez-vous: tout maintenant e"tait fmi, et ils ne devaient plus, pour leur bonheur, se rencontrer. Mais, quand la lettre fut close, comme eile ne savait pas l'adresse de L£on, eile se trouva [...]

Häufiger findet sich maintenant in Sätzen, die Gefühle, Stimmungen oder Gemütszustände ausdrücken. Die Darstellungen verweisen dabei in einer schwer zu analysierenden Weise auf einen verborgen bleibenden Beobachter, dessen Inferenzen sie zu beinhalten scheinen. Diese entsprechen im folgenden Zitat dem durch sembler modalisierten Inhalt der rhetorischen Frage:

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Emma maigrit, ses joues pälirent, sä figure s'allongea. Avec ses bandeaux noirs, ses grands yeux, son nez droit, sä demarche d'oiseau et toujours silencieuse maintenant. ne semblait-elle pas traverser l'existence en y touchant a peine, et porter au front la vague empreinte de quelque prodestination sublime?

Auch im nächsten Beispiel lässt der von sembler präsupponierte experiencer (= das implizite indirekte Objekt von sembler) an eine die Situation beobachtende und analysierende Instanz denken: (13)

Le diner n'etait pas pret, n'importe ! Elle excusait la cuisiniere. Tout maintenant semblait permis ä cette fille. Souvent son man, remarquant sä päleur, lui demandait si eile ne se trouvait point malade. - non, disait Emma.

Die in der Nähe von maintenant auftretende epistemische Modalisierung wird nicht durch das Verb sembler, sondern durch das Adverb peut-etre geleistet in: (14)

L'envie lui vint de retoumer chez l'heureux: ä quoi bon? D'icrire ä son pere ; il otait trop tard; et peut-6tre qu'elle se repentait maintenant de n'avoir pas c6d6 ä l'autre, lorsqu'elle entendit le trot d'un cheval dans l'alloe.

Der hier im Kontext von maintenant ungenannt bleibende Beobachter erfahrt eine morphologische Realisierung durch mehr oder weniger genetisches vous im nächsten Beispiel: (15)

Sa voix maintenant prenait des inflexions plus molles, sä taille aussi ; quelque chose de subtil qui vous penotrait se dogageait meme des draperies de sä robe et de la cambrure de son pied.

Dieses vous darf wohl als die deklinierte Form des im folgenden Zitat verwendeten on gelten, das auf einen potentiellen Beobachter verweist: (16)

Du reste, eile enveloppait tout maintenant d'une teile indifference, eile avait des paroles si affectueuses et des regards si hautains, des fa9ons si diverses, que ne distineuait plus l'ogo'fsme de la charitd [...]

Nebenbei sei daran erinnert, dass am Anfang des Romans die Mitschüler von Charles als durchaus "reale" Beobachter in der 1. Person auftreten: "[...] Charles fut definitivement envoye au college de Rouen, oü son pere l'amena lui-meme, vers la fin d'octobre, a l'epoque de la foire Saint-Romain. II serait maintenant impossible a aucun de nous de se rien rappeler de lui." Schon für diese Stelle ist die Verbindung des (allerdings explizit gemachten) Beobachterstandpunktes mit maintenant festzuhalten. Während maintenant im Recit in Madame Bovary grundsätzlich im Dienste einer besonderen Form der Perspektivtechnik steht, die einen Einblick ins Innenleben der Personen erlaubt, kommen vereinzelt Verwendungen des Synonyms a present vor, bei denen ohne psychologische Relevanz eine Phase in der Folge von Ereignissen oder Situationen festgehalten werden soll; Beispiel: (17)

Personne a present ne venait les voir ; car Justin s'etait enfui ä Rouen, ou il est devenu gar?on opicier, et les enfants de Papothicaire frequentaient de moins en moins la petite, [...]

Allerdings ist ä present zumindest im gegenwärtigen Französisch weniger eindeutig auf deiktische Bedeutung festgelegt als maintenant. Der Petit Robert

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Peter Blumenthal

(1993) paraphrasiert diese adverbiale Wendung bezeichnenderweise mit "au moment oü parle; au moment dont on parle". Letztere Verwendung ist gleichsam ein Vorgeschmack von dem Funktionswandel, den die Deiktika maintenant und ä present im Romanwerk von Zola erleben. Bei einer quantitativen Betrachtung ihrer Verwendung fallt die allmähliche Steigerung ihrer absoluten Frequenz (ohne Berücksichtigung des Unterschiedes direkte Rede/Recit) vor allem in seinen Romanen der 70-er Jahre auf. Hier einige Zahlen, die selbstverständlich in Beziehung zur Länge der Texte gesetzt werden müssen: Therese Raquin (1867): ä present = 0, maintenant = 32x (bei 82.742 Wörtern (Tokens)) La Curee (1872): ä present = 2x (Ix im Rocit), maintenant = 41x (133.294 Wörter) L 'Assommoir (1877): ä present = 15x, maintenant = 126x (205.679 Wörter) Au bonheur des domes (1883): ä present = 23x, maintenant = 153x (192.021 Wörter) Germinal (1885): a present = 28x, maintenant = 173x (214.372 Wörter)

Für die späteren Romane lassen sich keine quantitativen Entwicklungen mehr feststellen, die mit den recht spektakulären zwischen 1867 und 1877 vergleichbar wären. Zola setzt diese deiktischen Zeitadverbien in Ansätzen bereits in den ersten Romanen im Recit ein, systematischer dann in Germinal - allerdings für völlig andere Ziele als Flaubert. Gerade in den ersten Kapiteln von Germinal bezeichnen maintenant und present Etappen in der Entdeckung der Romanwelt durch den Helden, die zugleich auch dem Leser das Eindringen in diese Welt ermöglichen. Diese Funktion bildet aber vermutlich nur eine besondere Anwendungsform, einen effet de sens, einer umfassenderen aspektuell-temporellen Erscheinung, die hier kurz zu besprechen ist. Für das Verständnis der Wirkung des im Recit auftretenden maintenant ist die Tatsache wesentlich, dass dieses Zeitadverb grundsätzlich nur mit dem Imperfekt auftritt - einem Imperfekt, das keineswegs wie das "imparfait de rupture" oder das "imparfait historique" auf momentane Ereignishaftigkeit festgelegt ist. Innerhalb der zumindest potentiellen Durativität des Verbalgeschehens zwingt das Adverb maintenant aber den Leser, auch eine punktuelle Interpretation der Gültigkeit der verbalen Aussage ins Auge zu fassen, also eine Fokussierung auf eine Untermenge von Momenten innerhalb des vom Verb abgedeckten Zeitabschnittes. Kurz, die Verbindung von maintenant und Imperfekt stellt ein Interpretationsangebot an den Leser dar, im dargestellten Gegenstandsbereich sowohl die Kategorien des Verlaufs als auch des Momentanen zu erkennen. Diese beiden aspektuellen Charakteristika machen es wahrscheinlich, dass die Aktionsart2 der in dieser Konstruktion auftretenden Verben nicht punktuell (wie rencontrer) ist. Dagegen kommt die entgegengesetzte Aktionsart, die Stative, durchaus vor (s. u.). Die soeben skizzierte Synthese von Durativem und (fokussiertem) Punktuellem ist im französischen Tempus- und Aspektsystem grundsätzlich nicht vorgesehen. Zola hat hier Zur Verbindung von Aktionsarten und Deiktika im Deutschen vgl. Ehrich (1992,73ff.).

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die Ausdrucks-, also letztlich auch die Konzeptualisierungsmöglichkeiten des Französischen in einem bestimmten Register bereichert. Zur Wirkung dieser Konstruktion gehört aber in vielen Fällen noch ein weiterer Faktor, der sich weniger leicht in den üblichen linguistischen Fachbegriffen fassen lässt. Wie schon bei Flaubert festgestellt, kann die Verwendung des eigentlich deiktischen, auf die Gegenwart des Sprechmoments bezogenen maintenant die Präsenz eines Beobachters vermuten lassen, der den oben genannten fokussierten Moment aus der Nähe seiner unmittelbaren Betrachtung festhält. Hierin liegt aber zugleich ein Angebot an den Leser, sich mit seiner Phantasie in die Rolle des Beobachters zu versetzen, also den Schritt zur Deixis am Phantasma zu vollziehen. Nun einige Beispiele. In den folgenden beiden Zitaten markieren die Sätze mit maintenant Etappen der Wahrnehmung im oben charakterisierten Sinne: (18)

Les ouvriers de la coupe ä terre avaient du travailler tard, on sortait encore les doblais inutiles. Maintenant il entendait les moulineurs pousser les trains sur les troteaux, il distinguait des ombres vivantes culbutant les berlines, pros de chaque feu.

(19)

H cracha, il repartit derriere son cheval somnolent, apres l'avoir atteld aux berlines vides. Maintenant Etienne dominait le pays entier. Les te^ebres demeuraient profondes, mais la main du vieillard les avait comme emplies de grandes miseres, [...]

Es ist bezeichnend für das Bedeutungspotential der hier diskutierten Konstruktion, dass die Umformulierung in ein (zur Zeit Zolas) normgemäßes Französisch die Information ändern würde. In (18) würde die Ersetzung von maintenant durch "eigentlich" korrektes, weil nicht-deiktisches C'est ä ce momentla.../Cefiit alors qu'il entendit... ein Verb im Passe simple verlangen und damit den Akzent auf die Ereignisfolge legen; die Vorstellung der fokussierten Dauer und die Möglichkeit der Deixis am Phantasma gingen damit verloren: (18*)

C'est ä ce moment-lä qu'il entendit les moulineurs pousser les trains sur les trdteaux [...]

Da dominer in (19) ein statives Verb darstellt (Beweis: *// etait en train de dominer), bliebe sein Tempus im Falle einer Umformung vermutlich erhalten. Eine den Informationsgehalt schonende Paraphrase wäre: (19')

Et le voilä qui dominait le pays entier,

die allerdings ebenfalls nicht auf ein ursprünglich deiktisches Element am Satzbeginn verzichtet. Statt der von einem menschlichen Subjekt ausgehenden Wahrnehmung wird die Konstruktion bisweilen auch in umgekehrter Perspektive für das Sichtbarwerden der Gegenstandswelt eingesetzt: (20)

Sa gaieto redoubla, un grincement de poulie mal graissee, qui finit par dögenerer en un acces terrible de toux. La corbeille de feu, maintenant. oclairait en plein sä grosse tete, aux cheveux blancs et rares, ä la face plate, d'une päleur livide, maculee de taches bleuätres.

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Mais eile restait assise, la tete si pesante, qu'elle se renversait entre les deux epaules, codant au besoin invincible de retomber sur le traversin. Maintenant. la chandelle eclairait la chambre, carrie, ä deux fen€tres, que trois lits emplissaient. II y avait une armoire, une table, [...]

Während man im Falle von (20) bei der Paraphrasierung zwischen zwei Tempora schwanken kann (mit Bedeutungsunterschied: Ä ce moment- , la corbeille de feu eclaira/eclairait...), scheint es kaum möglich, maintenant in (21) ohne erhebliche Sinnänderung durch ein nicht-deiktisches Adverb zu ersetzen. Unabhängig von der Richtung der Perspektive fallt auf, dass der vom Verb im Imperfekt bezeichnete Vorgang meist die Voraussetzung für die Nennung beschreibender Elemente darstellt. Deshalb ist bei allen Versuchen einer Umwandlung ins Passe simple zu beachten, dass die deskriptive Ruhepause innerhalb der narrativen Umgebung durch die Tempusänderung in die Linearität der Ereignisfolge eingeschmolzen und die entsprechende Information so banalisiert würde. Letztere Beobachtungen gelten auch für die Kombinationen von ä present mit dem Imperfekt; so bildet das Aufwachen von Le Voreux den Einstieg in das Ausmalen einer kleinen Szene: (22)

[...] tandis que le gros cheval jaune repartait tout seul, tirait pesamment entre les rails, sous une nouvelle bourrasque, qui lui herissait le poil. Le Voreux, ä präsent. sortait du reve. Etienne, qui s'oubliait devant le brasier ä chauffer ses pauvres mains saignantes, regardait, retrouvait chaque partie de la fosse, [...]

Erheblich seltener - auch hier liegt eine Parallele zum Umgang mit den deiktischen Zeitadverbien bei Flaubert - stellt ä present ein Element der erlebten Rede dar: (23)

Et il la lächa enfin, et il s'en alia, sans dire un mot. Un frisson avait glaco Etienne. C'otait stupide d'avoir attendu. Certes, non, a präsent, il ne l'embrasserait pas, car eile croirait peut-etre qu'il voulait faire comme l'autre. Dans sa vanito blessoe, il eprouvait un voritable disespoir.

In sehr grober Zusammenfassung lässt sich sagen, dass maintenant und ä present in den beiden genauer betrachteten Romanen von Flaubert und Zola im Dienste von seinerzeit innovativen Erzähltechniken standen, aber trotz gewisser funktioneller Überschneidungen (z. B. in der erlebten Rede oder als Einladung zur Versetzung des Lesers in die Situation) auch zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt wurden: bei Flaubert signalisieren sie oft eine Sichtweise, die auf aus unmittelbarer Nähe vorgenommene psychologische Feinanalyse abzielt. Bei Zola dienen sie der Unterbrechung der linearen Handlung durch Szenen durativen Charakters, die den Gang der Ereignisse bisweilen auch in Etappen gliedern.

Ein für Maupassants Novellenstil typischer Einsatz des etappenmarkierenden maintenant findet sich am Schluss von Adieu. Hervorgehoben werden soll hier unter den besonderen Bedingungen der Ich-Erzählung die Schlussetappe einer Selbstreflexion, also die endgültige prise de conscience des Erzählers: "Le soir, tout seul, chez moi, je me regardai longtemps dans la glace, tres longtemps. Et je finis par me rappeler ce que j'avais , par re-

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Hamburgers Auffassung (1977, 72; vgl. auch 120), dass in der literarischen Verwendung zeitlicher Deiktika die "fiktiven Ich-Origines der Romangestalten" zur Geltung kämen, trifft gewiss auf die zitierten Fälle von erlebter Rede bei Flaubert und Zola zu. Sie lässt sich darüber hinaus mit der allmählichen Entdeckung der fiktiven Welt durch den Zolaschen Helden vereinbaren. Sie scheint aber weniger geeignet für die Analyse derjenigen Passagen in Flauberts Madame Bovary, in denen maintenant ein Signal unter anderen für die Existenz einer dem Helden externen beobachtenden Instanz darstellt. Hamburgers leicht polemische Auseinandersetzung mit Bühlers "Deixis am Phantasma" trifft aber insofern nicht den Kern des Problems, als die von ihr postulierte subjektive Sichtweise der Romanfiguren keineswegs die von Bühler konzipierte "Versetzung" des Autors/Lesers in die geschilderte Situation ausschließt (vgl. Hamburger 1977,116), sondern geradezu dazu einlädt. Ein Blick auf die weitere Entwicklung der Literatursprache zeigt, dass die zur Zeit von Flaubert und Zola lancierten neuen Möglichkeiten des Umgangs mit zeitlichen Deiktika Schule gemacht haben. Dieser Sprachgebrauch scheint aber ein Signum von Literarität geblieben zu sein. Der journalistische Stil ist insofern andere Wege gegangen, als die Vergangenheitstempora zu Gunsten der Tempora Präsens und Futur zurücktreten, welche sich - paradoxerweise zwecks Dramatisierung mit nicht-deiktisehen Zeitangaben wie ä ce moment verbinden;4 Beispiel: (24)

Puis, se saisissant d'un bout de phrase prosidentielle M. Jospin attaque sur le fond: "[...]". A ce moment, selon un te"moin, M. Chevenement arbore un large sourire, tandis que M. Chirac parait un peu ddcontenanco. Plus tard, d'ailleurs, ä l'Elisee, son entourage parlera de la "nervosito" du premier ministre. Pour l'heure, le president lui ropond: "[...]". (Le Monde 28.5.1999, S. 9)

3. Räumliche Deixis 3.1. Hier Die Entwicklung der räumlichen Deiktika hier und ici in der Literaturgeschichte des Deutschen und Französischen ist insofern geradezu spiegelbildlich zu der von jetzt und maintenant verlaufen, als es - abgesehen von Erscheinungen der jüngsten Vergangenheit - über die stilistische Funktion von ici wenig zu sagen gibt, während sich in der wechselnden Rolle von hier, die ähnlich spannend wie die Geschichte von maintenant ist, Mutationen in der Strukturierung deutscher Erzählprosa ausdrücken.

4

voir en pensoe, ma moustache brune et mes cheveux noirs, et la physionomie jeune de mon visage. Maintenant, j'etais vieux. Adieu." Ähnliches hat Weinrich (l977,228f.) in Inhaltsangaben festgestellt.

20

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Die besondere Problematik von hier liegt in seiner hohen Polysemie. Die ursprünglich räumliche Bedeutung wird nicht nur auf Zeitliches (= 'jetzt', Grimm unter hier 6) übertragen, sondern auch auf Punkte des Handlungsverlaufs oder noch abstrakter - der Gedankenführung, wie es in Grimms Wörterbuch unter hier 5) heißt: hier in abgeblaszterer Stellung, nicht sowol auf den ort, als auf fall, läge, umstände, Verhältnisse bezogen, namentlich auch bei entwicklung und darstellung von gedanken und Schlüssen verwendet.

Auch die häufige Opposition zu da, dort wird gebührend hervorgehoben (unter 3). Es fehlt allerdings bei Grimm diejenige Erscheinung, die uns besonders interessiert, nämlich die Verwendung des eigentlich deiktischen Adverbs im Recit. Wir werden dieser Funktionsentwicklung wiederum anhand des schon oben benutzten Korpus zur deutschen Literaturgeschichte nachgehen, uns allerdings strikt auf die räumliche Bedeutung beschränken. Falls die in unserem Korpus vorgenommene Auswahl nicht irrefuhrt, ergibt sich für die Verwendung von räumlichem hier ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein einfach zu beschreibendes Bild: In der Literatur vor Goethe verweist in der Erzählung5 auftretendes hier in mehr als zwei Drittel der Fälle auf den Ort, den der vorausgehende Satz (und vor allem sein Ende) als von den Personen der Handlung soeben erreicht darstellt. Entsprechend der Thema-Rhema-Analyse von Texten liegt meist lineare Progression (vgl. Vater 1992, 98) vor, also die thematische Wiederaufnahme einer zuvor rhematisch eingeführten Information (mögliche Ausnahme z. B. (29). Ich beschränke mich auf einige wenige Beispiele aus den Werken des Korpus:

5

(25)

Endlich mußten wir uns doch entschließen, wieder nach Amsterdam zurückzugehen. Unsere Umstände forderten diese Trennung. Karoline begleitete uns nach dem Haag. Sie erkundigte sich hier, ob sie nicht jemanden antreffen könnte, der ihr von ihrem Bruder Andreas Nachricht geben könnte. (Geliert: Leben der schwedischen Gräfin von G**, S. 54. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 19013)

(26)

Der Baron hatte dem Obersten das ganze Gut gewiesen und führte ihn auch in das Haus, welches gleich an dem Garten und sehr artig gelegen war. Hier nahmen sie das Frühstück ein. (La Röche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 19. Digitale Bibliothek Band l: Deutsche Literatur, S. 64273)

(27)

Das Pferd ward an den Wagen gebunden, und so zogen sie fort bis in das nächste, nicht weit entlegene Städtchen. Hier blieben sie liegen, um ihren Verwundeten verbinden zu lassen, dessen Beschädigung, nachdem den ändern Tag der Verband abgenommen war, nicht gefährlich befunden ward. (Nicolai: Sebaldus Nolhanker, S. 389. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 75174)

(28)

Und so geschah es, daß sie an dem ändern Tag seit seiner Ankunft, zu eben der Zeit da die Herrschaft in einem Saale des Garten-Pavillions sich mit Gesprächen

Noch in Grimmeishausens Abenteuerlichem Simplizissimus (1669) kommt hier, wie im Projekt Gutenberg (http://gutenberg.aol.de) leicht überprüfbar, fast ausschließlich in situationsdeiktischer Funktion, also in der direkten Personenrede, vor.

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unterhielt, und der größte Teil des Hauses des nachmittäglichen Schlummers pflegte, beide, ohne sich bestellt zu haben, und also von ungefähr oder durch eine Würkung der magnetischen Kräfte, deren wir an einem ändern Orte Erwähnung getan, in einer dicht verwachsenen Laube des Labyrinths zusammen kamen. Die beiderseitige Absicht war, die Sieste hier zu machen. (Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvia von Rosalva, S. 560. Digitale Bibliothek Band l: Deutsche Literatur, S. 100904) (29)

Wir ließen den Bucentoro zwischen tausend Fahrzeugen, unter dem Donner des Geschützes von allen Schiffen aus den Häfen, in die offne See stechen und den Dogen sich mit dem Meere vermählen; und er brachte mich mit seinem Führer nach meiner Wohnung. Hier schied er von mir, ohne daß er mir weder sein Quartier noch seinen Namen sagen wollte. (Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln, S. 5. Digitale Bibliothek Band l: Deutsche Literatur, S. 40943)

(30)

Wir waren nun gerade auf dem Wege, den Kapitän Cook gemacht hatte, und kamen den ändern Morgen nach der Botany-Bay - ein Ort, nach dem die englische Regierung wahrhaftig nicht Spitzbuben schicken sollte, um sie zu strafen, sondern verdiente Männer, um sie zu belohnen, so reichlich hat hier die Natur ihre besten Geschenke ausgeschüttet. Wir blieben hier nur drei Tage; den vierten nach unserer Abreise entstand ein fürchterlicher Sturm, [...]. (Bürger: Münchhausen, S. 128. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 7552)

In mehr als der Hälfte der narrativen Verwendungen von hier weist der Satz darüber hinaus auf eine erreichte räumliche Etappe hin, die das Fortschreiten der Handlung aufhält oder den Handlungsablauf gliedert. Wo die bisher für narratives hier vorgeschlagene Analyse nicht zutrifft, liegen meistens sehr besondere stilistische Bedingungen vor, wie die rhetorische Figur der Anapher im folgenden Beispiel: (31)

Alles dieses machte die Gärten des Hippias den bezauberten Gegenden ähnlich, diesen Spielen einer dichtrischen und malerischen Phantasie, die man erstaunt ist, außerhalb seiner Einbildung zu sehen. Hier war es, wo Agathon seine angenehmsten Stunden zubrachte; hier fand er die Heiterkeit der Seele wieder, die er dem angenehmsten Taumel der Sinne unendlich weit vorzog; hier könnt' er sich mit sich selbst besprechen; hier war er von Gegenständen umgeben, die sich zu seiner Gemüts-Beschaffenheit schickten, obgleich die seltsame Denk-Art, wodurch er die Erwartung des Hippias so sehr betrog, auch hier nicht ermangelte, [...] (Wieland: Geschichte des Agathon, S. 65. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 101005)

Der Typ der thematischen Progression ist in (31) bezeichnenderweise ein anderer als in den zuvor zitierten Beispielen: die durch hier eingeleiteten Sätze spezifizieren jeweils das Hyperthema "Gärten des Hippias". Die Opposition hier/dort spielt in dem besprochenen Zeitabschnitt eine vergleichsweise geringe Rolle, was sich leicht an der seltenen Kookkurrenz beider Adverbien ablesen lässt. Diese Situation ändert sich grundlegend in Goethes Erzählprosa, die im Korpus vor allem durch Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) und durch die Wahlverwandtschaften (1809) vertreten ist. Hier bezeichnet nun nicht mehr die Ruhe am erreichten Ziel, also eine Etappe im Handlungsverlauf, sondern die Sphäre des oder der Protagonisten und entspricht damit Hamburgers Funktions-

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beschreibung (1977, 114ff.) der räumlichen Deiktika in der epischen Fiktion. Der Held wird zum Mittelpunkt eines deiktischen Koordinatensystems, was erzähltechnisch eine erste Annäherung an die personale Perspektive erlaubt. Darüber hinaus ist das räumliche Adverb aber auch - ähnlich wie die zeitlichen Deiktika bei Flaubert und Zola - ein Angebot an den Leser, die Perspektive des Helden zu der seinen zu machen. Diese Qualität von hier wird besonders augenfällig im Kontrast zu dort, das die Entfernung zum Helden oder aber die Perspektive von Nebenfiguren signalisiert. So wird bisweilen auf den gleichen Ort je nach Perspektive, d. h. grammatikalisch je nach dem Subjekt des regierenden Verbs, mit dort oder hier referiert: (32)

Bei der Wendung des Weges war ein erhöhter Felsenplatz eingerichtet; dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gäste ausruhen. Hier übersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Männerschar, die nachwandelnden Frauen, welche nun vorbeizogen. Es war bei dem herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick. Charlotte fühlte sich überrascht, gerührt und drückte dem Hauptmann herzlich die Hand. (Goethe: Die Wahlverwandschaften, S. 98. Digitale Bibliothek Band l: Deutsche Literatur, S. 24674)

Die gleiche Analyse gilt einige Seiten weiter für das folgende Zitat, in dem die Gesellschaft (referenzidentisch mit dem Subjekt des Azer-Satzes in (32) das Zentrum des deiktischen Systems darstellt: (33)

Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloß zurück. Nach aufgehobener Tafel wurde sie zu einem Spaziergang durch das Dorf eingeladen, um auch hier die neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen. Dort hatten sich auf des Hauptmanns Veranlassung die Bewohner vor ihren Häusern versammelt. (Goethe: Die Wahlverwandschaften, S. 106. Digitale Bibliothek Band l: Deutsche Literatur, S. 24682)

Die Passivkonstruktion des 2. Satzes von (33) schafft Subjektidentität in der Satzfolge und bildet die Voraussetzung für den perspektivisch "richtigen" Gebrauch von hier im subjektlosen Nebensatz. Die inhaltlich periphere Rolle des mit dort beginnenden letzten Satz wird auch durch das Plusquamperfekt signalisiert. Schon an diesen Beobachtungen wird sichtbar, dass im untersuchten Werk die stilistische Opposition zwischen hier und dort in größere grammatische Zusammenhänge eingebettet ist. Für Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (1815; ein Text, der von uns zunächst nur wegen der auffallend hohen Frequenz von hier genauer betrachtet wurde), lässt sich eine systematische und spezifische Zuordnung des deiktischen Ortsadverbs zur Protagonistenperspektive nicht behaupten. Vereinzelt finden sich allerdings Verteilungen von hier und dort, die an die Verhältnisse in den Wahlverwandtschaften erinnern: (34)

Und so dichtete hier Friedrich unzählige Lieder und wunderbare Geschichten aus tiefster Herzenslust, und es waren fast die glücklichsten Stunden seines Lebens. Oft besuchte ihn dort Herr v. A. in seiner Werkstatt, doch immer nur auf kurze Zeit, um ihn nicht zu stören; (Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S. 115. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 10039)

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Das häufige Vorkommen von hier erklärt sich im Übrigen einfach dadurch, dass dieses Wort auf den Ort des jeweiligen Hauptgeschehens hinweist. Als Fokussierung des Handlungsortes kann 'hier' überall sein - unter der Bedingung allerdings, dass der Ort durch Beschreibung einen gewissen Thematizitätsgrad erreicht hat, gleichsam individuiert ist. Die Abfolge von dort und hier hat unter diesem Gesichtspunkt Ähnlichkeit mit der Einführung eines neuen Textgegenstandes, der zunächst durch den unbestimmten Artikel präsentiert wird und nach seiner Identifizierung vom bestimmten Artikel begleitet ist. In diesem kommunikativen Wert (Markierung von Thematizität) liegt ein Anklang an das eine erreichte und somit bekannte Etappe markierende hier in der Literatur der Zeit vor Goethe (= lineare Progression). Dementsprechend stellt im folgenden Zitat der durch dort eingeleitete Satz den Ort vor, hier macht ihn zur Szene des im Vordergrund stehenden Geschehens: (35)

Sowohl er, als Friedrich besuchten fast alle Nachmittage den einsamen Viktor, dessen kleines Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen umgeben, hart am Kirchhofe lag. Dort unter den hohen Linden, die den schönberaseten Kirchhof beschatteten, fanden sie den seltsamen Menschen vergraben in eine Werkstatt von Meißeln, Bohrern, Drehscheiben und anderm unzähligen Handwerkszeuge, als wollte er sich selber sein Grab bauen. Hier arbeitete und künstelte derselbe täglich, soviel es ihm seine Berufsgeschäfte zuließen, mit einem unbeschreiblichen Eifer und Fleiße, ohne um die andere Welt draußen zu fragen. (Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S. 156. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 10080)

Dem gleichen kommunikativen Prinzip entspricht die im Detail etwas anders ausgestaltete Reihenfolge dort - hier im nächsten Beispiel. Der hoch rhematische Charakter des dort enthaltenden Satzes [b] wird lexematisch bereits durch den vorausgehenden Satz ([a]; eröffnete, das seltsamste Gesicht) angekündigt. Der abschließende Satz [c] enthält einen auf den Ort (= hier) bezogenen Vergleich, der die zunächst überraschende Szene in Zusammenhang mit (zumindest in der Vorstellungswelt) Vertrauterem bringt: (36)

Ein undurchdringliches Dickicht, durch welches von dieser Seite kein Eingang möglich war, trennte sie von den Sprechenden. Leontin bog die obersten Zweige mit Gewalt auseinander: [a] da eröffnete sich ihnen auf einmal das seltsamste Gesicht, [b] Mehrere auffallende Figuren nämlich, worunter sie sogleich Marie, den Karfunkelsteinspäher und den Ritter von gestern erkannten, lagen und saßen dort auf einer grünen Wiese zerstreut umher, [c] Die große Einsamkeit, die fremdartigen, zum Teil ritterlichen Trachten, womit die meisten angetan, gaben der Gruppe ein überraschendes, buntes und wundersames Ansehen, als ob ein Zug von Rittern und Frauen aus alter Zeit hier ausraste. (Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S. 429. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 10353)

Der besprochene kommunikative Wert von hier ist zwar bei Eichendorff oft mit besonderen textuellen Bedingungen verbunden, erklärt sich aber letztlich aus der banalen Tatsache, dass die deiktische Sphäre schon aus allgemeinen anthropologischen Gründen diejenige des zumindest potentiell Bekannten darstellt.

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Im vorstehenden Abschnitt war es möglich, eine nicht unwichtige Phase in der Entwicklung der literarischen Gebrauchsmöglichkeiten von hier zu erfassen. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass rein quantitativ nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt der Literatur zwischen der Mitte des 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts genauer betrachtet werden konnte. Nicht einmal für diesen Zeitraum ist Verallgemeinerung auf literarische Prosastile schlechthin möglich. So bin ich keineswegs sicher, dass sich wie bei Goethe und Eichendorff, so auch in einigen im Korpus enthaltenen Werke von Kleist und Jean Paul ein stilistisches Mikrosystem für die Verwendung von hier und dort ausmachen lässt. Noch größere Vorsicht möchte ich mir bei der Beurteilung der weiteren Entwicklung auferlegen. Allein die Tatsache, dass Stifter in seinen im Korpus enthaltenen Werken anscheinend hier außerhalb der direkten Rede vermeidet, lässt ahnen, dass die Stilgeschichte der räumlichen Deiktika im Deutschen noch Überraschungen bereithalten könnte.

3.2. Ici In der französischen Literatur haben die textlinguistisch interessanten Entwicklungen des deiktischen Ortsadverbs nicht wie im Deutschen vor zwei Jahrhunderten stattgefunden, sondern vermutlich im Laufe der letzten Jahrzehnte. In den kanonischen Texten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Texte von Balzac, Flaubert, Daudet, Maupassant, Zola, Proust, Camus u. a.) kommt ici nur sehr selten außerhalb der direkten Rede vor, und vor allem nicht im Recit - abgesehen von Ausnahmen, die sich aus besonderen Bedingungen erklären. Dies gilt für die folgende Passage aus Madame Bovary: (37)

Aupres d'une Parisienne en dentelle, dans le salon de quelque docteur illustre, personnage ä decorations et ä voiture, le pauvre clerc, sans doute, eut tremblo comme un enfant; mais ici, ä Rouen, sur le port, devant la femme de ce petit medecin, il se sentait l'aise, sur d'avance qu'il oblouirait. L'aplomb depend des milieux oü il se pose: [...] (Madame Bovary III, 1)

Ici befindet sich in (37) keineswegs in erlebter Rede, sondern - geradezu im Gegenteil - in einem durch die Sicht des auktorialen Erzählers geprägten Abschnitt. Bezeichnend ist auch in diesem Falle, dass die sprachgeschichtlich frühe Verwendung eines deiktischen Elementes außerhalb der direkten Rede wiederum in oppositivem Kontext vorkommt. Analoges konnten wir oben bereits für maintenant und jetzt beobachten. Auf der Grundlage des Frantext-Korpus lässt sich vermuten, dass ici außerhalb der Situationsdeixis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst sehr sporadisch und meist in oppositiv geprägten Kontexten - bei Autoren auftritt, die die Nähe zur gesprochenen Sprache, dem frangais populaire oder dem Argot suchten, z. B. bei Queneau: (38)

On ne lui avait jamais dit qu'il 6tait intelligent. On lui avait plutöt ropeto qu'il se conduisait comme un manche ou qu'il avait des analogies avec la lune. En tout

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cas, ici et maintenanU il etait heureux, et content, vaguement. (Queneau: Pierrot man ami, 1942)

Ein in funktionaler Hinsicht erheblich systematischeres Bild ergibt sich fast zur gleichen Zeit aus den - der qualitätsvollen Unterhaltungsliteratur zuzurechnenden, aber gewiss nie Prix Goncourt-verdächtigen - Romanen von Georges Simenon. In Les vacances de Maigret (Erstveröffentlichung 19486) findet sich ici recht häufig außerhalb der direkten Rede, wenn auch nur selten in Passagen, die als erlebte Rede gelten könnten. Beispiel: (39)

Lc corbillard arriva. Puis ce fut le cortege, qui prit un certain temps a se former, le lent defile jusqu'ä l'oglise au porche tendu de noir. Les hommes allaient prendre place ä droite et, ici encore, le docteur Bellamy otait seul au premier rang. (S. 102; vgl. S. 8,11, 35,41,102)

Allerdings dürfte in etwa der Hälfte der Verwendungen eine besondere Nähe zum - vom atmosphärisch einfühlsamen Erzähler präsentierten - situationsbezogenen Wissen oder Empfinden einer Figur bestehen, wie in: (40)

Pourquoi le commissaire, comme cela s'otait dejä produit le matin, avait-il ici une sensation d'hiver, alors qu'on otait en aoüt? (S. 127)

Im Großen und Ganzen entspricht die Funktion von ici in diesem Text dem, was wir in Bezug auf hier bei Eichendorff oben als Fokussierung des Handlungsortes bezeichnet haben. Meine Nachforschungen in der Literatur der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts sind noch zu partiell (und in dieser Zeit schon aus urheberrechtlichen Gründen nicht durch eine ausreichende Menge von in Frantext enthaltenen maschinenlesbaren Texten gestützt), als dass sich umfassende Aussagen über Funktion und Chronologie neuer Verwendungsweisen von ici machen ließen. In den noch im Umfeld des Roman noir stehenden Texten von Jean Vautrin verweist ici ausgeprägter noch als bei Simenon auf Sachverhalte, die kontextuelle und inhaltliche Nähe zu Bewusstseinsinhalten oder Wahrnehmungen besitzen, ohne aber den Definitionsmerkmalen der erlebten Rede zu entsprechen. Dies gilt für ici im Anschluss an die syntaktischen Fetzen (vgl. auch den inhaltlichen Zusammenhang zwischen envie und lapoitrine d'une jeune femme) in (41) und an das Syntagma L 'idee [...] luiparut in (42): (41)

Langueurs d'after-lunch. Envies de peau. Chuchotements. Cris etouffes. Un bourdonnement. Soupirs. Solitudes. Deraisons interieures. Une envie qui montait. Ici. un homme au chömage observait la poitrine d'une jeune femme ä la jumelle. [Vautrin: Bloody Mary, 1979]

(42)

L'idee de se promener dans les rues lui parut tout a fait deraisonnable. Voilä deux mois qu'ils otaient arrives ici et eile n'avait jamais mis le nez dehors. [ibidem]

Der Übergang des hier diskutierten ici von der paralitterature (die auch eine contre-litterature sein kann) in eine Textgruppe, an deren hochliterarischen Qualitäten kein Zweifel besteht, findet spätestens in dem preisgekrönten Roman 6

Benutzt wurde die Taschenbuchausgabe (Presses de la Cito, Paris 1951). Der Roman findet sich im Frantext-Korpus.

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von Y. Queffelec, Les noces barbares (1985) statt. Außerhalb der direkten Rede kommt ici allerdings fast nur in Textabschnitten vor, die sich auch nicht dem Recit zuordnen lassen. Diese liegen in einer Zone, die von der indirekten Redewiedergabe über die erlebte Rede zu formal noch weniger markierten Formen der Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten reicht (s.o. zu Vautrin; vgl. Hamburgers 'innere Vorgänge', 1977, 124) und von der die folgenden Zitate einen treffenden Eindruck verleihen: (43)

Nicole interrompait son aporitif solitaire pour signaler ä son fils que ce n'otait pas un hotel, ici. qu'il y avait un peu de politesse ä avoir, du respect, qu'il fallait mettre la table avant demain matin, [...]

(44)

II re~citait le Je vous salue Marie pour avoir des mots ä mächer. L'avenir ne l'angoissait plus. C'est ici qu'il ferait son logis, sur le Sanaga. se voyait dej'a renflouant l'epave [...]

(45)

Ludo voyait ses traces de pas qu'allait raturer sous peu la mer montante et cette pensde l'affligea. U trouverait bientöt le moyen de signaler ä tous qu'il otait ici chez lui. En rejoignant la piste forestiere il entendit ä nouveau le sifflement qui l'angoissait la nuit.

(46)

C'otait la mere effrayee qui cherchait sä fille, n'osant pas soupconner qu'elle ait pu dosoboir et commettre la folie de venir ici voir "son papa" : son papa !... le vanu-pieds du Sanaga, rhombic fou dont le bruit courait qu'il s'etait ochappe d'un asile et que la police devait I'emmener [...]

(47)

Une tristesse passionnoe 1'exaltait. Regardant sa mere il sentait monier ä ses levres un secret qu'il ne connaissait pas encore et qu'il savait devoir proforer ici. dans le fragile espace ou Nicole avait soudain fait le seul pas qui les eut jarnais rapproches.

Nur in zwei Fällen mag der Leser geneigt sein, den fraglichen Satz dem Recit zuzuordnen, und dies wegen seiner Einbettung in einen narrativen Kontext besonders im nächsten Beispiel (vgl. die benachbarten Formen des Passe simple): (48)

II parvint au tuyau bitume qu'il escalada bouleverso. C'dtait sa demeure, ici, toute sa vie. II courut jusqu'au chemin desservant la plage.

Eine solche Interpretation scheint weniger plausibel in Zitat (44), wo das vorausgehende Imperfekt (faisaii) und die folgende verbale Wendung mentalen Inhalts (avait l'impression) eine psychologische Deutung des mittleren Satzes nahelegen: (49)

II faisait doux. C'otait la premiere fois qu'il venait ici mais il avait l'impression d'un retour au pays natal, meme ocöan, soleil et mßme immensite vide ; seul le wharf manquait.

Falls sich der Leser dagegen in (48) und (49) dafür entscheidet, die Satzinformation als Bewusstseinsinhalt zu verstehen, so würde dies Rückschlüsse auf die Funktion von ici erlauben: der Weg zu einer solchen Interpretation würde für den mit dem Stil Queffelecs Vertrauten vor allem durch das räumliche Adverb

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gewiesen, das damit eine ähnliche Signalwirkung erhielte wie das zeitliche Adverb maintenani bei Flaubert. Gerade der Vergleich der beiden letztgenannten Werke macht deutlich, wie sehr die diachrone Untersuchung der Funktion von ursprünglichen Raumdeiktika auf unterschiedliche stilistische Niveaustufen achten muss.

4. Zusammenfassung Wir haben uns mit einem kleinen Ausschnitt einer recht umfassenden Problematik beschäftigt, den Funktionen situationsdeiktischer Adverbien im literarischen Recit des Deutschen und des Französischen. Im Vordergrund unseres Interesses standen die historischen Phasen des Eindringens dieser Elemente in eine pragmatische Ebene der Sprachverwendung, für die sie ihrer Natur nach nicht geschaffen schienen, ihres weiteren Funktionswandels in der (sprachhistorisch gesehen) neuen Umgebung. Die Arbeitsgrundlage - große maschinenlesbare Korpora beider Sprachen besaß insofern gewisse Nachteile, als sie für das Deutsche nur in einem Ausnahmefall über die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreicht und für das Französische im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts relativ wenige Texte enthält. Trotz dieser Einschränkungen konnten charakteristische Gemeinsamkeiten7 und Unteschiede zwischen den deutschen und französischen Deiktika herausgearbeitet werden. Der funktionale Kern der Gemeinsamkeiten liegt erwartungsgemäß und mit K. Bühlers Ideen übereinstimmend darin, dass die ursprünglich situationsdeikZu den Gemeinsamkeiten gehört eine sprachsystematische Erscheinung, die an dieser Stelle nur angedeutet werden kann: Die Antonyme zu den zentralen räumlichen Deiktika hier und id, nämlich da/dort und la, konnten in der Sprachgeschichte ohne deiktischen Anklang stets auch in anaphorischer Funktion verwendet werden. In letzterem Falle signalisieren sie aber nicht eine Differenz zum Bezugspunkt (dort siehst du... = 'nicht hier"), sondern Identität mit ihm (vgl. ...in Rom. Dort...). Das zeitliche System ist komplexer organisiert. Die Adverbien später und früher, plus tard und autrefois als Verneinungen von 'jetzt' markieren stets eine Differenz zum Bezugspunkt (früher und autrefois wohl stets deiktisch). Anders verhalten sich damals und en ce temps-la, die ebenfalls als Antonyme zu 'jetzt' gelten können, aber beide in allen ihren Verwendungen sowohl deiktische als auch anaphorische Bezugselemente enthalten (damals = 'zu einem bestimmten früheren Zeitpunkt"). Sie bezeichnen zugleich eine größere Differenz gegenüber dem Sprechmoment (damals = 'lange vor jetzt") und Identität mit dem im Text vorgenannten Zeitpunkt. Ein räumliches Äquivalent zu damals wäre die recht umständliche Wendung an jenem fernen Ort. Ein drittes zeitliches Orientierungssystem wird von da und alors (dazu gehörig u. a. auch zuvor und auparavant) gebildet, die in Vergangenheitskontexten rein anaphorisch sind. Unter dem genannten Gesichtspunkt differenzieren beide Sprachen also lexikalisch und semantisch wesentlich feiner in der zeitlichen Sphäre als in der räumlichen. Mit anderen Worten: Wer Sachverhalte außerhalb des Sprechmoments thematisiert, wird von den Sprachsystemen zu expliziteren Informationen gezwungen als derjenige, der von nicht 'hier' Befindlichem spricht.

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tische Information der Adverbien zur Deixis ,am Phantasma umgestaltet wird, also zu einer Möglichkeit der Versetzung (des Autors, des Erzählers oder des Lesers) in die erzählte Welt, deren vertrauter oder psychologisch intimer Charakter durch die Adverbien des Typs 'hier'/'jetzt' unterstrichen wird. Weniger voraussehbar war eine diachron-semantische Gemeinsamkeit beider Sprachen: die Tatsache, dass der Weg von der situationsdeiktischen zur textdeiktisehen (anaphorischen) Bedeutung meist über eine oppositive Zwischenstufe (z. B. maintenant versus autrefois, jetzt versus früher, 'hier' versus 'anderswo') führte. Die Gründe für diese Erscheinung liegen wohl darin, dass bei einer vom Autor angestrebten zeitlichen oder räumlichen Kontrastbildung innerhalb des Recit von den Deiktika 'hier' und 'jetzt' ein ausdrucksstärkerer Polarisierungsoder Gliederungseffekt ausgeht als von einer Kontrastierung mit Hilfe ausschließlich anaphorischer Adverbien (z. B. zu der Zeit versus später/daraufhin). Die Deiktika in nicht-deiktischer Umgebung standen also ursprünglich überwiegend im Dienste einer rhetorischen Hervorhebungsstrategie. Der fundamentale Gegensatz zwischen beiden Literatursprachen, der aber aus der Sicht des deutsch-französischen Sprachvergleichs ebenfalls nicht völlig überraschend ist, liegt im unterschiedlichen Umgang mit den Kategorien der Zeit und des Raumes. Während die französische Literatur bis in die jüngere Vergangenheit ihre Phantasma-Effekte aus der zeitlichen Deixis zieht (auf stilistisch eingrenzbare Sonderentwicklungen von ici wurde hingewiesen), setzt die deutsche Literatur in diesem Bereich seit zwei Jahrhunderten auf Raumdeixis. Es stellt sich hier die nur in der Diskussion mit Literaturwissenschaftlern zu lösende Frage, ob und in welchem Maße diese Erscheinung aus der kontrastiven Analyse der Sprachsysteme (vgl. Blumenthal 1997, 48-72) ableitbar ist oder aber im Zusammenhang mit anderen gegensätzlichen Strukturen deutscher und französischer Romane gesehen werden muss. Die genaue Ausgestaltung der großen und trotz aller Studien zum Thema etwas vage bleibenden Sphäre der Deixis am Phantasma ist von Sprache zu Sprache, wenn nicht von Autor zu Autor verschieden. Für das Deutsche hatten wir festgestellt, dass hier die Fähigkeit besitzt, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Haupthandlungsstrang zu fokussieren; der Vorgang kann sich mit der Signalisierung einer zentralen Personenperspektive verbinden (Goethes Wahlverwandtschaften). An dieser Stelle sei aber noch einmal gesagt, dass eine andere Korpusauswahl wahrscheinlich noch weitere stilistische oder rhetorische Funktionen von nicht-deiktischem hier zu Tage gefördert hätte. Im Französischen sind wir bei Flaubert und bei Zola auf zwei verschiedene durch maintenant/'ä present signalisierte Versetzungsmöglichkeiten gestoßen: In Madame Bovary bedeuten diese Adverbien, grob gesagt, psychologische Nähe zu einer der Personen, und insbesondere der Heldin. In Germinal signalisieren sie in engem Zusammenwirken mit Kategorien des Aspekts und der Aktionsart Etappen in der visuellen Entdeckung der fiktionalen Wirklichkeit.

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Auf eine archaischere Form der Textgliederung durch Deiktika (Signalisierung einer erreichten räumlichen Etappe) sind wir auch in der deutschen Literatur der Zeit vor Goethe gestoßen. In Anbetracht des beschränkten Umfangs unseres Korpus haben wir uns einer Frage, die durch weitere Untersuchungen vertieft werde müsste, nur mit größter Vorsicht genähert: Inwieweit sind beobachtete Funktionen zeitlicher und räumlicher Deiktika an den persönlichen Stil eines Autors (oder auch nur einer seiner Schaffensphasen) gebunden, inwieweit spiegeln sie Charakteristika und Umgestaltungen einer kollektiveren Sprachebene wie der literarischen Norm oder sogar des Sprachsystems wider? Diese Frage ist keineswegs ihrer Natur nach unbeantwortbar. Sie verlangt allerdings nach Textanalysen in einem Umfang, der weit über das hier Versuchte hinausgeht. Eben die beachtliche funktionale Verschiedenheit und die historische Variation der Deiktika-Verwendung in der "epischen Fiktion" ließ Kate Hamburgers Thesen zu diesem Thema als zu schematisch erscheinen.

5. Literaturverzeichnis Blumenthal, Peter (21997): Sprachvergleich Deutsch-Französisch. Tübingen. Bühler, Karl (21965): Sprachtheorie. Stuttgart. Ducrot, Oswald / Schaeffer, Jean-Marie (1995): Nouveau dictionnaire encyclopedique des sciences du langage. Paris. Ehrich, Veronika (1992): Hier und Jetzt. Studien zur lokalen und temporalen Deixis im Deutschen. Tübingen. Grünbeck, Bernhard (1976): Moderne deutsch-französische Stilistik auf der Basis des Übersetzungsvergleichs. Heidelberg. Hamburger, Käthe (31977): Die Logik der Dichtung. Stuttgart. Jeandillou Jean-Franfois (1997): L 'analyse textuelle. Paris. Vater, Heinz (1992): Einführung in die Textlinguistik. München. Weinrich, Harald (31977): Tempus. Erzählte und besprochene Welt. Stuttgart.

Bernhard Böschenstein

Nominaldetermination im Deutschen und Französischen Beobachtungen an zwei Gedichten und ihren modernen Übersetzungen (Rimbauds Bateau ivre in Celans Fassung und Hölderlins Ister in du Bouchets Version) l. Einleitung Gottfried Kolde hat in der mir gewidmeten Festschrift Zwiesprache. Theorie und Geschichte des Übersetzens (1996) ein Zeichen der Freundschaft gesetzt, indem er unter dem fast gleichlautenden Titel ein französisches Gedicht mit seiner Übersetzung ins Deutsche und ein deutsches Gedicht mit zwei Übersetzungen ins Französische verglichen hat. Seine übersichtliche Statistik über die Verwendung des Artikels in den Originalen und in den ihnen entsprechenden Übersetzungen ergibt, grob gesprochen, als Hauptunterschied eine fast doppelt so häufige Artikellosigkeit in Gottfried Benns Gedicht Der Arzt (1917) gegenüber den französischen Übersetzungen. Für Saint-John Perses Exil (1941) kann eine nicht sehr starke Verringerung des definiten Artikels in der Übersetzung von Friedhelm Kemp gegenüber dem Original festgestellt werden. Sonst sind, mit Ausnahmen des durch das grammatikalische System motivierten partitiven Artikels in den französischen Übersetzungen Benns, den es im Deutschen nur als abwesenden Artikel gibt, die Abweichungen im Artikelgebrauch zwischen den französischen und den deutschen Texten eher unerheblich, gleichgültig, ob es sich bei der Original- und bei der Übersetzungssprache um das Französische oder um das Deutsche handelt. Diese sorgfältig hergeleiteten Ergebnisse führe ich teilweise auch auf die Einstellung der Übersetzer zurück. Friedhelm Kemp ist bekannt dafür, dass er sich als Übersetzer des von ihm hochverehrten Saint-John Perse, der ihm die Alleinrechte für die deutsche Übersetzung seiner sämtlichen Werke gewährt hat, möglichst nah an die Vorlage angeschmiegt hat. Die französischen BennÜbersetzungen werden dies aus Respekt für das Original ähnlich gehalten haben, wofern die Sprachgewohnheiten des Französischen es zuließen. Benns provokativer Artikelverzicht wurde im Französischen als zu kühn, als zu sehr gegen die Norm verstoßend angesehen, um nachgeahmt werden zu können: "Finger wird berochen." - "On flaire son doigt." oder "On renifle son doigt."; "Rosine aus dem Zahn geholt." - "On va chercher le raisin dans la dent." Die sonst weitgehenden Entsprechungen können freilich keineswegs dahin verallgemeinert werden, dass wir ihnen auch bei ändern Übersetzern begegnen müssten. Es gibt im Gegenteil geradezu entgegengesetzte Befunde.

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2. Rimbaud / Delan: Le Bateau ivre Wenn Paul Celan 1957 Arthur Rimbauds Bateau ivre von 1871 übersetzt, sind die Stellen abweichenden Artikelgebrauchs häufiger als die einer Entsprechung. Celan erscheint in dieser Hinsicht als ein unbotmäßiger Übersetzer, als einer, der im Deutschen die französische Rhetorik verändern möchte, aus der Überzeugung heraus, Untreue sei hier treuer als Treue, da die getreue Wiedergabe der im Französischen so viel selbstverständlicheren Rhetorik im Deutschen befremdlich wirken würde. Natürlich bestimmen rhythmische Zwänge sehr oft Celans Wahl. Auch sollte man oft den ganzen Vers, gelegentlich gar noch den folgenden betrachten, um seine Entscheidung genauer würdigen zu können. Mein Versuch hat z'weifellos einen geradezu abenteuerlichen Charakter: ohne die wissenschaftliche Kompetenz des geschulten Linguisten, der das gleiche Thema behandelt hat, versuche ich, die Abweichungen im Artikelgebrauch, die Celan gegenüber Rimbaud aufweist, zu kommentieren. Dabei möchte ich die in ihrer Unterschiedlichkeit signifikantesten Einzelverse herausheben: Der erste Vers fällt im Französischen dadurch auf, dass "Fleuves" großgeschrieben wird. Nicht irgendwelche Flüsse, sondern mächtige, gewichtige Flüsse müssen es sein, die diese Großschreibung rechtfertigen. Dies könnte den definiten Artikel in der Übersetzung motivieren: Conune je descendais des Fleuves impassibles Hinab glitt ich die Flüsse, von träger Flut getragen

Könnte man sich hier im Deutschen einen unbestimmten Artikel vorstellen, der ja formal durch Abwesenheit ausgedrückt werden müsste? In der Poesie scheint der unbestimmte Artikel im Plural manchmal erst dann brauchbar zu sein, wenn ein Adjektiv in die Lücke tritt, was hier nicht geschieht. Die Prägung "die Flüsse" in der ersten Verszeile bringt eine vom Übersetzer gewollte Verfremdung. Der Schein des Vertrauten erhöht die Fremdheit, wenn, da das Gedicht hier einsetzt, kein Bezug auf früher Erwähntes möglich ist. Beim ersten Vers der zweiten Strophe liegen die Verhältnisse anders: J'e"tais insoucieux de tous les dquipages Ich scherte mich den Teufel um Männer und um Frachten

Indem der Plural sowie die Totalität im Ausdruck "de tous les equipages" durch eine Doppelformel "um Männer und um Frachten" wiedergegeben wird, ist der im Französischen nach "tous" zu erwartende bestimmte Artikel in der deutschen Fassung nicht mehr nötig, zumal ja auch die wörtliche Übersetzung "um alle Mannschaften" keinen definiten Artikel enthalten hätte. Hier ist also die jeweilige grammatikalische Systematik in beiden Sprachen, der unterschiedliche Gebrauch des Artikels nach tous bzw. alle, am Ursprung der unterschiedlichen Handhabung des Artikels in der Übersetzung. Im zweiten Vers der dritten Strophe: plus sourd que les cerveaux d'enfants wie Kinderhime stumpf

Nominaldetermination im Deutschen und Französischen

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verhält es sich ähnlich. Wörtlich übersetzt müsste es heißen: "stummer als Kinderfilme". Der Komparativ zieht hier, anders als im Französischen, im Deutschen den unbestimmten Artikel nach sich. Dies mag auf die deutsche Übersetzung abgefärbt haben. In der vierten Strophe heißt es im zweiten Halbvers: j'ai danse sur les flots tanzt ich dahin auf steiler Welle:

Der Plural "les flots" bringt vom Inhalt her eine unbestimmte Konnotation mit sich, die im Deutschen durch den unbestimmten Artikel, hier in der Form der Abwesenheit, bestätigt wird.1 Ohne Adjektiv wäre der Singular mit abwesendem Artikel grammatikalisch nicht möglich: "auf Welle". Die nahe liegendste Übersetzung "tanzt ich auf den Wellen" fand Celan sicher zu banal. In der fünften Strophe wird die generisch gefasste Unbestimmtheit in "dispersant gouvemail et grappin" durch die entsprechende, dazu noch chiastische Doppelformel mit bestimmtem Artikel angemessen wiedergegeben. Auch die Bestimmtheit wird im Deutschen, dank der Verdoppelung, hier generisch: "fort schleudert es das Steuer, der Draggen barst und sank." In der sechsten Strophe wird aus Dovorant les azurs verts Grünhimmel trank ich

wobei im Französischen der dem kosmischen Plural beigegebene bestimmte Artikel paradoxerweise unbestimmter wirkt als der ihm entsprechende unbestimmte Artikel "des", so dass die deutsche Fassung adäquat wirkt. In der achten Strophe gibt die Verdoppelung von "Auge" für doppeltes "voir" eine feierliche Formel wieder: Et j'ai vu quelquefois ce que /"homrne a cru voir. und manchmal sah mein Auge, was Menschenauge träumt.

"Menschenauge" ist auf seine komplexer strukturierte Weise dennoch ähnlich fundamental wie "/'homme". Die Formelhaftigkeit wird im Deutschen durch den abwesenden Artikel erhöht. In der zehnten Strophe wird durch Verdoppelung der Substantive zwar die Unbestimmtheit des Hauptworts "Ein Kreisen" für "La circulation" noch gesteigert: La circulation des saves inou'fes Ein Kreisen wars von Säften, ein unerhörtes Weben

Jedoch führt die Verstärkung in der deutschen Fassung dazu, dass ein Äquivalent für den französischen bestimmten Artikel geschaffen wird. In der elften Strophe ist "J'ai suivi [...] la houle ä l'assaut des recifs" im Französischen schwerlich mit unbestimmtem Artikel auszudrücken, im Deutschen "Ich folgt [...] der See, die Klippen stürmte" wiederum der bestimmte Artikel hier aus rhythmischen Gründen nicht brauchbar. 1

Ich verzichte auf den z. B. in Harald Weinrichs Textgrammatik der französischen Sprache verwendeten Ausdruck Null-Artikel.

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Bernhard Böschenstein Die fünfzehnte Strophe endet mit dem Vers Et rf'ineffables vents m'ont aite par instants. Der Wind, der Wind unsäglich, der meine Fahrt beschwingt!

Die von Celan oft bevorzugte Verdoppelung im Deutschen kann die Unsäglichkeit verstärken und mit ihr die Unbestimmtheit, die "unsäglich" enthält, so dass der bestimmte Artikel seine sonstige Funktion verändert. In der neunzehnten Strophe konzentriert sich der Blick auf das spezifische Wort "ciel", das im Deutschen durch Pluralisierung und Erweiterung infolge der Komposition in der Zusammensetzung "Feuerhimmel" für "le ciel rougeoyant" durch die von der Grammatik vorgeschriebene Abwesenheit des unbestimmten Artikels an Ausdruckskraft gewinnt. In der einundzwanzigsten Strophe greift Celan zu seinen eigensten Möglichkeiten: Fileur oternel des immobilitis bleues ich schwamm und schwamm durch blaue, durch Regungslosigkeiten

Celans doppelte Wiederholung ("schwamm", "durch") bringt die hier notwendige räumliche Ausdehnung hervor, die durch den unbestimmten Artikel nur gewinnt. In der zweiundzwanzigsten Strophe wird "les cieux delirants" mit "Fieberhimmel" wiedergegeben. Die Determination im Französischen ist vom vorangestellten "dont" abhängig; im Deutschen bilden wieder, wie bei "Feuerhimmel", der Plural und das Kompositum zusammen einen kompakten Ausdruck, den nur der expressive unbestimmte Artikel in Gestalt der Abwesenheit begleiten kann. In der dreiundzwanzigsten Strophe ist L'äcre amour m'a gonflo ich schwoll von herber Liebe

im Französischen trotz bestimmtem Artikel eine so unbestimmte Größe, dass der abwesende (unbestimmte) Artikel im Deutschen im Verein mit dem vorangestellten Adjektiv genügend profiliert ist, um eine Entsprechung zur französischen Formel zu bieten. Die vorletzte Strophe biegt von der gewaltigen Meeresfahrt zurück zu la flache Noire et froide ein schwarzer Tümpel, kalt

Da dies armselige Wasser in der Folge näher umschrieben wird, ist die Qualität des Artikels beinahe gleichgültig. Die präzise Fortsetzung gewährt ohnehin genügend Bestimmtheit und macht so das Problem der Wiedergabe des Artikels irrelevant. Die letzte Strophe schließt den Kreis und wendet sich zum Anfang zurück. Dort war der französische Text mit bestimmtem Artikel versehen: "tous les equipages", dem jetzt "aux porteurs de cotons" entspricht, während an die unbestimmtere, aber verdoppelte deutsche Formel "um Männer und um Frachten"

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jetzt in "hinter Frachten und Baumwollträgem" erinnert wird, wobei auch diesmal im Deutschen der Gebrauch des unbestimmten Artikels hinzukommt. Der Sinn dieser ausfuhrlichen Gegenüberstellungen liegt in der jeweils individualisierten Situation jedes in den beiden Sprachen mit unterschiedlichem Artikel wiedergegebenen Einzelverses. Die teils grammatikalisch, teils rhythmisch, teils semantisch, teils durch kontextuelle Zutaten wie Verdoppelung, Substantiv-Komposition, syntaktische Umstellung begründete Abweichung in der Behandlung des Artikels durch den Übersetzer gegenüber dem Original fällt stärker ins Gewicht als das Gebot purer Wörtlichkeit, das für Celan in der Phase seiner reimenden 'Umdichtungen', in den Jahren 1952-1961, nicht gilt. (Der spätere Celan wird z. B.Henri Michaux' Prosa und prosanahe Dichtung 1966 viel wörtlicher wiedergeben und auch den Artikel jeweils viel treuer übersetzen, weil er ein nicht auf rhythmisch-syntaktische Verwandlung angelegtes Übersetzungsverfahren anstreben wird.) Der enorme Freiraum, der dem deutschsprachigen 'Umdichter' hinsichtlich der Wahl des Artikels bei gereimten französischen Gedichten seit George und Rilke zur Verfügung steht, wird von Celan nie gedankenlos genutzt. Vielmehr ist auch für ihn, wie für seine großen Vorgänger, die Möglichkeit, im Deutschen den französischen Artikel manchmal wörtlich, manchmal abweichend wiederzugeben, eines der wichtigsten Mittel, das der Übersetzer von Gedichten einzusetzen vermag. Die Überprüfung der einzelnen Unterschiede führt zum Ergebnis, dass angesichts der fast vollständigen Freiheit die jeweilige Entscheidung die Intention des übersetzenden Dichters mit besonderer Präzision offenlegt. Gäbe es durchweg allgemeine grammatikalisch bindende Regeln, wäre dies so nicht möglich. Freilich steckt hinter dem ungewöhnlichen Ausmaß an Abweichungen auch eine heimlich leitende Überzeugung: Ein Gedicht von 1871, 1957 übersetzt, wird als Gegenstand notwendig gewordener innovativer Revision betrachtet, wenn es, wie dies hier der Fall ist, in seinem Satz- und in seinem Versbau traditionellen Mustern folgt - dem Alexandriner, der alternierenden Reimordnung a b a b, der vierzeiligen Strophe. Enjambements kommen im Bateau ivre zwar öfters vor, aber sie haben keinen provokativen Charakter. Sogar die Mittelzäsur des Alexandriners wird oft noch eingehalten. Celans Wahl des Nibelungenverses an Stelle des Alexandriners zwingt ihn freilich, der Mittelzäsur mehr Gewicht zu verleihen als Rimbaud, aber sie deutet auch auf sein Bewusstsein von der Notwendigkeit, die abgegriffene deutsche Blankversgewohnheit beim Übersetzen französischer Alexandriner abzustreifen.

3. Hölderlin / du Bouchet: Der Ister Von den mit Celan befreundeten und mit ihm in gemeinsamer Arbeit verbundenen französischen Dichtem der Gegenwart ist vor allem Andre du Bouchet zu nennen, dessen frühen Gedichtband Dans la chaleur vacante (Vakante Glut) von 1961 Celan 1967 übersetzt hat. Andre du Bouchet, wie Celan einer der

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Mitherausgeber der Zeitschrift für Dichtung L'Ephemere, hat seinerseits manche Gedichte Celans aus allen seinen Epochen übersetzt, aber auch eine Auswahl von Hymnen und hymnischen Fragmenten Hölderlins. Wenn ich nun als französisches Gegenbeispiel zu Celans Rimbaud-Übersetzung Andre du Bouchets Übertragung von Hölderlins später Hymne Der Ister von 1803 betrachte (1986), so einerseits deshalb, weil zwar auch hier manche beachtlichen Abweichungen vom Original im Artikelgebrauch der Übersetzung erscheinen, andererseits, weil wir es bei Hölderlin wie bei du Bouchet sowohl in den originalen Werken wie in den Übersetzungen mit ausgeprägten Eigenheiten der Artikelverwendung zu tun haben. Hölderlin hat sich bei seinem Umgang mit dem Artikel in seinem Spätwerk von pindarischer Syntax inspirieren lassen. Du Bouchet ist von Mallarme, dem kühnsten Syntaktiker französischer Sprache, geprägt. Hölderlins späte Hymnen und Mallarmes Gedicht- und Prosawerk sind, anders als Rimbauds Bateau ivre, syntaktisch revolutionär. Sie durchbrechen abrupt die bisherigen syntaktischen Gewohnheiten und werden in den betreffenden Teilen ihres Schaffens deswegen erst längere Zeit nach ihrem Tod rezipiert, Mallarme etwa fünfzig Jahre, Hölderlin erst hundert Jahre danach. Ich werde auch hier die abweichenden Verse hervorheben, freilich jeweils in etwas größerem Zusammenhang: Wenn nämlich Krauter wachsen, Und an denselben gehn Im Sommer zu trinken die Tiere, So gehn auch Menschen daran. (V. 17-20)

"Wenn nämlich Krauter wachsen [...]" - "Oui, quand /'herbe pousse [...]": Dem deutschen indefiniten Plural entspricht im Französischen ein Singular mit definitem Artikel. Der Hölderlin'sehe Vers ist hier nach pindarischem Vorbild gnomisch, er stellt allgemeine Gesetze auf. Dem gnomischen Stil entspricht im Deutschen der indefinite Plural und im Französischen der definite Singular, der gnomischen Charakter annimmt. Man nennet aber diesen den Ister. Schön wohnt er. Es brennet der Säulen Laub, Und reget sich. Wild stehn Sie aufgerichtet, untereinander; darob Ein zweites Maß, springt vor Von Felsen das Dach. So wundert Mich nicht, daß er Den Herkules zu Gaste geladen, Femglänzend, am Olympos drunten, Da der, sich Schatten zu suchen Vom heißen Isthmos kam, Denn voll des Mutes waren Daselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen, Der Kühlung auch. Darum zog jener lieber An die Wasserquellen hieher und gelben Ufer, Hoch duftend oben, und schwarz Vom Fichtenwald, wo in den Tiefen Ein Jäger gern lustwandelt Mittags, und Wachstum hörbar ist An harzigen Bäumen des Isters (V.

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"Es brennet der Säulen Laub" - "Flambe ä des colonnes un feuillage": die französische Unbestimmtheit ist spezifischer als die deutsche Bestimmtheit. Diese setzt eine Vertrautheit voraus, die für Hölderlin, der den Wald seiner heimatlichen Landschaft an der oberen Donau in einen griechischen Säulenwald verwandelt, doppelt vorhanden ist, in abendländischer und in antiker Hinsicht, für du Bouchet in doppelter Weise fehlt. "[...] darob / Ein zweites Maß, springt vor / Von Felsen das Dach. So wundert / Mich nicht, daß er / Den Herkules zu Gaste geladen [...] / Da der, sich Schatten zu suchen [...]" - " [...] par-dessus, / Seconde envergure, avance / Le toit de la röche. Aussi vois-je / L'accueil maintenant / Qu'a Hercule il dut offrir [...] / Lorsque lui-meme, cherchant /'ombre [...]": Der abwesende unbestimmte Artikel im Französischen hat heute eher Seltenheitswert, er kann, wie hier, in einer Apposition stehen. Diese erlangt durch die ungewöhnliche Weglassung des Artikels poetisierende, erhöhende Kraft. Hölderlins Formel "den Herkules" enthält die Vertraulichkeit, die mit der Einladung nach Schwaben einhergeht. Auch hier wird der französische Dichter die entsprechende Tonart nicht übernehmen wollen. "Schatten" durch "/Ombre" zu übersetzen, ist für ihn vorteilhafter, da der deutsche generische Ausdruck im Französischen durch einen bestimmten Artikel poetischer wiedergegeben werden kann als durch den partitiven Artikel "de /Ombre". Dieser wäre trotz seiner Unbestimmtheit zu spezifisch, der abwesende Artikel dagegen wäre nicht idiomatisch. "[...] wo in den Tiefen / Ein Jäger gem lustwandelt / Mittags, und Wachstum hörbar ist / An harzigen Bäumen des Isters" - " [...] oü, dans un val, / Le chasseur, ravi, erre / A midi, alors que entend grandir / Les arbres resineux de l'Ister": Die Tiefen sind Hölderlin vertraut, du Bouchet fremd. Er muss sie spezifizieren, wozu der unbestimmte Artikel nötig ist. Umgekehrt ist die Unbestimmtheit des Jägers im Französischen durch den bestimmten Artikel genau wiedergegeben, weil damit die Verallgemeinerung ausgedrückt werden kann. Dadurch, dass du Bouchet statt "wo [...] Wachstum hörbar ist" "alors que entend grandir" setzt, hat er die enge Verkettung des artikellosen Worts "Wachstum" mit den artikellosen "harzigen Bäumen" geschwächt, so dass er diese jetzt mit definitem Artikel versehen kann: "Les arbres resineux de l'Ister". Hätte er hier "des" gesetzt, wären die Bäume zu sehr spezifiziert worden. Gegen Schluss fasst eine lehrhafte pindarische Gnome die unfruchtbare Situation des Isters gegenüber dem feurigen jungen Rhein zusammen: "Es brauchet aber Stiche der Fels / Und Furchen die Erd'" (V. 68f.) - "Mais la röche appelle /'entame, / Et la terre le sillon": die französische Artikel-Symmetrie - zweimal definit - gegenüber der deutschen Opposition zwischen Akkusativobjekt und Subjekt, indefinitem und definitem Artikel zeigt einen interessanten Gegensatz zwischen beiden Sprachen an: Die größere Intensität kommt durch den abwesenden Artikel zustande. So wird der Eingriff der Stiche und der Furchen durch die Artikellosigkeit gesteigert. Im Französischen erzwingt die Symmetrie der Formel eine ästhetische Korrespondenz, die geschlossener, harmonischer wirkt, aber der verletzenden, kreativen Dynamik der deutschen

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Opposition entbehrt. Diese Stiche, diese Furchen sind die Verse, die der Dichter einschreibt. Die poetologische Dimension ist mit der Etymologie verknüpft (versus ist ja von vertere - wenden, wie mit dem Pflug - abgeleitet). Wenn bei diesem zweiten Gedichtvergleich die Abweichungen im Artikelgebrauch seltener sind und aus dem verschiedenen Verhältnis beider Dichter zum Gegenstand des Gedichts, der schwäbischen Landschaft, wie aus der unterschiedlichen Wiedergabe pindarisierender Sprache im Deutschen und im Französischen resultieren, so liegt dies, wie vorhin angedeutet wurde, auch daran, dass beide Dichter, Hölderlin wie du Bouchet, ein bewusstes Verhältnis zum syntaktischen Traditionsbruch haben, dem sich ihre Dichtung verschrieben hat. Die literaturgeschichtliche Begründung hat hier einen entscheidenden Anteil am spezifischen Befund des Artikelgebrauchs in Hölderlins Ister und in dessen französischer Wiedergabe durch Andre du Bouchet. Die hochgradig individuelle Motivation des jeweiligen Artikelgebrauchs in poetischen Texten und ihren dichterischen Übersetzungen, wo literaturgeschichtliche Konstellationen, grammatische Systeme, rhythmische Verhältnisse, stilistische Eigenheiten für die Originale und für die Übersetzungen in je durchaus unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen werden müssen, hat zur Folge, dass im gegenwärtigen Stadium der Forschung lediglich deskriptive Annäherungen möglich zu sein scheinen, nicht verallgemeinernde Ergebnisse. Daher setzt sich dieser Beitrag fast nur aus konkreten Beispielen zusammen und zeigt eine Scheu vor Generalisierungen. Der Jubilar wird diese Scheu sicher im vollen Maße verstehen.

4. Literaturverzeichnis Benn, Gottfried (1917/1986): Der Arzt. In: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Schuster, Bd. 1. Stuttgart, 14f. Bonnefoy, Yves et al. (Hg.) (1967ff.): L 'Ephemere. Revue trimestrielle. Paris. Du Bouchet, Andro (1961): Dans la chaleur vacante. Paris. Celan, Paul (1958/1983): Arthur Rimbaud: Das trunkene Schiff. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Bd. 4: Übertragungen I. Frankfurt a. M., 102-109. (1968/1983): Andro du Bouchet: Vakante Glut. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Bd. 4: Übertragungen I. Frankfurt a. M., 168-345. Hölderlin, Friedrich (1986): L'Ister. In: Poemes. Traduits de l'allemand par Andro du Bouchet. Edition bilingue. Paris, 61-65. (1916/1992): Der Ister. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Jochen Schmidt. Bd. 1. Frankfurt a. M., 362-364. Kolde, Gottfried (1996): Nominaldetermination im Deutschen und Französischen. Beobachtungen an zwei modernen Gedichten und ihren Übersetzungen. In: Ulrich Stadier (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart/Weimar, 219-233. Rimbaud, Arthur (1883/1954): Le Bateau ivre. In: Oeuvres completes. Paris, 100-103. Saint-John Perse (1942/1972): Exil. In: CEuvres completes. Paris, 121-137. Weinrich, Harald (1982): Textgrammatik der französischen Sprache. Stuttgart.

