Monstrosität: Abweichungen in Literatur und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts 9783110474053, 9783110478860, 9783110478419

The study examines the parallel emergence of a new paradigm of deviation in literature and science. From Hoffmann and Po

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Monstrosität: Abweichungen in Literatur und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts
 9783110474053, 9783110478860, 9783110478419

Table of contents :
Inhalt
Man sieht sie nicht mehr
1 Poetik des Monströsen
1.1 Kontinuitäten und Brüche
1.2 Monstra als Zeichen
1.3 Reales und Phantastisches
1.4 Fremdes und Eigenes
1.5 Körper und Geist
1.6 Bedeutungsproduktion
1.7 Zoten für das Fräulein
1.8 Wissensgeschichte und Poetik
2 Teratologische Folgerungen
2.1 Monstrosität um 1800
2.2 Pathologische Anatomie
2.3 Teratologie
3 Defiguration, Refiguration: E. T. A. Hoffmann
3.1 Monster und Monstrosität als narrative Effekte
3.2 Menschenmonster in Das Fräulein von Scuderi
3.3 Abweichung und Wiederholung
3.4 Überpersönliche Monstrosität
3.5 Das Geständnis des Goldschmieds
3.6 Die Deutung der Unwahrscheinlichkeit
4 Psychiatrische Defiguration
4.1 Diskrete, bleiche, reine, stumme Monster
4.2 Überlegungen zu einer Problemgeschichte des Triebbegiffs
4.3 Psychiatrische Semantik des Monströsen
4.4 Von der politischen Megäre zur armen Seele
4.5 Refiguration des Menschenmonsters
5 Der Monolog des Triebs: Edgar Allan Poe
5.1 Gesten der Leugnung
5.2 Substitutionen des Monströsen
5.3 Jenseits der Phrenologie
5.4 Der implizite Psychiater
5.5 Mimesis an das Monströse
6 Perfektion und Caprice
6.1 Naturalismus und „Darwinismus“
6.2 Politiken des Tigerarms
6.3 Variation statt Deformation
6.4 Abweichung und sexuelle Selektion
7 Deviantes Self-Fashioning: Henry James
7.1 Radikale Devianz als ästhetisches Leitbild
7.2 Zeitliche Bestimmungen der Bestie
7.3 Arbeit am Monströsen
7.4 Selbstentwurf und Distinktion
7.5 Drei Rhythmen
Das Monströse überlebt seine Banalisierung
Bibliographie
Index

Citation preview

Jan Niklas Howe Monstrosität

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank, Stefan Keppler-Tasaki und Georg Witte Wissenschaftlicher Beirat Nicholas Boyle (University of Cambridge), Elisabeth Bronfen (Universität Zürich), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 10

Jan Niklas Howe

Monstrosität

Abweichungen in Literatur und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts

Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin, 2013. Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-047405-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047886-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047841-9 ISSN 2198-9370 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dank Dieses Buch ist enstanden als Dissertation an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule und am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literatur­ wissenschaft in Berlin. Für die Betreuung und Begleitung des Promotionsverfahrens danke ich sehr herzlich Winfried Menninghaus und Jutta Müller-Tamm. Für Anregungen und Kommentare danke ich Armen Avanessian, Katrin Beushausen, Bettina Bildhauer, Jan von Brevern, Rüdiger Campe, Philipp Ekardt, Stefanos Geroulanos, Gregor Gumpert, Benjamin Kiesewetter, Renate Lachmann, David Martyn, Bernhard Metz, Rahel von Minden, Katja Müller-Helle, Tom Rojo Poller, Susanne Strätling, Joseph Vogl, Nora Weinelt, Kai Wiegandt, Heike Winkel, Georg Witte und Burkhardt Wolf. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern und Anna Wehofsits.

Inhalt Man sieht sie nicht mehr  1 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8

Poetik des Monströsen  9 Kontinuitäten und Brüche  9 Monstra als Zeichen  14 Reales und Phantastisches  25 Fremdes und Eigenes  29 Körper und Geist  33 Bedeutungsproduktion  36 Zoten für das Fräulein  44 Wissensgeschichte und Poetik  47

2 Teratologische Folgerungen  51 2.1 Monstrosität um 1800  51 2.2 Pathologische Anatomie (Jean Paul und Johann Friedrich Meckel)  56 2.3 Teratologie (Johann Friedrich Meckel und Étienne Geoffroy St. Hilaire)  63 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Defiguration, Refiguration: E. T. A. Hoffmann  73 Monster und Monstrosität als narrative Effekte  73 Menschenmonster in Das Fräulein von Scuderi  75 Abweichung und Wiederholung  81 Überpersönliche Monstrosität  85 Das Geständnis des Goldschmieds  89 Die Deutung der Unwahrscheinlichkeit  93

4 Psychiatrische Defiguration  97 4.1 Diskrete, bleiche, reine, stumme Monster  97 4.2 Überlegungen zu einer Problemgeschichte des Triebbegiffs  102 4.3 Psychiatrische Semantik des Monströsen (Johann Christian Reil)  108 4.4 Von der politischen Megäre zur armen Seele (Jean-Étienne Esquirol und Wilhelm Griesinger)  114 4.5 Refiguration des Menschenmonsters (Cesare Lombroso)  121

VIII 

 Inhalt

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Der Monolog des Triebs: Edgar Allan Poe  125 Gesten der Leugnung  125 Substitutionen des Monströsen  131 Jenseits der Phrenologie  136 Der implizite Psychiater  138 Mimesis an das Monströse  144

6 6.1 6.2 6.3 6.4

Perfektion und Caprice  155 Naturalismus und „Darwinismus“  155 Politiken des Tigerarms (Robert Knox)  160 Variation statt Deformation (Charles Darwin)  167 Abweichung und sexuelle Selektion  172

7 Deviantes Self-Fashioning: Henry James  183 7.1 Radikale Devianz als ästhetisches Leitbild  183 7.2 Zeitliche Bestimmungen der Bestie  187 7.3 Arbeit am Monströsen  191 7.4 Selbstentwurf und Distinktion  196 7.5 Drei Rhythmen  199 Das Monströse überlebt seine Banalisierung  205 Bibliographie  217 Index  231

Man sieht sie nicht mehr Die Figur, um die sich Literatur und Wissensdiskurse des neunzehnten Jahrhunderts neu organisieren, erhält in Flauberts Dictionnaire des idées reçues einen lakonischen Eintrag, zwischen Melodramen, die weniger unmoralisch sind als Dramen, und Mühlen, die sich gut in Landschaften machen: „Monstres. On n’en voit plus.“1 Flaubert stellt ein Verschwinden mythischer Ungeheuer fest – und widerlegt diese Feststellung umgehend: Das Monstrum erhält einen Eintrag und damit eine, wenngleich unsichtbare, Präsenz in der Moderne. Rätselhafterweise scheinen Monster im neunzehnten Jahrhundert gerade dadurch an Wirkungsmacht zu gewinnen, dass sie unsichtbar werden. Die Abwendung der Kunst vom Schönen erfährt in den Jahrzehnten der Entstehung von Flauberts Wörterbuch der Vorurteile eine rasante Beschleunigung, die zunächst eher eine Konjunktur von Ungeheuern als ihr Verschwinden nahelegt. Die Kodierungen des „nicht mehr Schönen“2 reichen dabei vom Erhabenen über das Schauderhafte bis zum Grotesken und Phantastischen. Den geradezu inflationären Darstellungen physischer Abweichung, moralischer Verfehlung oder psychischer Krankheit korrespondiert eine entstehende „Ästhetik des Hässlichen“. Karl Rosenkranz’ gleichnamige Abhandlung lässt nicht nur auf die Bandbreite weiterer Umschreibungen des nicht mehr Schönen schließen, sondern auch auf ihre geradezu obsessive Beobachtung und Klassifikation: Rosenkranz zählt zu seinen Untersuchungsgegenständen das Unvollkommene, Amorphe, Asymmetrische, Disharmonische, Kleinliche, Schwächliche, Nied­ rige, Ekelhafte, Widrige, Verbrecherische und Gespenstische.3 Kulturwissenschaftliche Strukturierungsangebote für diese unübersichtlichen Rei­hungen betonen jeweils einen Begriff zur Kodierung von Devianz, der jeweils mit einem Ursprungsnarrativ verknüpft ist: Das Modell der ‚Phantastik‘ als Meta-Anthropologie bestimmt als ursprünglich einen fundamentalen Zweifel an der Beschreibbarkeit des Menschen, der in Literatur und Lebenswissenschaften gleichermaßen aufkommt.4 Die poetikgeschichtliche Ableitung des ‚Bösen‘ setzt an die Stelle dieses Zweifels die Autonomisierungsgesten der Kunst um 1800.5 Die Untersuchungen zur

1  Gustave Flaubert: Dictionnaire des idées reçues. Paris 1913. S. 437. 2  Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. ­München 1968. 3  Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [1853]. Leipzig 1990. 4  Vgl. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970; Renate Lachmann: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002. Lachmann bestimmt den Verlust von Sicherheiten in der Beschreibung des Menschen als epistemologische Basis der literarischen Phantastik, vgl. S. 8–10. Vgl. auch Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a. M. 2003. S. 38–40. 5  Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie. München 2004; Peter-André Alt: Wiederholung, Paradoxie, Transgression. Versuch über die literarische Imagination des Bösen und ihr Verhältnis zur ästhetischen Erfahrung (de Sade, Goethe, Poe). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (2005). S. 531–567.

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romantischen Konjunktur des ‚Unheimlichen‘ konstatieren eine Rückkehr voraufklärerischer Irrationalismen.6 Offen bleibt in diesen Modellen die Frage nach einer spezifisch ästhetischen Attraktivität des Abweichenden, die sich nicht auf ihre kulturhistorischen Begleitumstände reduzieren ließe. Gemeinsam ist ihnen aber eine Annahme, die sich in der Formulierung einer „doppelten Ästhetik der Moderne“7 manifestiert, nämlich, dass die Frage nach dem Schönen zur Bestimmung der modernen Ästhetik um zumindest ein Gegenstück ergänzt werden muss. Die Formulierung lässt völlig offen, ob der Kontrast zum Schönen im Erhabenen, Grotesken, Hässlichen oder anderswo zu suchen ist. Wie wenig greifbar das jeweilige Gegenstück des Schönen ist, zeigt sich noch in der neueren psychologischen Ästhetik, die zwar Schönheit als Effekt von Wiedererkennen8, Prototypikalität9 oder Prozessierungslust10 bestimmt, für die Faszinationspotentiale negativer ästhetischer Emotionen bislang aber über den Erklärungsansatz lustvoller Komplexitätsreduktion nicht hinausgekommen ist.11 An dieser problematischen modernen Doppelbestimmung des Ästhetischen setzt die vorliegende Untersuchung an. Wenn es zwei trennscharf unterscheidbare Kate­gorien von ästhetischen Gegenständen und korrelierter ästhetischer Lust gibt, das Schöne und ein Anderes des Schönen, warum nehmen wir dann traditionell die terminologische Unschärfe in Kauf, beide als „ästhetisch“ zu bezeichnen? Wenn es sich dagegen tatsächlich um eine einzige Klasse von Objekteigenschaften bzw. korrelierten subjektiven Erfahrungen handelt, wie lassen sie sich trotz ihrer gegenläufigen Bestimmungen zueinander ins Verhältnis setzen? Meine Untersuchung setzt an bei der Vermutung, dass die Schwierigkeit, diese Fragen zu beantworten, maßgeblich auf die Unterbestimmtheit der Kategorie

6  Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Psychologische Schriften. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1970. S. 241–274; Terry Castle: The Female Thermometer. Eighteenth Century Culture and the Inven­tion of the Uncanny. Oxford 1995; Fabio Camilletti: Voltaires Verwirrung. In: Ders.: Martin Doll, Rupert Gaderer und Jan Niklas Howe: Phantasmata. Techniken des Unheimlichen. Wien und Berlin 2011. S. 185–202. 7  Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart 1995. Vgl. v. a. S. 3–10. 8  Robert B. Zajonc, Hazel Markus und William R. Wilson: Exposure effects and associative learning. In: Journal of Experimental Social Psychology (1974). S. 248–263. 9  Colin Martindale und Cathleen Moore: Priming, Prototypicality, and Preference. In: Journal of ­Experimental Psychology: Human Perception and Performance (1988). S. 661–670. 10  Rolf Reber, Norbert Schwarz und Piotr Winkielman: Processing Fluency and Aesthetic Pleasure: Is Beauty in the Perceiver’s Processing Experience? In: Personality and Social Psychology Review (2004). S. 364–382. 11  Als Herausforderung individueller kognitiver Fähigkeiten erläutern die Faszination ästhetisch devianter Stimuli, die gerade nicht prototypisch oder bereits bekannt sind, Thomas Armstrong und Brian Detweiler-Bedell: Beauty as an Emotion. The Exhilarating Prospect of mastering a Challenging World. In: Review of General Psychology (2008). S. 305–332. Der Begriff der negativen ästhetischen Emotion wird in die Debatte eingeführt von Paul J. Sylvia und Elizabeth M. Brown: Anger, Disgust, and the Negative Aesthetic Emotions. Expanding an Appraisal Model of Aesthetic Experience. In: Psychology of Aesthetics. Creativity and the Art 1.2. (2007). S. 100–106.



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des Nicht-Schönen zurückzuführen ist.12 Die übergeordnete systematisch-ästhetische Frage, zu deren Beantwortung sie beitragen soll, lautet: Worin besteht die spezifische ästhetische Attraktivität dessen, was von den Bestimmungen des Schönen ganz offensichtlich nicht nur abweicht, sondern ihnen geradezu zuwiderläuft? Eine Antwort soll die Rekonstruktion einer Poetik des Monströsen liefern, die an Flauberts Beobachtung einer simultanen Präsenz und Absenz des Monströsen anknüpft. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang am für das Verhältnis von Literatur und Lebenswissenschaften zentralen „historischen Fluchtpunkt um 1800“13; ihr systematisches Anliegen ist also an historische Thesen gekoppelt. Zunächst folgt sie einem verbreiteten Verständnis ästhetischer Moderne, das im Folgenden nicht eigens problematisiert wird, und zwar vor allem den Annahmen (1) eines epistemischen Bruchs etwa um 1800, wie ihn Koselleck, Foucault und Luhmann annehmen14, (2) der Herausbildung ästhetischer Präferenzen im Anschluss an Sattelzeit oder Jahrhundertwende, die sich als „modern“ verstehen lassen und (3) einer Relevanz dieser Präferenzen bis heute.15 Eine spezifische Attraktivität monströser Formen für Ästhetik und Literatur nach 1800 leuchtet aus den kulturhistorischen Rahmenbedingungen

12  Wie weitgehend das Gegenteil des Schönen um 1800 als Negation des Ästhetischen oder als Versagen des Geschmacks bestimmt wird, illustrieren die folgenden Definitionen Friedrich Schlegels: „Die Herrschaft des Interessanten ist durchaus nur eine vorübergehende Krise des Geschmacks […] Er wird schnell genug zum Piquanten und Frappanten übergehn. Das Piquante ist, was eine stumpfge­wordne Empfindung krampfhaft reizt; das Frappante ist ein ähnlicher Stachel für die Einbildungskraft. Dies sind die Vorboten des nahen Todes. Das Fade ist die dünne Nahrung des ohnmächtigen, und das Choquante, sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich, die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks.“ Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. KFSA, 1. Abt. Bd. 1, S. 254. 13  Armen Avanessian: Die Entstehung zweier Disziplinen: Biologie und Ästhetik. In: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica: Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Zürich 2009. S. 15–16. Hier: S. 15. 14  In Foucaults Les Mots et les choses stellt das Jahr 1800 die unsichtbare Trennlinie von Klassischem Zeitalter und Moderne dar. Koselleck betont den heuristischen Wert seiner Sattelzeit-Annahme, vgl. Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Ders., Reinhart Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987. S. 269–282. Bei Luhmann, etwa in Liebe als Passion, markiert die Jahrhundertwende den Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Zur Problematisierung durchaus auch seines eigenen Verständnisses der Epochenbildung vgl. Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Hans Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a. M. 1985. S. 11–33. 15  Mit viel Pathos und der einen oder anderen Übertreibung hat diese Relevanz Philippe Muray festgehalten, in der Tradition von Foucaults Verschaltung von viktorianischem Selbstverständnis und dem des späten zwanzigsten Jahrhunderts in Der Wille zum Wissen: „On pense 19e. On aime 19e. On vote 19e. On filme, on peint, on écrit 19e. On a peur d’être 19e. On se réjouit si les autres le sont. On a des références du 19e. Un goût, une esthétique 19e. On espère, on chante, on s’angoisse et on désespère 19e.“ Philippe Muray: Le 19e siècle à travers les âges. Paris 1984. S. 9. Das Fortbestehen ästhetischer Paradigmen des neunzehnten Jahrhunderts im Selbstverständnis der Postmoderne ist allerdings nicht Gegenstand dieser Arbeit, die sich auf ihre Rekonstruktion konzentrieren wird.

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unmittelbar ein. Die Konjunktur des Hässlichen, Bösen, Phantastischen und Unheimlichen deuten darauf hin, dass das Monströse als Skandal und Abweichung einer allgemeinen Tendenz in der Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts entgegenkommt. Es weicht von ästhetischen Normen radikal ab, anders gesagt: Es ist auf drastische Weise nicht schön. Die Häufung monströser Formen und Unformen korrespondiert mit einem nachlassenden Einfluss der Regelpoetik und einer steigenden Affinität zur experimentellen Form. Die frühromantische Theorie wertet Groteske und Arabeske gattungspoetisch auf, Mary Shelleys Frankenstein-Roman das Monster als literarische Figur. Das Monströse wird literarisch gleichermaßen nutzbar für phantastische Entwürfe (E. T. A. Hoffmann, Klein-Zaches genannt Zinnober), sozialkritische Invektiven (Victor Hugo, L’homme qui rit) oder Problematisierungen der Integrität des Subjekts (Henry James, The Jolly Corner). Eine weitere Tendenz bereits des frühen neunzehnten Jahrhunderts, die enge Verschaltung von körperlicher Zeugung und poetischer Produktion16, plausibilisiert eine Ausweitung ästhetischer Programme des Monströsen: Wenn sich in der Poesie Groteskes produzieren lässt, so sicher auch in der Wirklichkeit. Eine derart allgemeine Anschlussfähigkeit gewinnt das Monströse erst nach 1800; dies widerspricht einer Forschungskonvention, der zufolge die zentrale kultur­ historische Bedeutung, die dem Monster in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit eignet, der Aufklärung zum Opfer fällt. Francis Bacon hatte zwar schon zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts die Forderung einer Reorganisation der Wissenschaften um die „monstra“17 erhoben, die jedoch in den folgenden zwei Jahrhunderten nicht annähernd eingelöst wird. Im neunzehnten Jahrhundert dagegen entstehen tatsächlich, einerseits aus einer wissenschaftlichen Bewegung der Naturalisierung18, andererseits aus einer poetischen, oft spielerischen Beschäftigung mit dem Monströsen, höchst einflussreiche Erklärungen über Natur und Unnatur. Meine Untersuchung geht von zwei prominenten, aber recht heterogenen und zunächst poetikfernen Befunden zur Kodierung des Abweichenden in Wissensordnung und Traumökonomie des neunzehnten Jahrhunderts aus. Nach Michel Foucault gestaltet sich der Übergang zum Jahrhundert der Lebenswissenschaften unter Maßgabe einer entscheidenden Figur des nicht Schönen, die an der Schnittstelle von medizinischem und juridischem Diskurs entsteht: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts […] ist die wichtigste und vorherrschende Figur, die nach und nach in die Rechtsprechung des beginnenden 19. Jahrhunderts einzieht (und mit welcher Kraft!)

16  Vgl. Christian Begemann und David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2002. 17  Vgl. Kapitel 1.6 dieser Arbeit. 18 „Die wissenschaftliche Erklärung der Monstrosität und die damit einhergehende Reduktion des Monströsen hat erst im neunzehnten Jahrhundert wirklich Gestalt angenommen.“ Georges Canguilhem: Die Erkenntnis des Lebens. Berlin 2009. S. 325.



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natürlich das Monster. Das Monster bereitet Probleme, das Monster stellt das Medizin- und Gerichtssystem in Frage. Rund um das Monster entfaltet sich die gesamte Problematik der Anomalie […] Das Monster ist die entscheidende Figur, die Figur, um welche die Machtinstanzen und die Wissensfelder sich sorgsam reorganisieren.19

Foucault korrigiert diese Beobachtung im Folgenden dahingehend, dass nicht mehr das Monster (gemeint ist dabei stets das Menschenmonster), sondern dessen Schwundstufen – der Däumling, der Anomale, das masturbierende Kind – die Wissensordnung des neunzehnten Jahrhunderts entscheidend strukturieren. Er nimmt also eine zentrale Stellung des Ungeheuers an und zugleich dessen Zersetzung und Banalisierung. Anders lautet Walter Benjamins Bestandsaufnahme zur Reorganisation der kollektiven Imagination des neunzehnten Jahrhunderts. Statt der Konzentration auf eine einzelne Figur konstatiert er einen umfassenden Prozess der Defiguration des Ästhetischen, seiner Auflösung in einen konturenlosen Raum willkürlicher Minimalverschiebungen: So erfasst man erst, daß gerade in diesem trockensten, phantasielosesten Jahrhundert sich die gesamte Traumenergie einer Gesellschaft mit verdoppelter Vehemenz in d[as] lautlose Nebelreich der Mode geflüchtet hat, in d[as] der Verstand ihr nicht folgen konnte.20

Auch Benjamin beschreibt – hier liegt die zunächst minimale Überschneidung mit Foucaults Analyse – einen Prozess der Abwendung vom Intelligiblen. Monstrosität in Foucaults Sinne und Mode nach Benjamin unterscheidet dabei der Grad der jeweils bezeichneten Abweichung von rechtsmedizinischer bzw. ästhetischer Norm. Dem Aufsehen erregenden, radikal abweichenden Charakter des psychiatrisch konstatierten und juristisch verhandelten Monströsen steht, unter dem Begriff der Mode konzeptualisiert, ein Feld der Ästhetik gegenüber, in dem mithilfe kleinster Differenzen soziale Distinktion produziert wird. Dennoch sind beide Beobachtungen kompatibel: Wie Foucaults Theorie des Monsters an der Schnittstelle von medizinischem und juridischem Diskurs ist auch Benjamins Analyse der Flucht kultureller Energien in Kleidungs- und Ausstattungsindustrie eine gegenläufige Denkfigur eingeschrieben. Benjamin begreift Mode, selbst wenn sie wie im Second Empire mit Verschiebungen auf

19  Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Frankfurt a. M. 2007. S. 85. Zu Foucaults Theorie der Psychiatrie als Ursurpatorin an der Schnittstelle von juridischem und medizinischem Diskurs vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. 20  Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. Bd. 5.1. S. 113. Zum Befund eines phantasiearmen Jahrhunderts gelangt schon 1822 Carl Gustav Jochmann, der vom „Herabsinken der Poesie von ihrer alten Hoheit zu ihrer gegenwärtigen Unbedeutsamkeit“ spricht. Vgl. Carl Gustav Jochmann: Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften. Berlin 1967. S. 123.

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der Ebene der Nuance operiert, als strukturell exzentrisch, revolutionär und (proto)surrealistisch: Sie „besteht ja nur aus Extremen“.21 Beide Analysen lassen sich als Wiedergaben des gleichen dialektischen Prozesses verstehen, die allerdings am jeweils entgegengesetzten Pol der Dialektik von exzep­ tioneller Singularität und banal-alltäglicher Distinktionsproduktion ansetzen. Das Monstrum als exzentrische Figuration kollektiver Vorstellungen von Alterität, wie sie in den sciences humaines Niederschlag finden, unterliegt einem permanenten Prozess der Banalisierung und Veralltäglichung. Mode als das alltäglichste Medium der Konstruktion individueller Identität, als das sie in Benjamins Passagen-Werk erscheint, bleibt stets auf die Suggestion des Außergewöhnlichen angewiesen. Es handelt sich in beiden Fällen nicht um ein beiläufiges Bonmot über das neunzehnte Jahrhundert: Für Foucaults Analyse von Gesellschaftsformen sind deren Praktiken der Beobachtung, Kategorisierung und Überwachung des Anormalen ebenso entscheidend wie für ­Benjamins geschichtsphilosophisches Projekt die Rekonstruktion gesellschaft­licher Träume (und, damit verbunden, das Erwachen aus ihnen). Beider Beobachtungen überschneiden sich in der Annahme, dass diejenige ästhetische Konzeption, die das neunzehnte Jahrhundert entscheidend prägt, einerseits verschwindet, sich verflüchtigt, nicht ganz zu fassen ist, nur in Schwundstufen, Diminutiven, im Unernst gegeben ist, und andererseits zum Extremen, Surrealen, Monströsen tendiert.22 Monstrosität ist, so ließe sich mit Foucault und Benjamin eine Eingangsvermutung formulieren, im neunzehnten Jahrhundert ein Umschlagpunkt von extremer, singulärer Abweichung und kollektiver ästhetischer Präferenz. Seine historische Funktion lässt sich präziser bestimmen: 1. Das (Menschen-)Monster erfährt im neunzehnten Jahrhundert eine epistemische Aufwertung zum zentralen Instrument der Konstruktion anthropologischer Normalvorstellungen. Die interpretatorischen Techniken, die sich in der Auseinandersetzung mit monströsen Körpern und körperlosen Monstrositäten herausbilden, dienen dabei disziplinenübergreifend zur Bestimmung von Grenzwerten, mithilfe derer der Mensch als biologische Gattung, als Gegenstand der Ästhetik, als rechtliche Person und als System psychischer Funktionen definiert wird. 2. Das Monströse erfährt eine weitere Aufwertung vom Instrument der Wissenschaft zum selbständigen Gegenstand wissenschaftlichen Interesses und vom Grenzwert des Ästhetischen zum bevorzugten Gegenstand ästhetischer Produktion. Indem zunehmend die Abweichung selbst in den Vordergrund rückt, wird

21  Benjamin, Gesammelte Schriften V.1., S. 119. 22  Der latent monströse Charakter der Mode manifestiert sich etwa in Benjamins komödiantischentsetzter Kommentierung der zeitgenössischen Radlerin, aber auch im Bild des Tigersprungs ins Einst, zu dem die Mode wie ein Raubtier ansetzt. Vgl. Philipp Ekardt: Fashion/Time-Differentials, from Simmel’s ‚Philosophie der Mode‘ to Benjamin. In: David Kim (Hg.): Georg Simmel in Translation. Cambridge 2006. S. 173–186. Hier: S. 181.



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das Verhältnis von Norm und Abweichung dynamisiert. Dies zieht eine normative Neubesetzung des Monströsen nach sich: Aus der Erforschung von Techniken zur Verhinderung oder zumindest Kontrolle von Monstrositäten entsteht ein Nachdenken über ihre möglichen problemlösenden Funktionen und sogar das Desiderat ihrer gezielten Produktion. Analog verwenden zeitgenössische Erzählungen das Monster nicht als fremdartigen Ausstellungsgegenstand, sondern als ein integrales Versatzstück moderner Subjektkonstitution. 3. Es lässt sich bereits zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts eine Tendenz zur Invisibilisierung des Monströsen ausmachen. Vor allem medizinische Fallstudien wenden sich vom Konzept des singulären, exzeptionellen Monsters ab und der Monstrosität zu. Die konsequente Streuung monströser Merkmale manifestiert sich am markantesten im Bedeutungsverlust körperlicher Monstrosität zugunsten psychischer Deformationen, deren Omnipräsenz im psychiatrischen Diskurs strukturell einer Universalisierung des Monströsen entspricht. Die Annahme außergewöhnlicher Merkmale in buchstäblich jedem Organismus ist Ergebnis der breiten Übernahme des Konzeptes „Trieb“ in die Humanwissenschaften und in die literarische Produktion: Triebe beschreiben natürliche Anlagen zur Devianz, die unsichtbarer Bestandteil des normalen menschlichen Organismus sind. 4. Die hier untersuchten literarischen und lebenswissenschaftlichen Konzeptionen des Monströsen unterliegen dabei sämtlich einer Dialektik von Defiguration und Refiguration. Dies führt unweigerlich zu einem Paradoxon ihrer Wahrnehmung und Darstellung: Das Monströse wird einerseits verstanden als vereinfachende, bildhafte Entsprechung radikaler Abweichung und andererseits über die kontinuierliche Auflösung in eine immaterielle Idee seiner selbst. Neben der häufig konstatierten Tendenz zur Banalisierung des Menschenmonsters im Anormalen (Foucault), der Unsichtbarmachung des Monströsen (Hagner) oder Invisibilisierung des Malum (Alt) gibt es zugleich eine gegenläufige Tendenz zur Produktion und ständigen Refiguration des außergewöhnlichen Menschenmonsters. Diese vierte Hypothese zielt auf eine nicht-lineare Verlaufsform der verhandelten Prozesse von epistemischer und ästhetischer Aufwertung, Invisibilisierung und Abstellung auf Triebkonzepte. Sie stellt keine rein historische Beobachtung dar, sondern eine strukturelle Hypothese zum Verhältnis monströser Formen und ihrer Umgebungen: Monstrositäten lassen sich über eine Dialektik von Singularisierung und Universalisierung definieren, die fester Bestandteil der historischen Evolution der Künste ist, und deren historisch konstante Geltung Monstrositäten als ästhetische Gegenstände par excellence qualifiziert. Diese Dialektik lässt sich funktional begründen mit den Interessen, die der Produktion von Normalität und radikaler Devianz zugrunde liegen: Um ein gültiges Paradigma effizient provozieren zu können, muss eine Abweichung kenntlich, also exzeptionell sein; um die Provokation effizient in Normalität überführen zu können, muss sie strukturell verallgemeinerbar sein. Monströse Merkmale unterliegen entsprechend einerseits einer ständigen Dispersion, zugleich bedarf

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 Man sieht sie nicht mehr

es immer wieder erneuerter Gesten der Figuration, Personifizierung und Konkreti­ sierung, um das Monstrum als Ausnahmeerscheinung und Grenzverletzung intakt zu halten. Dies gilt sicher nicht nur für Monstrositäten, sondern ebenso für künstle­rische oder modische Trends, die randständige, nicht-monströse Präferenzen oder Attribute in den kulturellen Mainstream überführen. Eine Sonderstellung nehmen die Prozesse der Universalisierung des Monströsen aber selbst in einem Jahrhundert ein, dessen „Traumenergien“ den schnellen Transformationsprozessen der Mode unterworfen sind: Monstren sind ein Superlativ des Marginalen und Anomalen und bilden einen jeweiligen Extremwert für deviante Selbstentwürfe. Die hohe Fluktuation zwischen Gegenständen, denen originelle Normalität, und solchen, denen pathologische Anomalie bescheinigt wird, erzeugt eine Verunsicherung der Grenzlinien zwischen mensch­ licher Norm und monströser Abweichung. Diese Verunsicherung schlägt sich gegen Ende des Jahrhunderts in einer fundamentalen Unentschlossenheit gegenüber der Frage nieder, ob primär Subjekt oder Gesellschaft als monströs zu bezeichnen sind. Berühmtester Ausdruck dieser Unentschlossenheit ist das ambivalente Triebkonzept der Freudschen Psychoanalyse, die den animalischen Trieb ebenso pathologisiert wie seine sozial sanktionierte Verdrängung.23 Eine wissenschaftshistorische Anekdote zeigt, wie stark die Produktion von Normalität und diejenige radikaler Abweichung zusammenhängen: Camille Dareste, Protagonist der medizinischen Teratologie, versucht, terata (also wörtlich: Monster) aus Hühnerembryonen zu produzieren, indem er sie erhöhter Bruttemperatur aussetzt. Er greift dabei auf einen Apparat zurück, der in der zeitgenössischen Landwirtschaft zur Produktion normal gebildeter Hühner dient. Diesen einfachen Apparat verändert und verbessert Dareste im Laufe seiner jahrelangen Experimentreihen ständig; seine Weiterentwicklungen scheinen wiederum in der Landwirtschaft sehr positiv aufgenommen worden zu sein.24 Mit abflauendem Interesse an missgebildeten Hühnerembryonen verschwindet die teratologische Funktion des Apparates, der Apparat selbst aber kommt unter dem Namen Inkubator oder Brutkasten bis heute zur Produktion von Normalmenschen zur Anwendung. Analog lässt sich auch das Vokabular des Monströsen als Instrument der Herstellung von Devianz verstehen. Im Fokus meiner Untersuchung wird weder eine politische noch eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit historischen Monstrositäten und Praktiken ihrer sozialen Stigmatisierung stehen; sie unternimmt stattdessen den Versuch einer Rekonstruktion der poetischen Strategien, mithilfe derer im neunzehnten Jahrhundert Devianz markiert und mittelbar Normalität produziert wird.