Renate Böschenstein

Lorenzos Wunde Sprachgebung und psychologische Problematik in Thomas Manns Drama Fiorenza

l. Das verbotene Bekenntnis "Mit dem Worte stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie bleiben stehen, wenn sie beim Worte bleiben. Wer weiter schreiten will, [...] der muß sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen" (Mauthner 1923, 1). Die frühe Produktion des Autors Thomas Mann entsteht in einer literarischen Sphäre, für die der Zweifel an der Tauglichkeit der Sprache zur Erkenntnis, wie ihn Nietzsche, Hofmannsthal oder Mauthner umkreisen, fundamental ist. Wie lässt es sich verstehen, dass uns gerade von einem so sehr dem Zweifel und der Skepsis verhafteten Autor wie dem jungen Thomas Mann keine vergleichbaren Texte vorliegen? Ja, dass er, weit entfernt, nach Erlösung von der Sprache zu verlangen, die Sprache als einzige Erlöserin begrüßt? Einem Brief an den Freund Grautoff aus dem Jahre 1898 ist ein Gedicht beigegeben, das alles Heil in der Sprache sucht:

[·»]

Und weil der Menschen Seele zu ergründen Hohnvoll auch mich der Drang gefangen hält, Will ich es euch mit schwerem Worte künden: Erkenntnis ist die tiefste Qual der Welt. Denn Eines ist es, was in allem Leiden Uns stark erhält und aufrecht fort und fort, Ein trostreich Spiel voll höchster feinster Freuden den Unglückseligsten: Es ist das Wort. (Mann 1894-1928/1975, 109)

Das die beiden Strophen verbindende denn muss sich auf das vorangehende schwere Wort beziehen, auf die Möglichkeit also, die Einsicht in die Qual der Erkenntnis TM formulieren, eine Möglichkeit, an der offenbar nicht grundsätzlich gezweifelt wird. Natürlich bin ich nicht die erste, der die Absenz von Sprachkritik bei Thomas Mann aufgefallen ist. Ulrich Dittmann hat in seinem Buch über Sprachbewußtsein und Redeformen im Werk Thomas Manns nachzuweisen gesucht, dass es zwar keine theoretischen Ausführungen zum Thema gibt, dass sich aber in narrativer Form eine implizite Sprachkritik beobachten lasse. Er zieht die frühe Skizze Enttäuschung heran, in der dem Icherzähler ein - vage mit den Zügen Nietzsches versehener - Unbekannter mit Bitterkeit schildert, wie alle ihm in der Realität begegnenden Phänomene den großen Erwartungen, welche ihre

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sprachliche Evokation in ihm erweckt hatte, nicht standhielten. Mit Recht hat aber Hubert Ohl in seinem dem Frühwerk gewidmeten Buch Ethos und Spiel (1995,60) dagegen eingewandt, dass der Kontrast von Illusion und Wirklichkeit nicht identisch ist mit dem grundsätzlichen Zweifel an der Ausdrucksfähigkeit der Sprache. Ohl, der sonst gerade die primäre Prägung des jungen Autors durch die Wiener "Modernen" betont, sieht ihn im Bereich der Sprachkritik ihrem Einfluss entzogen, obgleich sie ihm aus seiner Zeitschriftenlektüre bekannt sein musste. So hält es Ohl für undenkbar, dass Thomas Mann den im Oktober 1902 im Berliner Tag erschienenen Chandos-Brief nicht kannte. Nun zeigen Thomas Manns Notizen zu dem geplanten Aufsatz über Geist und Kunst, dass ihm die seine Kollegen beunruhigenden Sprachzweifel doch nicht ganz fremd waren.1 Er zeichnet sprachkritische Bemerkungen Goethes und Schopenhauers auf: "Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren." "Sobald nämlich unser Denken Worte gefunden hat, ist es schon nicht mehr innig, noch im tiefsten Grunde ernst" (Mann 1909-1913/1967, 219f.). Von den Essays, in denen er das Material zu Geist und Kunst verwertete, ist aber keiner einer ausführlichen Diskussion des Themas gewidmet. War es für ihn vielleicht schon durch ein implizites Verfahren, nämlich die Wahl einer anderen Gattung, überholt? Für Hofmannsthal bedeutete bekanntlich der Übergang zur Produktion von Theaterstücken und Opemtexten die Möglichkeit, durch die Integration der Sprache in ein größeres Ganzes ihrer Unzulänglichkeit abzuhelfen. Nun besitzen wir auch vom jungen Thomas Mann ein Theaterstück, das dreiaktige Drama Fiorenza. Da es - zu seinem Schmerz - wenig Erfolg hatte und auch heute, obgleich außerordentlich aufschlussreich für sein Denken, ziemlich marginalisiert ist, scheint es nicht überflüssig, seine äußere Struktur ganz kurz zu skizzieren. Brennpunkt ist der Tod des Herrschers von Florenz, Lorenzo de' Medici, am 8. April 1492. Schauplatz ist die Mediceer-Villa in Careggi, Zeitraum der Nachmittag des Todestages. Im l. Akt wird der Tod vorbereitet durch Gespräche der dem kunstbegeisterten Lorenzo befreundeten Humanisten Poliziano und Pico della Mirandola mit dem jungen Sohn Lorenzos, dem Kardinal Giovanni. Thematisiert werden die starke Publikumswirkung von Lorenzos Gegenspieler, dem asketischen Kanzelredner Savonarola, und dessen heftige öffentliche Invektive gegen Fiore, die - ihn provozierende - Geliebte des Magnifico. Der 2. Akt führt zunächst die Schar der von Lorenzo protegierten Künstler vor und lässt dann Fiore selbst sowie Piero, den älteren Sohn Lorenzos, einen groben Machtmenschen, auftreten. Die Gespräche in diesem Akt evozieren die in der Stadt Florenz herrschenden Spannungen. Erst im letzten Akt erscheint der todesnahe Herrscher selbst, der, nach Gesprächen mit Freunden, Künstlern, Söhnen und der Geliebten, welche eine Retrospektive auf sein Leben entrollen, mit Savonarola konfrontiert wird. Ihr Streitgespräch mündet in das Sterben Lorenzos und eine Vorausdeutung auf Savonarolas Feuertod.2 1 2

Zu diesem wichtigen Fragment vgl. den einleitenden Aufsatz von Wysling (1967). In die innere Struktur des Werkes filhrt sehr gut ein die - leider ungedruckte - Dissertation von Eilers (1967). Ein Exemplar der maschinenschriftlichen Fassung befindet sich im

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Wäre nun dieser dramatische Versuch vielleicht nicht nur Zeugnis von Thomas Manns früh erworbener Passion für das Theater, sondern auch Ausdruck eines heimlichen Misstrauens gegen das Vermögen einer ganz auf sich selbst gestellten Sprache? Aber der Autor betonte in seinen Kommentaren, dass das Stück wesentlich auf der Sprache beruhe. So sehr ihn das Bewusstsein der "Zwitterform" seiner nicht sehr theatergerechten Dichtung im ganzen quälte, so war er doch mit der sprachlichen Gestaltung zufrieden. "Psychologisch wird wohl ein paar mal an Äußerstes gerührt, und als Stilist glaube ich damit zu bestehen" (An Heinrich Mann, 18.2.1905; Wysling/Fischer 1975, 180). Aber eben die Bedeutung, welche gerade die sprachliche Seite des Stücks für ihn hatte, und die Empfindlichkeit, mit der er auf Kritik an dieser reagierte, weisen auf eine Sprachproblematik in Fiorenza, die spezifischer ist als die zeittypische allgemein-erkenntniskritische. Richard von Schaukai verletzte ihn tief, als er in seiner Kritik im Berliner Tageblatt vom 5.3.1906 ein "völliges Versagen des Dichterischen" in diesem Stück konstatierte. Der Kritiker ärgerte sich an den "stilisierten Schnörkeln" einer "drangsalierten Sprache". Umso dankbarer war der Autor für die "schönen Worte", mit denen Kurt Martens im Leipziger Tageblatt die Sprache von Fiorenza bedachte. "In einer wundersam prunkvollen und doch kristallklaren Sprache predigen sie [die Personen des Stücks] die Ideen ihres Schöpfers, der hier aus seinen düstersten Tiefen viel funkelndes Gestein zutage förderte" (21.3.1906). Indes erkennt Martens in den von ihm bewunderten Renaissancefiguren doch etwas "Maskenhaftes". "Düsterste Tiefen" "Masken": ein hellsichtiger Kenner des Autors und der Person Thomas Mann berührt hier durch die Wahl seiner charakterisierenden Ausdrücke wunde Punkte. In der Tat nehme ich an, dass Thomas Mann sich der Sprache gegenüber in einer sehr individuellen kritischen Position befand, welche sich so früh herausbildete, dass es zu jenem erkenntniskritischen Sprachzweifel gar nicht mehr kommen konnte: Der Immediatkontakt zwischen der Welt und dem eigenen Ich, wie ihn Hofmannsthal oder Benn ersehnten, war von vorn herein ausgeschlossen. Ich möchte nicht der Versuchung verfallen, Thomas Manns erotische Orientierung, nun wir einmal von ihr wissen, als Passepartout für das Verständnis seiner Werke zu gebrauchen, aber in Bezug auf sein Verhältnis zur Sprache scheint mir diese Perspektive unabdingbar. Es handelt sich um ein vorsichtiges Verschweigen und Umschreiben gegenüber Mitmenschen und Öffentlichkeit. Ja, sogar im Gespräch mit sich selbst, in den Tagebüchern, weiß noch der gealterte Autor, der große Rhetor, nur hilflose konventionelle Formeln zu finden: Die Augen seines letzten Geliebten, des Zürcher Kellners, sind "gar zu hübsch", er ist "etwas fürs Herz". Es ist nicht leicht, für jene Sprache, die im Gegensatz zur distanziert-künstlichen steht, eine Bezeichnung zu finden. Sie "unmittelbar" zu nennen, verbietet uns das Wissen, dass die Mediatisierung des Ausdrucks durch die vorgegebenen Strukturen der Sprache nicht hintergehbar ist. Thomas-Mann-Archiv, Zürich. Ich danke dem Archiv für die Erlaubnis zur Benutzung der Materialien zu Fiorenza und den dort tätigen Mitarbeiterinnen für ihre Hilfsbereitschaft.

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Vielleicht eignet sich "ungebrochen" am besten, wenn man unter der "Brechung" die stete Reflexion des eigenen Sprechens im Bewusstsein versteht. Ist auch die Vorstellung einer "natürlichen" Sprache ohne rhetorische Figuren eine Illusion, so gibt es doch zwischen dem mehr oder minder Mittelbaren eine Gradation, und unzweifelhaft befindet sich Thomas Manns Sprache am extremen Ende der Skala. Meine These ist nun, dass er sehr früh lernen musste, sich den am anderen Ende der Skala stehenden ungebrochenen, spontanen Ausdruck seiner Gefühle zu versagen, und dass sich dieser Verzicht, automatisiert, auf sein ganzes Sprechen und Schreiben übertrug, auch wo die Gegenstände nicht tabuisiert waren. Solcher Verzicht steht in engem Zusammenhang mit dem, was Thomas Mann später als seine "Montagetechnik" bezeichnete.3 Dieser Ausweg wurde ihm von der kulturellen Fülle seiner alexandrinischen Epoche angeboten. Bekanntlich muss jeder jugendliche Dichter eine Art von zweitem Spracherwerb durchmachen, in dem er sich mit einem oder einigen VorbildAutoren identifiziert, von denen er sich dann ablöst, um durch eine bestimmte Auswahl und Akzentuierung des zur Verfugung stehenden Sprachmaterials eine individuelle poetische Sprache zu gewinnen. Beim jungen Thomas Mann aber verlief der Prozess offenbar so, dass an die Stelle der Ablösung eine enorm gesteigerte Fähigkeit trat, sprachliche Modelle miteinander in einem komplexen Kunstgebilde zu kombinieren - was zugleich bedeutete, dass die Bereitschaft zur Identifikation bestehen blieb, bis hin zu dem, was der Autor von Lotte in Weimar seine "Unio mystica" mit Goethe nannte (Gesammelte Werke XI, 147). Während sich aber am Ende unseres Jahrhunderts bei den Lesern die Fähigkeit entwickelt hat, Intertextualität, komplexe Sprachstrukturen und Selbstreflexion als Vorzüge eines Textes zu würdigen, fand sich Thomas Mann an dessen Beginn konfrontiert mit einer Situation, in welcher die Erwartungen der Leser noch weithin vom Verlangen nach "Originalität" und unmittelbarem Gefühlsausdruck bestimmt waren. Er litt unter den Kritiken, die ihm Kälte und Künstlichkeit vorwarfen. Auf einer anderen Ebene war ihm selbst, der seine Produktion als "Intimitäten und Confessionen" verstand, wie er 1904 an seine verständnisvolle Freundin Ida Boy-Ed schrieb (Mann 1894-1928/1975, 146), die Sehnsucht nach ungebrochenem sprachlichem Ausdruck sehr vertraut. Noch der alte Autor notiert bei der Lektüre eines Romans von Anna Seghers melancholisch, er hüte sich vor Geringschätzung angesichts der Absenz von "Artistik und sprachlicher Lust" bei dieser Schriftstellerin. "Empfinde dabei Spiel, Witz und Ironie als Leere [...]. Schließlich ist mein Werk ein Notbehelf- mit einigem Kulturreiz" (Mann 1949-1950/1991, 3.7.1950). Jahrzehnte zuvor hatte er öffentlich im Gesang vom Kindchen sein Verlangen nach einer anderen als kritisch-narrativen Sprache bekannt, das ihn aber in eine beschämende Niederlage geführt hatte: Weißt du noch? Höherer Rausch, ein außerordentlich Fühlen Kam auch wohl über dich einmal und warf dich danieder, Daß du lagst, die Stim in den Händen. Hymnisch erhob sich Zu diesem Zusammenhang vgl. Böschenstein (1997).

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Da deine Seele, es drängte der ringende Geist zum Gesänge Unter Tränen sich hin. Doch leider blieb alles beim alten. Denn ein versachlichend Mühen begann da, ein kältend Bemeistern, Siehe, es ward dir das trunkene Lied zur sittlichen Fabel. (Gesammelte Werke VIII, 1069)

Die Erinnerung an jenen Fehlschlag könnte sich auch auf Fiorenza beziehen, auf jenen "Versuch eines Liedes in höherem Tone", wie er das Stück später nannte (Gesammelte Werke XII, 94). Hier war eine Möglichkeit eröffnet, den Figuren eine ungebrochene Rede zu erlauben. Das gebrochene, reflektierte Schreiben, das der junge Autor als das ihm gemäße Verfahren entwickelt hatte, war gebunden an die Instanz des ihm eigentümlichen analytischen Erzählers. Zweimal teilte er im Laufe des Jahres 1897 Grautoff eine Art Durchbruch mit, den er mit dem Kleinen Herrn Friedemann erlebt hatte: "[...] während ich früher eines Tagebuchs bedurfte, um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtem, finde ich jetzt novellistische, öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Haß, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen - von mir zu geben ..." (Mann 1894-1928/1975, 97; vgl. auch 90). Eindringlich geht aus solchen Formulierungen hervor, wie sehr das Schreiben für den jungen Autor jenen Bekenntnischarakter hatte, dem der direkte Ausdruck verboten war. Zunächst stellt sich nun die Frage, ob und in welcher Form der hier freigelegte Zusammenhang zwischen psychischer Besonderheit und Besonderheit des Schreibens - natürlich nur durch Signale für den genauen Leser - dem Text von Fiorenza integriert worden ist. In der Annahme eines solchen Subtexts finde ich mich bestärkt durch den soeben erschienenen, durch die Kombination von genauer Beobachtung und übergreifenden Gesichtspunkten ausgezeichneten Aufsatz von Elisabeth Galvan: Verborgene Erotik (1999). Die Verfasserin weist anhand von Thomas Manns Umgang mit den Quellenschriften zu Fiorenza, d. h. seinen Anstreichungen und Randbemerkungen, die homoerotische Komponente der Dichtung nach. Das Hauptsignal findet sich im abschließenden großen Gespräch des sterbenden Lorenzo mit Savonarola, wenn der Magnifico zu dem hässlichen Mönch von seiner eigenen Hässlichkeit spricht. Er offenbart ihm nicht nur eine allgemeine Defizienz, sondern einen spezifischen Mangel: "Die Sinne betete ich an - mir fehlt ein köstlicher. Ich bin geruchlos. Ich kenne den Duft der Rose nicht, nicht den des Weibes. Ich bin ein Krüppel, bin mißgeboren" (Gesammelte Werke VIII, 1062). Die Wichtigkeit dieses Bekenntnisses lässt sich schon daran ablesen, dass Thomas Mann, als er ein Exemplar seines Dramas mit radikalen Streichungen versah, zwar die übrigen Punkte des Bekenntnisses fallen ließ, diesen aber nicht antastete. Wofür dieser physische Mangel steht - wie Schlemihls Schattenlosigkeit, wie die unvollkommenen Beine von Andersens Zinnsoldaten und Seejungfrau -,4 wird deutlich gemacht durch die korrespondierende Stelle im Text, an der der Maler Aldobrandino 4

Zu dieser Symbolik vgl. die herausragende Darstellung des Zusammenhangs von Homoerotik und Dichtung durch Detering (1994).

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ausfuhrlich seine Krankheit beschreibt. "Es war ein Nasenübel, ein fressendes Leiden im Innern dieses edlen Organs." Gerettet wird Aldobrandino durch ein so starkes Niesen, dass der Nase "ein Tier, ein Wurm, ein Polyp" entschlüpft, "so lang wie mein längster Finger und von der widerlichsten Gestalt: haarig, getigert, schlüpfrig und mit Saugern und Fangarmen versehen" (Gesammelte Werke VIII, 1009f.). Dass in dieser komischen Kontrafaktur von Lorenzos Leiden die Nase mit ihrem Polypen für eine gefährliche, angsteinflößende Art von Sexualität steht, geht schon daraus hervor, dass in der Erzählung des - von Thomas Mann in Goethes Übersetzung gelesenen - Cellini, die ihr zu Grunde liegt, der Wurm sich im Leib befindet und durch Erbrechen zutage gefördert wird (Cellini 1803/1991, 2. Buch, 5. Kap.). Der todesnahe Lorenzo behauptet, gerade ein Lied auf die "Nasenflügel" der Fiore zu verfassen. Die sexuelle Konnotation der Nase war Thomas Mann vielleicht nicht nur von der volkstümlichen Tradition her gegenwärtig, sondern auch durch das Beispiel des Malers Leo Putz, dem Modell des sexbesessenen Leo Zink im Doktor Faustus, der ständig seine eigene Nase "ironisirt[e]" (Notizbücher II, 62).5 Die Transformation von Cellinis Krankheit in die des Malers untersteht dem gleichen Gesetz wie der Ersatz des sexuellen Mangels in die Absenz eines Sinnes, nämlich, psychologisch gesprochen, dem Gesetz der Verschiebung, in stilistischer Formulierung : dem Gesetz der Metonymie. Es ist das gleiche Gesetz, nach dem Thomas Mann in anderen Texten die eine abweichende Richtung des Eros durch eine andere abweichende ersetzen wird: so die Homoerotik durch den Inzest. Unter den Signalen des Homoerotischen in Fiorenza bildet das "Nasenübel" den düsteren Kontrapunkt zu denjenigen, auf denen die Weihe der klassischen Tradition liegt: dem platonischen Hintergrund der Dialoge, dem Hinweis auf Polizianos Lob schöner Knaben - und schließlich der Szene, in der Lorenzo selbst den Knaben Gentile wegen der Schönheit seiner Hüften und seines Ganges lobt und belohnt. Die Semantik des mangelnden Geruchssinns erschöpft sich aber nicht in der sexuellen Entsprechung. Es gibt eine andere moralische - Bedeutung, die noch erörtert werden soll. Jedenfalls handelt es sich um ein für Lorenzos Psyche zentrales Trauma. Wenn ich für sein geheimes Leiden die Bezeichnung "Wunde" gewählt habe, so hat dies aber noch eine zweite Begründung. Bei der Gestaltung von Fiorenza stand Thomas Mann im Bann der ihn im Gegensatz zur "hysterischen Renaissance" vieler Zeitgenossen überzeugenden Darstellung der Renaissancewelt in Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen. Leitmotiv von dessen Novelle Die Versuchung des Pescara ist die Wunde, die ihn als einen Todgeweihten vor dem Verrat bewahrt und ihn, als Seitenwunde, Christus ähnlich macht.6 Es besteht keine direkte inhaltliche Parallele zwischen der rettenden Funktion dieser Wunde und der von Lorenzos defizientem Sinnensystem, aber eine starke Analogie liegt in der Existenz eines 5

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Ob Thomas Mann von dem Versuch des Berliner Arztes Wilhelm Fließ, die Beziehung zwischen Nase und Sexualität zur wissenschaftlichen Theorie auszubauen, gehört hatte, steht dahin. Vgl. dazu die Interpretationen von Kaiser (1997, 103-111) und Laumont (1997, 280-298).

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nagenden Leidens, das unter dem Glanz einer herrschaftlichen Lebensführung verborgen ist.

2. Schichten der Sprache Meyer war bekanntlich der Meister einer Kunstform, welche nach seinen psychischen Voraussetzungen auch für den jungen Autor Mann nahelag: der Allegorie, deren Name schon das "andere", uneigentliche, distanzierte, reflektierte Sprechen impliziert. Gegenüber Hofmannsthal bekennt sich Thomas Mann zu der scheinbar obsoleten Kunstform, welche ja "ästhetisch recht sehr in Verruf sei. "Mir scheint trotzdem die poetische Allegorie von großen Massen eine hohe Form zu sein [...]" (26.7.1909, Briefe I, 76). Für Fiorenza lag die allegorische Struktur umso näher, als die Allegorie in der gewählten historischen Epoche so sehr beliebt war: So kann der Autor zwanglos dem Lorenzo Fiore als eine festlich geschmückte Stadt-Allegorie zuführen. Aber der "Verruf der Allegorie beherrschte zu Beginn des Jahrhunderts bekanntlich speziell die deutsche Poetik auf Grund der Kritik, die Goethe - und mehr noch einige Nachfolger - an ihr geübt hatten, zu Gunsten eines eigentümlichen platonisierenden Symbolbegriffs. Unter einem frappanten Beispiel für die Macht unreflektierter Verteufelung der Allegorie hatte Thomas Mann zu leiden, als Kerr nach der Berliner Aufführung von Fiorenza seine schnoddrige Kritik verfasste: "In der Mitte steht eine Frauensperson, die offenbar als Gleichnis für die Stadt Florenz zu gelten vom Verfasser gewünscht worden ist [...]. Das Bildnis jener Frau ist [...] gewissermaßen Philologenarbeit" (Berliner Tageblatt, 5.1.1913). Schwierigkeiten mit der allegorischen Struktur von Fiorenza als dem Kampf zwischen "Geist" und "Kunst" (um vorläufig die Mann'schen Begriffe festzuhalten) hatten aber auch spätere wohlwollende Interpreten. Sie kritisieren die Differenz zwischen dem Charakter der Figuren als Repräsentanten von geistigen Phänomenen und deren psychischem Eigenleben. Mir scheint dagegen, dass gerade diese Spannung zwischen der Gestaltung als Figuration und der Arbeit an ihrer lebendigen Personalität es Thomas Mann ermöglichte, so komplexe Personen zu erschaffen, wie sie seiner bisherigen Produktion noch fremd waren, wobei der Facettenreichtum der allegorisierten Phänomene sich in eine Widersprüchlichkeit, ja vielleicht sogar Inkohärenz umsetzte, die gerade dieses Werk zu einem "modernen" machen. Ich möchte jetzt die drei Hauptgestalten in der Weise analysieren, dass ich allegorische Repräsentanz, Persönlichkeitsstruktur und Sprache in ihrer Verschlungenheit ins Auge fasse. Zuvor möchte ich aber noch die Spannungen innerhalb der Sprachgebung skizzieren. Es lassen sich in der Sprache des Stücks vier Schichten unterscheiden, von denen zwei in einer mittleren Tonlage gehalten sind, während zwei andere jenen "höheren Ton" und zugleich eine Art bekenntnishafter Unmittelbarkeit anstreben. Hinter allen Schichten sind Identifikationsfiguren erkennbar. Die erste ist

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der schon erwähnte Conrad Ferdinand Meyer. Aus den Dialogen seiner Novellen, deren Struktur oft der dramatischen nahekommt, hat Thomas Mann eine klassizistische Kunstsprache übernommen, die gekennzeichnet ist durch eine ausgewogene komplexe Syntax und eine überwiegend gewählte, mit leicht archaisierenden Wörtern und Wendungen durchsetzte Lexik. Für Meyers Sprache hatte Thomas Mann die größte Bewunderung. "Es kommt darauf an, gut zu schreiben. Nur wer am besten schreibt, hat das Recht auf die höchsten u. vornehmsten Gegenstände. C. F. Meyer als Exempel" (Mann 1909-1913/1967, 152).7 Zumal die Sprache der Humanisten und ihres Mäzens ist hier vorgebildet. So heißt es etwa am Anfang von Plautus im Nonnenkloster: '"Mein Poggio', sagte nach einer eingetretenen Pause Cosmus Medici mit den klugen Augen in dem häßlichen Gesichte [...]. 'Es ist unmöglich, daß du nicht, wählerisch wie du bist, diese oder jene deiner witzigen und liebenswürdigen Possen, sei es als nicht gesalzen genug oder als zu gesalzen, von der anerkannten Ausgabe des Büchleins ausgeschlossen hast."' Die Renaissance-Welt, die durch Meyers Kunstsprache evoziert wird, ruht sehr stark auf historischen Studien, wie Burckhardts Cultur der Renaissance, und so ist in ihr schon Thomas Manns Integration der Quellenschriften vorgearbeitet. Zum Verhältnis von Platonismus und Christentum zitiert Villari, einer der Hauptgewährsmänner Thomas Manns, in seiner Savonarola-Biografie Ficinos Wiedergabe antiker Vorausdeutungen auf das Erscheinen Christi. "Virgil's berühmte Verse [über das göttliche Kind, das als Christus interpretiert wurde] sind allgemein bekannt [...]. Und Porphyrius sagt in seinen Antworten: Die Götter erkannten die außerordentliche Frömmigkeit und Religiosität Christi an, bestätigten, daß er unsterblich sei, und legten das wohlwollendste Zeugniss für ihn ab" (Villari 1868, 49). Bei Thomas Mann argumentiert Poliziano gegenüber dem jungen Kardinal Giovanni im Zuge seiner Bemühungen um die Heiligsprechung Platons: "[...] an Virgils beziehungsvolle Verse brauche ich meinen Schüler nicht zu erinnern. [...] und bei Pörphyrius steht zu lesen, daß die Götter die ungewöhnliche Frömmigkeit und Religiosität des Nazareners anerkannt, seine Unsterblichkeit bestätigt und im ganzen das wohlwollendste Zeugnis für ihn abgelegt haben [...]" (Gesammelte Werke VIII, 962). Mit leichter Hand wird das Ficino-Zitat der Dialogsituation angepasst: der Humanist spielt auf die Lehrer-Schüler-Beziehung an; die Umkehrung der Verhältnisse aber in Bezug auf Christus und die Götter, über die Villari erstaunt, wird verstärkt, indem der Name Christi durch die verfremdende Umschreibung "der Nazarener" ersetzt wird. In die Imitatio von Meyers Kunstsprache mischt sich die einer anderen gemäßigten Sprache, die man die "bürgerlich-konventionelle" nennen kann. Es ist jenes Idiom, das Thomas Mann seiner narrativen Sprache zu Grunde gelegt hat. Aus diesem werden Wendungen in das Drama übernommen, die auch der Erzähler liebt, wie wacker oder nicht anstehen, zu. Zuweilen wirken sie wunderlich, so, wenn Pico della Mirandola vom Goldschmiede-Künstler Ercole sagt: "Er hat viel Geschmack", wie Tony Buddenbrook vom Tapezierer Jakobs, Einen Überblick über die Beziehung gibt Wysling (1967).

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und gar Savonarola die Anzeichen der drohenden Apokalypse dahin zusammenfasst: "Gut, es ist also aus", von der rettenden Gnade aber sagt, sie sei "eingetroffen", als sei sie ein Eisenbahnzug. Sie können aber auch - bewusst oder unbewusst - die Funktion eines erhellenden Kommentars übernehmen. "Er handhabt den Becher der Liebe und der Freude [...]" sagt Poliziano zu Anfang über Lorenzos intensive Teilnahme am Karneval und deutet durch dieses nüchterne Verbum schon auf das Krampfhafte und Programmatische an dessen Begeisterung für das "Dionysische", das Lorenzo später im "höheren Ton" evozieren wird. In diesem versucht sich aber auch Poliziano, wenn er die Herrlichkeit seiner Epoche rühmt: "Die Welt lächelt im Erwachen, eratmend öffnet sie ihren Kelch dem jungen Lichte, wie eine Blume ist sie, die aufblüht" (Gesammelte Werke VIII, 985). Dieser Ton geht am Schluss oft ins Rhythmisch-Musikalisierte über. "Und eine, eine sah ich unter allen, Lorbeer im Haar und Lilien in der Hand" (Gesammelte Werke VIII, 1041). Der Autor war, zumindest noch zur Zeit der Berliner Aufführung, davon überzeugt, in solchen Sätzen die ersehnte Hymnensprache gefunden zu haben. "Lesen Sie das", schrieb er nach Kerrs Rezension an den ihm freundlich gesonnenen Kritiker Julius Bab, "[...] und sagen Sie, ob 'Fiorenza' 'Philologenarbeit' ist oder nicht!" (Wysling/Fischer 1975, I, 194). Mit welchem Autor identifizierte er sich, wenn er seinen Figuren solche festlich erhöhte Rede in den Mund legte? Hofmannsthal hatte mit seinem Tod des Tizian nicht nur die Struktur der platonisierenden Dialoge, des raumzeitlichen Arrangements des Sterbetages und des den Protagonisten spiegelnden Schüler- und Freundeskreises vorgegeben, sondern auch die spezielle Vereinigung von magischer Musikalität und visueller Evokation, so, wenn der junge Maler Gianino seinen Blick auf die nächtliche Stadt richtet: Ich ahnt in ihrem steinern stillen Schweigen Vom blauen Strom der Nacht emporgespült Des roten Bluts bacchantisch wilden Reigen, Um ihre Dächer sah ich Phosphor glimmen, Den Widerschein geheimer Dinge schwimmen. Und schwindelnd überkam's mich auf einmal: Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die Qual, Der Haß, der Geist, das Blut: das Leben wacht. Das Leben, das lebendige, allmächtge [...] (Hofmannsthal, 1882/1982, III, 45)

Die partielle Identität der feindlichen Brüder Lorenzo und Savonarola zeigt sich darin, dass im Schlussgespräch des Stücks auch der Letztere an solchem lyrischen Pathos teilhat: "Vernehmt, vernehmt, Lorenzo Medici: Es kann der Geist sich nach der Schönheit sehnen" (Gesammelte Werke VIII, 1062). Ihm ist sonst natürlich die andere Variante des hohen Tons zugeteilt, die prophetische. Diese Sprachschicht erscheint in zwei Varianten: der von Pico im ersten Akt geschilderten Predigt und den Formulierungen Savonarolas im Schlussdialog. Die erste zu gestalten, war nicht schwierig. Außer auf die bei Villari wiedergegebenen Predigten konnte Thomas Mann auf die Bibelsprache zurückgreifen und die Rede seines Protagonisten von Luthers sprachlicher Wucht tragen lassen, so,

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wenn der Prediger die Stadt Florenz schmäht: "Und an ihrer Stirn geschrieben den Namen, das Geheimnis, die große Babylon, die Mutter der bösen Lust" (Gesammelte Werke VIII, 976). Dabei modernisiert und mildert der Ausdruck "böse Lust" Luthers derbe Formulierung: "die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden" (Offenbarung 17).8 Zu fragen ist aber, ob die Bibelsprache nur die stilistische Fundgrube war, die sich vom Thema her anbot, oder ob auch hier der Autor durch die Vermählung mit einer bestimmten Sprache eine gewisse Identifikation vollzog. Darauf ist zurückzukommen. Eine sprachlich-psychische Identifikation aber ist wie eine Kette durch die ganze Dichtung geschlungen: Im genus medium wie im genus grande schlagen immer wieder die verinnerlichten rhetorischen Mittel Nietzsches durch. Eine solche Identifikation - zum Beispiel durch die Art der rhetorischen Fragen, aber auch durch den Zarathustra-Rhythmus, der sich dem biblischen amalgamiert - ist eine viel tiefere Bindung als die Übernahme von Gedanken und Begriffen: augenblicksweise ist die Identifikationsfigur im Text anwesend.

3. Die Figuren: Allegorie und individuelle Person 3.1. Fiore "Und Florenz? Was wird aus Florenz? Es ist deine Geliebte. Ich sehe es in Witwengram verwelken ...": so redet Poliziano in fiktiver Frage den abwesenden kranken Lorenzo an (Gesammelte Werke VIII, 971). Immer wieder kehren solche rhetorischen Personifikationen der Stadt, die, unabhängig von deren Allegorisierung in Fiore, ex negativo zeigen, dass diese -fiktionale- Gestalt in ihrer semantischen Funktion nicht aufgeht. Die Figur oszilliert mit einer gewissen Freiheit zwischen allegorischer Evokation und psychologischer Gestaltung. Dabei wird ihre Konzeption insofern der Natur der Allegorie sehr gerecht, als ihre Beschreibung das "Künstliche" ihrer Erscheinung betont, also eine Selbstanzeige des Allegorischen enthält. "Ihre Erscheinung ist streng linear, ruhevoll symmetrisch, fast maskenhaft" (Gesammelte Werke VIII, 991). Auch in ihrer Redeweise zeigt sich das Allegorische an. "Alles, was sie sagte, schien etwas anderes zu verbergen" sagt einer der Künstler (Gesammelte Werke VIII, 995). Nach dem Strukturgesetz des Stücks wird Fiore zunächst indirekt eingeführt, perspektiviert durch Picos Erzählung von ihrem Auftritt im Dom. Pico Einer brieflichen Mitteilung von Stefan Pegatzky verdanke ich den Hinweis, dass Thomas Mann sehr wahrscheinlich die Schilderung der "großen Hure Babylon" nicht direkt aus der Bibel übernommen hat, sondern aus einem Zitat der Passage in einem Buch von O. Panizza: Der teutsche Michel und der römische Papst (1894), das er unter den im Hinblick auf Fiorenza gelesenen Schriften aufführt, da seine Wiedergabe der Stelle in den Vorarbeiten derjenigen Panizzas genau entspricht (Notizbücher 1,210 und 218).

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charakterisiert Fiore als Schauspiel, als den "köstlichen Anblick dieser berühmten, prunkhaften, herrisch dahinschreitenden, göttlich schönen Frau" (Gesammelte Werke VIII, 973). "Die Göttliche", "die Allerschönste" sind die Attribute, die ihr auch in der Rede der übrigen Personen zugeteilt werden. Sehr geschickt wird die allegorische Ebene benutzt und zugleich zerstört. In dem Moment, wo der Prediger in alttestamentlicher Rhetorik die Stadt Florenz zur Buße aufruft - "dieser, Florenz, will dein König sein [...]" - (Gesammelte Werke VIII, 978), tritt Fiore mit ihrem Gefolge ein, durchaus nicht identisch mit den geängstigten Florentinern, aber auch nicht mit der großen Babylon, zu der Rede und Geste des Mönchs sie machen. Sie ist eine Person, die menschlich auf die Beleidigung reagiert, durch den "Laut der Wut" und die "wilde Bewegung", mit der sie den Dom verlässt. Warum die stolze Geliebte des Magnifico sich auf den psychischen Kampf mit dem Bettelmönch eingelassen hat, bleibt dem Erzähler Pico natürlich verborgen. Aber auch Fiores späterer Bericht über die Vorgeschichte macht die psychologische Situation nicht ganz klar. Warum wollte das bereits von jungen Männern umworbene Mädchen gerade den hässlichen Stubenhocker Girolamo bis zum demütigenden Bekenntnis seines Sexualverlangens treiben? Das Motiv bleibt unklar wie bei Gerda von Rinnlingen im Kleinen Herrn Friedemann die Vermischung des menschlichen Interesses für den kleinen Buckligen mit irreführender Koketterie. Gerade in solcher Unklarheit der Impulse aber emanzipiert sich die lebendige Person von der festgelegten Semantik. Ein Schlüssel zu Fiores Verhalten, der auch für die Vorgeschichte gelten könnte, wird in ihren Gesprächen mit den Künstlern, mit Piero und mit Lorenzo deutlich. Auch Fiore hat eine Wunde: dass sie nie als Person gewürdigt wird. Zwar rühmt Pico ihre Verse, ihr Lautenspiel, ihre literarischen Kenntnisse, aber das sind nur Accessoires ihres erotischen Reizes. Wie die traurig-schöne Venus im Marmorbild des Thomas Mann so tief prägenden Eichendorff weiß sie, dass sie für diejenigen, die ihre Person zu lieben meinen, nur ein Sexualobjekt ist. "Jeden verlangt nach mir" (Gesammelte Werke VIII, 1016). Eine Folge dieser Erfahrung ist ihre, wie Lorenzo sagt, "kühle geschliffene Rede", die ein wenig diejenige Imma Spoelmanns in Königliche Hoheit vorwegnimmt. "Ihr tatet einen Gang durch den Garten, schöne Fiore?" - "Euer Scharfsinn trifft das Rechte" ("Es läßt sich nicht leugnen, daß manches für diese Tatsache spricht", antwortet Imma dem Prinzen, der sie anredet: "Sie machen also auch dem Spital einen Besuch, gnädiges Fräulein?"). Wie wenig es mit der leidenschaftlichen Verehrung der Künstler auf sich hat, zeigt sich, wenn sie sich zwar über die Beleidigung im Dom entrüsten, aber nicht wagen, sie zu rächen. Und auch die Liebe des Lorenzo wird in der großen Klarheit des Sterbetages fragwürdig. Es scheint zunächst grausam, wie Fiore sich von dem Sterbenden distanziert. "Wie geht es dem Gebieter von Florenz?" (Gesammelte Werke VIII, 1040) fragt Fiore den Kranken, der mit Mühe dieser "gnädigen Göttin" einen Rest von Lebenskraft vortäuscht. Wenn aber Lorenzo den Beginn seiner Leidenschaft für Fiore evoziert, so wird ihre damalige allegorische Funktion, in einer festlich geschmückten Barke die Stadt Florenz zu repräsentieren, zum

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Mittel der Andeutung, dass sich der Medici nicht für ihre Person begeisterte, sondern von einer Mischung erotischer und politischer Besitzgier ergriffen wurde. "Ich sah dich an, und eine Pein ergriff mein Herz [...] nach dir! nach dir! dich haben, Weltenblume [...]" (Gesammelte Werke VIII, 1041). Wie es auf der allegorischen Ebene keine wirkliche Liebe zwischen Lorenzo und dem Volk von Florenz gab, so enthüllt sich auf der persönlichen die scheinbar ideale Liebe zwischen dem Anbeter der Schönheit und der göttlich schönen Frau als ein steter psychischer Kampf. Lorenzo fragt sich, ob Fiores Liebe nicht nur die Reaktion auf sein dynamisches Verlangen war und mit dessen Nachlassen geendet hat. Auf seiner Seite bleibt "Leere und Entsetzen" zurück. Der kurze Wortwechsel zwischen Fiore und Savonarola hat gleichfalls den Charakter einer zusammenfassenden Rückschau. Den psychischen Kampf braucht offenbar nicht nur der Mönch, um seine erotische Demütigung zu kompensieren, sondern auch Fiore, um ihre Frustration wettzumachen - gegenüber dem vielleicht, der von Anfang an in seiner geistigen Tätigkeit ein Reich besaß, das ihr verschlossen war? - Am Ende des Stücks erlaubt es die überhöhende Allegorisierung, Fiore eine mythische Dimension zu verleihen. Sie ist jetzt die Prophetin: "Laß von der Macht! Entsage! Sei ein Mönch!" (Gesammelte Werke VIII, 1067) Hier ist es aber gewiss nicht das blind der Rhetorik des Mönchs verfallene Florenz, das allegorisch solche Warnung ausspricht, sondern eine starke weibliche Person, deren Aggressivität sich schließlich als Maske der unerfüllten Liebe enthüllt.

3.2. Lorenzo Wie steht es mit Lorenzos Position zwischen Allegorie und individueller Person? Seine Aufgabe ist es, Kunst und Schönheitsliebe zu repräsentieren. Die Frage drängt sich auf: Warum wird er dann nicht aus der Perspektive seiner Kreativität dargestellt? Der Vergleich mit dem Tod des Tizian zeigt, welch größere Möglichkeiten sich gerade dadurch für den "höheren Ton" der Sprache eröffnet hätten. Wenn Hofmannsthal die Kunst des Malers evozieren lässt, entsteht eine suggestive musikalische Sprache, in die sich zugleich eine Philosophie der Kunst einschließen lässt: [...] Ein Auge, ein harmonisch Element, In dem die Schönheit erst sich selbst erkennt Das fand Natur in seines Wesens Strahl. 'Erweck uns, mach aus uns ein Bacchanal!' Rief alles Lebende, das ihn ersehnte Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte. (Hofmannsthal, 1882/1982, III, 48f.)

Warum ließ Thomas Mann sich das Angebot der historischen Figur entgehen, die ja eine Palette von Dichtungen und Essays verfasst hatte? Nur die Kamevalsgesänge und das bukolische Liebesgedicht an Nencia werden kurz erwähnt. Eine erste einfache Antwort ist, dass Lorenzos Schriften, soweit ich sehe, zu

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Anfang des Jahrhunderts in deutscher Übersetzung kaum zugänglich waren.9 Aber dies Problem hätte sich lösen lassen. Maßgeblich war gewiss, dass die Kunst von der Seite der Fragwürdigkeit des Ästhetizismus gezeigt werden sollte. So erscheint Lorenzo als Mäzen der Künstler, als Sammler, als - sozial verantwortungsloser - Herrscher und Erotiker. Das heißt: so wird der Kranke aus der Retrospektive evoziert. Pico erinnert ihn und die Freunde an die Breite seiner Fähigkeiten und an seine Energie, indem er seinen Tageslauf rekonstruiert: am Morgen Gesetzgeber, hat der Magnifico sich am Nachmittag in verschiedenen Gremien an philosophischen und kunsttheoretischen Diskussionen beteiligt und am Abend noch an den gelehrten Spielen seiner Freunde teilgenommen. Die Vielfalt der Facetten des Ästhetizismus, die Lorenzo zeigen soll, kommt der Überzeugungskraft der Figur zugute: es entsteht ein komplexer und widersprüchlicher Charakter. Diese Widersprüchlichkeit drückt sich auch in der Beschreibung seines Äußeren aus, wobei wieder die Bedeutung des Motivs "Nase" deutlich wird.10 Die am Vasari-Porträt orientierte Schilderung in der Bühnenanweisung ist auf Gegensätze abgestellt: den Gegensatz zwischen den "tiefen und schlaffen" Furchen auf den Wangen und den "feurig und klar" blickenden Augen, den Gegensatz zwischen Hässlichkeit und Vornehmheit, den Gegensatz von "Verwüstung" und Kindlichkeit. Wenn die Evokation der Vergangenheit Lorenzo als reiche, trotz zarter Physis kraftvolle Persönlichkeit zeigt, so erscheint der gegenwärtige Lorenzo sogleich im Schatten des Todes, gezeichnet von einer ihm bisher unbekannten psychischen Macht, der Todesangst. Jene glänzende Persönlichkeit der Vergangenheit meint Poliziano, wenn er ihm zuruft: "Vergiß dich selbst nicht, Lorenzo de' Medici!" (Gesammelte Werke VIII, 1026). Aber sein Traum vom Wasserverkäufer, der ihm einen Feuerbecher reicht, und vom alten Mann, der ihn in einen morschen Kahn ziehen will, lässt ein bisher unerwähntes Element in Lorenzos Person zur Sprache kommen: seine zweite Wunde, seinen zweiten fundamentalen Mangel. Es fehlt ihm ein psychischer Halt, der ihm im Augenblick des Todes zu Hilfe käme. "Der Tod ist gräßlich! [...] Niemand begreift ihn hier als ich, der sterben muß. Ich habe das Leben so sehr geliebt, daß ich den Tod noch für den Triumph des Lebens hielt. Das war Poesie und Überschuß [...] Es ist aus damit, es versagt!" (Gesammelte Werke VIII, 1024). Weder die Aussicht auf die Unsterblichkeit des Ruhms noch Ficinos neue Fassung der Ideenlehre können den stärken und beruhigen, von dessen Körper langsam die Todeskälte Besitz nimmt. Es ist nicht.nur die physische Auflösung, die ihn ängstigt, sondern es tauchen auch 9

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Die kürzlich erschienene schöne Ausgabe: Medici (1998) führt in der Bibliografie keine Übersetzung aus dem 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert an. Merkwürdig ist, dass Lorenzo eine "eingedrückte" Nase zuerkannt wird, während sie dem unbefangenen Blick auf dem Porträt eher als groß und vorspringend erscheint. Thomas Mann hat sie aber offenbar gleich so wahrgenommen, denn auch in seiner der zu den Vorarbeiten gehörenden Beschreibung Lorenzos anhand des Bildes - das ihm in der Geschichte der Mediceer von Heyck vorlag - kennzeichnet er sie mit dem gleichen Adjektiv (1893-1937/1991-1992,1, 202). Das Porträt ist abgebildet bei Wysling/Schmidlin (1994, 154).

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Reste religiöser Vorstellungen auf: das Fegefeuer, die göttliche Strafe, die Notwendigkeit der Gnade. Schuldhafte Teile von Lorenzos Leben treten ins Bewusstsein und werden rationalisiert, so die blutigen Kämpfe mit den rivalisierenden florentinischen Geschlechtem. Die Grundstimmung der Angst lässt Lorenzos eigene Evokation seines vergangenen, dem Kult der Schönheit gewidmeten Lebens in einem gebrochenen Licht erscheinen. Diese Stimmung kommt dem Autor Thomas Mann insofern zu Hilfe, als die Bemühung, diese Vergegenwärtigung im "höheren Ton" zu gestalten, im Mund des todesnahen Lorenzo auf gleichsam natürliche Weise fragwürdig wird. Das Versagen von "Poesie und Überschuß" schlägt sich nieder im Versagen der angestrengt-ekstatischen Sprache, in der Lorenzo die Erinnerung an den "dionysischen" Karneval wachruft: "[...] wenn Florenz dem Gotte erlag und die Würde der Männer und die Schamhaftigkeit der Weiber hintaumelte in ein brünstiges Evoe [...]" (Gesammelte Werke VIII, 1027). Die Vorführung von verschiedenen Formen des Schönheitskults im letzten Akt gewinnt einen psychologischen Sinn, wenn Lorenzo sich im Angesicht des Todes hektisch an die von ihm gesammelten kostbaren Objekte - wie eine Aresstatue - klammert. Sein Vermächtnis an seinen Sohn und Nachfolger gilt nur der Sorge, den "Schatz von Schönheit" zu retten, mit dem die Medici Florenz geschmückt haben, das dieses Geschenk nicht zu würdigen weiß. Hier wird wieder eine Facette von Lorenzos Wunde offenbar: Seine erotischen Gefühle haben sich weithin von den Menschen auf Kunstobjekte verschoben. Diese Fixierung versucht er als eine Art Kontrafaktur der Religion zu rechtfertigen: "Es geht um Seelen. Es geht um das Reich" (Gesammelte Werke VIII, 1035). Als Religion kann der Schönheitskult auch das schuldhafte Verhalten des Herrschers rechtfertigen, wie den Missbrauch öffentlicher Mittel: "[...] die Schönheit ist über Gesetz und Tugend" (Gesammelte Werke VIII, 1038). Lorenzos Versuch, vor der Todesangst zu seinem alten Selbst zurückzufliehen, motiviert psychologisch auch die "kindliche Lust", mit der er die banale Sexualkomik einer Boccaccio-Novelle genießt. Dieser Teil von Lorenzos Persönlichkeit wird im Übrigen recht klischeehaft als zügelloser Trieb nach Entjungferung der Florentinerinnen erwähnt. Das gilt für den manifesten Text und die manifeste Person, und zu diesen gehört es, dass gerade der Augenblick primitiver Heiterkeit Lorenzos und seiner Freunde nach der Erzählung der Facetie mit der Ankunft Savonarolas kontrastiert wird. Aber sicher nicht von ungefähr wird zwischen die beiden Szenen Lorenzos Bewunderung für den Pagen mit den schönen Hüften eingelegt. Damit wird blitzhaft auf jene Orientierung von Lorenzos Eros hingedeutet, die sonst durch die steten Hinweise auf seine Erfolge als Frauenheld überspielt wird und welche erst die tiefste Abweichung seines Schönheitskults von der christlichen Religion bezeichnet. Lorenzo betrachtet den Knaben ganz wie einen Kunstgegenstand: Er empfiehlt dem Maler Aldobrandino, sich die Linie dieser Hüften einzuprägen. Dieser Blick auf den Knaben mit den Hermesbeinen als auf eine "nature morte" stimmt zu dessen Funktion im Drama: Er ist der Todesbote, der zum Akt des Sterbens hinüberleitet.

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3.3. Savonarola Die Gestalt seines feindlichen Bruders Savonarola scheint zunächst in einheitlicherer Weise das ihr zugedachte Prinzip zu verkörpern als Lorenzo. Bei ihm ist die Verwandlung der ursprünglichen Schwäche und der erotischen Traumatisierung in Energie leicht einzusehen.Wenige Züge durchkreuzen das Bild des asketischen Predigers, wie etwa die seiner Glaubensgewissheit wenig angemessene Angst, ermordet zu werden. Diese Gestalt gewinnt ihre Lebendigkeit daraus, dass sie die Idee des Heiligen, die sie repräsentiert, selbst unterläuft. Das geschieht nicht nur generell, indem sich als Savonarolas innerste Triebfeder das Verlangen nach Macht enthüllt - nach Macht über diejenigen, die er verachtet, anstatt sie als seine Brüder in Christo zu lieben -, sondern ganz spezifisch im Umgang mit dem Instrument, das ihm dazu dient: dem Wort. "Das Wort ist schwer und heilig" (Gesammelte Werke VIII, 1056), sagt der Mönch - so wie auch der junge Autor Thomas Mann in seinem Gedicht vom "schweren Wort" als dem Prinzip der Erlösung gesprochen hatte. Während er aber zugleich das Wort als "Spiel" definierte, "voll höchster, feinster Freuden", behauptet der Prediger, er sei "ungeschult" - er, der früh schon Aristoteles und Thomas von Aquin studiert hat. Im großen Gespräch der virtuellen Doppelgänger stehen sich nicht nur zwei Weltanschauungen, sondern auch zwei Redeweisen gegenüber. Lorenzos Skala reicht vom stammelnden Eingeständnis seiner Verwirrung und Todesangst über reflexive Dialogizität bis zum lyrischen Aufschwung. "Florenz war meine Leier - klang sie nicht gut? Sie klang von meiner Sehnsucht. Von Schönheit klang sie, von der großen Lust, sie sang, sie sang das starke Lied vom Leben!" (Gesammelte Werke VIII, 1063). Savonarola bleibt weitgehend bei einem bestimmten konzisen Stil, meist kurzen und konzentrierten Sätzen, in denen eine feste Meinung zu Sentenzen und rhetorischen Fragen gerinnt. Es ist die gleiche Rhetorik, die er auf der Kanzel anwendet. Als "glühende Ursprünglichkeit" und "verzückte Beschränktheit" charakterisiert Pico solche durch Ausdruck und Gesten unterstützte Redekunst, die selbst ihn, den Hochgebildeten, fasziniert. Als Literat durchschaut er freilich die Kunstmittel des Predigers, wie die "rätselhafte" Betonung eines Worts, um Erschütterung hervorzurufen. Getragen ist er dabei von der Macht der apokalyptischen Bilder. "Siehst du den Blutschein der Feuersbrunst? Wilde Heere überziehen dich mit Krieg [...] Du wirst ausgetilgt, ausgetilgt unter Martern —" (Gesammelte Werke VIII, 977). Pico macht hier eine Bemerkung, die für die Bedeutung der Gestalt fundamental ist: "daß alles, was er sieht, zur Wahrheit und Gegenwart wird, indem er es ausspricht" (Gesammelte Werke VIII, 979). Solange er auf sie zeigte, "war die schöne Fiore in Wahrheit das apokalyptische Weib [...]". Die Macht des Wortes, aus der Interpretation von Wirklichkeit eine neue innere Wirklichkeit zu machen, welche dann auch faktische Wirklichkeit werden kann - diese Gefährlichkeit des Wortes wird hier mit einer Eindringlichkeit demonstriert, deren Tragweite dem Autor selbst erst im Lichte der Erfahrungen unseres Jahrhunderts bewusst wurde. Wir kennen Thomas Manns Gewandtheit, Selbstinterpre-

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tationen den jeweiligen Empfängern und Situationen anzupassen. Es liegt auf der Hand, dass er einer katholischen Zeitung darlegt, Savonarola sei der "eigentliche Held des Stückes" (Gesammelte Werke XI, 560-563), während er Kurt Martens nicht lange vorher versichert hatte, er habe "dem Lorenzo mindestens soviel von Eigenem mitgegeben" wie Savonarola (Wysling/Fischer 1975, 185). Wie wir aus den Notizen wissen, war es die Faszination durch die Gestalt Savonarolas, die ihn zuerst zu seinem Drama stimuliert hatte. Doch bereits bei der Lektüre der Villari-Biografie kamen ihm auch kritische Gedanken: Als "Geschwätz" qualifiziert er am Rand die rühmenden Sätze des Biografen, Savonarola habe stets nach der Wahrheit und dem "Guten" gestrebt (Villari 1868, 199). Die implizite Aussage der Schilderung eines Tyrannen durch den Prediger fasst er am Rand zusammen: "So bin ich nicht, folglich bin ich kein Tyrann" "Er ist es aber doch" (Villari 1868, 48f.). Auch nach der kritischen Gestaltung im Drama blieb das Verhältnis des Autors zu seiner Figur ambivalent. In den Betrachtungen eines Unpolitischen bietet Thomas Mann äußerst gewundene Gedankengänge auf, um einerseits den "Helden dieser Diskurse", der zugleich Künstler und Heiliger ist, in einen "Zivilisationsliteraten" umzubilden, dessen Forderung von "Reinheit und Treue" in die Tagesparolen "human freedom and peace" übersetzt werden könne, andererseits aber zu zeigen, dass diesem "Vertreter des literarischen Geistes" doch seine "geheime intellektuelle Parteilichkeit" gegolten habe (Gesammelte Werke XII, 92-96). Erst 1940, im Rückblick auf die Wiener Aufführung in der Nachkriegs-Atmosphäre von 1919, spricht er in sehr veränderten Termen von seinem einstigen Helden: Dieser vertritt nun den "Ansturm eines Fanatismus, der sich seiner Primitivität bewußt ist" (Gesammelte Werke XIII, 146). 1955 verweist er anlässlich der Aufführung in Bochum auf die Aktualität des "asketisch-diktatorischen Geistes eines politischen Dominikanertums, dessen Anziehungskraft wir nicht ganz verleugnen können" (Gesammelte Werke XI, 566). Unter der Oberfläche der Geist-Kunst-Antithese verrät die Sprache des Mönchs eine ganz andere Problematik. Walter Jens hat in seinem Aufsatz über Thomas Manns Rhetorik seine Neigung zu den Oxymora als einem Mittel "wechselseitiger Erhellung" der gekoppelten Begriffe hervorgehoben (Jens 1969, 282). Diese typische Ausdrucksform des analytischen Stils findet sich auch in Fiorenza: "Reißende Lieb', umschlingungssüßer Haß" (Gesammelte Werke VIII, 1066), aber sie tritt sehr zurück gegenüber Anaphern und Parallelismen: "Jesus will, und ich verkündige es als sein Statthalter [...] er will [...] Er will [...] Er will [...]" (Gesammelte Werke VIII, 978). Wenn Pico den Prediger schildern will, gebraucht er das gleiche Stilmittel: "Er predigte laut und schrecklich [...] Er dämpfte seine Stimme [...] Er verstummte [...]" (Gesammelte Werke VIII, 974). Thomas Mann liebt auch in narrativen Texten diese Form der Anapher, bei der ohne einleitende Umstandsbestimmungen das Subjekt gleichsam nackt an die Spitze des Satzes tritt. Im Kontext von Fiorenza ist ihre Funktion deutlich: einerseits dient die litaneiähnliche Form dazu, den Hörern die Botschaft einzuhämmern; andererseits

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zielt sie darauf ab, die Selbstbezogenheit des Predigers in Sprache umzusetzen. Savonarola spricht ebenso im Dialog mit Lorenzo: "Ich habe heute gepredigt im Dom. Ich war krank danach. Ich lag zu Bette. Ich verließ es nur auf Eueren Ruf (Gesammelte Werke VIII, 1057). Aber auch Lorenzo sagt: "Ich schließe die Augen und lausche. Ich höre meines Lebens Melodie. [...] Ich bin geruchlos. Ich kenne den Duft der Rose nicht [...]" (Gesammelte Werke VIII, 1062). In dieser Konzentration auf das exponierte Ich kommen die beiden narzisstischen Herrenmenschen zusammen. Wir haben im Lauf der Jahrzehnte gerade diesen blockartigen Litaneistil als Instrument politischer Propaganda - aller inhaltlichen Schattierungen - zur Genüge kennengelernt, und so erscheint es fast als unbewusste? - Hellsicht, wenn der Autor durch Poliziano den großen geistlichen Rhetor als "traurigen Diktator" bezeichnen lässt.

4. Schlüsselwörter Der große Schlussdialog enthält eine Reihe von Schlüsselwörtern, die in Thomas Manns späterer Produktion immer wieder aufgenommen werden: Geist, Leben, Sehnsucht, Gnade, wiedergeborene Unbefangenheit. Von diesen möchte ich nur kurz auf Geist als einen Pfeiler der allegorischen Konstruktion eingehen und dann abschließend zwei weniger plakative untersuchen: ruchlos und das Kreuz verraten. Ich spreche hier von dem Wort Geist, denn wir haben hier einen Modellfall jener Eigentümlichkeit des Mann'schen Denkens und Sprechens, die so viel Verwirrung und Irritation stiften sollte: der Äquivokation. Obgleich sich Thomas Mann gerade anlässlich von Fiorenza seiner Unsicherheit im Gebrauch von Begriffen bewusst wurde - dem Bruder Heinrich bekannte er als Grund des Scheiterns der "geistigen Construction" des Stücks, die Begriffe "Geist" und "Kunst" seien ihm zu sehr "in einandergelaufen" (18.2.1905, Wysling/Fischer 1975, 179f.) -, blieb er ihr verhaftet.11 Im Lorenzo-Gespräch wird allerdings eine Definition von Geist versucht. Auf Lorenzos Frage: "Was heißt Euch Geist?" antwortet der Mönch: "Die Kraft [...], die Reinheit und Frieden will" (Gesammelte Werke VIII, 1058). Er meint also den Geist Christi. Wenig später wendet er aber die Bezeichnung Geist auch auf die Mentalität an, die er bekämpft: die Mentalität der Epoche, bestimmt von Zweifel, Verständnis, Toleranz. Seine eigene "heilige" Kunst definiert er als "Erkenntnis", spricht ihr also eine intellektuelle Qualität zu. So kommt es fortan zur Kontamination von religiösem Geist und kritischem Geist, die den Autor zu immer erneuter kreisender Reflexion über den Literaten und sein Verhältnis zur Kunst stimulieren wird. "[...] der Held dieser Diskurse war der durchaus Geistige und Geistliche, der Kritiker, der Literat, oder, in seiner Sprache, der Prophet [...]" heißt es, unbekümmert um die Trennlinie zwischen den Begriffen, in den Betrachtungen Auf dieses Problem gehen im Zusammenhang mit Fiorenza insbesondere Ohl (1995) und Galvan (1999) ein.

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über Savonarola (Gesammelte Werke XII, 93). Diese Äquivokation ist von größter Bedeutung für des Autors eigene Form des Schreibens, denn das Bekenntnis zum kritischen Intellekt impliziert ja in Wirklichkeit den Verzicht auf das Sprechen im "höheren Ton", wie es in Fiorenza gerade dem neobarbarischen Priester gelingt, der vorgibt, nicht aus intellektueller Schulung zu reden, sondern aus göttlicher Inspiration - ein Intellektueller, der seinen Intellekt verleugnet. War diese Kontamination von religiösem und kritischem Geist auch verwirrend, so hatte sie doch eine Zeitlang die positive Funktion, dem Autor den Rücken zu stärken gegenüber den Versuchungen pseudonaiver Kunst, wie sie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die Mode kam. In dieser Zeit entstand aus dem Material zu dem nicht ausgeführten großen Essay Geist und Kunst ein kleiner Aufsatz: Der Künstler und der Literat, der die Vision eines Künstlertums entwarf, in dem sich die Reinheit des Literaten, des kompromisslosen Adepten der "sacrae litterae", mit der Verständnistiefe der modernen Kunst zu einer Mentalität der "Güte" vereinigen sollte. Wie sehr Thomas Manns Denken und Gestalten von sprachlichen Assoziationen gesteuert ist, zeigt das Leitwort ruchlos. "So sollst du mich stark und ruchlos sehen!" ruft der sterbende Lorenzo seinem Feind entgegen (Gesammelte Werke VIII, 1066). "[...] es gibt keine Ruchlosigkeit, vor der sich uns noch die Haare sträubten", beschreibt Pico den Zustand von Florenz (Gesammelte Werke VIII, 986). Und hier öffnet sich eine weitere Dimension des Mangels von Lorenzos Physis. Der Mönch fragt: "Ist denn auch Eure Seele ruchlos, wie man sich sagt, daß Euere Nase geruchlos sei?" (Gesammelte Werke VIII, 1059). Das mangelhafte Sinnesorgan symbolisiert den Mangel an moralischem Sinn. Etymologisch haben ruchlos und geruchlos nichts miteinander zu tun.12 Aber mit ruchlos kann ein Lieblingswort des fin-de-siecle-Ästhetizismus in den Lorenzo-Kontext eingeführt werden, um die damit verknüpften Vorstellungen ad absurdum zu führen. In den Betrachtungen gibt Thomas Mann einen Überblick über die Veränderungen in der affektiven Besetzung des Wortes. Schopenhauer hatte es als "stärkste moralische Verurteilung" gebraucht, als "strafende Verurteilung jedes" - per definitionem gegen das Leiden der Welt gleichgültigen - "Optimismus". Nietzsche dagegen hatte das Wort umakzentuiert zu einem "dionysischen" Wort, einem "Lob und Preis" auf das "Cesare-Borgia-Leben", und so wurde ruchlos das "Leib-und Lieblingswort alles von Nietzsche herkommenden Ästhetentums" (Gesammelte Werke XII, 53 8f). Thomas Mann benutzt diese linguistische Erörterung, um sich von jener Bewegung noch einmal energisch zu distanzieren. In Fiorenza hat er den Gleichklang geruchlos-ruchlos ausgewertet, um die Verkehrung des Wortes ins Positive wieder zurückzuschrauben zum Ausdruck eines Mangels, jenes Mangels, der Lorenzo im Angesicht des Todes zur Hilflosigkeit verdammt. Nach Auskunft des Grimm'schen Wörterbuchs leitet sich ruchlos (im Sinne von 'negligens, impius') vom ahd. ruahhalos ab, geruck ('odor') von ahd. riohhan ('rauchen, dampfen, duften').

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Das Gegenbild der "schönen Ruchlosigkeit" ist das Kreuz. Eine Besonderheit des nicht primär begrifflichen Denkens von Thomas Mann besteht darin, dass Worte sich mit Bildern zu einem Zeichen verbinden können. Damit meine ich jetzt nicht seine Anlehnung an Bild-Vorlagen, sondern die Ausbildung von fundamentalen Chiffren. Das Kreuz ist eine solche Chiffre. Der junge Girolamo ist vor der schamlosen "Unbefangenheit" der Weltlust in die Kirche als in den "Weihbezirk des Kreuzes" geflohen. "Was sah ich? Ich sah das Kreuz verraten auch hier" (Gesammelte Werke VIII, 1061). Was der Protagonist von Fiorenza hier erlebt, beschreibt Thomas Mann in den Betrachtungen als ein vielfach mögliches Verhalten. "Es gibt etwas, was ich von jeher in meinem Herzen den 'Verrat am Kreuz' nannte" (Gesammelte Werke XII, 427). Conrad Ferdinand Meyer wird darum so positiv abgehoben von den "durch Nietzsche hindurchgegangenen Renaissance-Ästheten von 1900", weil er den "Verrat am Kreuz" nie beging. "Er war Christ, indem er sich nicht verwechselte mit dem, was er darzustellen sich sehnte: dem ruchlos-schönen Leben; er wahrte Treue dem Leiden und dem Gewissen" (Gesammelte Werke XII, 541 f.). Bei Meyer selbst ist das Kreuz ein zentrales Zeichen, in der Lyrik sowohl wie in den Novellen. Bei Thomas Mann hat das Fundamentalzeichen des Kreuzes seinen Ursprung nicht etwa erst in dem von ihm wie von seinem Freund Bertram immer wieder zitierten Nietzsche-Vers auf die Schopenhauer-Atmosphäre von "Kreuz, Tod und Gruft". Dem toten Senator Mann hatte man ein Elfenbeinkreuz in die Hände gelegt, und diese dem Sohn offenbar tief eingeprägte Imago wiederholt der Autor, wenn er dem toten Thomas Buddenbrook und dem toten Großvater Castorp ein Kreuz auf das Totenbett mitgibt. Der Verrat an diesem Kreuz, das mit dem toten Vater metonymisch verbunden ist, wäre eine schwere, angstauslösende Schuld. Offen oder angedeutet kehrt dieses Wort-Bild-Zeichen in Thomas Manns Schriften immer wieder. Er lobt Hauptmanns Werke, weil sie "so viel vom Kreuze" wissen - er sagt nicht einfach: "vom Leiden". Als Echo qualvoll stirbt, fordert Leverkühn mit bitterem Hohn den katholischen Freund Zeitblom auf, das Kreuzeszeichen zu machen. Und als Leitmotiv durchzieht das Kreuz das unter der Oberfläche des Sprachspiels tiefreligiöse Buch vom Erwählten. Dass der liebenswürdige, aber egozentrische und gewissenlose Herrscher Lorenzo, geruchlos-ruchlos, das Kreuz verraten hat, ohne ein Bewusstsein davon zu haben, ist sein schlimmster Mangel, seine ihm selbst unbekannte Wunde. Savonarola aber hat den schlimmeren Verrat am Kreuz begangen. Er hat das Kreuz gekannt - nicht nur durch sein eigenes Leiden am Außenseitertum, sondern durch den Anblick der Leidenden im Kerker des Schlosses von Este. Aber er hat diese Kreuzeserfahrung verraten, indem er sich in hybrider Rede mit Christus identifizierte, um eine Machtposition zu gewinnen. Der angemaßte Stellvertreter Christi führt das Schlüsselwort von der "wiedergeborenen Unbefangenheit" ein (Gesammelte Werke VIII, 1064). Diese Formel impliziert die Perversion einer ursprünglich religiösen Bedeutung. Wiedergeburt bedeutet ja die neue Geburt aus dem Geist Christi, wie sie Christus dem Nikodemus erläutert. Die gleichsam harmlose "Wiedergeburt" der Antike

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nennt der Mönch eine "schamlose Unbefangenheit". Viel schamloser ist sein Verständnis der "wiedergeborenen Unbefangenheit", mit der er Erkenntnis vorspiegelt, um den eigenen Willen durchzusetzen. Die Formel kehrt bekanntlich im Tod in Venedig wieder, aber nicht nur dort. Sie wird, zugleich mit dem Hinweis auf ihren Verkünder in Fiorenza, zu einem Zeugnis für des Autors eigene Angst vor dem Verrat am Kreuz - in jenem erschütternden Text, in dem er, im politisch prekärsten Moment, auf der Schwelle des Zweiten Weltkriegs, seine grausamste Selbstanalyse wagt: im Aufsatz Bruder Hitler.™ Hier zieht er die Konsequenz aus der Einsicht, dass eine Analyse des Gehassten, auch um den Preis, eine Analogie zu sich selbst zu entdecken, heilsamer ist als der unreflektierte Affekt. Die Analogie zwischen dem Typus des Künstlers, wie er hier gesehen wird, und dem verbrecherischen Irrlehrer besteht zunächst in dem jugendlichen Versagen in der Arbeitswelt und dem daraus entspringenden Ressentiment. Sie besteht aber spezieller darin, dass Hitlers Erfolg sich keiner Sachkenntnis verdankt, sondern nur seiner "Beredsamkeit" - einer zwar "unsäglich inferioren" Beredsamkeit, aber immerhin einer Instrumentalisierung des Wortes, um seelische Macht über die Hörer - oder Leser - zu gewinnen (Gesammelte Werke XII, 847). Der Autor schaudert hier zurück vor der künstlich-ungebrochenen, mit dem Unbewussten operierenden Sprache, er hofft auf eine Zukunft, die "geistig unkontrollierte" Kunst nicht mehr kennen wird (Gesammelte Werke XII, 852). Die Fähigkeit zur Analyse wird in diesem Aufsatz zum Rettungsanker. Aber schon in den Betrachtungen, noch viel unsicherer in seiner Position, hat Thomas Mann sich gegen das berühmte George-Wort über Nietzsche gewandt: "sie hätte singen / nicht reden sollen diese neue seele!" (Gesammelte Werke XII, 85ff.) Sein Nietzsche ist an dieser Stelle der Meister der kritischen Prosa, der innovatorisch dank seinen psychologisch-analytischen Gaben Denken und Sprache um differenzierte Erkenntnis- und Ausdrucksmöglichkeiten bereichert hat. Solches Schreiben hat auch Thomas Mann, dem Singen entsagend, endgültig gewählt, und dafür müssen wir ihm dankbar sein.

5. Literaturverzeichnis Mit * bezeichnete Titel geben die von Thomas Mann benutzten Ausgaben an. Böschenstein, Renate (1997): Der Erwählte - Thomas Manns postmodemer ödipus? In: Colloquium Helveticum 26,71-101. *Burckhardt, Jacob (71899): Die Cultur der Renaissance in Italien. Leipzig. Cellini, Benvenuto = Goethe, Johann Wolfgang (1803/1991): Leben des Benvenuto Cellini. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 7. Hg. v. Norbert Miller und John Neubauer. München. Detering, Heinrich (1994): Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen.

Aus der Perspektive der Identitätsproblematik untersucht den Essay Gömer (1999).

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Dittmann, Ulrich (1969): Sprachbewußstsein und Redeform im Werk Thomas Manns. Untersuchungen des Schriftstellers zur Sprachkrise. Stuttgart etc. Eilers, Egon (1967): Perspektiven und Montage. Studien zu Thomas Manns Schauspiel Fiorenza. Diss. Marburg. Galvan, Elisabeth (1999): Verborgene Erotik. Quellenkritische Überlegungen zu Thomas Manns Drama Fiorenza. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40,237-254. Gömer, Rüdiger (1999): Peinliche Verwandtschaft. Formen der Selbstdiagnose in Thomas Manns Versuch Bruder Hitler. In: Ingrid Fichtner (Hg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern etc., 201-217. *Heyck, Eduard (1897): Die Mediceer. Bielefeld/Leipzig. Hofmannsthal, Hugo von (1882/1982): Der Tod des Tizian. In: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 3. Hg. v. Götz Eberhard Hübner u. a. Frankfurt a. M. Jens, Walter (1969): Der Rhetor Thomas Mann. In: Von deutscher Rede. München, 268-285. Kaiser, Gerhard (1997): Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart. Freiburg i. Br. etc. Laumont, Christof (1997): Jeder Gedanke als sichtbare Gestalt. Formen und Funktionen der Allegorie in der Erzähldichtung Conrad Ferdinand Meyers. Göttingen. Mann, Thomas (1889-1936/1961): Briefe. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M. - (1893-1937/1991-1992): Notizbücher. Hg. v. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Frankfurt a. M., 2 Bde. (1894-1928/1975): Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed 1903-1928. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. (1909-1913/1967): "Geist und Kunst". Thomas Manns Notizen zu einem "LiteraturEssay". Hg. v. Hans Wysling. In: Paul Scherrer/Hans Wysling: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern/München, 123-232. - (51913): Fiorenza. Berlin. (1949-1950/1991): Tagebücher. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. (1974): Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt a. M. Mauthner, Fritz (M923): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. I: Zur Sprache und zur Psychologie. Leipzig. Medici, Lorenzo de* (1998): Ausgewählte Werke, Opere Scelte. Hg. v. Manfred Lentzen. Tübingen. Meyer, Conrad Ferdinand (1958-1996): Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller und Alfred Zach. Bern. Ohl, Hubert (1995): Ethos und Spiel. Thomas Manns Frühwerk und die Wiener Moderne. Freiburg i. Br. *Panizza, Oskar (1894): Der teutsche Michel und der römische Papst. Leipzig. *Villari, Pasquale (1868): Geschichte Girolamo Savonarola's und seiner Zeit. Nach neuen Quellen dargestellt. Übersetzt von Moritz Berduschek. Leipzig, 2 Bde. Wysling, Hans (1967): Thomas Mann und Conrad Ferdinand Meyer. In: Thomas Mann heute. Bern/München, 37-43. u. Fischer, Marianne (1975): Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14/1: Thomas Mann. Teil I: 1889-1917. München/Frankfurt a. M. u. Schmidlin, Yvonne (1994): Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Zürich.

Helen Christen /Anton Näf

Trousers, shoues und Eis1 - Englisches im Deutsch von Französischsprachigen

l. Einleitung Die Wörter im Titel unseres Aufsatzes stammen aus dem Text einer französischsprachigen Genfer Schülerin der 8. Klasse. Die Wortbelege lassen erkennen, dass die Schülerin sich zwar einiges Wissen und Können im Deutschen angeeignet hat, aber noch nicht in der Lage zu sein scheint, die beiden von ihr gleichzeitig gelernten Schulfremdsprachen Deutsch und Englisch sicher auseinander zu halten. Der zitierte Beleg dokumentiert einen Aspekt von Erfahrungen im Kontakt mit französischsprachigen Deutschlernenden, der eher seiner Auffälligkeit als seiner Kommunikationserschwerung wegen immer wieder Aufmerksamkeit erregt: In Lernersprachen sind häufig nicht nur die von den Lehrpersonen nachgerade erwarteten Einflüsse der Muttersprache festzustellen, sondern es "schlägt" in der (schriftlichen und mündlichen) Textproduktion auch sprachliches Wissen weiterer Lernersprachen, hier des Englischen, "durch". Die nachfolgenden Ausführungen widmen sich nun diesem Phänomen, das wir in der Regel als Transfer zwischen verschiedenen Schulfremdsprachen bezeichnen werden.

2. Sprachlicher Transfer im Lichte verschiedener linguistischer Konzeptionen Traditionellerweise versteht man in der Sprachwissenschaft unter Transfer die "Übertragung von sprachlichen Besonderheiten der Muttersprache auf die Fremdsprache, wobei zwischen positivem (auf Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sprachen beruhendem) und negativem Transfer unterschieden wird" (Bußmann ^1992 s. v.). Für negativen Transfer wird in der Fremdsprachendidaktik meist der - auch im Folgenden gelegentlich benutzte - Terminus Interferenz verwendet. Neuere Forschungsrichtungen (vgl. Kellerman/Sharwood Smith 1986), die ein breiteres Verständnis von Transfer favorisieren, plädieren in

Sie hat eine rot trousers und eine pullover an. Ihre shoues sind weiss und ihre Eis sind blau ('Sie hat eine rote Hose und einen Pullover an. Ihre Schuhe sind weiß und ihre Augen sind blau.') Schriftlicher Beleg aus dem "Genfer Korpus" (vgl. Abschnitt 5.1.).

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jüngster Zeit dafür, allgemeiner von cross-linguistic influence, von gegenseitiger sprachlicher Beeinflussung zu sprechen. Es erübrigt sich an dieser Stelle, verschiedene wissenschaftliche Konzepte von Transfer mit größerer Ausführlichkeit darzustellen, da sie in den einschlägigen Handbüchern und Monografien gut zugänglich sind (z. B. Kellerman/ Sharwood Smith 1986; Odlin 1989; Goebl et al. 1996; Ritchie/Bhatia 1996). Wichtig scheint es uns an dieser Stelle, mit Susan Gass (1996b, 320) im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Beurteilung von Transfers darauf hinzuweisen, dass in der Wissenschaftsgeschichte extreme Positionen in der Folge meist konträre - und häufig ebenso extreme - Sichtweisen provoziert haben. So betonten behavioristische Lemauffassungen von den 40-er Jahren an, bereits Gelerntes (handle es sich dabei um sprachliche oder außersprachliche Wissensbestände) bilde den unabdingbaren Ausgangspunkt für neu zu Lernendes und erst intensives Training neuer (sprachlicher) Verhaltensweisen mache es möglich, die alten Verhaltensmuster zu eliminieren. In der sprachdidaktischen Umsetzung war diese extreme Sichtweise gleichbedeutend mit möglichst vollständiger Ausmerzung der - ausschließlich als Störungen angesehenen Interferenzen. Die Theorie der sogenannten kontrastiven Analyse (vgl. Lado 1957), die vor diesem Hintergrund entstanden ist, versprach sich von der wissenschaftlichen Analyse der Erstsprache und der zu lernenden Zielprache sowie den zwischen diesen ermittelten Kontrasten ein Instrument, das im Stande sein sollte, die Eigentümlichkeiten der Lernersprache, d. h. die Abweichungen von der Zielsprache, zu prognostizieren. Dieser Ansatz gilt heute in seiner radikalen Lesart als überholt, da sich gezeigt hat, dass erst eine umsichtige Analyse der gesamten Lernsituation - wenn überhaupt - Prognosen zulässt. Ebenfalls als überholt kann jene extrem "nativistische" Sichtweise gelten, gemäß welcher der Transfer beim Lernen von Zweitsprachen bloß eine marginale Rolle spielt. In der einschlägigen Forschung der 70-er und 80-er Jahre stand der Begriff der Interimssprache (engl. interlanguage, frz. interlangue) im Zentrum (z. B. Nemser 1971, Selinker 1972). Nach Lüdi/Py (1984, 90) versteht man darunter "die Gesamtheit der vorläufigen Kenntnisse einer Zweitsprache, über die ein Lerner verfügt." Im Bewusstsein, dass eine einseitig-deterministische Erklärung der zielsprachlichen Fehler durch die zwischen den beiden beteiligten Sprachsystemen bestehenden Strukturdifferenzen zu kurz greift, wurde der Blick in der Folge stärker auf das lernende Individuum gelenkt. Dieses ist nämlich den Strukturdifferenzen nicht einfach ausgeliefert, sondern hat beim Wahrnehmen, Interpretieren und Verarbeiten derselben eine eigenständige sprachschöpferische Leistung zu erbringen. Transfer ist in dieser Sicht "as much a creative process as any other part of acquisition" (Gass 1996a, 562). Die Forschung ist sich heute einig: Jeder Fremdspracherwerb führt über "Zwischenkenntnisse". Es wäre von daher unsinnig, solche - offenbar unvermeidlichen - Übergangsstadien der Kompetenz bloß negativ zu bewerten. Die stufenweise (und in der Regel "asymptotische") Annäherung an die Sprachbeherrschung der Mutter-

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sprachigen erstreckt sich eben über eine längere Phase von "Versuch und Irrtum". Man kann sich hingegen fragen, ob zur Benennung dieses Phänomens derart implikationsreiche und überdies "statische" Termini wie Interimssprache oder approximative system (Nemser 1971) geeignet sind, handelt es sich doch dabei um nicht bloß von Sprecherin zu Sprecher stark variierende, sondern auch innerhalb der Sprachproduktion desselben Individuums nach Situation und Zeitpunkt stark fluktuierende Ensembles von sprachlichen Wissensbeständen. Theoretisch weniger prätentiöse Ausdrücke wie transitional competence (Corder 1967), "Zwischenkenntnisse", "Zwischenstadium" oder "gegenwärtiger Kenntnisstand" scheinen uns hier eher angemessen, da sie dem prozesshaften und wenig stabilen Charakter dieses Phänomens besser Rechnung tragen. Die Beschäftigung mit sprachlichem Transfer ist jedenfalls heute aktueller denn je, hat aber im Vergleich zu früher eine deutlich andere Ausrichtung. Fragen, die heute im Zusammenhang mit Transfer geklärt werden wollen, sind auf der einen Seite sprachtheoretischer Natur und suchen eine Antwort darauf, ob und wenn ja, welchen Zugang L2-Lernende zu den Prinzipien und Parametern der Universalgrammatik haben, nachdem durch den Erwerb einer L l bereits eine einzelsprachliche Parametersetzung stattgefunden hat. Auf der anderen Seite wird Transfer heute als kognitive Aktivität aufgefasst, die auch, aber nicht allein darin besteht, L l-Merkmale auf die L2 zu übertragen (was sich dann in direkten sprachlichen Reflexen als negativer Transfer äußern kann), sondern bei den Lernenden außerdem zu einer unterschiedlichen kreativen Nutzung der L l fuhrt: Laut diesen Annahmen kann die L l die Wahrnehmung gewisser Merkmale der L2 steuern und als Instrument zur Hypothesenbildung über die Sprachstruktur neu zu lernender Sprachen dienen. Dieses sehr breite Verständnis von Transfer schließt denn auch eine ganze Reihe von Phänomenen wie Vermeidung und Überanwendung bestimmter Elemente mit ein, ein Verständnis, das konzeptionell überaus sinnvoll, empirisch aber nur sehr schwer nachweisbar ist. Wir fühlen uns dieser letzterwähnten Auffassung verpflichtet, die den dynamischen Aspekt des Sprachenlemens und -produzierens betont und davon ausgeht, dass die Lernenden aus den bereits vorhandenen (sprachlichen) Wissensbeständen schöpfen. Zu diesen Wissensbeständen gehören nun nicht nur die Erstsprache, sondern auch weitere (im Lernerstadium befindliche) Fremdsprachen, die - wie Berruto et al. (1988) ins Gespräch gebracht haben - als lingua d'appoggio, als "Stützsprache" dienen können, indem die Lernenden aus ihrem erworbenen Wissen über Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der zu lernenden Zweitsprachen geeignete Lernstrategien ableiten (vgl. Schmid 1995, 36f.). Dies ist vor allem bei nahe verwandten Sprachen der Fall: Einer Französin, die zuerst Deutsch und später Niederländisch lernt, einem Deutschen, der sich zuerst Französisch und anschließend Italienisch aneignet, kann die jeweils früher gelernte germanische bzw. romanische Sprache als Stützsprache dienen. Wer die französischen Wörter la main, le pied, la barbe usw. kennt, wird sich ohne

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große Mühe auch deren italienische Pendants merken können: la mono, U piede, la barba usw. Soweit der positive Transfer. Die Lernenden werden aber immer wieder mal in eine Falle treten und auch Lexeme wie *// visaggio 'Gesicht' (ital. lafaccia) produzieren. Die Idee, dass eine L2 den Erwerb einer dritten Sprache dadurch erleichtern kann, dass sie bei Wortschatzlücken ein (in vielen Fällen zu einer korrekten Äußerung führendes) Ersatzangebot liefern kann, liegt dem von Williams/Hammarberg (1994) geprägten englischen Terminus supplier language zu Grunde (zit. bei Schmid 1995, 36f.). Die beiden Forscher sind überdies zum - plausiblen - Ergebnis gelangt, dass der Einfluss der Stützsprache zunimmt, je kleiner der strukturelle Abstand zwischen L2 und L3 und je größer die Kompetenz in der als Verankerungspunkt dienenden L2 ist. Dies gleich vorweg: Es geht uns im Folgenden nicht darum, die englischen "Spuren" in den deutschen Texten als Normverstöße zu diskreditieren: diese sind vielmehr als Signale dafür anzusehen, wie Lernende ihr bereits erworbenes sprachliches Wissen nutzen. Wir untersuchen im Folgenden sowohl schriftliche wie mündliche Textproduktionen, und zwar deshalb, weil wir davon ausgehen, dass diese beiden Sprachproduktionsfähigkeiten unterschiedlichen Bedingungen unterworfen sind, die in erster Linie mit der Schnelligkeit des Zugriffs auf die (zweit-)sprachlichen Wissensbestände zusammenhängen. Wir gehen davon aus, dass die Reflexionszeit, die bei der Sprachproduktion zur Verfügung steht, die Aktivierung und Deaktivierung sprachlicher Größen aus den beteiligten Sprachen beeinflusst. Da die neuere psycholinguistische Forschung gute Gründe für die Annahme hat, dass die sprachlichen Wissensbestände mehrsprachiger Individuen nicht in einzelsprachlich getrennten Bereichen parzelliert, sondern in einem einzigen Netzwerk verknüpft sind (vgl. für den lexikalischen Bereich Aitchison 1997, 309), sind alle sprachlichen Größen immer - je nach der Verknüpfung der Elemente mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit - aktivierbar. Was bei wenig routinierten L2-Anfängerinnen und -Anfängern aktiviert bzw. wieder deaktiviert wird, dürfte (auch) mit der zur Verfügung stehenden Produktionszeit zu tun haben.

3. Zu den Schulfremdsprachen in der Westschweiz An den öffentlichen Schulen der Westschweiz ist Deutsch die erste Fremdsprache (L2), die im Allgemeinen ab der 4. Primarklasse gelernt wird. Der Unterricht im Englischen, der L3, setzt dagegen erst im Laufe der Sekundarstufe I (im 8. Schuljahr) ein, mit kleineren Unterschieden je nach Kanton und Schultyp (Näheres dazu bei von Flüe-Fleck 1994). Bei einer solchen Konstellation ist nun von vorn herein damit zu rechnen, dass die beiden Fremdsprachen zahlreiche Transfers vom "stärksten" beteiligten Kode her, dem Französischen als der Muttersprache der Lernenden, aufweisen werden. Dieses Phänomen ist den

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Fremdsprachen Unterrichtenden wohl vertraut, und seine Erklärung als Transfer liegt meist auf der Hand. So hat etwa der frankophone Schüler, der die Äußerung *Ich komme vom anfangen produziert hat, nichts anderes getan, als die in seiner Muttersprache gültige Struktur Glied für Glied aufs Deutsche zu übertragen (Je viens de commencer statt Ich habe soeben (damit) angefangen). Aber um Fälle wie den eben zitierten geht es in unserem Beitrag nicht. Neben der primären Beeinflussung durch die Muttersprache ist auch - im Sinne der oben angesprochenen cross-linguistic influence - mit weiteren "Ausstrahlungen" zu rechnen, in erster Linie mit der gegenseitigen Beeinflussung der beiden germanischen Sprachen Deutsch und Englisch, in geringerem Ausmaße wohl auch mit einer gewissen "Rückstrahlung" der beiden Fremdsprachen auf die Muttersprache. Es ist unvermeidlich, dass sich die beiden - relativ nah verwandten - germanischen Sprachen Deutsch und Englisch während des ganzen Lernprozesses gegenseitig beeinflussen. Gemäß dem Konzept der Stützsprache ist nun zu erwarten, dass in erster Linie das früher gelernte Deutsch als Verankerungspunkt für das später einsetzende Englisch dient. Zwar wissen wir aus diversen Gesprächen mit Englischunterrichtenden, dass das Englische der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus der Romandie tatsächlich allerlei deutsche Einsprengsel enthält (z. B. auf der Ebene der Grafie Schreibungen wie *schip statt ship). Erst eine breit angelegte empirische Untersuchung könnte jedoch aufzeigen, welcher der beiden Einflüsse denn nun der stärkere ist, jener des Deutschen auf das Englische oder jener des Englischen auf das Deutsche. Auf Grund der längeren Lernzeit könnte erwartet werden, dass das Deutsche im Englischen mehr und tiefere Spuren hinterlässt als umgekehrt. Wir sind aber nicht so sicher, ob dem wirklich so ist. Es ist nämlich nicht von vom herein auszuschließen, dass hier auch noch mit der Wirkung anderer Faktoren zu rechnen ist, z. B. der größeren Präsenz des Englischen (oder wohl richtiger: des Amerikanischen) im außerschulischen Bereich (Werbung, Medien, Musik, Sport, Internet usw.), dem relativ schlechten Image des Deutschen in der Romandie und anderem mehr. Für die Erforschung des Einflusses des Deutschen auf das Englische würde die Romandie insofern ein geeignetes Terrain darstellen, als sie weltweit zu den nicht sehr zahlreichen Ländern oder Landesteilen gehört, bei denen eine Konstellation "Deutsch vor Englisch" gegeben ist (vgl. Abschnitt 7).

4. Typologie der Transfers aus dem Englischen Obwohl wir der skizzierten dynamischen Transferauffassung konzeptionell verpflichtet sind, muss unser Zugang zu den empirischen Daten aus arbeitstechnischen Gründen ein statischer bleiben: Wir werden im Folgenden die lernersprachlichen Äußerungen, die sich uns in den beiden nachfolgend beschriebenen Datenkorpora anbieten, hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zur deutschen

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Sprache beurteilen und dann jene Elemente einer besonderen Prüfung unterziehen, die nicht der deutschen, sondern der englischen Sprachnorm entsprechen, also englische Interferenzen im "klassischen Sinne" sind. Wir orientieren uns also vorläufig am Transferprodukt und nicht an der Transferproduktion. Bestimmte Präferenzen, die sich bei frankophonen Deutschlernenden auf Grund der beteiligten Sprachen zeigen mögen, können mangels Vergleichsmöglichkeiten mit Deutschlernenden anderer Erstsprachen bloß vermutet, aber nicht eindeutig nachgewiesen werden. Im Folgenden wird ein Analyseraster - nach den gängigen linguistischen Beschreibungsebenen geordnet - vorgegeben, das dazu dient, die beiden Korpora auf Transfererscheinungen hin zu untersuchen. Gleichzeitig werden dadurch anhand von Beispielen die Unterschiede in der Verteilung der Transfers in den mündlichen und schriftlichen Daten illustriert. 1) Transfers auf der phonetisch-phonologischen Ebene (1)

[w] statt [v] im Anlaut von Wein (nach englisch wine) (mdl.)2

2) Transfers auf der orthografischen Ebene (2) (3)

statt : in statt (sehr.)3 statt ; in statt (sehr.)

3) Transfers auf der morphologischen Ebene (4) (5) (6) (7)

Es gibt zu viele (statt Spitäler) (mdl.) wir gehen campen (statt können) (sehr.) das und Ding (statt schönst-, wichtigst-) (sehr.) Er ist ein berühmter (statt Philosoph) (mdl.)

Belege für diese Kategorie sind insgesamt selten. Dies hat sicher auch damit zu tun, dass im Englischen die Flexionsmorpheme für die Deklination und die Konjugation schon weitgehend abgebaut sind und die verbleibenden Flexionsund Wortbildungsmorpheme mit deutschen Flexiven teilweise identisch sind. 4) Transfers auf der syntaktischen Ebene (8) (9)

Sie wirklich liebt ihn (statt Sie liebt ihn wirklich) (mdl.) ...weil ich mag nicht die Schule aber ich kann sagen die beste Schule ich möchte (statt die beste Schule, die ich möchte) (sehr.)

5) Transfers auf der lexikalischen Ebene 5.1) Transfer von im Deutschen nicht existierenden Wortkörpem ("Direktübernahmen") a) Übernahme englischer Lexeme ohne "etymologisches Pendant"4 im Deutschen 2

3

Mit "sehr." werden Belege aus dem schriftlichen Korpus (vgl. Abschnitt 5.1.), mit "mdl." solche aus dem mündlichen Korpus bezeichnet (vgl. Abschnitt 6. l.). Wir verzichten in unseren Ausführungen auf die "-Markierung bei abweichenden Formen und verwenden statt dessen Spitzklammem (< >).

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(10) Er hat Augen (statt dunkle Augen) (mdl.)

(11) Ich mag viele die (statt Ich mag Pferde sehr) (sehr.) b) Übernahme englischer Lexeme mit "etymologischem Pendant" im Deutschen5 (12) Meine Traumschule hat auch einegrosse (statt Garten) (sehr.) (13) Er hat probiert, das Geld zu (statt stehlen) (mdl.)

Zu den Direktübernahmen (mit oder ohne etymologisches Pendant) zählen wir auch die Transfers im Bereich der (teilweise valenzbedingten) Präpositionen, die sich problemlos in die beiden obigen Kategorien einordnen lassen, z. B. (14)

Ich arbeite nicht viel Schule jetzt (statt in der Schule) (sehr.)

(15)

Er glaubt nicht Gott (statt an Gott) (mdl.)

5.2) Transfer von englischen Bedeutungen (16) ... einen guter Tennisspieler zu (nach engl. to become statt werden) (sehr.) (17) Was ist die von mündig? (nach engl. meaning statt Bedeutung) (mdl.)

Hier wurde den deutschen Lexemen von den betreffenden Schülerinnen und Schülern die für deren englisches Pendant gültige Bedeutung unterlegt. 6) Doppelgestützte Transfers auf der lexikalischen Ebene Bei den unter 1) bis 5) behandelten Transfers handelt es sich um solche, die eindeutig dem Einfluss des Englischen (L3 oder gelegentlich auch "Tertiärsprache" genannt) zuzuschreiben sind. Wir möchten aber noch einmal betonen, dass der größte Teil der Transfers in unseren beiden Korpora eindeutig und ausschließlich auf die französische Muttersprache zurückzuführen sind, z. B. (18)

Er hat die falsche < Touche> gedrückt ([tufa] statt Taste, engl. key) (mdl.)

Neben den exklusiv auf das Konto des Französischen (Typ ) und den exklusiv auf jenes des Englischen (Typ Augen) gehenden Transfers gibt es nun aber eine nicht zu unterschätzende Zahl von Fällen, bei denen infolge einer Wortschatzgleichung (oder gelegentlich auch wegen einer grammatischen Strukturentsprechung) nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob ein Transfer vom Französischen oder ein solcher vom Englischen her vorliegt. Für dieses wichtige Phänomen, dem bisher in der Kontaktlinguistik noch nicht die gebührende Beachtung zuteil wurde, schlagen wir hier den Fachterminus doppelgestützter Transfer vor. Natürlich ist es in diesen Fällen zunächst einmal näher Etymologisches Pendant meint hier eine ausdrucksseitige Ähnlichkeit zwischen Englisch und Deutsch, die zwischen den synchron vorkommenden Formen ausgemacht werden kann. "Ähnlichkeit" ist hier als alltagsweltliche, intuitive Größe konzeptioniert. Eine operationalisierbare Ähnlichkeitsmessung bleibt ein Desideratum. Wortpaare wie Garten: garden, die auf die gleiche historische Wurzel zurückgehen, ähnlich klingen, ähnlich geschrieben werden und die das Gleiche oder etwas Ähnliches bedeuten, werden in der neueren Fachliteratur öfter auch als "Kognaten" bezeichnet (Hufeisen 1994, Neuner 1999, gebildet nach engl. cognate 'verwandtes Wort').

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liegend, an den - ungleich stärkeren - Einfluss von der Muttersprache her zu denken. Nicht auszuschließen ist aber auch die Möglichkeit, dass von beiden Sprachen ein gleichzeitiger und gleichgerichteter Druck auf das Lernerdeutsch ausgeht, z. B. (19) Ich weiss, dass das sehr ist (statt wichtig, frz. important, engl. important) (mdl.) (20) Waffen (statt verschiedene Waffen, frz. different, engl. different) (sehr.)

Mit Hilfe der obigen Kategorisierung wird in den Kapiteln 5 und 6 aufgezeigt, ob und inwieweit die verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen im mündlichen und schriftlichen Korpus von Transfererscheinungen betroffen sind.

5. Englische Transfers in der Schriftlichkeit 5.1. Korpus Die nachfolgenden Ausführungen über englische Transfers in der Schriftlichkeit beruhen auf Daten, die für eine Studie zum gesteuerten Grammatikerwerb an Genfer Schulen erhoben worden sind. Während zwei Jahren haben Schülerinnen und Schüler von der vierten Primarklasse bis zur Matura je acht Texte geschrieben, die hinsichtlich grammatischer Phänomene ausgewertet worden sind (vgl. Diehl et al. 2000; vgl. auch die Beiträge von Diehl und Studer in diesem Band). Aus diesem "Genfer Korpus" sind für die vorliegende Fragestellung Texte von Schülerinnen und Schülern ausgewählt worden, die auch Englischunterricht haben. Es handelt sich dabei um Jugendliche aus insgesamt zehn Klassen der Orientierungsstufe (cycle a"orientation), der Handelsschule (ecole superieure de commerce) und des Gymnasiums (college). Für die vorliegende Fragestellung werden pro Klasse die Texte von zehn frankophonen, monolingual aufgewachsenen Schulkindern untersucht, und zwar pro Testperson vier Aufsätze, die innerhalb eines Schuljahres geschrieben worden sind. Insgesamt werden also vierhundert Aufsätze ausgewertet.

5.2. Zu den Bedingungen des Schreibens in der Fremdsprache Die sprachliche Teilfähigkeit "Schreiben" stellt spezielle Anforderungen an die Produzentinnen und Produzenten, die mit den Besonderheiten der Sprache im schriftlichen Medium zu tun haben. Es handelt sich dabei etwa um die Probleme der Umsetzung von einer lautlichen in eine grafische Gestalt (wobei bei schulisch instruierten Zweitsprachen wohl auch der sekundäre Weg von der Grafie zum Laut eine Rolle spielen kann) oder um die komplexe intellektuelle Fähigkeit, situationsunabhängige, kohärente Texte zu schaffen. Zudem ist mit kultu-

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rell bestimmten ästhetischen Anforderungen an schriftliche Texte zu rechnen (z. B. der Vermeidung gewisser Wiederholungen). Die gängige Schulpraxis, welche die Benotung und Selektion vor allem anhand schriftlicher Texte vornimmt, dürfte außerdem zu unterschiedlichen Einstellungen der Schülerinnen und Schüler gegenüber der schriftlichen und mündlichen Sprachproduktion fuhren. Was die Textproduktion als Arbeitsprozess betrifft, so bietet die Schriftlichkeit in der Regel ein gewisses Maß an Reflexionszeit. Während in mündlichen Kommunikationssituationen meist rasch reagiert werden muss und automatisierte Sprachproduktionsmuster gefragt sind, bleibt bei der schriftlichen Aktivität mehr Zeit, um die Sprachproduktion einer verstärkten Selbstkontrolle zu unterziehen.6 Im Unterschied zu mündlichen Kommunikationssituationen kann damit auch das im gängigen Fremdsprachenunterricht praktizierte metasprachliche Regellernen eher angewandt werden. Regeln, die noch nicht automatisiert sind, können in der Schreibtischsituation besser aktiviert werden, wovon auch Korrekturen im Text zeugen (beispielsweise werden Wortstellungen durch nachträglich eingefügte Pfeile korrigiert) (vgl. Portmann 1991). Allerdings ist nicht zu übersehen, dass es beträchtliche individuelle Unterschiede bei der reflektierenden Textarbeit gibt - während bei einigen Schülerinnen und Schülern durch das Schriftbild der Eindruck zu Stande kommt, dass sie spontan und ohne weitere Überarbeitungen quasi "mündlich" schreiben, scheinen andere intensiver am Text zu "arbeiten". Die besondere Produktionssituation des schulischen Schreibens lässt nun für die vorliegende Untersuchung die folgenden Annahmen zu: Die Texte im skizzierten Umfeld der Genfer Studie sind von den Schülerinnen und Schülern als deutsche Texte intendiert, die primär einen möglichst hohen beziehungsweise vollständigen Grad an formaler Richtigkeit haben sollen. Da eine "echte" Kommunikation, bei der es um gegenseitige Verständigung gehen würde, gar nicht Zielsetzung der Schreibübung sein kann, fällt nicht nur das Französische als natürlicherweise gegebene, gemeinsame sprachliche Basis zwischen Schreib- und Leseinstanz zwangsläufig als Verständigungsmittel aus, sondern die Schreibenden dürften sich auch ein Rekurrieren auf vermutete Englischkenntnisse des Partners oder der Partnerin versagen, eine in anderen Konstellationen aber durchaus sinnvolle kommunikative Ausweichstrategie.7 Faerch/Kasper(1986, 54) unterscheiden im Einklang mit verschiedenen Kognitionspsychologen zwei Typen von Prozeduren, die beim Sprachgebrauch vorkommen: "(1) procedures which are fast, automatic, unattended and capable of operating simultaneously; and (2) procedures which are slow, cognitively controlled, attended and executed consecutively." Kohn (1986, 30) unterscheidet hinsichtlich des lemersprachlichen Wissens um die (vermeintliche) Korrektheit einer L2 und hinsichtlich der Anwendung dieses Wissens drei Transfertypen: "Transfer type I is produced if the transfer variant [...] is part of the learner's knowledge of correctness but is not used in retrieval. [...] Transfer type II is the result of a transfer which takes place on the knowledge level and which is also reflected in retrieval. [...] in the case of transfer type III, retrieval is affected while knowledge is not." Wir gehen davon aus, dass in der vorliegenden Produktionssituation - wenn Transfer vorkommt - das Auftreten von Typ II im Sinne Kohns begünstigt ist.

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Unter diesen Umständen können wir also davon ausgehen, dass auch die lernersprachlichen Transfers, die festgestellt werden können, tendenziell als "deutsche" Textproduktionen intendiert sind und somit zur deutschen Interlanguage gehören. Dass die Schülerinnen und Schüler in "Notsituationen", d. h. in der Regel bei fehlendem Vokabular, durchaus auch sprachliche Größen einfließen lassen können, bei denen sie sich bewusst sind, dass es sich nicht um Deutsch handelt, zeigen jene lexikalischen Transfers aus dem Französischen, die mit Anführungszeichen als Sonderfälle markiert sind. Ein einziger Schüler wendet eine ähnliche Strategie bei einem englischen Lexemtransfer an: Weil ihm offensichtlich das deutsche Lexem Eisenbahn fehlt, behilft er sich mit dem englischen Railway. Mit den Anführungszeichen scheint er signalisieren zu wollen, dass er sich im Klaren darüber ist, dass er sich in der "falschen" Fremdsprache befindet. Immerhin kann er aber mit dieser Strategie - im Gegensatz zu "normalen" Ll-Transfers - Fremdsprachenkenntnisse ausweisen (vgl. zum strategischen Transfer Faerch/Kasper 1986).

5.3. Ergebnisse 5.3.1. Quantitative Dimensionen Das schriftliche Datenmaterial erlaubt im Gegensatz zu den mündlichen Daten auch eine Annäherung an die quantitativen Dimensionen der negativen englischen Transfers, zumindest hinsichtlich der Frage, wie diese sich in einer ganz spezifischen Produktionssituation und bei einer bestimmten Schülerpopulation zeigen. So kann im vorliegenden Fall festgestellt werden, dass bei 21 von 100 Schreiberinnen und Schreibern keine jener englischen Transfers nachgewiesen werden können, die zu Normverstößen in der deutschen Zielsprache führen würden. Bei den übrigen - also bei etwas mehr als drei Vierteln aller Testpersonen - sind insgesamt 376 Verstöße gegen die Norm der deutschen Sprache zu konstatieren, die mit großer Wahrscheinlichkeit durch die irrtümliche Aktivierung englischsprachigen Wissens bedingt sind, wobei hier sehr große interindividuelle Unterschiede festzustellen sind - von einem "durchschnittlichen Transferverhalten" zu sprechen, wäre also verfehlt. Inwiefern nun die englischen Transfers insbesondere bei jenen Schülerinnen und Schülern, bei denen sie oft vorkommen, die Verstehbarkeit ihrer Texte einschränken und allenfalls gezielter didaktischer Maßnahmen bedürften, wird abschließend diskutiert. Im Folgenden werden die quantitativen und qualitativen Dimensionen der vorkommenden Transfers nach linguistischen Beschreibungsebenen aufgeführt (vgl. Tabelle 1) und der Befund nachfolgend kommentiert.

Englisches im Deutsch von Französischsprachigen Transfers auf der orthografischen Ebene Transfers auf der morphologischen Ebene Transfers auf der syntaktischen Ebene Transfers auf der Ebene des Lexikons a) Direktübernahmen (mit etymolog. Pendant: 209; ohne etymolog. Pendant: 14) b) Bedeutungstransfers c) doppelgestützte Transfers Total

71 38 22 9 307

10% 6% 2% 82%

223 29 55

376

100%

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Tab. l: Englische Transfers (Tokens ) in 400 Lernertexten nach linguistischer Ebene

5.3.2. Der Transfer von Lexemen Der Löwenanteil an negativen Transfers aus dem Englischen ist auf der Ebene des Lexikons auszumachen, weshalb diese hier an erster Stelle besprochen werden sollen. Weitaus die meisten lexikalischen Transfers, nämlich 209 von 307 Tokens, gehören zur Kategorie der "Direktübernahmen mit etymologischem Pendant" ("Kognaten"). Die transferierten englischen Lexeme haben also einen hohen Grad an ausdrucksseitiger Ähnlichkeit zu jenen deutschen Wörtern, deren Stelle sie sozusagen einnehmen. Die Ähnlichkeit bestimmter Lexeme ist in der Regel die "Folge" der germanischen Sprachverwandtschaft von Deutsch und Englisch, die sich in einer Reihe von transferierten englischen Lexemen mit nur geringfügigen lautlichen und/oder grafischen Unterschieden manifestiert, z. B. (21) Es war im (statt Sommer)9 (22) Alle Schüler mögen andere Länder sehen, und es ist wenn es ist London (...) oder Wien (statt besser) (23) Eine Woche würde es gehen, aber ein Monat ist es ganz (statt lang)

Dazu kommen hybride deutsch-englische Bildungen von der Art (engl. sixteen, dt. sechzehn), (engl. midnight, dt. Mittemacht), (engl. singer, dt. Sängerin), (engl. wonderful, dt. wunderbar), (engl. uncle, dt. Onkel), (eine deutschenglische Entsprechung zu frz. avant-premiere 'Vorpremiere'). Bei einem Beleg wie ist die Annahme eines englischen Transfers allerdings nicht zwingend, kann es sich doch auch um eine "innerdeutsche" Lemerbildung handeln (nach dem produktiven Muster springen: Springerin, schwimmen: Schwimmerin usw.) Was das quantitative Verhältnis zwischen Types und Tokens betrifft, so sind einige Types bei verschiedenen Lernenden belegt, wie man das in frühen Phasen des gesteuerten Erwerbs bei Individuen durchaus erwarten kann, die mit denselben Lehrmitteln Deutsch und Englisch lernen und dadurch denselben Wortschatz-Input bekommen (z. B. -Orthografie; better statt besser, Letter statt Brief, die syntaktischen Transfers beschränken sich auf 4 Types). Die Großschreibung kann als Indiz dafür gesehen werden, dass die Lernenden die transferierten Lexeme für deutsche halten.

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Große Ähnlichkeiten gibt es zudem bei Lexemen, die zum gemeinsamen Sprachbesitz aller drei beteiligten und weiterer Sprachen gehören und die sich lautlich und/oder grafisch nur so geringfügig voneinander unterscheiden, dass sie wohl auch von einem intuitiven Alltagsverständnis aus als "gleich" betrachtet werden. Es handelt sich dabei einerseits um gemeinsame Fremdwörter (Zentrum, Biologie), andererseits um Toponyme (Indien, Spanien, Amerika). Wir bezeichnen solche Lexeme, die mit jeweils einzelsprachspezifischer lautlicher und morphologischer (sowie grafischer) Adaption in mehreren Sprache verwendet werden, als Interlexeme. Aus der Perspektive der Lernenden sind Interlexeme durch zwei oder mehrere ihnen bekannte (Lemer)sprachen gestützt, also doppelgestützt oder sogar mehrfach gestützt. Solche Interlexeme weisen nun in den vorliegenden deutschsprachigen Lemertexten häufig jene Gestalt auf, die im Englischen üblich ist, z. B. (24) Eine Traumschule ist eine Schule wo wir haben vier Stunden deutsch und vier Stunden english aber keinen Stunden (statt Mathematik) (25) Am Abend ich bin das gegangen (statt Cafe) (26) Sie hört oft und wir gehen oft in das (statt Musik und Konzert)

Femer auch etwa , , . Auch Ländernamen erscheinen überaus häufig in der englischen (und nicht etwa gleichzeitig französischen) Form: , , , . Natürlich wäre es in solchen Fällen jeweils interessant zu wissen, wie deren Autoren und Autorinnen diese denn nun ausgesprochen haben wollen. Unseres Erachtens sind nun auch - sehr häufig belegte - Schreibungen wie und unter gewissen Bedingungen als Lexemtransfers zu betrachten. Bei der in diesen mehrfach gestützten Ländernamen vorkommenden -Schreibung könnte ja argumentiert werden, dass es sich hier bloß um eine englische Schreibung, also einen orthografischen Transfer handelt, mit der eine durchaus deutsche Lautung verschriftlicht wird. In solchen Fällen einer "Beinahe-Homografie" zwischen Deutsch und Englisch gehen wir jedoch dann von Lexemtransfer und nicht von Orthografietransfer aus, wenn derjenige Laut, der in englischer Grafie wiedergegeben wird, in nicht-gestützten, "deutschen" Lexemen nach deutscher Konvention verschriftlicht wird. Wird also der velare Plosiv bei eindeutig deutschen Wörtern mit verschriftlicht (z. B. ) und bleibt die -Schreibung auf Lexeme der beschriebenen Art (z. B. ) beschränkt, transferieren die Lernenden unseres Erachtens einen englischen Ausdruck ins Deutsche. Im Vergleich zu den häufigen Direktübernahmen mit etymologischen Pendants sind nun jene ohne Pendants mit bloß 14 Belegen sehr viel seltener festzustellen, vgl. zum Beispiel: (27) Ausserdem in dieser Film, gab es viele , ich mag viele die (statt Pferde1*) 10

Bemerkenswert am Beleg Horse ist, dass es sich um eine durchaus reguläre "deutsche" ePluralbildung zu lemersprachlichem Singular *Hors handeln könnte.

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(28) "Sommersby" beginnt, als Richard Gere von die zurückkommt war (statt Krieg) (29) Die Ehern waren . intelligent und geduldig (statt nett) (30) Dieses Krimi zeigt gut viele Problemen. Zum Beispiel die Konkurrenz zwiche die Weissen und die (engl. dark 'dunkel', statt die Schwarzen) (31) ich möchte viele Reisen haben und Stunde in die Schule, ich wollte auch das Essen wäre teuer (statt weniger) (32) Sie wollen sich verreiraten, das Fraulein trifft den Bruder des Mannes und liebt ihn (statt aber)

Welche Lautformen die Lernenden mit den gewählten Grafien verschriftlichen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Wie hat man sich die "deutschen" Lautungen von Horse, War, but vorzustellen? Immerhin handelt es sich hier um mögliche deutsche Graphemfolgen - im Falle von War und kind sogar um real existierende deutsche Wortformen - die problemlos auch mit deutscher Phonologic unterlegt und "deutsch" gelesen werden können, während nur ausnahmsweise Direktübemahmen ohne etymologisches Pendant vorkommen, bei denen man "unmögliche" Graphemkombinationen vorfindet, z. B. (33) Die Lehrere haben Angst, und die Türen (statt schließen) (34) Am Morgen du schläfst dann du standst auf um elf (engl. hour 'Stunde', statt Uhr")

Anders verhält es sich beim eingangs zitierten - für den Gesamtbefund allerdings untypischen - Beleg ihre Eis sind blau (engl. eyes 'Augen'), wo die deutsche Orthografie befolgt wird und hier zu einer (für die Lektüre befremdlichen oder auch belustigenden) Homografie und damit wieder - zufällig? - zu einem bereits existierenden "deutschen Wort" führt. Auch bei den "Direktübernahmen ohne etymologisches Pendant" zeigt sich also, dass die meisten Lernenden, bei denen derartige Transfers vorkommen, eine gewisse Vorstellung darüber zu haben scheinen, wie Deutsch auf der Laut- und/oder Graphemebene strukturiert ist (vgl. auch Trousers 'Hosen' mit "deutscher" -Schreibung, jedoch "englischem" s-Plural). Auffalligerweise sind nun - im Gegensatz zu den Direktübernahmen mit etymologischem Pendant - die Direktübernahmen ohne Pendant insofern singular, als sich die einzelnen Lernerindividuen bei jeweils unterschiedlichen Lexemen in deren sprachlicher Zugehörigkeit irren, während die Lexeme mit etymologischem Pendant gleich bei mehreren Lernenden zu Transfers führen (z. B. sind Garden, India, Theatre bei mehr als einer Testperson belegt, Horse und War jedoch nur bei einer). Dass sich bei einem bestimmten deutsch-englischen Lexempaar mit großer formaler Ähnlichkeit gleichzeitig viele in der Zugehörigkeit täuschen, bei einem deutsch-englischen Lexempaar ohne Ähn-

An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass unsere - der Alltagsintuition nachempfundene - Kategorienbildung in lexikalische Direktübernahmen mit/ohne etymologischen Pendants nicht immer eindeutige Klassifizierungen erlaubt. Dieser Beleg legt die Vermutung nahe, dass die Wissensbestände sämtlicher drei beteiligter Sprachen in die Bildung eingegangen sein könnten: Die französische Aussprache der Grafie des englischen Lexems fuhrt hier nämlich zum zielsprachlich korrekten deutschen Wort.

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lichkeit aber nur ein einzelnes Lemerindividuum, darf unseres Erachtens als Indiz dafür gelten, dass "interlinguale Nähe" Transfer begünstigt. Ebenfalls in den Bereich der lexikalischen Transfers gehören 12 Direktübemahmen von Wortgruppenlexemen. Die Verb-Präposition-Verbindungen, die man wegen der "Polylexikalität" und "Festigkeit" der Präposition zu den Wortgruppenlexemen oder Phraseologismen im weiteren Sinne zählen kann (vgl. Burger 1998), machen dabei den größten Anteil aus, z. B. (35) Deine Freunde und mich warten Deine Neuigkeit (statt warten auf, engl. to wait for) (36) Wenn ich die Kurse wählen könnte, würde ich alle interessieren (statt sich interessieren för, engl. to be interested in) (37) ich sehr gut (statt es geht mir sehr gut, engl. to be well) (38) Jetzt, finde ich dass ich recht (statt recht hatte, engl. to be right)

Dass keine Phraseologismen mit hohem Idiomatizitätsgrad aus dem Englischen ins Deutsche transferiert werden, hat sicher damit zu tun, dass solche Wortgruppenlexeme in den Lernerstadien der Schülerinnen und Schüler des Genfer Korpus noch gar nicht gelernt worden sind. Auf ausdrucke- und inhaltsseitiger Ähnlichkeit von Lexemen in nah verwandten Sprachen beruhen nun auch jene Transfers aus dem Englischen, die wir als Bedeutungstransfers bezeichnen und die im schriftlichen Korpus mit 29 Tokens belegt sind. Der am häufigsten belegte Bedeutungstransfer ist beim Lexem wenn festzustellen, das im "englischen Sinne" von 'als' gebraucht wird ( ich jung war). Da diese Abweichung aber auch in der deutschen Lernersprache von Frankophonen, die kein Englisch gelernt haben, häufig zu beobachten ist, muss hier ebenso an einen Einfluss von frz. quand (je nachdem mit als oder wenn zu übersetzen) gedacht werden. Bedeutungstransfers kommen wegen der interlingualen Homonymien und Homographien zwischen Deutsch und Englisch vor allem im Bereich der Relativpronomen und der Modal- und Auxiliarverben vor, z. B. (39) Ein Stadt die Preis sind billig weil wir nicht genug Geld haben (statt wo, zu engl. where) (40) Ich weiss nicht gehen (statt wohin, zu engl. where) (41) Das du nicht vergessen (statt darfst du nicht, zu engl. you mustn 't) (42) Aber ich wünsche, dass das nie mehr passieren (statt wird, zu engl. will)

Für die Verwendung von nicht müssen im Sinne von 'nicht dürfen' wie in (41) ist die Erklärung als Transfer vom Englischen her nicht die einzig mögliche. Diese Abweichung wird nämlich - bedingt durch die entsprechende Polysemie von frz. ne pas devoir - auch von französischsprachigen Lernenden ohne Englischkennrnisse produziert. Es gibt nun auch eine hypothetische Ähnlichkeit zwischen Sprachen, die von den Lernenden auf Grund ihrer Erfahrung mit (mindestens) doppelgestützten Interlexemen fälschlicherweise vermutet wird, weil aus dem oben beschriebenen Wissen um mehrfach gestützte Lexeme ein Übertragungsmechanismus abgeleitet werden kann, der in vielen, aber nicht in jedem Fall zum Erfolg führt.

Englisches im Deutsch von Französischsprachigen

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Während intelligent - mit jeweils geringfügig unterschiedlicher Lautung - ein französisches, englisches und deutsches Lexem ist, sind die im Korpus belegten Adjektive , und im Deutschen entweder nicht existent oder nur in bestimmten Kontexten tatsächlich gebräuchlich - sie können als doppelgestützte Transfers interpretiert werden, die die Schülerinnen und Schüler aus den französischen und englischen Entsprechungen ins Deutsche transferieren. (43) Für viele Personen Geld ist nicht sehr (statt wichtig) (44) Ich bin in eine neue Schule und vielleicht, dass es sein gibt (statt verschieden) (45) Ich denke, dass es gut wäre, wenn nächstes Jahr wir mehr Deutschunterricht machen wurden wollen (statt mündlichen)

Dass es zwischensprachliche Umsetzungsregeln im Sinne von eigentlichen Strategien gibt, die solche Transfers auslösen, kann bei Normverstößen wie (frz. fantastique entspricht engl. fantastic und dt. , entsprechend auch ) beobachtet werden. Die "eindeutschende" Schreibung macht deutlich, dass die französisch-englisch doppelgestützten Lexeme bei einigen Lernenden tatsächlich eine grafische oder lautliche Modifikation in Richtung der Zielsprache erfahren, eine "Auslaut-Modifikation", die bei anderen Lexemen ja durchaus zum "Erfolg" führen würde (vgl. frz. musique, engl. music, dt. Musik). Wie die obigen Beispiele deutlich machen, können diese Transfers einerseits zu einer bloß unangemessenen stilistischen Markierung wie in (46), andererseits aber auch zu eigentlichen Wortschatzfehlem führen, wie in (47) und (48). (46) Die zwischen Schüler und Lehrern werden besser als before (frz. relations, engl. relations, dt. Beziehungen) (47) Die beste Ferien, die ich mit meine Eltern habe (frz. passer, engl. to pass, dt. verbringen) (48) Und wir können in einem schlafen (frz.foret, engl. forest, dt. Wald)12

Ob die Erfahrung, dass das später gelernte Englische eine erhebliche "lexikalische Schnittmenge" mit dem Französischen gemeinsam hat, nun auch zu einem forscheren Transfer dieser Lexeme ins Deutsche führt, wäre nachzuweisen. Dass die "cross-linguistic similarities" zu gelegentlichen Fehlleistungen in der lemersprachlichen Produktion führen können, sollte aber deren prinzipielle Vorteile vor allem auch für das Lese- und Hörverstehen einer Zweitsprache nicht übersehen lassen: "cross-linguistic similarities can produce positive transfer in several ways. Similarities between native language and target language vocabulary can reduce the time needed to develop good reading comprehension" (Odlin 1989, 36). Dass die Lernenden im Falle von Leiter und Forest nicht die L l-Formen, sondern die englischen L3-Formen realisieren, hat sich schon bei den Interlexemen mit direkten Entsprechungen in allen drei beteiligten Sprachen gezeigt (siehe oben), wo ebenfalls tendenziell die englische Form in deutschen Lernertexten auftaucht. Die Lernenden wählen also eine Form, die zumindest von ihrer L l abweicht.

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Der Gesamtbefund darf wohl dahingehend interpretiert werden, dass in der Schriftlichkeit englische Transfers am ehesten bei deutsch-englischen Erbwörtern aus dem Germanischen (den "prototypischen" Kognaten) und bei Interlexemen zu erwarten sind. Jene Bereiche, die zur "gemeinsamen Schnittmenge" der einzelsprachlichen Wissensbestände gehören, scheinen zu Unsicherheiten und gelegentlich zur Aktivierung derjenigen Form zu führen, die nicht mit der Zielsprache Deutsch, sondern mit der ebenfalls zur Verfügung stehenden Lernersprache Englisch übereinstimmt. Es scheinen also in den schriftlichen Lernertexten nur selten "echte" deutsche Wortschatzlücken der Anlass zu sein, um sich mit englischen Lexemen zu behelfen; vielmehr sind es offenbar verschiedene Arten von inhalts- und ausdrucksseitigen Ähnlichkeiten zwischen Deutsch und Englisch (und Französisch), die eine sichere "Trennung" der beteiligten Sprachen erschweren. Die Ähnlichkeit der transferierten englischen Elemente mit dem Deutschen ist offenbar für die Lernenden ausreichend, um - in den beobachteten Lemerstadien - als deutsche Lexeme zu gelten (vgl. auch Gass 1996a, 563).

5.3.3. Transfer und Orthograße Weder die Lautinventare noch deren Verschriftlichungskonventionen sind im Deutschen, Französischen und Englischen gleich, was zu speziellen Problemen beim Erwerb der Schriftsprache führt (vgl. Odlin 1989, 124ff.). Ausgehend davon, dass im modernen Sprachunterricht die gesprochene Sprache die primäre Form ist, müssen nun die Genfer Schülerinnen und Schüler bei der Verschriftlichung des Deutschen und des Englischen - neben den vielen Unregelmäßigkeiten der Orthografie - nicht nur lernen, welche Grapheme für jene Laute verwendet werden, die in der ersten Sprache, dem Französischen, nicht existieren, also beispielsweise das englische oder das deutsche , sondern sie werden in den neuen Sprachen auch mit Lauten konfrontiert, die zwar gleich oder sehr ähnlich wie Laute der eigenen Sprache sind, jedoch anders verschriftlicht werden, und zwar im Englischen und Deutschen jeweils unterschiedlich (vgl. /JY im frz. als , im engl. als , im dt. als ). Die meisten der vorkommenden englischen Orthografie-Transfers ins Deutsche betreffen nun Konsonantenschreibungen, und zwar die /w/-Schreibung im Anlaut als () und die /^/-Schreibung mit der Graphemfolge (die ,li , , ). In mehreren Texten erscheint auch die Graphemfolge (z. B. für , ). Hier ist keine Entscheidung darüber möglich, ob diese Graphemkombination einen palatalen Frikativ ("Schibilanten") darstellen soll und wir damit eine englische Schreibung für einen deutschen Laut vor uns haben, oder ob die -Kombination als englische Lautung mit einem Alveolaren ("Sibilanten") Sehr schön zeigt sich hier die lernersprachliche Hypothesenbildung bezüglich deutscher Personenbezeichnungen.

Englisches im Deutsch von Französischsprachigen

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gemeint ist und es sich damit um einen Transfer auf der lexikalischen Ebene handelt. Immerhin kommt aber die Graphemfolge auch in , die , vor, wo ein englischer Lexemtransfer unwahrscheinlicher ist und wir eher eine englische Schreibung für eine deutsche Lautkombination annehmen können. Die Verstöße gegen die deutschen Verschriftlichungskonventionen, so hat sich bei den obigen Ausführungen gezeigt, sind nun aber bei den lexikalischen Transfers und dort vor allem bei den Interlexemen besonders deutlich. Die englischen Lexeme - ob Interlexeme oder nicht - sind in der Regel nicht an die deutsche Orthografie adaptiert (vgl. als Ausnahme Eis 'Augen', Trousers 'Hosen'). Diese Tatsache, dass einerseits englische Orthografie bei deutschen Lexemen (eingeschränkt) vorkommt und dass anderseits englische Lexeme offenbar problemlos in der englischen Schreibung in deutsche Texte übernommen werden, macht unseres Erachtens deutlich, dass der Wissensstand darüber, welche Grapheme in welchen Kombinationen im Deutschen vorkommen können, bei einigen Lernenden beschränkt ist und möglicherweise früheres Wissen und Können durch die später gelernten englischen Konventionen nachhaltig "gestört" werden kann. Wenn die velaren Plosive im Satz das war mit -Schreibung erscheinen, so zeigt das wohl, dass jene Vertrautheit mit deutschen Schriftbildern noch nicht vorhanden ist, welche die Lernenden veranlassen würde, eine -Schreibung als suspekt zu betrachten. Eine sichere Beherrschung deutscher Verschriftlichungskonventionen, so die Annahme, könnte die Lernenden dazu befähigen, englische Lexeme auf Grund der nicht-deutschen Graphemfolgen zu orten, sie entweder in Richtung deutscher Konventionen zu modifizieren (als Beispiele für lernersprachliche "Eindeutschungen": , ) oder sie als Nicht-Deutsch auszuscheiden. Eine Reihe von Lexemtransfers scheint also damit zusammenzuhängen, dass die subtilen lautlichen und grafischen Unterschiede zwischen Deutsch und Englisch (noch) nicht in ihrer einzelsprachlichen Spezifität erkannt werden können. Dass diese "Abgrenzungssicherheit" nicht besteht, wird auch von Lehrpersonen bestätigt, die Englisch unterrichten und dann bei Französischsprachigen einschlägige deutsche Transfers finden.

5.3.4. Zum morphologischen Transfer Was die in der obigen Tabelle als morphologische Transfers quantifizierten Phänomene betrifft, so sind diese nicht nur zu problematisieren, sondern wohl auch zu reinterpretieren. Es sind nämlich berechtigte Zweifel angebracht bei der Frage, ob es sich bei Formen wie er in (49), es in (50) und wir in (51) tatsächlich um Transfers englischer Flexionsmorpheme handelt. (49) Er ein sehr komplizierte Mensch (statt war) (50) Es mir wirklich egal (statt ist) (51) wir gehen campen (statt können)

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In Bezug auf die Verbalmorphologie - die im Englischen ohnehin reduziert ist erscheinen nämlich nur ausgewählte Paradigmenstellen bestimmter Verben in den Lernertexten. "Morphologischer" Transfer ist bezeichnenderweise nur feststellbar, wo der Wortstamm im Deutschen und Englischen sehr ähnlich, quasi "gemeinsam" ist. Die "Verwechslung" wird - wie bei den lexikalischen Direktübernahmen - durch Ähnlichkeit begünstigt, wie beim englisch-deutschen Wortformenpaar is:ist oder wie in Beleg (51), wo die englische Paradigmenform we can der deutschen er kann sehr ähnlich ist. Dass ein englisches grammatisches Morphem im Verbund mit eindeutig "deutschen Lexemen" produktiv würde (z. B. sie *sprich-s; er *warn-ed mich), ist nicht belegt. In vielen Fällen ist zudem nicht zu entscheiden, ob ein deutsches Flexiv normwidrig generalisiert wird, oder ob ein englisches Flexiv transferiert wird. Handelt es sich in (52) bei must um eine Generalisierung des (außerhalb der Modalverben) regulären deutschen f-Suffixes oder um einen Transfer des englischen she must, in (53) um eine solche des deutschen, phonologisch bedingten Superlativs auf -est oder einen Transfer des englischen Superlativsuffixes -esf! (52) sie zwischen die zweite Männer wählen (statt muss) (53) Zuerst weil ich denke, die Freiheit ist das und das Ding, das man haben kann (statt schönste, wichtigste)

Die Adjektive in den drei nachfolgenden Belegen sind wohl als englische Transfers zu beurteilen (d. h. es handelt sich wiederum um englischen Lexemtransfer), deren e-Suffixe können aber durchaus "deutsche" Deklinationsendungen sein: (54) Wir können in einen Restaurant essen oder essen (statt chinesischen, italienisch) (55) Die Menschen sind so verschiedene von uns (statt indianische, hier jedoch im Sinne von 'Indianer') (56) Der letzte Film, den ich gesehen habe, ist eine Film (statt amerikanischer)

Während eine sichere Entscheidung "nach der einzelsprachlichen Herkunft" von Flexiven oft nicht möglich ist (Typ must), ist es gerade bei den zuerst diskutierten Fällen (Typ er ) wohl angemessener, wiederum von einem Transfer der ganzen Ausdruckseinheit, oder genauer: von einem Transfer einer Paradigmenstelle und damit einer singulären Wortform auszugehen. Es zeigen sich damit insofern deutliche Parallelen zu den Direktübernahmen mit etymologischen Pendants, als auch hier vor allem ähnliche Ausdrucksstrukturen transferiert werden.

5.3.5. Zum syntaktischen Transfer Was nun die vergleichsweise seltenen Transfers aus der englischen Syntax betrifft, so muss bedacht werden, dass negative Transfers, bei denen die englische Syntax offensichtlich modellbildend ist, naturgemäß eine geringe Auftretenswahrscheinlichkeit haben, weil erstens die Zahl syntaktischer Regeln ohne-

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hin beschränkt ist im Vergleich zum offenen System des Lexikons, weil zweitens in Lernertexten gewisse komplexe Strukturen selten vorkommen und weil es drittens nur wenige vom Französischen und/oder vom Deutschen divergente englische Regeln gibt. Syntaktische Transfers aus dem Englischen kommen in den untersuchten Lemertexten denn auch nur hinsichtlich von vier Phänomenen vor: Relativsätze werden ohne Relativpronomen als Einleitewort angeschlossen, vgl. (57) und (58); das (englische!) Temporal adverb steht nach dem Subjekt, aber vor dem finiten Verb an zweiter Stelle wie in (59); das transferierte too 'auch' wird nachgestellt wie in (60), und es kommen vorangestellte Genitivattribute mit s-Genitiv-Markierung vor wie in (61). (57) Ich glaub es gibt keine Traumschule weil ich mag nicht die Schule aber ich kann sagen die beste Schule ich möchte (statt die ich (mir wünsche)) (58) In Europa, haben wir nicht eine schwerig Leben, haben wir alles wir wollen (statt alles was) (59) Sie habt Ringen und Ketten an (engl. often, statt sie hat oft) (60) ich wäre eine gute Schülerin (statt auch eine gute Schülerin) (61) meinen Mutter's Freund; ihre Vaters Name; Gangster's Graupe; Freund's Graupe."

Relativsätze ohne Anschlüsse scheinen am eindeutigsten als englische Transfers erklärt werden zu können, da es Vergleichbares weder im Französischen noch im Deutschen gibt. Solche Relativsätze - will man eine funktionalistische Erklärung für das Lemerverhalten suchen - haben den Vorteil, dass die Fehlerquelle des Relativpronomens ausgeschaltet werden kann, da dieses ja nach Numerus, Genus, Kasus flektiert werden muss. Was das vorangestellte Genitivattribut betrifft, so fragt sich an dieser Stelle, ob die Interpretation als englischer Transfer vielleicht nicht zu kurz greift: Derselbe Normverstoß ist auch vorstellbar als Folge einer Generalisierung des "sächsischen Genitivs", der im Deutschen ja eingeschränkt durchaus seine Gültigkeit hat (Peters Freund) und im Fremdsprachenunterricht auch so gelernt wird. Der in den meisten Belegen vorhandene - gegen die orthografischen Konventionen des Deutschen verstoßende - Apostroph deutet jedoch eher auf angelsächsische Provenienz dieser Konstruktion hin.

5.3.6. Transfers — abhängig vom Lernerstadium? Die 400 Texte, die das Korpus der vorliegenden Ausführungen bilden, stammen - wie bereits ausgeführt - von 100 Schülerinnen und Schülern, die diese innerhalb eines Schuljahres produziert haben. Es kann damit für jede Testperson die Zeitspanne von einem knappen Jahr des Deutschlemens überblickt werden. Da diese Testpersonen die Kinder und Jugendlichen von der 8. bis zur 12. Klasse repräsentieren, kann das Material gleichzeitig eine relative Zeitspanne von fünf Schuljahren dokumentieren. Was nun mögliche Entwicklungssequenzen in Ob es ein Zufall ist, dass die Genitiwerstöfle einzig bei Personenbezeichnungen vorkommen, ist nicht zu ergründen.

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Bezug auf die hier interessierenden Transfers betrifft, so können die folgenden Feststellungen gemacht werden: Die reale Zeitspanne von einem Schuljahr, dokumentiert durch vier meist kleinere Texte, lässt keine interindividuellen Aussagen über eine Entwicklung hinsichtlich der Transferprozesse zu. Die Neigung, englische Wissensbestände zu transferieren, scheint individueller Natur zu sein oder vielleicht auch vom Unterricht abzuhängen.15 Es gibt in fast allen Klassen Schülerinnen und Schüler mit keinen, in allen Schulklassen solche mit wenigen und vielen englischen Transfers. Was die aus dem Englischen transferierten Größen selbst betrifft, so ist der Bereich des Lexikons interindividuell immer am stärksten betroffen, d. h. auch auf individueller Ebene handelt es sich damit in den meisten Fällen um Interlexeme und Direktübemahmen mit etymologischen Pendants, die transferiert werden, und damit um Verstöße, deren Sinn selbst von einer des Englischen unkundigen Leserschaft ohne weiteres entschlüsselt werden kann, so dass es sich "bloß" um ein formales Problem handelt.16 Der Fall der Bedeutungstransfers erlangt erst ab dem 10. Schuljahr einen gewissen Umfang, was mit der beschränkten Typen-Zahl dieser interlingualen Teilübereinstimmungen zu tun hat und sicher auch damit, dass die betroffenen "deutsch-englischen" Modalverben und Relativpronomen erst in einem etwas elaborierteren Stadium in beiden Lemersprachen vorkommmen, mit dem im ersten und zweiten Jahr des Englischunterrichts, beziehungsweise im 4. und 5. Jahr des Deutschunterrichts, noch nicht zu rechnen ist. Dass der Transfer einen gewissen Wissensstand in den beteiligten Sprachen voraussetzt, zeigt sich auch darin, dass die quantitativen Spitzenwerte tendenziell nicht ganz am Anfang des einsetzenden Englischunterrichts festzustellen sind.

6. Englische Transfers in der Mündlichkeit 6.1. Korpus Im Vergleich zu dem unter 5.1. beschriebenen "Genfer Korpus" handelt es sich beim hier vorzustellenden "Neuenburger Korpus" um eine Sammlung von weniger systematischer Natur. Die Rohdaten, die der folgenden Analyse zu Grunde liegen, bilden ca. 75 Stunden mündlicher Sprachproduktion von rund 300 Westschweizer Maturanden und Maturandinnen, die unter den "Stressbedingungen" der mündlichen Maturitätsprüfung im Fach Deutsch als Fremdsprache in den Odlin (1989, 129ff.) geht davon aus, dass jene Faktoren, die zur beträchtlichen individuellen Variation im L2-Erwerb führen, auch eine Rolle spielen bei Transferphänomenen, nämlich z. B. Motivation, Klassengröße, Alter der Lernenden, Sprachbewusstheit ("awareness of language"), Persönlichkeitsstruktur. Vgl. Kolde (1975) zu den verschiedenen Arten von Normverstößen und ihrer Relevanz für Sprachlemende. Dass formale Normverstöße wegen ihres Irritationspotentials kommunikativ keineswegs unerheblich sind, wird vom Verfasser überzeugend aufgezeigt.

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Jahren 1995-99 entstanden sind. Sie wurden vom Verfasser, der dabei als Experte fungierte, an den beiden - in den betreffenden Kantonen Lycee genannten - westschweizerischen Gymnasien Lycee Denis-de-Rougemont in Neuchätel (Neuenburg) und Lycee cantonal in Porrentruy (Pruntrut, Kanton Jura) gesammelt. Natürlich konnten die Prüfungsgespräche - schon aus institutionellen und rechtlichen Gründen - nicht mittels Tonband aufgenommen werden; die einschlägigen Belege wurden deshalb einfach während ihrer Produktion notiert, und zwar in der Regel stenografisch, was sich schon aus Gründen des Zeitdrucks als unumgänglich erwies. Da die Belege unwiderruflich verklungen sind, ist eine Reproduktion sowie eine genaue Rekonstruktion ihres jeweiligen Äußerungskontexts (wie im Falle des Genfer Korpus) nicht mehr möglich. Wenn man die Belege des Neuenburger Korpus mit denen des Genfer Korpus vergleicht, gilt es, drei Unterschiede zu berücksichtigen. Erstens: Während das Letztere Schülertexte mit einer Streuung über 5 Schuljahre hinweg (von der 8. bis zur 12. Jahrgangsklasse) umfasst und damit auch diachronische Aussagen über die Entwicklung der Transfeiprozesse zulässt (vgl. 5.3.6.), handelt es sich beim mündlichen Korpus gleichsam um eine "Momentaufnahme", welche den Sprachstand der - im Durchschnitt etwa 18- bis 19-jährigen - Jugendlichen am Ende des 12. Schuljahres dokumentiert. Alles in allem können wir davon ausgehen, dass die Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums sowohl im Deutschen (nach insgesamt 9 Jahren Unterricht) als auch im Englischen (nach 5 Jahren) über eine relativ hohe und schon einigermaßen gefestigte Sprachkompetenz verfügen. Zweitens: Im Gegensatz zum Genfer Korpus sind wir hier nun in der Lage, die - für eine angemessene Beurteilung und Einordnung eines Belegs oft wichtige - Aussprache der englischen Transfers zu kennen (diese wurde bei der Erfassung der Daten, falls nicht "selbstverständlich", phonetisch mitnotiert). Dort wo dies sinnvoll erscheint, wird im Folgenden die tatsächlich erfolgte Aussprache in phonetischer Umschrift hinzugefügt. Und drittens: Die Umstände der Materialsammlung bringen es mit sich, dass eine quantitative Auswertung der Daten nur in einem sehr eingeschränkten Sinn möglich ist (vgl. 6.3.1.). Trotz solcher kleinerer Mängel bezüglich der erhobenen Daten handelt es sich bei diesem Korpus aber um gesprochenes Sprachmaterial, das von den Maturandinnen und Maturanden wenn auch nicht völlig frei und spontan, so doch auf einen entsprechenden Impuls oder eine Frage von Seiten der Lehrperson hin produziert wurde. Natürlich könnte man einwenden, dass man derartige Daten besser nicht im Rahmen eines Examens, sondern während des "normalen" Deutschunterrichts erheben sollte. Es ist ja tatsächlich nicht von vom herein auszuschließen, dass die Prüfungssituation Anzahl und Art der Transfers beeinflusst. Aber vielleicht ist gerade die mündliche Maturaprüfung insofern ein sehr geeigneter Anlass für die Durchführung einer derartigen Erhebung, als während des Schuljahres der einzelne Schüler im Fremdsprachenunterricht wohl selten so lange zum dialogischen Sprechen kommt wie bei dieser Gelegenheit.

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Infolge der extrem kurzen Zeit, die für das Notieren der Belege zur Verfugung stand, mussten die Belege zum Teil etwas vereinfacht werden, und zwar im Sinne einer leichten Dekontextualisierung. In erster Linie wurden dabei bestimmte Eigennamen durch Pronomina ersetzt (z. B. Ciaire Zachanassian durch sie). Darüber hinaus ist auch nicht auszuschließen, dass infolge der stenografischen Erfassung der Belege gewisse andere, gleichzeitig auftretende Fehler verlorengegangen sind oder stillschweigend korrigiert wurden (insbesondere falsche Adjektivendungen). Wenn somit auch die vorliegenden Daten als leicht idealisiert anzusehen sind, so handelt es sich hier trotzdem um quasi-authentisches Sprachmaterial, dessen globale Zuverlässigkeit, insbesondere was die englischen Transfers und deren Einbettung in den Kontext des jeweiligen Satz oder Teilsatzes betrifft, nicht zur Debatte steht.

6.2. Zu den Bedingungen des Sprechens in der Fremdsprache Wie das Schreiben so ist auch das Sprechen mit je spezifischen Anforderungen und Schwierigkeiten verbunden. Beim Sprechen einer Fremdsprache sind - im Vergleich zur Muttersprache - jedoch noch zusätzliche Barrieren zu überwinden (Überwindung von Hemmungen, Aussprache-Schwierigkeiten, Verfügen über bloß beschränkte sprachliche Mittel usw.). Mehrere Faktoren erleichtern indes den mündlichen Sprachverkehr, insbesondere die Gemeinsamkeit der Situation, die Möglichkeit zum Nachfragen und die niedrigeren Erwartungen bezüglich Korrektheit und Stil. Die Haupterschwernis gegenüber dem Schreiben besteht in der sehr kurzen Reflexions- und Reaktionszeit beim Formulieren der Gedanken und beim "Pingpongspiel" von Frage und Antwort. Dies benachteiligt insbesondere solche Lernende, die einen auf Anwendung von Regeln beruhenden Zugang zu Fremdsprachen haben. Diese sind denn auch fast dauernd "am Übersetzen" und oft kaum bereit und fähig, "aus ihrer Muttersprache herauszutreten" und ins kalte Wasser zu springen. Auch wenn wir dies nicht strikt belegen können, haben wir doch durch die Analyse der beiden Korpora den Eindruck gewonnen, dass sprachliche Transfers von der L3 her in der mündlichen Sprachproduktion häufiger sind als in der schriftlichen. Konfrontiert mit der Erfordernis, möglichst schnell auf einen Stimulus der Lehrperson inhaltlich zu reagieren, bleibt den Lernenden oft nicht genügend Zeit, um gleichzeitig die sprachliche Korrektheit ihrer Aussagen unter Kontrolle zu halten. Allerdings ist auch in der Mündlichkeit kein "durchschnittliches" Lemerverhaltens auszumachen (vgl. 5.3.1.). Gewisse Indizien deuten nämlich daraufhin, dass Beimischungen aus dem Englischen in erster Linie bei solchen Lernenden auftreten, die "ohne Rücksicht auf Verluste" frisch von der Leber weg drauflos parlieren. Denjenigen Schülern und Schülerinnen hingegen, die beim Sprechen - um die in der gegenwärtigen Spracherwerbsforschung beliebte Metapher zu verwenden - ständig noch auf den eingeschalteten "Monitor" blicken, scheinen weniger Anglizismen zu unterlaufen. Diese Überwa-

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chungsinstanz trägt nicht nur zur Vermeidung von "Englischem", sondern auch ganz generell zu einer höheren Korrektheit des sprachlichen Outputs bei. Oft werden von diesen Lernenden während oder unmittelbar nach einer Äußerung allerlei sprachliche Korrekturen (bezüglich Adjektivendungen, Verbstellung usw.) "nachgeliefert". Ein solches vorsichtiges Lernerverhalten ist umso verständlicher, als die herrschende Bewertungspraxis im Fremdsprachenunterricht immer noch weitgehend auf die Schriftlichkeit und deren hohe Ansprüche an formale Korrektheit ausgerichtet ist und typisch kommunikative Fertigkeiten wie Diskursfähigkeit, Schlagfertigkeit, sprachliches Selbstvertrauen und "Risikobereitschaft" kaum angemessen honoriert. Die mündlichen Matura-Prüfungen haben meist einen Auszug aus einem vorbereiteten literarischen Werk zur Grundlage. Das Handikap der fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler besteht nun darin, dass ihnen ihre beschränkten Mittel nicht immer erlauben, genau das auszudrücken, was sie eigentlich sagen möchten, etwa weil ihnen eine Vokabel oder zumindest le mot juste nicht zur Verfugung steht, sei es, dass sie diese noch nicht gelernt haben, sei es, dass diese für sie im Moment gerade nicht abrufbar ist (Wortfmdungsstörung). Als Ausweg aus einer solchen "Sackgasse" existieren verschiedene Strategien. Die Lernenden können entweder dazu ansetzen, den Gedanken mit ändern Worten neu zu formulieren, oder aber - was allerdings bei den Lehrpersonen nicht sehr beliebt ist - auf das Französische als Metasprache ausweichen. Oft liefert auch der Lehrer oder die Lehrerin dem ins Stocken geratenen Prüfling das Gesuchte. Nur höchst selten wird indes zur Behebung dieser Art von Kommunikationsblockaden auf das Englische zurückgegriffen. Bei den im Folgenden zu behandelnden "Anglizismen" handelt es sich also nicht um einen bewussten Rückgriff auf einen dritten, bis zu einem gewissen Grad Lernenden und Lehrenden gemeinsamen Kode. Vielmehr dürfen wir davon ausgehen, dass die englischen Einsprengsel in aller Regel als ganz normale Elemente der deutschen Interimssprache der betreffenden Schülerinnen und Schüler anzusehen sind. Nur im Fall der englischen Konnektoren vom Typ because (vgl. 6.3.2.) dürfte die Sachlage etwas anders sein.

6.3. Ergebnisse 6.3.1. Quantitative Dimension Eine quantitative Auswertung des mündlichen Korpus ist infolge der besonderen Umstände der Datensammlung nur sehr eingeschränkt möglich. In Sinne einer Größenordnung kann man immerhin festhalten, dass etwa bei einem guten Drittel aller Maturanden und Maturandinnen während dem viertelstündigen Prüfungsgespräch Transfers zu beobachten sind, und zwar in der Regel ein einziger. Nur gelegentlich produzierte derselbe Schüler bzw. dieselbe Schülerin zwei oder mehr davon. Eine weitere Einschränkung ist zu beachten: Systema-

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tisch gesammelt wurden nur die types; über die Frequenz der tokens sind leider bloß Angaben zur Größenordnung möglich (z. B. "selten", "mehrfach", "häufig"). Im Weiteren kann, wegen des geringen Korpusumfangs pro Prüfling, in der Regel auch nicht gesagt werden, ob es sich bei den englischen Einsprengseln um Abweichungen handelt, die auf einem Kompetenzdefizit beruhen, oder bloß um "zufällige oder durch besondere Produktionsbedingungen erklärbare Entgleisungen" (Kolde 1980, 173), eine Unterscheidung, die in der angelsächsischen Forschung mit Hilfe des Begriffspaars error versus mistake terminologisiert worden ist. Wegen des starken Zeitdrucks während des Belegsammelns konnte nicht immer sofort entschieden werden, ob ein Beispiel wirklich einschlägig ist oder nicht. Im Laufe der Auswertungsphase musste denn auch ein nicht geringer Teil der zunächst einmal spontan gesammelten Fälle wieder ausgeschieden werden. Viele davon erwiesen sich nämlich auf den zweiten Blick nicht als eindeutig auf das Englische zurückführbar, sondern als doppelgestützt (vgl. 6.3.6.). Überhaupt hat sich während der Arbeit an der Auswertung des Korpus gezeigt, dass den doppelgestützten Interferenzen bei der Population des Neuenburger Korpus eine eigentliche Schlüsselrolle zukommt.

6.3.2. Der Transfer von Lexemen Auch wenn für das mündliche Korpus im strengen Sinn keine Angaben quantitativer Natur möglich sind, so steht doch zweifelsfrei fest, dass auch hier die überwiegende Zahl der aus dem Englischen übernommenen Phänomene das Lexikon betrifft. Wenden wir uns zunächst der "unbekümmerten" Übernahme von fremdem Sprachgut in Form von Direktübemahmen zu. Die auffälligste Untergruppe bilden dabei jene - insgesamt allerdings wie im Genfer Korpus relativ seltenen - englischen Lexeme im deutschen Output, für die im Deutschen kein etymologisches Pendant existiert (Typ: Augen). Bei allen Belegen, die im Folgenden zitiert werden, ist zu berücksichtigen, dass deren Verschriftlichung natürlich nicht von den Schülerinnen und Schülern, sondern vom Verfasser dieses Abschnitts stammt. Wir können nicht wissen, wie diese ihre mündlich produzierten Äußerungen und die einschlägigen Transfers geschrieben hätten. (62) (63) (64) (65)

Er will, dass die Leute respektieren (statt ihn) [him] Judo ist eine An von (statt Selbstverteidigung) [selfdifens] Er hat sie an einem geheimen Ort (statt getroffen) [gemi:tot] Alles war in einem Zustand (statt schlechten) [banden]

In (62) und (63) wird jeweils ein Lexem als sprachliches Zeichen im Sinne de Saussures, d. h. mit Signifikant und Signifikat tel quel übernommen. Die betreffende Schülerin betrachtet offenbar als ein eingebürgertes deutsches Fremdwort (vergleichbar etwa dem von den Wörterbüchern des Deut-

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sehen registrierten Seifservice), Dies trifft auch auf das englische Verb to meet 'treffen, begegnen' in Beleg (64) zu (das natürlich nichts mit dt. mieten zu tun hat), welches darüber hinaus noch morphologisch adaptiert wurde (Bildung des Partizips II nach dem Muster der schwachen Verben). Das Adjektiv in Satz (65), das mit dem "undeutschen" Langvokal [ :] realisiert wurde, ist morphologisch ebenfalls voll integriert. Eine direkte Übernahme von Fremdlexemen ohne jegliche Adaptation (auch nicht der Aussprache) ist vornehmlich bei einer kleinen Gruppe von unflektierbaren Strukturwörtern zu beobachten, z. B. bei den Konnektoren because (66), but (67) oder that (68): (66) (67)

Sie hat Angst vor ihm, - er ist ein Trinker. Er möchte es machen, - (Selbstkorr.) aber er ist zu schwach.

(68) Er weiss, - (Selbstkorr.) dass sie krank ist. Hier gewinnt man den Eindruck, dass die betreffenden Verbindungselemente den Examinanden "einfach mal so herausgerutscht" sind. Für diese Annahme spricht auch, dass ein Großteil davon von den Lernenden, die sogleich nach der Produktion des "Fremdkörpers" (zum Teil auf eine hochgezogene Augenbraue oder eine andere Reaktion der Lehrperson hin) realisieren, dass sie sich "in der falschen Fremdsprache befinden", durch eine Selbstkorrektur sozusagen wieder rückgängig gemacht wird. Nun noch kurz zur Direktübemahme von englischen Lexemen, für die im Deutschen ein - mehr oder weniger ähnlich klingendes - etymologisches Pendant existiert. Auch hier gibt es Belege ohne und solche mit - mehr oder weniger weitgehender - Eindeutschung. (69) (70) (71) (72)

Sie wollen eine neue anfangen ([laif] statt Leben) Im , die Leute sind ärmer als bei uns ([i:st] statt Osten) Das dauerte etwa eine Stunde ([halfo] statt halbe) Das ist in passiert (statt Polen)

Neben vereinzelten Verben und Adjektiven sind auch hier vor allem Substantive betroffen, desgleichen auch bestimmte geografische Namen wie die bereits oben im Genfer Korpus registrierten Ländernamen (vgl. 5.3.2.) oder etwa wie Poland in (72), das mitsamt seiner englischen Aussprache, d. h. mit dem im Deutschen nicht existierenden Diphthong [ou] übernommen wurde. Wenden wir uns nun den Bedeutungstransfers zu, die offenbar bei den sprachlich fortgeschritteneren - Lernenden des Neuenburger Korpus quantitativ stärker ins Gewicht fallen als im Genfer Korpus. Während bei den Direktübernahmen, wo nicht bloß eine Bedeutung, sondern ein meist hörbar fremder Wortkörper "importiert" wird, die muttersprachlichen Zuhörer für einen Moment aus ihrer Muttersprache herausgerissen werden, ist dies bei den Fällen von Bedeutungstransfer nicht der Fall. Es handelt sich hier ja - zumindest vordergründig bezüglich der Lautgestalt - um ganz "normale" deutsche Wörter. Nicht die Lexeme als solche wirken fremdartig, sondern deren Verwendung im gegebenen Ko(n)text gibt zu Irritationen Anlass.

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Zu den häufigsten Lemer-Anglizismen im mündlichen Korpus gehört der Bedeutungstransfer bei den drei Verben bekommen (vgl. auch oben Beleg (16)), schauen/ und stehen: (73) (74) (75)

Dann ich sehr nervös (statt wurde) Er will , dass jeder ein Brandstifter sein kann (statt zeigen) Er mit ihnen ungefähr drei Jahre (statt bleibt... bei ihnen)

Es ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang, dass es sich bei den beiden ersten um etymologisch verwandte Paare (to become - bekommen;11 to show schauen), beim dritten aber bloß um ein ähnlich klingendes englisches Verb romanischer Herkunft handelt (to stay - stehen). Man braucht im Übrigen nur auf die indoeuropäische Grundsprache zurückzugehen, um zu sehen, dass sich auch dieses Verbpaar als "urverwandt" erweist. Während nun aber in Belegen wie (73) bis (75) jede und jeder des Deutschen Mächtige sofort merkt, dass "da etwas nicht stimmen kann", erweist sich in ändern Fällen der Minimalkontext eines isolierten Satzes als nicht ausreichend, um einen Fehler zu diagnostizieren, z. B. bei (76) (77)

Er stand in dieser Bar. Er will schauen, was passieren kann.

Bei diesen und ähnlichen Belegen wird erst durch den situativen Kontext oder den sprachlichen Kotext (in der Regel: Folgetext) klar, dass auch hier von den betreffenden Lernenden die Bedeutungen 'bleiben' bzw. 'zeigen' intendiert waren. Hier lässt sich nun zwanglos auch das folgende hübsche Beispiel anschließen: (78)

Der Mann liebte allein auf seiner Insel.

Der Zusammenhang macht klar: hier wird dem Wortkörper lieben die Bedeutung von to live 'leben' unterstellt. Allerdings ist die Sachlage in (78) etwas verwickelter als beim obigen 'Schulbeispiel' bekommen versus become. Zwischen dem Verb lieben und seinem Kognaten to love besteht nämlich keine Bedeutungsdifferenz. Hingegen kommt es nun hier infolge der ähnlichen Lautungen zu einer Kontamination der beiden Paare lieben: to love und leben : to live. Wahrscheinlich wird diese - ziemlich häufig zu beobachtende - Verwechslung dadurch gefördert, dass die nicht zusammengehörigen Verben lieben: to live beide einen /-haltigen Vokal enthalten. Belege mit englischem Bedeutungstransfer bei Substantiven sind etwa die beiden folgenden: (79) 17

Er ist ein (statt Jugendlicher)

Das Paar to become vs. bekommen gehört zweifellos zu jenen "falschen Freunden" oder "falschen Kognaten" (Neuner 1999, 19), die am häufigsten zu Interferenzfehlem führen und zwar in beiden Richtungen. Der unfreiwillige Humor, der im Satz Can I become a beefsteak? (deutscher Gast in englischem Restaurant) zum Ausdruck kommt, gehört heute denn auch schon zum festen Anekdotenschatz der Fremdsprachendidaktiker.

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(80) Nur die < Wälle> blieben stehen (statt Mauern) Engl. youth hat - im Gegensatz zum Deutschen - neben der Bedeutung 'Jugend' noch die zusätzliche Unterbedeutung 'Jugendlicher'. Im Kontext des Satzes völlig unauffällig (und auch bezüglich der Pluralbildung voll integriert) ist die Form Wälle in (80). Aus dem weiteren Ko(n)text geht aber eindeutig hervor, dass hier weder von einer 'Erdaufschüttung' noch von einer '(Stadt)befestigung', sondern schlicht von den 'Wänden' (eines Zimmers) die Rede war (engl. wall). Die für frankophone Lernende verwirrliche Polysemie von frz. mur bei dessen Wiedergabe im Deutschen (Wand versus Mauer) mag bei diesem Lexem zusätzliche Verwirrung stiften. Zu erwähnen ist nun hier abschließend noch eine Gruppe von diversen unflektierbaren Strukturwörtem, deren identische grafische Gestalt im Deutschen und im Englischen bei den Frankophonen zu Problemen beim korrekten Auseinanderhalten führt. Was diese Beleggruppe noch zusätzlich von den bisherigen Fällen unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier nicht bloß eine Bedeutungs-, sondern darüber hinaus noch eine Wortklassendifferenz mit im Spiel ist. (81) (82) (83)

Er hat Angst (statt immer noch) Dann rennte er (statt schnell) Die zwei ändern sind gestorben (statt auch)

Dem - übrigens mit dt. Anlaut [ft-] ausgesprochenen - Element still in (81) wird die im Englischen gültige Bedeutung ('immer noch' statt 'ruhig') und Wortklasse (Adverb statt Adjektiv) unterlegt. Demgegenüber lässt das - mit leicht gelängtem [a:] realisierte -fast, das in (82) ganz offensichtlich mit der Bedeutung 'schnell' verwendet wird, weniger zwingend an die homographe, etymologisch verwandte dt. Partikel fast 'beinahe' denken, so dass man hier unter Umständen von einer Direktübemahme ausgehen könnte. In (83) wird dem (deutsch ausgesprochenen) also die Bedeutung von engl. also 'auch, ebenfalls' unterlegt. Nicht bloß der Ko(n)text, sondern auch das Faktum, dass bei dieser Schüleräußerung das Element also den Hauptton trägt, ist ein sicheres Indiz dafür, dass hier nicht dt. also mit der Bedeutung 'folglich' gemeint sein kann. Auf besonders verwirrliche Art und Weise "reiben" sich die beiden Sprachen im Kopf der Lemer im Falle von bevor/before aneinander. Das unflektierbare deutsche Wort bevor kann nur als subordinierende Konjunktion ('ehe') verwendet werden (dies ist auch im Englischen möglich), nicht aber, wie es häufig geschieht, als Adverb ('vorher', 'zuvor') wie in (84) oder als Präposition ('vor') wie in (85). Die Polyfunktionalität von frz. avant (que) mag hier zusätzlich zur Verwirrung beitragen. (84) (85)

Er ist trauriger als (statt vorher) dem Essen, er bestellte einen Aperitif (statt vor)

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6.3.3. Zum phonologischen Transfer Viele frankophone Schülerinnen und Schüler haben bei ihrer Aussprache des Deutschen einen starken "Akzent". Dessen Besonderheiten (z. B. Lautsubstitutionen, falsche Wortakzente, zu "flache" Satzintonation) lassen sich jedoch größtenteils als Interferenzen von der Muttersprache her erklären. Demgegenüber sind Transfers von Phonemen und Allomorphen aus dem Englischen nur sehr selten zu beobachten. Sie treten insbesondere bei Direktübemahmen von Lexemen auf. Im Bereich des Vokalismus betrifft dies etwa Vokale und Diphthonge, die im Inventar des Deutschen nicht vorkommen (z. B. jene in but, cat, bird, saw, say, go). Auch bei den Konsonanten treten gelegentlich, wiederum in Direktübernahmen, "undeutsche" Laute wie [ ] und [w] auf. Nur selten werden diese auf deutsche Lexeme übertragen (vgl. oben Beleg (1) Wein). Manchmal werden transferierte englische Lexeme lautlich teilweise eingedeutscht. Das trifft etwa auf jene mit anlautendem [st-] (vgl. in (13)) zu, die im Deutschen gelegentlich mit [ft-] realisiert werden. Die Aussprache von Wörtern mit stimmlosem anlautendem [s] (wie in ) ist nicht leicht zu deuten. Mindestens drei Erklärungsmöglichkeiten stehen zur Wahl: Es kann sich sowohl um eine Interferenz von der französischen Muttersprache als auch um eine solche vom Englischen her handeln (to sing). Schließlich ist auch eine allfällige Vorbildwirkung der Lehrperson nicht auszuschließen, wird doch dieser Laut in der schweizerischen Standardsprache meist stimmlos realisiert. Zu gewissen Irritationen bei der Aussprache geben jene Grapheme Anlass, denen in zwei oder gar in allen drei beteiligten Sprachen ein unterschiedlicher Lautwert entspricht. Dies ist zum Beispiel beim Graphem der Fall. Während dessen Aussprache als [j] in deutschen Wörtern wie Jahr keinerlei Probleme bereitet, kommt es bei deutschen Fremdwörtern französischer Herkunft wie Journalist zu "hyperdeutschen" Realisierungen, mit [j] statt [3] im Anlaut. Eine Lemerbildung wie die [d3u:van], für die Juden, zeigt, dass hier auch noch die englische Realisierung dieses Graphems hereinspukt.