23  Ich folge hier Adornos pointierter und etwas polemischer Zusammenfassung, vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Frankfurt a. M. 1951. S. 72. 24  Vgl. Marie-Louise Fischer: Leben und Werk von Camile Dareste 1822–1899. Schöpfer der experimentellen Teratologie. Halle 1994. S. 137; Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur: Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780–1914. Frankfurt a. M. u. a. 2004. S. 240.

1 Poetik des Monströsen 1.1 Kontinuitäten und Brüche Die kulturhistorische Literatur zur Monstrosität ist umfangreich. Jede Kultur scheint über monströse Grenzfiguren der menschlichen Form zu verfügen, und jede Subdisziplin der Philologie und Ethnologie über entsprechende Aufzeichnungen. Eine Religion ohne die Vorstellung solcher Grenzfiguren scheint es ebenfalls nicht zu geben.1 Monstrositäten sind Gegenstand altphilologischer und mediävistischer Untersuchungen, aber ebenso ein unverzichtbares Versatzstück von Bestimmungen der Moderne über Figuren der Subversion. Bildliche Darstellungen des Monströsen sind Gegenstand kunsthistorischer Untersuchungen; den vielfältigen Inszenierungen deformierter Körper antwortet eine erhebliche Zahl theaterwissenschaftlicher Arbeiten, der Flut von Horror- und Science-Fiction-Filmen eine entsprechende Anzahl filmwissenschaftlicher Studien. Eine Kultur oder Epoche ohne Monstrositäten ist mir in den Recherchen zu dieser Arbeit nicht begegnet und ebenso wenig eine geisteswissenschaftliche Disziplin, die ganz auf sie verzichten könnte.2 Eine Studie zu Monstrositäten in Literatur und Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts dagegen gibt es nicht3, so dass auf einen Forschungsüberblick hier verzichtet werden kann. Zwei wichtige Ausgangspunkte seien dagegen erwähnt, nämlich ein sehr prägnanter Text Canguilhems über Monstrositäten aus La connaissance de la vie4 und die verstreuten Anmerkungen zu einer Theorie des Monströsen aus Foucaults Vorlesungen über Les Anormaux. Kulturwissenschaftliche Publikationen zu Monstern und Monstrositäten ­beginnen mit sehr ähnlichen Einleitungssätzen: „Monster haben Konjunktur“5, „We live in a time

1  Für das Alte Testament muss dieser Nachweis wohl nicht geführt werden; mit Blick auf das Neue Testament behaupten zumindest Žižek und Milbank, dass Jesus als monströser und gleichzeitig bedeutungsloser Signifikant einen perversen Kern des christlichen Zeichensystems darstellt. Slavoj Žižek und John Milbank: The Monstrosity of Christ: Paradox or Dialectic? Boston 1992. 2  Die Musikgeschichte wäre ein plausibler Kandidat; Nicola Gess hat gezeigt, dass der Oper im achtzehnten Jahrhundert monströse Funktion attribuiert wird. Vgl. Nicola Gess: Oper des Monströsen – Monströse Oper. Zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik des achtzehnten Jahrhunderts. In: Geisenhanslüke/Mein: Monströse Ordnungen. S. 655–668. 3  Das Problemfeld „Monstrosität“ wird in der Forschung häufig unter angrenzenden Begriffen verhandelt wie denen des Grotesken, Phantastischen, Bösen, Unheimlichen, Anomalen oder des Wahnsinns. Vor allem das Phantastische des neunzehnten Jahrhunderts überschneidet sich mit dem Monströsen regelmäßig als Modus der Universalisierung „des anomalen Menschen“; begriffliche Abgrenzungen werden in den einzelnen Kapiteln eingeführt. 4  Georges Canguilhem: La Connaissance de la vie. Paris 1971. 5  Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009.

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of monsters“6, „Es hat zuweilen den Anschein, das Monströse sei überall“7, oder, ohne den Versuch einer neutralen affektiven Valenz: „Books appear on the topic almost weekly […]. Marvels, prodigies, and Wunderkammern are all the rage.“8 Die Gesten ähneln einander, seit Leslie Fiedler 1978 die „Freaks“ der Counter Culture als Gegenwartsbezug seiner Geschichte der deformierten Körper9 wählt: Ausgegangen wird jeweils von einer unübersehbaren Vielfalt gegenwärtiger Erscheinungsformen des Monströsen und einer Dringlichkeit ihrer kulturhistorischen oder theoretischen Analyse, die irgendwie aus dieser Unübersichtlichkeit folgt. Einer solchen Dringlichkeit, die auf Aktualität, medialer Präsenz und gegenwartspolitischer Relevanz basiert, steht die, meist ebenfalls gleich einleitend angeführte, Annahme gegenüber, das goldene Zeitalter des Monströsen liege fernab der Gegenwart, zumeist in Mittelalter oder Früher Neuzeit, nach einer weniger verbreiteten Forschungsmeinung auch in der Antike.10 In der Gegenwartskultur scheinen Monster dagegen vor allem den Film zu bevölkern und sind damit aus der lebensweltlichen Realität, von der sich die Genres Horror, Fantasy und Science Fiction sehr weitgehend emanzipiert haben, stärker denn je entrückt. Beide Annahmen lassen sich zusammenführen in der Beobachtung einer Inflation des virtuellen Monströsen: Mehrere hundert Millionen Internet-Suchergebnisse für das (u. a.) englische und deutsche Wort „monster“ (das französische „monstre“ bringt es immerhin auf fast zwanzig Millionen Treffer) sprechen deutlich für die Konjunktur-Annahme. Zugleich entsteht bereits bei flüchtiger Sichtung dieser Einträge der Eindruck, dass es sich bei Monstertruck, Monster von Amstetten, Monstermagnet, Monsterbusen, Monster­

6  Jeffrey Jerome Cohen: Monster Theory. Reading Culture. Minneapolis 1996. 7  Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780– 1914. Frankfurt a. M. u. a. 2004. 8  Lorraine Daston und Katharine Park: Wonders and the order of nature 1150–1750. Cambridge/Mass. 1998. 9  Leslie A. Fiedler: Freaks. Myths and Images of the Secret Self. New York 1978. 10  Zu Monstrosität als Schwerpunkt der Mittelalterforschung vgl. u. a. John R. Tolkien: The Monsters and the Critics. In: Christopher Tolkien (Hg.): The Monsters and the Critics and other Essays. London u. a. 1983; John Block Friedman: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge/Mass. 1981; David Williams: Deformed Discourse. The Function of the Monster in Mediaeval Thought and Literature. Montreal 1996; Jeffrey Jerome Cohen: Of Giants. Sex, Monsters, and the Middle Ages. Minneapolis 1999; Bettina Bildhauer und Robert Mills (Hg.): The Monstrous Middle Ages. Cardiff 2003; zur Frühen Neuzeit vgl. v. a. Lorraine Daston und Katherine Park: Unnatural Conceptions: The Study of Monsters in Sixteenth- and Seventeenth-Century France and England. In: Past and Present. Nr. 92 (August 1981). S. 20–54, sowie die folgende große Studie der gleichen Autorinnen: Wonders and the Order of Nature. 1150–1750. New York 1998, weiterhin: Irene Ewinkel: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1995, Michael Schilling: Medienspezifische Modellierung politischer Ereignisse auf Flugblättern des Dreißigjährigen Kriegs. In: Ute Frevert und Wolfgang Braungart (Hg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2003. S. 123–138. Von einer „von Monstern strotzenden Antike“ spricht v. a. Catherine Atherton: Introduction. In: Dies. (Hg.): Monsters and Monstrosity in Greek and Roman Culture. Bari 2002.



Kontinuitäten und Brüche 

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behörde und Pop-Monster11 eher um Schwundstufen eines werbeaffinen Superlativs handelt als um Monster im emphatischen Sinne. Monströse Mischwesen begleiten die Literaturgeschichte, aber auch die bildenden Künste von ihren Anfängen an. Hartmut Böhmes Annahme, dass „in der Höhlenmalerei alle für die Jäger-Kultur relevanten Tiere mit großer piktoraler Perfektion ­gezeichnet werden, aber keine Fabelwesen“12, wird widerlegt durch prähistorische Studien: Therianthropische Motive, Hybride in Form einer „mixture of felid and human traits“13, sind bereits in Höhlenmalereien nachweisbar, deren Alter 30.000 Jahre überschreitet. Überraschender ist die Konstanz der Banalisierungsgesten gegenüber diesen Mischformen: Die Beobachtung einer inflationären Verwendung monströser Signifikanten, deren ursprüngliche und eigentliche Bedeutung nivelliert wird, ist weder ein Alleinstellungsmerkmal des frühen einundzwanzigsten noch des hier untersuchten neunzehnten Jahrhunderts, sondern findet sich verlässlich in jeder Epoche der (Text-)Geschichte der Monstrositäten: Plinius d. Ä. konstatiert eine Naturalisierung einst „monströser“ Hermaphroditen14, die ihre frühere Omenfunktion in den Bereich des Aberglaubens verweist. Augustinus fürchtet, sein Buch über den Gottesstaat nicht vollenden zu können, würde er die ihm bekannten Ungeheuer auch nur auflisten15; Bernhard von Clairvaux dagegen fürchtet angesichts der Inflation mons­ tröser Zeichen in der kirchlichen Ikonographie des Hochmittelalters vor allem um die Konzentration der Mönche.16 Als frühneuzeitliches Pendant ist Sebastian Brants

11  Es gibt dabei durchaus überraschende Verbindungen von akademischer und popkultureller Konjunktur. Lady Gaga, deren Album „Fame Monster“ und deren Single „Monster“ während der Arbeiten an dieser Studie Verkaufsrekorde erzielten und deren öffentlicher Selbstinszenierung eine Strategie radikaler Selbstmonstrifizierung zugrundeliegt, hat in ihrem Studium an der New York University eine kurze Abhandlung über die Theorie der Missgeburt nach Montaigne vorgelegt. Vgl. Jens-Christian Rabe: Monströs normal. Lady Gaga auf Tournee. Süddeutsche Zeitung vom 16.07.2009. 12  Hartmut Böhme: Im Zwischenreich. Von Monstren, Fabeltieren, Aliens. In: Ursula Wolf (Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung. Frankfurt a. M. 2001. S. 233–258. 13  Nicholas J. Conard: Palaeolithic Ivory Sculptures from Southwestern Germany and the Origins of Figurative Art. In: Nature 426 (2003). S. 830–832. Hier: S. 830. 14  C. Plinius Secundus: Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch VII: Anthropologie. Hg. und übers. von Roderich König. Zürich und Düsseldorf 1996. S. 31. 15  Sancti Aurelii Augustini episcopi „De civitate dei“. Libri XXII. Bd. 2. Lib. XIV–XXII. Hg. von Bernard Dombart und Alfons Kalb. Darmstadt: Teubner 1981. S. 272. 16  So in der berühmten und u. a. von Umberto Eco prominent zitierten Passage: „Aber im Kreuzgang, wo es die lesenden Mönche sehen können, was sollen da solche lachhaften Monstrositäten, der sonderbare reizlose Reiz, die reizvolle Reizlosigkeit? Wozu diese unerfreulichen Affen, die wilden Löwen, wozu die greulichen Zentauren, wozu Halbmenschen, wozu gefleckte Tiger, wozu kämpfende Soldaten, wozu hornblasende Jäger? Man sieht viele Körper, die zu ein und demselben Kopf gehören, und dann wieder einen Körper mit vielen Köpfen … Kurz, da gibt es solche mannigfache Vielfalt sonderbarer Formen überall, daß wir lieber den Marmor lesen würden als die Bücher.“ Bernhard von Clairvaux: Apologia ad Guillelmum abbatem. In: Gerhard Winkler (Hg.): Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke. Bd. 2. Innsbruck 1990. S. 192–193.

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 Poetik des Monströsen

­ eigerung zu lesen, sich überhaupt noch zu Monstern zu äußern: „Man hat mich W aufgefordert, darüber zu schreiben, [und das würde ich auch tun] wenn nicht Monster so häufig aufträten, dass sie mir weniger ein Wunder anzuzeigen scheinen denn den normalen Verlauf der Natur in unserer Zeit.“17 Im Grimmschen Wörterbuch ist die Entwertung und Abnutzung des Begriffs am greifbarsten – so ist das Wort Ungeheuer sogar nur noch „scherzhaft, übertragen oder bildlich“ zu verstehen.18 Ziel der folgenden theoretischen Überlegungen ist es, zu zeigen, dass die Inflation des Monströsen zu einem omnipräsenten, aber wenig aussagekräftigen Zeichen der Imaginationsfigur des Monsters strukturell eingeschrieben ist. Der teils nostalgische, teils verächtliche Rekurs auf eine Vorzeit, in der man Monster noch „gesehen hat“, wie Flauberts Formulierung suggeriert, ist fester Bestandteil der Wirkungsweise dieser Imaginationsfigur. Die Funktion des Monsters zur Produktion gesellschaft­ licher Normalität ist doppelt: einerseits die eines singulären, skandalösen Ausnahmephänomens, andererseits die eines höchst anschlussfähigen Superlativs des SelfFashioning. Ich argumentiere dafür, diese Doppelfunktion auf ein zentrales doppeltes Strukturmerkmal des Monströsen zurückzuführen, nämlich auf seine offensive und alarmierende Zeichenhaftigkeit bei prinzipiell ungeklärter Bedeutung. Als Skandal entzieht sich das Monstrum einer vollständigen apriorischen Bestimmung. Devianz, Nicht-Identität und Differenz sind historisch, vor allem aber sind Skandale, die auch nur um einige Jahrzehnte zurückliegen, als solche einer nachfolgenden Generation oft nicht mehr vermittelbar. So überwiegen auch bei der Bezeichnung eines Lebewesens oder Sachverhalts als monströs die historischen Variablen: Soziale wie wissenschaftliche Normen unterliegen einem historischen Wandel, ebenso wie die Orte, an denen Monster hypothetisch vermutet oder materiell gesammelt werden19, die Medien, die ihr Auftauchen dokumentieren und die Diskurse oder Disziplinen, die sich zuständig erklären. Im Zuge dieser Verschiebungen verändert sich notwendig auch die affektive Disposition eines durchschnittlichen Betrachters.20 Zur Illustration meiner einleitenden theoretischen Überlegungen zur Problemfigur des

17  „Sunt qui me ad scribendum impellent: [facerem] nisi tam frequens monstrorum repertio non miraculum, sed commune nature cursum tempestate nostra indicare nobis viderentur.“ S ­ ebastian Brant: Brief an Johannes Sigrist. 28. Juni 1496. Abschrift in den Miscellanea Wenckeri des Jacob Wencker. Zit. nach: Dieter Wuttke: Erzaugur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. S ­ ebastian Brant deutet siamesische Tiergeburten. In: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies 43 (1994). S. 106–131. 18  Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin (Nachdruck München 1984). 19  Zu den Orten des Monströsen vgl. Kapitel 4 der vorliegenden Untersuchung und Thomas H. Macho: Vom Ursprung des Monströsen. Zur Wahrnehmung des verunstalteten Menschen. In: Adolf Holl (Hg.): Wie werden aus Menschen Monstren? Graz 1990. S. 55–94. 20  Für Affekte die durch Konfrontation mit einem mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Monster ausgelöst werden, haben Daston und Park ein sehr tragfähiges Modell ausgearbeitet (vgl. Absatz 5 dieses Kapitels), zu dem es für das neunzehnten Jahrhundert noch kein Pendant gibt.



Kontinuitäten und Brüche 

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Monstrums habe ich bewusst Beispiele gewählt, die nicht dem neunzehnten Jahrhundert entstammen, um eine Kreisbewegung von systematischen Annahmen und empirischen Befunden zu vermeiden. Die so entstandene Skizze zur Geschichte mons­ tröser Formen macht eine methodologische Überlegung notwendig: Ansätze zu einer Geschichte monströser Formen folgen, vielleicht gerade wegen der unübersichtlichen Menge an subsumierten Phänomenen, noch in Publikationen jüngeren Datums häufig einer „gradlinigen Forschungshypothese“21, wie Michael Hagner zu Recht kritisiert. Ebenso wie eine Tendenz zur Teleologie ist dabei eine dominante Affinität zu histo­ rischen Klischees auszumachen: Zu einer Antike der Mythologeme, einem abergläubischen Mittelalter, einer frühen Neuzeit der wissenschaftlichen Neugier, einem Aufklärungsjahrhundert der Naturalisierung und einem neunzehnten Jahrhundert der Verwissenschaftlichung. So ist mit Blick auf die medizinische Geschichte der Missbildungen von „Irrungen und Wirrungen“ die Rede, „die durchlaufen werden mußten, um sich von den Fesseln phantastischer und abergläubischer Vorstellungen zu be­ freien“.22 Das Denken in trennscharf identifizierbaren kulturhistorischen und epistemologischen Blöcken im Umgang mit dem Monströsen scheint nur langsam abgelöst zu werden durch ein Verständnis fließender historischer Übergänge, unbeachteter Eingaben, die erst Jahrhunderte später wieder aufgegriffen werden, dialektischer Umschläge in bereits überwunden geglaubte Denkmuster und häufiger Koexistenzen traditioneller und innovativer Modelle der Beobachtung. Auch die vorliegende Studie setzt natürlich den Gedanken eines historischen Wandels des Monströsen voraus, wenn sie versucht, aus Momentaufnahmen des neunzehnten Jahrhunderts eine Veränderung des Verhältnisses von Norm und Abweichung zu rekonstruieren. Die historischen Beispiele, die die folgende Theorieskizze begleiten, legen jedoch nahe, dass fast alle zentralen Elemente der modernen Ästhetiken und Wissenschaften des Monströsen schon in vorausgehenden Epochen Gegenstand der Diskussion und Spekulation sind. Daraus ergibt sich keine Entwicklungsgeschichte, sondern eine Bestandsaufnahme derjenigen Bestimmungen des figuralen Monströsen, auf deren, stets und notwendig unvollständige, Überwindung die Gesten von Banalisierung und Universalisierung des Monströsen nach 1800 zielen. Die Setzung von Brüchen oder Einschnitten innerhalb der Geschichte der Mons­ trositäten wird verunmöglicht durch die schnelle dialektische Abfolge von Prozessen

21  Michael Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte, S. 9. Hagners Kritik zielt vor allem auf die folgenden Beiträge: Jean Louis Fischer: Monstres. Histoire du corps et de ses défauts. Paris 1991; Gert Horst Schumacher: Monster und Dämonen. Unfälle der Natur. Leipzig 1993; Dudley Wilson: Signs and Portents. Monstrous Births from the Middle Ages to the Enlightenment. London und New York 1993. 22  Schumacher, Monster und Dämonen, S. 7. In der Literaturwissenschaft findet sich eine solche Sichtweise etwa bei Paul Goetsch: „When teratology took a scientific turn in the early nineteenth century, it broke with such traditional fantastic notions as naturalized monsters as human beings.“ Paul Goetsch: Monsters in English Literature. From the Romantic Age to the First World War. Frankfurt a. M. 2002. S. 5.

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 Poetik des Monströsen

der Defiguration und Refiguration monströser Formen.23 Die Schlussfolgerung lautet allerdings keineswegs, dass es „keine Geschichte der Monstrositäten geben kann“.24 Notwendig ist vielmehr der Verzicht auf die Annahme eindeutiger und irreversibler historischer Entwicklungsvektoren; so scheint eine dialektische Pendelbewegung des Monströsen zwischen den Polen der exzeptionellen Singularität und der banalen Alltäglichkeit, dem emphatisch aufgeladenen metaphysischen Zeichen und der wissenschaftlich erklärbaren Abweichung verbindlich für die heterogenen Kontexte seines Auftretens. Prozesse wie der einer Naturalisierung des Monsters lassen sich stets durch die Beobachtung entgegengesetzter Bewegungen relativieren.25 Entsprechend erhebt der historische Abriss, der die folgende theoretischen Überlegungen begleitet, keinen Anspruch auf historische Vollständigkeit26 und enthält statt allgemeiner Aussagen über Epochen und ihre Episteme Bruchstücke einer historischen Poetik des Monströsen, die stabil als charakteristisch bezeichnet werden können: Die Verbindung von Monstrum und Zeichen, die drei konstitutiven Spannungen „Real/fiktiv“, „Fremd/Eigen“, „Physisch/Psychisch“, die Verstärkungs- und Argumentfunktion mons­ tröser Formen und ihre erstaunlich konstante ästhetische, nicht selten erotisch aufgeladene, Attraktivität.

1.2 Monstra als Zeichen Schon die Etymologie des lateinischen „monstrum“ als Pendant zum griechischen τέρας verweist auf eine Zeichenhaftigkeit des Ungeheuers: Es ist abgeleitet aus dem

23  Canguilhem, Foucault oder Hagner setzen bewusst keine allzu scharfen Einschnitte. Canguilhems Aufsatz stellt eher theoretische Betrachtungen an, die historische Entwicklungen knapp anreißen, Foucaults „Geschichte der Monstrositäten“ ist eher implizit aus den Vorlesungen über die Anomalen zu rekonstruieren. Hagner verzichtet in späteren Publikationen auf übergreifende historische Narrative und eindeutig periodisierende Begriffe wie den der „Naturalisierung“. Vgl. Michael Hagner: Enlightened Monsters. In: William Clark, Jan Golinski und Jan Schaffer (Hg.): The Sciences in Enlightened Europe. Chicago 1999. S. 175–217. 24  Cohen versucht die „compulsion to historical specificity“ durch die folgende Absage zu überwinden: „Post de Man, post Foucault, post Hayden White, one must bear in mind that history is just another text in a procession of texts, and not a guarantor of any singular signification“ (Cohen, Monster Theory, S. 3). Er stellt aber im Folgenden systematische Thesen zur Debatte, deren Anwendungs­ gegenstände dezidiert „specific cultural moments“ sind, die aufeinander folgen und sich aufeinander beziehen. 25  Vgl. die Selbstkritik bei Daston/Park, Wonders and the Order of Nature, S. 176. 26  Nicht nur Augustinus, sondern auch Rudolf Wittkower, eine spätere Autorität der Theorie des Monströsen, hält das Arsenal historischer Ungeheuer für „unerschöpflich“. Wittkowers Studie aus dem Jahre 1942 ist nach wie vor prägend für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kopplung von Monstrosität an den „Osten“. Rudolf Wittkower: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. Nr. 5 (1942). S. 159–197.



Monstra als Zeichen 

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Verb (de)monstrare.27 Die ursprüngliche Wortbedeutung eines Mahnmals der Götter streicht Cicero heraus: Was allerdings beweisen die Voraussagen und Vorahnungen der Zukunft anderes, als daß den Menschen von den Göttern das, was geschieht, angedeutet, angekündigt und vorausgesagt wird, woher ja auch die Begriffe Wunderzeichen, Andeutungen, Ankündigungen und Vorzeichen ihre Namen haben?28

Das Monstrum ist hier – wie die verwandten Begriffe „ostentum“, „portentum“ und „prodigium“ – ein Vorzeichen der Götter.29 Cicero vervierfacht das monströse Vor­ zeichen, um viermal und damit überzeugender seine etymologische Zeichenhaftigkeit herleiten zu können: Etwas wird gezeigt oder zeigt sich. Was gezeigt oder angezeigt wird, bleibt offen: Monster sind Signifikanten, die nichts weiter als „Signifikant“ bedeuten. Bei Cicero stellt diese Überdeterminiertheit des Menschenmonsters als Unglückszeichen, als Verweis auf eine übergeordnete, fundamentale Störung der Weltordnung, einen eher rhetorischen als juristischen Superlativ dar.30 Die Bedeutung des Zeigens, also die Idee, dass im Monstrum etwas gezeigt wird, sich zeigt und als Zeichen interpretiert werden muss, erhält sich bis in die Gegenwart. Als Begriff, der im Zuge historischer Säkularisierungen, Banalisierungen oder Naturalisierungen jeweils seine ursprüngliche, transzendente Bedeutung verliert, ist das Monstrum anschlussfähig für verschiedene Neubesetzungen. Die Rede von der Inflation ist dabei kein ­willkürlicher Rückgriff auf ökonomisches Vokabular: Tatsächlich scheinen monströse ­Formen eine symbolische Währung, die in vielfältigen Kontexten den Transfer von Zuschreibungen herausgehobener Bedeutung ermöglicht. Auf diese enge Verbindung von Monster und Zeichen spielt Jacques Derrida an, wenn er mit Heidegger und im Anschluss an Hölderlin Menschen als monströse Zeichen betrachtet:

27  Vgl. Eintrag „Monstrum“ in: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin 1995; Eintrag „Monstrum“. In: Karl-Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 2. Darmstadt 1998. 28  Marcus Tullius Cicero: Meisterreden. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann. Zürich und München 1983, S. 122–123. Lat.: „Praedictiones vero et praesensiones rerum futurarum quid aliud declarant nisi hominibus ea, quae sint, ostendi, monstrari, portendi, praedici, ex quo illa ostenta, monstra, portenta, prodigia dicuntur.“ 29  Wenn diese vier Verben von Augustinus und Isidor von Sevilla bis in die neueste Literatur über Monster hinein geschlossen zitiert werden, so ist dies Ciceros Einfluss zuzuschreiben. Zu seiner rhetorischen Technik, statt einer einfachen Wortverwendung mehrere ähnliche Begriffe aneinanderzureihen, vgl. Erich Auerbach: Figura. In: Archivum Romanicum 22 (1938). S. 436–489. 30  Cicero bezieht in der Rede Pro Q. Roscio zwei Bedeutungen des Begriffs „monstrum“, die eines göttlichen Mahnmals und die einer sittlichen Verfehlung, aufeinander und produziert damit einen Superlativ moralischer Anomalie: „Die Natur selbst widerstrebt derartigen Vermutungen; es ist das sicherste Unglückszeichen und Merkmal böser Vorbedeutung, wenn jemand in menschlicher Erscheinung und Gestalt die wilden Tiere so sehr an Rohheit übertrifft.“ Cicero, Meisterreden, S. 63.

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 Poetik des Monströsen

Nous sommes signe — montrant, avertissant, faisant signe vers mais en vérité vers le rien, signe à l’écart, en écart par rapport au signe, montre qui s’écarte de la montre ou de la monstration, monstre qui ne montre rien. Tel écart du signe au regard de lui-même et de sa fonction dite normale, n’est-ce pas déjà une monstruosité de la monstrosité, une monstruosité de la monstration? Et cela, c’est nous, nous en tant que nous avons presque perdu la langue à l’étranger, peut-être dans une traduction. Mais ce „nous“, le monstre, est-ce l’homme ? 31

Eine positive Bestimmung monströser Zeichen enthalten Derridas Überlegungen nicht, wohl aber zwei elementare negative semiologische Festlegungen: Monströse Zeichen weichen ab von der „Normalfunktion des Zeichens“, und sie zeigen nichts. Der Gedanke der Abweichung steht in Einklang mit der hier entwickelten Definition. Ein Zeichen, das nichts zeigt, ist dagegen ein Paradoxon und zudem unvereinbar mit der gängigen Beschreibung von Monstern als tendenziell „semantisch überdeterminierten Zeichen“32, deren Bedeutung meist uneindeutig ist, deren Deutung aber mit historisch konstant gewaltigem Aufwand betrieben wird. Eines der historisch frühesten Beispiele für diesen Aufwand stellen die Omendeutungen im babylonisch-assyrischen Kulturraum dar.33 Hier bildet die Untersuchung menschlicher und tierischer Missbildungen, gemeinsam mit Hepatoskopie und Astro­ logie, eine der drei traditionellen Techniken der Omendeutung, die vor allem die ökonomische und politische Zukunft betrifft.34 Fast jeder Missgeburt wird eine Bedeutung für die Sicherheit der politischen Ordnung beigemessen, entweder im Sinne einer Gefährdung oder einer Affirmation derselben:

31  Jacques Derrida: La main de Heidegger. In: Ders.: Heidegger et la question. De l’esprit et autres essais. Paris 1990. S. 173–222. Hier: S. 183. – Eine Anmerkung zur Zitierweise: Zitate aus Quellen wie aus Sekundärtexten sind nicht prinzipiell in der Originalsprache gehalten, sondern nur dann, wenn dies für das Verständnis des Zitats unerlässlich ist – wie hier, um den etymologischen Zusammenhang zwischen „montre“ und „monstre“ oder Ciceros Koppelung von ostendere und ostentum beizubehalten. 32  Rasmus Overthun: Das Monströse und das Normale. In: Geisenhanslüke/Mein, S. 43–80. Hier: S. 49. 33  Auf die Bedeutung monströser Form im babylonischen Epos sei hier nur kurz verwiesen: So begegnet Gilgamesch, selbst zu einem Drittel menschlich und zu zwei Dritteln göttlich, Chumbaba als Wächter des Zedernwaldes und dem Skorpionen-Dämon als Wächter der Unterwelt und bekämpft sie. Sein Gefährte Enkidu, der ihm von den Göttern als gleichgestellter und geistesverwandter Bruder zur Seite gestellt wird, ist der erste „wilde Mann“ der Literaturgeschichte: Behaart, unter Tieren aufgewachsen, bestimmt durch aggressive Sexualität und überlegene Körperkraft. Das GilgameschEpos kreist beständig um die Frage der Unterscheidung, Konkurrenz und Paarung von Menschen, Göttern und Tieren. Vgl.: Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul. München 2012. 34  Ich folge hier der Übersetzung und Kommentierung durch Morris Jastrow: Babylonian-Assyrian Birth-Omens and their Cultural Significance. Gießen 1914. Alle drei Praktiken lassen sich nach Jastrow über die hethitische und etruskische Kultur bis in die klassische Antike hinein weiterverfolgen.



Monstra als Zeichen 

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If it is a double fetus, but with one head, a double spine, two tails and one body, the land that is now ruled by two will be ruled by one person. If it is a double fetus with one head, the land will be safe.35

Nicht alle Voraussagen folgen derart eindeutig einer Analogie von körperlicher Missbildung und prognostiziertem Zustand des Staatskörpers. Eine achtbeinige Missbildung etwa bedeutet einen verheerenden Wirbelsturm36; wenn das rechte Ohr eines neugeborenen Lamms fehlt, bedeutet dies das Abbrennen des eigenen Stalls, ist es das linke, brennt der Stall eines Feindes; wachsen einem menschlichen Fötus vier Ohren37 bedeutet dies die Zentralisierung der Macht in der Hand eines Souveräns. Missbildungen sind nach Morris Jastrow im Allgemeinen „signs of an angered deity“38, d. h. Zeichen, die dringend eine Deutung und ein aus dieser Deutung abgeleitetes individuelles oder politisches Handeln verlangen. Mir scheint es plausibel, diese Handlungsnotwendigkeit aus einem primär unterdeterminierten Charakter des monströsen Zeichens abzuleiten, zu dem sich ein Zuviel an Bedeutung erst sekundär gesellt, nämlich in Folge des eröffneten Interpretationsspielraums. Monstra stellen einen Problemfall der Zeichenordnung dar, nicht deshalb, weil sie „nichts“ bezeichneten und damit aus der symbolischen Ordnung heraus­fielen, sondern weil ihre offensive Zeichenhaftigkeit in Verbindung mit ihrer prinzipiell vagen Bedeutung die Fragilität der symbolischen Ordnung selbst offenlegt, als „Monstrosität der Monstration“. Im Vergleich zur „sogenannten Normalfunktion“ des Zeichens nach Derrida, also zu arbiträren Signifikant-Signifikat-Relationen mit konventionell festgelegten Bedeutungen, besteht die Andersartigkeit der ebenso arbiträren monströsen Zeichen darin, dass ein Monstrum eine Sprengung des konventionellen Bedeutungsrahmens bedeutet, also das Vorkommen einer überraschenden und unbekannten Abweichung, die im Zeichensystem nicht bereits vorgesehen und integriert sein kann. Mit dem Begriff „monstre“ ist eher eine Geste der Hilflosigkeit verknüpft als eine souveräne Bedeutungszuweisung. Derridas Formulierung eines Zeichens ohne Bedeutung rückt monstra in die Nähe derjenigen Zeichen, die in der poststrukturalistischen Theoriebildung unter unterschiedlichen Deklarationen als Nullstellen der Zeichenordnung fungieren, im Anschluss an Jakobsons Forderung, „die komplexen und seltsamen Beziehungen zwischen den eng verbundenen Begriffen ‚Zeichen‘ und ‚Null‘ zu verfolgen.“39 Anders als Ornamente in Derridas berühmter Parergon-Analyse40 aber lenken monströse Zeichen

35  Jastrow, Omens, S. 9. 36  Jastrow, Omens, S. 13. 37  Jastrow, Omens, S. 21. 38  Jastrow, Omens, S. 80. 39  Vgl. Roman Jakobson: Das Nullzeichen. In: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. Frankfurt a. M. 1974. S. 45. 40  Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Wien 1992. S. 56–104.

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die Aufmerksamkeit aggressiv auf sich, anders als „Neutra“ nach Roland Barthes (zu denen Schweigen, Schlaf, Anorexie, Vergessen oder Urlaub zählen) eignet monströsen Zeichen gerade kein Moment des Versinkens oder Rückzugs, und von der Nullstelle bzw. zentralen Leerstelle der Gesellschaftsordnung, dem Platz des Königs in Foucaults umstrittener Analyse von Las Meninas41, trennt sie der Charakter des Abseitigen und Abwegigen. Eine Gemeinsamkeit mit Parerga wie Neutra besteht allerdings doch: Die Suche nach einer Nullstelle der Zeichenordnung gilt nach Barthes stets „einer strukturalen Schöpfung, die den unerbittlichen Binarismus des Paradigmas durch den Rückgriff auf einen dritten Term auflöst“.42 Eine solche dritte Einheit stellen ästhetische Konzeptionen körperlicher und psychischer Missbildungen zur Verfügung, für Modelle der Theoriebildung von Francis Bacon bis Donna Haraway. Die Bestimmung des Dritten, nicht eindeutig Klassifizierbaren, des kategorialen Dazwischen ermöglicht unterschiedlichste Zuschreibungen der Subversivität. Unter dem Begriff paradigmatischen, also binären Denkens ist für Barthes die Aggression des Signifikanten schlechthin zusammengefasst, der sich nur im Rekurs auf ein Drittes, eine Geste des Ausweichens oder Abweichens, begegnen lässt. Entsprechend attraktiv und anschlussfähig sind monströse Zeichen für subversive Gesten der Aufbrechung verschiedenster binärer Ordnungen. In einer Lesart des französischen Strukturalismus, die Gilles Deleuze schon 1967 vorstellt43, ist „das leere Feld“ der Zeichenordnung ebenso unverzichtbares Versatzstück strukturalistischer Arbeit wie Differen­tialität und Serialität – aber für Deleuze besteht der Reiz des leeren Feldes nicht im Auffinden von Zeichen, die „nichts“ bedeuten. Er überschreibt die „leeren Felder“ bei LéviStrauss und Foucault in einer vereinnahmenden Lektüre durch eine Figur des Dritten, der er Nicht-Bedeutung nur im Sinne konventionell noch nicht festgelegter Be­deutung zuschreibt. Neuer Sinn entsteht nach Deleuze nicht aus der Gegenüberstellung von Sinn und Nicht-Sinn, sondern „in seiner wesentlichen Beziehung zu einem d ­ ritten Element“44 zwischen Sinn und Nicht-Sinn, nämlich dem Unsinn. Nehmen wir Deleuzes korrigierende Lesart der strukturalistischen Obsession mit Neutra und Nullzeichen an, so ist Derridas Formulierung des Monsters als Zeichen ohne Bedeutung folgen­ dermaßen zu verstehen: Monstra sind unsinnige Zeichen, die durch eine schockhafte Überforderung der symbolischen Ordnung Lektüre und sinnstiftende Interpretation herausfordern und die Produktion neuen Sinns erzwingen – entsprechend sind auch die Phänomene viktorianischen Unsinns bei Carroll, auf die sich Deleuzes Logique du sense beruft, Cheshire Cat, Hatter oder Queen of Hearts, monströs. Gleichfalls monst-

41  Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1971. S. 31–45. 42  Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Frankfurt a. M. 2005. S. 33. Vgl. auch ders.: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a. M. 1982. S. 88. 43  Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus? In: Ders.: Die einsame Insel. Frankfurt a. M. 2003. S. 248–281. Hier v. a. S. 269–271. 44  Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1994. S. 172.



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rös bleiben in der nach-strukturalistischen Theorie45 maßgebliche Figuren wie der Cyborg, dessen utopisches Potential Donna Haraway zur „mythisch-ironischen“ Herausforderung der Geschlechterordnung aufruft46, oder die Hybriden, die nach Latour die modernen Subjekt-Objekt-Unterscheidungen von vornherein destabilisieren.47 „Nichts“ bedeutet ein monströses Zeichen also nur innerhalb festgefügter binärer Ordnungen, und gerade darin liegt seine Produktivität für die postmoderne Theoriebildung. Erkenntnistheoretische, ästhetische und ethische Fragestellungen, denen gewöhnlich paradigmatische (binäre) Unterscheidungen zugrunde liegen, werden aufgelöst zugunsten einer Dreierkonstellation, in der eine Figur des Dritten48 die jeweilige binäre Ordnung in Frage stellt. Tatsächlich deuten die Kontexte der Verwendung des Monströsen, in Wissenschaft und Literatur wie im Alltagsgebrauch, darauf hin, dass Monstren mittelbar weit über die eigene Bedeutung hinaus verweisen und meist einen übergeordneten Zusammenhang anzeigen: Göttliche Absichten, die politische Zukunft, den Regelverlauf der Natur oder die epigenetische Entstehung von Leben. In all diesen Fällen besteht die Bedeutung des Monstrums im Verweis auf etwas anderes. Es ist also mit Barthes Teil eines „sekundären semiologischen Systems“49, ein Signifikant, dessen konventionelles alltägliches Signifikat erster Ordnung überlagert wird durch eine Einbettung des gesamten Zeichens in einen Zeichenprozess zweiter Ordnung. Die sekundäre Bedeutung des Monstrums ist von einmaliger Flexibilität: Sie unterstützt, mitunter gleichzeitig, Mythen der Theologie, der Naturgeschichte und der politischen Folklore. Die Eignung monströser Signifikanten zu Metazeichen besteht darin, für sich genommen nicht eindeutig klassifizierbar zu sein und aus binären Unterscheidungen wie Mensch/ Maschine, Mensch/Tier, Mann/Frau, lebender Mensch/Leiche als Zwischenform stets herauszufallen. Ein Zeichen, dass zunächst nur ‚skandalöse Abweichung‘ bedeutet, also ‚nichts Bestimmtes, aber etwas Bedrohliches, so es un­verstanden bleibt‘, ist auf eine Interpretation als Metazeichen geradezu angewiesen. Als Zeichen von aggressiver Bildlichkeit und von hohem Wiedererkennungswert ver­fügen monstra über die Eigenschaft, Kommunikation vereinfachen zu können. Komplexe Sachverhalte wie etwa Luthers Kirchenkritik lassen sich mit dem Bild eines m ­ onströsen „Pabstesels“ markant und auch für nicht schriftkundiges Publikum vereinfachen und polemisch

45  D. h. nach dem historischen Moment, den Francois Dosse als „Tod der Meisterdenker“ im Jahr 1980 ansiedelt. Vgl. Francois Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Bd. 2. Hamburg 1997. S. 459. 46  Donna Haraway: A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s. In: Linda J. Nicholson (Hg.): Feminism/Postmodernism. New York und London 1990. S. 190–233. 47  Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008. 48  Stellvertretend für die Arbeiten aus dem Umfeld des Konstanzer Graduiertenkollegs vgl. Arne Höcker: Die Figur des Dritten. Einleitung. In: Ders., Jeannie Moser und Philippe Weber: Wissen. ­Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld 2006. S. 153–158. 49  Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 2010. S. 258–259.

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aufladen.50 Mithin können Monster durchaus als Kollektivsymbole im Sinne kommunikationsvereinfachender Metaphern51 in der Definition Jürgen Links verstanden werden. Dabei eignen ihnen aber nur drei der vier nach Link konstitutiven Merkmale der semantischen Sekundarität, Ikonizität, Motiviertheit und Ambiguität. Motivierte Zeichen sind Monstra gerade nicht: Sie stellen den Sonderfall eines Kollektivsymbols dar, dessen Bedeutung im Moment der Verwendung nicht endgültig fixiert, partiell noch verhandelbar ist. Derridas Annahme der Nicht-Bedeutung ist also haltbar, wenn sein „rien“ übersetzt wird als Fehlen einer eindeutigen konventionellen Besetzung monströser Zeichen, als eine primäre Unterbestimmtheit, die besonders viel Spielraum für sekundäre Besetzungen bietet. Aus dieser semiotischen Besonderheit des Monströsen erklärt sich einerseits die Bereitwilligkeit, häufig gesteigert zur Begeisterung, mit der es ausgelegt wird, und der stets umkämpfte Status seiner Interpretation, andererseits auch das subversive Potential, das ihm im Rahmen einer postmodernen Theoriebildung zugeschrieben wird. In Jeffrey Jerome Cohens begeisterter Rhetorik etwa ist das Monster „harbinger of category crisis“ und „supplément“ in Derridas Sinne: „It breaks apart bifurcating, ,either/or‘ syllogistic logic with a kind of reasoning closer to ,and/or‘“.52 Ein Zeichen von markanter Sichtbarkeit und ungeklärter Bedeutung ist ein Kampfplatz konkurrierender Erklärungsmuster. Entsprechend nimmt die hermeneutische Arbeit am monströsen Zeichen in der Frühen Neuzeit häufig die Form einer Ursachenforschung an – was das Monstrum bedeutet, ist am besten darüber zu er­ klären, worauf sein Erscheinen zurückzuführen ist. Reine Kasuistiken sind entsprechend selten, häufiger ist die direkte Kopplung einer Aufzählung unerklärlicher Ereignisse, deren Erklärung sogleich nachgereicht wird. Solche Versuche, das Monströse einzuholen, zu integrieren in den Bereich des Normalen und Erklärbaren, aus dem es so offensichtlich herauszufallen scheint, entfalten durch die Gleichzeitigkeit von ­unbedingtem Erklärungswillen und Hilflosigkeit der Erklärungen geradezu tragiko-

50  Vgl. Lorraine Daston und Katherine Park: Unnatural Conceptions. The Study of Monsters in ­Sixteenth- and Seventeenth-Century France and England. In: Past and Present. Nr. 92 (August 1981). S. 20–54. 51  Vgl. Frank Becker, Ute Gerhard und Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997). S. 70–154. – Das mittlerweile revidierte Konzept der Metapher im Sinne Lakoffs und Johnsons möchte ich dagegen hier vermeiden. Die Gemeinsamkeit von Kollektivsymbol und „metaphor we live by“, die Erschließbarkeit komplexer Lebenswirklichkeiten über eine Figur des Uneigentlichen, qualifiziert Monster zwar auch als erkenntnisleitende Metapher im Sinne Lakoffs und Johnsons. Im Unterschied zur welterschließenden Metapher, die jeweils auf einen epistemologischen Problemkomplex hin ausgerichtet ist, stellt das Monster zunächst eher ein Problem als eine Problemlösungsstrategie dar. Vgl. George Lakoff und Mark Johnson: Metaphors we live by. Chicago 2008. 52  Jeffrey Jerome Cohen: Monster Culture (Seven Theses). In: Ders.: Monster Theory. Reading Culture. S. 3–25. Hier: S. 7.



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mische Wirkungen. Ambroise Paré entwirft im späten sechzehnten Jahrhundert eine Liste von Ursachen für das Auftauchen des Monströsen, die jener „gewissen chi­ne­ sischen Enzyklopädie“ bei Borges53 ähnelt, die berühmtermaßen unterscheidet ­zwischen Tieren, die mit einem Kamelhaarpinsel gezeichnet sind, solchen, die dem Kaiser gehören und solchen, die den Milchtopf umgestoßen haben. Das erste Kapitel von Parés Studie Des Monstres et Prodiges heißt Des Causes des Monstres und lautet vollständig: Les causes des monstres sont plusieurs. La première est la gloire de Dieu. La seconde, son ire. La troisiesme, la trop grande quantité de semence. La quatriesme, la trop petite quantité. La cinquiesme, l’imagination. La sixiesme, l’angustie ou petitesse de la matrice. La septiesme, l’assiette indecente de la mere, comme, estant grosse, s’est tenue trop longuement assise les cuisses croisees, ou serrees contre le ventre. La huictiesme, par cheute, ou coups donnez contre le ventre de la mere estant grosse d’enfant. La neufiesme, par maladies hereditaires ou accidentales. La dixiesme, par pourriture ou corruption de la semence. L’onziesme, par mixtion ou meslange de semence. La douziesme, par l’artifice des meschans belistres de l’ostiere. La treiziesme, par les Demons ou Diables.54

Diese wilde Auflistung lässt sich in Ursachengruppen sortieren. Metaphysische Ursachen (Herrlichkeit und Zorn Gottes, Dämonen und Teufel) stehen neben anatomischen (zu große oder zu geringe Menge von Samen, verunreinigter Samen, Verengung oder Beschädigung der Gebärmutter), neben pathogenetischen (Erbkrankheit oder zufällige Erkrankung) und psychischen (Imagination), moralischen (unzüchtige Körperhaltung der Mutter) und schwer klassifizierbaren (Zauberkunst bösartiger Kranken­ hausbettler). Qualitative und quantitative Deviation, moralische und anatomische Norm, Volksaberglaube und christliche Versuchergestalten stehen einander in erra­ tischer Reihenfolge und unklarer Gewichtung gegenüber. Paré, einer der Wegbereiter der modernen Chirurgie und angesehener Gelehrter, verfasst dabei eine nicht untypische Ursachenreihung: Noch in den hier untersuchten Quellen aus dem neunzehnten Jahrhundert existiert ein vergleichbares Nebeneinander heterogener Erklärungs­ modelle für radikale Devianz. Insofern wäre es ungerecht, Paré als Vertreter einer desorientierten teratologischen Ätiologie der Frühen Neuzeit zu lesen – seine Klassifikation möglicher Gründe scheint symptomatisch. Monstrosität fordert offenbar dazu heraus, sich in alle Richtungen abzusichern, den neuesten Stand der Wissenschaft ebenso einzubeziehen wie bereits überwundene abergläubische Vorstellungen, die Möglichkeit organischer und psychischer wie metaphysischer Ursachen stets einzuräumen.

53  Jorge Luis Borges: Die analytische Sprache John Wilkins’. In: Ders.: Das Eine und die Vielen. ­Essays zur Literatur. München 1966. S. 209–214. 54  Ambroise Paré: Des monstres et prodiges. Genf 1971. S. 1–2.

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Entsprechend heterogen sind bis heute die Definitionen des „Monsters“. Die eindeutigsten und prägnantesten Antworten auf die Frage „Was ist ein Monster?“ finden sich in der analytischen Ästhetik. Nach Noel Carroll ist ein Monster „a being in violation of the natural order, where the perimeter of the natural order is determined by contemporary science.“55 Ein Monster ist ein Lebewesen, das es nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht geben kann, entsprechend ist der Begriff historisch, nämlich dem jeweiligen Stand der Wissenschaft angepasst. Selbst unter großzügiger Auslegung des Begriffs „Stand der Wissenschaft“ als einem (historischen) idealen epistemolo­ gischen Agenten zugängliche Menge unzweifelhaften Wissens56 bedeutet diese Auffassung eine Verengung des Begriffs, die nicht annähernd mit dem Sprachgebrauch übereinstimmt. Dies lässt sich im Rekurs auf Carrolls eigenes Material, die Film­ geschichte, leicht zeigen: Ein besonders großer, intelligenter und aggressiver Weißer Hai ist in der Wissenschaft um 1975 durchaus vorstellbar, ebenso wie fünfzehn Jahre früher ein junger Mann, der die Leiche seiner Mutter mumifiziert und junge Frauen ermordet – gerade Psycho und Jaws aber sind in der Filmgeschichte Klassiker des Monströsen. Weiterhin impliziert Carrolls Behauptung, dass es Monster in der wissen­ schaftlich erschließbaren Wirklichkeit nicht geben kann. Dies bedeutet für den his­ torischen Kontext dieser Arbeit, der über den problematischen Umgang mit höchst realen Missbildungen und psychischen Deformationen bestimmt ist, eine allzu eindeutige Trennung fiktiver Monster von realen Phänomenen. Cynthia Freeland führt in  iner konkurrierenden Definition des Monsters in Horrorfilmen die Kategorie des (moralisch) Bösen als Synonym für das Monströse ein57 und liefert damit einen plausiblen Beitrag zur moralischen Ökonomie des Horror-Films, der aber für die historischen Begriffsverwendungen zu kurz greift: Anatomische Abweichungen verstoßen nicht per se gegen moralische Wertvorstellungen. Robert Yanal wiederum greift eher überraschend die Aristotelische Definition eines „Kunstfehlers der Natur“ auf, in der die Natur ihren Zweck verfehlt. Im Vergleich zu Carrolls Konzept hat Yanals den Vorteil, sowohl fiktionale als auch reale Entitäten als monströs fassen zu können. Yanal räumt allerdings ein: „No one concept of monstrosity fits all monsters“58 – entspre-

55  Noel Carrol: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York 1990. 56  Unanzweifelbares Wissen läge im Sinne einer solchen großzügigen Definition vor im Sinne eines true justified belief. Wie fremd sich dieses philosophische Basiskonzept zu kulturhistorischer Arbeit verhält, spiegelt Joseph Vogls Wiedergabe im Anschluss an Michael Williams: „Wissen zeichnet sich demnach dadurch aus, dass der Gegenstand einer Proposition erstens geglaubt wird, dass er zweitens wahr ist und dass man drittens gute und adäquate Gründe zur Rechtfertigung des Glaubens an die Wahrheit des Geglaubten vorzubringen vermag.“ Joseph Vogl: Poetologie des Wissens. In: Armen Avanessian und Jan Niklas Howe (Hg.): Poetik. Historische Narrative und aktuelle Positionen. K ­ admos 2014. S. 145–164. Hier: S. 147. 57  Freeland schränkt allerdings ein, dass nur „die meisten“ Monster böse seien. Cynthia Freeland: The Naked and the Undead. Evil and the Appeal of Horror. Boulder 1999. 58  Robert J Yanal.: Two Monsters in Search of a Concept. In: Contemporary Aesthetics Online 1 (2003).



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chend ließen sich durchaus Monster denken, deren Erscheinungsbild Freelands oder Carrolls Definition folgt statt der Aristotelischen. Diese Beobachtung, dass der Begriff des Monströsen sich einer eindeutigen definitorischen Festlegung widersetzt, wird außerhalb der analytischen Ästhetik großflächig geteilt; so resümiert Rasmus Over­ thun, dass das Monster „sich als Wesen des ‚zwischen‘ und der Differenz offenbar ­partout nicht auf einen Begriff bringen lässt“ und geht von einer grundsätzlichen „Theorie­resistenz“ des Monströsen aus.59 Eine Minimaldefinition, die zumindest im Bereich der körperlichen Deformation universell anwendbar scheint, findet Richard Brittnacher, der ein Monster als „exzessive Abweichung von der Norm physischer Integrität“60 bestimmt. Zu einer positiven Begriffsbestimmung des Monströsen, die unabhängig von einem starken Wissenschaftsbegriff ist und sowohl psychische Devianz als auch anorganische monströse Anordnungen einschließt, schlage ich drei Kriterien vor (die sich auch als drei Aspekte desselben Kriteriums fassen ließen): radikale Abweichung, Hybridität und Skandal. Zwei Begriffe müssen um einer vorläufigen Definition des Monströsen willen zunächst voneinander getrennt werden: Einerseits das Monster und andererseits die Monstrosität. Diese Trennung folgt nicht den jeweils sehr nachvollziehbaren, aber auf bestimmte historische Kontexte bezogenen Einteilungen nach Michael Hagner und George Canguilhem. Hagner bestimmt, mit Blick auf die Naturwissenschaftsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Monstrositäten als „Synonym für Missbildungen“ und Monster „als fiktive Wesen“61, beinahe umgekehrt reserviert Canguilhem mit Blick auf den juridischen Diskurs der frühen Neuzeit das Wort „monstre“ für organische Zusammenhänge und bestimmt die „monstruosité“ als ­Resultat einer moralischen oder juristischen Bewertung.62 Ich möchte zunächst schlicht ­Zuschreibungen an Organismen und solche an Teile oder Aspekte von Organismen unter­scheiden: Monstrosität bezeichnet entweder eine Eigenschaft eines Organismus oder einen entstellten Teil desselben. Von einem Monster lässt sich immer dann sprechen, wenn in der kognitiven Rahmung des Betrachters monströse Zuschreibungen den Gesamteindruck der beobachteten Person oder Anordnung bestimmen. Wie wenig trivial diese grundlegende Unterscheidung ist, werden die folgenden histo­ rischen Ausführungen zeigen; die Übergänge zwischen beiden Denkfiguren – ortlose und nicht körpergebundene Monstrosität und singuläres Monster – werden im Wei­ teren als Prozesse der Defiguration und Refiguration des Monströsen verhandelt. Sie stellen die entscheidende Dynamik in der Geschichte der Monstrosität dar.

59  Overthun, Das Monströse und das Normale, S. 45. 60  Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1994. S. 183. 61  Michael Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. Einleitung. In: Ders.: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen 1995. S. 7–20. Hier: S. 9. 62  Georges Canguilhem: La connaissance de la vie. Paris 1971. S. 137.

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Zurück zu den drei formalen Kriterien: Von welcher Art von Norm das Monströse abweicht, ist für die historischen wie aktuellen Verwendungen des Begriffs unerheblich – es kann sich um Devianz von rein metrischen, biologischen, psychologischen, ethischen oder ästhetischen Vorgaben handeln. Die vorliegende Norm muss allerdings verbindlich, die Abweichung drastisch sein. Hybridität bezeichnet die Art der Abweichung: Monstren stellen generell Zwischenstufen dar zwischen zwei Normalverständnissen. Sie weichen von einer Norm, Gattung oder Kategorie nicht ab, indem sie sich schlicht unter eine andere subsumieren ließen, sondern indem sie bekannte Elemente heterogener Kategorien auf regelwidrige Weise in sich vereinigen. Monströs ist nie das gänzlich Neue und vollständig Andersartige, sondern immer Ergebnis einer ungewohnten Rekombination bekannter Elemente. Dies gilt für die mythischen Monster, die fast durchgehend aus Charakteristika von Hahn, Schlange, Löwe, Pferd, Stier und Mensch bestehen, wie für moderne Menschenmonster, deren Erscheinungsformen an den Schnittstellen von Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Frau und Mann, lebendem Menschen und Leiche jeweils eindeutig klassifizierbare Gattungsund Geschlechtsmerkmale in abweichender Anordnung und Zusammenstellung enthalten.63 Als Kunstfehler der Natur stellt das Monströse nicht einfach ein unproblematisches Außen gegenüber einer Norm dar, sondern problematisiert und destabilisiert sie grundsätzlich. Das dritte Kriterium zur Bestimmung des Monströsen betrifft die affektive Disposition des Betrachters, in dessen Wahrnehmung das Monströse einen Skandal darstellt. Die Ambivalenz des Skandals, einerseits Aufsehen im Sinne von Empörung, andererseits eine Provokation im Sinne willkommener Abwechslung zu verursachen, spiegelt sich in der Bandbreite emotionaler Wirkungen des Monströsen, die, wie die historischen Analysen zeigen werden, von den erwartbaren Reaktionen der Angst und des Ekels bis hin zu lustbesetzter Neugier und einem Impuls zur mimetischem Angleichung reichen – eben in diesen Übergängen von Ablehnung und Faszination liegt das Potential der politischen und religiösen Nutzbarmachung des Monströsen. In jedem Fall aber ist die Reaktion heftig: Etwas Gleichgültiges wird nicht oder nur scherzhaft als monströs bezeichnet. Insofern ist der Skandal auch das eindeu­ tigere Bestimmungskriterium als der von Brittnacher vorgeschlagene Exzess, der nur das Kriterium der Abweichung verstärkt: Das Monstrum stellt nicht nur eine objektive Überschreitung von Grenzwerten dar, sondern reflektiert auch eine (subjektive, dem Betrachter eigene) ängstliche Betroffenheit, eine Verärgerung, ein Befremden und möglicherweise eine lustvolle Neugier.

63  Toggweiler weist im Rekurs auf Kant und Wieland nach, dass im achtzehnten Jahrhundert Bewohner fremder Gestirne, Dämonen oder eben Monster gar nicht anders vorstellbar sind denn als Variationen des menschlichen Körpers. Vgl. Michael Toggweiler: Kleine Phänomenologie der Monster. In: Madlen Kobi u. a. (Hg.): Arbeitsblätter des Instituts für Sozialanthropologie der Universität Bern. Arbeitsblatt 42 (2008). S. 29.



Reales und Phantastisches 

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Diese affektive Ambivalenz antwortet auf den transitorischen Charakter des Monströsen. Monster fordern, gerade weil sie die Grenzen der biologischen Gattungen oder rechtlichen Normen verletzen, zugleich zu klassifikatorischen Gesten heraus. Sie werden entweder in Kategorientafeln integriert, die für Normalgattungen bestimmt sind, wie in einer Traditionslinie von Aristoteles bis zu Carl von Linné64, oder erhalten eine eigene Typologie.65 Durch diese Gesten der Integration in eine bestehende oder Subsumierung unter eine eigene Norm wird ihnen zumindest teilweise das Moment des Skandals genommen: Sie sind, wie von Augustinus an immer wieder affirmiert wird, Bestandteil der natürlichen Ordnung. Dieser Status des Natürlichen wird bestätigt durch die Einteilung in Subkategorien in Analogie zu den Normalgattungen: Eine gängige Unterscheidung körperlicher Deformationen ist etwa die Differenzierung von monstre double, monstre par excès und monstre par défaut. Auch die aktuelle Monstrositätenforschung kennt solche Klassifikationen: Eine literarhistorische Typologie und Phänomenologie des Monströsen hat Brittnacher vorgelegt66; Parr unterscheidet kultursoziologisch aktuelle Faszinationstypen des Monströsen.67 Wenn im Folgenden gerade keine Klassifikation monströser Formen vorgenommen wird, so aus der Überlegung heraus, dass die drei offensichtlichsten und historisch prominentesten Kriterien keine trennscharfen Unterscheidungen ermöglichen. Vielmehr beschreiben sie zentrale Spannungen des Begriffs, in dessen Verwendung jeweils beide Pole aller drei Unterscheidungen präsent sind.