6.3.4. Zum morphologischen Transfer Die Morphologie als gegen Fremdeinflüsse weitgehend resistente und im Englischen überdies stark abgebaute sprachliche Ebene hinterlässt erwartungsgemäß auch in der Interimssprache der Lernenden nur wenige Spuren. Darüber hinaus fuhrt die Analyse einschlägiger Fälle auch hier nicht immer zu einem eindeutigen Resultat, z. B. (86) (87) (88) (89)

Es gibt zu viele (statt Spitäler) Es nicht weit von der Schule (statt ist) Du gestern nicht zu Hause (statt warst) Er will die ändern nicht (statt verstehen)

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Ein Beleg wie (86) illustriert sehr schön das Spektrum der potentiellen Einflussfaktoren. Am plausibelsten ist es wohl, das Pluralzeichens bei Spilal-s als Transfer vom Englischen her zu deuten (hospitals). Ebenfalls möglich ist jedoch dessen Erklärung als Übergeneralisierung des deutschen s-Plurals; dieser nimmt zwar frequenzmäßig im Deutschen nur eine marginale Stellung ein, ist aber gerade bei Fremdwörtern gut verankert. Nicht völlig auszuschließen ist schließlich eine Beeinflussung durch das stumme orthografische Pluralzeichen des Französischen (das allerdings beim frz. Äquivalent dieses Worts nicht auftritt: hopitaux). Auch in (87) ist die Hypothese einer Beeinflussung durch das Englische nur eine unter mehreren, existiert doch diese Verbform auch im gesprochenen Deutsch. Im Weiteren ist, hier wie anderswo, das Vorliegen eines bloßen Flüchtigkeitsfehlers nicht völlig auszuschließen. Ob in (88) ein Transfer der Paradigmenstelle (2. Person Sg.) (you) were vorliegt (vgl. 5.3.3.), muss ebenfalls offen bleiben. Hingegen erscheint es wahrscheinlich, dass die häufig produzierte lemersprachliche Infinitivform wie in (89) in ihrer Lautgestalt durch englisches to unierstand zumindest mitbeeinflusst ist. Es kann aber auch eine - in dieser Position häufige - Verwechslung von Infinitiv und Partizip II vorliegen, was umso verständlicher ist, als diese beiden Formen nicht nur im gesprochenen Französisch, sondern auch im Deutschen nicht selten formal zusammenfallen (z. B. behalten). Die durch das Englische bedingten Fehler im Bereich der Wortbildung halten sich in engen Grenzen. Im Bereich der Suffixe kann man an Fälle wie die folgenden denken: (90) (91)

Er ist ein gefahrlicher (statt Verbrecher) Das ist natürlich sehr (statt persönlich)

Was die Wahl des Lexems betrifft, gehören Belege wie die beiden obigen zur Kategorie der doppelgestützten Transfers (frz. un criminel, engl. a criminal). Das Faktum hingegen, dass in solchen Fällen meist dem "englischen" Suffix -al der Vorzug gegeben wird, deutet darauf hin, dass wir es hier eher mit einem Transfer vom Englischen her zu tun haben. Ganz offensichtlich wollen die betreffenden Lernenden eben eine Fremdsprache produzieren und geben deswegen der von ihrer Muttersprache abweichenden Form den Vorzug (vgl. oben in 5.3.2. die Bemerkungen zur Wortgestalt von music, coffee usw.). Bei der Bildung ein (vgl. oben Beleg (7)) mit Hilfe des Suffixes -er denkt man zunächst natürlich einmal spontan an engl. philosopher (gegenüber frz. philosophe). Allerdings ist auch hier eine "lernersprachinterne" Erklärung möglich: der Schüler hätte dann einfach das auch im Deutschen häufig zur Bildung von Personenbezeichnungen verwendete Suffix -er übergeneralisiert. Für das Zutreffen dieser Annahme könnten auch andere einschlägige Fehlbildungen sprechen wie z. B. der , der (gegenüber engl. thief und monk). Große Unsicherheit herrscht bei vielen Lernenden beim Verb ermorden. Bei einem dafür typischen Beleg wie (92) sind aber ebenfalls verschiedene Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen.

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Sie haben eine Krankenschwester (statt ermordet)

Um einen rein innerdeutschen Wortbildungs-Fehler würde es sich handeln, wenn das Verb einfach von Mörder statt von Mord abgeleitet wurde. Alternativ oder gleichzeitig ist aber unter Umständen mit einem Einfluss des englischen Verbs to murder zu rechnen (bei welchem überdies noch eine Homonymie mit dem Substantiv murder 'Mord' besteht).

6.3.5. Zum syntaktischen Transfer Alle oben unter 5.3.5. für das schriftliche Korpus festgestellten Interferenzen im Bereich der Syntax treten auch hier auf. Sie sind ebenfalls nicht sehr frequent; am ehesten findet sich noch das vor das Verb auf die Zweitposition platzierte Adverb wie im nachfolgenden Beleg: (93)

Der Vater spricht mit seiner Familie (statt spricht regelmässig)

Andere allfällige Fremdeinflüsse sind viel subtilerer Natur und entsprechend weniger kategorisch zu diagnostizieren. Die falsche Konstruktion der Dativergänzung bei dreiwertigen Verben mit Hilfe einer Präposition wie in (94) könnte zwar auch frankophonen Lernenden, die keine Englischkenntnisse besitzen, unterlaufen. In diesem Fall lautet aber die verwendete Präposition meist an. Die Präferenz für die Präposition zu (engl. to) könnte somit auf das Konto des Englischen gehen, ähnlich wie jene für die Präposition bei (engl. by) beim Anschluss der Agensangabe in Passivsätzen wie (95): (94) (95)

Sie gibt eine Milliarde (statt den Güllenern eine Milliarde) Er wurde verhaftet (statt von der Polizei)

6.3.6. Doppelgestützte Transfers Das Phänomen der doppelgestützten (allenfalls sogar mehrfach gestützten) Transfers fällt im Neuenburger Korpus stärker ins Gewicht als im Genfer Korpus. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Maturanden und Maturandinnen über einen elaborierteren (und das heißt vor allem auch: an deutschen Fremdwörtern reicheren) Wortschatz verfügen. Dies soll nun zunächst durch einige Beispiele von doppelgestützten lexikalischen Direktübemahmen bei Nomen, Adjektiven und Verben illustriert werden: Doppelgestützte Nomen: (96) (97) (98) (99)

Das war keine gute des Problems (frz. solution, engl. solution, dt. Lösung) Er will keine von ändern bekommen (frz. ordre, engl. order, dt. Befehl) Er hat gelügt über seine (frz. origine, engl. origin, dt. Herkunft) Dieses Gedicht hat keine (frz. ponctuation, engl. punctuation, dt. Interpunktion)

Englisches im Deutsch von Französischsprachigen

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Doppelgestützte Adjektive: (100) Er ist (frz. innocent, engl. innocent, dt. unschuldig) (101) Das ist der Grundför sein Verhalten (frz. principal, engl. principal, dt. Haupt-) (102) In den Orten ist es verboten zu rauchen (frz. publique, engl. public, dt. öffentlich)

Doppelgestützte Verben: (103) Die Zeit sehr schnell (frz. passer, engl. to pass, dt. vergehen) (104) Sie wollten ihnen die eigene Kultur (frz. imposer, engl. to impose, dt. aufzwingen)

Es ist in der Regel nicht möglich zu beurteilen, ob diese Lexeme bereits - als mehr oder weniger fossilierte Elemente - zur Interimssprache der betreffenden Schülerinnen und Schüler gehören, oder ob es sich dabei bloß um das Ergebnis des spontanen Ausprobierens einer Strategie handelt, die ja in zahlreichen ändern Fällen tatsächlich funktioniert (Dreierserien wie la situation: the situation: die Situation).11 Dass hier jedoch nicht einfach ein kurzes "Umschalten" ins Französische oder Englische (code-switching) vorliegt, geht aus der eindeutig deutschen Aussprache dieser Elemente hervor: So wird etwa [printsipaja] ohne Nasalierung wie im Frz., und im Gegensatz zum Englischen mit Endbetonung ausgesprochen. Femer: [solutsioin] und nicht wie frz. [solysj5] oder engl. [solu:Jn] usw. Der Einfluss der doppelgestützten Lexik erfolgt aber nicht nur in Form von "ohrenfälligen" Direktübernahmen, sondern auch in derjenigen der viel diskreteren Bedeutungstransfers; deren Fehlerhaftigkeit tritt öfter erst bei Einbeziehung des gesamten Äußerungskontexts zutage. Die meisten einschlägigen Fälle betreffen Lexeme, die in der Ll Französisch und in der L3 Englisch eine gemeinsame Polysemie aufweisen, die vom Deutschen nicht geteilt wird. Frz. capitaine und engl. captain heißen eben beide sowohl 'Hauptmann' als auch '(Schiffs)kapitän': (105) Es war der (frz. capitaine, engl. captain, dt. im Kontext gemeint: Hauptmann) Bei vielen solchen Dreierserien existiert im Deutschen die Wahl zwischen einem Erbwort und einem quasisynonymen Fremdwort lateinischen Ursprungs (z. B. Minderheit - Minorität; genaue Beschreibung -präzise Deskription). Es wäre nicht schwierig nachzuweisen, dass in den von Lernenden französischer Muttersprache produzierten deutschen Texten die entsprechenden Fremdwörter stark übervertreten sind. In einer neueren Untersuchung haben Kolde/Rohner (1997, 237) auf das merkwürdige compositum mixtum aufmerksam gemacht, das dann entsteht, wenn solche - nicht selten die Konnotation "bildungssprachlich" tragende - Fremdwörter im Verbund mit Verstößen gegen die Elementargrammatik (z. B. Artikelfehlem) auftreten. Fortgeschrittene Lernende, die sich dieser Problematik bewusst sind, versuchen öfter, hier mit Hilfe der Strategie "Im Zweifelsfall ein Wort deutscher Herkunft" Gegensteuer zu geben, was jedoch auch nicht immer zu einem voll befriedigenden Resultat führt, z. B. in Sie muss ihre (dt. eher Situation akzeptieren). Einen grossen Fortschritt in der Erfassung solcher subtiler Verwendungsunterschiede stellt das Wörterbuch der "faux amis" von Vanderperren (1994) dar.

92

Helen Christen/Anton Näf (106) Er ist (frz. inconscient, engl. inconscious, dt. im Kontext gemeint: bewusstlos) (107) Er seinen Vater, ihm Geld zu geben (frz. demander, engl. to ask, dt. im Kontext gemeint: bitten) (108) Sie wollte eine Foto von ihm (frz. prendre une photo, engl. to take a picture, dt. im Kontext gemeint: ein(e) Foto machen) (109) Du hier nicht rauchen (frz. tu ne dots pas, engl. you must not, dt. im Kontext gemeint: du darfst nicht)

Wenn auch die Ebene des Lexikons am stärksten von doppelgestützten Interferenzen betroffen ist, so finden sich solche jedoch, infolge gemeinsamer grammatischer Strukturen zwischen Französisch und Englisch, gelegentlich auch in der Morphologie, z. B. bei der Bildung des Komparativs (110) oder des Passivs (111), in der Wortbildung (112) und in der Syntax, z. B. bei der Verbstellung (113) oder einer Umschreibung wie in (l 14): (110) Selber probieren ist NumP >WMP>NP DP I D'

b

D

NumP Νι m' Νι m

WMP

WlVI' Wl\Λ

ΝΡ N' 1

los

-0

libr-

Bernstein proposes that the availability of the head WM and of its projection WMP are not universal. They only occur in languages in which the N stem is associated with the terminal vowel which directly reflects gender. In Romance languages, N moves to Num via WM. In Germanic, on the other hand, the projection WM is alleged to be absent and, because of this, N cannot move past the adjective. According to Bernstein (1993), the presence of WM(P) also determines the possibility of N-ellipsis. Consider the contrast in (19) between Spanish and Italian, on the one hand, in which N-ellipsis is possible, and English, on the other, in which it is not: (19)

a Spanish b Italian c English*

uno pequeflo a small (one) uno piccolo a small

In Spanish (19a), the form of the masculine singular indefinite article varies depending on the presence or absence of the head N: when the N-head is present the article always has the form un, when N is absent, the indefinite article takes the form uno: (20)

a Spanish b c

Spanish Spanish

Un libra grande esta encima de la mesa a big book is on the table *Uno libra grande esta encima la mesa Uno grande esta encima la mesa

213

Word classes in Germanic: the case of West Flemish

Bernstein proposes that the -o ending of the indefinite article in (20c) is the nominal WM. In a context of N-ellipsis, WM cannot be spelt out as a terminal vowel on N. As an affix, WM cannot remain unattached. Hence, WM moves to D. In addition the indefinite article, which is assumed to start out as a specifier of NumP, also adjoins to D. (20d) is the relevant structure (Bernstein (1993, 129). (20)d. DP

WM

NP

Recall that Bernstein links the availability of the projection WMP, hence of lower N-movement, to the overt gender-related terminal vowel. French raises an obvious problem for her proposal, as this language does not offer the same robust evidence for postulating WM. Concerning this issue, Bernstein (1993) says: French does not exhibit the robust system of terminal vowels that characterise Spanish and Italian. Like nouns in all Romance language, French nouns have inherent gender, but they do not exhibit the declension class markers we observed for Italian and Spanish. In fact, with several notable exceptions [...] French nouns resemble their English counterparts: Their morphological appearance is rather varied and plurality is indicated by wordfinal -5, phonetic realisation being limited to contexts of liaison [...] Like Italian and Spanish, however, and unlike English, French admits (indefinite) null nominal constructions: [21]

a Un cube rouge est sur le coin gauche de cette table, un bleu est sur le coin droit. A red cube is on the left comer of this table, a blue (one ) is on the right comer. b Un tres gros chien vit dans cette maison. Un petit vit dans celle d'ä cöte. A very big dog lives in this house. A small (one) lives in that one next door.

[...] Although French nouns do not exhibit word markers in the robust Spanish/Italian manner, there are masculine/feminine alternations in the language which do not seem to be the result of derivational processes. Consider [22], where I assume that the masculine/feminine alternations involve inflectional morphology:

214 [22]

Liliane Haegeman a voisin-voisine b cousin-cousine c chat-chatte

neighbour cousin cat

[...] we can account for the difference in the masculine forms by positing a language-specific PF rule in French which deletes the final consonant of masculine nouns. ... the final vowel of the feminine form corresponds to the word marker, although the only overt reflex of the vowel in French is the realisation of the preceding consonant. In the majority of cases in French, the word marker must be taken to be abstract (Bernstein 1993, 138140).

By postulating an abstract WM for French, Bernstein maintains the correlation between the presence of WM, N-movement past A and N-ellipsis.

4.2.3. The Germanic languages Bernstein (1993) generalises the distinction between English, by hypothesis a language without WM, and Romance, with WM, to the other Germanic languages. Concerning the observation that lower N-movement is absent in German, despite the fact that adjectives and determiners have overt gender marking, she says: In a language like Spanish, gender is consistently spelled out in the form of overt word markers. In German, on the other hand, what I assume to be inherent gender is not spelled out on nouns (Bernstein 1993,121) German patterns like English in that adjectives are characteristically prenominal, suggesting that Noun Movement is relatively absent in German. On the other hand, German nouns, unlike English ones, have inherent gender. How can this combination of facts be accommodated within the present proposal? The fact that German nouns have gender does not necessarily imply N-raising. Recall that I have been assuming that Romance word markers are the spell-out of gender, which I have assumed to be specified in the lexicon. The Romance N-stem raises to WM° and merges with its terminal vowel and gender is spelled out. German does not exhibit a system of terminal vowels. In fact, a noun's phonological appearance provides no indication of its gender. I therefore assume that although gender is inherent in German, it is not spelled out. These German facts actually argue against the idea of assuming a syntactic category corresponding to gender. In other words, if gender were represented in the syntax, German N-stems should raise to merge with gender, deriving a postnominal position for adjectives. This is not what we find. (Bernstein 1993, 190)

Though it is true that nouns do not precede adjectives in German (except for appositive predicative APs as illustrated in (4b)), Bernstein's conclusion that the language lacks WM is problematic (see also Albrecht 1999). Recall that Bernstein relates the presence of WM to N-A order in the DP and also to the availability of indefinite N-ellipsis. The presumed correlation between the three phenomena breaks down in German, in which the noun follows adjectives, but in which indefinite N-ellipsis is possible. (23)

a German Er hat ein neues Buch gekauft he has a new book bought

Word classes in Germanic: the case of West Flemish

215

b German Er hat ein neues gekauft he has a new bought

Observe that one might propose, against Bernstein's own views, that like French, German has an abstract word marker. This would allow us to predict correctly that indefinite N-ellipsis is grammatical, however, in terms of Bernstein's analysis this would lead to the prediction that lower N-movement takes place, contrary to fact. (24) summarises the problem: (24) a The WM parameter (i) Language Spanish Italian French English German

Terminal Vowel (Bernstein 1993) + + + (abstract) -

Indefinite ellipsis

N-Adjective order

+ + + +

+ + + -

In the next section I turn to a detailed discussion of the gender system in West Flemish (WF), a dialect of Dutch. We will see that not only does the language have indefinite N-ellipsis, but it also offers robust evidence for postulating a WM. Yet, like German, the language lacks lower N-movement.

5. Flemish word markers

5.1. Word markers in the dialect ofLapscheure As shown above, German is problematic with respect to Bernstein's proposals. If we assume that the language lacks a terminal vowel, then the availability of N-ellipsis is a problem. If we were to account for N-ellipsis by postulating an abstract terminal vowel, then the unavailability of N-movement becomes problematic. German lacks the robust evidence for postulating a WM, though. We might try to solve the paradox by dissociating the availability of N-ellipsis from that of N-movement. We might, for instance, propose that N-ellipsis is related to the availability of agreement morphology on the determiner and/or adjectival system (cf. Lobeck 1995, Kester 1996) and reduce the role of WM to that of triggering N-movement. Thus, a more complex pattern of parametric variation would emerge, summarised in (24b). The dissociation of terminal vowel and N-ellipsis in (24b) would also fit the Standard Dutch data. This language does not have a terminal vowel system, and the head N follows the modifying adjective (25a,b) (for early discussions of gender see Bilderdijk, 1825 and 1822, Pauwels 1938). Like German, and unlike English, standard Dutch has limited gender-related variation in prenominal adjectives (25a-b) and it has indefinite N-ellipsis (25c).

216

Liliane Haegeman

(24) b Parameters in DP (ii) Terminal vowel and N-A order Language Spanish Italian French English German Standard Dutch

I. Terminal Vowel (Bernstein 1993)

N-Adjective order

+ +

+ + + -

+ (abstract)

-

Adjectival agreement and N-ellipsis Language Spanish Italian French English German Standard Dutch (25)

II. Adjectival agreement

+ + + + +

a een dik boek a fat book

(neuter)

b een dikke poes a fat cat

(non-neuter)

Indefinite ellipsis + + + + +

c ik heb de nieuw tekst opgeslagen en de oude [0] uitgewist I have the new text saved and the old [0] deleted Ί have saved the new text and I have deleted the old one.'

WF, a dialect of Dutch, offers an additional challenge to Bernstein's proposed correlation between the phenomena of (i) terminal vowel, (ii) lower N-movement and (iii) indefinite N-ellipsis. Moreover, WF shows that dissociating Nmovement from N-ellipsis as proposed in (24b) will not be sufficient to solve the problem. When I refer to WF here I draw my data from my own dialect, i. e. that of the village Lapscheure (Haegeman 1992). WF word-order is very similar to that of German. Specifically, there seems to be no lower N-movement past adjectives. (26)

a een zwarte katte a black cat b *een katte zwarte

WF articles and adjectives differ morphologically depending on the gender of the head-N. (26c) provides the paradigm for a number of prenominal modifiers and function words. The slashes show complementary distribution, i. e. they are meant to reflect the fact that the definite article den does not co-occur with the indefinite nen etc.

217

Word classes in Germanic: the case of West Flemish (26) c Gender in WF

Def. Indef. article Article Masc sg Femsg

Den De

Nen En

Neut sg Plural

Et De

En

Possessive Pronoun Menen

Demonstrative Dienen

Adjective

Noun

Translation

Men

Die

Nieuwen Nieuwe

Hund Katte

dog cat

Men Men

Da Die

Nieuw Nieuwe

Katje Hunden Kalten Katjes

kitten

Like German, WF has indefinite N-ellipsis: (27)

Marie eet een zwarte katte en ik een een witte.8 Marie has a black cat and I have a white 'Marie has a black cat and I have a white one.'

According to (24b), WF indefinite N-ellipsis could be argued to follow from the availability of noun-adjective agreement, as shown in (26c). Following Bernstein's approach, absence of N-movement in WF, as displayed in (26a,b), would have to relate to the absence of the word marker/terminal vowel. However, in addition to displaying agreeing prenominal adjectives, WF does seem to have the terminal vowel. Specifically, nominal gender has an overt reflex in the form of the N: WF feminine nouns display a terminal schwa. (28) illustrates minimal pairs in WF in which a N with terminal -e is feminine and a corresponding N without -e is either masculine or neuter. The terminal vowel is not restricted to animate feminine nouns, and is thus not a matter of biological sex. (28a) illustrates human nouns and (28b) non-human nouns. For more examples see Haegeman (1998). (28) a Minimal pairs: [+human] nouns Deugniet Deugniete

Masculine Feminine

Naughty male person Naughty female person

Zot Zolte

Masculine Feminine

Madman Madwoman

(28) b Minimal pairs: [-human] nouns

Bar Barre

Masculine Feminine

Bar, snackbar Beam

Bom Bomme

Masculine Feminine

Bottom Bomb

Eerd Eerde

Masculine Feminine

Hearth Earth

Kriek Krieke

Masculine Feminine

Kind of beer Cherry

The article een ('a') is pronounced [on], the verb een ('have') is pronounced [ε:η].

218 Lis Lisse

Liliane Haegeman Neuter

Reed

Feminine

Lead, whip

Masculine

Moat Moate

Feminine

Mate Measure, size

Pad Padde

Neuter Feminine

Path Toad

Spek Spekke

Neuter Feminine

Bacon Sweet

Val Volle

Masculine Feminine

Fall Trap

Vet Veite

Neuter Feminine

Grease, fat Manure

Week Weke

Masculine Feminine

Soaking (de-verbal N) Week

Zoad Zoate

Neuter Feminine

Seed Seat

There are a few exceptions to the general pattern, which I will not discuss in detail here (see Haegeman 1998). I return to some of them in sections 5.2. and 5.3. The exceptions to the pattern constitute what Harris (1991) referred to as the Residue (4.2.2.). Leaving aside the exceptions we can state the generalisation in (29): (29) Terminal in West Flemish -e feminine gender

If the relatively rare instance of French terminal vowels invoked by Bernstein (section 4.2.2., examples (22)) are taken as robust evidence for postulating the WM position, then, surely, the regularity of the terminal vowel on feminine words offers robust evidence for the hypothesis that WF has WM, realised as -e (i. e. schwa) in feminine N and by an abstract morpheme in masculine or neuter nouns. Further support for the WM-status of WF -e is also available. As was the case in Romance, the WM word marker (i. e. the terminal vowel -e ) is not exclusive to the N-system. Terminal -e is also found on a subset of predicative adjectives, as shown by schuone in (30). The adjectival terminal vowel does not reflect gender here. In (30a) und ('dog') is masculine, in (30b) katte ('cat') is feminine, us in (30c) is neuter. As shown by (30d) the form schuone is also used with plural subjects. Not all predicative adjective display a terminal vowel, though. As illustrated in (31) wit ('white') does not take this vowel. (30)

a dienen und is schuone/*schuon that dog is beautiful

Word classes in Germanic: the case of West Flemish

219

b die katte is schuone/*schuon that cat is beautiful c dat us is schuone/*schuon that house is beautiful d die unden/ katten/ uzen zyn schuone/*schuon those dogs/ cats/ houses are beautiful (31)

a dienen und is wit/*witte that dog is white b die katte is wit/*witte that cat is white c dat us is wit/*witte that house is white d die unden/ katten/ uzen zyn wit/*witte those dogs/ cats/ houses are white

Adjectives which display the terminal vowel in their predicative use also display the terminal vowel in their adverbial use. (30)

e G'eet da schuone/*schuon vermoakt you have that beautifully repaired

The fact that WF has gender and number marking on adjectives and determiners would be compatible with the availability of N-ellipsis, both under Bernstein's own proposals summarised in (24a) and under our revised proposals in (24b), in which N-ellipsis is dissociated from N-movement. However, WF also provides robust evidence for what Bernstein calls inherent gender on the N-stem and for postulating the WM-head. Yet, there is no evidence for lower N-movement in WF.

5.2. Wordmarkers in the East Flemish dialect of Kleit and diachronic change As already described in Taeldeman (1984), WF is by no means exceptional among the Flemish dialects in exhibiting the overt word-marker. For example, the East Flemish dialect of Kleit also exhibits the WM -e for feminine nouns, again with some exceptions which arguably belong to what Harris (1991) labelled the residue. Taeldeman signals that in the Kleit dialect the noun broek, in spite of not ending in -e, is feminine. Conversely, some twenty words in -e are masculine and four are neuter. Taeldeman gives the lists in (32a) and in (32b), which contain the standard Dutch equivalents of the Kleit -e words which are not feminine. Unfortunately, Taeldeman only provides the standard Dutch words, which often lack the terminal vowel anyway.

220 (32)

Liliane Haegeman a Feminine words which would lack the terminal -e in the Kleit dialect as ('axis'), balk ('beam'), beuk ('beech'), boog ('bow'), broer ('brother'), bull ('hump'), eik ('oak'), es ('ashthree'), haan ('cock'), Haas ('hare'), heer ('gentleman') hul ('bush'), kin ('chin'), naam ('name'), neus ('nose'), os ('ox'), rogge ('barley'), rug ('back'), zoon ('son')

(32)

b Neuter words which would have the terminal -e in the Kleit dialect bed ('bed'), einde ('end'), hart ('heart'), hemd ('shirt')

Taeldeman says Dat men de eind -e in het Kleits en in vele andere zuidwestelijke dialekten toch heel sterk als een aanduiding van het vrouwelijke genre is gaan aanvoelen, blijkt vooral uit een aantal analogische genusveranderingen: enerszijds zijn oog en oor allebei oorspr. onzijdige η-stammen (dus met eind -e), vrouwelijk geworden; anderszijds is hand, oorspr. vrouwelijk maar zonder eind -e, onzijdig geworden. (1984,50) That the final -e in the Kleit dialect and in many other south-western dialects has come to be felt very strongly as an indication of feminine gender is shown especially by a number of analogical gender-changes: on the one hand, oog ('eye') and oor ('ear'), both originally neuter «-stems (that is with end -e), have become feminine; on the other hand, hand ('hand') originally feminine but without -e, has become neuter. (1984, 50)

As was the case in my own dialect, adjectives and adverbs may also exhibit the word marker in the Kleit dialect (cf. Taeldeman 1984, 50 for examples).

5.3. Diachronie changes in WF The diachronic development of Ns that constitute exceptions to (29) is of interest. As regards the exceptional status ofbroek in the dialects Taeldeman says: In vele Vlaamse dialekten is broek door diverse evoluties zijn uitzonderingsstatus kwijtgeraakt: in Veume-Ambacht werd het substantief mannelijk (nen brock), in Zele [...] en omgeving kreeg het een eind -e en kon het dus vrouwelijke blijven (een broeke). (Taeldeman 1984, 54, note 1) In many Flemish dialects the word broek ('trousers') has lost its exceptional status [i. e. feminine N not ending in -e] by a number of changes: in Veume-Ambacht the substantive became masculine (nen broek 'trousers'), in Zele [...] and surroundings it got a final -e and could remain feminine (een broeke 'trousers').

Table (33) summarises the fate of the WF counterparts to the exceptions in the Kleit nominal system as discussed by Taeldeman (see (32) section 5.2.). I speculate that in the WF dialect too, all of these nouns were originally exceptions to the generalisation (29) according to which feminine Ns end in -e and a N ending in -e is feminine. As can be observed, out of the twenty-three exceptions in the Kleit dialect identified by Taeldeman, eleven WF analogues have adjusted to (29). The fact that these adjustments have occurred seems to me to support the view that the correlation terminal vowel-gender is still a robust one in the dialect.

221

Word classes in Germanic: the case of West Flemish (33) Diachronie change in the correlation gender/WM Noun Broek Asse Balte Beute Böge Broere Buhe Eik Eite

Gloss Trousers Axis Beam Beech Bow Brother Hump Oak-wood Oak

Gender in WF Masculine Masculine Feminine Feminine

Es

Ash-tree

Masculine

Hoane Hoaze Heere Kinne Noame Neuze

Cock Hare Gentleman Chin Name Nose Ox Rye Back Son Bed End Shirt Heart

Masculine Masculine Masculine Feminine Masculine Masculine Masculine Feminine Masculine Masculine Neuter Neuter Neuter Neuter

Os Rogge

Rik Zeune Bedde Ende Hemde Herte

Feminine Masculine Feminine Masculine Feminine

Analogical change? Yes No Yes Yes Yes No Yes Yes Yes Yes No No No Yes No No Yes Yes Yes No No No No No

5.4. Acronyms and abbreviations Further evidence for the robust status of (29), the gender/terminal vowel correlation in WF, is shown by the fact that acronyms and abbreviations also display the correlation between terminal vowel and gender. The form of the acronym or of the abbreviation determines its gender, and the grammatical gender of the acronym is independent from the grammatical gender of the head N in the abbreviated expression. For instance, the abbreviation ASLK in (34a) is treated as a masculine N, in spite of the fact that the head N, kasse ('bank') (34b) is feminine. Similarly, SP in (35a), with the feminine head noun partye ('party') (35b) is masculine. (34)

(35)

a ASLK [a: es el ka:] Algemene Spaar en Lijfrentekas general savings and rent bank

masculine

b kasse

feminine

bank, cashdesk

a SP [es pe:] Socialistische partij

masculine

b partye party

feminine

222

Liliane Haegeman

At first sight, nouns referring to artefacts such as paintings, sculptures, which are identified by the name of their maker (e. g. a Picasso) are exceptions to (29). The DPs in (36) are masculine, regardless of the gender of the understood head N, and regardless of the terminal vowel of the name of the creator. For instance, in (36a) and (36b) the understood head N is feminine schilderye ('painting'), but the DP is masculine. Note that in (36b), the name of the artist ends in -e. (36c), refers to the Dutch dictionary whose creator was Van Dale. The WF N boek ('book') is masculine, the WF N woordenboek (dictionary) is neuter,9 the proper name Van Dale ends in -e. The endings of the article den and the adjective dikken indicate that the elliptical DP is masculine. (36)

a

nen van Gogh a van Gogh (painting) nen Matisse a Matisse (painting) den Dikken Van Dale the fat Van Dale (dictionary)

b c

One explanation that comes to mind is that the gender of the proper name determines the gender of the DP and that gender here reflects biological sex of the artist/creator. Van Gogh, Matisse and Van Dale are all three male. (36d) shows that postulating a link between grammatical gender and biological gender is incorrect. In (36d) the implied head is the neuter noun beeld ('sculpture'), the DP is masculine. In this example, the artist in question is female, her name ends in -e and yet the DP remains masculine (36)

d nen Dhaese a Dhaese (Sculpture)

The generalised masculine gender of these constructions might be related to the fact that such expressions are elliptical. One hypothesis worth pursuing is that such DPs contain a non-overt N. The non-overt N, not being associated with phonetic material, obviously does not end in the terminal vowel -e, and hence is not feminine. Masculine might be the default gender.

5.5. Loan words WF loan words borrowed from French have become fully assimilated to the WF gender system, and are compatible with generalisation (29). Regardless of the grammatical gender of the French source N, loan Ns ending in -e will be feminine, those not in -e masculine or neuter. (37) provides some examples. (37) French loanwords French source Chauffage Garage

Gender Masculine Masculine

WF loanword Chauffage Garage

At least according to my intuitions.

Gender Feminine Feminine

Translation Central heating Garage

223

Word classes in Germanic: the case of West Flemish Moteur Portrait Quinzaine Creme Fourchette

Meteur Pertret Keziem Kreem Fersette

Masculine Masculine Feminine Feminine Feminine

Masculine Neuter Masculine Masculine Feminine

engine Portrait Biweekly pay Cream fork

Loan words from Anglo-Saxon origin also display the correlation (29) between terminal vowel and feminine gender: (38) Anglo-Saxon loan words

WF

English Computer Modem Bypass Diskette

Gender Masculine Masculine Masculine feminine

Computer Modem Bipas Diskette

There are two Ns for the concept 'lift' in WF: a loanword from French, ascenseur, which lacks terminal -e and is masculine, and a loanword from English, lifte, which has the terminal -e and is feminine: (39)

a ascenseur

masculine

lift

b lifte

feminine

lift

6. Conclusion In this paper I have examined some aspects the role of grammatical gender in terms of DP syntax. Bernstein (1993) links the availability of a terminal vowel in Romance to the presence of the functional head WM. She proposes that the availability of WM correlates with (i) indefinite N-ellipsis and (ii) N-movement. Bernstein postulates that Romance languages have the head WM while Germanic languages lack WM. I have shown that the correlations postulated by Bernstein are empirically inadequate. A first problem is raised by German, for which Bernstein claims that WM is not projected, thus accounting for the absence of lower N-movement, but which clearly has indefinite N-ellipsis. Following Lobeck (1995) and Kester (1996), I propose that the availability of N-ellipsis is a function of adjectival agreement rather than of the presence of WM. The WF data show that the direct correlation which Bernstein proposes between the availability of a terminal vowel, the functional head WM and lower N-movement cannot be maintained either. WF has robust evidence for postulating a WM head, indeed it seems to me that the evidence is stronger than that offered by French, and yet the language lacks lower N-movement. The data discussed so far do not allow us to endorse Bernstein's proposal that the presence of terminal vowels reflecting gender, related to the functional head WM, is the trigger for lower N-movement and for indefinite N-ellipsis.

224

Liliane Haegeman

While the latter may well be a function of the availability of adjectival agreement, the trigger for N-movement remains a matter for future research.10

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10

In keeping with the analyses proposed for V-tnovement one might propose that the WM is in fact universal and that N-movement depends on the strength of WM. Strength may be defined in terms of the number of distinctive forms. Observe that even though WF has a terminal vowel it only singles out the feminine N, and neuter and masculine do not have the terminal vowel. However, this proposal raises the question of the status of the French WM, which is also largely abstract and yet French has N-movement. Another path to pursue might be based on the observation that the Romance languages have a binary opposition in the gender system while the Germanic languages have masculine, feminine and neuter. This was also true for the earlier stages (see ftn. 1). I hope to clarify the issue and the status of neuter gender in future work.

Word classes in Germanic: the case of West Flemish

225

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Michael Langner

Fremdsprachenvermittlung an einer zwei-/mehrsprachigen Universität Realität und Zukunftsperspektiven des Modells der Universität Freiburg/Fribourg

Vor einigen Monaten wurde ich eingeladen, einen Beitrag zur Festschrift von Gottfried Kolde zu schreiben, wobei sich dieser Beitrag, wenn irgend möglich, an den Arbeitsbereichen des Jubilars orientieren solle, die in der Einladung genannt waren: Fragen der Mehrsprachigkeit und des Sprachkontaktes, der Sprachpflege und -kritik, des Sprachunterrichts sowie diverse Gebiete der Grammatik. Ursprünglich hatte ich gehofft, alle oder zumindest die meisten dieser Bereiche in den Aufsatz einschließen zu können, hatte ich doch in den vergangenen 20 Jahren fast alle diese Bereiche zumindest berührt. Dann bemerkte ich aber, dass die Realisierung dieser Absicht den Beitrag gesprengt hätte. Deswegen konzentriere ich mich bei meinen folgenden Ausführungen nur auf Fragen der Mehrsprachigkeit, des Sprachkontaktes und des Sprachunterrichts, die aber im langen Wirken des Jubilars keine kleine Rolle gespielt haben.

l. Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit "Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten" eines der Hauptwerke Gottfried Koldes, beschäftigt sich mit der Stadt Freiburg im Üechtland/Fribourg (und mit der Stadt Biel/Bienne). Diese Stadt teilt mit anderen Beispielen zweisprachiger Städte die Besonderheit des alltäglichen Sprachenkontakts.1 Diese Berührung von zwei Sprachen und zwei Kulturen war seinerzeit u. a. auch einer der Gründe für die Schaffung einer zweisprachigen Universität in Freiburg (ganz frühe Planungen sprachen sogar von einer dreisprachigen mit zusätzlich noch Italienisch).2 Auch wenn die ersten Jahrzehnte dieser alma mater "nur" durch eine fast ausschließlich im universitären Alltag gelebte Zweisprachigkeit geprägt waren - das Lehrangebot war im Prinzip doppelt einsprachig - so gab es doch immer Lehrende und Lernende, die zweisprachig lehrten bzw. studierten, auch wenn dies offiziell, also explizit reglementarisch, nicht vorgesehen war. Aber was nicht vorgesehen war, war auch nicht ausgeschlossen! Und der 1

2

Der Kontakt zwischen (zwei) Sprachen ist Alltag z. B. für Biel, Vaasa, Bozen (und weitere Städte in Südtirol). Es wäre interessant, einmal zu spekulieren, wie dann die Hochschullandschaft in der Schweiz heute aussähe!

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Michael Langner

Alltag der Studierenden war seinerzeit sicher auch schon zweisprachig geprägt. Heute gestaltet sich dieser Studienalltag sogar mehrsprachig, was durch einen in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Anteil ausländischer Studierender Realität wurde. Erst ca. während der 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts besann man sich auf das schlummernde Kapital der 'Zweisprachigkeit' und versuchte, es in 'klingende Münze' umzusetzen. Der Gebrauch dieser Metaphern beleuchtet einen doppelten Aspekt: einerseits die Integration der bisher doppelt einsprachig geführten Studiengänge zu stärker zweisprachigen Lehrangeboten (zuerst an der Rechtswissenschaftlichen und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät), andererseits aber auch die In-Wert-Setzung zweisprachiger Abschlüsse für den Arbeitsmarkt. In den beiden genannten Fakultäten gibt es seit dieser Zeit sogenannte zweisprachige Lizentiate, die bestätigen, dass ein gewisser Teil der Studien (einschließlich Prüfungen) in der jeweils zweiten Studiensprache absolviert worden sind. Während dieser Neuorientierung der beiden Fakultäten auf zweisprachige Studien wurde etwas ganz deutlich, was während der friedlichen Koexistenz zweier einsprachiger Studiermöglichkeiten oft nicht bemerkt worden war: Die Universität Freiburg beherbergt nicht einfach nur zwei Sprachen, sondern es treffen hier auch zwei akademische Welten aufeinander. Dies ist völlig unmilitärisch gemeint, soll aber deutlich machen, dass die Realität zweier akademischer Kulturen mit teilweise recht unterschiedlichen Traditionen nicht einfach nur unter ein reglementarisches Dach zu bringen sind, damit der Mehrwert der Zweisprachigkeit zum Tragen kommen kann, sondern dass es eine intensive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lern- und Forschungstraditionen geben muss. Dem Beitragenden wurde dies so richtig klar, als er sich einerseits in einer Projektgruppe mit den Fragen einer "fremdsprachlichen Studierfähigkeit" im Zusammenhang mit der Förderung studentischer Mobilität in Europa beschäftigte, andererseits während der Mitarbeit bei der Evaluation der Universität Freiburg, bei der die verschiedenen Fachbereiche und Fakultäten genauer analysiert wurden. Zweisprachiges Studieren bedeutet demnach nicht einfach den Erwerb von fremdsprachlichen Fachkompetenzen zusätzlich zu den 'üblichen' Fachkenntnissen, sondern die Erfahrung mit unterschiedlichen Denk- und Lehrtraditionen, und dies alles - als Freiburger Besonderheit - "unter einem Dach".3 Einen besonderen Auftrieb der Bemühungen um die Förderung der Zweisprachigkeit gaben dann die Ergebnisse der schon erwähnten (externen) Universitäts-Evaluation zu Beginn der 90-er Jahre. Als eine der wichtigsten Empfehlungen stand im Abschlussbericht, dass die grosse Besonderheit "Zweisprachigkeit der Universität Freiburg/CH" verstärkt werden solle, denn ganz speziell 3

Dies soll aber nicht als Plädoyer für ein Verweilen an einer Hochschule missverstanden werden. Ganz im Gegenteil begreife ich die Freiburger Situation als a) eine sehr geeignete Form der Vorbereitung auf studentische Mobilität und b) als Möglichkeit, durch Mobilität eventuell noch entsprechende Kompetenzen in weiteren Fremdsprachen zu erwerben.

Fremdsprachenvermittlung an einer zwei/mehrsprachigen Universität

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dadurch unterscheide sie sich von anderen Hochschulen. Nur durch eine Förderung dieser Besonderheit könne sich die alma mater friburgensis im Schweizer Wettbewerb positionieren. So wurden auf Initiative des Rektorats in den letzten Jahren Strukturen geschaffen, mit deren Hilfe die aktuelle Situation der Zweisprachigkeit an der Universität Freiburg analysiert, aus dieser Analyse Vorschläge herausgearbeitet und dann die zu treffenden Massnahmen begleitet werden sollten. Nachfolgend werden die wichtigsten Leitlinien für die Planung bis ins Jahr 2001 kurz skizziert:

L L Strukturen Die anstehenden Revisionen der Statuten der Universität und derjenigen der Fakultäten müssen berücksichtigen, dass "der interkulturelle Dialog und die Zweisprachigkeit zu fördern" sind. Dies z. B. durch Umgruppierung der Lehrpersonen desselben Fachbereichs in zweisprachige Departemente. Eine ständige Zweisprachigkeitskommission soll dann die Bemühungen zur Förderung der Zweisprachigkeit unterstützen und durch eigene Initiative weiter ausbauen.

1.2. Lehre Bis zum Jahr 2001 sollen alle Fakultäten zweisprachige Studiengänge und eben auch zweisprachige Abschlüsse vorsehen. Dabei steht auf der einen Seite des Spektrums von Möglichkeiten der zweisprachige akademische Abschluss (Lizentiat/Diplom), welcher quantitativ und qualitativ genau festgelegt werden soll. Somit soll eine hohe Minimalqualität dieser Abschlüsse garantiert werden können. Zwischen dem auf der anderen Seite des Spektrums vorgesehenen Besuchen von Lehrveranstaltungen in der anderen Sprache und dem Ablegen der Prüfungen in der ersten Studiensprache liegt dann als Zwischenweg das Studieren in der zweiten Studiensprache einschließlich von Prüfungen in dieser Sprache, aber unterhalb der quantitativen Schwelle der Definition eines zweisprachigen Abschlusses. Für den zweisprachigen Abschluss sind eigene Diplome vorgesehen, während die anderen zweisprachigen Studiermöglichkeiten attestiert werden (können). Die Studienpläne berücksichtigen heute schon die Lehrveranstaltungen in der anderen Sprache (mit entsprechenden Äquivalenzen).

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Michael Langner

1.3. Fremdsprachenlernen Die bisher eigenständig arbeitenden Sprachinstitute für Deutsch, Französisch und Englisch wurden unter einem gemeinsamen Dach zusammengefasst. Seit dem 1. Oktober 1999 arbeitet das Lern- und Forschungszentrum Fremdsprachen (LeFoZeF) / Centre d'Enseignement et de Recherche en Langues Etrangeres (CERLE) mit gemeinsamem Sekretariat und gemeinsamer Infrastruktur. Ebenfalls seit dem 1. Oktober 1999 hat die Fremdsprachenmediathek (nach langer Planungsphase) ihre Tore geöffnet und wurde als vierter Bereich in das Fremdsprachenzentrum eingegliedert. Als eine der wichtigsten Aufgaben gilt für das Zentrum die Entwicklung von fremdsprachlichen Fachsprachenangeboten in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fächern/Fakultäten. Und hiermit sind wir bei der letzten Leitidee, die eine wichtige Rolle in der akademischen Biografie von Gottfried Kolde spielte: dem Sprachunterricht. Ich möchte aber für diesen letzten Teil meiner Ausführungen diesen Bereich weiter fassen und eher von Sprachlernmöglichkeiten sprechen, die an einer Universität bestehen müssen, die sich den Ausbau der Zweisprachigkeit auf die Fahne geschrieben hat.

2. Sprachunterricht / Möglichkeiten des Sprachenlernens Zuallererst ein wichtiges Diktum: Eine zweisprachige/mehrsprachige Universität4 ist keine Universität für Zweisprachige! Dieser heute sicher unbestrittene Satz war zu Beginn der Überlegungen zu zweisprachigen Studiengängen an der Universität Freiburg nicht unbedingt klar. Die Entscheidung dafür, dass zweisprachige Studiengänge auch für Leute da sein sollen, die während des Studiums erst zweisprachig werden, hat aber eine ganze Reihe von Konsequenzen struktureller und finanzieller Art. Damit ist der Bereich der unterstützenden Maßnahmen angesprochen. Da vielen Studierenden an unserer Universität die Zweisprachigkeit nicht in die Wiege gelegt worden ist,5 müssen Unterstützungsangebote bereitgestellt werden, die den Studierenden erlauben, auch während ihrer Studienzeit die Fremdsprach-Kompetenzen zu erwerben, die sie für ein Studieren in zwei/mehreren Sprachen benötigen. Ich möchte hier kurz auf die Vielzahl von Das Splitting zweisprachig/mehrsprachig weist darauf hin, dass sich die Universität Freiburg/Fribourg von der Definition her als zweisprachige Hochschule mit den Unterrichtssprachen Deutsch und Französisch versteht, dass damit aber keineswegs die anderen Landessprachen und Englisch als Wissenschaftssprache beeinträchtigt werden sollen. Dies wird auch in den Ausführungen des Rektorates zur Zweisprachigkeitspolitik unmissverständlich gesagt. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass doch eine ganze Reihe von Studierenden zweisprachig/mehrsprachig sind, wenn auch nicht hinsichtlich der beiden Unterrichtssprachen.

Fremdsprachenvermittlung an einer zwei-/mehrsprachigen Universität

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Möglichkeiten zu sprechen kommen, die schon bestehen bzw. die aufgebaut werden soll(t)en: Das schon erwähnte neue Lern- und Forschungszentrum Fremdsprachen mit seinen drei (Sprach-)Bereichen Deutsch, Französisch und Englisch als Fremdsprachen bietet Sprach-Kursangebote auf im Allgemeinen vier Niveaustufen. Dabei besteht bei den Mobilitäts-Studierenden ein Bedürfnis nach Anfängerkursen für Deutsch und Französisch. Für viele von denen, die ein solches Austauschsemester bzw. -jähr in Freiburg absolvieren, ist klar, dass sie an eine zweisprachige Hochschule gelangen, auch wenn ihre Vorbereitungen an der Heimatuniversität üblicherweise auf eine Fremdsprache bezogen war. Außerdem gehören zum Angebot der Sprachbereiche auch Kurse in studienspezifischen fremdsprachlichen Fertigkeiten: z. B. "Hören und Notizen machen" als Training für Vorlesungs-/Seminarmitschriften oder "Korrekt und differenziert schreiben" (für Deutsch) "Competences ciblees ä l'ecrit" (für Französisch) als Übung zum Schreiben von studienspezifischen Textsorten. Das Angebot für Englisch als Fremdsprache zielt wesentlich stärker auf die Zielgruppe "junge Forscher bzw. Studierende gewisser Branchen". Dies wird deutlich am Kursangebot mit z. B. "Professional Communication Skills for Academic Researchers" oder "Writing for Researchers". Englisch als Wissenschaftssprache hat an einer zweisprachigen Hochschule zwangsläufig einen anderen Stellenwert als Französisch und Deutsch, die neben ihrer Rolle als Unterrichtssprachen gleichzeitig die beiden offiziellen Kantonssprachen und zwei (von vier) Landessprachen der Schweiz darstellen. Deutsch und Französisch sind also auch eine kommunikative Realität im Freiburger bzw. Schweizer Alltag. Zusätzlich zu diesen beiden Schwerpunkten bieten alle drei Bereiche in unterschiedlichem Maße Veranstaltungen zur Ausbildung von zukünftigen Unterrichtenden in Fremdsprachen an. Dies reicht von den bereichsspezifischen Diplomen zum Unterrichten der Fremdsprache (sowohl für Deutsch als auch für Französisch) über die Fachausbildung der zukünftigen Unterrichtenden auf der Sekundarstufe I (ebenfalls für Deutsch und Französisch) bis zu einem Zusatzangebot Deutsch als Fremdsprache innerhalb des Fachbereichs "Germanische Philologie" für zukünftige Unterrichtende an Gymnasien. Ein Arbeitsbereich, der durch die Bemühungen um eine Verstärkung der Zweisprachigkeit schon in naher Zukunft an Bedeutung zunehmen wird, ist die Erarbeitung von weiteren fachsprachlichen Angeboten im Bereich der beiden Studiensprachen. So gibt es schon seit längerem Fachsprachenkurse Deutsch und Französisch für Juristen/innen und für Wirtschaftswissenschaftler/innen. Das Kursangebot für die Rechtswissenschaft ist insofern von Interesse, als dort seit Jahren ein sogenanntes Tandem-Modell verfolgt wird: Jeweils eine Fachperson für Jura und eine für Fremdsprachendidaktik erarbeiten gemeinsam das Konzept. Diese Konstruktion hat sich sehr bewährt, da in beiden Bereichen ein hohes Maß an Qualität erreicht wird, die fremdsprachlichen Fachsprachenunterricht auszeichnet: Fachinhalte und Fremdsprachendidaktik.

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Michael Langner

Da die Schaffung von zweisprachigen Studiengängen für die übrigen Fakultäten ansteht, ist damit zu rechnen, dass der Fachsprachenbereich am Zentrum ausgebaut werden wird. Erste Anzeichen sind zu erkennen am Entscheid der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, den Fremdsprachenerwerb in das Curriculum einzubinden und auch im ECTS-System entsprechend zu honorieren (ECTS = European Credit Transfer System, das erlauben soll, die Studienleistungen, die an verschiedenen europäischen Einrichtungen erworben werden, vergleichbar und anrechenbar zu machen). Neben einer Festlegung des Anteils der verschiedenen Unterrichtssprachen (Quantifizierung der besuchten Lehrveranstaltungen, der abgelegten mündlichen und schriftlichen Prüfungen) ist dies ein wichtiges Mittel, um die Bedeutung der Fremdsprachen für Ausbildung und späteren Beruf deutlich zu machen.

2.l.Mediathek Die im Rahmen der Maßnahmen zur Förderung der Zweisprachigkeit neu geschaffene (Fremdsprachen-)Mediathek bietet den Universitätsangehörigen im Rahmen eines Selbstlernzentrums ein Zusatzangebot im Bereich Fremdsprachen. Sie bietet derzeit Lernmaterialien im Bereich Audio-Kassetten (der Bestand der bisherigen Audiothek wurde integriert), Video-Kassetten und Computer-Materialien (CD-ROMs, Diskettenprogramme und Intemet-Lemangebote) an ca. 16 Audio-/Lese-Arbeitsplätzen, 4 Video-Stationen und momentan 14 Multimedia-Computern mit Intemetanschluss. Im Rahmen der Einrichtung der Mediathek wurde auch ein eigener Server für das Zentrum angeschafft, auf dem u. a. Lemsoftware und Nachschlagewerke zentral zur Verfügung stehen und auf den auch die Eigenentwicklungen von Lernangeboten gelegt werden. Die autonomiefördemden Lemformen in der Mediathek werden gestützt durch ein regelmäßiges Angebot von Lernberatung, welches einerseits zur Feststellung der spezifischen Lernbedürfnisse dient, andererseits aber auch das Angebot von Evaluationsmöglichkeiten mit einschließt. Zusätzlich zu den Lernangeboten für Studierende, die nur vom Angebot der Mediathek Gebrauch machen wollen, gibt es an der Mediathek aber auch Materialien, die begleitend zu den Kursangeboten des Zentrums in Deutsch, Französisch und Englisch benutzt werden. Hier sollen mehr und mehr auch Materialangebote in Zusammenarbeit von Mediatheksleitung und Lehrkräften der anderen Bereiche realisiert werden, die den spezifischen Bedürfnissen der Studierenden im Bereich Fachsprachenerwerb entgegenkommen. Ein Beispiel ist ein Angebot für "Fachsprache Wirtschaft" (FaWi-Deutsch), welches im Intranet der Universität zur Verfügung steht. Diese Angebote, die teilweise auf Internetseiten basieren und teilweise mit Autoren-Tools erstellt werden, haben den Vorteil schneller Aktualisierungsmöglichkeiten und sollen in Zukunft kontinuierlich ausgebaut werden.

Fremdsprachenvermittlung an einer zwei/mehrsprachigen Universität

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Derzeit ist das Lemangebot der Mediathek noch weitgehend an die Arbeitsplätze im Zentrum gebunden. Der nächste Schritt soll dann in Richtung Intranet gehen, so dass spezielle Programme von den verschiedenen Multimedia-Räumen der Universität aus genutzt werden können. Und dann muss überlegt werden, ob bestimmte Lernmöglichkeiten eventuell auch von den privaten Computern der Studierenden zu Hause genutzt werden könnten (sei es über den Fernzugang zur Universität RAS, sei es über ein Intemetangebot mit Passwortschutz). Neben diesen Aufgaben der Mediathek für die Förderung der Zweisprachigkeit der Studierenden soll die Einrichtung aber auch dazu dienen, die zukünftigen Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen mit den neuen Medien vertraut zu machen, die mehr und mehr den Fremdsprachenunterricht auch an den Schulen beeinflussen werden. In Lehrveranstaltungen soll diese Zielgruppe theoretisch und praktisch auf die zukünftigen (medialen) Entwicklungen im Bereich der Fremdsprachenvermittlung vorbereitet werden.

2.2. Lern- und Forschungszentrum Fremdsprachen Die schon weiter oben angeführten Aufgaben des Zentrums im Bereich der Fremdsprachenvermittlung sind aber nur ein Arbeitsschwerpunkt neben anderen. Weitere Schwerpunkte sind die Forschung und die Kooperation bei verschiedensten Projekten: Die Qualität des Fremdsprachenunterrichts an Universitäten kann nicht ohne begleitende Forschung gewährleistet werden. Deswegen wurde das Zentrum und seine vier Bereiche ganz bewusst akademisch in die Hochschule eingegliedert, und keine Konstruktion gewählt, die sich in reiner Dienstleistung (als quasi parauniversitäre Einrichtung) erschöpft. Damit soll u. a. verhindert werden, dass der Fremdsprachenerwerb als von geringerer Wichtigkeit angesehen wird. In diesem Zusammenhang stehen auch die Einrichtung der beiden Professuren für Deutsch bzw. Französisch als Fremdsprache, die in den vergangenen Jahren erfolgte. Damit erhielten die Fächer "Deutsch als Fremdsprache / Französisch als Fremdsprache" auch akademisches Gewicht (für Deutsch als Fremdsprache ist dies die erste Schweizer Professur!). Das Zentrum wird sich auch in Zukunft - ganz in der Tradition der ehemaligen Sprachinstitute - weiter im Bereich von Projekten mit anderen Universitäten und weiteren Bildungsinstitutionen engagieren. Zu nennen sind derzeit die Trinationale Kooperation im Bereich der internationalen Fremdsprachen-Diplome, die Mitarbeit bei der Erstellung und Evaluation des Europäischen Fremdsprachenportfolios (Schweizer Fassung), das Internet-Forum für Juristen {Fachsprache Recht Französisch) und in der Zukunft der virtuelle Verbund zwischen Hochschulen mit ähnlichen Einrichtungen und der Austausch von Fachsprachen-Angeboten mit anderen Hochschulen.

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Michael Langner

Außerdem gab und gibt es eine gute Zusammenarbeit mit der neuen mehrsprachigen Universität Bozen/Bolzano/Bulsan in Südtirol. Das Treiburger Modell' war und ist dort ein wichtiger Ausgangspunkt bei der Ausarbeitung des Sprachenkonzepts, der Prüfungen zur Feststellung einer fremdsprachlichen Studierfähigkeit und den Planungen für ein universitäres Sprachenzentrum.

3. Ausblick Diese Skizzierung der Möglichkeiten zum Fremdsprachenlemen an der zweisprachigen Universität Freiburg/Fribourg, ihre Verankerung in der Vergangenheit der zwei bzw. drei ehemaligen Sprachinstitute, die Restrukturierung innerhalb eines Lern- und Forschungszentrums Fremdsprachen mit Forschungsschwerpunkten und die Neuschaffung einer Mediathek als Selbstlemzentrum zeigen, dass die Arbeitsbereiche des Jubilars Gottfried Kolde aktuell bleiben, wenn sich auch die Schwerpunkte innerhalb der verschiedenen Bereiche leicht verschieben. In diesem Sinne kann man ihn zum Geleisteten nur beglückwünschen und hoffen, dass andere auf diesen Wegen weitermachen.

4. Literaturverzeichnis Brohy, Claudine / Langner, Michael (1993/94): Zweisprachiges Lernen in Freiburg/Fribourg: Geschichte, Realität, Perspektiven. In: Zweisprachigkeil - Bilinguisme, 35-36. (http://www.unifr.ch/spc/UF/94juin/langner+brohy.htrnl) Die Universität Freiburg: zweisprachig und international. Rapport der Arbeitsgruppe Zweisprachigkeit. Freiburg/Fribourg 1996. Hier et aujourd'hui: une universito bilingue (1993/94). In: Zweisprachigkeit - Bilinguisme, 3944. Langner, Michael (1993/94): Medien im universitären (Fremdsprach-)Unterricht. In: Zweisprachigkeit - Bilinguisme, 49-51. - (1996): In einer fremden Sprache studieren. Überlegungen zur Überprüfung fremdsprachlicher Studierfähigkeit. Ein Werkstattbericht. In: Mitteilungen des "österreichischen Lehrerverbands Deutsch als Fremdsprache (ÖDaF-Mitteilungen) " 2,1996,35-48. (1997): Zweisprachiges Studieren an der Universität Freiburg. In: Babylonia 4,18-23. Politique en mauere de büinguisme / Zweisprachigkeitspolitik. Vorschläge des Rektorats. Freiburg/Fribourg 1996. Zweisprachigkeit - Bilinguisme (1993/94). Freiburg. (= Universitas Friburgensis 4. Vierteljahresschrift der Universität Freiburg).

Walter Lenschen

Der Bauer im Ehren-Feld Zur Inszenierung eines Begriffs im Nationalsozialismus

Im Folgenden geht es um die Veränderung des Ausdrucks Bauer, das heißt eines der "geschichtlichen Grundbegriffe" der deutschen Sprache.1 Diese Veränderung wird hier beobachtet in einer relativ kurzen Zeitspanne, nämlich in den 20-er und 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Beobachtungsmaterial sind Texte, die zu verschiedenen Textsorten gehören; zusätzlich wird versucht, die sprachlichen Vorgänge mit außersprachlichen Ereignissen und Situationen in Verbindung zu bringen.

l. Enzyklopädische Artikel Wir beginnen mit einigen Artikeln zum Stichwort Bauer in drei zeitlich aufeinander folgenden Ausgaben des Meyerschen Konversationslexikons.

1.1. Meyers Lexikon, 7. Auflage, in 12 Bänden und drei Ergänzungsbänden, Leipzig 1924-1933 Der Artikel Bauer fängt 1924 so an: Bauer, Landbewohner, der sich im Hauptberuf mit Landwirtschaft beschäftigt. Im engem Sinn kleiner Landwirt, der auf eignem oder erpachtetem Grund und Boden wirtschaftet, also der Bauerngutsbesitzer oder -pächter im Gegensatz zum landwirtschaftlichen Arbeiter oder Dienstboten einerseits und zum Großgrundbesitzer oder Rittergutspächter anderseits. (Sp. 1572)

Da der zweite Satz unterscheidend einen engeren Sinn von Bauer angibt, wird der erste Satz den weiteren Sinn des Begriffs enthalten: 'Landbewohner, der sich im Hauptberuf mit Landwirtschaft beschäftigt'. Hierzu gehören, nach Ausweis des zweiten Satzes, außer den Bauern im engeren Sinne auch die landwirtschaftlichen Arbeiter oder Dienstboten einerseits und die Großgrundbesitzer oder Rittergutspächter anderseits. Die Ausdrücke Bauer und Landwirt können sich in ihrer Anwendung wechselseitig überschneiden; ein Bauer im engeren Sinn kann kleiner Landwirt genannt werden, dann ist Landwirt übergeBrunneretal. (1972ff).

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Walter Lenschen

ordneter Begriff zu Bauer; anderseits können alle 'Landwirte' zusammen auch Bauern (im weiteren Sinn) genannt werden. In diesem komplexen Verhältnis deutet sich die Spannung an, die zwischen Bauer und Landwirt seit langem bestand. Wenn beide Ausdrücke im engeren Sinn gebraucht werden, dann unterscheidet zwischen ihnen die Größe des Besitzes, die beim Bauern geringer ist als bei anderen Landwirten.

1.2. Meyers Kleines Lexikon, Neunte gänzlich neu bearbeitete Auflage in drei Bänden, Leipzig 1933/34 Der Anfang des Artikels zu Bauer (1933): Bauer, Landwirt, der eigenen oder gepachteten Grund und Boden selbst, d. h. durch seine und meist auch seiner Familie Mitarbeit (85 vH aller Landw. Betriebe des Dt. Reichs sind Familienbetriebe), bewirtschaftet. Die Grenzen zw. Groß-B. und Besitzern kleinerer Güter sind fließend; es kommt darauf an, wer von beiden in seinem Betrieb selbst mehr Hand anlegt. (Bd. l, 187).

Zwischen einer engeren und einer weiteren Bedeutung von Bauer wird nicht unterschieden. Auch die geringere Besitzgröße trennt nicht mehr den Bauern von anderen Landwirten, es erscheint sogar ein Widerspruch gegen Größe als Kriterium; vielmehr ist das "selbst bewirtschaften", "selbst Hand anlegen" konstitutiv für Bauer, anscheinend gegenüber anderen 'Landwirten'. Landwirt kann aber noch als Synonym, vielleicht auch als Oberbegriff, für Bauer dienen. Dies erscheint, für sich betrachtet und auch im Vergleich mit der vorhergehenden Definition, wenig systematisch. Ein leicht antikapitalistischer Ton ist wohl herauszuhören. Aus Angaben in anderen Artikeln dieses Bandes lässt sich schließen, dass der Terminus ante quern der Herbst 1933 sein muss; Ereignisse aus dem Juli dieses Jahres sind berücksichtigt, solche aus dem Herbst 1933 nicht mehr. Das ist für unseren Zusammenhang wichtig, denn am 30. September 1933 wurde im Reichsgesetzblatt das "Reichserbhofgesetz" verkündet.2 Da war der Artikel Bauer für dieses Lexikon offenbar schon abgeschlossen, er zeigt keinerlei Auswirkungen dieses Gesetzes, ganz anders als der Artikel Landwirt im selben Lexikon, der wohl dank der Tatsache, dass L im Alphabet später kommt als B, deutlich von dem neuen Gesetz bestimmt ist; die Abgrenzung gegenüber Bauer erfolgt jetzt so:

1.3. Meyers Kleines Lexikon, Neunte gänzlich neu bearbeitete Auflage in drei Bänden, Leipzig 1933/34 Der Anfang des Artikels zu Landwirt (1933):

Reichserbhofgesetz. Vom 29. September 1933. In: Reichsgesetzblatt, Teil l, 1933, Ausgegeben zu Berlin, den 30. September 1933, Nr. 108,685ff.

Der Bauer im Ehren-Feld

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Landwirt bearbeitet zur Erzeugung landw. Produkte Grund und Boden als Besitzer, Pachter oder Siedler. "Bauer" heißt nur der Eigentümer eines Erbhofes; (vgl.) Reichserbhofgesetz. (Bd. 2, 1336).

Das Merkmal des Selbstbewirtschaftens, das kurz vorher im selben Lexikon noch für Bauer als grundlegend genannt wurde, ist hier wieder verschwunden. An seiner Stelle kennzeichnet jetzt das Eigentum an einem Erbhof den Bauern, unter Vernachlässigung auch der Betriebsgröße. Die Begriffe Landwirt und Bauer können nun offenbar nicht mehr wechselseitig füreinander eintreten, ihre Teilsynonymie ist beendet. Deflatorisch genauer bestimmt erscheint Bauer, während Landwirt fast wie eine Restkategorie wirkt. Diese Tendenz bestätigt sich im Artikel "Reichserbhofgesetz", in demselben Lexikon.

L 4. Meyers Kleines Lexikon, Neunte gänzlich neu bearbeiteteAuflage in drei Bänden. Leipzig 1933/34 Da heißt es unter "Reichserbhofgesetz" (1934): Land- u. forstwirtschaftl. Besitz in der Größe von mindestens einer Ackemahrung u. von höchstens 125 ha ist Erbhof, wenn er einer bauemfähigen Person gehört. Der Eigentümer des Erbhofs heißt Bauer. Bauer kann nur sein, wer dt. Staatsbürger, dt. oder stammesgleichen Blutes u. ehrbar ist. Der Eigentümer od. Besitzer ändern land- oder forstwirtschaftlich genützten Grundeigentums heißt L a n d w i r t . Andre Bezeichnungen, wie Rittergutsbesitzer, sind verboten. (Bd. 3,1861).

Hier ist die Dissoziierung der beiden Begriffe deutlich und mit autoritativer Geste zu Ende geführt. Blickt man zurück auf die drei hier erwähnten Artikel dieses Lexikons, so erscheint der Bereich der sprachlichen Bezeichnungen für 'Landbewohner, die sich im Hauptberuf mit Landwirtschaft' beschäftigen (vgl. 1.1), in 1.2, das heißt etwa im Sommer 1933, erschüttert und im Umbau begriffen. Die Richtung, die der noch unsystematische Umbau zu nehmen schien, wurde bald, wohl schon im Herbst 1933, (vgl. 1.3 und 1.4) geändert; nicht Selbstbewirtschaften, sondern Erbhof-Eigentum hob künftig den Bauern von anderen Landleuten ab. Anfangs nicht erwähnte Begriffe wie Rittergutsbesitzer sind am Ende ausdrücklich verboten. Die beiden Termini, die übrig bleiben, Bauer und Landwirt, teilen in gegenseitiger Ausschließung das ganze Begriffsfeld unter sich auf; ihre Binnendifferenzierung ist beseitigt. Ein Blick noch in die nächste Auflage des Lexikons:

1.5. Meyers Lexikon, Achte Auflage, In völlig neuer Bearbeitung und Bebilderung, in 12 Bänden einschl. l Reg.- und l Atlas-Band, Leipzig 1936-1942* Der Anfang von "Bauer": 3

Wirklich erschienen sind nur die Bände l bis 9 und der Atlas-Band.

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Bauer (ahd. bur, pur; mhd. bur[e], auch gebur von bur, "Wohnung"), das Haupt einer mit Bodenbesitz organisch verknüpften Familieneinheit, in der Frühgeschichte der den freien Germanen gemeinsame Beruf, von dem die Unfreien ausgeschlossen waren; später bis zur Machtübernahme allgemeine Bez. für ackerbau- oder viehzuchttreibende Landbevölkerung. Im Dt. Reich ist heute B. nach dem Reichserbhofges. vom 29.9.1933 der Eigentümer eines t Erbhofs, während der Eigentümer ändern land- und forstwirtschaftlich genutzten Grundbesitzes ohne Unterschied der Besitzgröße L a n d w i r t heißt. Früher z. T. übliche Benennungen, wie etwa Rittergutsbesitzer, Gutsbesitzer u. ä., sind daher unstatthaft. (Band 1,1936, Sp. 1009f.)

Der Artikel beginnt mit einer rhetorisch wirkenden, aber ungenauen Aussage über den Bauern. Der Boden, von dem da die Rede ist, muss anscheinend nicht einmal bewirtschaftet werden - es genügt, dass die Bauemfamilie mit ihm "organisch verknüpft" ist. Und diese organische Verknüpfung - könnte sie nicht auch zu einem Garten in der Stadt existieren? Die beiden Begriffe Bauer und Landwirt sind völlig voneinander getrennt, entsprechend der Entwicklung in der vorhergehenden Auflage des Lexikons. Die Metaphern "Haupt", "organisch", "verknüpft" suggerieren um Bauer herum naturwüchsige oder artisanale Verhältnisse in feierlicher Atmosphäre. Der Bauembegriff ist mit zusätzlichen Merkmalen - Familienhaupt, besondere Beziehung zum Boden - ausgestattet und ästhetisch angehoben worden; definitorische Kraft besitzen diese Komponenten aber wohl kaum, denn Landwirt kann hier und an seinem alphabetischen Ort dargestellt werden, ohne dass auf solche Komponenten Bezug genommen werden müsste. Die Verfasser des Artikels wissen, dass hiermit die Konstellation Landwirt - Bauer umgestoßen wird. Geschichtlich Gewordenes wird drastisch verändert, während gleichzeitig Lippenbekenntnisse zur Geschichte abgelegt werden. Der letzte Absatz des Artikels bietet eine Lösung für dieses Problem: wenn es in vergangenen Jahrhunderten einen weniger guten Bauembegriff gegeben habe, so sei das von Juden verursacht worden.

1.6. Meyers Lexikon, 8. Auflage, Band l, Leipzig 1936, Sp. 1010 Durch eine bewußte Verhöhnung des t Bauerntums schufen jüd. Literaten Hand in Hand mit der judenhörigen Presse den Begriff des "dummen B.", der dann auch in gemeinen, den B. herabsetzenden Karikaturen so nachhaltig verbreitet wurde, daß sich mancher B. lieber Landwirt oder Oekonom nannte. Erst den Maßnahmen des nat.-soz. Staates und seiner zielbewußten t Agrarpolitik blieb es vorbehalten, zugleich mit der Rettung des B. vor dem wirtschaftl. Zusammenbruch auch die Bez. B. wieder zu einem Ehrennamen zu machen.

Der Artikel Landwirt in diesem Lexikon ist kurz, sachlich, ohne rhetorischen Aufwand: Landwirt, der Eigentümer oder Besitzer von land- und forstwirtschaftlich genutztem Grundbesitz, der nicht t Erbhof ist, im Gegensatz zum t Bauer und Gärtner. (Meyers Lexikon, 8. Auflage, Band 7, Leipzig 1939, Sp. 219)

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2. Sprachregelung im Gesetzestext Die 1933 derart gewollte propagandistische Verschönerung des Bauern-Begnffs bei gleichzeitiger Zurückdrängung von Landwirt wäre, was hier nicht beabsichtigt ist, in die Geschichte der beiden Begriffe einzuschreiben. Während Landwirt erst seit dem 18. Jahrhundert bezeugt ist, lässt sich Bauer in einer wechselvollen Geschichte bis ins Mittelalter verfolgen.4 In das Verhältnis zwischen diesen beiden Termini griff nun "das wohl spektakulärste und ideologischste Gesetz der nationalsozialistischen Agrarpolitik"5 ein, das "Reichserbhofgesetz" vom 29. September 1933. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang sind die Sprachregelungen, die dieses Gesetz enthält; einiges davon sei hier kurz zitiert. Der zweite Abschnitt des Gesetzes hat den Titel "Der Bauer". Er beginnt mit § 11: "Begriff*. (1)

Nur der Eigentümer eines Erbhofs heißt Bauer.

(2)

Der Eigentümer oder Besitzer anderen land- oder forstwirtschaftlich genutzten Grundeigentums heißt Landwirt.

(3)

Andere Bezeichnungen für Eigentümer oder Besitzer land- oder forstwirtschaftlich genutzten Grundeigentums sind unzulässig.

(4)

Die Berufsbezeichnung der Eigentümer im Grundbuch ist allmählich entsprechend zu ändern.

Von diesem Gesetzestext sind offensichtlich die Angaben zu Landwirt in Meyer 1933 (s. 1.3.) und die zu Bauer und Landwirt in Meyer 1936ff. (s. 1.5. und 1.6.) inhaltlich und formal bestimmt, während der Artikel Bauer in Meyer 1933 (s. 1.2.) noch anders orientiert war. Der Grund: Dieser Artikel war wohl schon fertig, bevor das Reichserbhofgesetz den neuen Bauernbegriff festlegte. Man kann daran die Schnelligkeit ermessen, mit der dieses Lexikon Entscheidungen der neuen Regierung an sein Publikum weitergab. In der Tat war die wirtschaftliche Situation vieler landwirtschaftlicher Betriebe vor 1933 nicht gut, sie waren vergleichsweise klein, sie verfügten im internationalen Vergleich über wenig Maschinen, sie erbrachten nur geringe Einkommen, sie waren oft verschuldet, es war zu Konflikten zwischen den Bauern und dem Staat gekommen. Wirtschaftliche Gründe, um die Lage der Bauern zu verbessern, gab es also genügend, aber für die Hitler-Regierung waren die ideologischen wohl noch wichtiger. Unter den nationalsozialistischen Zukunftsentwürfen stand nämlich die Idee eines "Bauernreichs" an erster Stelle, und zwar vor allem aus bevölkerungspolitischen Erwägungen. Ländlicher Kinderreichtum sollte sinkende Geburtenraten in den Städten wettmachen. Dazu kamen "feindliche Gefühle gegen die Finanzwelt, gegen das Bürgertum, gegen den Adel und gegen den Westen" sowie die "Überzeugung, daß der deutsche

Vgl. Brunner et al. (1972ff, Bd. l, 307ff.). Vgl. Herbst (1996,245).

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Bauer ein besserer Mensch sei".6 So wurden 1933 Zins- und Steuersenkungen zu Gunsten der Landwirtschaft beschlossen, die seit neuestem als "Erbhöfe" deklarierten Anwesen durften nur bis zu einer gewissen Höhe mit Schulden belastet werden, sie durften im Erbfall nicht aufgeteilt und überhaupt nur mit gerichtlicher Erlaubnis verkauft werden - kurz: sie sollten dem üblichen Handel entzogen werden. Zwar wurde nur etwa ein Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe zu Erbhöfen, aber diese genossen gewisse Privilegien und waren Objekte gesteigerter Aufmerksamkeit, auch staatlich herbeigeführter Sympathien.

3. Der Bauer in künstlerischen Darstellungen Dass bäuerliche Themen in der Malerei des so genannten Dritten Reichs, wenigstens bis zum Kriegsbeginn, eine überproportional große Rolle spielten, ist längst beobachtet worden.7 Die Dargestellten erschienen dann oft weniger als Individuen denn als Repräsentanten ihres Standes, als Typen, die etwas bewusst Exemplarisches an sich hatten. Die beliebtesten Handlungen dieser gemalten Bauern sind das Pflügen und das Säen, beides gelegentlich ins Symbolische, Monumentale gehoben oder auch dem Religiösen angenähert. Die Betrachter konnten hier sehen, und das war die ideologische Funktion dieser Malereien, was sie in ihrer Welt vermissten: gesicherte Existenz, Geborgenheit, überschaubare Verhältnisse. Zu ähnlichen Feststellungen kamen wohl auch Leserinnen und Leser von Texten, die den nationalsozialistischen Bauembegriff verbreiten sollten, in Schul- oder Schulungsbüchern. Wir beschränken uns hier auf zwei Beispiele. Der erste Text, deutlich genug betitelt "Der Bauer wird Landwirt",8 zeigt den Unterschied zwischen Bauer und Landwirt am Gegensatz zwischen Vater und Sohn, Klaus Wienecke und Hans. Der Vater, rückblickend zufrieden mit seinem Leben als Bauer, obwohl es ärmlich und einfach war, hat den Hof seinem Sohn übergeben. Er betrachtet nun, was Sohn Hans, der sich Landwirt oder Oekonom nennen lässt, alles anders macht. Die Ernte ist jetzt viel größer als früher, denn der Sohn orientiert sich am Gewinn, er verwendet Kunstdünger und Maschinen, er hat Schulen für Landwirte besucht. Aber er hat keinen Respekt vor den Traditionen seiner Familie, die schon seit Jahrhunderten diesen Hof besitzt. Altes bäuerliches Kulturgut wurde durch wertlose Dinge aus Stadt und Fabrik verdrängt, die Mode hat Einzug gehalten, die vertrauten sozialen Gruppen in Haus und Dorf sind aufgelöst, gesellschaftliche Differenzen zwischen denen, die den Hof besitzen, und denen, die nur dort arbeiten, sind aufgebrochen. - Nachdem der Autor diese Serie von reaktionären Gemeinplätzen als Gedanken und Äuße6 7

8

Schoenebaum(1980, 198). Bartetzko et al. (1975). Dies ist auch die Quelle für die folgenden Aussagen zur nationalsozialistischen Bauemmalerei. Lorenz(1934,

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rangen von Vater oder Sohn präsentiert hat, scheint es ihm doch geraten, den wichtigsten Punkt unverhüllt, im Klartext sozusagen, unters Publikum zu bringen. Dieser Textteil, im Original mit dem Titel "Schluß" versehen, lautet so: Mancherlei Anzeichen, die wenig Gutes für die Zukunft erhoffen ließen, hat Klaus Wienecke von seinem Hofe aus beobachtet, doch die fürchterlichste Gefahr, die unserm Volke drohte, blieb seinen Augen verborgen. Die zunehmende Verstädterung bedeutete Abnahme der Geburtenzahl. Bald überwogen in den Städten die Todesfalle alle Zugänge; das Sterben unseres Volkes setzte ein. Nur draußen auf dem Lande herrschten gesündere Verhältnisse, in den Bauernhöfen überwog immer noch die Zahl der Neugeborenen die der Sterbenden; der Bauer bewährte sich als die letzte Lebensquelle des deutschen Volkes. Man hätte ihn und seinen Hof deswegen hegen und schützen sollen. Was aber taten die kurzsichtigen Staatsmänner der Nachkriegszeit? Durch ungerechten, übermäßigen Steuerdruck trieben sie ihn vielfach von seinem ererbten Hof, oder sahen wenigstens ungerührt zu, wie er immer mehr verelendete. Nur ein Wunder vermochte das sterbende Deutschland zu retten, und dieses Wunder kam mit Adolf Hitler, dem Vorkämpfer des Staatsgedankens von B l u t und Boden.

Dieser Übergang von der narrativen Art zur offen agitatorischen zeigt im vorliegenden Fall wohl die begrenzten Möglichkeiten des Verfassers, der vor allem am propagandistischen Aspekt seines Tuns interessiert war. Unser zweiter Text zum Bauembegriff des Nationalsozialismus ist seiner erzählerischen Mittel sicherer, sein Autor ist Wilhelm Lennemann (1875-1963), der schon seit Anfang des Jahrhunderts Bücher mit Bauemthematik veröffentlicht hatte. Dieser Text von 1937 mit dem Titel "Ein Bauemwort" passte anscheinend so gut zu dem seit 1933 propagierten Bauernbild, dass die Geschichte sehr rasch ins Schullesebuch aufgenommen wurde. Sie wurde also im Deutschunterricht für 10- bis 14-jährige Volksschüler/innen verwendet. Aus einem solchen Lesebuch wird sie hier vollständig wiedergegeben, weil sie heute wohl nicht mehr leicht zugänglich ist.9 Ein Bauemwort. Bei dem Oberpräsidenten von Westfalen, dem Freiheim von Vincke, weilte einst ein baltischer Graf zu Besuch. Das war ein gar vornehmer Herr, der den Bauern geringer achtete als das Vieh im Stall und das Wild in den Wäldern. Der volkstümliche und bäuerliche Freiherr kam darob des öftem hart mit ihm aneinander. "Wenn Sie einmal westfälische Bauemart kennenlernten", sagte er, "so würden Sie sich beugen vor ihrer Kraft, ihrem Stolze und ihrer Würde!" "Auf das Wunder bin ich gespannt!" lachte der Balte überlegen. Der Freiherr war kein Freund vieler Worte; an einem der nächsten Tage aber wußte er es einzurichten, daß ihr ziemlich ausgedehnter Morgenspaziergang vor einem grossen Bauerngehöft endete, das in einem Kranze vieler wetterstarker Eichen lag. "Mit dem Bauern hätte ich etwas zu bereden", meinte der Freiherr und trat durch das Tor in den Hof, an dessen Rückseite sich die massive und langgestreckte Bauemburg erhob. Wohl oder übel musste der Balte ihm folgen. In dem Balken über der grossen Dielentür standen wie mit dem Beil die Worte eingehauen:

Deutsches Lesebuch (1941, 85ff).

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"Die Welt vergehet - dies Haus bestehet!" Der Freiherr wies darauf; der Balte lächelte und murmelte etwas von bäuerlicher Anmaßung. Aus der Niendör kam ihnen der Bauer entgegen, weißhaarig, aber noch hoch, stämmig und bolzengerade. Der Freiherr begrüßte ihn und stellte seinen Gast vor. Der Bauer reichte ihm die Hand, als sei er seinesgleichen, und bat die beiden in sein Haus. Sie traten in die Diele, die sich hoch und weit wie eine Kirchenhalle reckte. Als der Graf dann aber über die prächtigen und wohlgepflegten Tiere hinblickte, die links und rechts aus ihren Sünden auf die Diele schauten, und sein rechnender Verstand alsogleich die dazugehörigen Äcker und Weiden ausmaß, verging ihm sein hochmütiges Lächeln, und eine Anerkennung und Bewunderung kam ihm auf; ja er trat an eins der jungen Fohlen, befühlte und bemusterte es, sagte aber kein Wort. Der Freiherr besprach indes mit dem Bauern seine Sache. Als der Balte dann nachdenklich aufschaute, waren die beiden schon ins Flett gegangen, wo die Bäuerin alsogleich auftrug: Pumpernickel und Schinken und Wurst und Eier und dazu einen selbstbereiteten Wacholder. "Nich scheneert!" munterte der Bauer auf; und der Freiherr setzte sich auch gleich dazu, als habe er mit diesem Frühstück gerechnet. Auch dem Balten mundete die kräftige und reichliche Kost nach dem anstrengenden Marsch wohl. Und der Bauer saß dabei, trank auch ein Glas oder zwei und schob zwischendurch seinen Gästen Fleisch und Brot gemessen zu. Wie dann das Gespräch so lief, ging auch der Balte aus seiner vornehmen Zurückhaltung heraus und fragte nach diesem und jenem, nach Acker und Feld und Frucht und Vieh. Und der Bauer gab Bescheid und übertrieb nicht. Da kam den Balten doch ein Staunen an, und er meinte anerkennend, da sei manch Edler in seiner Heimat, der nicht einen solchen Besitz sein eigen nenne. Und der Westfale, aus einem innem Lächeln heraus: "Da ist er eben kein Bauer!" "Oho!" begehrte der Graf auf, meisterte sich aber gleich und pflichtete spöttisch bei: "Sie haben recht, das sind Edelleute und keine Bauern." Der Bauer hörte den Spott wohl, schob ihn aber wie ein Nichts beiseite. "Es gibt nur Bauern und Knechte; wie sie sich sonsten noch nennen, ist gleichgültig!" "Zum Beispiel?", fragte der Graf listig. "Zum Beispiel hier unser Oberpräsident in seinem blauen Kittel: der ist ein Bauer, ein echter, respektabler Bauer, unser erster Bauer im Lande." Der also Belobte lachte herzhaft ob dieser Beweisführung. "Und Name, Stand und Herkunft gelten Ihnen nichts? Darf ich wissen wie alt Sie sind?" Der Bauer verstand nicht sogleich. "Ich gehe ins vierundsiebzigste Jahr!" "So meinte ich es nicht", wies der Balte die Antwort zurück; "das Alter ist eine Gnade des Herrgotts, auf die wir nicht stolz sein dürfen. Da Sie mit dem Besitz so eng verbunden sind, wollte ich wissen, wie alt dieser Hof sei." "Der ist so alt wie Geschlecht und Name!" kam es selbstbewußt. "Nun wären wir der Kernfrage ganz nahe: Also wie alt ist Ihr Geschlecht?" Diese Frage, meinte der geschlechterstolze Graf, müsse den Bauern doch wohl seinen Dünkel dämpfen. Aber da stand der Bauer auf, ganz groß und würdevoll. "Mein Geschlecht kam aus der Ewigkeit und geht in die Ewigkeit; es ist älter als alle Königreiche!" Blieb stehen und gab damit zu erkennen, daß jede weitere Frage unnütz sei. Der Oberpräsident war mit seinem Bauern und der Lehrstunde wohl zufrieden. Er griff nach seinem Eichenstock. Der Bauer geleitete seine Gäste bis an das Hoftor; da entließ er sie dann mit einem kräftigen Händedruck. "Guot gaon!" sagte er und nichts weiter.

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Der baltische Graf schritt still und besinnlich dahin. Der Freiherr störte ihn nicht in seiner Nachdenklichkeit. An der nächsten Wegebiegung blieb der hochadlige Herr stehen, wandte sich und sah noch einmal über den Hof hin. Das Wunder dieses westfälischen Bauern begann langsam in ihm aufzublühen. Er sah dann seinen Begleiter an, verschluckte einen vielleicht ärgerlichen Vordersatz seiner Meinung und sagte nur: "... aber ein ganzer Kerl ist's doch!" "Nicht wahr?" freute sich der Oberpräsident; "ein Bauer ist's und könnte ein König sein!"

In diesem Text soll der Graf - und mit ihm der Leser - seine Vorstellung von Bauer korrigieren, er erhält eine "Lehrstunde". Der Fehler des ironisierten "gar vornehmen Herrn" besteht darin, dass er Bauern für kleine Landwirte hält (ähnlich wie das Lexikon von 1924, s. 1.1.) und sie geringschätzt, wohl aus der Perspektive eines östlich der Elbe residierenden Großgrundbesitzers. Zur Belehrung führt ihn sein Gastgeber, (Ludwig) Freiherr von Vincke (1774—1844, d. h. Zeitgenosse des Freiherm von Stein und der "Bauernbefreiung"), der seit 1815 Oberpräsident von Westfalen war, zu einem namenlosen westfälischen Bauern. Von Arbeit ist um diesen Bauern herum nichts zu sehen, so wenig wie von Maschinen oder Geräten, trotzdem ist er offenbar wohlhabend. Wichtiger ist für diesen Text, denn das gehört zu der Lektion, die hier erteilt wird, das Haus eine "Bauernburg" zu nennen, wodurch der Unterschied zwischen Bauer und Adel hier als nicht existent behauptet wird, ähnlich wie in der Figur des adligen Oberpräsidenten, der zugleich der "erste Bauer im Lande" genannt wird. Dessen Eichenstock ist nicht zufällig aus demselben Holz wie die Bäume, die den Hof des Bauern umgeben. Beide, Bauer und Freiherr, vertreten ein Gesellschaftsmodell, das vor das Hochmittelalter zurückgreift und in dem Bürger und Arbeiter so wenig einen Platz haben wie Stadt oder Industrie im Text. Rechnen gilt hier als Tätigkeit des Balten, also der anderen, und Schreiben geschieht "wie mit dem Beil"; die moderne Welt liegt weitab. Nicht nur die Grenze zum Adel, sondern auch die zum geistlichen Bereich ist für diesen Bauern nicht vorhanden, dessen Diele an eine "Kirchenhalle" denken lässt, dessen Herkunft in liturgienahen Formeln ("Mein Geschlecht kam aus der Ewigkeit und geht in die Ewigkeit") ausgesprochen und dessen Auftritt als "Wunder" ausgegeben wird. Als Hinweis auf die besonderen Kräfte dieses Bauern erscheint in seiner Umgebung, und zwar nur in seiner, Unbelebtes als belebt, die Diele "reckte sich", die Bauernburg "erhob sich". Solche Zeichen sind um den Oberpräsidenten herum nicht vorhanden, trotz Eichenstock, blauem Kittel und einer Wortkargheit, die ihn dem Bauern ähnlich macht, dem Bauern, der ja auch nicht durch seine Beredtheit, sondern missverstehend und gesprächsabbrechend, vor allem gestisch Größe und Würde demonstriert. Die Lexikon-Angabe, ein Bauer sei "organisch mit Bodenbesitz verknüpft" (aus dem Jahr 1936, s. 1.5.), wird in diesem Text recht deutlich ausgeführt, weniger dagegen seine Funktion als "Haupt einer Familieneinheit". Zwar gibt es die Bäuerin, die grußlos, wortlos im gegebenen Moment zur Stelle ist und fürs leibliche Wohl der Männer sorgt, ohne selbst wahrgenommen zu werden. Aber Söhne oder Töchter des Dreiundsiebzigjährigen treten nicht auf; irgendwo müssten sie aber vorhanden sein, wenn das Geschlecht in "Ewigkeit" weiterbe-

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stehen soll. Die Geschichte zeigt also nur einen Teil der Bauer-Merkmale aus dem Lexikon von 1936. Trotzdem ist deutlich geworden, dass dieser westfälische Bauer nicht wirtschaftlich, sondern "weltanschaulich" konzipiert ist. Insofern entspricht er völlig den Schriften des damaligen "Reichsbauernfuhrers" W. Darre, in denen es immer wieder hieß, die Wichtigkeit der Bauern für Deutschland sei mit nur wirtschaftlichen Argumenten nicht zu begründen.

4. Literaturverzeichnis Bartetzko Dieter / Glossmann, Stefan / Voigtländer-Tetzner, Gabriele (1975): Die Darstellung des Bauern. In: Kunst im 3. Reich. Dokumente der Unterwerfung. Frankfurter Kunstverein. [Frankfurt a. M.], 144-161. Brunner, Otto/Conze, Werner / Kosellek Reinhart (Hg.) (1972ff.): Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart. Deutsches Lesebuchför Volksschulen (31941). Bielefeld/Leipzig, Bd. 4. Herbst, Ludolf (1996): Das nationalsozialistische Deutschland 1933-]945. Frankfurt a. M. Lorenz, Klemens / Mooslehner, Otto (1934): Das deutsche Bauerntum als Rückgrat des deutschen Volkstums in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. I. Teil: Bilder aus der Geschichte des deutschen Bauern. Breslau. Schoenbaum David (1980): Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches. München.

Heinrich Löffler

Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels

l. Stadtsprachenforschung. Ein Rückblick Stadtsprachenforschung ist eine eher jüngere Disziplin der empirischen Sprachwissenschaft. Sie gehört mit ihren Fragestellungen und Methoden in den Umkreis der Soziolinguistik.1 Dabei hatte die Stadt als Vorkommensbereich bestimmter Sprachformen auch früher schon im Blickpunkt der Sprachforscher gestanden. So hat die Dialektologie unter ihren traditionellen "Grammatiken" der Ortsmundarten so manche Beschreibung auch von "Stadtmundarten" zu verzeichnen, wobei die Stadt allerdings als ein großes Dorf galt, in dem die ältesten bodenständigen Sprecher als repräsentativ für die gesamte Ortsmundart angesehen wurden. Was die anderen Leute in diesem städtischen Ort sprachen, nannte man städtische Halbmundart, wenn es eher nach Mundart klang, oder städtische Umgangssprache, wenn es eher eine Variante der Standardsprache war. Halbmundart ebenso wie städtische Standardsprache wurden als Mischformen, Abarten und Fehl-Exemplare gehandelt. Man machte schon gar nicht den Versuch, sich näher mit ihnen zu befassen, es lohnte sich nicht. Dass es mit herkömmlichen Mitteln und Modellen geradezu unmöglich gewesen wäre, "Stadtsprache" in ihrer Vielfalt in den linguistischen Griff zu bekommen, wurde einem erst gar nicht richtig bewusst, weil man die Nutzlosigkeit eines derartigen Unterfangens noch vor der schieren Unmöglichkeit wahrgenommen hatte. So blieb es bei den Ortsgrammatiken oder bei größeren Städten (mit ausgesprochener Mundart) auch bei lokalen Wörterbüchern - jeweils in einem antiquarischsprachpflegerischen Sinn. Wenn die aufkommende Soziolinguistik der 60-er und 70-er Jahre als Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedenster Disziplinen und Strömungen anzusehen ist, so gilt dies in gleichem Maße oder noch viel mehr für die Stadtsprachenforschung.2 Wie das Phänomen Stadt als soziales, wirtschaftliches oder architektonisches Gebilde - von den Planstädten einmal abgesehen - ein gewachsenes Geflecht aus verschiedenartigsten Einflüssen und Entwicklungen darstellte, so mussten auch die Wissenschaften, welche sich der Urbanität verschreiben wollten, diesen Schmelztiegeleffekt für die bereitzustellenden Methoden und 1 2

Barbour/Stevenson (1998, 108-144), Löffler (1994, 150-153); spezielle Forschungsüberblicke bei Bürkli (1999,1-24) und Leuenberger (1999, 5-18). Barbour/Stevenson (1998,108-144), Löffler (1994,150-153).

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Analyseschritte berücksichtigen. Dies gilt in gleichem Maße für die Stadt als Vorkommensbereich und Schmelztiegel verschiedenster sprachlicher Strömungen - von der Basissprache einer alteingesessenen Bevölkerung bis zu den Assimilationsprozessen einer zugezogenen ausländischen fremdkulturellen Bevölkerungsgruppe. Dass diese Verhältnisse dann in jedem Land und in jeder Stadt jeweils noch einmal verschieden sein konnten, machte trotz einiger Vorbilder (z. B. Labov 1966 u. a.) das Bestreben, Stadtsprachen exemplarisch zu erforschen, nicht gerade leichter. Die Stadt-Soziolinguistik konnte sich jedoch neuer Möglichkeiten der empirischen Sprachforschung bedienen, die von unterschiedlichen Disziplinen und Erkenntnisinteressen an ganz verschiedenen Orten und in verschiedenen Kulturkreisen entwickelt worden waren. Die soziolinguistische Defizit-Theorie hatte den Blick auf die amerikanischen Städte mit hohem Anteil schwarzer Bevölkerung gerichtet, deren wenig ausgebildete Sprache als Ursache für mangelnden Schul- und Berufserfolg verdächtigt wurde. In europäischen Städten machten sich seit den 50-er Jahren zunehmend die "Gastarbeiter" auch sprachlich bemerkbar, spätestens als deren Kinder die Regelschulen des Gastlandes besuchen sollten. Mit dem Reizwort "Bildungskatastrophe" der späten 60-er Jahre kam die Defizit-Theorie auch nach Deutschland: Es gab zu wenig höhere Schulabgänger, und auch hier wurden als mögliche Ursache Sprachdefizite, so genannte sozial bedingte Sprachbarrieren eruiert. In deren Gefolge tauchte das Schlagwort von den Dialekten als Sprachbarrieren auf. All dies bewirkte schließlich einen Aufbruch hin zur genaueren Untersuchung dessen, was sprachlich der Fall ist - also zur empirischen Sprachforschung. Hier nun wurden die Städte nicht nur nicht mehr ausgelassen, sie waren vielmehr der Vorkommensort dieser neuen Phänomene. Empirische Sprachforschung fand also neuerdings vorwiegend in Städten statt, auch wenn nicht alles unter dem Titel Stadtsprachenforschung verbucht wurde. Aber nicht nur soziolinguistische Sonderfalle wie die restringierten Codes von Unterprivilegierten waren ins Blickfeld geraten, auch der Normalfall Stadt, ja der Normalfall "Ort"3 war jetzt von Interesse. Wie sprechen die Leute denn überhaupt, Männer, Frauen, Kinder, Erwachsene: wer, wann, wo, mit wem, worüber, in welcher Sprache - um eine berühmte Formel der Medienanalyse (die im Übrigen schon aus der Antike stammt) auf die Orts- und Stadt-Kommunikation anzuwenden.4 Standen zuvor die Sprachen und ihre Varianten, Substandards, Dialekte und Varietäten im Vordergrund des Interesses, so kamen zunehmend auch die Sprecher und Sprecherinnen, der sprechende Mensch in seiner Umgebung und

3 4

Vgl. "Erp-Projekt" als Ortssprachenforschung (Besch 1981,1983,1985) Als "Lasswell'sche Formel" bekannt, jedoch seit der Antike geläufig: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cui, quomodo, quändo.

Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels

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seiner Befindlichkeit in den Blickpunkt. Soziolinguistik wurde zu einer kommunikationswissenschaftlichen Angelegenheit (Löffler 1991). So spiegeln auch die Titel der Stadtsprachenprojekte von "Städtischer Alltagssprache" (Dingeldein 1991), "Kommunikation in der Stadt" (Kallmeyer 1994/95) über "Verbale Kommunikation in der Stadt" (Werlen 1995), "Ortssprachenforschung" (Besch 1985) bis "Stadtsprache Berlin" (Schlobinski 1987) u. a. die Vielfalt der Themen und Sehweisen wider.5

2. Das Basler Stadtsprachenprojekt6 In den Jahren 1993 bis 1996 wurde das Projekt "Stadtsprachen - Sprachen in der Stadt - am Beispiels Basels" vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert am Deutschen Seminar der Universität Basel durchgeführt. Es sah sich in Konzept und Vorgehen in der eben genannten Tradition. Direkte thematische und methodische Vorbilder oder Anstoßgeber waren neben dem früheren "ErpProjekt" (Besch 1981, 1983; Besch/Mattheier 1985) und seinen Folgearbeiten (z.B. Lausberg 1991, Macha 1993), das Mannheimer Projekt (Kallmeyer 1994/95) und die Berliner Projekte (Schlobinski 1987; Dittmar et al. 1988), dann in der Schweizer Forschungslandschaft die frühen Arbeiten von Gottfried Kolde aus den Städten Biel und Fribourg (Kolde 1981), Iwar Werlens Arbeiten zu einem Bemer Stadtquaitier (Werlen et al. 1992; Werlen 1995) und Heien Christens Untersuchungen zur Schweizerischen Umgangssprache (Christen 1992; 1995). Für die schwierigen Probleme, Beziehungsgeflechte (Netzwerke) zu erheben und darzustellen (Milroy 1980) oder das umgangssprachliche Variationsspektrum abzubilden (u. a. Auer 1990), gab es eine Reihe von neueren Vorschlägen. Der Reiz des Basler Projekts bestand darin, dass Basel im Vergleich zu anderen Städten gewisse eigene Merkmale aufweist (Burckhardt et al. 1984; Löffler 1998, 76-79): Basel ist ein wenn auch kleiner Stadtstaat und hat somit gemeinsame Züge mit Berlin und Hamburg, so seltsam dies beim wahren Größenvergleich klingen mag. Basel liegt als Zentrumsort in einem Dreiländereck, ist also zu zwei Dritteln von Staatsgrenzen umgeben. Obwohl die Nachbarländer und natürlich auch die Schweizer Nachbarschaft dialektgeographisch zum selben Großraum gehören, bildet Basel geradezu eine Sprachinsel. Mit den Dialektmerkmalen gehört es ins nördlichere Niederalemannische und mit seinem Stadtdialekt bildet es geradezu ein sprachliches Bollwerk, dessen "Mauern" trotz gemeinsamer alemannischer Grundlage als pragmatische SprachVgl. auch die schon länger zurückliegende "Schwarzwaldaktion", bei der alle Einwohner dreier Dörfer im Nordschwarzwald im Grenzdreieck von Schwäbisch-AlemannischFränkisch aufgenommen wurden (Ruoff 1973, 111-121). Für Projektbeschreibungen vgl. Bürkli/Leuenberger (1998), Hofer/Leuenberger (1998), Leuenberger (1997), Löffler (1995; 1998).

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grenzen auch und gerade von Laien wahrgenommen werden. Nicht unerwähnt bleiben darf - besonders gegenüber nichtSchweizer Publikum - dass die Normal-Sprache in der Stadt ein "Dialekt" ist, der jedenfalls den phonetischen Status eines Dialektes hat, von der lexikalischen und pragmatischen Ausstattung und Funktion her jedoch alle Merkmale einer Hochsprache zeigt. Dieser gegenüber nimmt das Standard-Deutsche den Status einer Subvarietät an, die nur noch wenigen formalisierten Anlässen oder dem restringierten Umgang mit Fremden vorbehalten ist. Für den Zusammenhang des Projekts ist ferner von Bedeutung, dass der Basler Dialekt in seiner Grundgestalt (als Basis-Dialekt) und Geschichte seit über hundert Jahren immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher und populärer Darstellungen gewesen ist. Das "Baseldeutsche" ist also im traditionell-dialektologischen Sinn gut erforscht.7

2.1. Das Basler Konzept: Die Sprachmärkte Eine Gesamtbeschreibung der Sprache oder Sprachen in der Stadt - auch der Kommunikation in der Stadt - ist kaum möglich. Das Projekt musste sich daher auf einige für Basel vermutlich typische Aspekte beschränken. Diese orientierten sich an unseren Vermutungen (Hypothesen) - und an der Machbarkeit. Wir nannten die "Orte" in der Stadt, an denen wir urbanes Sprechen vermuteten, "Sprachmärkte", da uns diese Metapher nicht nur wegen ihrer Bildund Vorstellungskraft, sondern auch aus sachlichen Gründen besonders geeignet schien: Das Marktrecht war im Mittelalter schon ein Merkmal der Stadt ("MartiniMarkt", "Herbstmarkt"). Heute sind an diese Stelle Verkaufs- und Vergnügungsmessen getreten - mit gleichbleibender Funktion. Märkte sind Plattformen für Begegnungen, dienen als Börse, Drehscheibe oder Treffpunkt für den Austausch von Waren und Informationen. Märkte sind auch Plätze oder große Verkehrsflächen, die wiederum als Begegnungsraum oder Treffpunkt vieler Personen dienen, ob einheimischer oder fremder. "Sprach-Markt" soll hier nicht als Metapher für ökonomische Marktwirtschaft im Sinne von Angebot-Nachfrage oder als Tausch von Waren gegen Geld verstanden sein (wie z. B. bei Bourdieu 1990, 1984; vgl. Löffler 1998,79f). Sprache auf dem Sprach-Markt ist Vehikel und Medium der Begegnung, der Kommunikation und Interaktion.8 Binz (1888), Bruckner (1932), Hinderung (1997), Hoffmann (1890), Müller (1953), Pilch (1977), Seiler (1879), Socin (1896), Suter (1976). Der Basler Marktplatz selber ist kein Sprachmarkt: Auf den tatsächlichen Marktplätzen finden sich kaum Einheimische. Elsässer Obsthändler verkaufen den Touristen ihre Äpfel, die sie aus der Basler Markthalle beziehen. Die Citys sind auch in anderen Städten von Fremden, Marktfahrem, Touristen, Einkäufern aus der Umgebung, Pendlern usw. bevölkert und nur selten von Einheimischen.

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Als konkrete Sprachmärkte wurden gewählt: Warenhäuser, Großbetriebe, Schulzentren und stadttypische Vereinigungen (Zünfte, Fasnachts-Cliquen). Auch andere Vorkommensorte städtischen Sprechens wie Stadtteile oder Vororte (wie beim Mannheimer oder Berner Projekt) oder Einteilungen und Bereiche wie z. B. Großbasel versus Kleinbasel (wie in Berlin-Ost und BerlinWest) oder "Öffentlichkeit" (Straße, Schulen, Sportvereine) und "Medien" (Stadtradio "Basilisk"; Stadtfemsehen "Telebasel") hätten denkbare Untersuchungsbereiche abgegeben. Unsere Sprachmärkte sollten auf alle Fälle urban sein, d. h. nicht auch auf einem Dorf vorkommen. Urbanes Sprechen sollte an den urbanen Sprachmärkten angetroffen werden. Ob diese Märkte auch als Steuerungsfaktoren des variierenden Sprachverhaltens zu orten wären, musste zunächst offen bleiben. In diese Sprachmärkte wurde die "Zielgruppe" gesetzt: Es waren 71 "Basler" und "Baslerinnen", das heißt Leute, welche entweder in Basel aufgewachsen und dort sprachlich sozialisiert sind, oder solche, die in Basel arbeiten, aber aus der Agglomeration oder der übrigen Schweiz stammen. Nicht in das Sample eingeschlossen waren Fremde, Ausländer, Tagespassanten, Touristen, im Grunde also ein Großteil von Menschen, welche das Urbane ausmachen. Der Fokus lag also nur auf den "Autochthonen", also einer Auswahl aus der Basler Bevölkerung, die schätzungsweise nicht ganz die Hälfte der tatsächlichen Einwohner ausmacht. Die Stoßrichtung ging zunächst einmal auf das "Baseldeutsche", die Basler Stadtsprache, dann auf das "Urbane", auf das Cityhafte - am Beispiel Basels, dem Stadtstaat im Dreiländereck, wo trotz einheitlicher dialektgeographischer Lage drei oder vier grundverschiedene sprachpragmatische Welten aneinanderstoßen: als Basel-Stadt, Basel-Landschaft und das badische und elsässische Wohngebiet der meisten Arbeitskräfte. Die Basis der Sozialpyramide liegt also jenseits der Landesgrenzen, und Pendler sind hier etwas anderes als in anderen Städten. Ein besonderes Merkmal unterscheidet Basel-Stadt als "Schweizer" Stadt von den übrigen deutschen und anderen Städten (Berlin, Mannheim, Belfast, New York, Detroit u. a.): Die "Vemacular"-Sprache, also der Stadtdialekt, ist nicht vertikal definiert als Sprache der alteingesessenen "einfachen" Leute, sondern als Merkmal "aller", insbesondere auch der angestammten Oberschicht. Das Projekt sah sich, wie schon gesagt, einerseits im Gefolge der jüngeren internationalen Stadtsprachenforschung, wollte jedoch andererseits den Anschluss an die traditionelle Erforschung der städtischen Dialekte und an die Areallinguistik, bei denen die Städte bisher nur blinde Flecken darstellten, nicht ganz vernachlässigen. Basel hat als Stadtstaat und mit seiner dialektgeographischen Sonderstellung die traditionelle Dialektbeschreibung immer schon herausgefordert. So verwundert es nicht, dass die Liste von Arbeiten zum Basler Dialekt schon recht lang ist und sowohl ein großes Wörterbuch des Baseldeutschen als auch eine vollständige Grammatik umfasst - nicht zu vergessen zwei Lehrbücher, nach denen man im Selbststudium oder in Kursen das Baseldeut-

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sehe erlernen kann.9 Letzteres wird auch tatsächlich bis auf den heutigen Tag mehrfach angeboten.

2.2. Unsere (Hypo-)Thesen: -

Es gibt mehrere Varianten des aktuellen Baseldeutschen (Quartiersprachen?). Das alte Baseldeutsche ist als Sprache der Alteingesessenen noch in Gebrauch und auch im Bewusstsein der übrigen Einwohner vorhanden. Die Basler variieren okkasionell. Auslöser für dieses Spektralverhalten sind die "urbanen" Kontakte, welche an den Sprachmärkten besonders intensiv sind. Das Baseldeutsche endet an den Stadtgrenzen. In Basel ist (fast) alles anders als in anderen Städten.

2.3. Methode/ Vorgehensweise™ 2.3.1. Das "Sample" 71 gezielt ausgewählte Personen aus den Sprachmärkten standen über die ganzen drei Jahre zur Verfügung: aus einem Warenhaus (EPA): 17 Personen aus einem Großbetrieb (Ciba, jetzt Novartis): 16 Personen Schulen (Sekundarstufe I): 27 Personen (Lehrer und Schüler dreier Schulen) Fasnacht: 15 Personen (davon waren neun identisch mit den obigen) Eine Kontrollgruppe von fünf Personen, die man als "Altbasier" bezeichnen könnte. Die eine Hälfte der Probanden war jeweils in Basel sozialisiert, die andere Hälfte stammte von außerhalb. Frauen und Männer waren annähernd gleich vertreten. 2.3.2. Das Vorgehen Wir wollten kein bestimmtes urbanlinguistisches Modell am Basler Material überprüfen. Die Devise lautete: Konkrete Befunde suchen Deutungsmodelle, Die traditionelle Forschung wird insbesondere durch den Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) repräsentiert, sowie durch zahlreiche ortsgrammatische und historische Arbeiten zum Baseldeutschen. Vgl. auch hierzu wieder Löffler (1995; 1998) und die Methodenkapitel bei Hofer (1998, 1031 .), Bürkli (1999,133ff.), Leuenberger (1999,68ff.).

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nicht umgekehrt. Die einzelnen Arbeitsschritte orientierten sich also weniger an einem bestimmten Vorgänger-Design, sondern stellten eher ein Konglomerat aus verschiedenen Ansätzen dar wie: Perspektive der "Stadt-Dialektologie" (weniger "Urban-Linguistik"), Basis-Dialekt-Erhebung als traditionell dialektologisches Verfahren mit einer onomasiologischen Wortbefragung als Grundlage und Vergleichsgröße für Variationsphänomene, gleichzeitig als Kontrollaufhahme zum Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) nach 50 Jahren, Erfassung des Sprachbewusstseins mittels eines freien Gesprächs und eines Rollenspiels, Spracheinstellungsmessungen zu sechs Varietäten oder Substandandards des Baseldeutschen (im Matched Guise-Verfahren), Sprachvariationsverhalten in Abhängigkeit von situationellen und anderen Faktoren, Auswerten von Sprachdiarien, die von den Sprechern selbst angefertigt wurden, Auswerten sprachlicher Tagesläufe auf Grund von Ganztags-Aufnahmen, Loyalitäts-Erhebungen zur Ermittlung möglicher Steuerungsfaktoren der Sprachverhaltensvariation. Hier mussten zunächst eigene Verfahren der Loyalitätsmessung erarbeitet werden. Eine Deutung der Befunde sollte am Ende zu einigen exemplarischen, über die Stadt hinausweisenden Ergebnissen führen.

2.3.3. Durchführung Die Durchführung des Projekts erfolgte in drei empirischen Phasen: Phase I mit folgenden Teilen: 1) Fragebuchbefragung nach SDS-Manier (mit Hilfe eines speziell angefertigten Questionnaires) 2) Soziobiographisches Interview 3) Leseprobe 4) Rollenspiel Phase II 1) Freies Gespräch anhand eines Leitfadens über die Kenntnis und Einstellung zur eigenen Spracheinvielfalt) und die der anderen 2) Matched Guise-/Einschätzungstests über sechs Sprachproben desselben Textes. Eine fiktive Rede anlässlich der Übergabe eines Neubaus durch die Architektin wurde sechsmal auf verschiedene Weise von einer einzigen Person gesprochen. Die veränderlichen Variablen waren eingebaute Marker für l. Altes Baseldytsch (i-Aussprache: Kopf, Entrundungen: scheen, grien, tiefer /'-Diphthong: daig, Hinterzäpfchen-r: dr Lehrer)

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Heinrich Löffler 2. 3. 4. 5. 6.

Baseldytsch l (fc-Aussprache, ohne Entrundung, Hinterzäpfchen-r, hohe öi-Aussprache) Baseldytsch 2, (wie BS l aber mit cA-Aussprache) Baseldytsch 3, (wie BS 2, aber mit apikalem Zungen-./?: Misch-Variante) Baselland (ch-, Rundungen, äi, Zungen-Ä , andere Verbalformen u. a.) Elsässisch: (k-, Entrundungen, uvulares r, andere Vokalfärbungen)

Phase III: 1) Schriftliche Sprachdiarien 2) Sprachliche Tagesläufe (18 Ganztags-Aufhahmen mit Funkmikrofon aus Warenhaus, Großbetrieb und Schule) Vor den Aufnahmen wurden aus dem Bereich Großbetrieb von 12 Probanden Sprachdiarien angefertigt, auf Grund derer dann von sechs Personen Ganztagsaufhahmen an ihrem Arbeitsplatz gemacht wurden. Dasselbe geschah im Warenhaus und in der Schule. Systematisch ausgewertet sind die Aufnahmen vom Großbetrieb (Bürkli 1999). Schule und Warenhaus werden in der Schlusspublikation verglichen (Häcki Buhofer/Löffler 2000). Die Ganztages-Aufhahmen mit Transkriptionen stellen eine einmalige Datengrundlage dar. Für alle drei Phasen standen über drei Jahre hin dieselben 71 Probanden zur Verfügung.

3. Ergebnisse11 3. L Konsistenz / Varianz der Basler Stadisprache (aus Phase I) -

Das alte Baseldytsch existiert noch bei einer kleinen Gruppe von Alteingesessenen oder solchen, die sich dafür halten. Ihre Sprache ist in der Baseldeutschen Grammatik und im Wörterbuch beschrieben (Suter 1992). Dieses alte Baseldytsch wird auch von solchen wahrgenommen, die es nicht mehr sprechen. Es existiert also in den Köpfen der übrigen Basler und kann im Rollenspiel annähernd imitiert werden. Vor allem die Sprache der Fasnacht benutzt die Merkmale des Baseldytsch. Fasnächtier (unter den Baslern!) sprechen auch außerhalb der Fasnacht noch am ehesten das traditionelle Baseldytsch. Es ist mir eine ganz besondere Freude, dass der erste zusammenfassende Forschungsbericht als Festschrift-Beitrag für Gottfried Kolde erscheinen kann. G. Kolde hat das Projekt durch seine Vorarbeiten nicht nur mit angeregt, er hat sich auch bei der konkreten Vorbereitung an maßgeblicher Stelle dafür eingesetzt und bei weiteren Gelegenheiten an Zwischenpräsentationen und Diskussionen im Rahmen des Postgraduierten-Programmes "3eme cycle" teilgenommen. Da die drei Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen einen Teilbereich des Projekts zum Thema einer Dissertation machen konnten, sind die Ergebnisse in Form dieser Dissertationen publiziert (Hofer 1998, Bürkli 1999, Leuenberger 1999).

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Die Durchschnittsbasler sprechen ein Durchschnittsbaseldeutsch. Dessen Merkmale sind: Wechsel zwischen k- und chuvulares -r (obligatorisch) Entrundung: Wechsel zwischen üe und ie (grüen und grien), sonst nur Rundungen (schöön,fömf, nüüri) Wechsel zwischen Einheitsplural: mir göön, ihr göön, sie göön und Zweierplural: mir göön, ihr göönd, sie göön. Variation einzelner Laute erfolgt bei ein und demselben Sprecher bzw. Sprecherin und zwar wortweise. Die Jungen (Schüler) haben am wenigsten basel-typische Varianten. Im übrigen sind bei Erwachsenen keine altersbedingten Unterschiede festzustellen. Der Stadtbasier Dialekt ist damit in einem leichten Wandel begriffen mit der Tendenz zur Regionalisierung in Bezug auf Flexion, Rundung und ch- und Idiolektalisierung beim r und anderen standardnahen Merkmalen, insbesondere der Lexik. Trotz dieser Tendenz zur Regionalisierung, d. h. der Angleichung an die umliegenden Regionen, wird sich das Baseldeutsche weiterhin gegen alle drei Umgebungen (Schweizer Hinterland, badische und elsässische Nachbarschaft) als Stadtdialekt abheben. Details: Die Variation zwischen k- und ch- (k-Verschiebung) ist nach Wörtern sehr verschieden. Individuelle Bandbreiten sind ebenfalls sehr verschieden. Die geringste Variationsbreite zeigen die fünf Altbasier und die Fasnächtler. Das Sprachbewusstsein ist sehr differenziert und reagiert auf die genannten Marker. Es besteht ein merklicher Unterschied bei denselben Sprechern zwischen den Labor-Daten und den In-Vivo-Daten. Kein Unterschied ist zu erkennen - zwischen den Sprachmärkten, - zwischen Geschlechtem, zwischen den Altersgruppen der Erwachsenen.

3.2. Einschätzung von vier in Basel hörbaren Varietäten (aus Phase H) Als Ergebnis des Matched Guise-Tests über sechs verschiedene baseldeutschnahe Varianten ergab sich folgende Rangfolge: 1. Mittleres Basel deutsch: k- oder ch-, gerundete Vokale, Hinterzäpfchen-r, 2. Mischformen des Baseldeutschen,

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3. Basellandschaftlicher Dialekt, 4. Altes Baseldytsch und Elsässisch. Dabei besteht eine ziemliche Homogenität unter den Probanden bezüglich der Rangfolge: Das alte Baseldeutsche wird nicht besonders hochgehalten, das Elsässische ebenfalls nicht. Geschätzt werden hingegen das mittlere Baseldeutsche und die in Basel gebrauchte und zu hörende Varietät des Basler Umlands. Am besten schneiden also die beiden mittleren Varianten ab. Ein Stadt-LandGefälle ist auf Schweizer Seite nicht feststellbar. Die Einstellungen .haben jedoch wenig Einfluss auf das eigene Sprachgebrauchsverhalten . Hauptfaktor der persönlichen Variation: die individuelle Veranlagung und die Situation/Konstellation.

3.3. "In-Vivo-Daten" der sprachlichen Tagesläufe (Variations-Verhalten aus Phase III)12 -

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Es gibt bei allen eine überraschend große Bandbreite phonetisch-lexikalischer Variation. Die Variationsbreite ist von der individuellen Sprachfähigkeit, Veranlagung und Sprachmobilität abhängig, weniger vom Typ des Arbeitsplatzes oder anderen Sprachmarkt-Bedingungen. Neben der individuellen Disposition bestehen die Hauptsteuerungsfaktoren aus der konkreten Situation, dem momentanen Aufenthaltsort, dem Partner, dem Thema - also dem aktuellen Kontext, nicht dem Makro-Kontext im Sinne der Funktionstheorie. Die Basler halten auffallend hartnäckig an ihrer Varietät fest, obwohl zwei Drittel des sprachlichen Feedbacks nicht baseldeutsch ist. Eine andere Untersuchung hat ergeben, dass sie selbst Fremdsprachigen gegenüber an ihrem Basler Idiom festhalten (Wise 1995). Akkomodation findet im Lautlichen und Intonatorischen statt, nicht aber als Code-Switching von Dialekt zu Standard. Allenfalls wird Switching von Dialekt zu Englisch angewendet. Man kann das Variationsspektrum als dialektales Kontinuum bezeichnen. Es besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen subjektiver Variabilitäts-Einschätzung und tatsächlich registriertem Variationsverhalten.13 Vgl. Bürkli (1999, 371ff.). Im Fokus standen sechs Personen des Gesamt-Samples aus dem Sprachmarkt "Großbetrieb", welche Baseldeutsch sprachen. - (Einen anderen Fokus hat die Lizentiatsarbeit von Jean-Marc Wise (1995), der ebenfalls mit Leuten aus der Ciba gearbeitet hat: Die anglophonen Führungspersonen in der Chemie benutzen im Kontakt mit deutschschweizer Mitarbeitern eine Art Echo-Englisch (back-checking). Auch dort wurden große individuelle Unterschiede der "Anpassung" auf Sprachniveau festgestellt, insbesondere auch in der Verwendung nonverbaler Unterstützung). Eine Sprecherin aus dem Großbetrieb gab bei der Einschätzung des eigenen täglichen Sprachrepertoires an, dass 95% davon in Englisch sei. Die Aufnahme hat ergeben, dass

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Bemerkenswert ist dabei der überraschende Befund, dass die Schule für Sprachvariationsphänomene nicht gerade ergiebig ist. Die Schüler sprechen während eines Tages herzlich wenig. Die Verkäuferinnen hingegen kommunizieren auf zwei Ebenen: gegenüber der Kundschaft in der Funktion Warenhaus, also Sprachmarkt, gegenüber der Rayon-Kollegin in der Funktion Arbeits-Kollege. Einer ähnlichen Doppelstrategie bediente sich bei dem Großbetrieb ein Portier, der sich als wahrer Sprachvirtuose erwies (Bürkli 1999, 173-181).

3.4. Ortsloyalität als möglicher Steuerungsfaktor bei Sprachvariation Bei den Datenerhebungen und deren Korrelationen haben sich weder die Variablen Alter, Geschlecht oder Beruf noch die Variable Sprachmarkt als signifikante variationssteuernde Faktoren erwiesen. Vielmehr sind es die Individuen und deren persönliche Kompetenz und Disponibilität, welche das Variationsverhalten maßgeblich bestimmen. Ein mächtiger Faktor ist dabei die Ortsloyalität. Obwohl viele davon reden, war es bisher nicht gelungen, Ortsloyalität operationalisierbar zu machen oder gar zu messen. Petra Leuenberger hat in ihrer Dissertation ein Verfahren entwickelt, nach welchem die sensitiven Faktoren für Ortsloyalität erhoben werden können. Diese wurden dann mit sprachlichen Verhaltensmerkmalen korreliert mit folgenden Ergebnissen (Leuenberger 1999, 193ff): - Ortsloyalität ist messbar. Ortsloyalität lässt sich mit sprachlichen Variablen korrelieren. Ortsloyalität als "affektive Ortsbezogenheit" wird nicht automatisch durch "Wohnort" oder "Wohnsitz" an dem entsprechenden Ort erzeugt, sondern vielmehr durch Indikatoren wie: Wohn"dauer", bisherige Wohnorte, Wohnsitz der Herkunftsfamilie, politische Partizipation oder Mitgliedschaft in einer Clique. So haben manche Agglomerationsbewohner eine zweifache Loyalität, weil sie lange in Basel gewohnt haben und dann in die Umgebung gezogen sind oder umgekehrt. Bei Pendlern konstituiert der Arbeitsplatz in der Stadt allein noch keine Ortsloyalität. Es ist auch kein Geheimnis, dass die meisten maskierten Personen, welche an der Fasnacht die Basler Straßen bevölkern, aus der Agglomeration stammen - und überdies Frauen sind. Auf das Basler Untersuchungs-Sample bezogen heißt das: Diejenigen "Basler" und "Altbasier", welche die stärksten Merkmale der Ortsloyalität aufweisen, sind sprachlich am wenigsten variationsfreudig und haben deshalb das schmälste sprachliche "Kontinuum". Pendler aus der Agglomeration mit gespaltener Loyalität sind beweglicher.

das Englische einen Anteil von gerade 15 % hatte (Bürkli 1999, 163-166). Tagesläufe aus den beiden anderen Sprachmärkten (Warenhaus und Schule) werden in der Schlusspublikation (Häcki Buhofer/Löffler 2000) ausgewertet.

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Auch hier erweist sich bei allen Variationsphänomenen immer wieder das Individuum als Hauptsteuerungsfaktor. Diese sprecherzentrierten Ergebnisse rühren vielleicht daher, dass man bisher fast immer von der Sprache und den Sprachdaten ausgegangen war, indem man die Sprecher als deren Lieferanten zwar in Kauf nahm, sie aber bald aus dem Auge verlor und immer nur nach der Sprache und ihren Veränderungen Ausschau hielt. Ich habe an anderer Stelle einmal gefordert, dass die künftige pragmatische Dialektologie eine Sprecherdialektologie statt einer Dialekt-Dialektologie sein müsste (Löffler 1986; 1991). Vielleicht sind dies schon die ersten Früchte einer entsprechenden Entwicklung. Wenn es also die Sprecherbiographien und -kompetenzen sind, welche die Haupttriebfedern sprachlicher Flexibilität und damit des Sprachwandels überhaupt abgeben, wird denn auch so manche Theorie der Varietätenlinguistik ihr Konzept modifizieren müssen.

3.5. Zusammenfassung der Ergebnisse 1.

2.

3. 4. 5.

6. 7.

8.

Merkmale des alten Stadtdialekts "Baseldytsch" sind noch vorhanden und werden von fast allen wahrgenommen, wenn auch oft nur spielerisch oder rituell gebraucht (Fasnacht). Der Normalfall ist ein "Kontinuum" innerhalb des Dialekts als individuelles Oszillieren zwischen einer gewissen Zahl meist phonetischer Merkmale. Dieses Normal-Baseldeutsche hat trotz der Insellage ein Beharrungsvermögen und übt auf Fremde Druck aus. Steuerungsfaktoren des Oszillierens sind die konkrete Situation (aktueller Kontext), die individuelle Kompetenz und die individuelle Ortsloyalität. Die soziolinguistischen Faktoren soziale Gruppe, Alter und Geschlecht spielen bei der Sprachvariation offensichtlich eine untergeordnete oder keine Rolle. Der "Sprachmarkt" als Funktionsraum für Stilvarianten ist nicht als Steuerungsfaktor auszumachen. Die Fasnacht als virtueller Sprachmarkt allerdings übt auf den Faktor Ortsloyalität eine sprachsteuernde (konservative) Wirkung aus. Die Bereitschaft zum Code-Switching hin zum Standard und zu anderen Varietäten ist bei echten Baslern und Fasnächtlern am geringsten. Aber selbst bei diesen genuinen Baslem ist eine gewisse Bandbreite der phonetischen Variation vorhanden. Das Sprachbewusstsein gegenüber lokalen Varianten ist sehr ausgeprägt: Die allgemeine Wertschätzung für das alte Baseldeutsche ist schlecht, wogegen die basellandschaftliche Varietät in einem unerwartet hohen Ansehen steht.

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9.

Ein Stadt-Land-Gefälle, wie es früher zwischen Basel-Stadt und BaselLand (Bruckner 1942) gesehen wurde, besteht nicht (mehr). Das Gefalle geht deutlich in Richtung Elsass und vermutlich (aber nicht untersucht) in Richtung der badischen Nachbarschaft. Dies spricht dafür, dass die Ausdehnung eines urbanen Areals doch eher mit den Endstationen des Nahverkehrssystems zusammenfällt als mit politischen Grenzen. 10. Zur Erklärung all dieser (und noch vieler anderer) Befunde müssen manche monokausalen Konzepte über die urbane Sprachvariabilität - ob vom Sprecher oder der Varietät aus betrachtet - einer Revision unterzogen werden. Während die Ergebnisse l bis 4 eher den Erwartungen (Hypothesen) entsprechen, mussten durch die Ergebnisse 5 bis 10 doch einige gängige Meinungen und Stereotypen zur Sprache in der Stadt Basel revidiert werden.

4. Offene Fragen Trotz der Breite der Versuchsanordnung kann eine Untersuchung der Sprachlichkeit einer Stadt immer nur ausschnittsweise erfolgen. Selbst bei diesem selektiven Vorgehen bleiben einige Erklärungs-Desiderate: Welche anderen Faktoren neben der individuellen Idiolektalität müssen in einem weiteren Erklärungszusammenhang herangezogen werden? Hierzu müssen neuere Leitbegriffe wie sprachliche Identität, soziale und lokale Loyalität, Akkomodation, Assimiliation, Akkulturation oder Integration in das Erklärungsfeld miteinbezogen werden. Auch mussten bei der Beobachtung weitere Sprachmärkte und Gruppierungen berücksichtigt werden, wie etwa einzelne Stadt-Quartiere, die sehr einflussreichen Zünfte und Vereine, nichtbasler Schweizer (Schweizervereine) und vor allem auch die ausländische Bevölkerung, welche über ein Viertel der Stadtbewohner ausmacht. Zu beachten wären auch die typischen alten und neuen Stadt-Medien (Zeitung, Lokalradio, Lokalfernsehen), die zu einem Teil die Sprachlichkeit reflektieren, bestimmte Tendenzen jedoch auch verstärken. Neben dem Basler Kontinuum würden sich noch andere Varietäten, Ausgleichsdialekte, verschiedene Linguae Francae oder Pidginisierungseffekte abzeichnen. Noch nicht beschrieben ist der Status, die Rolle und die Funktion des Standarddeutschen in Basel. Schließlich könnte man weiteren Fragen nachgehen: Ist Basel eine sprachliche City und wenn ja, ist diese nur eine Drehscheibe oder ein Schmelztiegel? Was ist urban an der Basler Sprachlichkeit und übertragbar auf andere Städte? Was ist Schweiz-typisch und damit übertragbar auf andere Schweizer Städte? Was ist basel-typisch, d. h. singular und nicht übertragbar? Oder als nicht uninteressante Randfrage: Wie ist die sogenannte "Basler Schnuure" urbanlinguistisch einzuordnen (Ersig 1996)? Die Liste der offenen Fragen und damit dessen, was noch zu tun wäre, ist länger als die der Ergebnisse.

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Im städtischen Repertoire Basels stellt das Individuum als Sprecher-Persönlichkeit das Steuerungszentrum für Variationsverhalten, Vielfalt, Anpassung und Ausgleich dar. Angesichts des mit Urbanität normalerweise assoziierten Chaos der Anonymität (Roller 1996) oder dem zwanghaften Gruppenverhalten und der Sphärenverschränkung jeder Art ist das sprechende Individuum im Zentrum der urbanen Gesichtslosigkeit und Anonymität doch ein Zwischenergebnis, das eine gewisse Beachtung verdient.

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Emilia Manzotti

"Senza esclamativi" Sopra un testo di Giorgio Caproni

1. Introduzione Si e voluto scegliere per questo esercizio di 'critica verbale'1 un breve testo sette versi, una trentina di parole - tratto dalla raccolta // muro della terra ehe apre Fultima stagione poetica di Giorgio Caproni: quella della radicale ontologia negativa. Le ragioni della scelta sono doppie: da una parte vi e la scommessa di provare gli strumenti del mestiere sopra un testo poco adatto, perche almeno in apparenza lessicalmente e sintatticamente limpido, ad un'analisi linguistica (a ehe scopo affannarsi a ricostruire minuziosamente sulla scorta della sintassi e del lessico i significati e i loro legami, se essi sono di per se owi?); ma dall'altra vi e, come e sembrato, un accordo, una felice consonanza tra il testo offerto alia lettura e il suo destinatario: tra lo stile 'non esclamativo' del testo, ehe il titolo stesso tematizza, e lo stile, di ricerca e di vita, del festeggiato. Si ricordera in primo luogo, iniziando come e bene con qualche generalita, ehe nel livornese-genovese Caproni (1912-1990), poeta, traduttore, prosatore e violinista piu ehe dilettante, la critica inclina a riconoscere una delle voci poetiche piü alte del dopo-Montale e forse di tutto il Novecento italiano (il canone dellOpera poetica e stato recentemente fissato da una esemplare edizione2). Unanime e del pari l'ammirazione della critica per Caproni traduttore in prosa (Proust, Celine, Genet, ecc.) e in verso (Verlaine, Apollinaire, Lorca, Machado, ecc.).3 E assodata e in continua crescita appare la notorietä europea dell'autore, come attestano le numerose raccolte disponibili totalmente o per campioni ad esempio in Francia; in ambito tedesco una traduzione di qualche anno fa in una collana di lirici del ventesimo secolo in edizioni bilingui4 allineava senz'altro Caproni a nomi prestigiosi del panorama poetico occidentale: Rafael Alberti, Vicente Aleixandre, Yves Bonnefoy, Philip Larkin, Wallace Stevens. 1

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E I'etichetta continiana per una versione (a cui in toto si aderisce) filologicamente, storicamente e retoricamente agguerrita, e caratterizzata da un forte Geschmack an Zeichen, della ricostruzione dei significati 'grammaticali' del testo poetico nel senso piü esteso del termine 'significato' (inclusivo in particolare delle architetture dei signiflcanti). Cfr. Contini( 1970 [1965], 410). Caproni (1998a). Le traduzioni poetiche sono ora raccolte in Caproni (1998b). Sulle soluzioni adottate e sui risultati si veda in particolare Mengaldo (1991,175-194). Caproni (1990). Una scelta di testi era apparsa due anni prima nella rivista "Akzente" accompagnata da un saggio della germanista italiana Lea Ritter Santini.

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2. Un primo sguardo al testo II testo poetico di cui ci occupiamo, datato dall'autore al 16 maggio 1970, compare sotto il singolare titolo grammaticale e privative di Senza esclamativi, ehe lo awicina ai cinque componimenti di altre raccolte tutti detti in modo analogamente privative Senza titolo. II corpo della lirica e poi preceduto da una sorprendente epigrafe in tedesco, disposta a formare apparentemente due versi, due quinari: una sorta di domanda retorica, o di domanda pateticamente esclamativa e negativa, ma senza punto interrogative o esclamativo, ehe suona secondo la traduzione adottata dallo stesso autore, "Ah! dov'e luglio e il paese d'estate". Senza esclamativi Ach, wo ist Juli und das Sommerland Com'e alto il dolore. L'amore, com'e bestia. Vuoto delle parole ehe scavano nel vuoto vuoti monumenti di vuoto. Vuoto del grano ehe giä raggiunse (nel sole) l'altezza del cuore.

Pubblicato la prima volta nel 1973 neWOsservatore politico e letterario5 (e antologizzato poi da Mengaldo (1975) nell'autorevole crestomazia dei Poeti del Novecento), Senza esclamativi occupa entro // muro della terra la posizione iniziale della sezione detta // Murato: la nona delle tredici brevi e a volte brevissime sezioni in cui, dopo il minicomponimento di due versi dedicate alia moglie, si articola l'intera raccolta. II titolo della sezione, ehe allude ad un celebre 'murato in una torre', George, Duca di Clarence, fratello del future re, nel Riccardo III di Shakespeare, riprende poi per figura etymologica il titolo complessivo della raccolta (dantesco, da Inf. X, vv. 1-3 "Ora sen va per un secreto calle, / tra muro de la terra e li martiri, / lo mio maestro, e io dopo le spalle" - come dantesco era il titolo del volume // seme del piangere del '59), ribadendo cosi il tema della 'prigione', della 'barriera', del 'limite' posto alia ragione umana. "Questo muro della terra", commentava Caproni in una intervista radiofonica del 1988,6 "evidentemente in Dante non e altro ehe il muro di cinta della citta di Dite, per me viceversa significa il limite ehe incontra, ad un certo momento, la ragione umana". Piu esplicitamente, in un intervento in rivista dello stesso anno:7 Io sono un razionalista ehe pone limiti alia ragione, e cerco, cerco. Che cosa non lo so, ma so ehe il destino di qualsiasi ricerca e imbattersi nel "Muro della terra" oltre il quale si stendono i "luoghi non giurisdizionali",' dove la ragione non ha piu vigore al pari di una Anno XIX, n. 6 (giugno 1973). Si vedano le osservazioni del curatore in Caproni (1998a, 1357). In Leggere, 3, luglio-agosto 1988. Si tratta di una autocitazione, da L'ultimo borgo de IIfranco cacciatore, w. 22-25 "Un tratto / ancora, poi la frontiera / e Paltra terra: i luoghi / non giurisdizionali" (Caproni 1998a, 436-437).

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legge fuori del territorio in cui vige. Questi confini esistono: sono i confini della scienza; k da 11 ehe comincia la ricerca poetica. Non so se aldilä ci sia qualcosa; sicuramente c'e 1'inconoscibile.

Al tema del 'muro', dei limiti posti alia conoscenza, e quindi della relativa pochezza delle imprese umane, si aggiunge nella raccolta il tema correlate e dal canto suo totalmente negative del 'vuoto', del 'nulla': di quel "deserto, intero"9 ehe si instaurera alia scomparsa dell'uorno, e ehe forse e gia sottostante alle "sembianze" percepibili della vita. Questo ulteriore tema della negativitä risuona gia nella epigrafe preposta a tutta la raccolta - un'altra epigrafe per una poetica ehe e in effetti del contrappunto -, tratta aalVincipit di una lettera giocosa di Annibale Caro del 13 ottobre 1532 a degli interlocutori in Roma: "Siamo in un deserto e volete lettere da noi, e voi siete a Roma e non ci scrivete. Che discrezione e la vostra? e ehe maggioranza e quella ehe tenete con noi?"10 All'espressione citata, e citata come: Siamo in un deserto, e volete lettere da noi (Annibal Caro)

Caproni attribuisce naturalmente un valore simbolico simile a quello del deserto della Ginestra leopardiana, certo ben diverso da quello lieve dell Originale, in cui il 'deserto' era la Tolfa, la regione montagnosa tra Civitavecchia e Bracciano, dove "altro non c'e ehe grotte e spini, / e cave, e catapecchie, e rompicolli".11

3. L'architettura formale Ad un primo sguardo, formale, i sette versi di Senza esclamativi (tre settenah seguiti da quattro novenari, percorsi da una raffinata rete di rimandi) sembrano disporsi in quattro unita sintattiche di tipo frasale ipo-frasale (frasi nominali) separate da punti, disposte 'per due', in quanto costruite in parallele, secondo lo schema:

A'-A" | B'-B" Le prime due unita, A' e A", sono dello stesso numero di parole (se si conta nella seconda 1'articolo eliso) e occupano ognuna interamente un verso. Le successive due unita B' e B", frasi nominali rette dallo stesso sostantivo - Vuoto - privo di articolo, sono ancora di lunghezza identica (undici parole) e condividono il quinto verso. Notevole, in B', la quadruplice ripetizione, anche a conL'espressione, come il successivo "sembianze", e ne L'idrometra, un testo della stessa raccolta apparentato a Senza esclamativi e di cui si dira piü oltre. Cito dalla prima delle "Lettere familiari" riprodotte nelle Opere di Annibal Caro (Jacomuzzi 1974, 566) - l'edizione ehe probabilmente Caproni aveva sfogliato. Cos! nel sonetto al legato alia stessa lettera, ai w. 9-10.

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tatto, di vuoto, in cui il lettore e tentato di vedere un'eco delVimmorare eliotiano sugli astratti (come nel secondo dei Four Quartets, East Coker, nella vertiginosa apertura del III movitnento: "O dark dark dark. They all go into the dark, / The vacant interstellar spaces, the vacant into the vacant, / ...").12 Un componimento bipartite in due momenti A, B, insomma, ognuno dei quali viene a sua volta bipartito in due unita A', A" e B', B" omologate da uno stretto parallelismo sintattico. II fatto in se non e isolato nelle poesie brevi di Caproni, e gli andrebbe anzi riconosciuto, come credo, un carattere in certo senso basico, quasi di cellula generativa fatta di 'tema' e di 'controtema' in tensione tra loro (del resto, Versicoli del controcaproni si intitola una raccoltina in cui Caproni "fa il verso" a se stesso). Si pensi a Sfarfallone, un componimento a doppia battuta de II franco cacciatore: Pronto sabre" ςυΐέη soy. (Borges) Presto sard chi sono. (Ιο)

o a Personaggi, la splendida poesia grammaticale del Conte di Kevenh ller; Alcuni Ιο. Quasi mai io. Altri pronomi: Nomi. Parti secondarie: le stesse del Discorso.

o ancora, sempre nel Conte di Kevenh ller, al Fondale della storia, con la paronomasia ehe espande, includendolo, il primo termine: L'acciaio. II ghiacciaio.

Tomando al primo momento A di Senza esclamativi, si constata subito ehe il parallelismo dei due versi iniziali ("Com'e alto il dolore. / L'amore, com'e bestia") e attenuate dalla dislocazione a sinistra e conseguente tematizzazione del soggetto nel secondo verso, da cui risulta un chiasmo con dolorelamore a contatto. Ma si constata soprattutto ehe i due versi-frase hanno entrambi una struttura frasale di esclamativa 'di costituente' (o 'esclamativa k-'), senza tuttavia ehe compaia il segno di punteggiatura e quindi 1'intonazione caratteristica delle esclamative.13 Che poi di esclamative si tratti, e non di interrogative come potrebbe essere, poniamo, nelle coppie Come parla! / Come parla? Come e grande! / Come e grande? L'accostamento e reso piu plausibile dalle molte altre traccie in Caproni delta poesia di Eliot. Si veda per qualche rimando Dei (1997). Ma si badi ehe 1'intonazione di un'esclamativa di costituente e grosso modo, come per le frasi dichiarative, di tipo conclusivo, con la peculiarita di un innalzamento tonale pi o meno grande sul termine modificato dalla forma k- (= come): cioe alto e bestia. Per le caratteristiche della protonla esclamativa si rinvia a Canepari (1999, 200-201).

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e accertato dalla marcatezza semantica di alto e dalla idiomaticita di bestia equivalente grosso modo ai valutativi sciocco, stupido. Indiscutibile in effetti e 1'agrammaticalita delle tre interrogative *Come i alto?, *Come e sciocco?, *Come stupido? e naturalmente di *Come bestia?

Le due esclamative d'apertura private di profilo esclamativo risultano cosi in qualche modo esclamative dimidiate, senza carica emotiva: esclamative blafardes si direbbe, rassegnate. I cinque versi ehe seguono mostrano come s'e giä osservato 1'ulteriore parallelismo sintattico di due frasi nominali: per due volte 1'aggettivo sostantivato Vuoto, privo di articolo, viene modificato da un sintagma preposizionale (delle parole, del grano) a sua volta sviluppato da una relativa (ehe scavano nel vuoto..., ehe giä raggiunse...). Tuttavia 1'aspetto formale piü significative e forse proprio 1'assenza di articolo davanti alia testa - Vuoto e non // Vuoto // vuoto - ehe depriva ulteriormente di consistenza referenziale, facendolo slittare sul versante predicative, un sostantivo giä di per se, semanticamente, di 'assenza'. A concludere il sommario sguardo formale si vuole infine rilevare, nel testo, il doppio sigillo di chiusura circolare, costituito dalla rima (ehe e anche Tunica) tra primo e ultimo verso: dolore I cuore, a cui si somma di nuovo wnzßgura etymologica, l'evidente redditio di alto e altezza.

4. Polifonie: Ronsard e Gigliola Un cenno preliminare merita ancora Vincipit, e in particolare il secondo verso ("L'amore, com'e bestia"), per una sua doppia probabile fonte, la quale serve a dimostrare, ce ne fosse bisogno, lo spessore di questa poesia apparentemente semplice, alternante tra i poli della canzonetta e dell'alta tradizione. In essa mi pare in effetti di sentire risuonare congiuntamente un altro incipit, quell o celebre di Pierre de Ronsard nel Second Livre des Amours, xxiv, vv. 1-2: L'amant est une beste, et beste est qui s'empestre dans les liens d'amour

e quindi un 'verso' del ritomello di una notissima (in Italia) canzone popolare, Sento ilfischio del vapore, ehe Gigliola Cinquetti (essa stessa celeberrima per un Sanremo di tanti anni fa) aveva recuperato all'inizio degli anni Settanta, e ehe venne inclusa nel '73 nella Raccolta di canzoni popolari della stessa cantante. Qui sotto la prima e la terza strofa: Sento il fischio del vapore il mio amore ehe va via ed 6 parti to per Albania

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Chiss quando ritomera! [...]

Oh ehe pena, oh ehe dolore ehe brutto bestia e mai I'amore

staro piuttosto senza mangiare ma I'amore lo voglio fare!

Si noti, a riprova dell'attenzione portata al secondo verso di Senza esclamativi, ehe anni dopo Caproni registrava sulla sua copia del Muro delta terra una agnizione di lettura14 scoperta in un verso delle Valentines, la raccolta poetica dedicata da Germaine Nouveau a Valentine Renault, e precisamente nella quarta quartina de La Fee, v. 20: - Ah! ne m'en parlez pas, Madame, C'est toujours Ιέ que Γόη a mal; Si ce n'est au corps... c'est a 1'ame. L'amour, au diable Γ animal !

Ma il carico intertestuale sul secondo verso di Senza esclamativi non impedisce, nell'ordine dei versi e nella gerarchia testuale, la preminenza del primo, quello ehe asserisce l"altezza' del dolore.

5. I significati del testo E veniamo ora, dopo i preliminari, ad un esame puntuale di quel ehe esattamente cerca di esprimere il nostro testo. Senza esclamativi si apre, nel primo (= A) dei due momenti ehe si sono formalmente identificati sopra, con cio ehe chiamerei un doppio contrapposto giudizio - 'giudizio', dico, perche le due esclamative possiedono in effetti entrambe un predicato valutativo. Questo giudizio da una parte esalta il dolore: un dolore alto, cioe ad un tempo 'forte e nobile', e dall'altra commisera 1'amore, ehe e bestia, cioe 'stupido', 'privo di senso'. II secondo momento (= B) presenta poi una doppia constatazione di 'vuoto', di assenza, forse di insignificanza, una constatazione ehe intrattiene con quel ehe precede, se si insiste nel guardare al testo come ad un tutto logicamente coerente, un legame non subito perspicuo.

5.1. Vuoto delle parole 'Vuote', dapprima, sono \eparole, almeno se si risolve predicativamente, come del resto e pi ehe plausibile, il legame tra la testa Vuoto e la sua spedficazione preposizionale: vuoto delle parole = le parole sono vuote (intendere vuoto delle parole nel senso di vuoto lasciato dalle parole, una lettura ehe avrebbe il sup-

Cfr. \'Apparate critico (Caproni 1998a, 1555): "17/4/80 leggo in Valentines (Nouveau, p. 48): Famour, au diable Fanimal!".

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potto di un eventuale parallele semantico con una delle letture ammesse dalla successiva unita sintattica, pare poco compatibile col carattere agentivo di parole nella relativa ehe scavano...). Certo le parole sono per 1'uomo, nella concezione corrente, lo strumento principe di conoscenza e di durata. Come non pensare a quel topos fondatore delle culture occidental! ehe e 1'oraziano exegi monumentum acre perennius?15 alia consapevolezza cioe del lavoro compiuto, dell'aver eretto un monumento di parole contro cui saranno impotenti le piogge, i venti e la innumerabilis annorum series. Ma nel nostro testo trova espressione una concezione meno ottimistica della efficacia referenziale della parola, una concezione ehe direi poco linguistica e molto poetica, mutuata da una corrente irrazionalistica comunque anti-razionale della filosofia novecentesca e sviluppata in una direzione inedita. Le nostre parole, secondo le immagini con cui Caproni mette in scena 1'impotenza pratica (non poetica!) del Verbo, servirebbero in realta solo ad innalzare monumenti 'vuoti', dei monumenti ehe sono privi di contenuto. Di piü, questi monumenta non si stagliano nella luce, non Vinnalzano', bensi, con radicale inversione dellOraziano exigere (ehe vale a rigore 'concludere', ma anche con ragionevole trapasso 'edificare'), scendono giü verso il fondo, 'sprofondano' a modo di tombe catacombe nel suolo: in un suolo anch'esso di nessuna consistenza, fatto labile, 'vuoto'.16 La stessa materia dei monumenti di parole non e salda e dura come e piü del bronzo, ma impalpabile, 'vuota' anch'essa. Parole vuote, dunque, ehe non offrono riparo o salvezza. Gioverä osservare ehe simili manifestazioni un po' paradossali di sfiducia nel Verbo, espresse in una lingua alia quale si nega la capacitä di esprimere alcunche, sono ricorrenti nella poesia di Caproni, inducendo un sotterraneo effetto di polemica nei confronti della tradizione letteraria (D'Annunzio, ma anche Ungaretti, ehe ha parole 'scavate' e rade, eppure cariche di senso: "Quando trovo/in questomio silenzio / una parola /scavata e nella mia vita/come un abisso"17). La sfiducia nel Verbo assume successivamente forme diverse. II Poeta a volte parla, si sforza di farlo, ma non domina lo strumento e provoca quindi negli interlocutori reazioni di rifiuto magari violento, senza riuscire ad instaurare con essi nessun contatto, come accade nella quartina Sassate, anch'essa da // muro della terra:19 Ho provato a parlare. Forse ignoro la lingua. Tutte frasi sbagliate. Le risposte: sassate.

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Od. Ill, 30: "Exegi monumentum acre perennius | Regalique situ pyramidum altius, | Quod non imber edax, non Aquilo impotens | Possit diniere aut innumerabilis || Annorum series et fuga temporum. | Non omnis moriar, multaque pars mei | Vitabit Libitinam...". Torna alia mente il felice titolo di un romanzo di Herbert Rosendorfer: Der Ruinenbaumeister, il 'capomastro di rovine', o 'delle rovine'. Sono i w. 9-13 di Commiato - cfr. Piccioni (1969, 58). Caproni (1998a, 366).

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Altre volte, come ne Le parole (da // franco cacciatore19), gli strumenti del nominare provocano il dileguarsi, il 'dissolversi' del referente extralinguistico, con immagini ehe rinnovano felicemente il topos della distanza incommensurabile posta dalle parole tra noi e la realtä: Le parole. Gia. Dissolvono 1'oggetto. Come la nebbia gli alberi, il flume: il traghetto.

In altri casi, ancora, la parola viene equiparata ad una insidia, una modalitä del Male (la parola e la tagliola sono "una cosa sola"20), dell'apocalittica Ur-Bestia, ad un tempo preda affannosamente perseguita e essa stessa cacciatrice implacabile. A volte questa Bestia mortale si nasconde nella parola (la preda, nella poesia omonima,21 si inselva nella nostra voce), dietro di essa (in solo22 la "Bestia assassina", la "Bestia ehe ti vivifica e uccide" e letteralmente dietro la Parola), sparisce in essa (cfr. L Ora,23 w. 8-9). Questi cortocircuiti analogici, portati alle estreme conseguenze, sfociano quasi inevitabilmente nella identitä senza mezzi termini della Bestia (cioe del Male), della Parola-i)«o/na (gr. , - ? 'nome, denominazione, parola, espressione') e della Morte, come assicurano 1'apposizione traparentesi di Let,24 vv. 14-15: lei, la Bestia (Fonoma)

e uno degli Appunti senza data delle Poesie disperse25 (con corsivo dell'autore a sottolineare il rifiuto di una ipotesi meno estrema, ehe cioe il nome "avvicim alia morte"): II nome awicina alia morte? No. II nome e la morte.

E in un breve testo del Conte di Kevenhuller, la raccolta ehe per gran parte svolge il tema della caccia alia "feroce Bestia", intitolato appunto L 'onoma,26 la Bestia cercata e imprendibile e ormai semplicemente la Parola, la Grammatica: 19

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Caproni (1998a, 460). La traduzione tedesca di Helbling (Caproni 1990, 110): "Die Worte eben. | Sie lassen die Dinge zergehen. || Wie der Baum im Nebel ertrinkt. | Wie der Fluß vor der Fähre versinkt", vede una doppia comparazione (nella seconda il fiume dissolvendo il traghetto, con in piu un abbastanza prosaico tentativo di razionalizzazione semantica deirimmagine, come giä nella prima comparazione), la dove l Originale ne ha una sola con un triplice oggetto (soggetto: la nebbia) ehe scompone un paesaggio unitario di alberi, fiume e traghetto. I due punti, all'origine del fraintendimento dello Helbling, servono in realtä unicamente ad enfatizzare Fultimo tempo, il piu rilevante, il piü 'solido', della enumerazione; allo stesso modo nella chiusa di Paesaggio: "Nell'orrido del Lupo. | Nell' orrido della vecchiaia. | Di dirupo in dirupo, | la vipera: la sterpaia" - (Caproni 1998a, 650). Cos! nei quattro versi de La tagliola di Res amissa (Caproni 1998a, 797). // Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 558-559). // Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 561). // Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 555). // Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 568). Caproni (l998a, 967). Caproni (l998a, 569).

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L'onoma non tascia orma. E pura grammatica. Bestia percio senza forma. Imprendibilmente erratica. II peccato capitale della parola e in generale della lingua (non poetica) e per Caproni la sua 'intransitivitä', la sua incapacita - da porta aperta illusoriamente sul mondo qual essa e, da vera "porta | morgana"27 - di cogliere veramente 1'essenza delle cose. Tra "un nome collocato nel linguaggio", scriveva Caproni nel '47,28 e "1'oggetto naturale da esso nominate" sussiste la "stessa legge d'impenetrabilita vigente tra oggetto e oggetto". Un fatto, continua Caproni, ehe "si puo perfino sperimentare, e proprio in corpore di quella ch'e comunemente ritenuta la forma piü aderenie di letteratura: quella descrittiva, ch'e invece la piü impossibile delle forme letterarie possibili". Persino la poesia fallisce miseramente, e non solo la letteratura, quando pretende di circoscrivere 1'essenza, dimenticando ehe le sue parole sono Oggetti in se' privi di referenza extralinguistica, non concetti, ma "polle d'emozione":29 Buttate pure via ogni opera in versi o in prosa. Nessuno e mai riuscito a dire cos'e, nella sua essenza, una rosa.30 La parola nella sua funzione logica non e altro allora ehe una larva,31 impari al compito ehe le viene imposto di denotare o fedelmente evocare gli oggetti del mondo. II dantesco "muro della terra", la barriera ehe si oppone insuperabile ai tentativi da parte della nostra ragione di una apprensione generalizzata del mondo, sara allora in primo luogo un "muro di parole".32 Lo strumento per antonomasia della conoscenza razionale si svela, nella mitologia del poeta, come 1'ostacolo principale ad una vera conoscenza. Le costruzioni di parole sono monumenti illusori. 27

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Cfr. la chiusa de La porta (Caproni 1998a, 610). Ma tutta questa lirica 'nominale', ehe allinea (sul modello di Montale ndVAnguilla, o piü pertinentemente sul modello liturgico delle Litanie) in aggettivi frasi relative le proprieta della porta (vi compare tra 1'altro al v. 12 la intransitivita), e una mirabile trasposizione delle insufficienze ontologiche (per Caproni) della parola: "porta | ehe, dalla trasparenza, porta | nell'opacita...". Caproni (1996 [1947], 18). Caproni (1996 [1947], 19). Concessione, in Res amissa (Caproni 1998a, 805). II "maleficio | de cuantos ejercemos el oficio | de cambiar en palabras nuestra vida", per cui "siempre se pierde lo esencial" (J. L. Borges, La luna, w. 14-17), e tipico tema borgesiano, ehe in un luogo de El hacedor trova in particolare applicazione proprio ad una inefTabile rosa gialla: "Marino via la rosa, como Adan pudo verla en el Paraiso, y sintio que ella estaba en su eternidad y no en sus palabras y que podemos mencionar o aludir pero no expresar" (Una rosa amarilla, in Borges (1963, 60)). Cost ne // nome del Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 632): "II nome non e la persona. || II nome e la larva. || Di tutti i circostanti | a malapena e salva | - famelica - 1'icona. || (Eroi, e figuranti.)" Nel primo dei gia citati Appunti senza data (Caproni 1998a, 967).

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5.2. Vuoto del grano 'Vuoto' e quindi, dopo le parole, anche il grano, con un reale crescendo di oscuritä e difficoltä interpretativa sotto la limpidezza apparente: Vuoto del grano \ ehe giä raggiunse \ (nel sole) I'altezza del cuore. La relativa, oltretutto, ci riporta temporalmente indietro, in contrasto col presente atemporale della precedente relativa (ehe scavano), e contiene un giä controaspettativo ("piü in fretta di quanto si poteva pensare") ehe sembra alludere al rapido progredire di un processo ingrato. Come risolvere stavolta, tanto per cominciare, le relazioni compattate nel sintagma nominale? Ancora predicativamente come prima? vale a dire intendendo Vuoto del grano come // grano (e) vuotol Se si sceglie questa via, si puo allora agevolmente pensare, per questa seconda unita (del secondo momento), ad una ulteriore asserzione di insignificanza, dopo quella relativa alle parole: cioe a qualcosa come "anche il crescere del grano e senza senso", dove il rigoglio del grano varrebbe allora esemplarmente per il "rigoglio di vita" della natura, ehe niente tuttavia puo contro le forze 'discenditive' (come le chiamava Manganelli). Anche le linfe ascendenti della natura sono vane davanti alia morte. Raccogliendo assieme le due unitä del secondo movimento, si otterrebbe dunque una Vanitas generalizzata: sia il Significare (il proprio deH'uomo), sia il Vegetare (il proprio della natura), entrambi nihil sunt. A favore di questa lettura vi e il fatto ehe le component! deirimmagine, il grano alto, I'altezza 'del cuore', e il sole (qui in una parentesi carica di implicit!, quasi esclamativa), sono abbastanza regolarmente in Caproni collegate, per antifrasi per idiosincratica analogia, alia morte. In un giovanile sonetto monoblocco," il IX dei diciotto "Sonetti deH'anniversario" in morte della "mite | fidanzata" Olga Franzoni, gli ultimi quattro versi (con corsivo nostro) sembrano evocare in una atmosfera di stanchezza e di fine imminente un tramonto, in cui, se bene intendo, il sole basso sullOrizzonte 'morira' quando avra raggiunto (sull'orizzonte) "I'altezza del cuore": II vento ahi quale tenue sepoltura, amore, alia tua voce. Mai una diana piu limpida, troncava alia pianura la parete di roccia - mai piu umana sul fieno della sera una figura si piegava nellOmbra. Aria lontana e chiusa! E ora alia terra ehe s'oscura di dolcezza in dolcezza, ecco la vana eclissi alia speranza - ecco tristezza sollevata dall'erba in questa bara di vento appena mosso. E la stanchezza, la stanchezza del sole cui si schiara lafatica delponte! (Avra I'altezza del cuore - morirä con te in quest 'aria).

In Cronistoria (Caproni 1998a, 99). Si attira 1'attenzione sulla esclamativita non segnalata dalla punteggiatura.