1.3 Reales und Phantastisches Unterschieden werden erstens, von der Antike an, reale und phantastische Monster. So verwirft Leslie Fiedler den Begriff des Monsters vollständig als „literarisch“, um sich unter der Bezeichnung „freaks“ ganz auf reale körperliche Erscheinungen

64  Das Systema Naturae führt sowohl den Wilden Mann als auch die Sirene in der Klasse der Hominiden. Nach Agamben verhält es sich ähnlich mit der Ichtyologica des Peter Artedi, in der die Sirene allerdings offenbar nicht in der Umgebung des Menschen, sondern zwischen Robben und Seelöwen verzeichnet ist. Vgl Agamben, Das Offene, S. 35. 65  Diese von Plinius begründete Tradition setzen etwa am Übergang von Spätantike und Frühmittelalter Isidor von Sevilla und in der Frühen Neuzeit Ambroise Paré fort. 66  Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1994. 67  Diese Typen sind: „Ästhetisierung des Schreckens“, „sympathisches Monster“, „beruhigende Versicherung der eigenen Normalität“ und „Veränderung von unbefriedigender Mittelmäßigkeit“. Rolf Parr: Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinations- und Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns. In Geisenhanslüke/Mein. Monströse Ordnungen. S. 19–42. Ein interessanter Vorschlag von Overthun aus dem gleichen Sammelband nennt als vier „Faszinationstypen“ des Monströsen dagegen neben Sitten- und Körpermonster „das andere Ich“ und „die monströse An-Ordnung“.

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­ eschränken zu können.68 Historisch sind beide Bereiche selten sauber zu trenb nen – auf frühneuzeitlichen Flugschriften über Missgeburten etwa vermischen sich anatomische und eschatologische Annahmen ebenso wie in antiken Naturgeschichten die Berichte über höchst ausgefallene, aber anatomisch unplausible Deformationen. Entsprechend lässt sich das reale Monströse mit Canguilhem als diejenige Teilmenge des phantastischen Monströsen auffassen69, deren Narrative Gegenstücke in der Wirklichkeit besitzen. Wie wichtig aber zumindest der Versuch der Unterscheidung von realer und phantastischer Missbildung zu ihrer theoretischen Erfassung ist, lässt sich bereits am antiken Umgang mit beiden zeigen. Poetische und naturgeschichtliche Monstrositäten koexistieren in der griechischen und römischen Antike, die nach Catherine Atherton „strotzt vor Monstern“70, überraschenderweise, ohne dass explizite Verbindungen hergestellt werden. Terata und Monstra bilden eine gattungsübergreifende Konstante der antiken Literatur und bevölkern gleichermaßen die homerischen Epen und klassischen Dramen, die Naturgeschichte nach Plinius, die ovidischen Metamorphosen und den Schelmenroman des Apuleius. Sie wandern zwischen den Ebenen des „Platonic semiotic set“ im Sinne einer durchaus räumlich gedachten Distinktion des Göttlichen (oben), Menschlichen (in der Mitte) und Tierischen (unten).71 Es ergeben sich zahllose Schnittstellen und Ununterscheidbarkeitszonen zwischen Mensch und Gott, wie sie einerseits Halb­ götter darstellen, und andererseits niedere Gottheiten wie Nymphen oder Flussgötter, Schnittstellen von Mensch und Tier (Sphinx, Zentaur, Minotaurus) sowie von Gott und Tier (Pan).72 Rechnet man die bekannt fragilen Geschlechterunterscheidungen (Hermes), das Motiv der monströsen Meute etwa in den euripideischen Bacchien, das hohe Untoten-Aufkommen etwa der Odyssee sowie seltenere Fälle des Doppelgängertums hinzu73, so sind, mit Ausnahme der Schnittstelle von Mensch und Maschine, alle Figurationen des Monströsen, die die literarische Moderne kennt, bereits vertreten, zusätzlich aber auch bereits abstraktere Monstrositäten wie die Erinnyen.

68 „The term ,monster‘ has been preempted to describe creations of artistic fantasy“ behauptet Fiedler im Eingang seiner kenntnis- und materialreichen Studie, die er stattdessen den „freaks“ widmet, unterläuft aber die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen monster und freak im Verlaufe derselben häufig. Vgl. Fiedler, Freaks, S. 22. 69  Canguilhem, La connaissance de la vie, S. 173. Analog bestimmt Freud das Verhältnis von realem und phantastischem Unheimlichem. Letzteres ist dabei „vor allem weit reichhaltiger als das Unheimliche des Erlebens, es umfaßt dieses in seiner Gänze und dann noch anderes, was unter den Bedingungen des Erlebens nicht vorkommt.“ Freud, Das Unheimliche, S. 271. 70  Catherine Atherton: Introduction. In: Dies. (Hg.): Monsters and Monstrosity in Greek and Roman Culture. Bari 2002. S. X. 71  Ken Dowden: Man and Beast in the Religious Imagination of the Roman Empire. In: Catherine Atherton (Hg.): Monsters and Monstrosity in Greek and Roman Culture. Bari 2002. S. 113–135. Hier: S. 120. 72  Zur „ideological difficulty of divine bestiality“ vgl. Dowden, Man and Beast, S. 121. 73  Die Zeugung des Herakles gelingt Zeus, indem er Alkmene in der Gestalt des Amphitryon erscheint.



Reales und Phantastisches 

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Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen literarischen Residuen präreflexiver Deutungsmuster und jeweils aktueller epistemologischer Funktion der τέρατα innerhalb der antiken Gesellschaften ist mit Blick auf literarische Texte kaum einzuführen.74 Aufschluss über diese Funktion gibt eher der naturgeschichtliche Umgang mit Missbildungen. Für Aristoteles stellen „halbtierische Ungestalten“ Fehler der Natur dar, deren Auftauchen er in der Physik mit einer Analogie zu Kunstfehlern erläutert: Fehler aber fallen vor allem auch in dem vor, was nach Kunst geschieht. Denn unrichtig schreiben kann der Sprachlehrer, und unrichtig mischen der Arzt das Heilmittel. Warum also sollten sie nicht auch in der Natur vorfallen können? Ist also Einiges durch Kunst, in welchem der Zweck vollständig wirkt, Anderes aber ein Misslungenes, worin der Zweck angestrebt, aber verfehlt wird: so verhält es sich gleichergestalt auch in dem Natürlichen. Und die Mißgeburten sind Fehler, begangen in jenem Anstreben eines Zweckes.75

Diese Analogie von künstlichen und natürlichen Missbildungen zielt darauf ab, letztere erklärbar zu machen, ohne auf die Annahme von Naturzwecken verzichten zu müssen: Deren Verwirklichung kann schlicht an mangelhafter Ausführung scheitern. Die Engführung von Zeugungsvorgang und Kunst76 prägt auch die Überlegungen in De Generatione Animalium. Mischwesen sind eine Herausforderung für Aristoteles’ Gattungssystem: So widmet er dem Maultier und vor allem dessen Eigenschaft der Unfruchtbarkeit eine längere Auseinandersetzung.77 Missgeburten dagegen sind, wie Aristoteles in polemischer Abgrenzung zu leider verlorenen Positionen formuliert, auch dann nicht das Ergebnis der Vermischung von Arten, wenn sie an „ein Kalb mit Kindskopf oder Schaf mit Rindskopf“ erinnern. Sein eigenes Modell nimmt Grundzüge der Epigenesistheorie des achtzehnten Jahrhunderts voraus, indem es auf die „sich bildenden Keime“ statt auf vermischtes Samenmaterial verweist. Erst während der Entwicklung des Organismus’ stellen sich die Missbildungen ein und sind durchaus empfänglich für äußere Einflüsse, etwa bei

74  Catherine Atherton problematisiert dabei vor allem die kulturelle Einheitlichkeit der antiken Gesellschaften: „if it is unclear how far a text like Euripides’ Bacchae, or Aristophanes’ Frogs, can be assumed to be embedded in, and explicable with reference to, some single and unified cultural context, when the community was as socially and politically diverse, and (again) as self-conscious, as fifth-century Athens, then a technique developed for interpreting closed cultures […] may be ipso facto distortive and misleading.“ (Atherton, Introduction, S. XXI) 75  Aristoteles: Physik II. Übers. v. Hans Günter Zekl. Hamburg 1988. S. 8. 76  τέχνη ist hier Kunst in demjenigen weiteren Sinne von „Praxis“, der im Gegensatz zur Episteme steht und auch Medizin, Handwerk oder Gymnastik umfasst, nicht Kunst im (modern) emphatischen Sinne. Vgl. Eintrag „Episteme and Techne“ in: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford 2003. 77  Unfruchtbarkeit wird dabei zum Problem, weil sie aus technischen Gründen bei keinem der ­Elterntiere gegeben sein kann und dennoch gattungskonstitutiv ist. Unfruchtbarkeit als nicht gattungskonstitutives menschliches Phänomen erklärt Aristoteles dagegen problemlos: „Die Frauen werden zu fett, den Männern geht es zu gut.“ Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe. Hg. von Paul Gohlke. Paderborn 1959. S. 119.

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Hühnerembryos, „die dann zusammenwachsen, weil die Keime sich so nahe liegen, wie bisweilen auch eine Menge Früchte.“78 Aristoteles unterscheidet bei den „Erklärungsweisen“ der Fehlbildung der Keime nicht zwischen Überfluss und Defizienz, Wundertieren par excès und verstümmelten Tieren par défaut: „Denn eine Verstümmelung ist eine Art Wunder“.79 Die Monstren – denn um solche, τέρατα, handelt es sich, auch wenn Gohlke „Wundertiere“ übersetzt – sind innerhalb der Aristotelischen Zoologie Regelabweichungen, ohne zeichenhafte Aufladung und ohne in irgendeinem Sinne über sich selbst hinauszuweisen. Sie destabilisieren die natürliche Ordnung nicht, „weil in gewissem Sinne auch das Widernatürliche natürlich zugeht“.80 Wichtiger als die Unterscheidung zwischen Natur und Widernatur ist für Aristoteles das Kriterium der Überlebensfähigkeit. Was nicht in eine Gattung einzuordnen ist, ist für ihn schlicht „Geschöpf“ (ζῷον) nämlich „das Allerallgemeinste“81 – mithin ist der Fall monströsen, nicht klassifizierbaren und unspezifizierten Lebens den Gattungskategorien vorgängig.82 Aristoteles verbindet nun seine naturwissenschaftliche Theorie der Missbildungen nicht mit den ihm eng vertrauten Mythen. Wenn er über mehrköpfige Schlangen spricht oder über Mensch-Tier-Mischwesen, läge die Analogie zur Lerna oder zur Sphinx durchaus nahe – in De Generatione Animalium nimmt er diesen Schritt der Verbindung von phantastischem und zoologischem Ausnahmefall nicht vor. Dennoch taucht das Monströse auch in der Poetik in zwei Schlüsselfunktionen auf, nämlich als Gegenstand des angeborenen Willens zur Nachahmung und als Grenzwert des Ästhetischen. Das berühmt merkwürdige Beispiel der Freude an „Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen“83, das Aristoteles als einzige Illustration seiner Charakteristik des mimetischen Impulses beifügt, misst dem Monströsen fundamentalen ästhetischen Wert bei. Lust am mimetischen Prozess, sei es die poietische Nachahmung auf der Produktionsebene oder die Freude des Rezipienten, der erfolgreich das Nachgeahmte mit einer Gruppe von Vorstellungen verbindet, ist nur dann als reine Freude an der Nachahmung zu bezeichnen, wenn eine gleichzeitige Freude am Gegenstand selbst ausgeschlossen ist, wie im Fall von Missbildung und Verwesung. Zugleich bezeichnet das Monströse (τερατώδες) diejenige Form des Exzesses des Schrecklichen, die eine tragische Wirkung verunmöglicht.84 Monströs sind mithin nicht jene Gestalten, die den griechischen Mythos und damit auch die

78  Aristoteles, Zeugung, S. 189. 79  Aristoteles, Zeugung. S. 188. 80  Aristoteles, Zeugung. S. 191. 81  Aristoteles, Zeugung. S. 188. 82  Es ist zugleich, folgt man der Analyse Giorgio Agambens, als Phänomen des nackten Lebens vom politischen Geschehen automatisch ausgeschlossen. Zum Verhältnis von ζῷή und βίος vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2006. S. 14–16. 83  Aristoteles: Poetik. Griechisch-Deutsch. Hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. S. 11. 84  Aristoteles, Poetik. S. 42.



Fremdes und Eigenes 

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Tragödie bevölkern, sondern ein Exzess, der noch über diese Art der Verunstaltung hinausgeht. Was in den Erzählungen des neunzehnten Jahrhunderts als psychische oder moralische Monstrosität firmiert – Gattenmord, Elternmord, Anthropophagie, kollektiver Gewaltexzess – ist in der attischen Tragödie durchaus üblich. Was für eine Art der Handlung, die über dieses Repertoire hinausginge, als monströs zu bezeichnen wäre, lässt Aristoteles offen – das Monströse ist in der Poetik schlicht derjenige skandalöse ästhetische Grenzwert, der nicht erreicht werden darf. Es ergeben sich innerhalb der Aristotelischen Theorie des Monströsen zwei strikt getrennte und normativ unterschiedlich besetzte Begriffe: Kunstfehler der Natur müssen als Teil ihres Normalverlaufs angesehen werden und stellen besonders interessante Beobachtungsgegenstände der Naturgeschichte dar. Monstrositäten in der Kunst sind dagegen nach Anleitung der Poetik zwar zu vermeiden, sind aber paradoxerweise zugleich paradig­ matische ästhetische Gegenstände, nämlich die einzigen, anhand derer sich Lust an der Darstellung und Lust am dargestellten Gegenstand klar unterscheiden lassen.

1.4 Fremdes und Eigenes Unterschieden werden zweitens prinzipiell einheimische Missbildungen und fremde Völker. Diese Opposition von nahem, beobachtbarem Beweismaterial und meist nur in Erzählungen verfügbarer ferner Abweichung (statt „fremd“ ließe sich also auch „phantastisch“ sagen) taucht erstmals bei Plinius auf und bleibt bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein gültig.85 Als Narratem aufgefasst – also von seinen wissenschaftlichen Beschreibungen losgelöst und rein literarisch verstanden – bilden diese zwei Typen des Monstrums Gegenstücke zu den „zwei, freilich vielfach einander durch­dringende[n] Gruppen“ von Erzählern, deren Prototypen Benjamin als „seßhaften Ackerbauer“ und „handeltreibenden Seemann“86 bestimmt. Die Ungeheuer aus der Fremde sind verzeichnet in den mittelalterlichen mappae mundi und beschrieben in Reiseberichten, die heimischen dagegen in medizinischen und psychiatrischen Gutachten oder, vor deren Entstehung, in den Schauergeschichten und Gothic Novels, deren Wiedergänger sich meist aus dem familiären Umfeld der Protagonisten rekrutieren. Im Falle der Erzählungen über das Monströse im neunzehnten Jahrhundert überlagern sich beide Formen der Erzählung fast bis zur Unkenntlichkeit.87 Wichtig

85  Vgl. Rudolf Wittkower: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. Nr. 5 (1942). S. 159–197. 86  Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Gesammelte Schriften. II.2. S. 440. 87  Nach Rudolf Stichweh ist diese Koppelung des „Fremden“ an den monströsen Körper zugleich umkehrbar in eine affirmative Besetzung des Eigenen: „An die Stelle eines defektiven Körpers, der als Metapher sozialer Ausschließung und Herabstufung fungiert, tritt also, wenn man diese Umwertung vollzieht, ein in seiner Differenz bewußt gewollter Körper, der zur Metapher einer Reidentifikation

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bleibt die Unterscheidung zwischen fremdem und heimischem Monströsen dennoch insofern, als zwei gegenläufige Affekte produziert werden, die beide in der Konfrontation mit dem Monströsen wirksam sind: Die Angst vor dem Neuen und Unbekannten einerseits und diejenige „unheimliche“ Angst, die durch eine plötzlich veränderte Sicht auf das Altbekannte entsteht. Im deutschen Wort Ungeheuer schwingt, im Gegensatz zum lateinischen Monstrum, eine elementare Fremdheit mit – diese Fremdheit verweist aber gerade, wie Freud anhand des verwandten Begriffs des Unheimlichen überzeugend demonstriert hat, auf eine heimliche Beziehung des Bezeichneten zum Eigenen und Vertrauten.88 Renate Lachmann hat in ihrer Analyse literarischer Phantastik das moderne Substitutionsverhältnis beider Typen des Monströsen pointiert dargestellt als „Transformation des Vergessenen oder Verdrängten in das Fremdkulturelle bzw. Einsatz des Fremdkulturellen als Stellvertretung für das Verdrängte und Vergessene der eigenen Kultur“.89 Die Unterscheidung von Fremdem und Eigenem weist Schnittstellen mit der ­Unterscheidung von Realem und Fiktivem auf: Über das ganz Entlegene und Unbekannte kann nur in Form von Spekulation und Mythenbildung gesprochen werden. Eine antike Typologie entlegener naturwidriger Erscheinungen, wie sie von Aristoteles offenbar zwar verfasst wurde, aber leider nicht erhalten ist, findet sich bei Plinius d. Ä., in der Historia Naturalis. Die Auflistung ist geprägt von einer Spannung zwischen fremder und einheimischer Monstrosität, die in zwei prinzipiellen Erscheinungsformen vorliegt: Entlegene Völker, vor allem in Indien und Afrika beheimatet, und einheimische Missgeburten. Plinius zeigt sich über die Diskrepanz zwischen spektaku­ lären exotischen Monstern und banalen römischen Missgeburten irritiert, ohne jedoch eine Erklärung anzubieten.90 Die Unterscheidung des fremden und des heimischen Monströsen spiegelt die Koexistenz poetisch-phantastischer und naturgeschichtlich erfassbarer realer Phänomene insofern, als es sich bei den Beschreibungen fremder Völker deutlich um poetisch angereicherte Alteritätsphantasien handelt. Plinius führt vorsichtshalber Quellen an für diejenigen Fälle, die für ihn selbst mit „dubiis“91 besetzt sind und für die er sich selbst nicht verbürgen mag, nicht ohne allerdings die

mit Ethnizität wird.“ Rudolf Stichweh: Der Körper des Fremden. In: Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen 1995. S. 174–186. Hier: S. 186. 88  Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Psychologische Schriften. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1970. S. 241–274. 89  Lachmann, Erzählte Phantastik, S. 9. 90  Canguilhem findet eine solche Erklärung erst sehr viel später bei Scipion Dupleix. Die aber ist spektakulär: In Afrika ist demnach die Missbildungsdichte deshalb höher, weil sich an wenigen Tränken auf sehr engem Raum alle Tiere treffen müssen, es kommt also zwangsläufig zur gattungsübergreifenden Paarung aus Platzmangel. Vgl. Canguilhem, Connaissance, S. 174. 91  C. Plinius Secundus: Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch VII: Anthropologie. Hg. und übers. von Roderich König. Zürich und Düsseldorf 1996. S. 18.



Fremdes und Eigenes 

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„diligentia“ seiner zumeist griechischen Vorgänger92 lobend zu erwähnen. Diese ­emphatische Adaption exotischer Narrative des Monströsen verweist auf die zentrale Funktion der monstra in Plinius’ pessimistischer Anthropologie: Er begreift den Mensch als Mängelwesen, das die Natur „am Tage seiner Geburt nackt dem Weinen und Wimmern überantwortet, und mit Pein beginnt sein Leben, nur wegen der einzigen Schuld, geboren zu sein.“93 Seine melancholische Menschenkunde beginnt entsprechend mit der Fragilität und Skurrilität der menschlichen Gattung und der Beschreibung ihrer Missbildungen, also mit einer Pathologie ihrer Grenzfälle, bevor überhaupt auf die regelmäßige menschliche Anatomie eingegangen wird. Die Liste der „incredibilia“ und „prodigiosa“ beginnt mit anthropophagen Skythen, deren Essgewohnheiten mit Verweis auf mythische Völker plausibilisiert werden, die einmal mitten im Erdenkreis gelebt haben und diese Art der Monstrosität („huius monstri“) geteilt haben sollen: Kyklopen und Laistrygonen. Der Konnex von poetischer und protobiologischer Missbildung, den Aristoteles vermeidet, findet sich also bei Plinius explizit in einer Kontinuität von Mythos und Naturkunde: Die Füße der Bewohner von Abarimon sind nach hinten gekehrt, was ihnen gewaltige Schnelligkeit verleiht. Albaner haben grünblaue Augen und hervorragende Nachtsicht, dafür schon in der Kindheit graue Haare. Sauromaten nehmen nur alle drei Tage Nahrung zu sich. Der Körper der Psyllen enthält ein für Schlangen tödliches Gift, weshalb sie, um „die Keuschheit ihrer Frauen“ und mithin die Reinheit der monströsen Rasse zu gewährleisten, Neugeborene probeweise den Schlangen vorwerfen.94 Die Machlyer sind androgyn, mit männlicher Brust rechts und weiblicher Brust links, und „inter se vicibus coeuntes“95 – nur eine der zahlreichen sexuellen Stilisierungen der fremden Völker. Es finden sich weiterhin: Menschen mit verkehrten Fußsohlen und acht Zehen an jedem Fuß, Menschen mit Hundsköpfen und Krallen, die über Gebell kommunizieren, einbeinige Skiapoden mit „außerordentlicher Behendigkeit beim Springen“. Der Name der Schattenfüßler geht darauf zurück, dass sich ihre großen Füße als doppelt problemlösende Adaption zeigen, „weil sie bei größerer Hitze sich rückwärts auf den Boden legten und sich mit dem Schatten ihrer Füße schützten“.96

92  Um den einzigen prominenteren Augenzeugen zu nennen, dessen Schriften erhalten sind: Die Indica des Megasthenes enthalten neben Darstellungen zu Kultur, Beamten- und Kastensystem Indiens eben auch eine Beschreibung des Volksstammes der Mundlosen, die sich von Gerüchen ernähren. Vgl. John Watson McCrindle (Hg.): Ancient India as described by Megasthenes and Arrian. Calcutta 1960. 93  Plinius, Naturkunde. S. 17. Zur Beschreibung des Menschen als Mängelwesen greift Plinius wohl aus Platons Protagoras zurück. Dafür spricht, dass er ganz ähnliche Formulierungen verwendet wie Plutarch in den Moralia, de sich explizit auf Platon beziehen. 94  Plinius, Naturkunde. S. 23. 95  Plinius, Naturkunde. S. 24. 96  Plinius, Naturkunde. S. 29. Plinius verhandelt diese Erzählung recht unaufgeregt; absurder scheinen ihm dagegen einige Phänomene, die wir im einundzwanzigsten Jahrhundert als Selbstver-

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Im Vergleich mit diesen Merkwürdigkeiten sind römische Missbildungen tatsächlich enttäuschend. Es handelt sich um Drillinge, Vierlinge und Hermaphroditen sowie um Säuglinge, die mit den Füßen zuerst zur Welt kommen. Plinius hält zwei Erklärungen für das Auftauchen der Monstrositäten bereit, deren schlüssigere das Konzept eines Scherzes der Natur darstellt, der für die Natur selbst Zeitvertreib (ludibria) und für den Menschen ungläubiges Staunen (miracula) bedeutet.97 Eine andere Erklärung dieser erfinderischen Natur lautet, sie existierten, „damit es nirgends Übel gebe, das nicht auch im Menschen vorhanden sei“98 – weder zur Erheiterung der Natur noch zum Staunen der Menschen, sondern aus reinen Symmetriegründen postuliert der pessimistische Naturhistoriker demnach menschliche Missbildungen. Anzeichen für eine Erblichkeit monströser Anlagen als Erklärung für Missbildungen lassen sich ­dagegen nach Plinius nicht systematisieren.99 Eine Auffälligkeit der antiken Vorstellungen von fremden Monstren, die er zusammenträgt, liegt im tendenziell problem­ lösenden Charakter der geschilderten Phänomene: Sicherung der Nachkommenschaft, Immunität gegen Schlangenbisse und Sonneneinstrahlung, überlegene Jagdfähig­ keiten und hohes Alter sind durchweg erstrebenswerte Fähigkeiten. Das ihnen zu Grunde liegende Naturverständnis scheint also nicht nur das einer grausamen oder scherzhaften Natur, sondern einer solchen, die sich nach problemlösenden Adaptionen richtet. Ein angenehmes Grauen, das von der körperlichen Überlegenheit fremder Völker ausgeht, spricht aus ihrer offenen Sexualisierung. Im Imperium selbst dagegen bedeutet eine Missbildung vor allem eine Behinderung. Aufschlussreich sind dazu die wenigen Informationen, die Plinius über den gesellschaftlichen Status von Missbildungen überliefert. Eine Deutung als portentum taucht nur ein einziges Mal auf, im Zusammenhang mit einer Vierlingsgeburt, die „ohne Zweifel auf die Hungersnot deutete, die darauf folgte“.100 Darüber hinaus haben Vorkommnisse während der Geburt politische Bedeutung als Vorzeichen für moralische Missbildungen: Nero, den „Feind des Menschengeschlechts“, erklärt Plinius für monströs und erläutert dessen psychisch-moralische Missbildung durch

ständlichkeiten empfinden. In der afrikanischen Wüste etwa gibt es Menschen, die „momento evanescunt“ – auch die Fata Morgana zählt also zu den monströsen Völkern; die Tradition der Hirper, zu rituellen Anlässen über brennende Holzstöße zu gehen, stellt heute eine beliebte MotivationsTrainingseinheit in Manager­seminaren dar. Natürlich ist dies eine Form des Fortschritts in unserem Wissen über Monstrositäten, wie auch unser erweitertes Wissen etwa über Indien und Äthiopien einige Missverständnisse vermeidbar und Mythen unglaubwürdig macht. Arroganz gegenüber der Plinischen Naturgeschichte ist aber extrem unangebracht: Statt Indien und Äthiopien sind die Orte des Monströsen in der Moderne der Weltraum, das Erdinnere und das Unbewusste. Zwischen antikem Wunder- und Aberglauben und moderner Medien- und Psychologiekompetenz liegen eher Verschiebungen als qualitative Unterschiede. 97  Plinius, Naturkunde, S. 32. 98  Plinius, Naturkunde, S. 25. 99  Plinius, Naturkunde, S. 45. 100  Plinius, Naturkunde, S. 35.



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seine Geburt „mit den Füßen voran“. Der prekäre rechtliche Status der Missbildungen zeigt sich am Beispiel der monströsen Hirper, die brennende Holzstöße überqueren können: Im römischen Imperium sind sie „durch einen immerwährenden Senatsbeschluss vom Kriegsdienst und allen anderen Auflagen befreit“101 – dies deutet auf ein insistierendes Moment religiöser Ehrfurcht gegenüber den Prodigien selbst im höchsten politischen Gremium. Das erstaunlichste Detail aber lässt auf eine sehr weitgehende Banalisierung und lustbesetzte Rezeption des Monströsen schon in der Antike schließen, die an Freak Shows der Moderne erinnert: „Es werden auch Zwitterwesen geboren, welche wir Hermaphroditen nennen; früher wurden sie Androgyne genannt und zu den Wundern (prodigiis) gerechnet, jetzt aber dienen sie dem Vergnügen.“102 Plinius‘ Theorie des Monströsen, die seiner Naturgeschichte vorangestellt ist, lässt sich also auf diese kurze Formel bringen: Heimische Missbildungen sind eine traurige Behinderung oder ein moralischer Skandal, als Ausdruck kultureller Alterität oder sexueller Abweichung bedeuten monstra offenbar ein Vergnügen. Diese ­Ambivalenz erklärt sich aus einem Nebeneinander verschiedener Begriffe des Monströsen: My­ thische Rückbindung, religiöse Omendeutung, juristische Entmündigung und Entertainment sind, in Plinius‘ Darstellung, jeweils sozial akzeptierte Formen des antiken Umgangs mit den monstra, portenta, prodigia und ostenta.

1.5 Körper und Geist Unterschieden werden drittens physische und psychische Missbildungen, spätestens seit John Lockes Essay Concerning Human Understanding. Locke ist sich zunächst nicht sicher, „if the word Monster signifies anything at all“.103 Dennoch nutzt er den Begriff zur Problematisierung von Wissen. Wissen als eindeutige Wahrnehmung einer Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit wird problematisch, wenn es sich bei den Vorstellungen um „chimeras“ handelt. Nun verfügen wir nach Locke ebenso über das notwendige Wissen, Harpyien von Zentauren zu unterscheiden, wie wir Rechtecke und Kreise auseinanderhalten können: „Real knowledge“104 entsteht über den Abgleich von Idee und Archetyp, bei einfachen Vorstellungen wie Farbe und Geschmack ebenso wie bei komplexen Vorstellungen, etwa einer moralischen Idee oder einem mathematischen Konzept. Archetypen monströser Formen gefährden diese Konzeption nicht deshalb, weil ihnen die reale Existenz abginge – dies gälte ebenso für einen idealen Kreis. Vielmehr werden monströse Zwischenwesen bei Locke zum Problem der Kategorien als Basis des unterscheidenden Wissens. Locke fordert deshalb,

101  Plinius, Naturkunde, S. 27. 102  Plinius, Naturkunde, S. 31. 103  John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Oxford 1979. S. 573. 104  Locke, Essay, S. 568.