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Un'altra approssimazione spinta alia nostra immagine e nel IV dei "Sonetti dell'anniversario", w. 6 sgg.: "E a quali brezze | secche riavvamperanno oltre i pianori | quegli affanni indicibili - le altezze | mai piü raggiunte dal fuoco del cuore!". Ma in tutti questi sonetti, dall'apertura volentieri esclamativa (III: "La citta dei tuoi anni se fu rossa di mural", IX: "II vento ahi quale tenue sepoltura, | amore, alia tua voce", IX: "Ah la notte sofferta nei suoi errori", XIII: "Quante zone dolenti nella sera", XV: "La strada come spera a un'apertura | improvvisa nell'agro!", XVII: "II tuo nome ehe debole rossore | fu sulla terra!" e XVIII: "Quale debole siepe fu Pamore!"), la scomparsa della giovane vita e rilevata oppositivamente, con un procedimento a dire il vero assolutamente topico, dal fulgore del sole e della natura; basterä qui ricordare 1'ulteriore esclamazione di XI, v. 5-6: "E tu ehe ignori | tanta luce dei sensu". Alia morte 1'amore (eft. il giä citato incipit di XVIII) e il sole furono troppo "debole siepe"! II paragone tra l'altezza di una entitä del mondo naturale, stavolta proprio il grano, ritorna ai vv. 5-9 di un abbozzo - il primo di una lunga serie elaborativa - di una composizione dedicata alia madre, la molto esclamativa Ricamatrice34 (si noterä ehe il primo verso della redazione finale, qui sotto parzialmente riprodotta con corsivo mio nella colonna di destra, e sintatticamente identico al primo di Senza esclamativi). Del tutto irrelata al contesto, ed eliminata poi defmitivamente a partire dalla redazione successiva, rimmagine sembra introdurre un presagio di morte, Aveva acuto 1'ago e agile come 1'estro. Aveva intorno un fresco e bianco odore di lino. Sapeva ricamare come la spuma del mare. il grano ehe le arrivava giä all'altezza del cuore [...].

Com'era acuto 1'ago e agile e fino 1'estro! Raccolta entro quel vago bianco odore di fresco lino, oh il ricamare abile come la spuma trasparente del mare. [...]

Si osservera infine come 1'evocazione parentetica del sole occorra con forte antifrasi, anticipata esclamativamente neli'incipu, anche in un componimento de // seme del piangere intitolato // carro di veiro.35 II funerale della madre del poeta, Anna Picchi (VAnnina di tante liriche di Caproni), ha luogo nel "sole della mattina", in una solaritä ehe aggiunge al dolore una ulteriore "acuta spina" (qui sotto le prime due strofe): II sole della mattina, in me ehe acuta spina. Al carro tutto di vetro percho anch'io andavo dietro? Portavano via Annina (nel sole) quella mattina. 34 35

Ne // seme del piangere (Caproni 1998a, 198). L'abbozzo parzialmente citato e riprodotto neH'apparato di Caproni (1998a, 1352). Caproni (1998a, 213).

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Erano quattro cavalli (neri) senza sonagli. Rivenendo ora, dopo questa escursione sulle proprietä combinatorie delrimmagine, alia sua interpretazione semantica, diremo ehe e lecito vedervi da una parte come e abbastanza ragionevole una intensificazione per contrasto della validitä del sostantivo-testa, Vuoto, ma anche, dall'altra, un'allusione (si ricordi il gia) al rapido avanzare del Nulla, della Morte, soggiacente alle apparentemente piü vitali manifestazioni della natura. II 'raggiungere 1'altezza del cuore' e una misura, dopo 1'esclamativa iniziale ("Com'e alto il dolore"), dell'altezza grande del dolore, ed assieme una misura dei progress] della morte, ehe da dentro, dal basso, come la cicuta nel dialogo platonico, sale inesorabilmente sino raggiungere il cuore: Egli [= Socrate], allora, andö un po' su e giu per la stanza, poi disse ehe si sentiva le gambe farsi pesanti e cosl si stese supino come gli aveva detto 1'uomo del veleno il quale, intanto, toccandolo di quando in quando, gli esaminava le gambe e i piedi e, a un tratto, premette forte un piede chiedendogli se gli facesse male. Rispose di no. Dopo un po' gli tocco le gambe, giu in basso e poi, risalendo man mano, sempre piu in su, facendoci vedere come si raffreddasse e si andasse irrigidendo. Poi, continuando a toccarlo: "Quando gli giungera al cuore", disse, "allora, sara finita".36 Questa sin qui esplorata era forse la lettura piu plausibile, anche se non del tutto aproblematica, deirimmagine finale di Senza esclamativi. Vi e tuttavia almeno un altro modo37 per risolvere i legami semantic! unificati nel minimo comun denominatore della specificazione preposizionale "N del N". Vuoto del grano potrebbe anche in effetti essere inteso come il "vuoto lasciato dal grano", dal grano ehe e stato falciato una volta giunto a maturazione, una volta giunto cioe aH'"altezza del cuore" (i poeti non hanno fortunatamente ancora registrato nella loro memoria visiva le cultivar moderne a taglia bassa contro rallettamento). II grano e gia stato falciato, il Vuoto si e gia instaurato, e non da poco, come ci dice la scelta (in un poeta d'origine livomese) del passato remoto raggiunse piuttosto ehe del passato prosssimo. Ora, la plausibilitä di questa lettura privativa del sintagma finale del componimento, certo linguisticamente piü ardua della precedente,38 e rafforzata dalle connessioni ehe essa rende disponibili a quei due altri 'canti' della desolazione e del nulla ehe sono da una parte il pascoliano Stoppia di Myricae e dall'altra L 'idrometra dello stesso Caproni (sempre nella raccolta // muro della terra*9). In Stoppia, uno straordinario 'rispetto' della sezione In campagna di Myricae (quella del celebrate Assiuolo, ehe segue immediatamente Stoppia), il grano e stato tagliato, il campo e miseramente spoglio. La doppia domanda retorica dei vv. 1 e 9 - Dov 'e, campo, il brusio della maretta', Dov 'e, campo, il tuo mare ampio e tranquillo - nella quale, come suggerisce un commentatore (Nava 36 37

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Fedone, LXVI. Di N. Marziano la traduzione citata. Sviluppo qui un suggerimento di O. Besomi. La difficolta la stessa ehe si incontra ad interpretare, poniamo, il vuoto della libreria come "il vuoto lasciato dalla libreria". Caproni (1998a, 291).

"Senza esclamativi"

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1991, 185), "sembra d'awertire una lontana, domestica eco del medioevale 'ubi est?'", constata cosi pateticamente, dal punto di vista delle erbe e delle minime creature rimaste orfane, 1'instaurarsi del deserto la dov'era vita e potenzialitä di vita. Non piü il mormorio (maretta) del grano al vento del mattino, non piü il mare di spighe nelle notti di luna piena, inutile cercare il grano, il "suo solito sussurro", nel "deserto campo": Dov'e, campo, il brusio della maretta quando rabbrividivi ai libeccioli? Ti resta qualche fior d'erba cometta, i fioralisi, i rosolacci soli. E nel silenzio del mattino azzurro cercano in vano il solito sussurro; mentre nell'aia, la, del contadino trobbiano nel silenzio del mattino. Dov'e, campo, il tuo mare ampio e tranquillo, col tenue vel di reste, ai pleniluni? Pei nudi solchi trilla trilla il grillo, lucciole vanno per i solchi bruni. E nella sera, con ansar di lampo, cercano il grano nel deserto campo.

Del resto anche altrove40 in Caproni i "campi morti d'agosto" sono uno dei luoghi emblematici del vacua (assieme ad esempio alle impervie superfici perpendicolari del logo e del monte, alle "febbri di dicembre"), di quel deserto Nulla in cui "si raggira" la preda (w. 14—15) rendendo paradossalmente cieco, proprio per la sua esplosiva evidenza sopra un fondale vuoto, 1'occhio del cacciatore. II sentimento del 'deserto' futuro domina ISidrometra, una composizione del Muro della terra ehe introduce, sulla scorta di un ricordo infantile registrato dal poeta in un 'foglio di diario' di poco anteriore,41 un'assoluta novita nel Bestiario poetico anche novecentesco: ridrometra, appunto, il filiforme emittero 'pattinatore' delle superfici stagnant!42 ('idrometra' e nome per Caproni probaLa preda, nel Conte di Kevenhuller (Caproni 1998a, 558-559). Se ne vedano in particolare i w. 27-32: "La preda | (un letame? una rosa?) | ehe tutti abbiamo in petto, e nemmeno | le febbri di dicembre (i campi | morti d'agosto) portano | sotto tiro...". Cfr. Caproni (1998a, 1543): "Li chiamavamo, mio fratello ed io, ragni d'acqua: esili pattinatori neri dalle lunghe gambe filiformi e nervöse, scivolanti sulla superficie dello stagno come sul ghiaccio. Oggi ne apprendo per caso il vero nome: idrometri. Ma esso non aggiunge nulla alia conoscenza del loro mistero, anche se questo nome giunge a sodddisfare in me una lunga e a volte lancinante curiosita". Si riproduce qui per curiosita un estratto della voce relative della Enciclopedia Treccani, in cui gli equivalent! terminologici di inglese e tedesco non sono forse estranei al pattinera del terz'ultimo verso (e al pattinatori del Diario): "IDROMETRE (lat scient. Hydrometridae; ingl. Pond Skaters; ted. Wasserläufer). - Famiglia eterogenea di Emitteri [...], Eterotteri Gimnocerati, polimorfi [...], a comportamento acquaiaolo, ehe invece d'immergersi nell'acqua vi corrono sopra, sfhittando la resistenza della tensione superficiale del liquido e Pimbagnabilita delle loro zampe e della parte inferiore del corpo, prowiste di abbondanti peli ricoperti da un secreto idrofugo. Si cibano d'insetti e d'altri animaletti caduti

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bilmente di genere maschile, come in francese, - cfr. al v. 11 il troncamento di nessuno e il plurale idrometn nel passo cit. in n. 41): L'idrometra Di noi testimoni del mondo, tutte andranno perdute le nostre testimonianze. Le vere come le false. La realta come Γ arte. II mondo delle sembianze e della storia, egualmente porteremo con noi in fondo all'acqua, incerta e lucida, il cui velo nero nessun idrometra piu pattinera - nessuna libellula sorvolera nel deserto, intero.

Retta come gia Senza esclamativi da un principio binario iterate, esteso dalla metrica alia sintassi e ai referenti,43 L 'idrometra si configura morfologicamente tutta al future: andranno perdute, porteremo con noi, pattinera, sorvolera: un future ineluttabile, non una previsione, come accerta la semantica del costrutto 'andare + participio passato' applicato a verbi come perdere, disperdere, smarrire, dimenticare (rispetto ai verbi d'azione, leggere, scrivere, ecc., coi quali si ha invece un valore deontico). In questo futuro, come sembra, sara ineluttabile un accadimento, ο per meglio dire tutta una serie di accadimenti dello stesso tipo 'scomparsa', 'disparizione'. In questi accadimenti sara coinvolta una serie di soggetti, anzi, tutti i soggetti possibili (in primo luogo, il 'soggetto' di ogni proposizione possibile: 17o, il Noi44): donde il proliferare delle marche della totalit , le quantificazioni universali, positive ο negative, esplicite ο occulte. Le quantificazioni negative, espresse da un doppio nessuno,

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nelFacqua morenti ο morti e spesso di zanzare, nel momenta in cui queste sfarfallano dalla pupa. L'Hydrometra stagnorum L. [...], col corpo esile e cilindrico, il capo e le zampe allungatissime, cammina lentamente sulle acque stagnant! ed e disinvolta anche sulla terra".

Si noti, lasciando di altre manifestazioni owie di binarieta, ehe nella seconda strofa egualmente equipara, raddoppiandolo, il 'portare con noi' al precedente 'andar perduto'; e ehe I'awerbiale in fondo all'acqua riceve una doppia qualificazione: la coppia aggettivale sindetica incerta e lucida, e la relative doppia il cui velo nero... (doppio il soggetto: idrometra, libellula; doppio il verbo pattinera, sorvolera, con doppio futuro ossitono di terza singolare in -a). Un aspetto notevole della grammatica as\\'Idrometra e I'insistenza sul pronome noi e suoi derivati e ad un tempo la sua negazione. Se enfatiche sono la collocazione e iterazione di noi, noslro (con insistenza ai limiti della grammaticalita, salvata nei primi due versi dalla dislocazione a sinistra: cfr, altrimenti: ^Tutte le nostre testimonianze di noi testimoni...), noi d'altra parte non compare mai, almeno esplicitamente, come soggetto (e sottinteso nella seconda strofa), ma 6 defilato, preposizionale: di noi, con noi, per quanta occupi nella prima occorrenza la posizione d'apertura. Che sia questo un modo di porre ΓΙο e di negarne nel contempo per via sintattica la permanenza e quindi il valore?

"Senza esclamativi"

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vengono di regola applicate a predicati di valore positive ehe espongono manifestazioni della vita, come pattinare e sorvolare. Simmetricamente, le quantificazioni positive - il tutte predicative anteposto di v. 2 e soprattutto ai w. 4—5 le due coppie polari vere \false, realtä \ arte di elementi in un certo senso ortogonali (secondo il principio ehe se una proprieta e vera di entita eclatees ai quattro punti cardinali, allora essa e vera in generale)45 - operano dal canto loro sulla negativissima predicazione andarperduto. II risultato di questi plurimi prodotti 'negativo positive' o 'positive negative' e in ogni case negativo: e il vuoto, il deserto. La stessa organizzazione spaziale de\\'Idrometra, ehe e (di nuovo) ortogonale, verticale e orizzontale, e dinamizzata (si pensi ai verbi aspettuali di movimento in andranno perdute e porteremo con noi), contrappone due illusorie parvenze di vita, Porizzontalitä di superficie deiridrometra e 1'orizzontalita librata della libellula, e con esse tutte le testimonialize di noi, testimoni del mondo,46 alia irresistibile forza discenditiva della morte (cfr. sopra quel ehe s'e detto per la prima lettura), ehe tutto trascina 'in giü', infondo all'acqua, sotto il velo nero. Per concludere, si ricava da quel ehe si e visto ehe Tipotizzata lettura privativa del 'campe vuoto' consentirebbe al lettore, grazie in particolare ai legami ehe si stabiliscono con L'idrometra, di individuare in Senza esclamativi un esempio peculiare del Nulla caproniano, del sue "deserto, intero". Ma le due letture ehe si sono esplorate (e ehe, come si vorrebbe suggerire, sono in ragione della 'vaghezza' semantica della struttura compresenti e sovrapposte), il 'non senso del crescere del grano', o il 'vuoto lasciato dal grano', sono a dire il vero per quanto sintatticamente dissimili semanticamente molto prossime: entrambe propongono seppure in maniera diversa esempi di vuoto e di non valore, i quali servono a giustificare, nel modo ehe vedremo nel prossimo paragrafo, la non esclamativita del testo e del sue titolo.

6. L'epigrafe - e il senso della (non) esclamativita Si venga ora a riesaminare 1'epigrafe in tedesco, le due righe (versi?) di cui si era brevemente detto in § 2. Non occorre cercare lontano. Di identificare la 45

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Una ulteriore coppia polare, il mondo delle sembianze, cioe delle 'immagini' dell'Ora, e il mondo della storia, viene introdotta all'inizio della seconda strofa. A questa nuova coppia viene applicata una Variante (porteremo con noi) della prima predicazione negativa. La quali fica conserva un'eco dei sintagmi "testimone del (suo) tempo" e, soprattutto, "testimone di Dio": "colui ehe reca testimonianza dell'esistenza di Dio, del suo agire" (cfr. Act. 2, 32 Hunc lesum resuscitavit Deus. cuius omnes nos festes sumus, e 4, 33 Et virtute magna reddebant Apostoli testimonium resurrection is lesu Christi domini nostri). Ma le nostre 'testimonianze' possono ben essere se non false, inadeguate, inani... AI ehe si aggiunge l'idea ehe fuori delle nostre testimonianze non vi e, malgrado I'impiego del termine realtä, nulla di reale al mondo - un mondo destinato quindi a svanire con noi, con una forte dose di ironia sullOggetto del nostro testimoniare, privo di esistenza autonoma.

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fönte si e preoccupato lo stesso Caproni (ehe del resto volentieri informa il lettore sui propri materiali poetici) in uno dei chiarimenti apposti all'edizione garzantiana de // muro della terra?1 Ach, wo ist Juli, ecc.: Hofmannstahl: Des alien Mannes Sehnsucht nach dem Sommer.

E piü esplicitamente, e con la gia citata traduzione italiana, a margine di uno dei nove fogli48 inseriti nella copia personale della raccolta: Ach, wo ist Juli und das Sommerland! Ah! dov'fc luglio e il paese d'estate Hugo von Hofmannstahl: La nostalgia del vecchio per Testate "Canto di vita e altre poesie", trad, di Elena Croce, Einaudi, pag. 65 [in realta 64}-66.

L'epigrafe proviene dunque da una lirica di Hofhiannstahl ehe era occorso a Caproni di leggere, e con tutta probabilitä dopo i primi abbozzi di Senza esclamalivi,49 in una scelta curata e tradotta da Elena Croce per un volumetto uscito a fine marzo '71 nella collana 'bianca' di poesia dell'Editore Einaudi. Riproduco qui il testo tedesco della lirica, accompagnato dalla traduzione "puramente interlineare"50 di Elena Croce. NeH'ultimo verso, esclamativo, le due linee della epigrafe. Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer

La nostalgia del vecchio per Testate

Wenn endlich Juli würde anstatt März,

Se finalmente luglio fosse invece di marzo,

Nichts hielte mich, ich nähme einen Rand, Zu Pferd, zu Wagen oder mit der Bahn Kam ich hinaus ins schöne Hügelland.

Nulla mi tratterrebbe, prenderei l'aire E a cavallo, in carrozza o con la ferrovia Sboccherei nella bella contrada di collina.

Da stünden Gruppen großer Bäume nah, Platanen, Rüster, Ahorn oder Eiche: Wie lang ists, daß ich keine solchen sah!

E11 avrei vicini, gruppi di grandi alberi; Platani, olmi, aceri o querce: Da quanto, quelli, non H ho piu veduti!

Da stiege ich vom Pferde oder riefe dem Kutscher: Halt! und ginge ohne Ziel

Allora io dal cavallo smonterei oppure: Ferma! griderei al cocchiere, ed andrei senza meta Avanti, verso il cuore del paese d'estate.

nach vorwärts in des Sommerlandes Tiefe. Und unter solchen Bäume ruht ich aus; In deren Wipfel wäre Tag und Nacht Zugleich, und nicht so wie in diesem Haus,

E sotto gli alberi, quegli alberi riposerei, Nelle cui cime in una, Giorno e notte sarebbe, non come in questa casa,

Wo Tage manchmal öd sind wie die Nacht Und Nächte fahl und lauernd wie der Tag. Dort wäre alles leben, Glanz und Pracht.

Dove i giorni talvolta sono vacui come notti E le notti insidiose e scialbe come il giorno . La tutto sarebbe vita, risplendente, magnifica.

Und aus dem Schatten in des Abendlichts Beglückung tret ich, und ein Hauch weht

E invece delTombra la beatitudine Del tramonto, e se un soffio mi sfiora,

47 48

50

E ripresi in Caproni (1998a, 389-390). Cfr. Caproni (1998a, 1054-il "Fascicolo 15° 1-12"-e 1555). Se ne ricordi la datazione d'autore al 1970. Cosi nella Introduzione (p. 9) la traduttrice stessa, ehe pure riconosce di essere stata "a volte costretta a ricalcare il ritmo per non far scomparire gli effetti di ripetizione, e il gioco a volte ambiguo ehe sono parte essenziale del linguaggio di Hofmannsthal".

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"Senza esclamativi" hin, Doch nirgend flüsterte: "Alles dies ist nichts."

Non pero mai bisbiglia, "tutto questo 6 nulla".

Das Tal wird dunkel, und wo Häuser sind, La valle si fa scura, e dove sono case Sind Lichter, und das Dunkel weht mich an, sono luci, e I'oscurita m'investe, Doch nicht vom Sterben spricht der nächtige Non pero di morire parla il vento notturno, Wind. Passo attraverso il cimitero e vedo Ich gehe übern Friedhof hin und sehe Nur Blumen sich im letzten Scheine wiegen, Solo fiori cullarsi nell'ultimo chiarore Von gar nichts ändern fühl ich eine Nähe. E proprio di nient'altro sento la vicinanza. Und zwischen Haselsträuchern, die schon düstem, Fließt Wasser hin, und wie ein Kind, so lausch ich Und höre kein "Dies ist vergeblich" flüstern!

E fra macchie ehe giä s'abbuiano di nocciuoli,

Da ziehe ich mich hurtig aus und springe Hinein, und wie ich dann den Kopf erhebe ist Mond, indes ich mich mit dem Bächlein ringe.

11 svelto mi spoglio per saltare Dentro, e poi quando rialzo la testa, C'& luna, ma io ancora combatto col ruscello.

Halb heb ich mich aus der eiskalten Welle, und einen glatten Kieselstein ins Land Weit schleudernd, steh ich in der Mondeshelle.

Mi sollevo a meta dallOnda ghiaccia, E un liscio ciottolo del greto scagliando Lontano, nel campo, m'ergo nel chiarore della

Scorre acqua, e come un fanciullo m'apposto E non sento alcun bisbigliare di "Invano!"

luna.

Und auf das mondbeglänzte Sommerland Fällt weit en Schatten: dieser, der so traurig

E sul paese estivo dalla luna argentato Cade ampia un'ombra: questa stessa ehe cosl triste Hier nickt, hier hinterm Kissen an der Wand? Mi fa cenno, qui dietro il cuscino, alia parete?

So trüb und traurig, der halb aufrecht kauert Che cosl fosca e triste, accoccolata a mezzo si sporge Vor Tag und böse in das Frühlicht starrt prima del giomo fissando la nuova luce, esosa, Und weiß, daß auf uns beide etwas lauert? E sä ehe noi due qualcosa c'insidia? Er, den der böse Wind in diesem März So quält, daß er die Nächte nie sich legt, Gekrampft die schwarzen Hände aufsein Herz?

Lei sä ehe l'esoso vento in questo marzo Tormenta si ehe notte mai si stende, E mani nere ha contratte sul cuore?

Ach, wo ist Juli und das Sommerland!

Ah! dov'6 luglio e il paese d'estate?

Non e facile capire a prima vista cosa in questo testo relativamente oscuro, e comunque mal rischiarato dalla traduzione interlineare, abbia potuto attirare l'attenzione di Caproni, oltre a quella tonalitä generale ehe E. Croce etichettava51 negativamente di "tetro materialismo crepuscolare". Un vecchio, in una notte di marzo, fantastica di un luglio di pienezza vitale, di un incantato paese dell'estate verso cui precipitarsi a cavallo, in carrozza con la ferrovia, un paese dove tutto sarebbe, un po' come nella Invitation au voyage baudelairiana, Leben, Glanz und Pracht, dove nulla ricorderebbe IMllusorietä delle cose, ehe Alles dies ist nichts, e ehe Dies ist vergeblich; e dove sarebbe possibile una Nella citata Introduzione, p. 7.

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felice fusione con la natura (si veda in particolare la simbolica immersione ne\\'onda ghiaccia del ruscello). Certo pero ehe a collocarsi in una prospettiva 'alia Caproni', acquista particolarissimo rilievo la quinta terzina, in cui viene posta esplicitamente 1'opposizione, sottesa in realta a tutto il testo, tra due situazioni: il presente della casa Wo Tage manchmal öd sind wie die Nacht / Und Nächte fahl und lauernd wie der Tag e un Sommerland in cui e pur vero ehe Tag und Nacht sono zugleich nelle cime degli alberi, ma in cui vi sono luci ed ombre, scorrere, stormire e profumo di fiori. Tra il totale deserfo del presente, quindi, e l'impossibile passato-futuro dell'estate, il quäle appare attualizzabile solo nei modi della Sehnsucht, ehe e qui rimpianto piü ehe nostalgia. II vecchio nottetempo fantasticante del testo di Hofmannsthal, malgrado le evocate mani nere [...] contratte sul cuore, sembra tuttavia ancora possedere l'ardore e le speranze o le illusioni della giovinezza. In particolare il suo sogno ad occhi aperti e emotivamente agitato, patetico, pieno di domande e di esclamazioni, e si conclude proprio su di una esclamazione (resa per contro dalla traduttrice con una interrogativa) preceduta da una interiezione, quell 'ach, it. ah!, ehe il lettore di Caproni ben conosce, specie dalle prime raccolte o dai 'versi livomesi' per la madre, come segno di partecipazione affettiva ("Nella luce agitata ah la lettura | d'Orlando verso l'isola del Pianto", "Ah se un giorno le donne con le penne | roventi nei capelli", "Ah la notte sofferta nei suoi errori", "Ah tu perdona | se ho cuore", "Ah la tristezza | umana!",52 ecc.), assieme ai tanti oh e ahi.53 In questo veccA/o-ragazzo, ehe 'esclama' il proprio desiderio della stagione lontana e ormai impossibile, si e cosi tentati di vedere una caratteristica voce della prima poetica 'emotiva' di Caproni, quella formulata ad esempio nella splendida definizione di uno scritto del 1948, "Versi come utensili":54 Strumenti per sospirare, per esclamare la gioia, il dolore, I'amore ed altre infinite e indefinibili cose o statt d'animo, tali si potrebbero definire i versi. E di esclamazioni, si sä, e costellata la raccolta vallecchiana del '56, // passaggio d'Enea, o la successiva del '59, // seme del piangere, da cui sono estratti i luoghiehe seguono: Come scendeva fina e giovane le scale Annina! [...] Ma come s'illuminava la strada dove lei passava! [L'uscita mattutina,Caproni (1998a, 192)] * Che voglia di lavorare nasceva, al suo ancheggiare! [Quando passava, Caproni (1998a, 195)] 52 53

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Caproni (1998a, rispettivamente 96,98,101,105,120). Come ad esempio ne /lamenti, l del Passaggio d'Enea, al primo e all'ultimo verso: "Ahi i nomi per Fetemo abbandonati | sui sassi", "oh i nomi senza palpito — oh il lamento" (Caproni 1998a, 115), nelPapertura di Treno del Seme del piangere (Caproni 1998a, 224): "Ahi treno lungo e lento | (nero) fino a Benevento", e in innumerevoli altri luoghi. Che cito dalla miniantologia di dicharazioni poetiche riportata in Falcetto (1997,109).

"Senza esclamaüvi"

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Com'erano alberati e freschi i suoi pensieri! [Sulla strada di Lucca, Caproni (1998a, 196)]

* Com'era acuto 1'ago e agile e fine 1'estro! [...] Livorno tutta intomo com'era ventilata! Come sapeva di mare sapendo il suo lavorare! [La ricamatrice, Caproni (1998a, 198)].

Ma alia poetica dell'emotivitä in Caproni si e progressivamente sostituita entro le ultime raccolte una nuova poetica di forme brevi, o ancora piü brevi, di sintassi 'a spezzoni' ehe rinuncia alle lunghe gittate, di asciugamento espressivo. L'emotivita ha ceduto il passo ad una attitudine piü distaccata, ehe tende ad esprimersi precipuamente attraverso il paradosso e la tautologia, forme in certo modo di pensiero disseccato ed alogico. La scoperta, il nuovo vengono affidate non piü al narrare e al raziocinare, ma piuttosto agli incontri aleatori favoriti dalla rima, al suo potenziale paronomastico, ehe attinge (forse) ad una Unita ontologica profonda, sottostante alia varieta e diversitä delle manifestazioni della vita, dello spazio, del tempo. E in questo quadro, credo, ehe va collocate un testo come Senza esclamativi. L'epigrafe ne funge anzi da cifra interpretativa: non tanto per il suo contenuto esplicito di ubi sunt (coi sottotemi del passato irrecuperabile, della fuga temporum, della vanitä delle cose, ecc.), ma proprio per la sua modalitä enunciativa, de-enfatizzata rispetto allOriginale dall'assenza di punto esclamativo, e privata quindi di urgenza espressiva. La poesia, e con essa emblematicamente Senza esclamativi, si e rassegnata, ha ormai rinunciato per sempre ai gesti, al grido, ad ogni forma di sottolineatura enfatica delle cose e dei sentimenti. E una poesia dominata dall''understatement espressivo. Rimangono in essa, del passato vitale, ora ehe l'insignificanza di ogni impresa dell'uomo, e dei suoi monumenti di parole in particolare, e certa, solo moduli sintattici 'vuoti', spogliati della loro intonazione. Le verita ehe la poesia si concede ancora di asserire sono elementari, negative (il vuoto, il deserto); o splendidamente tautologiche, come nella lapalissade della sezione Liturgica55 de II franco cacciatore: ed in particolare nel suo penultimo fulminante verso:

Che viene aperta da uno straordinario Dies irae in negative, una risposta a la moniere di Caproni ad interrogativi celebri dei Sepolcri foscoliani: "Nessun tribunale. | Niente. || Assassino innocente, | agli occhi di nessuno un cranio | varra 1'altro, come | varra 1'altro un sasso un nome | perso fra 1'erba. || La morte | (il dopo) non privilegia | nessuno. || Non c'e per nessuno, | bruciata ogni ormai inattendibile | mappa, nessuna via regia" (Caproni 1998a, 413; ivi la lapalissade alia pagina 417).

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Emilia Manzotti

Lapalissade in forma di stornello

Rosa di maggio. La morte non un luogo. Tantomeno un passaggio. Vivremo fincho saremo vivi. Siamo uccelli stativi.

7. Bibliografia Borges, Jorge Luis (1963): L'artefice. Milano. Canepari, Luciano (1999): Manuale dipronuncia italiana. Bologna. Caproni, Giorgio (1975): // muro della terra. Milano. - (1990): Gedichte - italienisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Hanno Helbling, Stuttgart. - (1996 [1947]): II quadrato della verita. In: Giorgio Caproni: La scatola nera. Milano, 1820. - (1998a): L'opera in verst. Edizione critica a cura di Luca Zuliani. Introduzione di Pier Vincenzo Mengaldo. Cronologia e bibliogratla a cura di Adele Dei. Milano. - (1998b): Quaderno di traduzioni. A cura di Enrico Testa. Prefazione di Pier Vincenzo Mengaldo, Torino. Contini, Gianfranco (1970 [1965]): Filologia ed esegesi dantesca. In: Gianfranco Contini: Varianti e altra linguistica. Una raccolta disaggi (193&-1968). Torino, 407-432. Dei, Adele (1997): Le parole degli altri. Citazioni, proverbi, aforismi. In: Giorgio Devoto/Stefano Verdino (ed.): Per Giorgio Caproni. Genova, 57-60. Falcetto, Bruno (ed.) (1997): Giorgio Caproni. Milano. Jacomuzzi, Stefane (ed.) (1974): Opere diAnnibal Caro. Torino. Mengaldo, Pier Vincenzo (1975): Poeti del Novecento. Milano. (1991): Confront! tra traduttori poeti contemporanei (Sereni, Caproni, Luzi). In: Pier Vincenzo Mengaldo: La tradizione del Novecento. Terzaserie. Torino, 175-194. Nava, Giuseppe (ed.) (21991): Giovanni Pascoli, Myricae. Roma. Piccioni, Leone (ed.) (1969): Giuseppe Ungaretti, Vita d'un uomo. Tutte lepoesie. Milano.

Matthias Marschall

Erwartungen und Routinen beim Lesen Strategien beim Leseverstehen in der Erstsprache (Französisch) und in der Fremdsprache (Deutsch)

l. Einleitung An die Lektüre eines Textes tragen wir immer schon Erwartungen heran. Eine der Lehren, die ich dem Jubilar verdanke, besteht darin, zu solchen Erwartungen Distanz zu halten, sie auf der Grundlage des Textes oder des Korpus immer wieder zu überprüfen - auch auf die Gefahr hin, dass ein Beispiel sich nicht so gut in die Argumentation einfügt, wie es meine Erwartung zunächst hat hoffen lassen. Im folgenden Beitrag geht es um Erwartungen, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen sind die Erwartungen von Lesern hinsichtlich der Fortsetzung von Texten Gegenstand der Untersuchung, die zu zeigen versucht, in welchem Verhältnis die Erwartungen der Leser, hier der Versuchspersonen, zur jeweils konkreten Textgestalt stehen; zum anderen spielen die Erwartungen des untersuchenden Linguisten eine zentrale Rolle: nicht nur weil ich - typisch linguistisch - unterstelle und erwarte, dass der Gebrauch bestimmter Ausdrucksformen in bestimmten Kontexten die Wahl der einen oder der anderen Fortsetzungsmöglichkeit beeinflusst, sondern mehr noch, weil ich in Abhängigkeit von den vorgegebenen Kontexten bestimmte Antworten erwarte und andere ausschließe. Unsere Erwartungen als routinierte Leser gründen auf unserem Wissen über den Inhalt des Textes (Überschrift, Zusammenfassung, Abstract, Vorankündigung etc.), über seine Zugehörigkeit zu einer Textsorte (Gebrauchsanleitung, Novelle, Zeitungstext, Roman), aber auch auf Informationen, die der Text selbst an bestimmten Stellen liefert (Inhaltsverzeichnis, Kapitel- oder laufende Überschriften, metatextuelle Äußerungen). Mit solchen Hinweisen auf das, was wir von einem bestimmten Text erwarten können, bleiben wir im Rahmen expliziter Hinweise auf den Inhalt des Textes. Beim Lesen des Textes werden Erwartungen jedoch begleitend weiter gesteuert. Und hier nun - so meine Erwartung - spielen grammatische Ausdrucksmittel eine besondere Rolle. Etwas vergröbernd kann man sagen: Die erstgenannten inhaltlichen Indikatoren stecken den Rahmen dessen ab, was wir von dem Text oder einem Teil des Textes erwarten können, die zweite Gruppe von Indikatoren dagegen steuert unsere Erwartungen ganz konkret auf die Fortführung des gerade gelesenen Textes, diese Indikatoren fungieren quasi als Wegweiser durch die Struktur des Textes.

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Matthias Marschall

Diese konkreten Erwartungen sind für die Textrezeption besonders wichtig, weil sie es erlauben, eine hypothetische Textstruktur zu entwickeln, in der jede neu eingehende Information ihren Platz findet. Wie Reisende am Bahnhof von Freunden erwartet werden, werden auch die neu einlaufenden Informationen bei der Lektüre von der hypothetischen Struktur abgeholt. Und wie auch die Freunde nicht unbedingt direkt vor der Abteiltür stehen können, aus welcher der Besucher aussteigen wird, müssen auch bei der Lektüre die Informationen des Textes und die vom Leser unterstellte Struktur aufeinander abgestimmt werden. Allerdings: je mehr Indikatoren ein Leser berücksichtigt, und je öfter er dies tut, desto zuverlässiger wird seine heuristische Textstruktur - genau wie auf dem Bahnhof, wo wir auch größere Chancen haben, am richtigen Ort zu stehen, je genauer wir den Bahnhof kennen, je öfter wir dort jemanden vom Zug abgeholt haben. Die Berücksichtigung solcher Indikatoren fasse ich als Leseroutinen zusammen. In meinem Beitrag möchte ich eine Serie von Tests vorstellen, mit denen ich versucht habe, den Erwerb von Leseroutinen zu beschreiben. Es geht dabei um die Frage, ab wann Schüler für die Markierung von Textstrukturen relevante Ausdrucksmittel bei der Lektüre berücksichtigen und für die Entwicklung von Texthypothesen einsetzen. Dieser Erwerb soll sowohl für die Muttersprache Französisch als auch für die Zweitsprache Deutsch nachgezeichnet werden. Untersucht wurde dabei die Zuordnung kritischer Pronomina zu Antezedenten, die Interpretation von Diatheseformen (Passiv), sowie der Fokus kommentierender Verneinungen.1 Weder im Erstsprachenunterricht (Französisch) noch im Fremdsprachenunterricht (Deutsch) wird die textstrukturierende Funktion der hier untersuchten Ausdrücke behandelt. Die Schüler erwerben ihre Leseroutinen parallel zum Schulunterricht. In der Erstsprache vollzieht sich dieser Erwerb durch die Menge und Variation der Lektüren. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob solchermaßen erworbenes Wissen spontan auf die Zweitsprache übertragen wird oder ob Routinen, die in der Erstsprache schon gefestigt sind, in einer Fremdsprache neu erworben werden müssen. Diese Frage ist umso interessanter, als die hier untersuchten Ausdrücke sich in beiden Sprachen weitgehend gleich verhalten (vgl. Marschall 1996). Aus der Antwort auf diese Fragen können wir Hinweise für eine koordinierte Sprachendidaktik2 erhoffen.

2. Das Testdesign Meine Untersuchung dieser Erwerbsprozesse basiert auf Tests. Den Versuchspersonen wurden bezüglich eines vorgegebenen Kontexts Fortsetzungsmöglichkeiten zur Wahl angeboten. In den meisten Fällen kontrastieren jeweils 1 2

Vgl. dazu Posner (1972). Vgl. Bronckart et al. (l999).

Erwartungen und Routinen beim Lesen

283

Paare von Kontexten im Gebrauch bestimmter Ausdrucksmittel, so dass für die Fortsetzungsmöglichkeiten klare Zuordnungen zu den Versionen des vorgegebenen Kontexts formuliert werden, deren Erwartung in der Regel syntaktisch begründet ist. Die Versuchspersonen wurden für jede Testreihe (Deutsch und Französisch) willkürlich einer Gruppe zugewiesen. In den Testbatterien - bestehend aus 14 Testaufgaben im französischen Test und 11 im deutschen Test - kommen die vorgegebenen Kontexte nur in einer der Versionen vor, so dass in den meisten Fällen ein Vergleich der Reaktionen auf unterschiedliche Versionen des gleichen Kontexts nicht intra-individuell, sondern nur über das Antwort verhalten der Gruppen möglich ist.

3. Die Testpopulation Die Tests wurden in Genf mit Schülern des College (Klassenstufen 10 bis 13) durchgeführt. Die Schüler sind zwischen 15 und 19 Jahre alt, französischer Erstsprache (keine muttersprachlichen Deutschsprecher) und haben mindestens seit dem 7. Schuljahr Deutschunterricht. Pro Klassenstufe haben je mindestens zwei Klassen (ungefähr 20 Schüler) an den Tests teilgenommen. In der Klassenstufe 13 konnte der Test nur mit einer Klasse durchgeführt werden. Da es sich um das Matura-Jahr handelt, waren Schüler (und Lehrer) weniger bereit, an einem Test teilzunehmen. Die Ergebnisse aus dieser Klasse müssen daher ausgeschlossen werden, weil die Gruppen für eine aussagekräftige Auswertung der Ergebnisse zu klein sind. In den Klassenstufen 11 und 12 hat ein Teil der Schüler sowohl den deutschen als auch den französischen Test mitgemacht. Für diesen Teil der Population lassen sich die Ergebnisse der beiden Sprachen direkt miteinander vergleichen. Zusätzlich habe ich eine Klasse aus Speyer in die (deutschen) Tests einbezogen, die während der Testperiode zu einem Austausch mit einer 12. Klasse in Genf war. Diese Klasse dient somit als Kontrollgruppe. An dieser Stelle möchte ich dem Direktor des College de Candolle danken, dass er seine Zustimmung für die Testdurchführung an seiner Schule gegeben hat, sowie natürlich den Lehrern, die eine Unterrichtsstunde geopfert und mir mit ihren Bemerkungen und Kritiken wertvolle Hinweise gegeben haben. Am meisten fühle ich mich allerdings den Schülern verpflichtet, die die Testaufgaben mit großem Ernst gelöst und die so meine Untersuchung überhaupt erst ermöglicht haben.

284

Matthias Marschall

4. Ergebnisse 4.1. Pronominalisierung Für die Strukturierung von Texten ist der Wechsel von pronominaler und nominaler Wiederaufnahme von großer Bedeutung (s. Marschall 1995, Schecker 1995). Das erklärt die besondere Stellung, die diese Probleme in meiner Darstellung einnehmen. Zunächst soll jedoch mit einer Reihe von Testaufgaben überprüft werden, welche Strategie die Schüler bei der Zuordnung von Pronominalisierungen in der Muttersprache und in der Zweitsprache anwenden (eine Voruntersuchung dazu habe ich in Marschall (1992) für die Klassenstufen 8 und 9 vorgestellt). Den Schülern wurden Kontexte vorgelegt, in denen zwei Nominalgruppen gleichen Genus und Numerus im Hauptsatz und im Nebensatz vorkommen. Das Pronomen im nachfolgenden Hauptsatz sollte über die Wahl einer der beiden Antwortvorgaben disambiguiert werden. Dabei stellt die Zuordnung zur Nominalgruppe im Hauptsatz die erwartete syntaktische Strategie dar, während Zuordnung zur NG im Nebensatz eine Kontiguitätsstrategie zeigt. Schematisch lässt sich dieser Aufgabentyp folgendermaßen darstellen: Hauptsatzi, NGj

Nebensatz. NG2

Hauptsatz2 Pro9

Antwort Pro = NG, Pro = NG2

Schema l

Eine Testaufgabe dieses Typs lautet: DtlV (A) (B)

Michael spielt mit einem Puzzle, bis sein Vater zu Ende telefoniert hat. Dann steht er auf und ... Michaels Vater telefoniert, während Michael mit einem Puzzle spielt. Dann steht er auf und ...

Beiden Gruppen wurden folgende Antwortmöglichkeiten vorgegeben: (a) (b)

...räumtseine Spielsachenauf. ... setzt sich zu seinem Sohn.

Die Ergebnisse der Aufgaben dieser Gruppe bestätigen unsere Erwartungen, dass das Pronomen in einem solchen Fall auf den Antezedens im vorausgehenden Hauptsatz - über den dazwischenliegenden Nebensatz hinweg - bezogen wird. Das bedeutet für die Gruppe A die Antwort a, für die Gruppe B die Antwort b. In der Tabelle l sind die Ergebnisse der 3 Testaufgaben dieses Typs so zusammengefasst, dass jeweils die erwarteten Antworten den nicht erwarteten im Sinne der hier vorgetragenen Bestimmung gegenübergestellt werden. Die Ergebnisse der französischsprachigen Schüler entwickeln sich in Richtung auf die der Gruppe "Speyer" hin. Ab der ersten Klasse des College (Klassenstufe 10) berücksichtigt die Mehrzahl der Schüler die syntaktische Position des Antezedenten für die Zuordnung des kritischen Pronomens im folgenden Hauptsatz, und die Ergebnisse entwickeln sich gemäß unseren Erwartungen und

285

Erwartungen und Routinen beim Lesen

gemäß den Vorgaben der muttersprachlichen Kontrollgruppe. Die Ergebnisse der einzelnen Aufgaben werden in Marschall (1996) diskutiert. Gruppe A nicht erwartet erwartet Speyer

% 10. Klasse

% 11. Klasse

%

12. Klasse % Summe Tab. l:

32 97 38 67 43 75 62 77 143

1 3 19 33 14 25 19 23 52

Gruppe B nicht erwartet

erwartet 22 92 35 65 42 70 70 75 147

2 8 19 35 18 30 23 25 60

Summe

57 111 117 174 402

Ergebnisse der deutschen Tests nach Aufgabentyp l

Die Ergebnisse der französischsprachigen Schüler entwickeln sich in Richtung auf die der Gruppe "Speyer" hin. Ab der ersten Klasse des College (Klassenstufe 10) berücksichtigt die Mehrzahl der Schüler die syntaktische Position des Antezedenten für die Zuordnung des kritischen Pronomen im folgenden Hauptsatz, und die Ergebnisse entwickeln sich gemäß unseren Erwartungen und gemäß den Vorgaben der muttersprachlichen Kontrollgruppe. Die Ergebnisse der einzelnen Aufgaben werden in Marschall (1996) diskutiert. Im französischen Testbogen wurde den Schülern eine Serie gleich konstruierter Aufgaben angeboten. Hier ein Beispiel: FrX (A) (B) (a) (b)

Suzanne ocrit une lettre pendant que Stephanie prend son petit dejeuner. Elle se leve... Stephanie prend son petit dejeuner pendant que Suzanne dcrit une lettre. Elle se leve... ... et va chercher une autre tranche de pain. ... et range ses papiers et sä plume.

Die erwartete Antwort für die Gruppe A ist diesmal (b), für B die Antwort (a). Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der Antworten: Gruppe A erwartet nicht erwartet 11. Klasse

% 12. Klasse

% Summe Tab. 2:

41 72 46 85 87

16 28 8 15 24

Gruppe B erwartet nicht erwartet

40 67 54 82 94

20 33 12 18 32

Summe

117 120 237

Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp l

Die Übersicht zeigt, dass in der 12. Klasse die Schüler die syntaktische Einbettung systematisch bei der Zuordnung des kritischen Pronomens berücksichtigen.

Matthias Marschall

286

In der 11. Klasse liegen die Ergebnisse darunter. Interessant ist dabei, dass auch in der 12. Klasse die Ergebnisse der muttersprachlichen Schüler unterschiedlich sind: Die deutschen Schüler weisen einen höheren Anteil erwarteter Antworten auf als die französischsprachigen. Auch im Vergleich der beiden Testergebnisse der 11. Klasse (französisch und deutsch) zeigt sich in den Antworten in der Fremdsprache ein höherer Anteil erwarteter Antworten. Das Testdesign ermöglicht, für beide Sprachen und im deutsch-französischen Vergleich die Kohärenz der Antworten der Versuchspersonen zu analysieren. Für die diskutierten Manipulationen nach dem ersten Schema habe ich überprüft, ob die Versuchspersonen in ihrem Antwortverhalten kohärent sind, d. h. ob sie in verschiedenen Manipulationen das gleiche Verhalten gewählt haben, oder ob die gleiche Person jeweils unterschiedlich auf die Manipulationen reagiert. Zunächst die Übersicht der deutschen Antwortkohärenz (die Prozentzahlen berechnen sich jeweils auf das Gesamt der Gruppe - also mit den inkohärenten Antworten):

10. Klasse % 11. Klasse % 12. Klasse % Summe Tab. 3:

erw. 26 46 38 67 50 62 114

Gruppe A nicht erw. inkohärent 24 7 12 42 9 10 16 18 24 7 9 30 23 58

erw. 21 39 33 55 55 59 109

Gruppe B nicht erw. 5 9 9 15 8 9 22

inkohärent 28 52 18 30 30 32 76

Summe 111

117 174 402

Kohärenz des antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in der deutschen Testbatterie

Diese Tabelle zeigt, dass die Versuchspersonen sich bei den erwarteten Antworten sehr kohärent verhalten. Das heißt wer in einer Manipulation die erwartete Antwort gewählt hat, wählt sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch in den übrigen Manipulationen. Die nicht erwarteten Antworten dagegen erweisen sich nur in einem geringen Maße als durchgängige Strategie. Das verstärkt unsere Ergebnisse insofern, als erwartete Antworten nicht zufallig gewählt werden, sondern auf der Basis einer Lesestrategie. Der Anteil inkohärenten Antwortverhaltens ist zwar insgesamt relativ hoch, nimmt jedoch von der 10. bis zur 12. Klasse zu Gunsten des kohärent erwarteten Antwortverhaltens ab. In den französischen Tests beobachten wir die gleiche Tendenz, allerdings mit ausgeprägteren Unterschieden zwischen den Klassenstufen (vgl. Tabelle 4). Auch hier treten die erwarteten Antworten durch einen hohen Kohärenzgrad hervor, während die nicht erwarteten Antworten nicht auf einer Strategie zu beruhen scheinen. Inkohärentes Antwortverhalten stellt zwar einen relativ großen Anteil dar, jedoch ist dieser im Vergleich zu dem Verhalten in den deutschen Tests deutlich geringer und nimmt auch hier (zusammen mit den kohärenten nicht erwarteten Antworten) zu Gunsten der erwarteten Antworten ab.

287

Erwartungen und Routinen beim Lesen Gruppe A erwartet nicht erwartet

41 72 23 85 64

11. Klasse

% 12. Klasse

% Summe Tab. 4:

Gruppe B erwartet nicht erwartet

16 28 4 15 20

40 67 27 82 67

20 33 6 18 26

Summe

117

60 177

Kohärenz des Antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in der französischen Testbatterie

Die Versuchspersonen, die an beiden Tests teilgenommen haben, zeigen sich auch sprachübergreifend kohärent (da die Gruppen in den beiden Tests jeweils neu verteilt wurden, können hier nur die erwarteten mit den nicht erwarteten Antworten verglichen werden - unabhängig von der Gruppe): U.Klasse %

12. Klasse % Summe Tab. 5:

erwartet

nicht erwartet

inkohärent

Summe

133 49 86 61 219

32 12 14 10 46

108 40 40 29 148

273 140 413

Kohärenz des Antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in beiden Testversionen (deutsch und französisch).3

Auch dieser Vergleich des Antwortverhaltens zeigt, dass die Antworten auf der Grundlage einer Strategie ausgewählt werden. In der Grafik (Abbildung 1) wird darüber hinaus noch deutlich, dass zwar die Kohärenz bei nicht erwartetem Antwortverhalten über beide Klassenstufen in etwa gleich bleibt, inkohärentes Antwortverhalten dagegen zu Gunsten erwartet kohärenten Antwortverhaltens abnimmt.

• erwartet -nicht erwartet - inkohärent

10 11. Klasse

Abb. l:

12. Klasse

Kohärenz des Antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in beiden Testversionen (deutsch und französisch)

Im französischen Testbogen ist eine Aufgabe enthalten, die sich von diesem Aufgabentyp dadurch unterscheidet, dass dem komplexen Satz mit den beiden 3

In diesen Ergebnissen sind die Kohärenzen aus mehreren Tests des gleichen Typs summiert. Daraus ergeben sich die hohen Gesamtzahlen.

288

Matthias Marschall

Nominalgruppen ein Hauptsatz vorgeschaltet ist, in dem eine der beiden Nominalgruppen schon genannt wird. Schema 2 zeigt die Struktur dieser Aufgabe. In der Aufgabe wurden folgende Kontexte mit den entsprechenden Antwortmöglichkeiten vorgegeben: Frll (A)

Dans le bar, il y avait deja trois camionneurs qui buvaient de la biere sans alcool. Deux collogues entrerent bruyamment, lorsque les trois s'appretaient payer et continuer leur chemin. Ils se retoumerent brusquement et... Dans le bar, il y avait dejä trois camionneurs qui buvaient de la biere sans alcool. Ils appretaient payer et continuer leur chemin, lorsque deux collogues entrerent bruyamment. Ils se retoumörent brusquement et ... ... les inviterent ä prendre place ä cöti d'eux. ..., regardant vers la porte, s'assurerent que personne ne les suivait.

(B) (a) (b)

Hauptsatz.

NO,

Hauptsatz, Pro/NG, NG2

Nebensatz. NG2 (B) NG, (A)

Hauptsatz Pro?

Antwort (a) Pro = NG, (b) Pro = NG2

Schema 2

Auf der Grundlage unserer obigen Überlegungen sowie der Ergebnisse der Aufgaben nach Schema l müsste das Pronomen im dritten Hauptsatz sich auf den Antezendenten im direkt vorausgehenden Hauptsatz beziehen. Für die Gruppe A erwarten wir also die Antwort (b), für B die Antwort (a). Die Ergebnisse zwingen uns das hier zu Grunde gelegte Modell zu modifizieren:

11. Klasse

% 12. Klasse

% Summe Tab. 6:

Gruppe A erwartet nicht erwartet 11 8 42 58 16 2 11 89 27 10

Gruppe B nicht erwartet erwartet

15 75 20 91 35

5 25 2 9 7

Summe

39 40 79

Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp 24

Die Ergebnisse der Gruppe B entsprechen voll und ganz unseren Erwartungen sie sind sogar im Vergleich zu den Ergebnissen der ersten Aufgabengruppe deutlich höher. In der Gruppe A dagegen sind die Ergebnisse umgekehrt. In der 12. Klasse wird eindeutig die (nicht erwartete) Antwort (a) bevorzugt, und in der 11. Klasse findet sich eine leichte Mehrheit für die gleiche Antwort. Auf der Grundlage der Ergebnisse der ersten Aufgabengruppe können wir eine Kontiguitätsstrategie als Erklärung dieser Wahl ausschließen. Die Ergebnisse dieser Aufgabe sprechen selbst schon gegen eine solche Interpretation, denn warum sollte die eine Gruppe eine syntaktische, die andere eine Kontiguitätsstrategie anwenden?

Für diesen Aufgabentyp gibt es in unseren Tests nur ein Exemplar.

289

Erwartungen und Routinen beim Lesen

In beiden Testgruppen wird die Antwort gewählt, die die Nominalgruppe aus dem ersten Hauptsatz wieder aufnimmt. Offensichtlich wirkt der vorgeschaltete Hauptsatz über den komplexen Satz hinweg auf die Zuordnung des kritischen Pronomens im dritten Hauptsatz. Im ersten Hauptsatz wird eine Nominalgruppe eingeführt, und diese Nominalgruppe wird als Thema im Gedächtnis behalten. Bei einer solch exponierten Einfuhrung stellt ein routinierter Leser eine Adresse für eine künftige Pronominalisierung bereit, auf die dann das Pronomen direkt bezogen wird. Leser, die eine solche Strategie anwenden, durchlaufen nicht einen rückwärts gewandten Suchprozess, der von dem Pronomen ausgelöst wird, sondern sehen schon bestimmte Nominalgruppen als Adressen zukünftiger Pronominalisierungen vor. Eine antizipatorische Lesestrategie also.5 Mit dieser Interpretation erklärt sich auch der relativ hohe Anteil erwarteter Antworten in der Gruppe B im Vergleich zu dem Anteil erwarteter Antworten in der ersten Aufgabengruppe: hier kumulieren zwei unterschiedliche Strategien. Sowohl unter Anwendung der syntaktischen Strategie - das Pronomen wird auf den Antezedenten des vorangehenden Hauptsatzes bezogen - wie auch der antizipatorischen Strategie wählen die Schüler der Gruppe B die Antwort (a). In der Version, die die Gruppe A bearbeitet hat, führen dagegen die beiden Strategien zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Gruppe A der 12. Klasse zeigt klar, dass die Schüler überwiegend die antizipatorische Strategie anwenden. Die Ergebnisse der 11. Klasse deuten jedoch darauf hin, dass die syntaktische Strategie noch eine wichtige Rolle spielt, dass im Übergang zur 12. Klasse eine Entwicklung stattgefunden hat. Für beide Sprachen (deutsch und französisch) habe ich einen erweiterten Kontext in etwas abgewandelter Form angeboten: Wieder wird an den Anfang ein Hauptsatz gestellt, in dem allerdings zwei Nominalgruppen vorgegeben werden. Im darauf folgenden komplexen Satz wird das kritische Pronomen im vorangestellten Nebensatz präsentiert. Schema 3 fasst die Struktur dieser Aufgabengruppe zusammen: Hauptsatz. NG| + NG2

Nebensatz, Pro?

Hautpsatz. NGi NG2

(B) (A)

Antwort (a) Pro = NG, (b)Pro = NG2

Schema 3

Hier ist nun zu erwarten, dass das kritische Pronomen jeweils auf die Nominalgruppe im übergeordneten Hauptsatz bezogen wird. So ergibt sich für die Gruppe A eine Erwartung zu Gunsten der Antwort (b), für die Gruppe B zu Gunsten der Antwort (a).

5

Die Möglichkeit der direkten Zuweisung von Pronomen zeigen auch Müsseler/Rickheit (1990) auf der Basis von Reaktionszeitmessungen auf.

290

Matthias Marschall

Der deutsche Kontext für diesen Aufgabentyp lautet folgendermaßen: DtX Gestern abend hat Thomas Wolfgang in der Stadt getroffen. Weil er mit ihm (A) (B)

über seine Ferienpläne reden wollte, hat Wolfgang ihn zu einem Glas Wein eingeladen. ... Gestern abend hat Thomas Wolfgang in der Stadt getroffen. Weil er mit ihm über seine Ferienpläne reden wollte, hat Thomas ihn zu einem Glas Wein eingeladen. ...

(a) (b)

... Thomas wollte eine dreiwöchige Seereise im Mittelmeer machen. ... Wolfgang wollte eine dreiwöchige Seereise im Mittelmeer machen.

Hier die Ergebnisse:

10. Klasse % 11. Klasse % 12. Klasse % Summe

Tab. 7:

Gruppe A erwartet nicht erwartet 11 8 58 42 8 11 42 58 13 14 48 52 32 33

Gruppe B erwartet nicht 14 78 16 80 25 81 55

erwartet 4 22 4 20 6 19 14

Summe 37

39 58 134

Ergebnisse der deutschen Tests nach Aufgabentyp 3

Diese Ergebnisse widersprechen unseren Voraussagen: Zwar ist die Verteilung der Antworten in der Gruppe B erwartungskonform, ja sogar relativ hoch im Vergleich zu den Ergebnissen der ersten Aufgabengruppe. Die Antworten der Gruppe A bewegen sich dagegen im Bereich der Unentschiedenheit mit einem leichten Übergewicht zu Gunsten der nicht erwarteten Antwort. Auch hier schlägt offensichtlich das Subjekt des ersten Satzes durch und setzt die syntaktische Regel, derzufolge ein Pronomen aus einem Nebensatz auf einen Antezedens im übergeordneten Hauptsatz bezogen werden muss, außer Kraft. Im Falle der Gruppe B kumulieren die beiden Zuordnungsstrategien und erklären so den hohen Anteil erwarteter Antworten. Die Ergebnisse des französischen Tests bestätigen diese Interpretation:

11. Klasse % 12. Klasse % Summe Tab. 8:

Gruppe A erwartet nicht erwartet 6 13 32 68 6 12 33 67 12 25

Gruppe B erwartet nicht erwartet 5 15 75 25 18 4 82 18 9 33

Summe 39

40 79

Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp 3

Wieder ist der Anteil erwarteter Antworten in der Gruppe B sehr hoch und in der Gruppe A überwiegen die nicht erwarteten Antworten. Die Ergebnisse der Gruppe A sind zugleich gegenüber denen der Gruppe B einigermaßen stabil. Das lässt die Vermutung zu, dass diese Version der Aufgabe den Schülern ein

Erwartungen und Routinen beim Lesen

291

nicht gänzlich entscheidbares Problem stellt: Ein gleichbleibender Teil der Testpersonen wendet hier eine syntaktische Strategie an. Fassen wir die Resultate der Aufgaben zu Pronominalisierung zusammen: In der Muttersprache sind die Schüler ab der 10. Klasse in der Lage, den syntaktischen Status der Antezendenten bei der Zuordnung eines nachfolgenden Pronomen zu berücksichtigen (Schema 1). Bei Vorgabe erweiterter Kontexte zeigt sich, dass die Schüler zunehmend eine antizipatorische Lesestrategie anwenden, bei der sie nicht von einem Pronomen ausgehend rückwärts gewandt nach einem Antezedenten suchen, sondern exponierte Nominalgruppen schon beim Auftreten mit einer Adresse für künftige Pronominalisierungen versehen und damit eine mögliche Pronominalisierung vorwegnehmen. Diese antizipatorische Strategie ist dabei so stark, dass sie in der Fremdsprache mit einer syntaktischen Interpretation in Konflikt gerät (vgl. die unentschiedenen Ergebnisse aller Klassenstufen bei Schema 3) bzw. syntaktische Interpretationen in der Muttersprache tendenziell ausschaltet.

4.2. Renominalisierung Ein weiterer Problembereich, der in den Testbögen untersucht wurde, betrifft Formen der Diathese. Dabei geht es um Möglichkeiten, die Subjektsfunktion mit Nominalgruppen zu besetzen, die nicht die Agensrolle innehaben. Die Frage, die dabei verfolgt wird, lautet, ob in Abhängigkeit von der Besetzung der Subjektfunktion unterschiedliche Erwartungen an den Text und seine Fortfuhrung herangetragen werden. In einer Aufgabe wird in einem Kontext eine Nominalgruppe vorangestellt. Im dritten Satz dieses Kontextes wird dann - in der Aktiv-Version - eine zweite Nominalgruppe in Subjektsfunktion eingeführt; in der Passiv-Version dagegen bleibt die erste Nominalgruppe weiterhin Subjekt, die zweite gesellt sich als Präpositionalobjekt hinzu. Den Testpersonen werden in den Antworten zwei Fortführungen angeboten, von denen eine die erste, eine andere die zweite Nominalgruppe pronominalisiert. Schematisch lässt sich dieser Aufgabentyp folgendermaßen darstellen: Hauptsatz. NG,

Hauptsatz. Pro?

Hauptsatz. NG 2 = Subjekt NG, = Subjekt

Diathese (Aktiv) (A) (Passiv) (B)

Antwort (a) Pro = NG, (b)Pro = NG2

Schema 4

Wenn die Besetzung der Subjektsfunktion für die Entwicklung von Texterwartungen genutzt wird, ergeben sich folgende Verteilungserwartungen: in der Gruppe A sollte die Antwort (b), in der Gruppe B die Antwort (a) überwiegen. Hier die entsprechende Aufgabe aus dem deutschen Test (die französische ist völlig parallel dazu konstruiert):

292

Matthias Marschall

DtVIII (A)

Gegen acht Uhr ist Alexander verhaftet worden. Er versuchte gerade, in ein Schmuckgeschäft einzubrechen, das vor einer Woche umgezogen war. Richter Reger hat ihn zu drei Monaten unter Bewährung verurteilt. . . . Gegen acht Uhr ist Alexander verhaftet worden. Er versuchte gerade, in ein (B) Schmuckgeschäft einzubrechen, das vor einer Woche umgezogen war. Er ist vom Richter Reger zu drei Monaten unter Bewährung verurteilt worden. . . . Auf dem Weg vom Gericht nach Hause ist er rückfällig geworden: diesmal war (a) es ein bankrottes Modegeschäft. Er meinte, dass Alexander durch die Lächerlichkeit seiner Tat schon genug ge(b) straft sei. Hier die Ergebnisse in der Übersicht: Gruppe A erwartet nicht erwartet Speyer

% 10. Klasse

% 11. Klasse % 12. Klasse % Summe Tab. 9:

9 82 12 63 16 84 18 67 46

2 18 7 37 3 16 9 33 19

Gruppe B erwartet nicht erwartet

5 63 12 67 11 55 18 58 41

3 38 6 33 9 45 13 42 28

Summe

19 37 39 58 134

Ergebnisse der deutschen Tests nach Aufgabentyp 4

Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich: in der Gruppe "Speyer" zeigt sich eine relativ geringe Sicherheit bei der Berücksichtigung der Subjektsfunktion in der Gruppe B, wogegen die Gruppe A ganz klar in ihrem Antwortverhalten auf eine Einbeziehung dieser Information hindeutet. Die Ergebnisse der französischsprachigen Schüler verraten eine deutliche Unsicherheit in der Behandlung dieser Aufgabe: In der Gruppe A zeichnet sich zwar eine Mehrheit im Sinne einer Berücksichtigung der Subjektsfunktion ab, in der Gruppe B deuten die Ergebnisse auf eine Unsicherheit hin. In keiner der beiden Gruppen ergibt sich jedoch eine klare Entwicklungslinie. Betrachten wir nun die Ergebnisse aus den französischen Tests: Gruppe A erwartet nicht erwartet 11. Klasse

% 12. Klasse

% Summe

15 79 16 89 31

4 21 2 11 6

Gruppe B erwartet nicht erwartet

9 45 16 73 25

11 55 6 27 17

Summe

39 40 79

Tab. 10: Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp 4

In der 12. Klasse scheint die Einbeziehung der Besetzung der Subjektsfunktion für die Erstellung von Texthypothesen erworben zu sein. In der 11. Klasse kollidiert sie offensichtlich mit einem anderen Interpretationsverfahren, worauf die Ergebnisse der Gruppe B hinweisen.

Erwartungen und Routinen beim Lesen

293

Da auch im deutschen Test - auch bei den muttersprachlichen Testpersonen (Speyer) - die Ergebnisse der Gruppe B näher an der Zufallsverteilung liegen, sind die Gründe für diese Reaktionen in der Aufgabenstellung zu suchen. Die Bevorzugung der Antwort (b) lässt sich inhaltlich erklären: Diese Antwortvorgabe gibt die Begründung für das Urteil, das im letzten Satz des Kontextes erwähnt wird. Dass auf die Nennung des Urteils seine Begründung folgt, ist nun naheliegender, als dass wieder auf das vorausgegangene Thema zurückgesprungen wird. Diese inhaltlich begründete Erwartung kollidiert in der Gruppe B mit der Berücksichtigung der Besetzung der Subjektsfunktion im vorausgehenden Satz, was in den Ergebnissen der 11. Klasse bzw. der deutschsprachigen Kontrollgruppe zu einem relativ geringen Anteil erwarteter Antworten führt. In der 12. Klasse hat sich bei den Genfer Schülern im französischen Test die Analyse der Form klar durchgesetzt.

5. Zusammenfassung Die hier vorgestellten Tests zeigen, dass grammatische Indikatoren der Textstruktur zu unterschiedlichen Zeitpunkten von den Lesern systematisch in ihre Lektüre einbezogen werden. Ein Transfer muttersprachlicher Strategien auf die Lektüre in der Fremdsprache findet nicht statt. Die Strategien werden in der Fremdsprache neu erworben, auch wenn die Sprachen durchaus vergleichbar funktionieren. Die Ergebnisse aus den französischen Tests zeigen eine deutliche Entwicklung hin zu einer globalen Lesestrategie, die über den Satzrahmen hinaus den Kontext zur Erstellung einer hypothetischen Textstruktur nutzt. Diese Tendenz geht soweit, lokale Pronominalisierungsregeln außer Kraft zu setzen (vgl. die Manipulationen nach Schema 3). In den deutschen Tests lässt sich ebenfalls eine Tendenz in Richtung auf eine globale Lesestrategie hin erkennen, allerdings führt hier diese Entwicklung nicht zu klaren Ergebnissen, sondern verwirrt das Antwortverhalten der Versuchspersonen in den kritischen Gruppen. Die Ergebnisse der Gruppen, die bei muttersprachlichen Versuchspersonen nicht erwartete Antworten produzieren, sind in der Fremdsprachensituation im Unsicherheitsbereich (ungefähr 50%). Die hier untersuchten Lemergruppen halten in der Fremdsprache im Zweifel an syntaktischen Strategien fest. Interessant ist zuletzt auch das Antwortverhalten in den Manipulationen nach Schema 4. In der Muttersprache zeichnet sich hier ein Übergang von einer inhaltlich probabilistischen Strategie, die auf allgemeines Weltwissen rekurriert, hin zu einer systematischen Einbeziehung der Textualität (Besetzung der Subjektsfunktion) ab. In der 11. Klasse folgt über die Hälfte der Versuchspersonen einer inhaltlich probabilistischen Strategie, derzufolge die Fortsetzung des Kontextes nach Antwort (b) bevorzugt wird. In der 12. Klasse haben sich

294

Matthias Marschall

die Verhältnisse umgekehrt. In der Fremdsprache liegen die Ergebnisse der entsprechenden Gruppe im Unentschiedenheitsbereich, eine klare Progression in Richtung auf eine Lesestrategie ist nicht zu erkennen. Insgesamt zeichnet sich in den Ergebnissen ein Wandel der Lesestrategie ab. Von einer akkumulativen, auf lokalen Analysen beruhenden Strategie, die gelegentlich allgemeines Weltwissen zur Entwicklung hypothetischer Textstrukturen nutzt, entwickeln die Versuchspersonen sich auf eine integrative Lesestrategie hin. Diese integrative Lesestrategie zeichnet sich dadurch aus, dass der Leser auf Grund der konkreten Textgestalt (Textualität) verlässliche Hypothesen über die Struktur des Textes entwickelt, die es ihm erlauben, die Fortsetzung des Textes vorauszusehen und die neu einlaufenden Informationen in eine hypothetische Struktur zu integrieren. Über die Erwartung inhaltlicher Fortführungen hinaus bietet diese Strategie die Möglichkeit, das Auftreten sprachlicher Ausdrücke zu antizipieren und so etwa eine "Adresse" für künftige Pronominalisierungen aufzubauen. Damit verringert sich vermutlich auch die Lesezeit, weil rückwärtsgewandte Suchprozesse überflüssig werden. Konkret auf mentale Verstehensprozesse bezogen kann man sich eine solche Antizipation als eine unterschwellige Aktivierung entsprechender Zellverbände vorstellen, die auf Grund dieser Aktivierung nahezu direkt auf kritische Pronominalisierungen wie in unseren Tests reagieren. Modellvorstellungen wie sie Kochendörfer (1997) entwickelt, erlauben eine Simulation solcher Bahnungsprozesse. Es wäre interessant zu überprüfen, inwieweit und wenn ja unter welchen Voraussetzungen sich die hier vorgestellten Beobachtungen zum Erwerb von Leseroutinen in einem Modell nachstellen lassen. Unabhängig davon ergibt sich aus den hier vorgestellten Ergebnissen und Tests zur Zeichensetzung im Deutschen, die ich wieder mit französischsprachigen Schülern durchgeführt habe (Marschall 1999), ein einheitliches Bild des fortgeschrittenen Leseerwerbs in der Fremdsprache: Auch bei Zeichensetzungstests (den Schülern wurden von Satzzeichen und von Satzgrenzen bedingten Großschreibungen bereinigte Texte vorgegeben) zeigt sich eine Tendenz zur Einbeziehung größerer Texteinheiten bei der Entscheidung für ein bestimmtes Satzzeichen. Auch hier verläuft die Entwicklung von einer zunächst lokal an Einzelsätzen, teilweise auch an bestimmten Ausdrücken (etwa wenn als systematisch als unterordnende Konjunktion und nicht als Vergleichspartikel interpretiert wird) orientierten Strategie weg zu einer Wahl der Satzzeichen, die über einzelne Propositionen hinweg komplexe Gesamtsätze aus Reihungen bildet. Zusammenfassend lässt sich die sich hier abzeichnende Konvergenz der Daten so interpretieren, dass von größeren Einheiten ausgehende top down- zesse im Laufe des Fremdsprachenerwerbs allmählich auf von einzelnen Ausdrücken her gesteuerte bottom «p-Prozesse abgestimmt werden. Dabei können die top DET, COMP und INFL< Zur Syntax funktionaler Kategorien und grammatischer Funktionen. Tübingen. Oomen, Ingelore (1977): Determination bei generischen. definiten und indefiniten Beschreibungen im Deutschen. Tübingen. Perennec, Marie Helene (1993): Was leistet der Null-Artikel, falls es ihn gibt? In: Vuillaume etal.(1993), 19-40. Perlmutter, David M. 1970: On the article in English. In: Manfred Bierwisch/Karl-Erich Heidolph (Hg.): Progress in linguistics. The Hague, 233-248. Plank, Frans (1992). Possessives and the distinction between determiners and modifiers (with special reference to German). In: Journal of Linguistics 28,453-468. Reibel, David / Schane, Sanford (Hg.) 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Die Einsamkeit des 'unbestimmten Artikels'

397

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Sten Vikner

Predicative Adjective Agreement Where German may be "easy", but French and Danish are not "easies"

1. Introduction German is a complicated language. Any speaker of e. g. French or Danish who has ever tried to learn German would agree to this. Coming from languages with only two genders and with no case outside the pronoun system, German, with three genders and with four cases throughout the nominal system, seems unjustifiably complicated, as if it had been specially designed to torment poor students.1 However, there is one area where German agreement morphology could not possibly be simpler, and where German is much easier for non-native speakers than e. g. French or Danish: predicative adjectives. Both gender and number distinctions, (la,d), disappear when adjectives are used predicatively, (lb,c,e, f): (1) German a. Ein grüner Bus / zwei grüne Busse a.M.SG.NOM green. M.SG.NOM. bus two green. PL.NOM buses b. Ein Bus ist grün_, (die anderen sind gelb) One.M.SG.NOM bus is green, (the others are yellow) c. Zwei Busse sind grün_, (die anderen sind gelb) Two buses are green, (the others are yellow) d. ein grünes Haus / zwei grüne Häuser a.N.SG.NOM green. N.SG.NOM house two green. PL.NOM. houses e. Ein Haus ist grün_, (die anderen sind gelb) One. N.SG.NOM house is green, (the others are yellow) f. Zwei Häuser sind grün_, (die anderen sind gelb) Two houses are green, (the others are yellow)

Compare this to the situation in French (and all the other Romance languages), where the inflectional differences found in the attributive construction are also found in the predicative construction: (2) French a.

un a.M

autobus vert_ / bus green.M.SG

deux autobus verts two buses green.M.PL

For help and native speaker judgments, I would like to thank Norbert Corver (Dutch), Hubert Haider, Marvin Herzog (Yiddish), Eric Hoekstra (Frisian), Gunnar Hrafn Hrafhbjargarson (Icelandic), Silvia Schlettwein (Afrikaans), Carl Vikner, and Eivind Weyhe (Faroese).

400 b. c. d. e. {.

Sten Vikner Un autobus est vert_, (tous les autres sont jaunes) One.M bus is green.M.SG, (all the others are yellow Deux autobus sont verts (tous les autres sont jaunes) Two buses are green.M.PL, (all the others are yellow) une maison verte / deux maisons vertes a.F house green.F.SG two houses green.F.PL Une maison est verte, (toutes les autres sont jaunes) One.F house is green.F.SG, (all the others are yellow) Deux maisons sont vertes, (toutes les autres sont jaunes) Two houses are green.F.PL, (all the others are yellow)

In the following sections, the situation in the other Germanic languages will be examined.

2. Scandinavian Danish (and also Norwegian and Swedish) are like French, exactly the same inflectional differences are found in the attributive construction and in the predicative construction: (3) Danish a. en gr0n_ bus / to gremne busser a.M/F green.M/F.SG bus two green.PL buses b. En bus er gr0n_, (de andre er gule) OneM/F bus is green.M/F.SG, (the others are yellow) c. To busser er gremne, (de andre er gule) Two buses are green. PL, (the others are yellow) a. et grant bus / to granne huse a.N green. N.SG house two green.PL houses e. Et hus er gront, (de andre er gule) One.N house is green.N.SG, (the others are yellow) f. To huse er granne, (de andre er gule) Two houses are green.PL (the others are yellow)

Not surprisingly, the situation is no simpler in those Scandinavian languages which have retained a rich inflectional system (cf. Vikner 1997 for an overview of the verbal inflectional systems), namely Faroese and Icelandic: (4) Faroese a. ein granur bussur / tveir granir bussar a.M green.M.NOM.SG bus two.M green.M.NOM.PL buses b Ein bussur er grimur One.M bus is green.M.NOM.SG c. Tveir bussar eru granir Two.M buses are green.M.NOM.PL d. eitt grant hus / tvey gr0n_ hus a.N green.N.NOM.SG house two.N green. N.NOM.PL houses e. Eitt hus er grant One.N house is green.N.NOM.SG f. Tvey hus eru gran_ Two.N houses are green.N.NOM.PL

Predicative Adjective Agreement

401

(5) Icelandic a. gracnn strsetisvagn / tveir grajnir straetisvagnar (a) green. M.NOM.SG bus two. M green. M.NOM.PL buses b. Einn straetisvagn er gramn One.M bus is green.M.NOM.SG c. Tveir stranisvagnar eru graenir Two.M buses are green.M.NOM.PL d. gramt hus / tvö gran_ hus (a) green.N.NOM.SG house two.N green.N.NOM.PL houses e. Eitt hus er graent One.N house is green.N.NOM.SG f. Tvö hus eru graen_ Two.N houses are green.N.NOM.PL

Agreement is thus found in predicative adjective constructions in all the Romance and all the Scandinavian languages, irrespective of whether these have a rich inflectional system (like Icelandic, Faroese, or French) or a poor one (like Danish, Norwegian, and Swedish).

3. West Germanic The obvious question now is whether German is unique in not having agreement in predicative adjective constructions. The answer is no. Two situations will have to be kept apart: Languages which trivially lack predicative adjective inflection, because they do not have any adjectival inflection at all, and languages which only lack adjectival inflection in predicative adjective constructions, but have adjectival inflection in attributive constructions. At least two Germanic languages lack adjectival inflection completely, namely English and Afrikaans: (6) English a. a green_ bus/ twogreen_buses b. One bus is green_ c. Two buses are green_ d. a green_ house / two green_ houses e. One house is green_ f. Two houses are green_ (7) Afrikaans a. 'n groen_ bus / twee groen_ busse a green bus two green buses b. Een bus is groen_ One bus is green c. Twee busse is groen_ Two buses are green_ d. 'n groen_ huis / twee groen_ huise a green house two green houses

402 e. f.

Sten Vikner Een One Twee Two

huis house huizen houses

is is is are

groen_ green groen_ green

The other West Germanic languages all lack adjectival inflection in predicative adjective constructions only, not in attributive adjective constructions. We have already seen the German data in (1) above, and the following examples show that the situation is completely parallel in Dutch, Frisian, and Yiddish: (8) Dutch a b. c. d. e. f.

een groene bus / twee groene bussen a green.M/F bus two green.PL buses Een bus is groen_ One bus is green Twee bussen zijn groen_ Two buses are green een groen_ huis / twee groene huizen a green.N.SG house two green.PL houses Een huis is groen_ One house is green Twee huizen zijn groen_ Two houses are green

(9) Frisian a. in griene bus / twa griene bussen a green.M/F bus two green.PL buses b. len bus is gnen_ One bus is green c. Twa bussen binne grien_ Two buses are green d. in grien_ hus / twa griene huzen a green.N.SG house two green.PL houses e. len hüs is grien_ One house is green f. Twa huzen binne grien_ Two houses are green (10) Yiddish a. a griner oytobus/ tsvey grine oytobusn a green.M.SG.NOM bus two green.PL buses b. Eyn oytobus iz grin_ One bus is green c. Tsvey oytobusn zaynen grin_ Two buses are green d. a grin_ hoyz / tsvey grine hayzer a green.N.SG house two green.PL houses e. Eyn hoyz iz gnn_ One house is green f. Tsvey hayzer zaynen grin_ Two houses are green

Predicative A djective Agreement

403

The possibilities given for Yiddish in (10) above do not give the complete picture. In plural, Yiddish predicative adjectives might seem also to be possible with agreement: (11) Yiddish Tsvey Two

oytobusn zaynen grine buses are green. PL

However, I shall follow e.g. Weinreich (1971, 308), Katz (1987, 87), and Lockwood (1995, 112) in taking the agreeing form in (11) to be a nominalisation. Lockwood (1995, 112): "Exceptionally frequently, [Yiddish] adjectives (including participles) in predicative position are nominalisations". In other words, (11) would correspond to English "two buses are green ones" (see Olsen 1988, 345 and Delsing 1993, 86 on nominalised attributive adjectives). This analysis is based on the fact that the possibilities for inflected predicative adjectives in the singular are: (12) Yiddish a. *Eyn oytobus iz b. Eyn oytobus iz a

griner griner

One bus is (a) green.M.SG.NOM which makes it clear that the Yiddish for "one bus is green" must use an uninflected adjective, cf. (lOb), and that the only way to have an inflected adjective in a predicative construction is to use the expression corresponding to "one bus is a green one", namely (12b). Also Afrikaans merits a few more remarks, even though there is no reason to question the picture given in (7) above, that Afrikaans has no predicative adjective agreement. It is the situation concerning attributive adjectives in Afrikaans which is more complex than (7) might indicate. Like predicative adjectives, attributive adjectives never show agreement in Afrikaans. In some cases, however, e. g. if they are polysyllabic (Donaldson 1993, 163, Ponelis 1993, 366), attributive adjectives have an affix (-e), but although this ending is diachronically derived from an agreement ending (Ponelis 1993, 364), it shows no distinctions of number, gender, or case:2 (13) Afrikaans a. 'n reusagtige a huge.ATT b. Een bus is One bus is c. Twee busse is Two buses are d. 'n reusagtige a huge.ATT

2

bus / twee reusagtige busse bus two huge.ATT buses reusagtig_ huge reusagtig_ huge huis / twee reusagtige huise house two huge.ATT houses

Presumably, it is not a coincidence that the remains of an agreement affix is found only on the attributive adjectives in Afrikaans, and not on the predicative adjectives. Unfortunately, the analysis to be suggested below will have nothing to say about this.

404 e. {.

Sten Vikner Een One Twee Two

huis house huise houses

is is is are

reusagtig_ huge reusagtig_ huge

Summing up, the overall picture is as follows: Of all the Romance and Germanic languages, only the West Germanic ones lack predicative adjective agreement.

4. Relating the differences to other differences The observations made in the preceding sections are not completely new. They have also been made, at least partially, in e. g. Haugen (1982, 173), Abraham (1995, 245), and Kester (1996, 89 and 92), although these works merely note the difference and do not try to relate them to other differences between the languages in question. An important goal of an account of the adjective agreement facts should be to explain why the West Germanic languages lack predicative adjective agreement, why the Scandinavian and the Romance languages have it, and why it is not the other way around. This is only possible if the adjective agreement facts are related to other properties of the languages in question. According to Webelhuth's (1992, 57) analysis of adjectival agreement in German and English, German adjectives are not as such able to be attributive (in Webelhuth's terms: to be a modifier of N-bar), so they have to be inflected in order to acquire this property, which in German is a property of the adjectival inflectional affix. In English, on the other hand, this property is a property of the category adjective as such. Webelhuth (1992, 58): The obligatory agreement on German attributive adjectives "is highly idiosyncratic compared to the English one". However, the situation in German, where attributive adjectives show agreement, is by far the most common situation within the Germanic and Romance languages, whereas the situation in English, where attributive adjectives show no agreement, is comparatively rare (only found in English and Afrikaans). It furthermore remains unclear why in Romance and Scandinavian, even predicative adjectives should obligatorily have an inflectional affix, given that the role of this affix in German is to make it possible for an adjective to be attributive. Lattewitz (1997, 54) derives the lack of agreement of predicative adjectives in German, Dutch and English from predicative AdjPs not being embedded inside an AgrAdjP: In attributive adjective constructions in German and Dutch, the AdjP is embedded inside an AgrAdjP, but in English, attributive adjectives lack such an AgrAdjP, and so do predicative adjectives in German, Dutch and English. It remains unclear why in Romance and Scandinavian, even predicative adjectives should obligatory have an inflectional AgrAdjP.

Predicative Adjective Agreement

405

As the crucial property (to Webelhuth: the property of being attributive, to Lattewitz: the presence of AgrAdjP) is not related to any other differences between German (and Dutch) on one hand and English on the other, and as no account is given of languages where predicative adjectives agree, Webelhuth's and Lattewitz's analyses make no predictions as to which kind of languages should behave like German and which should not. In the following, I would like to suggest an analysis which relates the facts discussed to other properties of the languages in question. So far we have seen that the two groups could be described as (14) 1. Predicative adjective agreement: 2. No predicative adjective agreement:

Romance, Scandinavian West Germanic

but unless this is related to other differences between the languages, it remains as descriptive as the treatments cited above. I shall suggest that the crucial property is whether verbs and adjectives are head-initial or head-final. This makes a slightly different division between the languages: (15) 1. Head-initial VPs and AdjPs: 2. Head-final VPs and AdjPs:

English, Romance, Scandinavian Afrikaans, Dutch, Frisian, German, Yiddish

It is not always possible simply to take the surface word order as an indication of head-finality (or the opposite). Cases where surface word order would seem to conflict with the above classification include the assumption that Yiddish has a head-final VP. I shall follow e. g. Hall (1979), Geilfuß (1991) and Haider/Rosengren (1998, 78-81), against e.g. Santorini (1993), Diesing (1997), in assuming Yiddish to be an OV-language. This is based on a number of parallels between Yiddish and the (other) Germanic OV-languages, e. g. the possibility of scrambling. Now English belongs to group (15.1) where it before belonged to group (14.2). This regrouping of English has no empirical consequences, however, as it merely says that English may have predicative adjective agreement, not that it has to have it.

5. The subject originates inside the predicative AdjP Let us for a moment disregard the absence or presence of adjective agreement, and turn to the general analysis of predicative adjectives. According to Delsing (1993, 84), "normally, linguists assume, implicitly or explicitly, that predicative adjectival agreement is an instance of Spec-head agreement, where the XP subject is base-generated as the specifier of AP and raised to SpecIP, to get Case". This analysis is also found in, among others, Couquaux (1981), Stowell

406

Sten Vikner

(1981, 262), Burzio (1986, 154), Vikner/Sprouse (1988, 19), and to some extent even in Bach (1967, 467). Chomsky (1995) also belongs in this group, as he gives the following analysis of predicative adjectives (1995, 354, (his example 184)): (16) English John is [AdjP t, [Adj. t2 intelligent]] The subject John is base-generated in the position marked t2, i.e. inside the complement of the Adj° intelligent. It then moves to the position marked ti, i.e. AdjP-spec, where adjectival agreement is "checked". Finally it moves out of the AdjP into the subject position of the clause. I shall follow this general line of analysis and assume that the subject of a predicative adjective construction has to be linked (presumably by movement) to an empty category inside AP (which represents an empty argument slot in the argument structure of the adjective). If we assume that such a link takes the form of a chain that includes AdjP-spec, the result is adjective agreement. If AdjP-spec is not part of such a chain, there is no adjective agreement. This also means that the copula in a predicative adjective construction does not assign any thematic role to its subject. This assumption is supported by the fact that in the syntax of English, the copula be falls into the same group as auxiliary be, have, and do (which do not assign any thematic roles, and which occur to the left of sentential adverbs and do not require rfo-insertion in negated sentences) and not into the same group as all other main verbs, including main verb have and do (which assign thematic roles, and which occur to the right of sentential adverbs and require Jo-insertion in negated sentences), cf. Vikner (1999, section 5) and references cited there.

6. Extraction does not always have to go via AdjP-spec I assume that in languages where the AdjP is head-initial, the subject DP of a predicative adjective construction is base-generated either inside the complement of Adj°, (17a, b), or in AdjP-spec, (17c). It does not matter for the purposes of this analysis whether a given DP is base-generated in one or the other of these two positions, as long as any DP that is moved out of the AdjP (by means of Α-movement) has to move via AdjP-spec, i.e. as long as (17b) is ruled out. This is trivially the case for DPs base-generated in AdjP-spec, and I will also assume that it holds for DPs base-generated inside the complement of Adj°. As the movement in question is an Α-movement, it would follow from e. g. Rizzi (1990, 93), which basically says that any particular type of movement may not skip any specifiers of the same type. As both IP-spec and AdjP-spec are potential argument positions, i.e. Α-positions, the movement to IP-spec may not skip AdjP-spec, cf. the impossible (17b), in which an attempt is made to skip the specifier:

Predicative A djective Agreement

407

(17)a AdjP 1 Adj1

»pec

1

I A° green

b. *

((AdjP-spec is part of the chain) 1 Compl two houses 1

AdjP I Spec

The result is adjective agreement I Adj'



I



(AdjP-spec is part of the chain)

I

A" green

c.

Compl two houses

AdjP I Spec two houses

«

The result is adjective agreement

1

The result is adjective agreement I Adj I

I

A° green

(AdjP-spec is part of the chain)

I

Compl

As the analysis suggested here can account for predicative adjective agreement, both if the subject of the clause is base-generated inside the complement of Adj°, (17a), and if it is base-generated in AdjP-spec, (17c), the analysis has nothing to say about whether ergative (unaccusative) adjectives exist, cf. the debate in e.g. Burzio (1986, 74, n 13), Cinque (1990), and Abraham (1995, 268). Adapting the analysis of head-final VPs in Haider/Rosengren (1998, 48-51), I would like to suggest that in languages where the AdjP is head-final, there is one more option, in addition to base-generation in the complement of Adj°, (18a,b), or in AdjP-spec, (18c): Base-generation in a position left-adjoined to AdjP, (18d). If a DP is generated in this position, movement of the DP out of AdjP does not have to go via AdjP-spec. Leaving the AdjP from the adjoined position without going through AdjP-spec could not be seen as skipping AdjPspec, (18d), as opposed to the impossible (18b), where leaving the AdjP without going through AdjP-spec counts as skipping:

408

Stert Vikner

(l 8) a.

AdjP

The result is adjective agreement 1 Adj'

Sp»ec

1

I Compl two houses

1 A° green

p

b. * I Spec

"

AdjP I

"

The result would have been no adjective agreement

I Adj'

I

(AdjP-spec is not part of the chain) I

Compl two house s

c.

(AdjP-spec is part of the chain)

A° green

AdjP I Spec two houses

The result is adjective agreement I Adj' |

Compl

d.

(AdjP-spec is part of the chain) A° green

AdjP

ι

I

Spec two houses

The result is no adjective agreement

ι

Adj' | I Spec

(AdjP-spec is not part of the chain) I Adj'

r Compl

I

ι

A° green

Why do head-final AdjPs only base-generate the subject DP in the position adjoined to AdjP, (18d), when it should also be possible to do this in AdjP-spec, (18c), or in the complement of Adj°, (18a)? The reason why (18a,c) need to be ruled out is that they would lead to predicate adjective agreement in precisely those languages where this is not found.

Predicative Adjective Agreement

409

One possible answer to the above question is that the derivation with the subject DP base-generated adjoined to AdjP, (18d), is more economical than derivations with the DP base-generated in AdjP-spec, (18c), or in the complement of Adj°, (18a). (18d) could either be more economical than (18c) (and a fortiori (18a)) because the first step involved in the movement to IP-spec is shorter, as it starts out somewhat higher in the tree, or because the movement to IP-spec involves fewer steps. The latter would only work if all extractions from AdjP have to go via a position adjoined to AdjP, cf. e. g. Chomsky (1986, 76) on Α-movement of a DP out of VP having to go via a position adjoined to VP. A potential problem with this particular analysis is that it would be impossible to tell ergative (unaccusative) adjectives apart from unergative ones, and it is thus incompatible with the analysis in Cinque (1990). At any rate, for the analysis to work, not only (18b), but also (18a, c) would have to be ruled out. Another question that arises in connection with (17) and (18) above is: Why is it only possible to base-generate the subject DP in a position adjoined to AdjP if the AdjP is head-final? In other words, why is there no head-initial version of As stated above, I adopt Haider/Rosengren's (1998, 48-51) assumption that a lexical X° may license any positions inside its maximal projections (i.e. including adjoined positions, cf. e. g. Chomsky 1986, 9), provided the licensing takes place in the specified direction. In head-initial XPs, this direction is rightwards ("progressive licensing"), and in head-final XPs, this direction is leftwards ("regressive licensing"). The reason why there is no well-formed version of (18d) in head-initial AdjPs, i.e. base-generation of the subject DP in a position left-adjoined to AdjP, is thus that any element base-generated in this position would not be licensed by a head-initial Adj°, because a head-initial Adj° is only able to license to the right.3

The question is then, if the licensing direction is so crucial, why is it not possible to base-generate the subject DP in a position right-adjoined to (a headinitial) AdjP? The answer is that it is universally impossible to adjoin to the right. It is only the complement of lexical X°s which may occur either to the left or to the right of this X°. At all other points in the syntax, the sequence is fixed. Here I follow Haider/Rosengren's (1998, 48) Basic Branching Condition (BBC): "The branching node of the projection line is to the right of its sister node" (cf. Haider's 1993, 28 Binary Branching Conjecture and Haider's 1997, 15 Branching Constraint). In other words: According to the BBC, all adjoined positions, all specifiers, and all non-lexical (i.e. functional) heads are exclusively found on left branches.

This gives rise to the question of how specifiers are licensed in X°-initial XPs. Haider/ Rosengren (1998, 49): By movement of the lexical X° to a higher X°-position. This will, however, also create a new specifier position, which any Α-movement extraction would have to pass through, again predicting agreement.

410

Sien Vikner

A definite weakness of the present analysis is that it does not tie predicative adjective agreement to attributive adjective agreement, i.e. I have nothing new to say about why attributives agree in almost all the Germanic and Romance languages (the only exceptions that I am aware of are English and Afrikaans). This weakness, however, is one that this analysis shares with all other analyses that I know of. Not that there is a scarcity of analysis of attributive adjective agreement (cf. also the discussion in section 4 of Webelhuth 1992 and Lattewitz 1997), it is just that none of them connect the two kinds of adjective agreement to each other. Furthermore, there seems to be very little consensus about attributive adjective agreement in the literature, cf. the summary in Delsing (1993, 78-93). Cf. also the following remark from Chomsky (1995, 382, n22): "We still have no good phrase structure theory of such simple matters as attributive adjectives, [...]".

7. Predictions The analysis presented above predicts that languages with head-final AdjPs never have predicative adjective agreement. However, there is not much agreement in the literature as to what might count as a reliable independent indication of whether a given language has head-final AdjPs, and therefore this prediction is difficult to test (cf. e. g. that Haider/Rosengren (1998, 27) take the German AdjP to be head-final, whereas Corver (1997) takes the Dutch AdjP to be headinitial). If it is additionally assumed, as was done in section 4 above, that head-finality in the AdjP cooccurs with head-finality in the VP (at least in the Germanic and Romance languages), the analysis yields predictions that are much easier to test, namely that no OV-languages have predicative adjective agreement. As outlined in section 4 above, this turns out to be correct for all the Germanic languages, that is, for all the Germanic languages spoken today. For one of these languages, namely Yiddish, the situation with respect to head-finality in the VP and in the AdjP is not clear. In so far as the analysis here is on the right track, it lends some support to the grouping of Yiddish with the Germanic OVlanguages, as also suggested by e.g. Hall (1979), Geilfuß (1991) and Haider/Rosengren (1998, 78-81), cf. the discussion of (15) at the end of section 4 above. Testing the prediction for earlier stages of the Germanic languages is made difficult both by the scarcity of evidence (for many of the older Germanic languages only few or no texts have survived) and by the fact that the evidence that does exist is not always unambiguous. It seems that the older languages fall into three groups:

Predicative Adjective Agreement

411

Languages with no predicative adjective agreement, e. g. Middle Dutch (Burridge 1993, 248) and Old Frisian (Markey 1981, 169). As these languages are always taken to be OV-languages, this is as expected. Languages where predicative adjectives do not show any agreement in the majority of the cases, e. g. Old English (Brunner 1965, 236, Mitchell 1985, 62), Old High German (Paul 1917, 164, Penzl 1986, 55), and Middle High German (Paul 1998, 360, Penzl 1989, 82). If this is taken as evidence that predicative adjectives do not agree, then this is as expected, as these languages are commonly taken to be OV-languages. If, however, this is taken to show that some variants/dialects of the three languages did have predicative adjective agreement, then this is unexpected, in that at least for Old and Middle High German, it is not commonly assumed that they had any variants/dialects which were VO. And finally, the third group of older Germanic languages is languages where predicative adjectives do show agreement, e. g. Old Norse (Nygaard 1905, 68) and Gothic (Braune 1956, 74). This is not unexpected for Old Norse, if e. g. Nygaard (1905, 357-358) and Hroarsdottir (1999, 318-319) are right that Old Norse was an VO-language, like the modem Scandinavian languages (contra Faarlund (1990, 110), who takes Old Norse to be non-configurational). It is, however, rather unexpected for Gothic, at least if Eythorsson (1995, 22), Ferraresi (1997, 34) and references cited there are right that Gothic was an OVlanguage. Summing up, the data that go against the predictions made are that Old and Middle High German show predicative adjective agreement in some cases, and that Gothic always show predicative adjective agreement. However, given that all the present-day languages are accounted for by the analysis, I am tempted to not take Old and Middle High German to be problematic, since the unexpected cases are in the minority, which leaves only Gothic. Notice that it is of course possible to take some of the older languages, e. g. Gothic, to have head-final VPs and head-inital AdjPs, but such an assumption would raise the question of why this kind of combination is not possible in the modern languages, and thus completely undermine the predictive abilities of the analysis. The analysis also makes another prediction, still under the assumption that head-finality in the AdjP and head-finality in the VP cooccur. In the languages where VPs and AdjPs are head-final, we would not only expect there to be no agreement with Adj° when an argument is extracted under Α-movement from AdjP (i.e. in predicative adjective constructions), we would also expect there to be no agreement with V° when an argument is extracted under A-movement from VP. The relevant constructions are those where a non-finite verb in V° shows agreement with an argument extracted to the subject position, e. g. passive and unaccusative (ergative) constructions, as the following French examples show (based on Kayne 1985, 77 (his example 31), 84 (his example 74)): (19) French a. Ce bureau; a 6te [Vp U repeint_ tj] This desk has been repainted.M.SG

412 b.

Sien Vikner Cette

tablei a

This

table has been repainted.F.SG

6t6

[v? tj repeinte

ti]

(20) French a. Les soldatSi sont [vp tj morts t] il y a des annoes The soldier are died.M.PL it there has of years "The soldiers have died years ago" b. Les victimesj sont [vp tj mortes tj] il y a des annees The victims are died. F. PL it there has of years "The victims have died years ago"

The subjects are base-generated in the object position, i.e. following the main verb, then moved to VP-spec, and from there to the subject position in IP-spec. Agreement with the participles is triggered when the subjects move through VPspec. Under the present analysis, such agreement should never occur in the OVlanguages, as here there would be no need to move through VP-spec, cf. the argumentation above why Α-movement out of AdjP does not have to go via AdjPspec in head-final AdjPs. This prediction seems to be correct, at least for the Germanic OV-languages spoken today, which never show agreement with the participles in constructions like (19) and (20), even though the same participles might show agreement used in other constructions, e. g. used attributively.4 Notice that no predictions are made about subject-verb agreement, since this is agreement between the subject and not the lexical head, V°, but a functional one, the name of which vary between different analyses, namely Infl° (1°) or AgrS° or, according to Chomsky (1995, 377), T°.

8. Conclusion In this paper, I have tried to argue that languages with head-final AdjPs and VPs do not show predicative adjective agreement, nor any other kind of agreement with Adj° or V° under Α-extraction, because in these languages such extraction may not go via the AdjP-spec or VP-spec. This analysis accounts for facts which, as far as I am aware, have not been accounted for so far. The predictions made for the modem languages seem to hold (none of the OV-languages have predicative adjective agreement), even if the predictions made for the older languages are not quite as impressive (here the main problem case would seem to be Gothic). The paper started out by noting a paradox, namely how unexpected it is that a language with so much agreement morphology as German lacks predicative adjective agreement, when predicative adjective agreement is found in a language with so little agreement morphology as Danish. This analysis thus reOf course, such agreement may also be missing in VO-languages. The prediction is only that such agreement cannot exist in OV-languages, but that it may exist in VO-languages. Many VO-languages nevertheless do not have agreement with the participles in constructions like (19) and (20), e. g. English or Spanish. Also in Danish, agreement is not complete, there is a difference between verbal passives (without agreement) and adjectival passives (with agreement), cf. the examples in Allan et al. (1995, 321-22).

Predicative A djective Agreement

413

solves this paradox by setting the lack of predicative adjective agreement in the OV-languages apart from other kinds of lack (or loss) of agreement, in attributing it to a particular structural cause, head-finality. This allows us to keep the general view that both German and Icelandic are languages which tend to express agreements with respect to many categories (person, number, gender, case, ...) , whenever they have the chance, whereas Danish, Dutch, and English are languages which tend to either not express agreement at all or only express agreement with respect to very few categories.

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Sten Vikner

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Iwar Werlen

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

l. Einleitung In seinen Arbeiten zu den zweisprachigen Städten Freiburg und Biel führte Gottfried Kolde (1981, 165) den Begriff der medialen Diglossie zur Beschreibung der Deutschschweizer Sprachsituation ein. Sieber/Sitta (1984; 1986) nahmen ihn in einflussreichen Arbeiten wieder auf und seither ist er Standard geworden, auch wenn einige wenige Autoren seine Angemessenheit in Frage stellten (siehe Werlen 1998). In meinem Beitrag soll nicht diese Frage im Zentrum stehen, sondern die Rolle der Schule bei der Konstruktion dieser Diglossie. Dabei geht es nicht um die Verteilung von Standard und Dialekt in der Schule, wie sie von Sieber/Sitta (1986), Kröpf (1986) und anderen untersucht wurde, auch wenn dieser Gesichtspunkt hier eine Rolle spielt. Ich stütze mich auf die Arbeiten und Materialien des Projekts "Zweitsprachunterricht im obligatorischen Schulsystem" (ZIOS) im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms "Wirksamkeit unserer Bildungssysteme".

2. Der Hintergrund: das Projekt "Zweitsprachunterricht im obligatorischen Schulsystem" (ZIOS) Ausgangspunkt von ZIOS1 war die Annahme, dass das Erlernen einer L2 in der Schule unter den institutionellen Bedingungen der Schule geschieht - zuerst einmal eine triviale Hypothese, deren Ausformulierung aber einige Konsequenzen zeigt. Schule bedeutet unter anderem, dass ein gewisses Zeitbudget, das prinzipiell nicht erweiterbar ist, als Ressource gilt, die unter verschiedene Fächer aufgeteilt werden muss. Die institutionellen Bedingungen des Stundenplanes und der Stundendotation stellen den Ressourcenrahmen für Lehrpersonen und Schülerinnen dar. Innerhalb dieses Rahmens konstruieren die Lehrpersonen und die Schülerinnen und Schüler zusammen und interaktiv den Lerngegenstand. Diese Auffassung sieht den Lemgegenstand also nicht einfach als gege1

Das Projekt ist näher beschrieben in Werlen/Zimmermann (l 996) und Ziberi-Luginbühl (1999). Der Schlussbericht ist bisher unveröffentlicht. Resultate zum Französischunterricht sind Gegenstand von Späni (im Druck).

416

Iwar Werlen

ben an, sondern betrachtet ihn insbesondere aus der Sicht der Lernenden als etwas, was durch das interaktive Klassengeschehen erst hergestellt wird. Das Lehrwerk spielt in diesem Konstruktionsprozess die Rolle einer unterstützenden Ressource. Im L2-Unterricht ist der Lerngegenstand die (den Schülerinnen und Schülern noch) unbekannte Sprache L2. Es besteht natürlich eine Asymmetrie des Wissens zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern; die Lehrperson ist bei der Konstruktion des Lerngegenstandes die Garantin der Übereinstimmung von konstruiertem Lemgegenstand und (unterstellter) Wirklichkeit. Es kommt hinzu, dass Spracherwerb in der Schule nicht unter dem kommunikativen Druck des außerschulischen, ungesteuerten Spracherwerbs steht. In der Schule steht immer schon eine Sprache - hier der Dialekt - als Kommunikationsmittel zur Verfügung. Unsere Annahme war, dass der Erwerb des Hochdeutschen in der Deutschschweizer Sprachsituation strukturell ähnlich dem ist, was im L2-Unterricht geschieht: eine Sprache wird gemeinsam von Lehrperson und Schülerinnen und Schülern konstruiert. Der Unterschied zwischen der Situation der Erst- und Zweitklässler und der Fünft- und Sechstklässler ist dabei doppelt: Erst- und Zweitklässler erlernen die Kulturtechniken des Schreibens und Lesens gemeinsam mit dem Hochdeutschen und die Distanz zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch ist deutlich geringer als jene zwischen Deutsch und Französisch. Alle Lernprozesse der Kinder zeigen, dass sie Transferregeln bilden, die das systematische Verhältnis von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch betreffen (vgl. hierzu Schneider 1998 und Häcki Buhofer/Burger 1998). Französischlernerinnen und -lemer in der 5. Klasse dagegen verfügen nur über minimale Kenntnisse des Französischen (wir haben das mit einem einfachen Test überprüft) und sie können kaum Bestandteile des Französischen, die in ihrem Wissen vorhanden sind, beim Erlernen der L2 zu Hilfe nehmen.2 Die Schülerinnen und Schüler verfügen in der 5. Klasse schon über die Fähigkeiten des Schreibens und Lesens; sie müssen zwar für die L2 umgestellt, nicht aber neu erworben werden. Hier ist gleich einem Missverständnis in Bezug auf das Schreiben und Lesen vorzubeugen. Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen dem Medium der Kommunikation (also dem Schreiben oder dem Sprechen, resp. dem Lesen oder dem Hören) und den Begriffen der Literalität und Oralität, die den Stil der Kommunikation betreffen. Der Erwerb der Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bedeutet noch nicht den Erwerb von Literalität (zum Thema Literacy siehe Barton 1994); Lesen und Schreiben sind vielmehr Voraussetzungen für eine literale Kultur. Aber das Umgehen mit gedruckten oder geschriebenen Texten ist auch Einübung von Literalität. Insofern lernen die Kinder nicht nur lesen und schreiben, sondern werden auch in Aspekte der Literalität eingeführt. "Mediale 2

Ausnahmen sind Schülerinnen und Schüler mit Personen in der engeren Familie (Elternteil, Grosseltern etc.), die Französisch in der Familie sprechen. Selbst für Schülerinnen und Schüler aus Biel/Bienne gilt jedoch, dass nur sehr wenig Französisch in ihrem Wissen vorhanden ist.

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

417

Diglossie" lässt sich dann doppelt verstehen: als mediumgebunden oder als Bindung an den einen oder ändern Stil. Wie Biber (1988) in einer bekannten Arbeit gezeigt hat, sind die beiden Dichotomien nicht diskret, sondern kontinuierlich. Auf dem einen Extrempol findet sich dann oraler Stil im Medium von Sprechen und Hören und literaler Stil im Medium von Schreiben und Lesen. Mediale Diglossie lässt dann durchaus geschriebenen Dialekt und gesprochenes Hochdeutsch zu - aber geschriebener Dialekt würde oralem, gesprochenes Hochdeutsch literalem Stil entsprechen. In Werlen (1998) habe ich dies etwas ausführlicher diskutiert, siehe auch Werlen (2000). Unser Vorgehen umfasste zwei unterschiedliche Aspekte: Zum einen wollten wir mit Aufgabenstellungen zu Beginn, in der Mitte und am Ende der Untersuchungszeit feststellen, welche Fähigkeiten die Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Sprechen und Hörverstehen, Lesen und Schreiben und freier Kommunikation erworben hatten; dazu prüften wir auch noch Einstellungen gegenüber verschiedenen Sprach formen. Während je zwei Jahren machten wir zum zweiten regelmäßige Unterrichtsbeobachtungen; die Stunden wurden auf Video aufgenommen und später teilweise transkribiert. Es wurden auch Lehrmaterialien und Aufgabenblätter gesammelt, jedoch nicht überall gleich systematisch. Die Beobachtungen fanden in den Schuljahren 1994/95 und 1995/96 statt. Der Deutschunterricht wurde 1994/95 in drei Klassen (Stadt Bern, Bern Land, Stadt Biel/Bienne) untersucht; aus schulintemen Gründen war es uns 1995/96 nicht mehr möglich, die Beobachtungen in Bern Land weiterzuführen. Auf den Französischunterricht gehe ich im Folgenden nicht näher ein.

3. Der Ausgangspunkt: was kennen und wissen die Schülerinnen und Schüler bei der Einschulung vom Schweizerdeutschen und was vom Hochdeutschen?

3.1. Schweizerdeutsch Deutschschweizer Kinder, die eingeschult werden, sprechen normalerweise einen schweizerdeutschen Dialekt. In den von uns beobachteten drei Klassen sind das im Allgemeinen Varianten des Bemdeutschen, obwohl einzelne Kinder auch andere Dialekte sprechen. Die meisten Kinder lassen sich, ihrem Alter entsprechend, als vollständig native und kompetente Sprecherinnen und Sprecher des jeweiligen Dialektes bezeichnen. Sie können Gespräche auf Dialekt führen, verstehen, was ihnen gesagt wird, und können altersgemäße Geschichten erzählen. Im folgenden Beispiel antwortet ein Junge bei einem Test anfangs des ersten Schuljahres auf Fragen, die ihm gestellt werden, nachdem er einen hochdeutschen Text gehört hatte. Es geht hier nicht um die inhaltliche Richtigkeit der Antworten, sondern um die native Kompetenz des Jungen. Er versteht

418

Iwar Werfen

anfänglich nicht ganz, was die Aufgabenstellung ist; dann aber realisiert er, was er zu tun hat: l 2

Testerin Schüler

3

Testerin

4

Schüler

5

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6

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8 9

Schüler

10

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Schüler

12

Testerin

13 14 15

Schüler

[liest den Text noch einmal vor] itz weis is jetzt weiß ich es hmhm was hets gseit hmhm was hat es gesagt hallo ehrn hallo hets afang gseit hallo ehm hallo hat es anfangs gesagt hmhm was hets no gha hmhm was hat es noch gehabt e schööne taag einen schönen Tag e schööne taag genaau bravo einen schönen Tag, genau, bravo ... [längere Passage ausgelassen] wiso isch da verschrocke wieso ist der erschrocken wüu ds ross het gseit wüu s e fuchsjagd isch weil das Pferd hat gesagt, weil es eine Fuchsjagd ist fuchsjagde genaau Fuchsjagden, genau fuchsjagde Fuchsjagden fuchsjagde genaau Fuchsjagden, genau u was het de ds ross so kchomisch dünkt und was hat dann das Pferd so seltsam gedünkt het er gseit so kchomisch isch itz das hat er gesagt so seltsam ist jetzt das das i mit cm mit em mit em fuchs rede dass ich mit dem mit dem mit dem Fuchs rede

(2BLm) Die Kinder sind altersbedingt noch nicht in der Lage, längere und kompliziertere Geschichten zu erzählen, doch zeigt dieser kleine Ausschnitt aus dem Gespräch, dass der Schüler die Fragen beantworten kann, nicht immer richtig, aber sprachlich ohne Probleme. Er verwendet Nebensätze mit subordinierenden Konjunktionen wie weil (Zeile 9) oder dass (Zeile 15). Dass seine Äußerungen relativ kurz sind, hängt mit der Art der Fragen zusammen. Er verfugt also über eine altersgerechte native Kompetenz im Sprechen des Dialekts. Das gilt natürlich auch für das Hörverstehen des Schweizerdeutschen, wenn auch nicht unbedingt allen Varianten des Schweizerdeutschen gegenüber. Eine unserer Mitarbeiterinnen stammte aus dem Thurgau und sprach Thurgauerdeutsch, was für manche Kinder Verstehensproblematiken auslöste, mit denen wir nicht gerechnet hatten. So verwendet sie das Wort ruebe für hdt. 'ausruhen, rasten', während Berner normalerweise das Wort löje brauchen. Einige Schülerinnen und Schüler haben sie dann erst über das hochdeutsche Wort ausruhen verstanden.

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

419

Aktive und (teilweise) passive Dialektkompetenz gilt nun allerdings nicht für eine Reihe von Kindern, in deren Familien nicht Schweizerdeutsch gesprochen wird, zumeist Kinder mit ausländischen Eltern. Die Präsenz dieser Kinder in Deutschschweizer Schulen bildet seit dem Beginn der Arbeitsmigration in den 60-er Jahren ein ungelöstes Problem - oder, vielleicht besser: den Kindern stellt sich mit der Schule ein ungelöstes Problem. Das folgende Beispiel stammt von einem türkisch sprechenden Mädchen, das einigermaßen Schweizerdeutsch versteht, aber mit dem Hochdeutschen Mühe hat (20BLf): 1

Testerin

2

Schülerin

3

Testerin

4 5

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6

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7

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8

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9

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11 12 13

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19

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21

Testerin

ahm wie seisch du uf Berndütsch ehm wie sagst du auf Bemdeutsch ahm witerloufe ehm weiterlaufen witerloufe guet weiterlaufen gut itz goots do witer jetzt geht es da weiter mir hei wöue dütsch leere, nächer hei mer bämdütsch gleert wir haben wollen Deutsch lernen, dann haben wir Bemdeutsch gelernt wa lernet der itze Was lernt ihr jetzt? dütsche leere nächer weimer bärndütsch leeret Deutsch lernen, nachher wollen wir Bemdeutsch lernen aha guet und wa redeter aha gut und was redet ihr eh ender dütsch lernt eh zuerst Deutsch gelernt redeter itze redet ihr jetzt? jo wa redsch den du no für e schprooch ja was redest denn du noch für eine Sprache? no en anderi oder nööd noch eine andere? oder nicht? hmhm ja was den was denn? türkchisch Türkisch türkchisch oioioi d isch den guet Türkisch oioioi das ist dann gut das chan-ich laider nööd das kann ich leider nicht ehe ja d isch den guet das ist dann gut i tues äbe deheime ich tue es eben daheim tuesch dahei türkchisch rede tust daheim türkisch reden

420

Iwar Werten 22

Schülerin

23

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24

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26

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hmhm ja sehr guet und wie lang bisch den du ir schwiz scho sehr gut. Und wie lang bist denn du in der Schweiz schon eh weisch i cha nid hm i bi ja türkchisch eh weißt du, ich kann nicht, hm, ich bin ja türkisch dujo Du ja nachär hani öppis giert nachher habe ich etwas gelernt hmhm ja ganz jitzbini o türkchisch ganz jetzt bin ich auch türkisch hmh ja i cha so jitz öppis türkchisch säge ich kann so jetzt etwas türkisch sagen jo das glaubi scho ja das glaube ich schon

Ohne groß ins Detail zu gehen, erkennt man, dass die Schülerin eine Interimsvarietät des Bemdeutschen spricht, die relativ stark von der Zielsprache abweicht. Die Szene folgt auf ein Intermezzo, bei der das Mädchen das hochdeutsche Idiom "sich auf den Weg machen" nicht versteht. Die Testerin versucht ihm zu helfen und spricht von witergloffe (weitergelaufen) und fragt dann in Zeile l nach, wie das auf Berndeutsch heiße. Als die Testerin weiterfahren will, bringt die Schülerin einen Nachtrag, der erklären soll, dass sie in der Schule zuerst Deutsch lerne und dann erst Berndeutsch (Zeile 5); ihre Verbformen verwirren die Testerin. Sie fragt nach, was das Mädchen jetzt lerne. In Zeile 7 wird klar, dass das Mädchen meint, es lerne jetzt Deutsch und werde später Berndeutsch lernen, wobei unklar ist, was es unter "Deutsch" versteht, da es faktisch klarerweise eine berndeutsche Phonetik verwendet. Bei vielen ändern, auch deutschsprachigen Kindern, haben wir festgestellt, dass "Dütsch" für sie die Sprache ist, die sie sprechen (also das, was wir als "Berndeutsch" bezeichnen) und ein näher spezifiziertes Deutsch (also z. B. "Bämdütsch") für das Hochdeutsche verwendet wird (was dann leider manchmal zu Fehlinterpretationen von Seiten der Befragenden fuhren kann). Ein neues Kommunikationsproblem taucht in Zeile 23 auf, wo das Kind offensichtlich die Frage nach der Aufenthaltsdauer in der Schweiz nicht versteht, und in Zeile 24 antwortet, es könne nicht (vermutlich: auf Deutsch) erzählen, weil es türkisch spreche. In Zeile 26 räumt es ein, es habe etwas gelernt (eben Deutsch), aber in Zeile 28 fügt es bei, vollständig (ganz) ausdrücken könnte es sich auf Türkisch und entsprechend kommt dann in Zeile 30 der Vorschlag, jetzt türkisch zu sprechen. Die Schülerin könnte mit diesem Vorschlag ihre bisherige schlechte Leistung vergessen machen - wenn sie Türkisch reden dürfte, dann könnte sie erzählen, was sie auf Hochdeutsch hört. Leider ist der Vorschlag hier sinnlos, da die Testerin selbst kein Türkisch kann.

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

421

Das Beispiel des türkischen Mädchens zeigt eine mittlere Sprachbeherrschung, wobei die passive Kompetenz höher zu sein scheint als die aktive. Wir finden unter den ausländischen Schülerinnen und Schülern alles zwischen einer nativen Kenntnis des Berndeutschen und fast vollständiger produktiver und rezeptiver Unkenntnis. Der Unterricht ist in keiner der beobachteten Klassen auf die Kinder dieses Typs ausgerichtet. Je nach Ort erhalten sie aber zusätzlichen Deutschunterricht oder werden in Kleinklassen versetzt.

3.2. Hochdeutsch Bekannt und empirisch durch Häcki Buhofer/Burger (1998), Werlen/Emst (1994) und unsere eigenen Arbeiten nachgewiesen ist, dass ein Teil der Kinder, die eingeschult werden, Hochdeutsch sprechen kann und dass die meisten der Kinder Hochdeutsch auch verstehen. Kinder sind teilweise auch in der Lage, zwischen dem deutschländischen3 Hochdeutschen (dem sog. "Femsehdeutsch") und dem Schweizer Hochdeutschen zu unterscheiden, wie unsere eigenen Tests gezeigt haben (Ziberi-Luginbühl 1999). Es ist wichtig zu betonen, dass diese Hochdeutschkenntnisse aktiver und passiver Art weitgehend oralem Stil entsprechen; eine Ausnahme davon sind vorgelesene Geschichten als Inputquelle. In unseren Tests variiert die aktive Hochdeutschkenntnis zu Beginn des Schuljahres zwischen Kindern, die fließend Hochdeutsch sprechen, und solchen, die kein Wort äußern können. Zwei Beispiele demonstrieren die Bandbreite: Das erste Beispiel stammt von einem Mädchen, das mit Polnisch, Deutsch und Französisch aufgewachsen ist. Es spricht akzentfreien Ortsdialekt, aber im Gespräch mit der hochdeutsch sprechenden Testerin Hochdeutsch mit deutschländischen Zügen, also zum Beispiel mit Vokalisierung von auslautendem "-er" wie in [by:xr?] "Bücher" (Bllf): 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Testerin Schülerin Testerin Schülerin Testerin Schülerin Testerin Schülerin Testerin Schülerin Testerin Schülerin Testerin

14 15 16

Schülerin Testerin Schülerin

wer bist du? Anna und wie alt bist du? sechs Jahre alt ah weisst du wann du Geburtstag hast? ja am zehnten Oktober am zehnten Oktober ja das is ja schon bald ja und jetzt und gefällt es dir in der Schule? ja da kann man viel Pause machen viel Pause? Pacht] gefällt dir das am besten? ja die Pause + hmn was machste in der Pause jaa essen und + ein bisschen spielen + fangis spielen ++

Ich übernehme den Ausdruck "deutschländisch" von Hove (1998).

422

Iwar Werten und ehm manchmal geh ich rein und ehm -H- seh mir Bücher an +++ und eh wir haben schon -H- Buchstaben gelehrt und eh ++ wir können auch schon viel lesen und wir zeichnen auch schon viel

17 18 19

Aus dem Beispiel wird unmittelbar ersichtlich, dass die Schülerin sich ungezwungen auf Hochdeutsch unterhalten kann. Sie verwendet neben der deutschländischen Phonetik auch apokopierte Formen wie "geh ich" (Z. 17), "seh mir" (Z. 17) oder "rein" (Z. 17), die nicht als schweizerisch gelten. Dass sie neben solchen deutschländischen Formen auch schweizerische Interferenzen aufweist, zeigen "fangis spielen" (Z. 16) und "gelehrt" (Z. 18) statt "gelernt". Ähnlich wie diese Schülerin sprechen zwei oder drei andere ein geläufiges und sicheres Hochdeutsch. Daneben finden sich aber auch Schüler, die konsequent beim Dialekt bleiben, auch wenn die Testerin sagt, sie verstünde sie nicht. Das zeigt das zweite Beispiel aus der gleichen Klasse (BL3m): 1 2

Testerin Schüler

3 4

Testerin Schüler

5

Testerin

6 7 8 9

Schüler Testerin Schüler

10 11

Testerin Schüler

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Testerin Schüler

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Testerin Schüler

haste schon Freunde ++ ja? ++ wer ist es? Tobias der Maxim und der Nicola ++ und der Michi [phonetisch bemdeutsch] hmhm -H- und ++ was spielst du mit ihnen? ir pouse heimer e [Lärm im Hintergrund] in der Pause haben wir ein stop stop stop stop + das ist genau das, was ich nicht verstehe [lacht] aso + du merkst doch dass ich anders sprech als du oder? hmhm [eingeschüchtert] kannst du etwa so sprechen wie ich sprech? mhmh [nein] kannste gar nich? oder problem mal so ein bisschen? ä'ä [nein] also erzähl noch mal -H- was spielt ihr /7 sec./ ahm wen mer vorusegö /5 sec./ ehm, wenn wir nach draußen gehen de de de heimer e hütte gfunge dann dann dann haben wir eine Hütte gefunden ne Hütte? hmhm nei weisch so nes gebüsch + neinnein, nein weißt du so ein Gebüsch u när heimer so seili und nachher haben wir so Seile när tüemer se so dra binge när dort hinge nachher tun wir sie so dran binden nachher dort hinten när gheie mer immer abe hingere schtruuch nachher fallen wir immer hinunter hinter den Strauch när gömer hinger abe nachher gehen wir hinten hinunter

Der Schüler spricht auch nach der Intervention der Testerin in Zeile 5f. kein Hochdeutsch. Die ganze Erzählung in Zeile 13 bis 20 ist dialektal und er lässt

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

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sich auch später nicht auf ein einziges Wort Hochdeutsch ein, versteht aber offensichtlich, was die Testerin ihm sagt. Er verfügt also über eine rezeptive Kompetenz, jedoch über keinerlei produktive, resp. ist nicht bereit, sie einzusetzen4 - es gibt einige Kinder, die zuerst Dialekt sprechen und dann plötzlich doch Hochdeutsch weiterfahren, wenn auch nicht für lange. Er bemüht sich ab und zu, seine Äußerungen zu paraphrasieren, wenn die Testerin ihn nicht versteht. Als sie ihn am Schluss fragt, ob es für ihn schwer sei, so zu sprechen, dass sie ihn verstehe, bejaht er die Frage. Bei Schulbeginn 1994 teilten wir die Kinder im Gespräch mit der Testerin in vier Kategorien ein: Kategorie l: das Kind wechselt kaum in das Hochdeutsche und antwortet nur sehr wenig. Kategorie 2: Das Kind verwendet selten Hochdeutsch und switcht schnell wieder in die Ausgangssprache. Kategorie 3: Das Kind spricht zwar hochdeutsch, switcht aber gelegentlich in den Dialekt. Kategorie 4: Das Kind spricht hochdeutsch mit gelegentlichen Transferenzen und Interferenzen. Es ergaben sich folgende Zahlen:

Kategorie 1 Kategorie 2 Kategorie 3 Kategorie 4

Bern Stadt 1 5 8 7

Bern Land 10 8 2 4

Biel 3 4 6 6

Total 14 17 16 17

Die Zahlen sind wegen der geringen Schüleranzahlen nicht sehr aussagekräftig, zeigen aber gewisse deutliche Tendenzen. Insgesamt sind etwas mehr als die Hälfte der Kinder in der Lage, sich auf Hochdeutsch auszudrücken (Kategorien 3 und 4). Dabei ist aber die ländliche Klasse deutlich weniger beteiligt als die beiden städtischen Klassen, obwohl es gerade diese Klasse ist, in der die Lehrerin schon in der ersten Klasse hochdeutsch spricht. Der hohe Anteil von Kindern, die schon hochdeutsch sprechen und verstehen, ist kaum auf die Sprache in der Familie zurückzuführen. Denn die Ergebnisse der Eidgenössischen Volkszählung 1990 haben gezeigt, dass rund 99% der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer angeben (Lüdi/Werlen 1997), in der Familie Schweizerdeutsch zu sprechen; nur 5,5% sprechen (auch) Hochdeutsch). Wenn die Kinder mit Hochdeutsch in Kontakt kommen, dann zumeist Es ist eines der ungelösten Probleme solcher Tests, dass scheue Kinder ihre Fähigkeiten nicht anwenden. Gerade in der Klasse Bern Land fanden sich solche Kinder, die gegenüber der hochdeutsch sprechenden Testerin kein Wort (auch nicht im Dialekt) über die Lippen brachten, obwohl sich in der Klassensituation zeigte, dass sie sehr wohl Hochdeutsch verstehen.

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/war Werlen

über die Medien, insbesondere das Femsehen und Märchenkassetten (nach Angaben der Kinder in den Gesprächen). In einigen wenigen Fällen haben die Kinder Hochdeutsch in Deutschland oder Österreich gehört und gesprochen, etwa, wenn sie dort Ferien machen, und ab und zu gibt es eine Person in der Familie, die Hochdeutsch spricht.

4. Die Schule: Dialekt als Sprache der Oralität - Hochdeutsch als Sprache der Literalität Sprache hat in der Schule mindestens drei verschiedene Funktionen: sie dient erstens zur Vermittlung des jeweiligen Stoffes, ist also Sprache des Unterrichts, sie dient zweitens der Verständigung zwischen den Beteiligten, ist also Kommunikationssprache (wobei hier verschiedene kommunikative Funktionen zu unterscheiden wären, worauf wir verzichten), und sie ist drittens manchmal Gegenstand des Unterrichts selbst, als Lehr- und Lerngegenstand. Bei Erst- und Zweitklässlem tritt gelegentlich eine vierte Funktion auf: die Sprache beim Spielen. Kommunikationssprache ist durchwegs der Dialekt.5 Unterrichtssprache ist entweder Dialekt oder Hochdeutsch oder beides. Unterrichtsgegenstand ist das Hochdeutsche (wir beobachten in allen drei Klassen keine einzige Sequenz, in welcher der Dialekt Unterrichtsgegenstand gewesen wäre; die einzige Ausnahme sind dialektale Lieder, wenn man sie als Unterrichtsgegenstand betrachtet). Spielsprache ist normalerweise der Dialekt, es gibt aber Fälle, in denen die Kinder beim Spielen - vermutlich beim Rollenspiel - hochdeutsch sprechen (nach ihren eigenen Aussagen im Gespräch mit einer hochdeutschen Testerin; Aufnahmen davon haben wir keine). In den drei beobachteten Klassen herrschen im ersten Schuljahr unterschiedliche Gebräuche. In den beiden städtischen Klassen (Bern und Biel) sprechen die Lehrerinnen im Unterricht Dialekt; in der ländlichen Klasse spricht die Lehrerin im Deutschunterricht konsequent Hochdeutsch. Im zweiten Jahr sprechen auch die Lehrerinnen der beiden städtischen Klassen überwiegend Hochdeutsch; gegen Ende des Schuljahres geht der Hochdeutschgebrauch aber wieder zurück. Der Lehrplan von 1983, der 1994 noch in Kraft ist, fordert einen überlegten Sprachgebrauch, schreibt aber das Hochdeutsche verbindlich erst ab dem 3. Schuljahr als Unterrichtssprache vor: Im Unterricht ist deshalb von Anfang an neben der Mundart auch Hochdeutsch zu sprechen. Vom 3. Schuljahr an ist das Hochdeutsche grundsätzlich Unterrichtssprache. Die Mundart soll gezielt und bewusst verwendet werden, wenn es vom Unterrichtsziel, vom Inhalt (z. B. Erhalten und Aufbauen des mundartlichen Sprachguts) oder von der Situation her (z. B. Unterricht im Freien, Gruppenarbeit, Konfliktlösungen) erfordert wird. Nicht zu Die einzige Ausnahme von dieser Feststellung bilden ausländische Kinder, die Hochdeutsch in besonderen Kursen erlernen und noch keinen Dialekt sprechen; mit ihnen sprechen einzelne Kinder oder die Lehrerinnen gelegentlich Hochdeutsch.

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

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verantworten ist ein unbesonnenes Durcheinander der beiden Sprachformen." (Lehrplan 1983, Allgemeine Bestimmungen Primarschule 6).6

In der ersten Klasse lernen die Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht vor allem Lesen und Schreiben. Gelesen und geschrieben wird im Prinzip Hochdeutsch, nicht Dialekt. "Im Prinzip" heißt, dass die Kinder eine hochdeutsche Zielsprache anpeilen, sie aber nicht immer erreichen;7 so schreibt ein Kind am Ende der ersten Klasse in einer Bildbeschreibung: Sie schwüme. Sie schwüme Sie bwlabre. (BISf22)

Das Mädchen will schreiben Sie schwimmen. Sie schwimmen. Sie pfladern. Das Verb schwüme bleibt in der dialektalen Lautung, wäre aber als Lexem auch Hochdeutsch zu gebrauchen. Das Verb pfladere ( wird hier für verwendet, was ziemlich idiosynkratisch ist, und ist ein verkehrt geschriebenes ) dagegen ist ein rein dialektales Lexem, das hochdeutsch etwa mit "plantschen" zu übersetzen wäre. Dieses und viele andere Beispiele zeigen, dass die Kinder Strategien entwickeln, wie sie den Dialekt in das Hochdeutsche umsetzen können. Die Entwicklung des Schreibens von der phonologischen zur orthografischen Phase8 fuhrt dann dazu, dass solche Dialektumsetzungen gegen das Ende der zweiten Klasse spürbar seltener werden. Die Verknüpfung von Schreiben, Lesen und Hochdeutsch in der ersten Klasse prägt das Grundmuster der medialen Diglossie: Hochdeutsch ist mit Literalität verbunden, Dialekt mit Oralität. Anders gesagt: immer, wenn die Kinder aufgefordert werden, Hochdeutsch zu gebrauchen, geht es um Literales. Wie das im Einzelnen aussieht, zeigen Transkripte von Schulstunden aus den ersten Klassen. Ich bringe zuerst ein Beispiel aus der Landklasse, in der die Lehrerin von Anfang an hochdeutsch spricht. Im Gespräch mit ihren Schülerinnen und Schülern am Anfang des ersten Jahres wird klar, dass nicht alle die Sprache der Lehrerin als Hochdeutsch empfinden. Eines der Kinder sagt, die Lehrerin spreche immer Berndeutsch, ein anderes hingegen, sie spreche Hochdeutsch, wenn Sprache auf dem Lehrplan stehe. Die folgende Szene stammt aus dem Mai 1995, also gegen Ende des ersten Schuljahres. Die Lehrerin hat einen kleinen Laden aufgebaut; sie selbst übernimmt die Rolle der Verkäuferin. Die Kinder sollen einkaufen, und sie haben sich auf ihrer Tafel eine Liste von Waren notiert, die sie kaufen wollen: 1 2 3

L Ss L

so wer hat die Ein[k]aufsliste +5 sec+ (unv.) also L. [k]omm + mit der Tafel mit der Einfkjaufsliste

1995 wurde ein neuer Lehrplan eingeführt, der generell mehr gesprochenes Hochdeutsch von Anfang an verlangt. Für unseren Untersuchungszeitraum wirkte sich der neue Lehrplan noch nicht spürbar aus. Erst ab der dritten oder vierten Klasse finden wir Schulkinder, die bewusst den Dialekt schreiben. Beispiele dazu siehe in Werten (1998). In der Schriftspracherwerbsforschung wird üblicherweise zwischen drei Phasen unterschieden: die logografische, die phonologische und die orthografische (für einen Überblick vgl. KJicpera/Gasteiger-Klicpera 1993).

426

Iwar Werlen 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

L L L L Sf(L) L Sf(L) L Sf(L) L Sf(L) L Df(L) L Sf(L) L L Sf(L) L S(f)L L S(f)L L L L S(f)L

du fkxjommst in den Laden + und du [kxjaufst ein +3 sec+ [KRACH, ETWAS FÄLLT ZU BODEN] das isch [LACHT] also, wir machen's so + stell es auf den Boden (unv.) + guten Tag L. + guten Tag was musst du haben + Siciliano (?, leise) was musst du haben Siciliano (?) was ist das -H-Fisch + aha Fisch + so Fisch + da + (unv.)und -H-etwas zum Trin[kx]en etwas zu trin[k]en was was mostest du gern ++ Coca Cola oder Orangina oder Coca Cola + da + und was noch -H- ahm ++ Wiin- + Wiinerli Wiinerli + da -H- und was noch -H- Fr- Frü[x]te ++dahabenwirdieFrü[9]te was mö[9]test du+3 sec+nimm dir etwas was du gem mö[9] test -H-ja+5 sec+sonst noch etwas +4 sec+ Pomm-Schips

Die Lehrerin ruft die Schülerin L. mit der Tafel, auf der die Einkaufsliste steht, zu sich nach vorn. Sie instruiert die Schülerin; bei einem Intermezzo switcht sie in Zeile 5 ganz kurz in den Dialekt, geht dann aber sofort wieder zum Hochdeutschen über. In Zeile 7 beginnt das Rollenspiel, wobei die Lehrerin mit dem ersten Turn einer Begrüßung anfängt - damit ist schon die Rollenverteilung festgelegt. Die Schülerin bleibt vollständig reaktiv, nicht nur beim Gegengruß, sondern auch bei jeder Frage. Nach der Frage in Zeile 9 liest die Schülerin die Antwort von der Tafel ab. Die Lehrerin versteht sie offenbar nicht und wiederholt ihre Frage in Zeile 12. Sie kann sich unter der Antwort offenbar auch beim zweiten Mal nichts vorstellen und fragt nach. Die Antwort des Mädchens besteht in der Angabe Fisch ...so Fisch - es kann diesen Fisch nicht näher spezifizieren. Wiederum führt die Lehrerin das Gespräch weiter, diesmal mit dem auffordernden und. Nach einigem Zögern antwortet das Kind, es liest seine unspezifische Antwort wieder von der Tafel ab. Deswegen muss die Lehrerin in Zeile 20f. nachfragen. Das erlaubt dem Mädchen, als Antwort eine der aufgeführten Möglichkeiten zu wählen. In Zeile 24 gerät das Mädchen bei einer weiteren Frage der Lehrerin in Schwierigkeiten - es liest das Wort Wienerli von der Tafel ab, ist sich aber offenbar unklar darüber, ob dies ein hochdeutsches Wort sei und wie es auszusprechen ist. Es entscheidet sich für die hochdeutsche Form mit langem [i:] (im Dialekt wäre ein Diphthong gesprochen worden) und die Lehrerin akzeptiert diese Form, indem sie sie evaluierend wiederholt. Auch in Zeile 27f. wiederholt sich das Muster, dass die Lehrerin die Wünsche des Kin-

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

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des expandiert, und die Anweisung nimm dir etwas ermöglicht es dem Kind, die gewünschte Frucht ohne sprachliche Nennung zu bekommen. Auch auf die letzte Frage antwortet das Kind mit Ablesen von der Tafel. Das Rollenspiel zeigt sehr deutlich, dass das Kind die Rolle der Kundin auf Hochdeutsch nur schlecht interpretieren kann. Es überlässt der Lehrerin vollständig die aktive Rolle und beschränkt sich darauf, von der Tafel abzulesen. Spezifizierungen nimmt es immer auf Vorschlag der Lehrerin vor. Die Notierung der auffälligen Realisierungen von als [kx] und palatalem als [x] zeigt die dialektal gefärbte Aussprache des Hochdeutschen vor allem durch das Kind. Dieses Rollenspiel demonstriert mit fast brutaler Deutlichkeit, dass Hochdeutsch für die Schülerinnen und Schüler (das gilt nicht nur für das hier herausgegriffene einzelne Kind) eine Sprache ist, in der sie sich nicht wohl fühlen und in der sie die ihnen von klein auf bekannten Strategien des Kundenverhaltens, das die Kinder im Verkäuferlis-Spie\ einüben, nicht einsetzen können. Die Ähnlichkeit zu solchen Rollenspielen im Französischen in der fünften Klasse ist frappant. Zugleich demonstriert das Beispiel, dass Hochdeutsch für die Kinder mit Literalität verbunden wird: sie schreiben auf Befehl der Lehrerin auf eine Tafel, was sie einkaufen wollen, und lesen es dann im Gespräch mit der Lehrerin wieder ab. Das Beispiel bringt Literalität in eine Situation, die normalerweise stark oral geprägt ist, und verfremdet sie damit für die Kinder. In der Stadtbemer Klasse wird im ersten Jahr nur sehr selten hochdeutsch gesprochen; der Anlass hat meistens etwas mit Schreiben oder Lesen zu tun. Der folgende Ausschnitt ist eingebettet in eine Mathematikstunde im Januar 1995, also nach etwa der Hälfte des ersten Schuljahres, bei der die Lehrerin zur Einführung ein Würfelspiel einsetzt, mit dem die Schülerinnen und Schüler spielen können - sie müssen dabei je die Augen zweier Würfel zusammenzählen. Anschließend wird diese Aufgabe als Schreibaufgabe mit Übungsblättern durchgeführt, bei dem zwei Würfel vorgedruckt sind und die Kinder die entsprechende Rechnung (z. B. 2 + 3 = 5) hinschreiben müssen. Die Lehrerin kommentiert, was ein Kind getan hat (hochdeutsche Passagen in eckigen Klammem): 1 2 3 4 5 6 7 8

L

ja du beseht sogar no [HD gleich fünf] dasch ou guet + ja du hast sogar noch das ist auch gut aber me cha ou nume schribe [HD drei plus zwei] aber man kann auch nur schreiben de weiss me ja wi ds ganze isch + dann weiß man ja wie das Ganze ist aalso jetz tue ni nech no einisch zeige hie ne also jetzt tue ich euch noch einmal zeigen hier, nicht so hets zersch zwöi gwürflet so hat es zuerst zwei gewürfelt itz zele mer + [HD (Alle): eins zwei] jetzt zählen wir und wils da nume tuet waarte und weil es da nur tut warten zeichnet me da nume es Kreisli (4sec.) zeichnet man da nur ein Kreislein

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/war Werten

9

gseesch daas da het zersch zwöi [HD eins zwei]

siehst du, das da hat zuerst zwei 10 11

SE

Äh + [HD eins zwei]

Diese Stelle macht geradezu exemplarisch deutlich, wie der Codewechsel mit Literalität verbunden ist, obwohl es in dieser Stunde nicht um Sprache, sondern um Mathematik geht. Im Moment, wo geschrieben wird, wechselt die Lehrerin zum Hochdeutschen. In Zeile 6 fordert sie die Kinder auf, mitzuzählen und in Z. 11 zählt ein Schüler von sich aus auf Hochdeutsch. Sonst aber sprechen Lehrperson und Kinder ganz selbstverständlich Dialekt; die einzelnen Hochdeutschbestandteile sind klarerweise auf das Aufgabenstellung gerichtet. In der Klasse in Biel lässt sich ein etwas verschiedenes und doch ähnliches Beispiel dokumentieren und zwar vom Mai 1995, also gegen Ende der ersten Klasse. Die Lehrerin lässt die Kinder Kopfrechnungen machen: 1

L

2 3 4 5 6

S L

7 8

Sm L

9 10 11 12

Sm L

13 14 15 16 17 18

Sm L Sl L Sf L

19

Sf

guet + mir föö mou bi diir dort aa + gut wir fangen mal bei dir dort an nume hööchi Rächnige plus und minus dürenang +++ nur hohe Rechnungen, plus und minus durcheinander seh [HD Hochdeutsch] ++ still [HD dreizehn plus drei] +++ [dazwischen] [HD se[x]zehn] o psssss ss + är oh still er [HD se[x]zehn ] e mir gö de Reie no + mir gö de Reie no + eh wir gehen der Reihe nach wir gehen der Reihe nach auso i gib dir en anderi also ich gebe dir eine andere ja [HDse[x]zehn plus drei] [im Flüsterton zu Sm (E)] itz chasch o rächne mit üüs [unverst] jetzt kannst du auch rechnen mit uns [HD neunzehn] [HD neunzehn minus vier] [15 sec.] [HD fünfzehn] [HD fünfzehn minus drei] [HD achtzehn] da'sch minus das ist minus ää[ärgert sich]

Die Lehrerin fordert die Kinder explizit auf, hochdeutsch zu sprechen (Zeile 2). Sie selbst spricht jedoch nur die Zahlen hochdeutsch aus. Alles andere ist Dialekt, mit Ausnahme von "minus" und "plus". Hier wird für ein sehr spezielles Sprachspiel eine sehr selektive Form des Code-switchings zum Hochdeutschen eingeführt. Auch dies ist letztlich eine literal geprägte Form, findet sie doch im Kontext des Ausfüllens von Aufgabenblättern statt.

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

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Der Aspekt der Verbindung von Hochdeutsch als literaler Sprache und Dialekt als oraler Sprache in der ersten Klasse wird immer dann besonders deutlich, wenn die Kinder schreiben sollen, die Instruktion dazu aber weitgehend im Dialekt geschieht. Es gibt hier ein sehr schönes Beispiel, als die Bieler Lehrerin ihre Kinder einen Muttertagsbriefschreiben lässt: 1

Lf

2 3

Ss Lf

4

Lf

5 6 7 8

Ss Lf Ss Lf

9

Lf

10

Lf

11

Lf

12 13

Lf Lf

14

Lf

15 16

Ss Lf

ds Briefli filrenäh für ds Mammi +/ca. l Minute Pause/+ das Brieflein hervomehmen für das Mammi [GESCHWÄTZ] i due- ech läse was a dr Tafele steit die wo wei mitläse ++ ich tue euch lesen, was an der Tafel steht. Die die wollen, (können) mitlesen zum Muttertag + liebe Mutter + liebe Mutti heisst's vilicht + heißt's vielleicht zum Muttertag Mutter du arbeitest viel für uns + du fkxlochst + du putzest -H-+ du arbeitest viel für uns + du kochst du putzest unditzgömerwiter + itzgöhtderufdinächschtiZile + und jetzt gehen wir weiter, jetzt geht ihr auf die nächste Zeile. göht zwöi abe u machet ds Rundumeli vom chliine [d] Geht zwei hinunter und macht das Rundumeli vom kleinen [d] itz müesse mer nämlech e chliine mache + jetzt müssen wir nämlich einen kleinen machen und we mer dr Schtriich mache de si mer unger +3 sec+ [d] +5 sec+ und wenn wir den Strich machen, dann sind wir unter (der Linie) du +5 sec+ räumst -H-auf +2 sec+ du + und dr [öi] +2 sec+ dr [öi] schribe mer mit em + nid mit em und den [öi] den [öi] schreiben wir mit dem nicht mit dem , desch dr [öi] + du [rseumst] +++ du -H-räum+st +11 sec+ auf das ist der [LEISES GESCHWÄTZ] +7 sec+ Komma +++ du +räumst + auf

Der Ausschnitt zeigt, dass die Lehrerin als Unterrichtssprache konsequent Schweizerdeutsch verwendet; nur die schon niedergeschriebenen und noch zu schreibenden Sätze werden auf hochdeutsch vorgelesen. Die Instruktionen für das Schreiben des Wortes räumst werden ebenfalls auf Dialekt gegeben, wobei die Lehrperson einen Diphthong mit einem überoffenen [ä] als Erstglied produziert, der ziemlich weit von der Zielsprache entfernt ist. Dies gibt uns Anlass zu einer weiteren Beobachtung: Auch jene Kinder, die zu Anfang des Schuljahres Hochdeutsch in seiner deutschländischen Form, also das so genannte "Fernsehdeutsch" sprechen, passen sich im Laufe der ersten zwei Jahre dem Vorbild der Lehrerin an. Die Bieler Lehrerin ist dabei besonders auffällig, weil sie den Buchstaben regelmäßig weit offen ausspricht, wie das einer älteren Tradition der bemdeutschen Hochdeutschaussprache entspricht. Die meisten Schülerinnen und Schüler ahmen sie in dieser Hinsicht nach. Die Lehrerin der Klasse Bern-Land spricht langsam und gemessen; sie hat Mühe mit der Aussprache von [k], das sie häufig als Affrikata realisiert, und mit dem palatalen [9], das sie velar realisiert. Die Bemer Lehrerin ist jene mit dem

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Iwar Werten

flüssigsten Hochdeutschen, aber auch sie spricht natürlich Schweizer Hochdeutsch. Der Einfluss der Lehrpersonen ist nicht der einzige. Eine zweite Quelle der Veränderung stellt das gleichzeitige Lesenlernen dar. Die Kinder "erlesen" ja anfänglich die Wörter Buchstabe für Buchstabe, was ein langsames und meist auch monotones Sprechen ergibt. Zwar steigt die Geläufigkeit innerhalb der ersten zwei Jahre stark an, zumindest bei den besseren Schülerinnen und Schülern, da aber das Vorlesen die weitaus häufigste Gelegenheit des Hochdeutschsprechens ist, verstärkt es das langsame, schriftbezogene, monotone Sprechen und stellt die Verbindung zur Literalität her.

5. Das Hochdeutsche als Fremdsprache In der Diskussion um das Hochdeutsche in der Schweiz gibt es seit langem einen Streit darum, ob das Hochdeutsche eine "Fremdsprache" oder die zweite Form der "Muttersprache" sei. Darauf kann ich hier nicht eingehen. Ich möchte aber zeigen, dass die Lehrerinnen teilweise Sprachunterricht erteilen, in welchem Methoden der Fremdsprachendidaktik verwendet werden. Die in dieser Hinsicht signifikanteste Szene kommt am 4. September 1995 in Biel vor, also in der ersten Hälfte der zweiten Klasse. Zugleich ist die Stunde ein Musterbeispiel dafür, wie die Lehrerin eine Stunde im Hinblick auf einen geschriebenen Text hin gestaltet. Die Stunde beginnt auf Dialekt. Die Lehrerin wählt vier Kinder aus und verlässt mit ihnen für kurze Zeit den Raum. Die zurückbleibenden Kinder sprechen miteinander, während sie auf die Rückkehr der Lehrerin warten. Als die Lehrerin mit den vier Kindern zurückkehrt und sich die vier vor der Klasse aufstellen, fangen die anderen Kinder an zu lachen. Die Lehrerin fragt nach dem Grund. Die Kinder formulieren mit einiger Mühe auf Bemdeutsch, dass die vier gegenseitig Kleidungsstücke vertauscht haben. Die Lehrerin versucht, die Kinder dazu zu bringen, das genauer zu formulieren: 1

Lf

2

Sx

3

Lf

4 5 6

Sm(A) Lf Sm(A)

7

Lf

jo + probier ja versuch's + d T. het ++ am M. si Huet an der T. hat dem M. seinen Hut an + jitz isch's ggange - -SO + war fingt no öppis use ++ A. + jetzt ist's gegangen so wer findet noch etwas raus [STÖHNEN] A. M. het + T. sini ++ Pullover a [UNV.] + Pullover M. hat T. seine Pullover an Pullover isch's er T. ire + ja das schtimmt genau ist es der T. ihrer ja das stimmt genau

Die Lehrerin versucht, die dialektale Form X hat dem M. seine Z an von den Kindern zu erhalten. Dabei korrigiert sie die falsche Form des fremdsprachigen

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

431

Schülers A. in Zeile 6 (dem T. seine, obwohl T. ein Mädchen ist) nicht direkt, sondern indirekt, indem sie die richtige Konstruktion wiederholt. Der dialektale Satz enthält den so genannten possessiven Dativ dem X sein Z, der von der normativen Grammatik seit alters als nicht normgerecht kritisiert worden ist. Nachdem die Kinder die Übung beendet und alle vertauschten Kleidungsstücke erkannt sind, geht die Lehrerin einen Schritt weiter: 1

Lf

2

Lf

3 4

Ss Lf

5 6

Ss Lf Lf Lf

itz hei mir das aus usegfunge u itz wei mir das probiere uf+ jetzt haben wir das alles herausgefunden und jetzt wollen wir das versuchen Schriftdütsch z säge + auf Schriftdeutsch zu sagen wääää [ABLEHNEND] wou + das wei mir itz probiere + auso doch, das wollen wir jetzt versuchen also öööu [PROTESTIEREND] mir luege-n einisch d N. aa u probiere-n einisch ob mir das chöi säge wir schauen einmal die N. an und versuchen einmal, ob wir das können sagen, was d N. hie anders het düet es mou überlegge u probieret was die N. hier ander hat. Tut es mal überlegen und versucht, ob des öpper cha süsch hiufe n-ech de +++ ob das jemand kann. Sonst helfe ich euch dann

Die Lehrerin fordert die Kinder auf, ins Hochdeutsche zu wechseln. Die Reaktion der Kinder ist deutlich ablehnend, so dass sie insistieren muss. Auffällig dabei, dass die Lehrerin beim Dialekt als Unterrichtssprache bleibt und nicht ins Hochdeutsche wechselt, obwohl sie zu Beginn der zweiten Klasse Hochdeutsch als Unterrichtssprache eingeführt hatte. Sie fordert nun ein Kind auf, einen Versuch zu wagen: 1

Lf

2 3 4 5 6 7

Sf(N) Lf Sf(N) Lf Sf(N) Lf

8 9 10 11 12

Ss Sx Lf Sx Lf

wi würdsch du das säge wie würdest du das sagen ähm + N. N. hat A- A. + sei- +2 sec+ sein Haarreif Haarreifen an chönnt das öpper no besser oder no angers säge +2 sec+ Könnte das jemand noch besser oder noch anders sagen [UNV.] N. hat den Haarreif von A. +an + an guet -H- itz cha me das äbe Hochdütsch no angers säge ++ gut jetzt kann man das eben Hochdeutsch noch anders sagen

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Iwar Werten

13

Lf

14 15

Ss Lf

16 17

Sy Lf

mit em Wörtli + tr[az:]gt ++ mit dem Wörtlein ääääähhhhh probier versuch N. tr[ae:] gt den Haarreif von A. guetunditz gut und jetzt

Die Lehrerin wählt die Schülerin N aus, die den Satz zögernd beginnt und zu der nicht zielsprachlichen Formulierung N. hat A. sein Haarreifen an gelangt, dies mit Hilfe der Lehrerin, die das Wort Haarreif beisteuert. Durch die anschließende Frage, ob das jemand besser oder anders sagen könne, wird implizit der Satz von N. als nicht gut genug dargestellt. Ein Kind schlägt den Satz N. hat den Haarreif von A. an vor, wobei die Lehrerin das trennbare Verbpräfix an vorgeben muss. Dies wird als zutreffend evaluiert (guet), aber die Lehrerin schlägt eine Alternative vor mit trägt (von ihr und den Kindern immer mit überoffenem [ae:] ausgesprochen). Die Schülerinnen und Schüler sind damit nicht so ganz zufrieden (Zeile 14), aber ein Kind formuliert den Satz M trägt den Haarreif von A. Die Lehrerin evaluiert das positiv, will aber noch eine andere Konstruktion hören: 1

Lf

2

Lf

3 4

Ss Lf

5 6

Ss Lf

7 8 9

Ss Lf Ss

wei mer das no chli chürzer säge u chlei chlei schwiriger + wollen wir das noch etwas kürzer sagen und etwas, etwas schwieriger u de heisst's eso -H- N. tr[ae:]gt + I.s [Ineses] Haarreif und dann heißts so I.s [Ineses] Haarreif [LACHEN] dr I. ire Haarreif heisst + I.s [Ineses] Haarreif + der A. ihr Haarreif heißt I.s [Inesesl I.s[I...ses] probieret einisch + auui zäme + versucht mal alle zusammen Haarreif TGESCHWÄTZI N. tr[jc:]gt I.s [Ineses] Haarreif N. tr[ae:]gt I.s [Ineses] Haarreif [IM CHOR]

Die Lehrerin schlägt den vorangestellten Genitiv der Besitzerin vor statt der nachgestellten Präpositionalphrase. Weil aber der Name des Mädchens auf [-es] auslautet, bekommt sie das Problem der korrekten Genitivform, die zu einer Verdoppelung [-eses] führt. Die Kinder kommentieren die Form mit Erstaunen und Lachen; sie muss mehrmals wiederholt werden und wird schließlich im Chor gesprochen. Die Lehrerin teilt in solchen Fällen die Klasse auf - hier in Buben und Mädchen, und fordert die Teilmenge der Buben auf, den Satz zu wiederholen. Sie gibt das Startsignal mit dem Namen N.: 1 2 3

Lf Ss Lf

N. N. tr[»:]gt I.s [Ineses] Haarreifen [LANGSAM] an [EINIGE Ss] + ui di passe nid uf und säge d Satz fautsch + ui die passen nicht auf und sagen die Sätze falsch

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule 4

Lf

5 6

SSf Lf

7

SSf

N. tr[ae:]gt I.s [Ineses] Haarreifen

8

Lf

d Buebe die Buben N. tr[se:]gt I.s [Ineses] Haarreifen an -H-ja nei nid tr[ae:]gt Hi I.s [Ineses] Haarreifen an ++ ja nein nicht [LACHEN] mir säge itz nid hat den Haarreif an wir sagen jetzt nicht

9 10

SSm Lf

11 12 13

Ss Lf Ss

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Meitschi heit der e no im Chopf Mädchen, habt ihr ihn noch im Kopf jaja auso + N. also

Die Buben skandieren den Satz in Zeile 2 langsam und einige fugen noch das an der alten Konstruktion hat ...an hinzu. Diese Buben haben offenbar den Sinn von trägt überhaupt nicht begriffen, sondern sind der Meinung, es würde einfach hat durch trägt ersetzt - etwas, was man im Französischunterricht immer wieder findet. Die Lehrerin kritisiert die Buben als unaufmerksam und fordert die Mädchen auf, den Satz auszusprechen. Die Mädchen erfüllen die Aufgabe korrekt. Daraufhin werden nochmal die Buben aufgefordert. Und wieder fügen einige an hinzu. Erst jetzt korrigiert die Lehrerin den Fehler der Buben explizit und bringt die Schülerinnen und Schüler mit der falschen Form zum Lachen in Zeile 11. 1

Lf

2 3

Ss Lf

4

Lf

5

Lf

6 7 8

Lf SS m Lf

sondern mir säge äbe itze + trägt [-se>] + sondern wir sagen eben jetzt tr[sc:]gt u de heisst's + tr[je:]gt I.s [Ineses] Haarreif + u nüt vo aa ++ und dann heißt es und nichts von an Buebe dir müesst no einisch lose i bi nid zfride + Buben ihr müsst noch mal zuhören, ich bin nicht zufrieden, d Meitschi hei's guet gredt aber d Buebe nid die Mädchen haben es gut geredet aber die Buben nicht + N. tr[ae:]gt I.s [Ineses] Haarreif+ + N. tr[se:]gt I.s [Ineses] Haarreif guet gut

Nach diesem letzten Versuch gelingt der Satz auch bei den Buben. Die Stunde geht jetzt weiter, indem die weiteren Sätze entsprechend gebildet werden, also etwa M. trägt O.s Pullover - wobei ab und zu eines der Kinder wieder mit hat ... an formuliert, was von der Lehrerin zur Zielform hin korrigiert wird. Schließlich endet die Stunde mit der Aufgabe, die entsprechenden Sätze auf einer Vorlage aus dem "Krokofant", einem Übungsbuch, hinzuschreiben. Das also ist das literale Ziel der Stunde gewesen. Im Übrigen ist der vorangestellte possessive Genitiv ein hervorragendes Beispiel für eine primär literale Form; im alltäglichen Sprechen wird er mehr und mehr durch die nachgestellte Präpositionalphrase mit "von" ersetzt.

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Iwar Werten

Die gesamte Übung zeigt alle Merkmale einer Übersetzungsübung, wie sie im Fremdsprachenunterricht vorkommt. Die Schülerinnen und Schüler müssen eine Konstruktion einüben, zu der es keine Alternativen gibt. Die beiden Knacknüsse aus dialektaler Sicht - der possessive Dativ und die lexikalische Alternative tragen - fuhren zu einer Musterüberblendung bei den Buben, die sie als native Sprecher im Dialekt kaum machen würden. Das Hochdeutsche erscheint hier als fremde Sprache, in der man seltsame Konstruktionen verwenden muss, die es in der eigenen Sprache nicht gibt. Und diese seltsamen Konstruktionen werden nur eingeübt, um niedergeschrieben zu werden.

6. Schluss: Die Schule als Reproduktionsstätte soziolinguistischer Normen Die Konstruktion des Hochdeutschen als literaler Sprache wird in diesen wenigen Beispielen deutlich. Zugleich zeigt sich dabei, dass die Schule als Reproduktionsstätte der soziolinguistischen Normen fungiert. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler, auch die Lehrpersonen haben diese soziolinguistischen Normen verinnerlicht und folgen ihnen im Unterricht. So findet Tag für Tag und Stunde für Stunde ein Lernprozess statt, dessen Ergebnis zur Stabilisierung der soziolinguistischen Situation der deutschen Schweiz führt. Diese Reproduktion der soziolinguistischen Nonnen in der Schule führt zur Erwartung, dass die mediale Diglossie der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer nicht nur bestehen bleibt, sondern - was für eine Diglossiesituation eigentlich untypisch ist - sich in Richtung einer immer deutlicheren Trennung der Gebrauchsweisen der beiden Sprachformen verstärkt.