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sich beim Abgleich von Muster und Gegenstand nicht auf die Benennung und Kategorisierung eines Gegenstandes zu verlassen, da es zwischen den Zuschreibungen und Kategorien oder Arten („sorts“) stets Zwischenstufen geben kann. Für solche Zwischenstufen steht exemplarisch der Wechselbalg ein: Der „changeling“ illustriert, dass es sich bei Menschen und Tieren nicht um trennscharfe Kategorien handelt: Which prejudice is founded upon nothing else but a false Supposition, that these two names, Man and Beast, stand for distinct Species to set out by real essences, that there can come no other Species between them.105

Locke definiert Menschlichkeit und Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung über das Vorhandensein einer vernünftigen Seele, nicht über körperliche Merkmale, und problematisiert erstmals die Attribution von Monstrosität nach rein äußerlichen Kennzeichen. Die menschliche Gattung wird weder hinreichend zusammengehalten durch physische Gemeinsamkeiten noch durch menschliche Geburt: Ein menschlicher Embryo kann alle äußeren Merkmale eines Menschen aufweisen und dennoch „changeling“ ohne menschliche Seele sein. Ein Defekt der Seele stellt dabei sogar das stärkere Differenzkriterium dar: Shall a defect in the Body make a Monster; a defect in the Mind, (the far more Noble, and, in the common phrase, the far more Essential part) not? Shall the want of a Nose, or a Neck, make a Monster, and put such Issue out of the rank of Men; the want of Reason and Understanding, not?106

Ausdrücklich problematisiert Locke im vierten Buch seines Essay Concerning Human Understanding bekanntlich den Begriff des Wissens, scheint aber mit der Wahl seines Beispiels das Erkenntnisinteresse zu verschieben.107 Es geht nicht mehr um die problematische Anwendung beliebiger Vorstellungen auf Gegenstände, sondern um die Grenzen der menschlichen Gattung selbst, die sich gerade über die Fähigkeit der Vermittlung von Vorstellung und archetypischem Muster definiert. Diese Verunsicherung der „species“ Mensch ist mehr als ein Beispiel für die Unzuverlässigkeit der als „sorts“ eingeführten Kategorien: Lockes Forderung nach einer Lösung der Vorstellungen von vorgefassten Kategorien bedeutet die Auflösung derjenigen Kategorie von Lebewesen, der Vorstellungen überhaupt möglich sind. Die Fragilität dieser Gattung demonstriert er in der Aufforderung, sich einen geistig zurückgebliebenen „changeling“ leicht modifiziert vorzustellen:

105  Locke, Essay, S. 569. 106  Locke, Essay, S. 569. 107  Locke fängt diese Verschiebung gegen Ende des Kapitels in einer eleganten Rückführung auf die Frage nach der Verwirrung der Vorstellungen durch „Words and Species“ auf und kehrt zum Wissensbegriff zurück. Schon die Ersetzung mehrerer „sorts“ (im Plural) durch die Gattung im Singular lässt aber erkennen, dass anstelle der Kategorien im Allgemeinen die menschliche Gattung ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt ist.



Körper und Geist 

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Make the Ears a little longer, and more pointed, and the Nose a little flatter than ordinary, and then you begin to boggle: Make the face yet narrower, flatter and longer and then you are at a stand: Add still more and more of the likeness of a Brute to it, and let the Head be perfectly that of some other Animal, then presently ’tis a Monster […] I would gladly know what are those precise Lineaments, which according to this Hypothesis, are, or are not capable of a rational Soul to be joined to them […] For till that be done, we talk at random of Man.108

Es geht also im Beispiel des unsichtbaren Monströsen nicht nur um die allgemeine Schwierigkeit, Begriff und Wirklichkeit, Kategorie und Singuläres in ein Deckungsverhältnis zu bringen, sondern um die problematische Stellung des Menschen. Ein mehrfach wiederholtes Beispiel für problematische Wahrheit ist die Figur von Einschluss und Ausschluss in die menschliche oder tierische Gattung, nicht nur in Bezug auf Wechselbälger, sondern auch auf Zentauren oder Einhörner. Die psychische ­Deformation tritt dabei durchgängig an die Seite der körperlichen: Monströs besetzte Begriffe („manslaughter“, „parricide“, „adultery“, „incest“) bezeichnen Grenzphäno­ mene menschlichen Verhaltens, die ein moralisches Pendant zu den physischen Missbildungen bilden.109 Da das Beispiel der inneren und äußeren Missbildung also durchaus eine Eigendynamik innerhalb der Lockeschen Ausführungen entwickelt, ist auch seine Konklusion doppelt lesbar: „So necessary is it to quit the common notion of Species and Essences, if we will truly look into the Nature of Things.“110 Auf sprachphilosophischer Ebene bedeutet sie den Verzicht auf starre Bedeutungskategorien, auf der biologischen Vergleichsebene eine Verunsicherung der Zuschreibung des Menschlichen. Ein Verzicht auf die „common notion of Species“ bricht nicht nur Gattungsgrenzen auf, sondern problematisiert Gattungen im Allgemeinen, provozierenderweise gerade anhand der Gattung Mensch. Lockes Skepsis, „if the word Monster signifies anything at all“, die etymologisch leicht begründbar ist mit dem Verweis darauf, dass das Zeichen Monstrum nur auf seine eigene Zeichenhaftigkeit verweist – diese Skepsis bezieht sich zentral auf die Worte Mensch und Tier.111 Die Charak-

108  Locke, Essay, S. 572. 109  Paul de Mans brillanter metaphorologischer Locke-Lektüre soll damit nicht widersprochen werden. De Man wertet die zunehmende moralische Aufladung der Beispiele als Index für die Ausweitung des substitutiven Textes der Tropen auf die primäre Bedeutungsebene des Textes – die kuriosen Beispiele von Mord und Ehebruch, die, wie de Man treffend anmerkt, an gerade die Stelle treten, an denen Einhorn und Meerjungfrau zu erwarten wären, lassen sich aber eben auch als Ausweitung des Konzeptes der Monstrosität von körperlichen auf sittliche Phänomene verstehen. Vgl. Paul de Man: The Epistemology of Metaphor. In: Critical Inquiry 5.1 (1978). S. 13–30. Hier: S. 21–24. 110  Locke, Essay, S. 573. 111  Mensch und Tier als trennscharfe Kategorien ohne Zwischenstufen werden gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts nicht nur für John Locke problematisch. John Ray etwa benennt 1693 eine Gruppe von Vierfüßern als Anthropomorpha, also dem Menschen ähnlich. Nach Giorgio Agamben werden aus den Anthropomorpha erst bei Linné die Primaten. Vgl. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a. M. 2002. S. 34.

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teristik von Menschenmonstern über geistige, nicht körperliche Merkmale ergänzt die bereits in der Antike angelegte Spannung von moralischen und körperlichen Fehlern dahingehend, dass beide getrennt voneinander auftreten können, und um die aufklärerische Annahme, dass innere Monstrosität schlimmer ist als äußere. Körperliche und geistige Deformation treten im Rahmen von Lavaters Physiognomie explizit in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis, und auch im neunzehnten Jahrhundert werden beide in starker wechselseitiger Beziehung gedacht. Eine Unterscheidung von Sitten- und Körpermonster ist sinnvoll mit Blick auf die strikt getrennten wissenschaftlichen Disziplinen der medizinischen Teratologie und der Psychiatrie – der Übertrag der Bezeichnung für radikal abweichenden Körperbau auf radikal abweichendes Verhalten ist dennoch keine beliebige Metapher, sondern Ausdruck eines analogen Versagens von anatomischen und psychiatrischen Kategorien gegenüber Gegenständen, deren Abweichungscharakter eindeutige Klassifizierungen verhindert.112 Das Verhältnis von Sichtbarem, Singulärem einerseits und Unsichtbarem, Überindividuellem andererseits wird zentraler und problematischer Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Exemplarisch lässt sich bei Goethe zeigen, dass sittlich-­ moralische Verfehlungen im neunzehnten Jahrhundert keineswegs nur metaphorisch als Monstrositäten bezeichnet werden – sie lösen die gleiche affektive Reaktion aus wie ein physisches Ungeheuer, nur ungleich stärker: Wenn wir auf einmal aus einem ruhigen Dache eine Flamme gewaltsam ausbrechen sähen, oder einem Ungeheuer begegneten, dessen Mißgestalt zugleich empörend und fürchterlich wäre, so würden wir von keinem so grimmigen Entsetzen befallen werden als dasjenige ist, das uns ergreift, wenn wir etwas unerwartet mit Augen sehen, das wir moralisch unmöglich glaubten.113

1.6 Bedeutungsproduktion Das Monstrum als unterbestimmtes Zeichens transportiert diese drei Spannungen un­ aufgelöst, und ermöglicht gerade durch seine konzeptuelle Unhandlichkeit die Produktion herausgehobener Bedeutungen. Diese Bedeutung ist nicht notwendig die kommenden Unheils114: in Mittelalter und früher Neuzeit ist die produzierte Bedeu-

112  Vgl. zur Darstellung des Monsters als eines gleichzeitigen Verstoß gegen die natürlich-biologische und die rechtlich-moralische Ordnung Foucault, Die Anormalen, S. 76–77. 113  Goethe, Dichtung und Wahrheit. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. 1982–2008. Bd. 9, S. 443. 114  So schreibt die nordische Mythologie ihren prominentesten Ungeheuern einen primär eschatologischen Stellenwert zu. Fenriswolf und Midgardschlange sind weniger An- oder Vorzeichen kommenden Unheils als dessen ausführende Organe. Vgl. Wilhelm Heizmann: Einträge „Fenriswolf“ und „Midgardschlange“. In: Ulrich Müller und Werner Wunderlich (Hg.): Mittelalter-Mythen. Bd. 2: Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999. S. 229–256 bzw. S. 413–438.

Bedeutungsproduktion 

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tung häufiger die einer exzeptionellen Individualität, in so verschiedenen Ausformungen wie Held, Heiliger, Herrscher oder Naturforscher. Die kanonische christliche Konzeption des Monströsen geht auf seine Beschreibung bei Augustinus zurück: Es ist Teil der natürlichen Ordnung und steht dieser zugleich in einem zeichenhaft-repräsentierenden Verhältnis gegenüber. Augustinus verortet „monstra“ innerhalb der Natur, wobei „Natur“ nicht der erfahrbaren Wirklichkeit entspricht, sondern einer Gesamtheit möglicher Realitäten, in der „jedes Ding andere Eigenschaften annehmen kann, als sie ihm vorher nach der Beschaffenheit seiner Natur zukamen“.115 Gottes Allmacht macht diese Veränderungen und mithin auch das Naturwidrige erklärbar, wie Augustinus anhand der Beispiele astronomischer Regelabweichungen, ungewöhnlicher chemischer Reaktionen, der Magnetkraft, und eben auch der monstra ausführt: Denn von allen Wundern sagen wir, sie seien naturwidrig, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind. Wie könnte auch etwas gegen die Natur sein, was nach Gottes Willen geschieht, da doch der Wille des großen Schöpfers die Natur jedes geschaffenen Dinges ist? Wunder sind also nicht wider die Natur, sondern nur wider die uns bekannte Natur.116

Die Unterscheidung zwischen bekannter Natur, also empirisch erfassbarer Dingwelt, und göttlicher Natur, die mit dem Schöpferwillen identisch und in ihren Variationen unendlich reicher ist, ermöglicht Augustinus die Reintegration radikaler Abweichungen in die Natur. Dass dies keineswegs der gängigen Sichtweise der Spätantike entspricht, zeigt das „dicimus“117 an, mit dem Augustinus eine Lehrmeinung oder zumindest eine populäre Sichtweise widergibt. Gegen diese Sichtweise bestimmt er Wunder, die Naturgesetze außer Kraft setzen, als Bestandteile der natürlichen Weltordnung, und zwar im gleichen Maße und mit gleichem Recht wie Phänomene, die sich mit Hilfe von Naturgesetzen bestimmen lassen.118 Augustinus leitet, wie Cicero, die monstra, ostenta, portenta und prodigia aus den ihnen zugeordneten Verben her, aus „zeigen, hinweisen, ankündigen, voraussagen“.119 Er modifiziert Ciceros Bestimmungen allerdings in einer Hinsicht maßgeblich: Worauf die monstra deuten oder hinweisen, bleibt, unabhängig von Form und Kontext gleich. Die Monstren bewahren ihre antike Vorzeichenfunktion, verlieren aber in dieser Rekodierung zugleich an Vieldeutigkeit

115  Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat, Bd. 2: Buch 11 bis 22. Übers. v. Wilhelm Thimme. München 1985. S. 694. 116  Augustinus, Gottesstaat, S. 695. 117  Sancti Aurelii Augustini episcopi „De civitate dei“. Libri XXII. Bd. 2. Lib. XIV–XXII. Hg. von Bernard Dombart und Alfons Kalb. Darmstadt 1981. S. 505. 118  Prominent ist dabei die Figur des Doppelgängers gesetzt. René Girards These einer intrinsischen Koppelung der Konzepte von Monstrum und Doppelgänger im Zeichen sakraler Gewalt lässt sich mit Hilfe dieser Passage bei Augustinus durchaus untermauern: „Dennoch, da uns nun einmal nur das Seltene wunderbar vorkommt, wundern wir uns weit mehr, wenn wir zwei so ähnlichen Menschen begegnen, daß wir sie immer oder doch häufig miteinander verwechseln.“ Augustinus, Gottesstaat, S. 696. 119  Augustinus, Gottesstaat, S. 697.

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und an Konkretheit. Jedes Monstrum weist auf genau einen Sachverhalt hin, nämlich auf die gegenwärtige und vor allem zukünftige (facturus) Allmacht Gottes.120 Entscheidend zur Integration des Monstrums in die Natur ist der Kunstgriff einer Naturkonzeption, deren Gesetze sich, gemeinsam mit den göttlichen Absichten, jederzeit ändern können. Diese Festlegung bedeutet eine theologisch motivierte Banalisierung der Monstren, die für Augustinus keine Bedrohung der natürlichen Ordnung darstellen und nicht einmal eine besondere Manifestation göttlichen Willens, aus der mehr hervorginge als dessen Allmacht. Sie sind mithin „nichts Neues“.121 Die mittelalterliche Konjunktur des Monströsen bildet innerhalb der aktuellen kulturwissenschaftlichen Monstrositätenforschung einen deutlichen Schwerpunkt.122 Aus den umfangreichen mediävistischen Forschungsergebnissen lässt sich eine Kataly­ satorenfunktion monströser Formen für die Konstitution des Besonderen ablesen, wobei ihre vielseitig besetzbare Zeichenhaftigkeit gerade nicht die von Augustinus geforderte Eindeutigkeit des Verweisens herstellt. Nach David Williams reflektieren Repräsentationen deformierter Körper die Fragwürdigkeit jeglicher adäquater Repräsentation der Realität.123 Monströse Signifikanten unterlaufen die Repräsentations­ logik, indem sie nicht Wirklichkeit bezeichnen, sondern auf die Fragilität der Bezeichnung selbst verweisen. Ein Zeichen, das nichts Reales und zugleich nichts Bestimmtes bedeutet, allein durch seine angst- und lustbesetzte Intensität aber zur Attribution von Bedeutung herausfordert, ist einsetzbar als Metazeichen, dem Augustinus die Bedeutung der Allmacht Gottes als eine Bezeichnungsfunktion jenseits der primären Zeichenordnung zuweist. Dieser Rang des monströsen Zeichens wird möglich, so

120  „Nobis tamen ista, quae velut contra naturam fiunt et contra naturam fieri dicuntur […] et monstra, ostenta, portenta, prodigia nuncupantur, hoc monstrare debent, hoc ostendere vel praeostendere, hoc praedicere, quod facturus sit Deus, quae de corporibus hominum se praenuntiavit esse facturum, nulla impediente difficultate, nulla praescribente lege naturae.“ Augustinus, De civitate dei. S. 507. – Die allegorische Ausdeutung der Monstren bleibt bis weit ins sechzehnte Jahrhundert hinein ihre prominenteste Interpretation: Sie sind „zu warnung des Menschlichen Geschlechts geoffenbaret“, wie der Theologe Caspar Goltwurm schreibt Caspar Goltwurm: Wunderzeichen. Frankfurt a. M. 1657. 121 „Selbst die Ungetüme, die von der Naturregel abweichen, mögen sie auch untereinander verschieden sein und einige von ihnen nur einmal, wie es heißt, vorgekommen sein, sind doch, sofern sie unter den Begriff Wundertiere und Ungetüme fallen, schon dagewesen und werden wieder erscheinen, und man kann es nicht als etwas Neues und Unerhörtes bezeichnen, daß ein Ungetüm unter der Sonne geboren wird.“ Augustinus, De Civitate, S. 532; Gottesstaat, S. 80. 122  Ohne die Literatur ganz überblicken zu können, scheint mir ein Gründungstext John R. Tolkien: The Monsters and the Critics. In: Christopher Tolkien (Hg.): The Monsters and the Critics and other Essays. London u. a. 1983. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an: John Block Friedman: The monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge/Mass. 1981; David Williams: Deformed Discourse. The Function of the Monster in Mediaeval Thought and Literature. Montreal 1996; Jeffrey Jerome Cohen: Of Giants. Sex, Monsters, and the Middle Ages. Minneapolis 1999; Bettina Bildhauer und Robert Mills (Hg.): The Monstrous Middle Ages. Cardiff 2003. 123  Vgl. Williams, Deformed Discourse, S. 5.

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Bildhauer und Mills, „because its very absurdity stretched the mind towards a deeper understanding“.124 Ein tieferes Verständnis in ganz anderer Form als von Augustinus gefordert findet sich in Heldensagen und Heiligenlegenden. Dass ein Held Drachen besiegen muss, besagt ein kulturgeschichtliches Stereotyp.125 Es gibt aber darüber hinaus Wechselwirkungen zwischen Held und Ungeheuer, die beide in ein Ähnlichkeitsverhältnis rücken. Indem Siegfried dem Zwerg Alberich die Tarnkappe abnimmt, geht seine zentrale phantastische Eigenschaft – nicht körperliche Missbildung, sondern Unsichtbarkeit – auf ihn über. Berühmter noch ist das Bad in Drachenblut, das im Nibelungenlied nur in einem vierzeiligen Bericht Hagens besteht.126 Die Dialektik von Held und Monstrum ist in beiden Fällen eine kriegerische: Siegfried muss jeweils den gewaltigen Drachen bzw. verschlagenen Zwerg überwinden, um deren monströse Eigenschaften der Unsichtbarkeit und Unverwundbarkeit übernehmen zu können. Als Held konstituiert er sich über die kämpferische Auseinandersetzung mit dem Monstrum, seine Eigenschaften als Held aber sind, nach gelungener Konstitution, von denen des Monstrums nicht unterscheidbar. Monstrosität verstärkt also Heldentum in doppeltem Sinne: Der Nachweis von Heldenhaftigkeit wird durch den Sieg über das Ungeheuer geführt, die Alleinstellungsmerkmale des Helden (Unsichtbarkeit, Unverwundbarkeit) sind abgeleitet aus denen des Ungeheuers. Drachentöter ist auch der heilige Georg, wobei diese Eigenschaft erst im zwölften Jahrhundert vom Erzengel Michael auf ihn übergeht. Im Gegensatz zum Heldenepos ist das Ziel der Drachentötung durch einen Heiligen nicht die Hochzeit mit der befreiten Königstochter oder das Gewinnen eines Schatzes, sondern die anschließende Massen­ taufe der Bevölkerung.127 In Darstellungen der Heiligen wimmelt es von begleitenden Ungeheuern, in erster Linie ist also von einer Profilierung des Heiligen über eine parergonale, beigefügte Monstrosität zu sprechen. Dennoch lassen sich Ununterscheidbarkeitszonen von Heiligem und Monströsem feststellen, etwa in der Tradition kynekophaler Darstellungen von Christophorus, Bartholomäus und Thomas. Um aus dem Bereich des Menschlichen wirkungsvoll entrückt zu werden, braucht der Heilige das Monströse, wie wiederum Williams festhält: „Deformed, unnatural, and wondrous,

124  Bildhauer/Mills, Monstrous Middle Ages, S. 13. Die berechtigte Kritik der Autoren an Williams, die in Zweifel zieht, „that this is a uniquely medieval pattern of thought“, macht das Modell für die vorliegende Arbeit gerade zusätzlich attraktiv. 125  Vladimir Propp hat es im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit russischen Zaubermärchen in die Narrateme „Kampf gegen das Böse“, und „Erfüllung einer auferlegten schwierigen Aufgabe“ eingefasst, vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Frankfurt a. M. 1975. 126  Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hg. v. Helmut de Boor. Wiesbaden 1979. S. 22. 127  Vgl. Samantha Riches: St. George. Hero, Martyr, and Myth. Stroud 2000. Vor allem im Spätmittelalter stellt offenbar die Vernichtung der Heiden einen beliebteren Abschluss von Heiligenlegenden dar als die Massentaufe.

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the fantastic saint represents the divine“.128 Der reiche Signifikant des Monströsen lässt sich, am anderen Ende des Spektrums herausgehobener Bedeutungen, nicht nur zur Konstitution des Heiligen, sondern auch zur Illustration des Heiden verwenden.“129 Eine vierte Funktion macht Mills aus: „sculptures and manuscript illuminations depicting the Christian deity as bestial, hybridized figure“.130 Verstärkungsfunktion erhalten monströse Zeichen auch in der politischen Theologie. Sebastian Brant, Autor des Narrenschiffs, arbeitet am Hofe Maximilians des I., der den Meteoriten von Sinsheim noch im Jahre 1492 in Ketten legen und in eine Kirche verbringen lässt. Brants „systematische politische Nutzung“131 des Einblattdrucks kommt auch mit Blick auf diesen Meteoriten zur Anwendung; hier möchte ich exemplarisch seine Interpretation der damals berühmten Wormser Zwillinge anführen, die an der Stirn zusammengewachsen geboren werden. Brant leitet seine Ausführungen ein durch den Verweis auf antike Wunderzeichen und stellt seine eigene Auslegung ausdrücklich in die Tradition der sybillinischen Deutungen. Wie in der Antike ist das Zeichen göttliches Mahnmal: „So got unß manet vor der zyt“. Dem monströsen Signifikanten eignet eine Beziehung der Ähnlichkeit zu seinem Signifikat: „Dann wunder zeigt wunder an“.132 Brants Auslegung entfernt sich von der Praxis der Analogie­ bildung im Folgenden nicht: Unter einem Herrscher sollen die verfeindeten Reichsstände zusammenfinden, „allain ein hirn“ soll die Zusammenführung der geistlichen und der weltlichen Macht leisten, und „under aim haubt samlen sich das Römisch und das Kryechisch reich“.133 Die siamesischen Zwillinge erfahren also eine positive politisch-theologische Ausdeutung, der Ausnahmefall der Natur kündigt die kaiser­ liche Herstellung eines friedvollen Normalzustandes an. Die monströse Doppelgeburt ist zunächst ein sakrales Zeichen, das über die politische Auslegung aber unmittelbar lebensweltliche Relevanz gewinnt.

128  Williams, Deformed Discourse, S. 321. 129  Bei Alanus ab Insulis wird Monstrosität unmittelbar zur Diskreditierung sarazenischer Alterität verwandt: „Now let us turn our writing against the disciples of Muhammad. Muhammad’s monstrous life, more monstrous sect and most monstrous end is manifestly found in his deeds. Alanus ab Insulis: De fide catholica contra haereticos sui termporis. Zit. nach: Michael Uebel: Unthinking the Monster. Twelfth Century Responses to Saracen Alterity. In: Cohen, Monster Theory. S. 264–291. Hier: S. 274. 130  Mills, Robert: Jesus as Monster. In: Bildhauer/Mills, Monstrous Middle Ages. S. 28–54. Hier: S. 29. Die Frage nach den monströsen Qualitäten von Jesusfiguren auch außerhalb des Mittelalters beschäftigt Slavoj Žižek und John Milbank: The Monstrosity of Christ: Paradox or Dialectic? Cambridge/Mass. 1992. 131  Michael Schilling: Medienspezifische Modellierung politischer Ereignisse auf Flugblättern des Dreißigjährigen Kriegs. In: Ute Frevert und Wolfgang Braungart (Hg.): Sprachen des Politischen. ­Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2003. S. 123–138. Hier: S. 123. 132  Sebastian Brant: Kleine Texte. Bd. 1. Stuttgart 1998. S. 231. 133  Brant, Kleine Texte. S. 233–234 Die Kontinuität zwischen assyrischer Omendeutung und frühneuzeitlichem Flugblatt ist erstaunlich.

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Spätere frühneuzeitliche Auslegungen verwenden monstra ebenfalls als Träger herausgehobener Bedeutung, entfernen sich aber zunehmend von theologischen Deutungsmustern.134 Als Basis einer „besonderen Geschichte“ der Natur, wie sie im Novum Organon (1620) skizziert wird, schlägt Francis Bacon die Untersuchung „vorrangiger Fälle“ (praerogativae instantiarum) vor. Auf eine besondere Weise privilegiert er dabei die Kategorie der abweichenden Fälle (instantiae deviantes): „Es sind Verirrungen der Natur, die abenteuerlich anmuten, in denen die Natur die gewohnte Straße verläßt und abbiegt“, in Form von „errores naturae“, „vaga“ und „monstra“.135 Bacon unterscheidet dabei zwischen einzigartigen Fällen nicht-monströser Qualität, die auf allgemeine Regeln rückführbar sind, und monströsen Abweichungen, die den Bereich des Regelhaften verlassen. Der große epistemologische Vorzug der letzteren liegt in ihrer Herstellbarkeit: Eine neue Gattung zu produzieren, scheint Bacon aussichtlos, bekannte Arten zu modifizieren, einfacher. Er unterscheidet entsprechend scharf zwischen Regelverstößen, wie sie die übernatürlichen Wunder der theologischen Tradition darstellen, und natürlichen Wundern aus der belegten Beobachtung, nicht annähernd so scharf aber zwischen natürlichem und künstlichem Wunder. Eher erscheinen beider Übergänge fließend136:

134  Die Rekonstruktion der frühneuzeitlichen Konstellation konkurrierender Deutungsmuster in der Forschung liest sich als erneutes Ringen um die Bedeutung des Monströsen und um die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Historisierung. Daston und Park haben in einem frühen Entwurf überzeugend eine dreistufige Entwicklung des Monströsen zwischen 1500 und 1750 beschrieben, vom religiösen Prodigium über das natürliche Wunder hin zum wissenschaftlichen Objekt (Lorraine Daston und Katherine Park: Unnatural Conceptions: The Study of Monsters in Sixteenth- and Seventeenth-Century France and England. In: Past and Present. Nr. 92 /1981, S. 20–54.) und es ebenso überzeugend später revidiert („We now reject this teleological model“. Dies.: Wonders and the Order of Nature. 1150–1750. New York 1998. S. 176). Rudolf Wittkowers noch immer beeindruckende Studie über die „Wunder des Ostens“ diagnostiziert eine umgekehrte Bewegung von einem integrativen mittelalterlichen Wissen zu einer Rückkehr des Aberglaubens in der Frühen Neuzeit (Vgl. Wittkower, Rudolf: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. Nr. 5 (1942). S. 159–197). Von einer Simultaneität natürlicher und religiöser Erklärungsmodelle für das Auftauchen von Missbildungen geht zumeist die neuere Forschung aus. Zwar droht das Aufkommen einer neoaristotelischen, naturalisierenden Sichtweise ab dem fünfzehnten Jahrhundert, der politisch-theologischen Lektüre der Prodigien „vollkommen die Grundlage zu entziehen“ (Irene Ewinkel: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1995. S. 131.), eine progressive Ersetzung der Wunderdeutung durch die naturwissenschaftliche Erklärung wird aber nicht angenommen (Vgl. Stephen Pender: „No Monsters at the Resurrection“. In: Cohen, Monster Theory. S. 143–167. Hier: S. 145). 135  Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch-Deutsch. Bd. 1. Hg. von Wolfgang Krohn. Hamburg 1990. S. 411. 136  In diesem Punkt stimmt Bacons Modell mit dem des von ihm verehrten Aristoteles überein: Beide sind zentriert um die Metapher von der Natur als großer Künstlerin und um den Versuch, Natur­ abweichungen über Kunstprodukte und Kunstfehler zu erklären.