7. Literaturverzeichnis Barton, David (1994): Literacy. An introduction to the ecology of written language. Oxford. Biber, Douglas (1988): Variation across speech and writing. Cambridge etc. Häcki Buhofer, Annelies / Burger, Harald (1998): Wie Deutschschweizer Kinder Hochdeutsch lernen. Der ungesteuerte Erwerb des gesprochenen Hochdeutschen durch Deutschschweizer Kinder zwischen sechs und acht Jahren. Stuttgart. Hove, Ingrid (1998): Die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz. Diss. phil. eingereicht an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH). Klicpera, Christian / Barbara Gasteiger-Klipcera (1993): Lesen und Schreiben. Entwicklung und Schwierigkeiten. Die Wiener Längsschnittuntersuchungen über die Entwicklung, den Verlauf und die Ursachen von Lese- und Schreibschwierigkeiten in der Pflichtschulzeit. Unter Mitarbeit von Alfred Schabmann. Bern etc. Kolde, Gottfried (1981): Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten. Vergleichende Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/Bienn und Fribourg/Freiburg i. Ue. Wiesbaden. Kröpf, Thomas (1986): Kommunikative Funktionen des Dialekts im Unterricht. Theorie und Praxis in der deutschen Schweiz. Tübingen.

Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule

435

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Bettina Wetzel-Kranz

Biel zwanzig Jahre danach Die Erfahrungen der ersten gemeinsamen zweisprachigen Maturaabteilung des Deutschen und des Französischen Gymnasiums Biel aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler

l. Die Gründung einer bilingualen gymnasialen Abteilung in Biel Vor zwanzig Jahren erschien eine Studie von Gottfried Kolde, die vergleichenden Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/Bienne und Fribourg/Freiburg i. Ue. gewidmet war. Für die gemischtsprachige Stadt Biel/ Bienne stellte der Autor damals fest, dass die "Geschichte Biels in erster Linie die Geschichte des Kampfes der Romands um ein vollständiges französischsprachiges Schulsystem in Biel" gewesen sei (Kolde 1981, 97f), das dann ab 1958 alle Schulstufen bis hin zum Gymnasium umfasste. Insofern konnte zum Zeitpunkt der damaligen Untersuchung von schulisch getrennt aufwachsenden Jugendlichen und damit von getrennten Sprachgruppen gesprochen werden: In gemischtsprachigen Orten mit konsequent getrennter einsprachiger Schulerziehung der koexistierenden Sprachgruppen können diese wegen der großen Bedeutung der Schule und damit der Schulsprache für die sekundäre sprachliche Sozialisation am eindeutigsten nach der (früheren) Schulsprache ihrer Mitglieder definiert werden: Gleiche Schulsprache begünstigt die Bildung einsprachiger peer-groups während der Schulzeit und prägt die späteren Sozialkontakte der Erwachsenen vor, wobei allerdings durch (spätere) Kontakte mit Mitgliedern der anderen koexistierenden Sprachgruppen in Familie, Freundeskreis, Beruf, Militärdienst, Vereinsleben, Freizeitbeschäftigungen usw. die Rolle der Schulsprache abgeschwächt werden kann. (Kolde 1981,11, Hervorhebungen dort)

Zwanzig Jahre danach gibt es nun in Biel Bestrebungen, die "koexistierenden Sprachgruppen" bereits während der Schulzeit einander näher zu bringen, wenn auch nur für die letzten Schuljahre, die zur Erlangung der Matura führen. So wurde im August 1998 eine zweisprachige Abteilung eröffnet, die gemeinsam vom Deutschen und Französischen Gymnasium der Stadt Biel getragen wird. Um zu dieser Kooperation zu gelangen, musste ein langer Weg zurückgelegt werden: Während bereits 1902 ein deutschsprachiges Gymnasium in Biel eröffnet worden war, mussten die Frankophonen noch bis 1958 kämpfen, um die Eröffnung des ersten französischsprachigen Gymnasiums durchzusetzen.1 Es folgte Vgl. dazu Kolde (1981, 95-108 und 122-129), sowie die Informationsbroschüre der beiden Gymnasien "Deutsches und Französisches Gymnasium Biel. Gemeinsame zweisprachige Maturaabteilung", S. 6 (im Folgenden zitiert als "Schulbroschüre"). In beiden Quellen werden jedoch verschiedene Daten für die jeweiligen Gründungen genannt.

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Bettina Wetzel-Kranz

dann zunächst eine Phase der bewusst gesuchten Distanz: "Die neue Schule musste sich zuerst ihre Identität schaffen und mit eigenem Rektorat zu einem gleichberechtigten Partner der alten, nunmehr 'Deutsches Gymnasium' genannten Schule werden." (Schulbroschüre 1998, 7) Aus der Sicht der beiden Schulen (ebd.) heißt es dazu heute: "Damit war aber gleichzeitig die Chance, in der zweisprachigen Stadt Biel auch eine qualitativ hochstehende zweisprachige Ausbildung anbieten zu können, für über dreißig Jahre vertan." Nach vierzig Jahren der Distanz wird nun also mit der gemeinsamen zweisprachigen Abteilung eine neue Ära eingeleitet.2 Der selbst gesetzte Anspruch für die neue gemeinsame zweisprachige Abteilung beider Gymnasien ist dabei groß: "Die zweisprachige Abteilung ist das Resultat der progressiven Annäherung zweier unabhängiger und strukturell verschiedener, aber seit 42 Jahren auf dem gleichen Schulareal lebenden Maturitätsschulen. Sie möchte beispielhaft werden für die Zusammenarbeit der beiden Sprachgemeinschaften unserer zweisprachigen Stadt." (Schulbroschüre 1998,1) Auf Grund der großen Nachfrage wurden zwei bilinguale Klassen an Stelle von ursprünglich nur einer geplanten eingerichtet.3 Beide Klassen sind sprachlich gemischt, die Schülerschaft ist zu jeweils gleichen Teilen germanophon und frankophon. Der Unterricht wird zu je fünfzig Prozent auf französisch und deutsch erteilt; bei der Fächerverteilung wurde darauf geachtet, dass sogenannte leichte und schwere Fächer gleichmäßig auf die Sprachen verteilt wurden. Es handelt sich also um ein Modell reziproker Immersion.4

Auch das Wirtschaftsgymnasium "Alpenstrasse" in Biel, das aus der ehemaligen Handelsschule hervorgegangen ist, bietet seit August 1998 eine Integrationsklasse an, in der frankophone und germanophone Schülerinnen und Schüler gemeinsam bilingual unterrichtet werden (vgl. Schulbroschüre 1998,7 und Brohy 1998, IV, 64). In der Schweiz sind in den letzten Jahren zahlreiche bilinguale Projekte ins Leben gerufen worden, und zwar auf allen Stufen der vorschulischen und schulischen Bildung. Der Hauptteil dieser Modelle ist in gemischtsprachigen Gegenden angesiedelt. Aus der Aufstellung von Brohy (1998) geht hervor, dass im betrachteten Zeitraum 1997/1998 die Modelle auf der Sekundarstufe II (zu denen auch das hier vorgestellte gehört) den stärksten Anteil ausmachen. Es handelt sich insgesamt um 64 Modelle bilingualen Unterrichts von insgesamt 157 verzeichneten, die jedoch im Umfang sehr unterschiedlich waren: vom Kochkurs auf Französisch in Basel bis hin zur bilingualen Maturaklasse wie an den beiden Bieter Gymnasien. Vgl. dazu Brohy/Bregy (1998, 88): "Reziproke Immersion (auch 'dual-way bilingual immersion" genannt) wird mit gutem Erfolg dort eingesetzt, wo die Schülerinnen der Minderheitssprache in genügender Anzahl vorhanden und wo die Sprecherinnen der Mehrheitssprache gewillt sind, diese Sprache auch zu lernen. In Kalifornien und in anderen Staaten der USA gibt es also sprachlich gemischte Klassen mit Anglophonen und Hispanophonen [...], in der Schweiz auch in Städten an der Sprachgrenze, wie in Biel und Freiburg." Eine vergleichbare Definition gibt auch Wode (1995,67).

Biel zwanzig Jahre danach

439

2. Die Erfahrungen der ersten bilingualen Klassen aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler Da eine wissenschaftliche Evaluation der neuen bilingualen Maturitätsabteilung noch aussteht, sollen hier erste Erfahrungen aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler des ersten Jahrgangs zusammengetragen werden, die mit Hilfe von Fragebogen ermittelt wurden.5 Schon der Umfang fällt sehr bescheiden aus, da nur die ersten Schülerinnen und Schüler dieses neuen Angebots, insgesamt 32, befragt werden konnten, davon 15 frankophone und 17 germanophone.6 Der Fragebogen umfasste 9 Seiten und enthielt insgesamt 41 Fragen, für die Germanophonen gab es eine deutsche Version, für die Frankophonen eine französische.7 Im Folgenden werden jeweils die Fragen aus der deutschen Version wiedergegeben.

3. Die Ergebnisse der Befragung Im vorliegenden Beitrag soll nur eine Auswahl der erfragten Inhalte thematisiert werden: der familiäre sprachliche Hintergrund der Befragten, die Motivationen für die Wahl der bilingualen Abteilung, die gemachten Erfahrungen mit dem zweisprachigen Unterricht, die erworbenen Kenntnisse sowie die kulturellen Aspekte des bilingualen Unterrichts. Soweit nicht speziell vermerkt, handelte es sich um vorgegebene Antworten, die nur angekreuzt werden mussten.

3.1. Eingangsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler Die Zuordnung der Schülerinnen und Schüler zur germanophonen respektive frankophonen Sprachgruppe richtet sich danach, welche Sprache sie als ihre Hauptsprache angegeben haben. Diese Sprache entspricht aber nicht unbedingt der Sprache des Elternhauses. Daher wurden die Schülerinnen und Schüler

Es handelt sich um eine Befragung, die von Nathalie Borter im Rahmen meines an der Universität Neuenburg gehaltenen Seminars "Deutsch in der Westschweiz" durchgeführt wurde und über die sie eine Seminararbeit geschrieben hat. Im Rahmen des Seminars hatten wir verschiedene Unterrichtsstunden einer bilingualen Klasse besucht, um eine eigene Anschauuung von diesem Untemchtsmodell zu gewinnen. An dieser Stelle möchte ich Nathalie Borter für ihr Einverständnis danken, ihre Ergebnisse hier publizieren zu dürfen. Mein Dank gilt auch Frau Heizmann vom Deutschen Gymnasium Biel, die diesen Besuch ermöglicht und organisatorisch vorbereitet hat, sowie meiner Genfer Kollegin Thertse Studer, durch die dieser Kontakt überhaupt erst zustande kommen konnte. Auch die Geschlechterverteilung war ziemlich ausgewogen: es handelte sich um 17 Schülerinnen und 15 Schüler. Der Fragebogen für die Frankophonen enthielt eine zusätzliche Frage, in der es um das Schweizerdeutsche ging.

440

Bettina Wetzel-Kranz

gefragt, welches die Muttersprachen (Ll) ihrer Eltern sind, und welche Sprache sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter zu Hause sprechen. Bei acht frankophonen Schülerinnen und Schülern waren beide Eltern ebenfalls frankophon und sprachen mit ihrem Kind französisch. Unter den germanophonen Schülerinnen und Schülern waren es dreizehn, deren Elternhaus ebenfalls deutschsprachig war. Eine Schülerin unter ihnen hat sich bei der Hauptsprache weder für Französisch noch für Deutsch entscheiden können. Sie wird daher zwar zu den Germanophonen gerechnet, jedoch immer gesondert gezählt (in den Tabellen als +1 eingetragen). In ihrem Fall sind beide Eltemteile deutschsprachig (Standard und Dialekt), die gesamte Schullaufbahn wurde aber in französischsprachigen Institutionen absolviert, daher fühlt sich diese Schülerin in beiden Sprachen gleich wohl. Bei allen übrigen Schülerinnen und Schülern der Klasse ergaben sich besondere Verhältnisse, da mindestens ein Eltemteil von ihnen eine andere Sprache als die Hauptsprache der Schülerin bzw. des Schülers sprach (vgl. Tabelle l und2):8 Von den insgesamt sieben "Sonderfällen" unter den frankophonen Schülerinnen und Schülern hatten fünf mindestens einen deutschsprachigen Elternteil, bei einer weiteren frankophonen Schülerin waren beide Elternteile germanophon, einmal war ein Elternteil italienischer Sprache und praktizierte diese Sprache auch in der Familie (vgl. Tabelle 1). Bei den germanophonen Schülerinnen und Schülern sprachen nur vier nicht mit beiden Elternteilen deutsch: dreimal war ein Elternteil frankophon, in einem weiteren Fall sprach der Vater arabisch mit seinem Kind (vgl. Tabelle 2). Damit wird also bei einem Drittel der befragten Schülerinnen und Schüler (l l von 32) mit mindestens einem Eltemteil eine andere Sprache als die Hauptsprache der Schülerin/des Schülers gesprochen. Dabei zeigen sich jedoch wesentliche Unterschiede zwischen den germanophonen und den frankophonen Schülerinnen und Schülern: Es sind mehr Frankophone als Germanophone, die aus einem gemischtsprachigen Elternhaus kommen. Bei allen germanophonen Schülerinnen und Schülern aus einem gemischtsprachigen Elternhaus wird in der Familie Dialekt als Hauptsprache gesprochen. Demgegenüber ergibt sich für die Frankophonen aus gemischtsprachigen Familien ein heterogenes Bild: Nur in zwei Fällen wird mit beiden Elternteilen ausschließlich Französisch gesprochen, in drei weiteren Fällen wird neben Französisch auch ein schweizerdeutscher Dialekt gesprochen, ein anderes Mal wird Französisch und Italienisch kombiniert und in einem weiteren Fall sprechen beide Eltemteile Dialekt mit ihrem Kind. Damit ist also bei vier frankophonen Schülerinnen und Schülern der Dialekt bereits im Elternhaus präsent, in zwei weiteren Fällen zumindest auf Grund der Verwendete Abkürzungen: CH-D: schweizerdeutscher Dialekt, Frz.: Französisch, Ital.: Italienisch.

441

Biel zwanzig Jahre danach

Ll eines Elternteils. Für alle anderen Frankophonen jedoch ist die L2 bis zum Eintritt in die bilinguale Abteilung das Standarddeutsche. Spätestens mit dem Eintritt in die bilinguale Abteilung werden sie mit der Diglossie konfrontiert. Durch die Mischung von frankophonen und germanophonen Schülerinnen und Schülern in der bilingualen Abteilung in Biel kommen nun zwei Varianten der L2 im Unterricht zum Einsatz: Schweizerdeutsch9 und Standarddeutsch. Bei unseren Unterrichtsvisitationen konnten wir feststellen, dass dort abwechselnd beide Varianten gebraucht werden: Standarddeutsch für den Lehrervortrag, Schweizerdeutsch für die Gespräche der germanophonen Schülerinnen und Schüler untereinander während der Arbeitsgruppen und mit dem Lehrer während der Betreuung der Arbeitsgruppen. Inwieweit sich dieses auf die Erfahrungen auswirken wird, die die Schülerinnen und Schüler in der bilingualen Abteilung machen, wird sich weiter unten erweisen. Ll der Mutter

CH-D CH-D CH-D Frz. Frz. Frz. Frz.

Sprache mit der Mutter CH-D CH-D + Frz. Frz. Frz. Frz. Frz. Frz.

Ll des Vaters

CH-D Frz. Frz. CH-D CH-D CH-D Ital.

Sprache mit dem Vater CH-D CH-D + Frz Frz. Frz. CH-D CH-D + Frz. Ital.

Tab. l: Familiärer sprachlicher Hintergrund der frankophonen Schülerinnen und Schüler mit mindestens einem nicht-frankophonen Eltemteil Ll der Mutter

Frz. Frz. CH-D CH-D

Sprache mit der Mutter CH-D CH-D CH-D CH-D

Ll des Vaters

CH-D CH-D Frz. Arabisch

Sprache mit dem Vater CH-D CH-D CH-D CH-D

Tab. 2: Familiärer sprachlicher Hintergrund der germanophonen Schülerinnen und Schüler mit mindestens einem nicht-germanophonen Eltemteil

3.2. Motivationen för die Wahl der zweisprachigen Maturaabteilung Befragt man die Schülerinnen und Schüler nach ihren Gründen für die Wahl der bilingualen Unterrichtsmethode, so lässt sich aus den Antworten entnehmen, dass diese Methode zu einem erheblichen Teil auf Grund der erhofften Lemerleichterung gewählt wurde: 20-mal wurde als Grund angekreuzt "weil es einfaHinter dieser Bezeichnung steckt ein komplexer Sachverhalt: Tatsächlich handelt es sich um verschiedene schweizerdeutsche Dialekte, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden. Zur Vereinfachung wurde im Fragebogen jedoch nur von Schweizerdeutsch gesprochen, diese Vereinfachung wird auch im Folgenden beibehalten.

442

Beitina Wetzel-Kranz

eher ist, eine Sprache mit dieser Methode zu erlernen", 19-mal "weil ich hoffte, rasch ein gutes Kommunikationsniveau zu erlangen". Auch scheint die Wahl des bilingualen Modells für einige Schülerinnnen und Schüler eine explizite Absage an den traditionellen Fremdsprachenunterricht darzustellen: 12-mal hieß es "weil diese Methode v.a. auf das Mündliche Wert legt, was ich wichtiger finde als die Grammatik", dreimal hieß es "weil ich die traditionelle Methode nicht mag" und einmal "weil ich mit der traditionellen Lemmethode Mühe hatte". Die Organisatoren der bilingualen Abteilung dürfte aber vor allem das folgende Ergebnis freuen, das genau mit ihrem angestrebten Ziel übereinstimmt: 18 Schülerinnen und Schüler gaben als Grund für ihre Wahl an, sich mit der Kultur ihrer Nachbarn anfreunden zu wollen (siehe Tabelle 310). Interessant an den Ergebnissen ist weiterhin, dass spätere berufliche Vorteile erst sehr weit hinten rangieren (nur viermal genannt), sogar noch nach dem Ratschlag der Eltern, der siebenmal als Grund für die Wahl des bilingualen Zweigs genannt wurde.

weil es einfacher ist, eine Sprache mit dieser Methode zu erlernen weil ich hoffte, rasch ein gutes Kotnmunikationsniveau zu erlangen weil ich mich mit der Kultur meiner Nachbarn anfreunden wollte weil diese Methode v.a. auf das Mündliche Wert legt, was ich wichtiger finde als die Grammatik weil ich die traditionelle Lemmethode nicht mag weil ich mit der traditionellen Lernmethode Mühe hatte weil meine Eltern mir dazu geraten haben Unter Sonstiges vermerkte Antworten: für den Beruf wichtig ich kann die L2 schon, aber ich will mich verbessern um ein zweisprachiges Maturitätszeugnis zu haben ich sehe so einen Sinn im Gymnasium ich wollte etwas Neues ausprobieren

F 9 8 8 4

G 11 11 10 8

20 19 18 12

3 1 4

— 3

3 1 7

2 1 1

2 1 1 47

4 1 1 1 1 88



41

Total

Tab. 3: Aus welchen Gründen haben Sie die bilinguale Unterrichtsmethode gewählt?

Die hier angegebenen Motivationen decken sich auch mit den Antworten auf eine weitere Frage, die an einer anderen Stelle des Fragebogens zur Kontrolle gestellt wurde: 27-mal wurde dort der Hoffnung Ausdruck verliehen, "rasch ein gutes Kommunikationsniveau zu erreichen", 16-mal, "die L2 mühelos zu erlernen". Die mögliche "kulturelle Bereicherung" wurde dort sechsmal genannt (vgl. Tabelle 4).

Bei der Auswertung wurden die Antworten in thematische Gruppen eingeteilt, die in der Tabelle durch dickere Trennungsstiche voneinander abgehoben werden.

Biel zwanzig Jahre danach

rasch ein gutes Kommunikationsniveau zu erreichen die L2 mühelos zu erlernen dass diese Methode mir eine kulturelle Bereicherung sein würde Unter Sonstiges vermerkte Antworten: mit einer interessanteren Methode (nicht mehr Wörtchen-LemSystem) die L2 zu erlernen mehr Gefilhl für die Sprache zu entwickeln der Röstigraben würde etwas beseitigt einfachere Französischstunden zu haben

443 F 13 7 2

G 14 9 3+1



1

1

1 23

1 1 30

1 1 1 53

Total

27 16 6

Tab. 4: Was erhofften Sie sich von diesem bilingualen Unterricht, als Sie damit begannen?

3.3. Einstellungen gegenüber Fremdsprachen Dass die Schüler das Erlernen von Fremdsprachen mit kulturellen Aspekten verbinden, zeigt sich auch bei einer anderen Fragestellung, die ihrer Einstellung gegenüber Fremdsprachen galt. Dabei wurde deutlich, dass sie das Erlernen von Fremdsprachen mit Auslandsreisen in Verbindung bringen (25), sie Fremdsprachen allgemein für nützlich halten (24) und sie Fremdsprachenkenntnisse in der Schweiz besonders wichtig finden (18); einige von ihnen denken bei dieser Frage auch an die Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb der EU (10) (siehe Tabelle 5"). Wie bei einer frei gewählten bilingualen Klasse nicht anders zu erwarten, entspricht diese Wahl auch einer gewissen selbstzugeschriebenen Begabung für das Erlernen von Fremdsprachen: 21 Schülerinnen und Schüler stellen fest "ich mochte Sprachen schon immer" und zehn "ich war in der Schule immer schon sprachbegabt". Erstaunlicherweise findet sich daneben jedoch auch achtmal die Antwort "ich mag Sprachen nicht besonders" und sechsmal "ich habe in der Schule schon immer Schwierigkeiten mit Sprachen gehabt". Warum diese Schüler die bilinguale Abteilung gewählt haben, klärt sich, wenn man ihre sonstigen Antworten betrachtet: Fast alle Schülerinnen und Schüler, die die letzte Antwort gewählt haben, kreuzen außerdem die folgende Antwort an: "Fremdsprachen interessieren mich zwar nicht besonders, aber um in der Schweiz gute Berufschancen zu haben, ist es notwendig, die L2 zu können" (siehe Tabelle 5). Insgesamt zeigt sich damit, dass ein Großteil der Schülerinnen und Schüler die bilinguale Abteilung auf Grund von instrumentellen Motivationen gewählt hat, während ein kleiner Teil von ihnen integrative Motive nennt.12

Die mit * gekennzeichneten Antworten wurden unter Sonstiges angegeben. Die Antworten wurden nicht gemäß der Reihenfolge im Fragebogen wiedergegeben, sondern für die Auswertung in thematische Gruppen gegliedert, die in Tabelle 5 durch Fettdruck voneinander abgehoben werden. Vgl. Gardner/Lambert (1972), die gezeigt haben, dass integrative Motive bei bilingualen Modellen eher zum Erfolg führen als instrumentelle. Inzwischen weiß man jedoch, dass

444

Bettina Wetzel-Kranz F 12

G

Total

13

25

15 10

24 18

5

10

6

9

1

1

8 4 5

13 6 5

21 10 10



1

1

4 4

4 2

8 6

6

1

7

ich reise gern, und dabei sind Grundkenntnisse in Fremdsprachen angebracht Fremdsprachenkenntnisse können immer nützlich sein 9 in einem Land wie der Schweiz sind Fremdsprachenkenntnisse wich8 tig die EU wird immer mehr Menschen zusammenbringen; da ist es wich- 5 tig, Fremdsprachen zu können ich habe Affinitäten zu einem bzw. einigen Ländern, deren Sprache 3 ich aus kulturellen Gründen gerne kennen würde ich finde Fremdsprachen wichtig als Verständigung der verschiedenen — Kulturen*

ich mochte Sprachen schon immer ich war in der Schule immer schon sprachbegabt ich finde es wichig, mich in einer Fremdsprache ausdrücken zu können, aber die Grammatik interessiert mich nicht wirklich es fasziniert mich, wenn sich jemand fliessend in mehreren Sprachen verständigen kann; ich möchte dies auch können* ich mag Sprachen nicht besonders ich habe in der Schule schon immer Schwierigkeiten mit Sprachen gehabt Fremdsprachen interessieren mich zwar nicht besonders, aber um in der Schweiz gute Berufschancen zu haben, ist es notwendig, die L2 zu können Tab. 5: Welches ist Ihre Beziehung zu Fremdsprachen allgemein?

Neben den Interessen für Fremdsprachen allgemein war aber auch die Frage wichtig, welche Einstellung gegenüber der angebotenen L2 herrschte: Hätten die Schüler lieber eine andere als die angebotene L2 gehabt? Auf die entsprechende Frage gab es eine klare und sehr erfreuliche Antwort: neunzehn Schülerinnen und Schüler verneinen diese Frage, nur sechs von ihnen bejahen sie und fünf sind unentschieden (siehe Tabelle 6).13

Nein

Ja Ja und Nein Eine Sprache mehr einführen

F 5 4 5 1 15

G 14 2 1 17

Total

19 6 5 2 32

Tab. 6: Wenn Ihnen die Möglichkeit geboten würde, in der bilingualen Abteilung eine andere L2 zu lernen, würden Sie dann die Sprache wechseln?

Auf die Frage nach möglichen alternativen L2-Angeboten nennen neun Schülerinnen und Schüler erwartungsgemäß Englisch, zweimal wird "Spanisch oder Englisch" genannt (siehe Tabelle 7). auch die Stärke der Motivation sowie die mit dem Spracherwerb verbundenen Spracheinstellungen eine Rolle spielen (Knapp-PotthofiTKnapp 1982,1141). Vorgegeben waren nur die anzukreuzenden Antworten "ja" und "nein".

Biel zwanzig Jahre danach

Englisch Spanisch oder Englisch

445 F 7 2

G 2 -

Total

9 2

Tab. 7: Wenn ja, welche Sprache würden Sie wählen?

Bei beiden Tabellen fällt auf, dass sich die Antworten der Frankophonen und der Germanophonen erheblich voneinander unterscheiden. Während sich vierzehn genmanophone Schülerinnen und Schüler für nein entscheiden, sind es nur fünf von fünfzehn frankophonen (vgl. Tabelle 6). Alle übrigen zehn Frankophonen sind also mit der angebotenen Sprache nicht (ganz) zufrieden. Dieser Unterschied findet sich auch in Tabelle 7 wieder: Sieben Frankophone entscheiden sich eindeutig für Englisch, zwei weitere für Spanisch oder Englisch als Alternativsprache zu Deutsch, während nur zwei Germanophone eine Altemativsprache zu Französisch nennen. Dieses Ergebnis stimmt auch mit der allgemeinen Tendenz frankophoner Schülerinnen und Schüler überein, Englisch gegenüber dem Deutschen zu bevorzugen, wenn sie die freie Wahl hätten (vgl. Muller 1998,44f). Dabei gehen diese negativen Einstellungen gegenüber dem Deutschen an den reellen Chancen der Frankophonen vorbei, die sich für sie im Berufsleben mit Deutschkenntnissen verbinden. So hat erst kürzlich Grin (1999, 13) nachgewiesen, dass Deutsch- bzw. Schweizerdeutschkenntnisse für Frankophone in der Westschweiz mit höheren Gehaltsklassen korrelieren, während sich demgegenüber ein geringerer Lohnzuwachs bei Englischkenntnissen feststellen ließ. Auch aus der Volkszählung von 1990 war bereits die große Bedeutung des Standarddeutschen/Schweizerdeutschen als Berufssprache in der französischsprachigen Schweiz hervorgegangen (Werlen/Wymann 1997, 307).u

4. Erfahrungen mit dem bilingualen Unterricht Nachdem bisher nur die Voraussetzungen des bilingualen Unterrichts betrachtet wurden, soll es nun um die konkreten Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler der ersten beiden Klassen der zweisprachigen Maturaabteilung gehen. Die Schülerinnen und Schüler sind gefragt worden, ob ihre Erwartungen bezüglich des bilingualen Unterrichts erfüllt wurden oder nicht. Die Antworten auf diese Frage sollten sie selbst formulieren. Bei der Auswertung wurden diese Antworten in vier Kategorien eingeteilt: "Ja", "Nein", sowie zwei Zwischenstufen, bei Dass sich die Zweisprachigkeit in Biel mit beruflichen Vorteilen verbindet, haben demgegenüber 46% der befragten Frankophonen (gegenüber 30% der befragten Germanophonen) bei einer Untersuchung des Forums für die Zweisprachigkeit (1999, 22) angegeben. Für die Frankophonen war dies der stärkste Vorteil; genannt wurden außerdem: andere Kulturen kennenlernen (37%), Sprachen lernen (35%), Toleranz (35%). Die Gewichn'gung der Germanophonen ergab demgegenüber: Sprachen lernen (47%), Toleranz (38%), belebt und vereinfacht die Kommunikation (34%).

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Beitina Wetzel-Kranz

denen sowohl bestätigte als auch enttäuschte Erfahrungen ausgedrückt worden waren: "ja aber...", "nicht ganz" (vgl. Tabelle 8a). In Tabelle 8b wurden die formulierten Antworten nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt. Bei der Frage, ob die Erwartungen erfüllt wurden oder nicht, zeigt sich, dass der Großteil der Antworten im Zwischenbereich zwischen Ja und Nein angesiedelt ist. Bei insgesamt 25 Schülerinnen und Schülern wurden die Erwartungen nicht völlig erfüllt, aber auch nicht völlig enttäuscht. Demgegenüber wurden viermal die Erwartungen erfüllt und dreimal enttäuscht. Ja Ja, aber . . . Nicht ganz Nein

F 1 4 9 1 15

G 3 8 4 2 17

Total 4 12 13 3 32

Tab. 8a: Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden?

Nach der Auswertung der allgemeinen Antworttendenzen sollte eine Aufschlüsselung in thematische Schlüsselbegriffe ergeben, welche positiven und negativen Gesichtspunkte genannt wurden. Diese wurden in Tabelle 8b je nach Häufigkeit nacheinander aufgeführt, die von den Schülerinnen und Schülern formulierten Antworten werden auszugsweise als Beispiele angegeben. Zunächst lässt sich feststellen, dass die wahrgenommenen kulturellen Differenzen ("Röstigraben") die sonst positiven Erfahrungen mit dem bilingualen Unterricht beeinträchtigt haben. Mit insgesamt zehn Nennungen ist dies der am häufigsten genannte Punkt. Am zweithäufigsten genannt werden die Fortschritte im Verständnis bei weiterbestehenden Problemen im mündlichen Ausdruck (sechsmal genannt). Fünfmal wird die Verbesserung des Kommunikationsniveaus und die Vergrößerung des Wortschatzes positiv vermerkt. Bei den frankophonen Schülerinnen und Schülern findet sich viermal der Hinweis auf die besonderen Schwierigkeiten für die Frankophonen, nicht nur mit dem Standarddeutschen, sondern auch mit dem Dialekt konfrontiert zu werden. In diesen Antworten wird dieser Negativaspekt mehrfach mit der mangelhaften Motivation der Lehrenden in Verbindung gebracht, sich auf die besondere Situation im bilingualen Unterricht einzustellen.15 Jeweils dreimal werden die folgenden enttäuschten Erwartungen erwähnt: "es geht nicht so mühelos wie erwartet", "am Anfang gab es rasch Fortschritte, aber dann trat ein Stillstand ein", "es geht sehr viel langsamer als erwartet". Die Germanophonen erwähnen zweimal, dass Bei den gewünschten Änderungen, zu denen sich die Schülerinnen und Schüler äußern sollten, waren es wiederum drei Frankophone, die vorschlugen, während der Stunden nicht mehr Schweizerdeutsch zu sprechen. Weiterhin wurde von Frankophonen (2-mal) und Germanophonen (l-mal) angeregt, die nicht motivierten Lehrer auszuwechseln. Die Häufigkeit dieser Nennungen steht aber weit hinter der Frequenz zurück, mit der eine verbesserte Koordination der beiden Gymnasien gefordert wurde. Insgesamt gab es 23 Äußerungen diesen Inhalts. Bei den Verbesserungswünschen scheinen also organisatorische Probleme sehr viel stärker zu wiegen als die sonstigen.

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Biel zwanzig Jahre danach

ihr Verständnis in der L2 wesentlich verbessert wurde. Bei den Frankophonen wird einmal die erworbene rezeptive Kompetenz des Schweizerdeutschen genannt, ein anderes Mal wird die bilinguale Methode als leichter bewertet.

Ja, aber / Nicht ganz (+ Hinweis auf kulturelle Differenzen, Röstigraben): Leider haben wir einen Röstigraben. // Die Sprache in dieser Schule ist eigentlich nicht das Problem, wenn es Unklarheiten gibt. Es sind dann eher die Mentalitäten der Deutschschweizer und Romands, die mitspielen. // Der Kontakt zwischen Welschen und Deutschschweizern ist schlecht. // J'espirais un plus grand esprit d'entraide entre les suisse-romands et les suisse-allemands. // Oui, je trouve que c'est une bonne methode pour apprendre, mais le probleme, c'est que 93 separe la classe en deux: suisse-allemands et romands. Ja, aber / Nicht ganz: Fortschritte im Verstehen, aber nicht im Sprechen: im Verstehen Fortschritte, im Sprechen nicht so (ich traue mich nicht mit meinem Emmitaler Französisch mit den Romands zu reden) // verstehe viel besser französisch, aber ich spreche nicht viel besser // J'ai appris beaucoup de mots allemands giice ä l'ocoute, mais le parier est encore dur. // Oui pour la comprehension, par centre 1'oral ne progresse pas aussi rapidement que je me 1'avais escompto Vokabular erweitert und Kommunikation verbessert: Ich habe mein Vokabular bereits sehr erweitern können und auch die Kommunikation funktioniert besser // Et bien, certainement que j'ai acquis de nouvelles notions de la langue allemande et une plus grande facilite" m'exprimer oralement Ja, aber (+ Hinweis auf Dialekt-Problematik, z. T. verbunden mit Hinweis auf unmotivierte Lehrer): Non, les suisse-allemands parlent deux langues et nous une, ce qui fait qu'ils parlent toujours le franfais. Certains profs n'ont pas changeV adapti leurs me"thodes. // Je n'ai pas assez appris l'allemand. Mais je crois que cela est du certains profs "non-motives"! Je pense aussi que les Suisse-Allemands ont plus appris la L2 que nous, car eux par lent en franfais avec nous, et entendent seulement le franfais et pas en plus un dialecte! Et comme je parle le suisse-allemand, avec mes amis suisse-allemands je parle en suisse-allemand. // Certains profs ne fai sant aucun effort, je suis moins motivoe qu'au dobut pour apprendre. // le probleme est que mon but est d'apprendre le BON ALLEMAND et les suisse-alemaniques ne veulent pas communiquer en cette langue!!! Ja, aber es geht nicht so mühelos wie gedacht: In einer bilingualen Klasse erlernt man die L2 zwar leichter, aber es geht nicht mühelos. // Pour la premiere [apprendre la L2 sans trap d'effort] je crois qu'il faut de toute fa9on foumir un effort important et pour la deuxieme [acquorir rapidement un bon niveau de communication] je suis assez satisfait. Am Anfang rasch Fortschritte, aber jetzt Stillstand: Am Anfang machten wir grosse Fortschritte im Verstehen der französischen Sprache. Ich finde aber, dass es jetzt stehengeblieben ist, und wir immer auf dem gleichen Niveau bleiben. // Am Anfang machte ich grosse Fortschritte mündlich und schriftlich. Doch dann blieb ich auf demselben Niveau.

F 2

G 8

Total 10

2

4

6

2

3

5

4

1

4

2

3

3

3

448

Bettina Wetzel-Kranz

Ja, aber es geht nicht so schnell, wie gedacht; es bleibt noch ein 3 langer Weg: Moyennement comblee: c'est pas si rapide que ca. // Oui, elles ont comblöes en partie, mime s'il reste encore un long chemin avant de connaitre assez bien la langue partenaire. Verstehen geht besser: Ich verstehe die L2 schon viel besser. // Durch die Unterrichtsfächer in L2 wurde mein Verständnis in der Fremdsprache ausgeprägt. Verstehen von Schweizerdeutsch ist besser: 1 Je n'ai pas Fimpression d'avoir beaucoup appris l'allemand. (Mais par centre je comprends pas mal du suisse-allemand.) 1 Ja, es ist leichter: En section bilingue, il est plus facile d'apprendre l'allemand.

3

2

2 1



1

Tab. 8b: Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden? Erklären Sie bitte in einigen Worten.

Als Fazit ergibt sich, dass die Erwartungen eines großen Teils der Schülerinnen und Schüler, die sie in Bezug auf die bilinguale Abteilung hegten, zumindest zum Teil erfüllt wurden. Vor allem die Erhöhung der rezeptiven Kompetenz in der L2 wird positiv vermerkt. Die Antworten zeigen aber auch, dass die Schülerinnen und Schüler zum Teil mit sehr großen Erwartungen in die bilingualen Klassen gekommen waren. So wird nun beklagt, dass sich die L2 nicht so einfach und schnell erlernen lässt, wie dies ursprünglich erwartet wurde.16 Bei den nicht erfüllten Erwartungen zeigt sich interessanterweise eine Spaltung je nach Sprachgruppe: Nur die Frankophonen geben als Grund für die enttäuschten Erwartungen die fehlenden Hilfestellungen der Lehrpersonen an und verbinden diese Probleme zum Teil mit der besonderen Sprachlernsituation, in der sie sich befinden, da sie mit Schweizerdeutsch und Standarddeutsch konfrontiert werden. Die kulturellen Differenzen innerhalb der Klasse wiederum werden fast ausschließlich von den Germanophonen als Grund für die enttäuschten Erwartungen genannt (achtmal, dagegen nur zweimal von Frankophonen).17 Selbst die Erwartungen der Schnelligkeit und des allmählichen Fortschreitens scheinen auf die Sprachgruppen verteilt zu sein: Während es nur die Frankophonen sind, die beklagen, dass der Spracherwerb nicht so schnell geht, wie sie erwartet haben, sind es nur Germanophone, die beklagen, dass nach einem

17

Um derartigen enttäuschten Erwartungen vorzubeugen, sollte daher bei der Information der Schülerinnen und Schüler darauf geachtet werden, die Möglichkeiten des bilingualen Sachunterrichts realistisch darzustellen. Dies haben auch Stern et al. (1998, 22) als Fazit aus den Erfahrungen mit dem bilingualen Sachunterricht in Zürcher Sekundarstufen gezogen: "Daraus lässt sich für die Umsetzung dieses Modells ableiten, dass es für die Lernenden klar sein muss, dass diese Art von Unterricht anspruchsvoll und anstrengend ist; gleichzeitig kann ihnen aber auch gezeigt werden, dass relativ hoch gesteckte L2-Erwerbsziele erreicht werden können." Erinnert sei hier an Tabelle 3, aus der hervorgeht, dass zehn germanophone Schülerinnen und Schüler als Grund für die Wahl des bilingualen Modells angaben, "ich wollte mich mit der Kultur meiner Nachbarn anfreunden". Diese Antwort wurde dort auch von acht frankophonen Schülerinnen und Schülern gegeben. Inwieweit deren Erwartungen ebenfalls enttäuscht bzw. nicht enttäuscht wurde, lässt sich leider nicht feststellen.

Biel zwanzig Jahre danach

449

Fortschritt am Anfang nun ein Stillstand eingetreten sei. Allerdings sind diese Thematisierungen jeweils zahlenmäßig so gering, dass diese Unterschiede nicht überbewertet werden dürfen. Da die Gründung der bilingualen Abteilung auch zum Ziel hatte, die beiden Sprachgruppen Biels einander näher zu bringen, wurden die Schülerinnen und Schüler gefragt, ob sie eine Annäherung feststellen konnten. Diese Frage wird von den meisten aber eher verneint (17) als bejaht (14) (siehe Tabelle 9). Im Vergleich zu den obigen Ergebnissen fallt hier nun auf, dass es sowohl die Germanophonen als auch die Frankophonen sind, die die Annäherung verneinen. Zahlenmäßig ergeben sich pro Sprachgruppe keine wesentlichen Unterschiede: insgesamt siebenmal wird sie von den Frankophonen verneint, insgesamt zehnmal von den Germanophonen. F Nein, nicht wirklich Nein, gar nicht Ja, sehr Ja, ein wenig

4 3

1 7 15

G 8+1 1 1 5 16

Total

13 4 2 12 31

Tab. 9: Hat Sie der bilinguale Unterricht Ihren Kameraden des französischen/deutschen Gymnasiums nähergebracht?

Eine ähnliche Frage wurde an einer anderen Stelle des Fragebogens noch einmal gestellt, dort wurde wiederum nach der Möglichkeit einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Germanophonen und Frankophonen mit Hilfe des bilingualen Modells gefragt. Auch diese Frage wurde von den Schülerinnen und Schülern eher verneint: dreizehn gaben an "nicht wirklich", fünf "überhaupt nicht"; neun hingegen bejahten diese Möglichkeit (siehe Tabelle 10). Auch hier ergibt sich wieder kein wesentlicher Unterschied zwischen Germanophonen und Frankophonen, was die allgemeinen Antworttendenzen anbelangt: insgesamt neun Frankophone antworten "nein, überhaupt nicht" bzw. "ich glaube nicht wirklich daran". Dies entspricht den neun Germanophonen, die "ich glaube nicht wirklich daran" als Antwort angegeben haben. Unterschiede ergeben sich jedoch auf der Ebene der Nuancierung der Antworten. Während die reine Ablehnung dieser Möglichkeit fünfmal von den Frankophonen angekreuzt wird, findet sich kein einziges Kreuz bei den Germanophonen (vgl. Tabelle 10). Diese Ergebnisse zeigen, dass der ursprünglich gehegte Wunsch einer Annäherung der Schüler aneinander durch dieses Unterrichtsmodell (bisher) nicht erfüllt wurde. Leider deuten die Ergebnisse von insgesamt drei an verschiedenen Stellen des Fragebogens platzierten Fragestellungen in diese Richtung. Auf Grund der Ergebnisse in Tabelle 8b ist dabei sogar zu befürchten, dass eine Wahrnehmung der Differenzen überhaupt erst durch die Erfahrungen in der Klasse in Gang gesetzt wurde.18 Zumindest bei den Germanophonen scheint dies der Fall zu sein, da vor allem sie den "Röstigraben" nennen, wenn es um ihre enttäuschten Erwartungen geht.

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Bettina Wetzel-Kranz

F ich glaube nicht wirklich daran 4 nein, überhaupt nicht 5 4 ja, zweifellos Unter Sonstiges vermerkte Antworten: 1 es ist eine Möglichkeit, aber nur wenn die Klasse als Ganzes auch funktioniert ich glaubte, dass es eine Möglichkeit sein könnte, aber es ist mir erst 2 jetzt richtig bewusst geworden, dass es einen Graben gibt eigentlich denke ich dies, doch bei uns funktioniert es nicht so, weil — der Röstigraben auch schon in unsere Klasse Einzug gehalten hat es zeigt sich schon an unserer Schule, dass es nicht einfach Qber— windbar ist 17

G 9 4+1

Total 13 5 9

1

2



2

1

1

1

1

17

34

Tab. 10: Denken Sie, dass der bilinguale Unterricht eine Möglichkeit sein könnte, die Beziehungen zwischen Germanophonen und Frankophonen in der Schweiz zu verbessern?

Diese Befürchtung kann jedoch durch ein weiteres Befragungsresultat etwas nuanciert werden: Auf die Frage, ob sich die Vorstellungen von den L2-Sprechern verändert habe, seit die Schüler die zweisprachige Abteilung besuchen, antworteten elf mit "Nein", zehn von ihnen antworten "ja, eher positiv" und acht "ja, eher negativ" (siehe Tabelle 11). Zu einem Großteil haben sich die Einstellungen also nicht verändert bzw. positiv verändert. Die negativen Veränderungen fallen hingegen geringer aus.

Nein Ja, eher positiv Ja, eher negativ Unter Sonstiges vermerkte Antworten: Alles, teilweise sehr positiv und teilweise sehr negativ Ich habe keine richtige Vorstellung von ihnen

F 3 5 8

G 8 5 -

Total 11 10 8

1 -

1+1 1

3 1

Tab. 11: Hat sich die Vorstellung von den L2-Sprechern verändert, seit Sie in der zweisprachigen Abteilung sind?

5. Verwendung der L2 außerhalb der Schule Ein recht positives Ergebnis ergab sich bei der Frage, ob die Schülerinnen und Schüler die erlernte L2 auch außerhalb der Schule verwenden. Auf Grund der sprachlichen Verhältnisse von Biel wäre zu vermuten gewesen, dass dies zwar von den Frankophonen als sprachlicher Minorität bejaht wird, nicht aber unbedingt von den Germanophonen. Demgegenüber zeigt sich jedoch, dass beide Sprachgruppen von den erworbenen Sprachkenntnissen auch außerhalb der Schule profitieren: fünf der frankophonen Schülerinnen und Schüler "oft", fünf "manchmal" und vier "selten". Von ihnen wurde außerdem zweimal angegeben,

Biel zwanzig Jahre danach

451

dass sie oft das Schweizerdeutsche verwenden, das sie in der bilingualen Abteilung erworben haben. Bei den germanophonen Schülerinnen und Schüler verwenden acht die L2 "manchmal", sechs "selten" und drei "oft".

manchmal selten

oft oft (Schweizerdeutsch) nein, nie Antworten mit Zusatzbemerkungen: selten das Schweizerdeutsche, das ich in dieser Klasse gelernt habe

F 5 4 5 1 -

G 8 6 2+1 -

1

Total

13 10 8 1 -

-

1

Tabelle 12a: Verwenden Sie die L2 auch außerhalb der Schule?

Zusätzlich wurden die Schülerinnen und Schüler gefragt, in welchen Situationen sie die L2 verwenden. Hier ergaben sich pro Sprachgruppe verschiedene Gewichtungen. Bei den Frankophonen sind es vor allem die Gespräche mit Bekannten, in denen die Sprachkenntnisse Verwendung finden; diese Antwort wurde elfmal gegeben. Demgegenüber fällt die Verwendung der L2 in den Ferien (4) und bei Jobs (4) weniger ins Gewicht. Von den Frankophonen wird zusätzlich viermal darauf hingewiesen, dass sie die Deutschkenntnisse beim Einkauf benötigen, wenn die Verkäuferinnen kein Französisch verstehen. Einige von ihnen benutzen die L2 außerdem in der Familie (2) und in Sportklubs (2). Bei den germanophonen Schülerinnen und Schülern sind es hauptsächlich die Ferien, in denen ihre L2-Kenntnisse zum Einsatz kommen (11), erst dann werden Gespräche mit Bekannten (9) und Jobs (9) genannt. mit Bekannten, die die L2 sprechen in den Ferien für Jobs Unter Sonstiges vermerkte Antworten: in der Familie in Sportklubs in Einkaufsläden, wo niemand französisch spricht

F 11 4 4

G 8+1 8+1

20 15 13

2 2 4

1 1 -

3 3 4

10+1

Total

Tabelle 12b: Wenn ja, in welchen Situationen?

Die von den Schülerinnen und Schülern angegebene Nützlichkeit von Sprachen als Motivation für die Wahl der bilingualen Abteilung wird also bestätigt, wenn sie angeben sollen, wo sie ihre L2-Kenntnisse außerhalb der Schule verwenden. Es zeigt sich dabei, dass die Sprachkenntnisse bei einer Reihe von sozialen Kontakten zum Einsatz kommen. Selbst die Nützlichkeit der Sprachkenntnisse für den Beruf findet hier dann bereits ihren Niederschlag. Erstaunlicherweise wird diese Verwendungsweise der L2 jedoch häufiger von den Germanophonen als von den Frankophonen als Antwort genannt.

452

Bettina Wetzel-Kranz

6. Schlussfolgerungen Welches Fazit soll nun aus diesen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler der ersten gemeinsamen bilingualen Abteilung der beiden Bieler Gymnasien gezogen werden? Dabei ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, dass es sich hier keinesfalls um repräsentative Ergebnisse handelt, da es insgesamt bisher nur zwei Klassen gab, die diese Erfahrungen gemacht haben. Wenn sich in den Klassen Probleme ergeben haben, die von den Schülerinnen und Schülern zum großen Teil als Auswirkung des "Röstigrabens" diagnostiziert werden, so kann dies durchaus purer Zufall sein und durch Erfahrungen mit anderen Klassen in den nächsten Jahren widerlegt werden. Da die Erhebung nach den ersten sieben Monaten gemacht worden ist, können die Ergebnisse eventuell auch darauf zurückgeführt werden, dass die Eingewöhnung an die neue Unterrichtssituation noch nicht weit genug fortgeschritten war. Allerdings sollten die aufgetretenen Probleme im Auge behalten werden, da sie auch ein Anzeichen dafür sein könnten, dass bilinguale Modelle wie das vorgestellte nicht beliebig an jedem Ort problemlos eingeführt werden können. Erinnert sei hier noch einmal an die Einordnung des dargestellten Modells als reziproke Immersion bei Brohy/Bregy,19 bei der die bisherigen amerikanischen Modelle mit dem vorgestellten Modell auf einer Ebene gesehen werden. Diese Vergleichbarkeit ist jedoch nicht in jeder Hinsicht gegeben. Zwar ist das Sprachenpaar Französisch und Deutsch auch in Biel als Sprache der Minderheit20 gegenüber der Sprache der Mehrheit anzusehen, jedoch handelt es sich bei beiden Sprachen um die offiziellen Amtssprachen der Stadt.21 Letzteres stellt aber einen wesentlichen Unterschied zu den amerikanischen reziproken Modellen dar, bei denen die Sprache der Minderheit (Spanisch) keine Amtssprache war und außerdem selbst "unter den Hispanophonen ein relativ geringes Prestige im Hinblick auf die Verwendbarkeit für schulische Zwecke genoß" (Wode 1995, 67). Bei Schweizer Modellen sollten daher viel stärker die besonderen Kontextbedingungen des Landes Berücksichtigung finden. So zum Beispiel die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse, die Spracheinstellungen der einzelnen Sprachgruppen sowie die besondere Diglossiesituation. Diese Faktoren könnten auch eine Erklärung für die wesentlichen Unterschiede zwischen Germanophonen und Frankophonen liefern, die bei der Untersuchung hervorgetreten sind.

19 20 21

Brohy/Bregy (1998, 88) weisen unter diesem Terminus explizit auf die bilinguale Abteilung der Bieler Gymnasien hin (siehe ebd., 88, Anm. 10). Die Volkszählung 1990 ergab einen Anteil von 30,7% Frankophonen an der Gesamtbevölkerung von Biel (vgl. Lüdi/Quiroga-Blaser 1997,338). Seit 1952 sind Französisch und Deutsch gleichberechtigte Amtssprachen in Biel (vgl. Kolde 1981,98).

Biel zwanzig Jahre danach

45 3

So fiel auf, dass es lediglich die germanophonen Schülerinnen und Schüler waren, die den "Röstigraben" beklagt haben. Dieses Ergebnis ist eventuell aus ihrem Majoritätsstatus heraus zu erklären: Insofern sie den größten Teil der Bevölkerung Biels stellen, sind Kontakte zur anderen Sprachgruppe weniger wahrscheinlich als umgekehrt. Erfahrungen innerhalb der bilingualen Abteilung könnten daher durchaus die ersten tiefgreifenderen interkulturellen Erfahrungen sein, für die bisher ein entsprechendes Bewusstsein fehlte. Auf der Seite der Frankophonen wurde festgestellt, dass sie das Schweizerdeutsche als besonderes Problem empfinden, da ihr bisheriger schulischer Spracherwerb auf das Standarddeutsche ausgerichtet war und sie nun zusätzlich mit einer Dialektvariante der L2 konfrontiert werden. Gerade hier sind auch die Lehrpersonen gefordert, die in ihrem eigenen Sprachgebrauch mehr Fingerspitzengefühl für die veränderten Unterrichtsbedingungen mitbringen müssen als bei den monolingualen Unterrichtsmodellen. Immerhin besteht ein Teil ihres Publikums nun aus Schülerinnen und Schülern, die mit dem Dialekt bisher gar nicht oder wenig vertraut waren. Dass die Einstellungen dem Deutschen und dem Schweizerdeutschen sowie den jeweiligen Sprechern gegenüber bekanntermaßen von Seiten der Frankophonen alles andere als positiv sind, trägt ebenfalls zur Erschwerung der Situation bei.22 Angesichts dieser Probleme wird den Lehrkräften viel positive Motivation abverlangt, gepaart mit einer gehörigen Portion von Engagement, da der Mangel an bilingualen Unterrichtsmaterialien eine weitere zu überwindende Hürde darstellt. Bisher stellt der Buchmarkt noch (fast) kein Material für den bilingualen Sachunterricht zur Verfügung, und die Lehrkräfte sind daher häufig auf sich selbst gestellt.23 Aus den Ergebnissen lässt sich daher zunächst nur ableiten, dass jeweils die speziellen Schweizer Verhältnisse zu berücksichtigen sind, wenn es um die Etablierung von bilingualen Modellen und die Lösung der damit einhergehenden Probleme geht. Dass diese Probleme zu lösen sind und sich die Verhältnisse hin zu mehr gegenseitigem Verständnis und einer Bejahung der Zweisprachigkeit Biels ändern werden, dazu besteht begründete Hoffnung. Immerhin ist bereits die Einrichtung von bilingualen Abteilungen auf gymnasialer Stufe ein Beleg für die Verbesserung des sprachenpolitischen Klimas. Ein weiterer Beleg lässt sich dem Bieler Bilingualismus-Barometer entnehmen. Auf Grund von Untersuchungen des Forums für Zweisprachigkeit in den Jahren 1996 und 1998 kann auf ein besseres sprachliches Klima geschlossen werden: Beide Sprachgruppen bringen die Bieler Zweisprachigkeit mehrheitlich mit Vorteilen in Verbindung und assoziieren sie vor allem mit positiven Begriffen.24

22 23

24

Vgl. hierzu die Untersuchung von Nathalie Muller (1998) zu Biel und die vergleichende Unesco-Studie zu Spracheinstellungen in verschiedenen Ländern (Unesco 1995). Zum Teil wurden in der Folge von bilingualen oder Immersions-Pilotprojekten die entwickelten Unterrichtsmaterialien anschließend veröffentlicht, vgl. hierzu die Zusammenstellung von Brohy (1996) sowie die Materialien aus dem Projekt von Stern et al. in Eriksson et al. (1998). Vgl. Bilinguismus-Barometer. In: Les cahiers du bilinguisme (2,1999,33).

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Bettina Wetzel-Kranz

Nachdem Kolde (1981, 129) für Biel noch von verpassten Chancen gesprochen hatte, hat nun zwanzig Jahre danach vermutlich die Ära der wahrgenommenen Chancen begonnen.

6. Literaturverzeichnis Brohy, Claudine (1996): Enseignement bilingue pour les 4 a 10 ans. Inventaire des supports pedagogique. Neuchätel. - (l 998): Mehrsprachige Modelle und Projekte an Schweizer Schulen. Neuchätel. u. Bregy, Anne-Lore (1998): Mehrsprachige und plurikulturelle Schulmodelle in der Schweiz oder: What's in a name? In: Bulletin suisse de linguistique appliquee 67, 85-99. Deutsches und Französisches Gymnasium Biel. Gemeinsame zweisprachige Maturaabteilung (1998). Hg. v. Deutschen und Französischen Gymnasium Biel. (Abzurufen unter: www.kl.unibe.ch/sec2/gvmbield/infos. Stichwort "bilingue") Eriksson, Brigit/ Le Pape Racine, Christine / Reutener, Hans (1998): Materialien-Ordner mit Unterrichtsmodellenför den zweisprachigen Unterricht. Zürich. Forum für die Zweisprachigkeit (Hg.) (1999): Bilinguismus-Barometer. Biel/Bienne. Gardner, Robert C. / Lambert, Wallace E. (1972): Attitudes and motivation in second-language learning. Massachusetts. Grin, Fran9ois (1999): Competences linguistiques en Suisse: Benefices prives, benefices sociaux et depenses. Rapport de valorisation. Beme/Aarau. Knapp-Potthoff, Annelie / Knapp, Karlfried (1982): Fremdsprachenlernen und -lehren. Stuttgart etc. Kolde, Gottfried (1981): Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten. Vergleichende Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/Bienne und Fribourg/Freiburg i. Ue. Wiesbaden. Lüdi, Georges / Quiroga-Blaser, Christine (1997): Französisch außerhalb des Sprachgebiets. In: Georges Lüdi/Iwar Werlen/Rita Franceschnini/Francesca Antonini/Sandro Bianconi/ Juan-Jacques Purer/Christine Quiroga-Blaser/Adrian Wymann: Die Sprachenlandschaft Schweiz. Bern, 327-381 Muller, Nathalie (1998): "L'allemand, c'est pas du franqais!" Enjeux et paradoxes de l'apprentissage de l'allemand. Neuchätel. Stern, Otto / Eriksson, Brigit/Le Pape Racine, Christine / Reutener, Hans / Serra Oesch, Cecilia (1998): Französisch - Deutsch: Zweisprachiges Lernen auf der Sekundarstufe. Umsetzungsbericht. Bern/Aarau. UNESCO (1995): Stereotypes culturels et apprentissage des langues. Paris. Werlen, Iwar/Wymann, Adrian (1997): Deutsch außerhalb des eigenen Sprachgebiets. In: Georges Lüdi/Iwar Werlen/Rita Franceschnini/Francesca Antonini/Sandro Bianconi/JuanJacques Purer/Christine Quiroga-Blaser/Adrian Wymann: Die Sprachenlandschaft Schweiz. Bern, 289-326. Wode, Henning (1995): Lernen in der Fremdsprache. Grundzüge von Immersion und bilingualem Unterricht. München.

Verzeichnis der Schriften von Gottfried Kolde1

l . Monographien

1964 Die verbale be-Komposition in Prosatexten des 14. bis 1 7. Jahrhunderts. Diss. Phil. Göttingen. Köln: Dissertationsdruck Bothmann. 7957 Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten. Vergleichende Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/Bienne und Fribourg/ Freiburg i. Ue. Wiesbaden: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beih. 37). 7959 Der Artikel in deutschen Sachverhaltsnominalen. Tübingen: Niemeyer (Reihe germanistische Linguistik 96). Nominaldetermination. Eine systematische und kommentierte Bibliographie unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen, Englischen und Französischen. Tübingen: Niemeyer.

2. Aufsätze und Handbuchartikel 7970 Zur Funktion der sogenannten Modaladverbien in der deutschen Sprache der Gegenwart. In: Wirkendes Wort 20, 116-125. 7977 Einige Bemerkungen zur Funktion, Syntax und Morphologie der mit als eingeleiteten Nominalphrasen im Deutschen. In: Muttersprache 81, 181-203.

1

Eingerichtet von Judith Gut.

456

Schriftenverzeichnis

Linguistik im Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe. In: 50 Jahre Gymnasium Bad Nenndorf. Bad Nenndorf, 43-49.

1972 Die Attribute deutscher Nomina actionis. In: Linguistische Berichte 19, 20-32. Zur transformationellen Erklärung der 'Nomina actionis' im Deutschen. In: Wirkendes Wort 22, 174-198. 1973 Einige Bemerkungen zur Verwendung der Prädikate beschreiben und erklären in der Linguistik. In: Indogermanische Forschungen 78, 1-20. 1975 Einige Bemerkungen zum Begriff der sprachlichen Abweichung. In: Veronika Ehrich/Peter Finke (Hg.): Beiträge zur Grammatik und Pragmatik. Kronberg: Scriptor (Skripten Linguistik und Kommunikationswissenschaft 12), 43-53. Sprachnormen und erfolgreiches sprachhandeln. Ein diskussionsbeitrag. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 3, 149-174.

1976 Sprachberatung: Motive und Interessen der Fragesteller. In: Muttersprache 86, 20-47. Grammatik und metasprachliches Verhalten der Sprachbenutzer. In: Leonard Forster/Hans-Gert Roioff (Hg.): Akten des V. Internationalen GermanistenKongresses, Cambridge 1975. H. 2. Bern/Frankfurt a. M.: Lang (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 2), 122-130. Über einige Schwierigkeiten beim schreiben 'textgrammatischer regelsysteme'. Textgrammatik und textpragmatik der lokalen pro-adverbiale des deutschen. In: Wirkendes Wort 26, 406-429. 1978 Einige Überlegungen zum künftigen Deutschunterricht in den Primarschulen der Westschweiz. In: Bulletin CILA 28, 84-89. Sprachenwahl und Sprachenwechsel in mehrsprachigen Gruppen. Handlungsmodelle und Möglichkeiten ihrer empirischen Überprüfung, dargestellt an Daten aus der 'zweisprachigen' Schweizer Stadt Biel. In: Deutsche Sprache 6, 221-244. Über sprechzeitrelative Präpositionen. In: Wolfgang U. Dressler/Wolfgang Meid (Hg.): Proceedings of the Twelfth International Congress of Linguists, Vienna 1977. Innsbruck: Institut für Sprachwissenschaft der Universität (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Sonderheft), 709-712. 1979 Zur Valenz fester verbaler Syntagmen. In: Heinrich Löffler/Karl Pestalozzi/Martin Stern (Hg.): Standard und Dialekt. Studien zur gesprochenen und

Schriftenverzeichnis

457

geschriebenen Gegenwartssprache. Festschrift für Heinz Rupp zum 60. Geburtstag. Bern/München: Francke, 73-88. 7950 Sprachpflege als angewandte Sprachwissenschaft. In: Der Sprachdienst 24, 97107. Zweisprachigkeit und Diglossie an der deutsch-französischen Sprachgrenze in der Schweiz. In: Heinz Rupp/Hans-Gert Roloff (Hg.): Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses, Basel 1980. T. 2. Bern/Frankfurt a. MTLas Vegas: Lang (Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A 8.2), 119-126. Auswirkungen sprachlicher Fehler. In: Dieter Cherubim (Hg.): Fehlerlinguistik. Beiträge zum Problem der sprachlichen Abweichung. Tübingen: Niemeyer (Reihe germanistische Linguistik 24), 172-187. Vergleichende Untersuchungen des Sprachverhaltens und der Spracheinstellungen von Jugendlichen in zwei gemischtsprachigen Schweizer Städten. In: Peter Hans Neide (Hg.): Sprachkontakt und Sprachkonflikt. Wiesbaden: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beih. N.F. 32), 243-253.

1982 Überlegungen zur vergleichenden Sprachkontaktforschung (am Beispiel der Schweizer Städte Biel und Freiburg). In: Jean Caudmont (Hg.): Sprachen im Kontakt- langues en contacte. Tübingen: Narr (Tübinger Beiträge zur Linguistik 185), 59-70. Nebeneinander oder Miteinander? Koexistierende Sprachgruppen in den Schweizer Städten Biel/Bienne und Fribourg/Freiburg. Einige methodologische Überlegungen. In: Karl-Heinz Bausch (Hg.): Mehrsprachigkeit in der Stadtregion (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1981). Düsseldorf: Schwann (Sprache der Gegenwart 56), 282-302.

1983 Group multilingualism of Ethnic Minorities in the Soviet Union. In: Journal of multilingual and multicultural development 4, 306-312. Rapporto tra apprendimento della lingua e sviluppo dell'identita: aspetti di psicologia sociale nella politica scolastica delle lingue in regioni mistilingui. In: L 'apprendimento precoce della seconda lingua. Atti del convegno internazionale, Bolzano, 13-15 maggio 1982. Bolzano: Provincia autonoma di BolzanoAlto Adige (Educazione bilingue 8), 163-186. 7955 Zur Topologie deutscher Substantivgruppen. Rahmenbildung und mehrfache Attribuierung. In: Zeitschriftför germanistische Linguistik 13, 241-277. Untersuchungen zum Sprachverhalten deutsch- und welschbieler Jugendlicher. In: Iwar Werlen (Hg.): Probleme der schweizerischen Dialektologie. 2. Kollo-

458

Schriftenverzeichnis

quium der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft, 1978. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag (Colloques de la Societe suisse des Sciences humaines 2), 267-283.

1986 Kompakte Nominalgruppen. Ein Plädoyer für vergleichend-typologische Reflexion im Fortgeschrittenenunterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Zielsprache Deutsch 17,7-11. Einige aktuelle sprach- und sprachenpolitische Probleme in der viersprachigen Schweiz. In: Muttersprache 96, 58-68. Sprachkritik, Sprachpflege und Sprachwissenschaft. Einige Bemerkungen zu einem alten Thema. In: Muttersprache 96,171-189. Des Schweizers Deutsch - das Deutsch der Schweizer. Reflexe und Reaktionen bei anderssprachigen Eidgenossen. In: Heinrich Löffler (Hg.): Das Deutsch der Schweizer: Zur Sprach- und Literatursituation der Schweiz. Vorträge, gehalten anläßlich eines Kolloquiums zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Seminars der Universität Basel. Aarau etc.: Sauerländer (Reihe Sprachlandschaft 4), 131-149. Zur Lexikographie sogenannter Heckenausdrücke. In: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Bd. 3. Tübingen: Niemeyer, 170-176. Über das Messen und Vergleichen von Sprachverhaltensweisen in verschiedenen Sprachkontaktsituationen (am Beispiel zweier gemischtsprachiger Städte in der Schweiz). In: Robert Hinderung (Hg.): Europäische Sprachminderheiten im Vergleich. Deutsch und andere Sprachen. Stuttgart: Steiner (Deutsche Sprache in Europa und Übersee 11), 275-323.

1987 Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz. In: Lutz Götze (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Situation eines Faches. Bonn/Bad Godesberg: Dürrsche Buchhandlung (Schriften zur Deutsch-Didaktik), 47-58.

1988 Language Contact and Bilingualism in Switzerland. In: Christina Bratt Paulston (Hg.): International handbook of bilingualism and bilingual education. New York etc.: Greenwood Press, 515-537. Indefinitheit und Nichtfaktizität. Anmerkungen zur Semantik des 'unbestimmten Artikels' im Deutschen. In: Heinrich Weber/Ryszard Zuber (Hg.): Linguistik Parisette. Akten des 22. Linguistischen Kolloquiums, Paris 1987. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 203), 29-39.

Schriftenverzeichnis

459 1989

Probleme der Beschreibung von sog. Heckenausdrücken im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch. In: Franz Josef Hausmann/Oskar Reichmann/Herbert Ernst Wiegand/Ladislav Zgusta (Hg.): Wörterbücher. Dictionaries. Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie, l. Teilband Berlin/New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.1), 855-862. Une fonction particuliere de Tarticle indefini' en allemand contemporain. In: Cahiers de la Faculte des lettres de l'Universite de Geneve 2/2, 29-32. 1990 Zur Lexikologie der Akkusativ zuweisenden Adjektive des Deutschen. In: Cahiers Ferdinand de Saussure 44, 95-121. Bildliche Darstellungen von Sprachkontakt. Einige methodologische Überlegungen an Schweizer Beispielen. In: Bernd Spillner (Hg.): Sprache und Politik. Kongreßbeiträge zur 19. Jahrestagung der Gesellschaft för Angewandte Linguistik GAL e. V. Bern/Frankfurt a. M.: Lang (Forum Angewandte Linguistik 18), 69-75. 7992 Zur Referenzsemantik von Eigennamen im gegenwärtigen Deutschen. In: Deutsche Sprächet, 139-152. 7995 Namengrammatik. In: Ernst Eichler/Gerold Hilty/Heinrich Löffler/Hugo Steger/Ladislav Zgusta (Hg.): Namenforschung. Name Studies. Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. 1. Tlbd. Berlin / New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11.1), 400-408. Lexikalische und terminologische Dreiecksverhältnisse. Am Beispiel von schwer, schwierig, leicht und Kommutation, Substitution, Permutation. In: Götz Hindelang/Eckard Rolf/Werner Zillig (Hg.): Der Gebrauch der Sprache. Festschrift för Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag. Münster: Lit-Verlag, 210222. Indefinitheit und Zählbarkeit. Sprachkritik des Infinitartikels im Deutschen und in anderen europäischen Sprachen: Ein Indiz für gegenwärtigen Sprach(norm)wandel? In: Oskar Müller/Dieter Nerius/Jürgen Schmidt-Radefeldt/Friedrich Ungerer (Hg.): Sprachnormen und Sprachnormwandel in gegenwärtigen europäischen Sprachen. Beiträge zur gleichnamigen Fachkonferenz im November 1984 am Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Rostock. Rostock: Universität Rostock, 141-151. Das Deutsche in Genf. Soziolinguistische Beobachtungen und Erfahrungen. In: Babylonia 4, 22-33 [zusammen mit Anton NäfJ.

460

Schriftenverzeichnis

1996 Nominaldetermination im Deutschen und Französischen. Beobachtungen an zwei modernen Gedichten und ihren Übersetzungen. In: Ulrich Stadier (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart/Weimar: Metzler, 219-233. Die Westschweiz. In: Robert Hinderung/Ludwig M. Eichinger (Hg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr, 385-412 [zusammen mit Anton Näf].

1997 Deutsche 'Kirchen'schulen im Genf des 19. Jahrhunderts. Versuche der Spracherhaltung bei hoher Assimilationstendenz und noch ohne Assimilationszwang. In: Wolfgang W. Moelleken/Peter J. Weber (Hg.): Neue Forschungsarbeiten zur Kontaktlinguistik. Bonn: Dümmler, 288-297. Über den Umgang Genfer Deutschlehrer mit den Varietäten ihrer Zielsprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 23, 209-238 [zusammen mit Judith Rohner].

1998 Demonstrative Themeneinführung: Symptom (eines Defizits) oder Ergebnis einer Handlungswahl? In: Beate Henn-Memmesheimer (Hg.): Sprachliche Varianz als Ergebnis von Handlungswahl. Tübingen: Niemeyer (Reihe germanistische Linguistik 198), 1-10. Strategien der Begriffsexplikation in linguistischen Fachwörterbüchern. In: Jürg Strässler (Hg.): Tendenzen europäischer Linguistik. Akten des 31. Linguistischen Kolloquiums, Bern 1996. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 381), 120-124. ES SOL ABER EIN BISCHOF VNSTRAFLICH SEYN / NUR ÄINES WEIBES MANN. Ansätze zur graphemischen Differenzierung von unbetontem Indefinitheitszeichen ein und betontem Numerale ainf äin im Spätmittel- und Frühneuhochdeutschen? In: Andre Schnyder/Claudia Barholemy-Teusch/Barbara Fleith/Rene Wetzel (Hg.): Ist mir getroumet min leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Göppingen: Kümmerle (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 632), 283-306.

1999 Laut, Wort, Satz und Text. Fach- und allgemeinsprachliche Lemmata und die Beschreibung ihrer Bedeutungen in allgemeinen einsprachigen und in linguistischen Fachwörterbüchern. In: Jürg Niederhauser/Kirsten Adamzik (Hg.): Wissenschaftssprache und Umgangssprache im Kontakt. Frankfurt a. M. etc.: Lang (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 38), 215-238.

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461 2000

Zur Varianz in der Anrede und in der Bezugnahme auf Dritte. In: Annelies Häcki Buhofer (Hg.): Vom Umgang mit sprachlicher Variation. Festschrift für Heinrich Löfflerzum 60. Geburtstag. Tübingen/Basel: Francke, 329-342. Über Varianten der Begriffsexplikation in deutschen, französischen und englischen Fachwörterbüchern der Linguistik. In: Kirsten Adamzik: Kontrastive Textologie. Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Tübingen: Stauffenburg. "Hunde(artige?) werden in der Gefangenschaft rasch zahm." Über Schwierigkeiten der lexikographischen Definition trivialer Alltagskonzepte. In: Susanne Beckmann/Peter-Paul König/Georg Wolf (Hg.): Sprachspiel und Bedeutung. Festschriftför Franz Hundsnurscher zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 81-92. La determination nominale dans les definitions lexicographiques de quelques dicionnaires fran9ais, anglais et allemands. In: Sonderheft der Cahiers Ferdinand de Saussure. Zur Geschichte der lexikographischen Definition im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch des Deutschen. In: Stefan Schierholz (Hg.): Die deutsche Sprache in der Gegenwart. Festschrift för Dieter Cherubim.

3. Rezensionen und Tagungsberichte 1969

Gipper, Helmut (1966): Sprachliche und geistige Metamorphosen bei Gedichtübersetzungen. In: Indogermanische Forschungen 74, 185-191. 7970 Jaehrling, Jürgen (1969): Die philosophische Therminologie Notkers des Deutschen in seiner Übersetzung der Aristotelischen "Kategorien". In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 222, 264-269. Nüsse, Heinrich (1962): Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 222, 272-284. 7977 Regula, Moritz (1968): Kurzgefaßte erklärende Satzkunde des Neuhochdeutschen. In: Indogermanische Forschungen 76, 350-355. 7972 Neuere Darstellungen der deutschen Grammatik. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 224, 265-288.

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Schriftenverzeichnis

1973 Fourquet, Jean (1970): Prolegomena zu einer deutschen Grammatik. In: Indogermanische Forschungen 78, 316-323. 1974 Admoni, Wladimir (1970): Der deutsche Sprachbau. 3. Aufl. In: Indogermanische Forschungen 79, 367-378. Brinkmann, Hennig (1971): Die deutsche Sprache. 2. Aufl. In: Indogermanische Forschungen 79, 379-384. 7975 Sprachtheorie und Pragmatik. - Grammatik. Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums, Tübingen 1975. Bd. 1. u. 2. In: Indogermanische Forschungen 81, 255-260. 1977 Schildt, Joachim (1976): Abriß der Geschichte der deutschen Sprache. Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Sprachgeschichte. In: Indogermanische Forschungen 82, 349-353. Alberts, Werner (1977): Einfache Verbformen und verbale Genüge in zwei Augsburger Chroniken des 15. Jahrhunderts. In: Indogermanische Forschungen 82, 353-357.

1978 Mannheimer Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken Deutsch als Fremdsprache. Bd. 1. 1977. In: Bulletin CILA 28, 120-125. Geier, Manfred ...[u. a.] (1976): Sprache als Struktur. Eine kritische Einführung in Aspekte und Probleme der generativen Transformationsgrammatik. In: Indogermanische Forschungen 83, 357-360.

1980 Reis, Marga (1977): Präsuppositionen und Syntax. In: Indogermanische Forschungen 85, 315-317. Korhonen, Jarmo (1977-1978): Studien zu Dependenz, Valenz und Satzmodell. T. l u. 2. In: Indogermanische Forschungen 85, 317-321. Mannheimer Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken Deutsch als Fremdsprache. Bd. 2. 1979. In: Bulletin CILA 32,131-133. 1981 Kohrt, Manfred (1976): Koordinationsreduktion und Verbstellung in einer generativen Grammatik des Deutschen. In: Indogermanische Forschungen 86, 378382.

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1982 Wortschatz und Verständigungsprobleme. Was sind 'schwere Wörter' im Deutschen? Jahrestagung 1982 des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. In: Deutsche Sprache 10,258-265.

1983 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Der öffentliche Sprachgebrauch. Bd. 1. 1981. In: Muttersprache 93, 124-126. Haarmann, Harald (1979 u. 1980): Quantitative Aspekte des Multilingualismus. 1979. Studien zum Multilingualismus aschkenasischer und orientalischer Juden im asiatischen Teil der Sowjetunion. 1980. In: Journal of multilingual and multicultural development 4, 306—312.

1984 Ruckhäberle, Hans-Joachim (Hg.) (1983): Bildung und Organisation in den deutschen Handwerksgesellen- und Arbeitervereinen in der Schweiz. In: Zeitschrift för Dialektologie und Linguistik 51,400-401. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Der öffentliche Sprachgebrauch. Bd. 2 u. 3. 1981 u. 1982. In: Muttersprache 94,453-455. Raith, Joachim (1982): Sprachgemeinschaftstyp, Sprachkontakt, Sprachgebrauch. In: Bulletin CILA 39, 80-83.

1986 Deutsche Grammatiken - aber welche? Tips für die Handbibliothek des Lehrers. In: Bulletin CILA 43, 89-107. 1988 Debus, Friedhelm / Dittmer, Ernst (Hg.) (1986): Sandbjerg 85. In: Zeitschrift för Dialektologie und Linguistik 55, 73-76. 1992 Settekom, Wolfgang (1988): Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich. In: Muttersprache 102, 189-192. 1993 Bisle-Müller, Hansjörg (1991): Artikelwörter im Deutschen: semantische und pragmatische Aspekte ihrer Verwendung. In: Leuvense Bijdragen 82, 104-113. Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. (1991): Studienbuch Linguistik. In: Deutsch als Fremdsprache 30,129-131.

1994 Chur, Jeannette (1993): Generische Nominalphrasen im Deutschen. In: Leuvense Bijdragen 82,104-113.

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Schriftenverzeichnis

1995 Agel, Vilmos (1993): Valenzrealisierung, Finites Substantiv und Dependenz in der deutschen Nominalphrase. In: Leuvense Bijdragen 84, 123-127. Weider, Eric (1992): Konjunktiv und indirekte Rede. In: Zeitschriftför tologie und Linguistik 62, 94-97.

Dialek-

7996 Werlen, Iwar (Hg.) (1995): Verbale Kommunikation in der Stadt. In: Bulletin suisse de linguistique appliquee 64, 167-174.

1998 Himmelmann, Nikolaus P. (1997): Deiktikon, Artikel, Nominalphrase. In: Leuvense Bijdragen 87, 220-231. Dazu 24 Kurzreferate in der Germanistik 1980-2000.

4. Herausgeberschaft 1970-1993: Deutsche Sprache in Europa und Übersee. Berichte und Forschungen. Bd. 6-15. Stuttgart: Steiner [mit wechselnden Mitherausgebern].