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Ist einmal die Natur in ihrer Vielfältigkeit begriffen und das Verhältnis erkannt, wird es nicht schwer sein, die Natur mittels der Kunst dahin zu bringen, wohin sie sich zufällig schon einmal verirrt hatte, ja nicht nur dorthin, sondern anderswohin, da die Abweichungen auf der einen Seite den Weg zu Abweichungen nach allen Seiten hin zeigen und öffnen.137

Es ist also nach Bacon nicht nur möglich, sondern wissenschaftlich geradezu wünschenswert, Abweichungen von der natürlichen Ordnung herbeizuführen. Diese Aufwertung des Devianten ist seinen Ausführungen zum Verhältnis von Abweichung und Normalverlauf der Natur andernorts noch grundlegender eingeschrieben. So unterteilt er die Wissenschaft in drei Disziplinen138: Erstens Naturgeschichte im engeren Sinne, zweitens eine Geschichte der Artefakte – und drittens die Geschichte der Naturwunder, also eben der instantiae deviantes, errores naturae und monstra. Bacon schlägt vor, monstra lesbar zu machen als Irrtümer der Natur, die Rückschlüsse zulassen auf den regulären Gang der Naturgeschichte: „Wer ihre Abwege kennt, wird genauer ihre wahren Wege abstecken können“ – eine Geschichte „omnium monstrorum et partuum naturae prodigiosorum“139 soll also eine dritte Disziplin der Wissenschaft bilden, deren Aufgabe die Systematisierung organischer wie mechanischer Regelabweichungen ist. Dieser seltsamen dritten Disziplin räumt Bacon sogar epistemologischen Vorrang ein, weil sie die ersten beiden in sich vereinigt: Die Natur benimmt sich in ihren Deviationen, als sei sie Kunst, und legt damit die Produktionsbedingungen sowohl des Natürlichen als auch des Artifiziellen frei, sie ermöglicht Aussagen über die Entstehung der Ausnahme und über den „regulären Weg“ der Naturgeschichte. Aufgegriffen wird dieser Gedanke vor allem in der medizinischen Forschung, wie bei Ambroise Paré; zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt sich die Missbildungslehre aber erst im neunzehnten Jahrhundert. Mit Verstärkungs- und Argumentfunktion sind die beiden dominanten Muster theoretischer Funktionalisierungen monströser Formen benannt. Die häufigste Form ihrer praktischen Nutzbarmachung ist ihre Ausstellung. Dem symbolischen Kapital des Aufsehenerregenden entspricht ein konkreter ökonomischer Wert, im Zuge einer von Plinius wie von Shakespeare und Victor Hugo verzeichneten, ökonomischen Nutzbarmachung durch öffentliche Zurschaustellung, deren Tradition sich bis in die Freak Shows des zwanzigsten Jahrhunderts fortsetzt.140 Analog dienen Monstrositäten, in

137  Francis Bacon, Neues Organon, S. 411. 138  Francis Bacon: The Advancement of Learning. New York 2001. S. 43. 139  Bacon, Neues Organon, S. 411–413. 140  Vgl. Plinius d. Ä.: Naturalis Historia. Shakespeare bezieht sich in A Midsummer Night’s Dream auf die verbreitete Auffassung, mithilfe von Polygonum Wachstumsstörungen herbeiführen zu können: „Get you gone, dwarf / You minimus, of hindering knot-grass made“. William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. In: The Complete Works. Hg. v. Stanley Wells and Gary Taylor. Oxford: Clarendon Press 2005. S. 415. Die in L’homme qui rit verwendete Bezeichnung der „Comprachicos“ ist zwar eine Wortschöpfung Hugos, der sich aber auf höchst reale historische Vorgänge von Menschenhandel, Verstümmelung und Ausstellung bezieht. Vgl. John Boynton Kaiser: The Comprachicos. In:

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ihrer ornamentalen Form des Grotesken, als begleitender Superlativ zur Illustration von Herrschafts- oder Geltungsansprüchen. So legt Zar Peter I. zweimal, 1704 und 1718, gesetzlich fest, dass deformierte Neugeborene nicht getötet oder versteckt werden dürfen, sondern den lokalen Behörden übergeben und, sofern sie direkt nach der Geburt sterben, seinem anatomischen Kabinett in St. Petersburg hinzugefügt werden müssen. Diese Anordnung verdeutlicht, wie weit schon zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts der Prozess der Naturalisierung des Monströsen fortgeschritten ist, der eine göttliche Strafe in eine begehrenswerte Ressource transformiert. Ob den Missgeburten wirklich erfolgreich ihr Schrecken genommen wird, indem sie nach eingehender medizinischer Untersuchung in durchsichtigen und mit Erläuterungen versehenen Flaschen wissenschaftlicher Beobachtung zugänglich gemacht werden, ist fraglich141; zumindest bedeutet diese Anordnung eine Geste der Versachlichung. Gleichzeitig aber dient sie der Markierung von Herrschaftsansprüchen: Peter I. empfängt Gäste in seinem Monstrositätenkabinett und dokumentiert damit Souveränität auf mehreren Ebenen, im Sinne einer Überwindung parareligiösen Aberglaubens, einer absoluten Verfügungsgewalt über die Natur bis hin zum Besitz des Widernatürlichen und vor allem im Sinne der Nutzbarmachung des ornamentalen Superlativs, der Monstren eingeschrieben ist. Die groteske Rahmung lenkt nur für eben den kurzen Moment vom Zentrum des Bildes ab, der notwendig ist, um dieses Zentrum aufzuwerten.142 Der paradoxen affektiven Besetzung des Monströsen lassen sich zwei gegenläufige Politiken der Naturalisierung bzw. Denaturalisierung des Monströsen korrelieren: ­Einerseits soll das Monstrum natürlich sein, so dass es zur allgemeinen Illustration wissenschaftlicher Naturbeherrschung herangezogen werden kann143, andererseits einen hohen Grad von Unnatürlichkeit beibehalten, so dass es zur Illustration beson-

Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology 4.2 (1913). S. 247–264. Zur Ausstellung des monströsen Körpers vgl. die Studien von Fiedler und Garland Thomson. Fiedler erwähnt übrigens die Ausstellung von „Freaks“ als durchaus gängige Praxis im alten China, so dass diese Bestimmung keine Besonderheit westlicher Kulturen zu reflektieren scheint. Vgl. Fiedler, Freaks, S. 28; Rosemary Garland Thomson (Hg.): Extraordinary Bodies. Figuring physical disability in American culture and literature. New York u. a. 1997. 141  Zwar beobachtet Urs Zürcher in der frühen Teratologie eine Transformation des Schreckens im Sinne einer „emotionslosen Intimisierung“, die sicher auf den wissenschaftlichen Umgang mit Missbildungen zutrifft, den Schrecken der Eltern über eine Missgeburt aber wohl nicht betrifft. Zürcher, Monster oder Laune der Natur, S. 130. 142  Diese Kontrastwirkung nutzen, auf einer anderen Ebene der Konstitution von Souveränität, Voltaire, Buffon und Rousseau, wenn sie den aufgeklärten Europäer in Abgrenzung zum bewusst monströs überzeichneten außereuropäischen Wilden profilieren. Es wird dabei immer wieder versucht, den Charakter der Abweichung zu überwinden: Linné beispielsweise integriert sowohl den Wilden Mann als auch die Sirene in sein Systema Naturae; nach Giorgio Agamben verhält es sich ähnlich mit der Ichtyologica des Peter Artedi, in der die Sirene allerdings nicht bei den Hominiden, sondern neben Robben und Seelöwen verzeichnet ist. Vgl. Agamben, Das Offene, S. 35. 143  Vgl. etwa Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheit der Natur. Berlin 1750. S. 30–31.

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derer individueller Macht operationalisierbar bleibt, wie die endlosen Monologe der libertinären Sittenmonster bei de Sade deutlich machen.144

1.7 Zoten für das Fräulein Als Argumentationshilfe dienen monströse Formen immer wieder vor allem einem Ziel: der Vernunftkritik. Der doppeldeutige Titel zu Goyas berühmtem Capricho Nr. 43, El sueño de la razón produce monstruos, hält zwei Interpretationen offen: Es ist ent­ weder der Schlaf der Vernunft, der Monster produziert, also die Abwesenheit von Aufklärung, oder die Monster entspringen dem Traum der Vernunft, also der Aufklärung selbst.145 Goyas Zeichnung ist innerhalb der Reihe seiner Capriccios eine Ausnahme – sie führt als einzige die Monster im Titel, zeigt aber, im Gegensatz zu fast allen anderen Bildern, kein einziges, sondern lediglich Fledermäuse und Raubkatzen. Im Hinblick auf die Doppeldeutigkeit des „sueño“ trifft sie ebenso eine rätselhafte Aussage über die Aufklärung wie auch eine Aussage über ein Rätsel, das der Aufklärung eingeschrieben ist: Der intuitiv einleuchtenden Vermutung einer Gegensätzlichkeit von monströser Imagination und aufgeklärter Vernunft146 steht eine anhaltende Konjunktur des Monströsen im achtzehnten Jahrhundert gegenüber. Ein Wandel findet vor allem auf medialer Ebene statt – aus Wunderkammern werden Museen, aus Flugschriften Fallstudien, aus normativen theologisch-politischen Wunderdeutungen scheinbar rein deskriptive wissenschaftliche Klassifikationen. Eine neue und durchaus merkwürdige Zuschreibung erhält das Monströse aber gerade durch seine Instrumentalisierung im Rahmen der Vernunftkritik: es erhält ästhetischen Eigenwert und wird – attraktiv. Einen Traum der Vernunft in aller Doppeldeutigkeit träumt der fiktive d’Alembert bei Diderot. D’Alemberts Traum wird doppelt kommentiert: als „Phantastereien“ durch das Fräulein von Lespinasse, und als „sehr hohe Philosophie“147 durch den Doktor Bordeu. D’Alembert spricht, philosophiert und deliriert im Schlaf. Seine Assoziationen umfassen die Entwicklung und Einheit des Organismus, das Verhältnis von Individuum und Ganzem, die Konstitution der Gattungen und den Charakter des Empfindens und kehren dabei beständig zur Frage nach dem Status monströser Zwi-

144  Vgl. Manfred Schneider: Gottmonster. De Sades politische Theologie. In: Geisenhanslüke/Mein: Monströse Ordnungen. S. 553–570. 145  Vgl. Anja Lemke: Zwitterhafte Zeichenmonster in Goyas Capriccios. In: Geisenhanslüke/Mein, Monströse Ordnungen. S. 597–616. 146  So vermutet etwa Helduser einen Niedergang des Monströsen in der Aufklärung: „Der Marginalisierung der Monstren in der Natur folgt im ästhetischen Diskurs der Aufklärung ihre Marginalisierung im Reich der Kunst.“ Urte Helduser: Poetische ‚Mißgeburten‘ und die Poetik des Monströsen. In: Geisenhanslüke/Mein: Monströse Ordnungen. S. 669–688. Hier: S. 677. 147  Denis Diderot: Le rêve d’Alembert. Paris 1951. S. 72.



Zoten für das Fräulein 

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schenwesen und ihrer Funktion für eine Theorie des Organismus zurück. D’Alembert bestreitet, nach den Notizen des Fräuleins Lespinasse, die Existenz „menschlicher Polypen“, der anwesende Doktor Bordeu diskutiert siamesische Zwillinge als „sonderbare Species“ und entwirft ein Modell der Gärung der Arten, aus dem ununterbrochen minimal unterschiedene Formen hervorgehen. Der immer noch träumende d’Alembert wiederum problematisiert die menschliche Gattung vor dem Hintergrund eines solchen Gattungskontinuums.148 Das Modell der „Gärung“ nach Diderot (bzw. nach den fiktiven Bordeu und d’Alembert) sieht eine ständige Organisation und Reorganisation der einzelnen Gattungen und ihres Verhältnisses untereinander vor. Seine Positionierung gegenüber den vitalistischen und ovulistischen Modellen der Organisation und Reproduktion von Organismen soll hier nicht diskutiert werden, wohl aber die zentrale Funktion des Monströsen für diese Prozesse der Organisation. Bodeut beschreibt Monstrositäten im Sinne problemlösender Adaptionen – Lebewesen ohne Arme wachsen eben Arme, wenn sie notwendig werden, Wesen, die nur denken, werden langfristig anatomisch auf ihren Kopf beschränkt. Gerade an diesem Punkt der Betrachtung ist d’Alemberts Stimme wieder aus dem Nebenzimmer zu hören: Mais le tout change sans cesse … L’homme n’est qu’un effet commun, le monstre qu’un effet rare; tous les deux également naturels, également nécessaires, également dans l’ordre universel et général … Et qu’est-ce qu’il y a d’étonnant à cela ? … Tous les êtres circulent les uns dans les autres, par conséquent toutes les espèces … tout est en un flux perpétuel … Tout animal est plus ou moins homme; tout minéral est plus ou moins plante; toute plante est plus ou moins animal. Il n ‘y a rien de précis en nature …149

Menschen als gewöhnliche Effekte und Monstren als außergewöhnliche Effekte unterscheidet demnach die Häufigkeit ihres Auftauchens, ihr ontologischer Status als „Effekt“ ist dagegen derselbe. Ungeheuer sind seltene Menschen oder Menschen gewöhnliche Ungeheuer; monstra sind damit nicht nur ebenso natürlich, sondern weniger banal und interessanter als Menschen. Diese Attraktivität auf epistemischer Ebene wird breit diskutiert; es stellt sich allerdings noch ein nicht zu verkennender Subtext in die Unterhaltungen des Fräuleins von Lespinasse mit dem Doktor Bordeu ein, der den erwachten Philosophen vermuten lässt: „Je crois que vous dites des ordures à mademoiselle d’Espinasse.“150 Tatsächlich ist beider Unterhaltung ein Flirt auf sehr hohem intellektuellen Niveau, innerhalb dessen monströse Formen die Funktion sexueller Anspielungen übernehmen. Diskutiert werden der Mann als Missbildung der

148  „Qui sait à quel instant de la succession de ces générations animales nous en sommes? Qui sait si ce bipède déformé, qui n’a que quatre pieds de hauteur, qu’on appelle encore dans le voisinage du pôle un homme, et qui ne tarderait pas à perdre ce nom en se déformant un peu davantage, n’est pas l’image d’une espèce qui passe?“ Diderot, Rêve S. 58. 149  Diderot, Rêve, S. 69. 150  Diderot, Rêve, S. 69.

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Frau und umgekehrt, Bordeu spielt auf den weiblichen Orgasmus an. Beide spielen die Bandbreite denkbarer Missbildungen ausführlich durch. Es lassen sich nach Bordeu durch das Verkleben oder Durchtrennen von Keimfasern, letztlich „alle erdenklichen Mißbildungen bekommen“. Die Ursache der Missbildungen liegt in einem Defekt des Erbguts, dessen Weitergabe saltationistisch gedacht wird, nämlich in „Unterbrechungen“ und „Sprüngen“. Die Theorie der Missbildung wird im Gespräch zwischenzeitlich so dominant, dass sie mit dem erotischen Subtext der Unterhaltung fast deckungsgleich wird. Tatsächlich geht es nicht nur um das Verhältnis von Gattung und Monstrum im Allgemeinen151, sondern ebenso sehr um die monströsen Potentiale der Gesprächspartner, etwa, wenn d’Alembert und der Doktor sich jeweils selbst ins Verhältnis zu Missbildungen setzen, oder wenn das Fräulein von der unendlichen Verlängerung ihrer Gliedmaßen träumt. Die Thematisierung von Schlaf und Traum, aber auch hysterischer Zustände, religiöser Entrückung, der Ekstase des „Wilden“, also durchgängig menschlicher Grenzerfahrungen, in denen der menschliche Körper über sich hinauszuwachsen scheint, machen die Unterhaltung zu einem Diskurs über die Möglichkeiten menschlicher Missbildung. Dieser Diskurs ist zugleich eine dialo­ gische Abhandlung über die Poesie: Auf die Frage des Fräuleins, was er über die Vermischung der Arten denke, sagt Bordeut: „L’art de créer des êtres qui ne sont pas, à l’imitation de ceux qui sont, est de la vraie poésie.“ Seinen Vorschlag einer Paarung über Gattungsgrenzen hinweg beantwortet wiederum das Fräulein mit dem Ausruf: „Vous êtes monstrueux“152. Die Antwort des Doktors ist seiner Zeit weit voraus und besagt, die Natur sei monströs oder die Gesellschaft, nicht aber das Individuum. Das Monströse in Diderots spielerischem Dialog ist dreifach positiv besetzt: Erstens als aufschlussreicher Gegenstand der Anatomie, zweitens als Visualisierung unsichtbarer Kontinuitäten zwischen natürlichen Kategorien, und drittens als sexuell attraktives Modell der Transgression bürgerlicher Normen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob es die Gesellschaft ist oder die Natur, der monströse Qualitäten zugeschrieben werden müssen – beider Verhältnis ist notwendig von Monstrosität bestimmt. Für Diderot sind die Gattungen nur Momentaufnahmen innerhalb eines kontinuierlichen naturgeschichtlichen Fließens. Mithin sind Monstren weder ein Verstoß gegen die natür­ liche, noch gegen die sittliche Ordnung, sondern höchst natürliche und überdies ­attraktive Phänomene, die zu interessanten Modifikationen bürgerlicher Moralvorstellungen anregen: Das Anschlussgespräch zwischen Fräulein und Doktor gleitet vom Gegenstand der Vermischung der Arten ab zu denkbaren sexuellen Potentialen menschlich-ziegenhafter Mischwesen.

151  Der offensichtlichen Doppeldeutigkeit des Gattungsbegriffs trägt Diderot andernorts Rechnung. Lars Friedrich beschreibt die monströse Form als problematische Grundlage sowohl poetologischer als naturgeschichtlicher Klassifikatorik bei Diderot. Vgl. Lars Friedrich: Der Achill-Komplex. Versuch einer dekonstruktiven Gattungspoetik. Paderborn und München 2009. S. 142. 152  Diderot, Rêve, S. 158.



Wissensgeschichte und Poetik 

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1.8 Wissensgeschichte und Poetik Es gibt, um die vorangestellten theoretischen Überlegungen zusammenzufassen, einen Kernbestand historisch sehr stabiler funktionaler Zuschreibungen153 und inhaltlicher Bestimmungen des Monströsen: (1) ihre alarmierende Zeichenhaftigkeit, (2) das Nebeneinander poetischer und naturgeschichtlicher Konzeptualisierungen, (3) die Problema­ tisierung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem, (4) das Spannungs­verhältnis von äußerer und innerer Missbildung, (5) ihre Funktionalisierung als verstärkender bzw. rahmender Superlativ, (6) die ihnen zugeschriebene ästhetische Attraktivität. Diese Zuschreibungen lassen sich zueinander in ein Bedingungsverhältnis setzen: Aus der Zeichenhaftigkeit resultieren die Mehrdeutigkeiten und Spannungen des Begriffs, aus denen sich wiederum ihre sozialen Funktionalisierungen ableiten lassen. Als Kriterien zur Unterscheidung verschiedener Typen oder Klassen von Monstern sind die drei skizzierten Spannungen mit Blick auf das neunzehnte Jahrhundert denkbar ungeeignet: Koloniales Selbstverständnis beruht gerade auf der Identifikation heimischer Entartung mit fremder Unterentwicklung, die Theorien des Abweichenden von Lavater bis Lombroso konzentrieren sich gerade auf den Zusammenhang von körperlicher und geistiger Deformation, und zentraler Effekt der Konjunktur des Phantastischen ist gerade die Verunsicherung des Realen in Literatur und Realität. Aufgefasst als interne Spannungen des Begriffs definieren die drei Unterscheidungen das Problemfeld, das das Zeichen „Monstrum“ eröffnet. Gegenstand dieser Studie ist die Rekonstruktion eines Diskurses über monstra und terata im neunzehnten Jahrhundert, der literarische, medizinische, psychia­trische und biologische Texte durchzieht. Ziel ist es, die Wirksamkeit einer gemeinsamen Poetik des Monströsen in Literatur und Lebenswissenschaften sichtbar zu machen und als ihr zentrales Strukturmerkmal eine permanente dialektische Bewegung zwischen Prozessen der Defiguration und Prozessen der Refiguration aufzu­zeigen. Die Nähe zu den angrenzenden Konzepten des Unheimlichen, Grotesken und Phantastischen oder des Wahnsinns legt eine poetologische Annäherung an den Gegenstand der Monstrosität nahe. Ich verzichte auf eine prinzipielle Stellungnahme zum Verhältnis von Literatur und Wissen bzw. Literatur und Wissenschaft154, weil sie mir in der Auseinandersetzung mit monströsen Formen aus mehreren Gründen nicht notwendig scheint. Monstra sind ästhetische Gegenstände und in mehrfachem Sinne durch poietische Vorgaben bestimmt: Erstens sind Darstellungsform und Wissensobjekt im

153  Ich teile hier Michael Toggweilers Einschätzung, der allerdings die überhistorisch gültigen Charakteristika des Monströsen ins Zentrum seiner Studie rückt. Deren erklärter Gegenstand ist „eine mögliche grundlegende mythische Form und Formation, welche, wenn sie auch vielleicht keine anthropologische Konstante darstellt, so doch einen erstaunlich hohen Resistenzgrad und eine verblüffende Immunität gegenüber der Geschichte aufweist.“ Michael Toggweiler, Kleine Phänomenologie der Monster, S. 2. 154  Vgl. die Debatte in der Zeitschrift für Germanistik ab Nr. 2 (2007).

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 Poetik des Monströsen

Fall einer monströsen kategorialen Nicht-Zugehörigkeit notwendig eng verbunden, nämlich im Sinne einer noch nicht gefundenen poietischen Form für einen kategoriell noch nicht erfassten Gegenstand. Zweitens sind wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit monströsen Formen notwendig angewiesen auf einen mythischen Fundus dominant poetischer Repräsentationen. Drittens stellt der konstitutive interpretatorische Spielraum im Umgang mit Monstra eine Einladung zur Produktion eines Fiktionsüberschusses dar. Strukturell eignet sich das Monströse als Gegenstand der Poetik in mehrfacher Hinsicht: als offensichtlicher Grenzwert, als Figur des Rearrangements bekannter Versatzstücke zu etwas gänzlich Anderem, als Verkörperung einer Ununterscheidbarkeit von Faktischem und Fiktivem, und als Problemfall von Gattungszuschreibungen. Wenn ästhetische Gegenstände weniger Normal-Wirklichkeiten reproduzieren als Erfahrungen zu ermöglichen, die außerhalb der Ästhetik nicht denkbar wären155, so ist das Monstrum als unwirkliches Phänomen, das stets unter Fiktionsverdacht steht, ein markant ästhetischer Gegenstand. Seinem Herausfallen aus der Normalität eignet dabei, gerade im Fall der körperlichen Deformation von Menschen, nicht immer etwas Spielerisches – dieses subversive Moment wird erst durch die diskursive Ästhetisierung ergänzt, und zwar sowohl in der Literatur als auch in den Wissenschaften. Wenn ich also nach einer Poetik monströser Formen frage statt nach der Wissensoder Herrschaftsordnung, die sie ermöglichen, betone ich gegenüber den Mechanismen von Kontrolle und Selbstkontrolle, wie sie im Anschluss an Foucault meist im Vordergrund stehen, Unwahrscheinlichkeit, Kontraintuitivität und ästhetische Devianz monströser Formen.156 Poetik bedeutet hier eine Zusammenführung von systematisch-psychologischen und diskurshistorischen Anliegen: Die Frage nach der Gemachtheit des Gegenstandes, die sich bei einem formal so unplausiblen Gegenstand wie dem Monstrum aufdrängt, lässt sich doppelt stellen als Frage nach dem möglicherweise historisch nicht kontingenten, individualpsychologischen Bedürfnis, auf das die Produktion des Gegenstandes antwortet, und als Frage nach den historischen Regierungs- und Selbsttechniken, als deren Folge der Gegenstand konturiert wird. Die folgenden historischen Beobachtungen werden zeigen, dass sich beide Fragen kaum sinnvoll trennen lassen. Zwischen der Institutionalisierung der Psychiatrie und dem individuellen Wunsch nach abweichender Persönlichkeit bestehen fließende Übergänge, die nicht identisch sind mit den bekannt verwischten Grenzen von Literatur und Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. Die folgenden Lektüren sollen beide

155  Vgl. Robert Stockhammer: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt a. M. 2002. 156  Die Formulierung einer Unwahrscheinlichkeit bezieht sich hier auf Erscheinungsform, Ort und Zeitpunkt des Auftauchens des jeweiligen individuellen Monsters. Bezeichnet ist damit die Perspektive des unvorbereitet Betroffenen – aus der Perspektive des Kulturhistorikers ist dagegen das wiederholte Auftauchen monströser Phänomene derart wahrscheinlich, dass z. B. Toggweiler mitunter nur widerwillig die Formulierung einer anthropologischen Konstante zu vermeiden scheint.



Wissensgeschichte und Poetik 

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Aspekte von Gemachtheit in den Blick nehmen: Individuellen Gestaltungswillen und diskursive Praxis. Von der rein psychologisch-anthropologischen Beobachtung unterscheidet diese Poetik des Monströsen das historische Bewusstsein: Gefragt wird nicht nach Archetypen, sondern nach konstanten poetischen Operatoren. Die Textgrundlagen sind nach zwei verschiedenen Kriterien ausgewählt: Die wissenschaftlichen Disziplinen der Teratologie, Psychiatrie und Evolutionstheorie werden durchgängig durch Texte einflussreicher Vertreter repräsentiert, die literarischen Texte von Hoffmann, Poe und James dagegen sind eher nach dem Grad ausgewählt, zu dem sich ihnen eine Problematisierung der Dialektik von Singularisierung und Universalisierung ablesen lässt, d. h. auch nach Maßgabe ihrer poetischen Originalität.157 Weder soll in der Gegenüberstellung beider Textgruppen Literatur bei der Aneignung von wissenschaftlichen Theoremen ertappt werden noch soll ihr umgekehrt eine Vorreiterrolle gegenüber der Wissenschaft zugeschrieben werden; die Untersuchung richtet sich auf eine beiden gemeinsame und eminent anschlussfähige Poetik des Monströsen, ohne dass die Richtung des Anschlusses oder der Bezugnahme von vornherein festgelegt wäre. Wenn dennoch die literarischen Narrative über das Monströse in der vorliegenden Darstellung deutlich stärker repräsentiert sind, so liegt dies in ihrem Privileg begründet, sich nicht an den engen Verfügungsrahmen der Realität halten zu müssen, wie Canguilhem sagt: „La vie est pauvre en monstres. Le fantastique est un monde.“158

157  Ein Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung wird natürlich nicht erhoben – es wäre wohl schwierig, etwa einen literarischen Text des deutschen Realismus zu finden, innerhalb dessen sich nicht eine dämonische Sub-Ebene oder eine verborgene Monstrosität sichtbar machen ließe. Für eine Geschichte der Monstrositäten ließe sich auch eine Traditionslinie von Sade über Kleist zu Zola denken, die den Aspekt des Sittenmonsters betonte, oder ebensogut eine Abfolge von Walpole, Mary Shelley und Bram Stoker, die Körpermonster und Motive des Unheimlichen verbände. Die nachfolgenden Lektüren liefern hoffentlich den Nachweis, dass zur Beantwortung der systematischen Frage nach der Attraktivität des Nicht-Schönen und des nicht mehr Schönen im neunzehnten Jahrhundert eine plausible, wenn auch nicht die einzig mögliche Textauswahl getroffen worden ist. 158  Canguilhem, La connaissance de la vie, S. 173.

2 Teratologische Folgerungen 2.1 Monstrosität um 1800 Entgegen Derridas Bestimmung der monstra als „Zeichen, die nicht zeigen“ ist gerade der demonstrative Charakter des Monströsen seine markanteste Eigenschaft. Monster zeigen sich auf aggressive Weise selbst und verweisen jeweils (oder deuten voraus) auf etwas, das weit jenseits ihrer materiellen Erscheinung liegt: auf göttlichen Willen, individuelle Zukunft, Prozesse politischer Destabilisierung oder ökonomischen Wachstums, Strukturanalogien von Kunst und Natur, die Einheit der Schöpfung oder die Willkürlichkeit der Naturordnung, die eingeschränkte Menschlichkeit nicht-mediterraner Völker oder die moralische Korruption mediterraner Völker, den nahenden Weltuntergang, die Problematizität von Wissen oder die Fragilität der Gattung. Diese stabile Zuschreibung einer exzessiven Zeichenhaftigkeit möchte ich als Ausgangspunkt für die folgenden Betrachtungen zum neunzehnten Jahrhundert wählen. Dabei muss innerhalb der hier skizzierten Geschichte fließender Bedeutungswechsel ein recht eindeutiger Entwicklungsvektor eingeräumt werden, auf den vor allem Canguilhem und Hagner1 hingewiesen haben: Parallel zum allgemeinen Bedeutungsverlust übernatürlicher Erklärungsmuster im Aufklärungsjahrhundert werden Monster zu tenden­ ziell natürlichen Zeichen. Im Rahmen einer Poetik des Monströsen lässt sich diese Beobachtung so formulieren: Moderne Monstrositäten stehen nicht mehr allegorisch für Ereignisse, an denen sie materiell nicht Anteil haben, sondern seit Bacon synekdochisch für die Ordnung der Natur, deren, wenngleich exzeptioneller, Bestandteil sie sind. Diese tendenzielle Naturalisierung oder Verwissenschaftlichung des Monsters im achtzehnten Jahrhundert illustrieren die materiellen, medialen und disziplinären ‚Orte‘ des Monströsen: Monstra wandern von Kuriositätenkabinetten und Wunderkammern in Labore und Museen2, an die Stelle der skandalorientierten Flugschrift tritt die medizinische Fallstudie3, und statt der Theodizee-Debatte begleiten sie die Diskussion um präformierte Keime.4 Um 1800 erfahren die Wissenschaften von den Lebewesen eine Neuausrichtung, die als das Ende der Naturgeschichte oder als ein Übergang von einer merkmalorientierten Klassifikatorik zu einer funktionsorientierten Biologie bezeichnet worden

1  Die Hypothese einer irreversiblen „Naturalisierung“ der monstra im Zuge der Aufklärung, die ihnen endgültig den Schrecken nähme, kritisiert allerdings auch Michael Hagner in seiner materialreichen Studie über Monstrositäten im achtzehnten Jahrhundert, vgl. Hagner, Enlightened Monsters, v. a. S. 186. 2  Vgl. Thomas H. Macho: Vom Ursprung des Monströsen. Zur Wahrnehmung des verunstalteten Menschen. In: Adolf Holl (Hg.): Wie werden aus Menschen Monstren? Graz 1990. S. 55–94. 3  Vgl. Zürcher, Monster oder Laune der Natur. 4  Vgl. Canguilhem, La connaissance de la vie.

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ist.5 Das veränderte Interesse an Monstrositäten um 1800 lässt sich dieser übergeordneten Entwicklung zuordnen: Wenn in der modernen Biologie äußere Entwicklungen als Zeichen innerer organischer Entwicklung gedeutet werden6, ist plausibel, dass auch die Missbildungsforschung von Klassifikation auf Ursachenforschung umstellt. Ab der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts setzt entsprechend eine Verschiebung der Theorien des Monströsen von einer tendenziell philosophischen Betrachtung ihrer epistemischen (bzw. moralischen oder theologischen) Implikationen zu einer naturwissenschaftlichen Betrachtung über ihre Entstehung ein.7 Die Diskussion wird zwar weiterhin mit dezidiert ganzheitlich-naturphilosophischem Anspruch geführt, aber zunehmend in den Zuständigkeitsbereich der Protobiologie und Medizin verlagert. Im Kontext zumindest der Debatte um Präformations- und Epigenesis-Modelle scheint allerdings die veränderte Beobachtung von Monstrositäten nicht bloßer Effekt einer allgemeinen epistemologischen Umstellung. Vielmehr tauchen immer wieder Monstrositäten als Argument für epigenetische und präformistische Modelle auf: Der Gegenstand selbst fordert eine Reevaluation des naturhistorischen Paradigmas. Vertreter präformistischer Modelle wie Boisregard, Bonnet, Winslow oder Haller gehen von der Grundvorstellung aus, dass Organismen und mithin auch missgebildete Organismen vom Moment ihrer Zeugung an vollständig vorgebildet sind und im Zuge ihrer Entwicklung die angelegten Eigenschaften zwangsläufig ausbilden. Streitpunkte innerhalb der Präformationstheorie, zu deren Klärung immer wieder Missbildungen herangezogen werden, betreffen die Fragen, ob die vollständige Anlage des Organismus im Spermium verortet werden muss oder im Ei, ob, wenn eine abweichende Ausbildung des individuellen Organismus vorliegt, dessen Anlage im Schöpfungsplan integriert ist8 oder eine Störung desselben durch natürliche Zufälle darstellt9, und auch, ob solche

5  Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1994. S. 279–281; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. München und Wien 1976. S. 156-157. 6  Vgl. Christina Dongowski: Winckelmanns ‚Geschichte der Kunst des Althertums‘. Kunst/Geschichte als Abfall (von) der Naturgeschichte. In: Thomas Lange, Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000. S. 219–236. Hier: S. 220. 7  Vgl. Michael Hagner, Enlightened Monsters. S. 188–189. 8  Benignus Winslow: Remarque sur des monstres. Première partie. In: Mémoires de l’Academie ­Royale des Sciences. Paris 1736. S. 366–389. 9  Louis Léméry: Sur un foetus monstruex. In: Mémoires de l’Academie Royale des Sciences. Paris 1726. S. 44–62. Zur jahrzehntelangen Debatte zwischen Winslow und Lémery in den Memoirs vgl. Javier Moscoso: Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im achtzehnten Jahrhundert. In: Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen 1995. S. 56–72. Hier: S. 70–71.



Monstrosität um 1800 

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Abweichungen als neue Spezies zu beurteilen sind.10 Gemeinsam ist allen Vertretern der Präformationslehre dagegen die Auffassung eines einmaligen und vollständigen Aktes der Zeugung eines in sich nicht mehr veränderbaren Organismus‘. Für diese postulierte Eindeutigkeit und Unveränderlichkeit stellen Missbildungen notwendig ein Problem dar – entweder ist der göttliche Schöpfungsakt fehlerhaft, oder er kann durch natürliche Fehlentwicklungen beeinflusst werden und ist mithin unvollständig. Leibniz löst dieses Problem ganz ähnlich wie Augustinus: Er interpretiert Missbildungen als Ausdruck einer noch nicht durchschauten göttlichen Ordnung, in ihrer Irregularität nicht anders zu erklären als über die mangelnde menschliche Einsicht in dieselbe.11 Überzeugender liest sich die Missbildung als Argument der Epigenesis-Theorie. Caspar Friedrich Wolff, prominentester wissenschaftlicher Nutznießer des Missbildungsedikts von Peter I., und Johann Friedrich Blumenbach gehen davon aus, dass sich im Zuge der Entwicklung eines Organismus‘ Eigenschaften sukzessive ausbilden, die nicht ursprünglich in Samen- oder Eizelle angelegt sind. Diese Ausbildung wird getragen von einer elementaren Triebkraft, der vis essentialis (Wolff12) bzw. dem nisus formativus (Blumenbach13). Die drei elementaren Formen des Monströsen, monstre double, monstre par excès, monstre par défaut werden erklärbar durch eine Verdopplung, ein Zuviel oder ein Zuwenig dieser Triebkraft. Mit der Annahme des Bildungstriebs geht auch eine Entkoppelung der Analyse des Monströsen von seinen sichtbaren Erscheinungsformen einher. Der unsichtbare Bildungstrieb ist allen Organismen gemein, die mit dem Auge erkennbare Missbildung ist dagegen nur ein Resultat seiner über- oder unterdurchschnittlich starken Ausprägung. Sie stellt also eine graduelle und keine grundsätzliche Abweichung dar. Menschenmonster und Mensch rücken über die gemeinsame Grundkraft ihres Entstehens und Wachsens, den Bildungstrieb, näher aneinander; die Invisibilisierung des Monströsen im unsichtbaren Substrat des „Triebs“14 stellt die Grundlage seiner Universalisierung. Die Debatte um Präformation und Epigenesis bereitet insofern den Boden für die Konjunktur der Teratologie im neunzehnten Jahrhundert, als durch die Instrumentalisierung des Monströsen zur Illustration der jeweiligen Theorie über die Entstehung von Lebewesen sich unvermeidlich die Frage nach der Entstehung des Monströsen selbst stellt. Das Monstrum wird, nach einer Formulierung Javier Moscocos, von einem „Gegenstand des wissen-

10  Albrecht von Haller: De Monstris. Libri II. In: Operum anatomici argumenti minorum. Bd. 3. Lausanne 1768. Haller wiederholt die Klassifikation siamesischer Zwillinge als einer neuen Gattung in späteren Publikationen nicht, vgl. Michael Hagner, Enlightened Monsters, S. 190. 11  Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übers. von Arthur Buchenau. Hamburg 1968. S. 224. 12  Caspar Friedrich Wolff: Theorie von der Generation in zwo Abhandlungen erklärt und bewiesen. Berlin 1764. 13  Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb. Göttingen 1781. 14  Mit Trieb ist hier zunächst nur der Bildungstrieb als Prinzip der organischen Entwicklung gemeint. Zum Trieb als Grundbestimmung des psychisch Devianten vgl. Kapitel 4.2. dieser Arbeit.

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schaftlichen Interesses“ zu einem „wissenschaftlichen Gegenstand“15, und zwar im Sinne einer aufgewerteten Zwischenstufe zwischen den Gattungen. Monstren dienen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert in Zoologie, Anatomie, Physiologie und Embryologie16 zur Markierung von Übergangsphänomenen und Zwischenstadien, deren Bedeutung in den Lebenswissenschaften dramatisch steigt. Bonnets berühmte Aufwertung des biologischen Zwischenstadiums besagt, dass es keine Sprünge in der Natur gibt: Alles in ihr ist abgestuft und schattiert. Wenn zwischen zwei beliebigen Wesen ein Leerraum existierte, welcher sollte dann der Grund des Übergangs von dem einen zum anderen sein?17

Übergangsphänomene sind dabei nicht nur in der Wissenschaft um 1800 populär. Das Aufbegehren gegen die aristotelische Regelpoetik ab 1770, die Konjunktur der phantastischen Literatur18, die Arabesken- und Groteskendebatte gegen Ende des Jahrhunderts19, die Affinität etwa der deutschen Frühromantik zu Phänomenen des Aberwitzigen und Unsinnigen20 und nicht zuletzt die Zuwendung zur literarischen Produktion ganz konkreter Monster ab Mary Shelleys Frankenstein dokumentieren die Relevanz hybrider Mischformen und monströser Regelverstöße auch in der Ästhetik. Eine Schnittstelle von Poetik und Lebenswissenschaften bildet dabei die Frage nach der Zeugung, der Entstehung von etwas aus nichts.21 Eine nicht unwesentliche Rolle zur Beantwortung dieser Frage spielt die Einbeziehung der Zeugung des ­Unwahrscheinlichen und

15  Moscoso, Vollkommene Monstren, S. 69. 16  An der Epochenschwelle um 1800 hat Wolf Lepenies das Ende der Naturgeschichte an und begründet, dass sich das Verständnis von Zeitlichkeit am Ende des Aufklärungsjahrhunderts entscheidend gewandelt habe. Janina Wellmann hat dieses neue Verständnis von Zeitlichkeit und Entwicklung einer konkreten Disziplin, nämlich der Embryologie zugewiesen: Die Abwendung von Präformations­modellen bedeutet fast zwangsläufig eine Beschäftigung mit der embryonalen Entwicklung. Vgl. ­Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte; Janina Wellmann: Die Form des Werdens. Eine Kultur­geschichte der Embryologie 1760–1830. Göttingen 2010. 17  Charles Bonnet: Contemplation de la nature. In: Ders.: Œuvres d’historie naturelle et de philosophie. Bd. 4. Neuchâtel 1779. S. 35–36. Zit. nach Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1974. S. 191. 18  Vgl. Lachmann, Erzählte Phantastik. 19  Vgl. Günther Oesterle: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels Brief über den Roman. In: Dirk Grathoff (Hg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. Frankfurt a. M. 1985. S. 233–292. Die emphatische Aufladung des Dysfunktionalen zur ästhetischen Form in Arabeske, Groteske, Fragment, Digression, Parekbase etc. verzichtet interessanterweise nicht auf die Koppelung des Schönen an das Organische. Pointiert ausgedrückt: In Form der Arabeske und Groteske werden die organischen Monstren seriell eingesetzt, aber im Sinne einer Rahmung de Schönen, nicht im Sinne seines Gegenteils. 20  Vgl. Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart. Frankfurt a. M. 1995. 21  Vgl. Christian Begemann und David Wellberry: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Zeugung in der Neuzeit. Freiburg i. B. 2002; Helmut Müller-Sievers: Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts. Paderborn u. a. 1993.



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Abwegigen – in der Poetik, wie gezeigt, von ihren Aristotelischen Anfängen an, in der Medizin und Protobiologie spätestens seit der Ausbildung einer neuen pathologischen Anatomie mit Johann Friedrich Meckel.22 Infolge der Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über Monster verändert sich offenbar auch der tägliche Umgang mit Monstrositäten, wie ein Vergleich historischer Lexikoneinträge nahelegt. Nach Frisch (1741) sind Ungeheuer noch „sonderlich der grösse nach“23 bestimmt, nach Adelung (1793–1801) „ein ding, welches wegen seiner grösze furcht und entsetzen verursacht“.24 Der Brockhaus-Vorläufer ConversationsLexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch (1809) bestimmt als Ungeheuer furchterregende Figuren wie Sphinx und Minotaurus und im metaphorischen Sinne Caligula und Marat.25 Grimms Deutsches Wörterbuch definiert Ungeheuer als „des lat. monstrum, prodigium und ihrer neusprachlichen entsprechungen“ zunächst folgendermaßen: „ein gespenstisches, unheimliches wesen, auch als unförmlich, riesig, gräszlich u. ä. vorgestellt“ das sich „lat. definitionen von monstrum […] näherte“.26 In einer Nebenbedeutung gibt das Wörterbuch allerdings auch eine gegenläufige Tendenz an, die mit Foucaults psychiatriegeschichtlicher Hypothese einer Banalisierung des Monsters korrespondiert: „doch bleibt die regel, dasz u.[ngeheuer] eigentlich nur scherzhaft, übertragen oder bildlich von einer miszbildung, einem wechselbalg, bastard, ungethüm, unding, unsinn, einer abgeschmacktheit, wunderlichkeit u.dgl. gesagt wird.“ Der mythische Begriff des Ungeheuers ist „dem denken der aufklärung gewichen“. Zurück bleibt ein paradoxer Verwendungszusammenhang: „Ungeheuer“ und „Monster“ sind Phantasieworte ohne Gegenstück in der Realität, die dennoch intensive Vorstellungen des Entsetzlichen evozieren. Diese Evokation wiederum wird gebrochen durch den Unernst der Verwendung, das Ungeheure degradiert zu einer Metapher für höchst alltägliche Abweichungen.

22  Zum Begriff der pathologischen Anatomie vgl. Axel Bauer: Die Formierung der Pathologischen Anatomie als naturwissenschaftliche Disziplin und ihre Institutionalisierung an den deutschsprachigen Universitäten im neunzehnten Jahrhundert. In: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 10 (1992). S. 315–330; Thomas Hoyt Broman: The Transformation of German Academic Medicine. 1750– 1820. Cambridge 1996. 23  Teutsch-Lateinisches Wörterbuch. Hg. v. Johann Leonhard Frisch. Berlin 1741. 24  Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Hg. von Johann Christoph Adelung. Berlin 1813. 25  Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch, Hg. v. Renatus Gotthelf Löbel und Christian Wilhelm Franke. Leipzig 1809. 26  Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin (Nachdruck München 1984).

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2.2 P  athologische Anatomie (Jean Paul und Johann Friedrich Meckel) Werden im Sprachgebrauch Monster und Ungeheuer als übertreibend-komische Umschreibung des leicht Abweichenden banalisiert, so erfahren sie in den Lebenswissen­ schaften eine deutliche epistemische Aufwertung. „Monstruosités“ werden im Artikel des Dictionnaire des Sciences Médicales (1812) über eine epistemologische Funktion bestimmt, die Francis Bacons Bestimmung sehr ähnlich ist: Monstrositäten verleihen demnach Aufschluss „sur le mécanisme de la génération, et sur la série des développements par lesquels passent tout l’être et chacune parties de son corps particulier.“27 Noch deutlicher als dieser Eintrag dokumentiert den Wandel in der Funktion von Missbildungen die Herausbildung einer eigenständigen Disziplin: Der medizinischen Teratologie, der Isidore Geoffroy St. Hilaire freilich erst im Jahre 1832 ihren Namen gibt. Die Verbindung von „Wunderzeichen“ und „Wissenschaft“ reflektiert den selbstbewussten Versuch, mythische Monster in die wissenschaftlich erklärbare Welt zu integrieren. Die Anfänge der medizinischen Teratologie hat Jean Paul, nach Friedrich Schlegel führender Autor des Grotesken um die Jahrhundertwende28, in seiner Satire Dr. Katzenbergers Badereise parodiert. Dr. Katzenberger, misanthroper Anatom und Monstrositätensammler, macht seiner Tochter eine Reihe bemerkenswerter Eröffnungen: Geheiratet hätte er am liebsten eine Missgeburt, und da ihre Mutter leider keine physischen Deformationen aufgewiesen habe, habe er doch sehr gehofft, wenigstens ein monströses Kind zu zeugen. Er folgt Lavaters (wissenschaftlich bereits obsoleter) Hypothese, dass Missbildungen des Embryos durch starke Schreckerlebnisse der Mutter hervorgerufen werden können, und gibt zu, „daß ich an deiner seligen Mutter während ihrer guten Hoffnung eben nicht sehr darauf dachte, aufrechte Tanzbären, Affen oder kleine Schrecken und meine Kabinetts-Pretiosen fern von ihr zu halten“.29. Katzenberger erwirbt im Folgenden quasi durch einen Raubüberfall einen toten achtfüßigen Hasen, vivisektiert die Hauskatze seiner Wirtin und erläutert einer ganzen Abendgesellschaft seine Phantasie, selbst als „als verzerrter Flügelmann und monst-

27  Dictionnaire des Sciences Médicales. Hg. v. Nicolas Philibert Adelon. Paris 1812. 28  Schlegel räumt Jean Paul zwar unter den Autoren des Grotesken seiner Zeit den ersten Rang ein und stellt ihn in die Tradition von Cervantes, Stern und Diderot, vergiftet dieses Lob aber erheblich: „Sein Schmuck besteht in bleiernen Arabesken im Nürnberger Styl. Hier ist die an Armut grenzende Monotonie seiner Fantasie und seines Geistes am auffallendsten: aber hier ist auch seine anziehende Schwerfälligkeit zu Hause, und seine pikante Geschmacklosigkeit, an der nur das zu tadeln ist, daß er nicht um sie zu wissen scheint.“ (Athenäumsfragment 421, KFSA II, S. 247). Die Abgrenzung von Jean Pauls Groteske zur frühromantischen Arabeske müsste nach Schlegel entlang dieser Trennlinie gezogen werden: Erst das Bewusstsein um die eigene Geschmacklosigkeit, also eine ironisch-selbstreferentielle Brechung, macht groteske Kunst arabesk im emphatischen Sinne. 29  Jean Paul: Werke. Abt. I. Bd. 6. Darmstadt 2000. S. 135.



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röses Muster“ geboren worden zu sein.30 Er hält außerdem eine Theorie des Monströsen bereit, die sich ausgerechnet auf die Metapher des body politic stützt: Alles Leben, auch nur einer Minute, hat ewige Gesetze hinter sich; und ein Monstrum ist bloß ein Gesetzbuch mehrerer föderativen Staatkörperchen auf einmal; auch die unregelmäßigste Gestalt bildete sich nach den regelmäßigsten Gesetzen (unregelmäßige Regeln sind Unsinn). Eben darum könnte aber aus Mißgeburten als den höhern Haruspizien oder passiven Blutzeugen bei geschickter Zergliederung mehr Einsicht gewonnen worden sein als aus allem Alltagvieh.31 Jean Pauls Beschreibung illustriert einerseits den Bedeutungswandel der Missbildungen von einer irrelevanten Kuriosität zu einem Forschungsobjekt, das gerade durch seinen abweichenden Charakter Aufschluss über die Gesetze der Natur verleiht. Andererseits karikiert sie die neue wissenschaftliche Obsession mit grotesken Körperformen – die allerdings wiederum der Obsessivität, mit der seine eigenen Schriften groteske Gegenstände privilegieren, nicht unähnlich ist. Angesprochen fühlte sich durch die Figur des Dr. Katzenberger offenbar Johann Friedrich Meckel, Ordinarius für Anatomie, pathologische Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe an der Universität Halle. Es kommt zu einem bissigen Widmungsaustausch, den Jean Paul in der zweiten Auflage seiner Satire festhält.32

Die komischen Effekte eines wechselseitigen Misstrauens zwischen Literatur und ­Medizin, die Jean Paul auf der Ebene seiner Erzählung inszeniert, erhalten hier ein Gegenstück in der Wirklichkeit. Tatsächlich sind die Parallelen zwischen Meckel und Katzenberger zahlreich. Meckels Sammlung anatomischer Präparate enthält die größte zeitgenössische Kollektion von Missbildungen und umfasst im Jahre 1830 etwa 12.000 Exemplare.33 Das Verhältnis seiner Familie zu Missbildungen muss als speziell bezeichnet werden: Meckels Vater verfügt per Testament, dass seine Leiche abgekocht und skelettiert wird – eine Aufgabe, die nach seinem Tod dem Sohn zufällt. Kondolenzbesucher werden von Meckels Tochter abgewiesen mit der Aussage: „Sie kochen

30  Vgl. Elena Agazzi: Teratologisches Vergnügen bei Jean Paul. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-Schlegel-Gesellschaft 5 (1995). S. 43–55. 31  Jean Paul, Werke 6, S. 166. 32  „So konnt’ ich in der ersten [Auflage] dieses Werks gar nicht die schöne Nachricht mitteilen, daß der berühmte Zergliederer Johann Friedrich Meckel in Halle […] – mir im Jahr 1815 seinen de duplicitate monstrosa commentarium nicht nur geschenkt, sondern auch zugeeignet, und zwar in einem schönern Latein, als ich noch erlernen kann. […] Und hiemit erhalte Meckel nach dem geschriebnen Dank auch den gedruckten für sein Foliobändchen über den organischen Dualis oder die monströse Doppelheit, die an Körpern ebenso selten als widrig ist, indes die häufigere Doppelheit an Seelen weit angenehmer wirkt und sich auf die Zunge einschränkt durch Doppelzüngigkeit, Doppelsinn u. s. w.“ Jean Paul, Werke 6, S. 135–136. 33  Nicht alle dieser Exponate weisen Missbildungen auf. Ein erheblicher Teil der Sammlung kann noch heute in Halle besichtigt werden, vgl. den Internetauftritt der Sammlung unter www.meckelsche-sammlungen.de.

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gerade Papa“. Die Skelettierung des Vaters verläuft insofern erfreulich, als eine seltene Missbildung, nämlich ein dreizehnter Brustwirbel, festgestellt werden kann.34 Auch Meckels eigene, zahl- und einflussreiche wissenschaftliche ­Publikationen kreisen beständig um die Frage nach der Entstehung abnormer Körperformen. Zwei grundsätzliche Annahmen bestimmen sein System der Vergleichenden Anatomie. Das „Gesetz der Mannichfaltigkeit“ besagt, dass Lebewesen jeweils aus verschiedenen Subsystemen bestehen (wie etwa Muskeln, Nerven, Knochen) und im Verhältnis zu­ einander in heterogene Arten, Gattungen und Ordnungen gegliedert sind. Das „Gesetz der Identität, der Analogie oder der Reduction“ besagt, dass Strukturmerkmale unterschiedlicher Organismen aufeinander rückführbar und miteinander vergleichbar sind.35 Heterogen sind Organismen bezüglich der Formen ihrer Körperteile und deren Funktionen, gemeinsam ist ihnen die „Identität der Kraft, welche alle thierischen Bildungen hervorruft und beseelt“.36 Die Mannigfaltigkeit der körperlichen ­Erscheinungen auf übergreifend gültige Gesetze zu untersuchen, ist nach Meckel ­Aufgabe der vergleichenden Anatomie. Unterschieden werden dabei „regelmäßiger Zustand“ des Organismus37 und „regelwidriger Zustand“, wobei letzterer „verhältnismäßsig nicht selten“ auftritt, „sowohl ursprünglich als früher oder später im Laufe des Lebens“.38 Meckel interessiert sich primär für die ursprüng­lichen, d. h. angeborenen Abweichungen von der Regel. Sie werden systematisiert nach ihrer äußeren ­Erscheinungsform in „Classen ursprünglicher Abweichungen vom Normal“39: Abweichungen der Konfiguration oder des Umrisses (also der Form), Abweichungen der Lage, Abweichungen der Zahl, Abweichungen der Größe und Abweichungen der Färbung. Seine eingehende Analyse dieser Abweichungstypen und ihrer Ursachen rechtfertigt Meckel mit Blick auf ihre Nützlichkeit für das Auffinden gültiger Gesetze der Bildung regelkonformer Organismen: „Ja in der That leiten zu manchen [Gesetzen der Körperbildung] fast nnr [sic] die Bildungsabweichungen, oder dienen wenigstens ­auffallend zu ihrer Bestätigung“.40 Entsprechend zentral sind Analysen von Bildungs­ abweichungen für Meckels System der vergleichenden Anatomie. Die Begriffe Regelwidrigkeit, Abweichung, Missbildung, Bildungshemmung auf der einen und Gesetzmäßigkeit, Regel, Normal und Norm auf der anderen Seite strukturieren den gesamten

34  Vgl. Helmke Schierhorn: Johann Friedrich Meckel d. J. als Begründer der wissenschaftlichen ­Teratologie. In: Gegenbaurs morphologisches Jahrbuch. Nr. 130 (1984). S. 399–439. Vgl. auch Zürcher, Monster oder Laune der Natur, S. 409. 35  Johann Friedrich Meckel: System der vergleichenden Anatomie. Erster Theil. Allgemeine Anatomie. Halle 1821. Vorrede, S. VIII. 36  Meckel, System, S. 474. 37  Meckel, System, S. 36. 38  Meckel, System, S. 317. 39  Meckel, System, S. 321. 40  Meckel, System, Vorrede, S. IX.



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Text.41 Was Meckel im System der vergleichenden Anatomie theoretisch festlegt, wird im Archiv für Anatomie und Physiologie, dessen Herausgeber er selbst ist, praktisch umgesetzt. Vor allem in den früheren Ausgaben der Zeitschrift42 verhandelt nahezu jeder zweite Beitrag Bildungsabweichungen. Am häufigsten tauchen in den Beiträgen des Archivs Anomalien von Umfang und Form auf: „die untere Hälfte des Unterleibs zu eng“ heißt es oder: „[Es] fehlte der Daumen beider Hände ohne die geringste Spur“. Die Analysen konstatieren durchgängig Abwesenheit oder technische Defizienz: „verbildet“, „zu kurz, breit und platt“, „zu beweglich“. Stärker noch ist das semantische Feld verletzter Ordnung an einer Anomalie der Anordnung festzustellen, wenn es heißt, die „Lage des Blinddarms in der Magengegend ist regelwidrig“, „an der gewöhnlichen Stelle weiblicher Zeugungsorgane fand sich blos“, „Die Bildung der Genitalien ist regelwidrig“, oder: „der gesetzliche Schwangerschaftstermin wurde nicht eingehalten“. Die mangelnde Regelhaftigkeit der Missbildungen wird erklärt als unvollständige Ausbildung oder als Regression auf ein früheres Entwicklungsstadium: „Die Missgeburt entsteht dann dadurch, daß diese Organe sich nicht auf die gewöhnliche Weise fortentwickeln.“ Regelabweichungen erklärt Meckel fast durchgängig als Resultate einer Bildungshemmung43, also über die wiederum epigenetische Vorstellung, dass eine artenübergreifend tätige Triebkraft stets gleiche Formen schafft. Ist sie in einem Organismus zu gering ausgeprägt, so ergibt sich ein Stehenbleiben auf einer niedrigeren Stufe der Entwicklung der Arten, so dass Regelabweichungen innerhalb einer Gattung häufig Regelhaftigkeiten in einer anderen entsprechen. So sind Zwittergeburten bei Säugetieren Ausdruck einer Einheit der Geschlechter auf niedrigeren Bildungsstufen. Der seltenere Fall zu stark ausgeprägter Bildungskraft zeitigt als ­Ergebnis etwa die Verdopplung von Gliedmaßen. Diese Missbildungen stellen eine „weitere Ausbildung“ regelmäßiger Bildungsformen dar, häufig einfach „Wieder­ holungen“ derselben.44 Auffällig ist die durchgängige Zurückhaltung in der Verwendung des Substantivs „monstrum“ in den Archiv-Beiträgen. Monstrosität, Missbildung und Bildungsab­

41  Analog verhält es sich mit „norma“ und „monstrositas“ in Meckels lateinischen Texten. Vgl. Johann Friedrich Meckel: Descriptio monstrorum nonnullorum com corrollariis anatomico-physiologicis. Leipzig 1826. S. 96. 42  Die Zitate stammen aus folgenden Beiträgen: Karl Ernst von Baer: Über einen Doppel-Embryo vom Huhne aus dem Anfange des dritten Tages der Bebrütung. In: Archiv für Anatomie und Physiologie. Hg. von Johann Friedrich Meckel. Heft 4. Jahrgang 1827. S. 576–586; Georg Jaeger: Beschreibung zweier durch eigenthümliche Bildungsabweichungen, insbesondere durch Verkürzung der Füsse, ausgezeichnete Zwergkälber. Ebd. S. 586–598. Ders.: Zwei Beispiele missgebildeter Krebsscheren. ­Archiv Jg. 1826. Heft 1. S. 95–96; August Albrecht Meckel: Monströse Larve eines Fötus. In: Archiv, Jahrgang 1828. Heft 1. S. 149–155; Ludwig Cerrutti: Beschreibung einer seltenen Missgeburt, welche sich in der Sammlung des anatomischen Theaters zu Leipzig befindet. Ebd., 2. Heft. S. 192–207. 43  Meckel, System, S. 328. 44  Meckel, System, S. 425–426.

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 Teratologische Folgerungen

weichung sind als Begriffe omnipräsent, Monster dagegen kommen nur selten vor. Im Zentrum der Beobachtung stehen nicht exzeptionelle Organismen, sondern einzelne Fehlbildungen an sonst intakten Körpern. Die Fehlbildungen sind meist nicht einmal äußerlich sichtbar, etwa wenn sie die Lage oder Form von Organen betreffen. Monstrosität ist in der pathologischen Anatomie meist unsichtbar und nur durch Sektion erschließbar, sie stellt also ein Geheimnis des Organismus dar, das erst die wissenschaftliche Untersuchung sichtbar macht. Poetologisch sind die Fallstudien des Archivs in mehrfacher Hinsicht als „Beschreibungen“ interessant: Auf gattungspoetischer Ebene lässt sich, erstens, eine starke Korrelation von Wissensobjekt und standardisierter Darstellungsform erkennen. Die Form der Fallstudie ist stark fixiert: Angeführt werden in der gleichen Reihenfolge Zeit- und Ortsangaben, Verbindung des vorliegenden Falls zu missgebildeten Verwandten, Abgleich mit möglichen anderen Studien­ objekten oder älteren Fallstudien. Die Aussagen laienhafter Finder und beteiligter Eltern werden in manchen Fällen zitiert, dabei aber jeweils kein Zweifel daran gelassen, dass sie zur Analyse des Gegenstands nicht beitragen, zumeist schon deshalb, weil sie das falsche Vokabular verwenden. Anschließend wird das Ergebnis der S ­ ektion angegeben, eine Klassifikation vorgenommen und, gegebenenfalls, eine abschließende theoretische Erwägung zu übergeordneten Problemen angestellt. Meckel verrät in einer seiner Studien, dass dieser letzte Schritt geradezu die Motivation für alle anderen darstellt, wenn er beklagt, dass sich aufgrund der schlechten Zugänglichkeit von Informationen ein Zusammenhang zwischen anatomischer Anomalie und auftretender Funktionsstörungen nicht immer herstellen ließe: „Kein Anatom wird sich gern mit dem bloßen Befunde begnügen“.45 Die Form der Fallstudie gibt eine Reihenfolge der Schlussmuster vor – in der Klassifikation wird Besonderes unter Allgemeines subsumiert, in der Schlussbetrachtung vom Besonderen auf Allgemeineres geschlossen. Diese Reihenfolge und die Marginalisierung „bloßer Befunde“ machen aus der abschließenden Reflexion geradezu eine berufsethische Verpflichtung, auch dann, wenn der Titel der Studie sie als „Beschreibung“ ausweist. Das Format der Beschreibung impliziert weiterhin eine Remodellierung der Affekte im Umgang mit monströsen Formen: Dem Leiden der Kreatur wird eine sachliche medizinische Erzähl­instanz gegenübergestellt. Mutmaßen ließe sich, dass die Angehörigen menschlicher Missbildungen auch deshalb mitunter zu Wort kommen, um diesen sachlichen Habitus durch Kontrast zu verdeutlichen. Aus den Beschreibungen allerdings ist jedes Ausrufezeichen, jeder Superlativ und jeder Skandal entfernt. Die Affekte, die den Umgang mit Missbildungen jahrtausendelang bestimmt haben46, Angst, Ekel, Ehrfurcht oder auch neugieriges Staunen, werden in den Fallstudien zum Verschwinden gebracht. Dem beschreibenden Gestus widersprechen allerdings das semantische Feld der ­verletzten Ordnung, die Metaphern des Rechtsbruchs oder der Gesetzesübertretung.

45  Meckel, Beschreibung, S. 2. 46  Vgl. Kapitel 1 dieser Arbeit.



Pathologische Anatomie (Jean Paul und Johann Friedrich Meckel)  

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Der Ordnungsverstoß, den die jeweilige Missbildung darstellt, wird durchaus als solcher ausgewiesen. Markante Verstöße gegen Naturgesetze scheinen, bei aller wissenschaftlicher Deskriptivität, das gleiche normative Vokabular zu provozieren, wie es sich in der Sanktionierung kultureller Normen findet. Die Tatsache, dass Missbildungen durch Meckel als notwendige Instrumente der Rekonstruktion von Funktionsweisen des Normalorganismus ausgewiesen werden – strenggenommen also der normale Organismus erst in der Abgrenzung zur Missbildung sichtbar wird – konfligiert sichtbar mit der Tatsache, dass Missbildungen nur als Verstoß gegen gerade diese noch nicht bekannten Gesetze beschreibbar sind. Einen solchen wechselseitigen Erklärungszusammenhang von Monstrosität und Normalität thematisiert Meckel nicht explizit. Vielmehr ist der epistemologische Status der Monstrositäten zunächst eindeutig: Sie dienen der gesteigerten Erkenntnis des Normalen. Das emphatische Anliegen der Anatomen um Meckel ist die Rekonstruktion eines biologischen Regelwerks anhand der Fallstudien seines Versagens, zunächst nicht die Missbildung selbst. Dennoch wird sie epistemologisch aufgewertet, wie einerseits die bloße Anzahl wissenschaftlicher Publikationen beweist, andererseits ihre besondere Stellung im Verhältnis zu Arten, Gattungen und Ordnungen: So entstehen noch jetzt durch zufällige Verstümmelungen einzelner Organismen bleibende Racenverschiedenheiten, Bildungsabweichungen […] werden in Familien einheimisch und so eine Menge neuer Formen bleibend erhalten.47

Bildungsabweichungen stellen, bei Überlebensfähigkeit des Organismus, die Grundlage zu Gattungsveränderungen und ggf. sogar zur Entstehung neuer Arten dar. Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen regelmäßigen und regelwidrigen Entwicklungen wird damit prekär. Meckel verkündet gegen Ende des Systems, „die Kluft zwischen den regelwidrigen und regelmäßsigen Bildungen bedeutend vermindert“48 zu haben. Die Phänomene des Abweichenden, die die Norm erklären sollen, müssen eine Normalvorstellung ihrer selbst enthalten und „erscheinen also an ein gewisses Gesetz gebunden“, es muss mithin „Arten, Gattungen, Ordnungen und Classen von Bildungsabweichungen“ geben49, für die wiederum bestimmte Gesetze gelten müssen. Das Verhältnis von anatomischer Norm und Missbildung ist auch hier komplexer als das eines Beobachtungsgegenstandes zu einem Beobachtungsinstrument. Monstro­ sitäten, die aus der Norm herausfallen und gerade deshalb operationalisierbar sind zur Darstellung ihrer Umrisse und Gesetzmäßigkeiten, werden ihrerseits auf eine ­Normalvorstellung zurückgeführt. Die Gesetzmäßigkeiten dieses neuen Normals der ­Abweichung wiederum müssen strukturell vergleichbar sein mit denjenigen Gesetz­

47  Meckel, System, S. 329. 48  Meckel, System, S. 468. 49  Meckel, System, S. 418–419.

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mäßigkeiten, die die Normalvorstellungen des Normalen beherrschen – wie Jean Paul sagt, müssen auch Gesetze für Unregelmäßigkeiten regelmäßige Gesetze sein. Die Rückführung regelwidriger auf regelmäßige Mannigfaltigkeit impliziert also die Möglichkeit einer Umkehrung des Erklärungsverhältnisses, wie Meckels Erklärung von Zwitterbildungen nahelegt: Die Regelwidrigkeiten der Geschlechtsverschiedenheit, die man mit dem allgemeinen Namen der Zwitterbildungen belegen kann, lassen sich auf den regelmäßsigen Bildungstypus zurückführen und aus ihm erklären.50

Hier stellen deutlich Missbildungen den Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung dar, und als Instrument ihrer Erklärung werden die Gesetzmäßigkeiten der regel­ mäßigen Mannigfaltigkeit angeführt – in diesem Fall die Einheit der Geschlechter auf niedrigeren Entwicklungsstufen. Norm und Abweichung treten in ein wechsel­seitiges Erklärungsverhältnis.51 Verunsichert werden damit die Unterscheidungen zwischen Gattung und Abweichungen wie auch zwischen den einzelnen Gattungen: In einer Untersuchung zu Darm-Divertikeln konstatiert Meckel, Missbildungen stellten „häufig die überraschendste Übereinstimmung mit Thierbildungen dar, welche den Arten, bey denen sie vorkommen, das ganze Leben hindurch im Normalzustande zu­kom­ men“.52 Er insistiert allerdings zugleich mit der epistemischen Aufwertung der Missbildungen auf ihre Rückführbarkeit und die Notwendigkeit ihrer Rückführung auf das „Normal“. Er bemüht sich um eine „Zurückführung der regelwidrigen Mannichfaltigkeit auf die regelmäßsige“53, die eine analoge Analyse von Bildungsabweichungen und Gattungen ermöglicht, aber zwangläufig ihre sukzessive Annäherung impliziert. Eine klare Abgrenzung beider wird damit unmöglich: So gibt er schon im Handbuch der pathologischen Anatomie an, dass sich zwischen beiden „keine solche Gränze finden lässt“.54 Sein Anliegen in Bezug auf die Missbildungen bleibt aber nominell das einer pathologischen Anatomie: Abweichungen sind Gegenstände der Wissenschaft primär deshalb, weil sie zur gesteigerten Erkenntnis normaler anatomischer Mannigfaltigkeit beitragen. Worin dieses abstrakte Desiderat einer gesteigerten Erkenntnis der Normalana­ tomie durch das Studium von Missbildungen bestehen kann, veranschaulicht eine

50  Meckel, System, S. 440. 51  In der Terminologie Jürgen Links lässt sich auch diese Beobachtung im Rahmen der historischen Formation eines „flexiblen Protonormalismus“ beschreiben. Der vorliegenden Arbeit geht es aber, in Abgrenzung zu Links Projekt, nicht um die Feststellung eines historischen Begriffs des „Normals“, sondern um die epistemische Funktion der Abweichung. Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 2006. S. 154–155. 52  Meckel, Divertikel, S. 422. 53  Meckel, System, S. 418. 54  Johann Friedrich Meckel: Handbuch der pathologischen Anatomie. Bd. 2.1. Leipzig 1812. S. 12.



Teratologie (Johann Friedrich Meckel und Étienne Geoffroy St. Hilaire) 

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beispielhafte teratologische Studie Meckels, in der er sein Erkenntnisinteresse an Missbildungen als gleichzeitig lustbesetzt und rein instrumentell bezeichnet: Angeborne Abweichungen von der gewöhnlichen Form sind schon insofern höchst anziehend, als sie sehr häufig, namentlich wenn sie Hemmungsbildungen sind, den regelmäßsigen Bildungsgang auffallend erläutern, und, auch wenn ihr Wesen kein Stehenbleiben auf einer früheren Bildungsstufe ist, auf mehr als eine Weise die Gesetze der thierischen Form begründen und feststellen.55

Die mit diesen Überlegungen eingeleitete Fallstudie ist eine beispielhafte Rekonstruktion von Normalfunktionen aus der Beobachtung radikaler Abweichung. Der männ­ liche Fötus weist Hasenscharte, Wolfsrachen, fast vollständige Verschließung der Vorhaut, Verwachsung der Nieren und „ungeheure Ausdehnung der Harnblase und der Harnleiter“56 auf, weiterhin Deplatzierung von Hoden und Blinddarm und eine markante Deformation der Leber. Meckel schließt auf eine Bildungshemmung und sieht sich vor allem durch die Tatsache, dass weit voneinander entfernte Körperteile ein Verharren auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe nahelegen, bestätigt. Rückschlüsse auf die Entwicklung von Embryonen lässt der Fall deshalb zu, weil Meckel die un­ gewöhnliche Form und Länge der Harnleiter und Harnblase auf mechanische Verän­ derungen in Folge der Vorhautverengung erklären kann. Deformation von Harnleiter und Harnblase sind Folgen ausbleibender Harntätigkeit. Belegt wird damit die Hypothese, „dass der Fötus, wenigstens der menschliche, wirklich harnt, und also ein Theil des Fruchtwassers wirklich Excrement und namentlich Harn ist“.57 Eine Hypothese über die unsichtbaren Funktionen des Normalorganismus, zu deren Verifizierung anhand eines intakten Körpers die wissenschaftlichen Möglichkeiten fehlen, kann also belegt werden, indem im Fall der Abweichung elementare Funktionen gestört sind und die Störungen, die sie hervorrufen, sichtbar werden. Dies ist die epistemische Funktion der sichtbaren Missbildung in der pathologischen Anatomie: Sie ist das ­Negativ eines unsichtbaren Normals.

2.3 T  eratologie (Johann Friedrich Meckel und Étienne Geoffroy St. Hilaire) Gerade diese epistemische Funktion und mittelbar den epistemologischen Status des Monströsen thematisiert eine Auseinandersetzung Meckels mit dem Pariser Zoologen Étienne Geoffroy St. Hilaire im Jahrgang 1827 des Archivs für Anatomie und Physio­

55  Johann Friedrich Meckel: Beschreibung einer merkwürdigen Mißgeburt. Deutsches Archiv für die Physiologie 7 (1822). S. 1–16. Hier: S. 1 56  Meckel, Beschreibung, S. 3 57  Meckel, Beschreibung, S. 8.

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logie. Geoffroy St. Hilaire ist in die Wissenschaftsgeschichte vor allem eingegangen durch sein Konzept einer einheitlichen Grundorganisation aller Organismen („unité de plan“ oder auch „unité de composition“), das er erstmals in seiner Philosophie anatomique (1818) ausarbeitet und im Pariser Akademiestreit des Jahres 1830 gegenüber Cuvier behauptet. In Abgrenzung zu Cuvier geht seine Zoologie nicht primär von funktionalen Zuschreibungen an einzelne Organe einzelner Lebewesen aus, sondern von der Idee einer morphologischen Ähnlichkeit aller Lebewesen, die er anhand von Analogien aufzeigt.58 Entsprechend gilt sein Interesse nicht primär, wie das Cuviers, einer Unterscheidung der Arten, sondern ihren Gemeinsamkeiten und Übergängen. Vor allem in Deutschland wird er für seine Stellungnahme gefeiert, Goethe rühmt Geoffroys Verdienste „um die Analogien der Geschöpfe und ihre geheimnisvollen Verwandtschaften“59, die er in der Tradition einer deutschen „genetischen Denk­ weise“60 sieht. Geoffroys Auseinandersetzung mit Meckel drei Jahre zuvor weist ihn allerdings keineswegs als den „Alliierten“ deutschen naturphilosophischen Denkens aus, als den ihn Goethe vereinnahmen möchte und als der er in der Medizingeschichte gehandelt wird.61 Geoffroy tritt mit nationalistischem Pathos Meckels Versuch entgegen, „Frankreich eine Lehre zu geben“62, wobei Meckel diese Absicht kaum unterstellt werden kann. Überhaupt überlagern sich in der Diskussion im Archiv mehrere Ebenen der Auseinandersetzung: Neben der ideologischen Frage nach den Vorzügen deutscher und französischer Wissenschaft und diversen universitätspolitischen Streitigkeiten kann wohl auch die Frage, ob Meckel den Begriff der Bildungshemmung von Geoffroy übernimmt oder umgekehrt, hier vernachlässigt werden. Eine absurde Note erhält die Debatte dadurch, dass beide versuchen, sich als Nachfolger ihres Gegners zu präsentieren – Geoffroy mit Blick auf antiquierte metaphysische Grundannahmen Meckels, Meckel unter Verweis auf das höhere Alter Geoffroys. Drei im engeren Sinne akademische Ebenen der Auseinandersetzung lassen sich unterscheiden: Verhandelt wird erstens die Existenz präformierter Keime, zweitens die künstliche Produzierbarkeit

58  Vgl. Toby Anita Appel: The Cuvier-Geoffroy Debate. French Biology in the Decades before Darwin. New York u. a. 1987. 59 Johann Wolfgang Goethe: Principes de philosophie zoologique. HA 13, S. 220. 60  Ebd., S. 250. Zu Goethes Kommentierung der Auseinandersetzung vgl. Dorothea Kuhn: Empirische und ideelle Wirklichkeit. Studien über Goethes Kritik des französischen Akademiestreits. Graz 1967. 61  Urs Zürchers Studie etwa greift Goethes Vereinnahmung auf, wenn sie Geoffroys Denken „in der deutschen Naturphilosophie eines Kant, Fichte und Schelling“ gegründet sieht und ihr den „Trost der romantischen Naturphilosophie“ attestiert. Vgl. Zürcher, Monster oder Laune der Natur, S. 158. 62  Étienne Geoffroy St. Hilaire: Rapport sur plusieurs Monstruosités humaines anencéphaliques, fait à l’Académie Royale des Sciences le 5 février 1827. In: Revue médicale française et étrangère et journal de clinique de l’Hôtel-Dieu, de la Charité et des grands hôpitaux de Paris (1827). S. 269–283. Hier: S. 282.



Teratologie (Johann Friedrich Meckel und Étienne Geoffroy St. Hilaire)  

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von Missbildungen und drittens der epistemische Status derselben. Geoffroy erstattet, zunächst in der Revue Médicale, einen Bericht über drei Fälle hirnloser menschlicher Missgeburten, die Meckel ins Archiv für Anatomie und Physiologie aufnimmt und selbst übersetzt.63 Geoffroy lobt eingangs Vincent Portal, der ihm neben einer Beschreibung der Missgeburten auch Präparate der letztgeborenen einreicht, als einen Kenner auf dem Gebiet der Bildungsabweichungen und zitiert ihn mit den Worten, früher hätten Missbildungen ein bedeutendes Unglück für die betroffene Familie dargestellt, dank der Forschungen Meckel und Geoffroys erschienen sie nun „in einem ganz anderen Lichte“.64 Die vorgelegte Beschreibung bezieht sich auf drei innerhalb von fünfzig Jahren am gleichen Ort zur Welt gekommene Neugeborene. Zu den ersten beiden liegen Beschreibungen, vom dritten zusätzlich präparierte Körperteile zur Untersuchung vor. Auch die Beschreibung lobt Geoffroy mehrfach als „lebendigen Abdruck des gegen­ wärthigen Zustandes der Lehre von den Missbildungen“, die belegt, „dass man sich nicht mehr an blosse trockene Beschreibungen hält“.65 Sie überwindet damit „Unvollkommenheiten und zu allgemeine Folgerungen“ früherer Arbeiten Meckels. Diese Vor­lage nutzt Geoffroy, um eine Replik auf Meckels Kritik seiner Philosophie Anatomique zu platzieren. Eine Meinungsverschiedenheit macht er zunächst in der Interpretation der Entwicklungshemmung aus: Er selbst versteht sie als prinzipiell mechanisch verursachte Störung der Entwicklung, Meckel dagegen (in Geoffroys Darstellung) als Ausdruck ursprünglich missgebildeter Keime. Gerade diesen Ausdruck greift Geoffroy an: Quant au fond de la question, je répète que je ne comprends point ce qui signifient les mots germes primitivement monstrueux. Que ceux qui admettent la préexistence des germes croient à une organisation vicieusement et originairement arrangée, ils sont conséquens à des principes, à des vues à priori qui ont long-temps dominé dans la science.66

Diese Kritik an ursprünglich missgebildeten Keimen („germes primitivement monstrueux“) reiht sich nur scheinbar in die Tradition der Auseinandersetzung um Präfor-

63  Meckels Übersetzung ist knapp, bisweilen leicht verkürzend, aber nicht manipulativ. Étienne Geoffroy St. Hilaire: Bericht über mehrere menschliche hirnlose Missgeburten, am 5. Februar 1827 an die königliche Akademie der Wissenschaften abgestattet. In: Archiv für Anatomie und Physiologie. Hg. von Johann Friedrich Meckel. Jahrgang 1827, erstes Heft. S. 322–328. 64  Geoffroy, Rapport, S. 270. Auch hier darf natürlich bezweifelt werden, dass die Geburt eines acephalen Kindes durch das Wirken Meckels und Geoffroys für die betroffene Familie kein Unglück mehr darstellt. 65  „Il nous montre que on ne s’en tient plus à de simples et sèches descriptions“. Rapport, S. 276. 66  Geoffroy, Rapport, S. 279; in Meckels Übersetzung auf S. 311: „Hinsichtlich der Sache wiederhole ich, dass ich den Sinn des Ausdrucks „ursprünglich fehlerhafter Keim“ nicht verstehe. Wenn die, welche an präexistierende Keime glauben, eine ursprünglich fehlerhafte Bildung annehmen, so sind sie consequent in Grundsätzen und apriorischen Ansichten, die lange in der Wissenschaft geherrscht haben.“

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mations- und Epigenesistheorie. Die Existenz präformierter Keime als Frage des „Glaubens“, nämlich als alleinige Erklärung von körperlichen Fehlbildungen an Menschen und Tieren, wie sie etwa Haller noch annimmt, lehnen beide Autoren ab, so dass Meckel zu Recht in seiner Replik auf ein „Missverständnis“67 hinweist. Meckel lässt sie aber als Erklärung einiger Fälle von Missbildung zu, so in Bezug auf Doppelbildungen. Geoffroys Kritik reicht sehr viel weiter: So greift er fast nebenbei auch die zentrale Grundannahme der Epigenesistheorie an, nämlich die eines elementaren Bildungstriebs, auf die sich auch Meckels Handbuch und System berufen: Les termes energia plastica, vis formativa, vis vitalis, n’ont aucun sens pour mon esprit, et je ne suis pas sans regretter d’avoir même employé l’expression de nisus formativus, bien que j’eusse pris la précaution d’en fixer le sens pour mon application particulière.68

Streitpunkt ist also nicht das jeweilige Modell der Entstehung von Missbildungen, sondern eine grundsätzlichere Frage nach dem Verhältnis von sichtbaren Phänomenen und unsichtbaren Grundkräften, unabhängig davon, ob sie präformativ oder epigenetisch wirken. Geoffroy, dem auch Cuvier drei Jahre später eine Affinität zur deutschen Naturphilosophie unterstellen wird, grenzt sich von jeder Form der „Metaphysik“ in der Tradition der deutschen Forschung des achtzehnten Jahrhunderts ab und zitiert seinen Kollegen Flourens mit den Worten, die metaphysische Grundannahme eines Bildungstriebs bildete einen „Vorhang, der einen leeren Raum bedeckt“.69 Vielleicht bezieht sich dieser polemische Verweis Flourens’ direkt auf die Vorlesungen des Bremer Hypnotiseurs und Magnetisten Arnold Wienhold, der die Vorhangsmetapher romantisch strapaziert: Die „nähere Betrachtung der Anomalie unsrer Natur“ ist nach Wienhold deshalb unerlässlich, weil sie Ahnungen einer höheren Qualität des Menschlichen ermöglicht: „Mehr als von jeder andern Seite öffnet sich zu Zeiten von dieser der Vorhang, der das Allerheiligste desselben verbirgt; hier wird es evidenter als auf jedem anderen Wege.“70 Diese beiden Verwendungen teilen die Assoziationen von Inszenierungscharakter und großem Schauspiel, die das Studium der Missbildungen begleiten. Flourens und Geoffroys Annahme aber, dass sich hinter dem Vorhang „un vide“ verbirgt und nicht eine höhere Wahrheit, deutet auf monströse Leerstellen im Zentrum des Zeichensystems. Eine ganze Ordnung monströser Zeichen

67  Johann Friedrich Meckel: Über einige Punkte aus der Lehre von den Bildungsabweichungen, vorzüglich mit Bezug auf die beiden vorstehenden Aufsätze. In: Archiv für Anatomie und Physiologie. Hg. von Johann Friedrich Meckel. Jahrgang 1827, erstes Heft. S. 335–345. Hier: S. 338. 68  Geoffroy, Rapport, S. 280, im Archiv auf S. 331: „Die Ausdrücke ‚bildende Kraft, Lebenskraft‘ haben für meinen Verstand keinen Sinn, und ich bedaure sogar, mich des Ausdrucks ‚Bildungstrieb‘ bedient zu haben, ungeachtet ich ihn ausdrücklich für mich als ‚Trieb zur regelmäßigen Bildung‘ bestimmt hatte.“ 69  Geoffroy, Rapport, S. 280. 70  Zit. nach Zürcher, Monster oder Laune der Natur, S. 96.



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wäre demnach in der romantischen Naturphilosophie um eine Leerstelle organisiert, die Trieb heißt oder auch Lebenskraft. Geoffroys Distanzierung von „Grundsätzen und apriorischen Ansichten, die lange in der Wissenschaft geherrscht haben“, die er in mehrfachen Variationen, aber mit gleichbleibender Rigidität formuliert, scheint eine politische Qualität zu eignen, wie die Engführung von postrevolutionärem „Frankreich“ mit mechanischen Erklärungsmustern und die Verschaltung „deutscher und italienischer“ Forschungen mit überwundener Metaphysik nahelegt. Zur Erklärung von Missbildungen (wie von Bildungen im Allgemeinen) darf nur das herangezogen werden, was „ist“: „Ce qui est, voilà ce qui satisfait la science.“71 In dieser Hinsicht weicht seine Teratologie von der pathologischen Anatomie Meckels deutlich ab: Die Erklärungen für Abweichungen von der Norm müssen für Geoffroy innerhalb der Grenzen dessen liegen, was sich aus beider Beobachtung über ihr Verhältnis sagen lässt. Apriorische Annahmen, gleichgültig ob die eines Bildungstriebs oder präexistenter Keime, entfallen. Der zweite Streitpunkt zwischen Geoffroy und Meckel betrifft die Frage der Pro­ duzierbarkeit von Missbildungen durch Manipulation der Rahmenbedingungen in der embryonalen Phase. Hier weichen beider Einschätzungen merkwürdig voneinander ab: Geoffroy spricht von Versuchen, „bei denen ich beliebig viele Missgeburten hervorbrachte“72, Meckels Replik klingt beinahe höhnisch: Wollte Gott, die letzte Bemerkung hätte ihre Richtigkeit! Die scharfsinnigen Individuen, nach denen anatomische Sammlungen wie Pilze aus dem Boden wachsen, könnten dann wenigstens durch Monstrositäten befriedigt werden. Wenn ich aber gern glaube, dass auf diese Weise manche Hemmungsbildung hervorgebracht werden kann, so möchte es doch mit anderen etwas schwer halten. Sollte es Herrn Geoffroy wohl gelingen, einen vollkommenen Situs inversus hervorzubringen, anderer leichter Proben der Kunst zu geschweigen?73

Tatsächlich scheint Geoffroy auf einen erwarteten Erfolg seiner Experimente vorgegriffen zu haben, der sich zu seinen Lebzeiten nie im gewünschten Maße einstellt.74 Der Versuch, missgebildete Hühnereier durch Aussetzen der Bebrütung zu produ­zieren, scheitert. Mittels künstlicher Inkubation gelingt es zwar später, den prozen­tualen Anteil von Missbildungen gegenüber natürlich bebrüteten Embryonen leicht zu erhöhen, ohne jedoch Art und Grad der Deformationen voraussagen zu können. D ­ ennoch ver-

71  Geoffroy, Rapport, S. 280. 72  Geoffroy, Rapport, S. 279. 73  Meckel, Bildungsabweichungen, S. 341. Ein „situs inversus“ ist ein seltenes, aber ungefährliches und in der heutigen Medizin nicht mehr als pathologisch eingeschätztes anatomisches Phänomen, bei dem sich alle Organe spiegelbildlich auf der jeweils anderen Seite des Körpers befinden. 74  Geoffroy selbst berichtet über seine Versuche nur in der kurzen und mit Blick auf seine Erfolge wenig aufschlussreichen Abhandlung Sur des Déviations. Vgl. Fischer, Jean Louis: Le concept expérimentale dans l’œuvre tératologique d’Etienne Geoffroy Saint-Hilaire. In: Revue d’Histoire des Sciences 25 (1986). S. 347–364.

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weisen Geoffroys Experimente auf einen folgenreichen Wandel im Umgang mit Monstrositäten: Seine Versuche, sie nicht nur „trocken“ zu beschreiben oder zu klassifizieren, sondern künstlich herbeizuführen, führen sein Sohn und Biograph Isidore und später Camille Dareste fort. Darestes Erfolge in der Produktion von Missbildungen erlauben ihm gegen Ende des Jahrhunderts, sein Arbeitsgebiet nicht mehr als Teratologie, sondern als „Teratogenese“ zu bezeichnen75 – aus dem Beschreibungs­wissen ist Produktionswissen geworden. Versuche, künstlich Verkrüppelungen an Lebewesen herbeizuführen, sind zwar bereits im siebzehnten Jahrhundert in der Praxis der Schausteller häufig.76 Étienne Geoffroy St. Hilaires Anliegen aber ist die systematische Erzeugung missgebildeter Formen bereits in der embryonalen Phase, also die Transformation des Monsters von einem Gegenstand unkalkulierbaren Schreckens zu einem Experimentalgegenstand.77 Meckels Spott über den möglichen Nutzen einer solchen Produktion von Missbildungen verweist auf eine unterschiedliche Einschätzung, ob Monstrositäten wünschenswert oder nur im Dienste der Wissenschaft zu ertragen sind, und damit mittelbar auf eine unterschiedliches Verständnis ihrer epistemischen Funktion. Meckels Aufwertung der Monstrositäten zum erklärenden Instrument der pathologischen Anatomie unterstützt Geoffroy zunächst: Je ne m’ occupai point, au commencement de mes recherches, des questions de la monstruosité pour elles-mêmes, mais pour chercher dans les résultats de ses désordres que je supposais plus inextricables que je ne l’ai depuis appris, des motifs de justification on d’infirmation pour des règles applicables à ma nouvelle méthode de détermination des parties anatomiques. Ce que je vins à rencontrer, en conséquences propres à la monstruosité, fut un excédent inattendu, en même temps que j’avois abtenu les résultats que je m’étais proposé d’acquérir. Le principe du Retardment du développement fut une de ces révélations que je n’avais ni cherchées ni prévues.78

Die „besonderen Folgerungen für die Missgeburten“79 markieren den dritten Unterschied in beider Betrachtung der Missbildungen, den Meckel in seiner Replik gleich-

75 Dareste gelingt die vom älteren Geoffroy angestrebte und nie erreichte gezielte Produktion spezifischer und vorhergesagter Missbildungen an Hühnerkörpern durch veränderte Temperaturen im Inkubator. Vgl. Reha S. Erzurumlu und Herbert P. Killackey: Critical and Sensitive Periods in Neurobiology. In: Current Topics in Environmental Biology 17 (1982). S. 207–235. Hier: S. 212. 76  Eine solche Praxis dokumentiert, mit außergewöhnlichem moralischem Pathos, Victor Hugo: L’homme qui rit. In: Ders: Œuvres complètes. Bd. 33. Paris 1892. 77  Diesen Übergang hat Zürcher sehr pointiert beschrieben: „Ganz anders verhält es sich, wenn die Objekte Teil eines Experimentalsystems sind. Dinge, und dies sind hier die missgebildeten Körper, in experimentellen Anordnungen unterscheiden sich in drei Punkten grundsätzlich vom traditionellen teratologischen Präparat: 1. Die Dinge sind lebendig (und nicht tot), 2. das Lebendige wird manipuliert (und nicht beobachtet), 3. Die Dinge haben eine sehr kurze Verfallszeit (und halten nicht ewig).“ Zürcher, Monster oder Laune der Natur, S. 21. 78  Geoffroy, Rapport, S. 278. 79  So Meckels Übersetzung (S. 330), die im Gegensatz zu einer Übertragung als „Folgerungen für



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wohl nicht kommentiert. Er betrifft die Frage, ob Missbildungen primär epistemische Instrumente zur Einsicht in Normal- und Regelhaftigkeiten der Natur sind oder legitime Gegenstände wissenschaftlicher Arbeit, die um ihrer selbst willen untersucht werden.80 Eine Umkehrung der Erklärungsfunktion zwischen Monstrum und Normal, die bei Meckel implizit vorhanden ist, wird bei Geoffroy explizit. Meckels pathologische Anatomie nutzt Anomalien zur Erklärung und Behebung pathologischer Phänomene. Für Geoffroy dagegen muss die Monstrosität nichts verdeutlichen oder illus­ trieren, um legitimer Gegenstand seiner Forschungen zu sein. Urs Zürcher hat diese Verschiebung folgendermaßen zusammengefasst: „St. Hilaire rückte sie [die Miss­ bildungen] ins Zentrum der Betrachtung, beendete ihr Dasein als erkenntnistheore­ tische Hilfskraft, er betrachtete die Missbildung an sich.“81 Die unterschiedliche ­berufliche Stellung und fachliche Orientierung beider macht solche gravierenden Unterschiede plausibel: Meckel ist Mediziner, nämlich Professor für Anatomie und Hebammenkunst, interessiert sich also primär für die Heilung angeborener Krankheiten und die Vermeidung von Fehl- und Missgeburten. Erkenntnisse, die er über Bildungshemmungen erzielt, dienen dem gesteigerten Wissen darüber, wie sie sich vermeiden lassen, mithin dem Schutz der Normalgattung. Geoffroy St. Hilaire dagegen ist Zoologe und nutzt die „besonderen Folgerungen“ über Abweichungen vor allem als Grundlage einer Theorie der Entstehung von Lebewesen, in der Bildungshemmungen die Systemstelle desjenigen Prinzips zukommt, das überhaupt heterogene Formen hervorbringt: Innerhalb eines Systems rein mechanischer Prozesse stellen sie eine Störung dar, die das Funktionieren der Mechanik verhindert und neben Gattungen oder Arten unzählige Zwischenstufen produziert. Rein funktional ersetzt also das Konzept der Entwicklungshemmung das eines fehlgeleiteten Bildungstriebs, mit klaren Konsequenzen für die Beherrschbarkeit der monströsen Phänomene, deren Anzahl notwendig endlich und deren Formen vorhersagbar sein müssen, als Zwischenstufen zwischen Gattungen, die ihrerseits strukturell gattungsähnlich sind. Entsprechend ist Jürgen Links Einordnung der Arbeiten Geoffroys als „protonormalistisch“82 nicht vollständig einsichtig. Es handelt sich um ein System durchaus flexibler, ständig er-

die Missbildungen selbst“ unterstreicht, dass Geoffroy Allgemeines und Besonderes doppelt trennt, nämlich mit Blick auf natürliche Phänomene (Normalköper/Missbildung) und wissenschaftliche Disziplinen (Anatomie/Missbildungslehre). 80  Vgl. auch bereits Friedrich Tiedemanns Programm, „die allgemeinen Bildungsgesetze der kopflosen Missgeburten herzustellen“. Friedrich Tiedemann: Anatomie der kopflosen Missgeburten. Nebst vier Kupfertafeln. Landshut 1813. S. 47. 81  Zürcher, Monster oder Laune der Natur, S. 161. 82  „Ein ‚monstrum‘ ist nach Geoffroy-St. Hilaire also ein Wesen, in dem zwei diskontinuierliche, völlig wesens- und substanzfremde „Ordnungen“ […] neben- und gegeneinander koexistieren. Zwei Eide haben bei der Produktion sozusagen interferiert.“ Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 194.

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 Teratologische Folgerungen

neuerter und erneuerbarer Grenzen von Norm und Gattung. So argumentiert Geoffroy in der Debatte mit Cuvier gegen klare Gattungsunterscheidungen und Klassifikationen und zugunsten fließender Übergänge zwischen nicht trennscharf umrissenen Entwicklungsstadien eines einheitlichen Konstruktionsplans. Forschungsobjekt sind bei Geoffroy die Monstrositäten selbst. Wenn sein Sohn Isidore das Lebensprojekt des Vaters später umschreibt als das Auffinden von „les lois et les causes“83, so sind ­diejenigen Gesetze gemeint, nach denen Monstrositäten selbst entstehen, und nicht diejenigen, von denen sie abweichen. Geoffroy formuliert diesen wissenschaftlichen Anspruch in einem Lexikon-Eintrag für das Dictionnaire classique d’Histoire Naturelle, der schon aufgrund seiner Länge eher Züge einer Programmschrift trägt und auch als solche veröffentlicht worden ist: Qu’y a-t-il à conserver et à éliminer dans l’examen d’un Monstre? Ainsi qu’on l’a vu plus haut, un Monstre est un être régulier dans la plus grande partie, et irrégulier dans la moindre partie de ses organes. Là où le Monstre est dans la règle, sa condition d’un être à part et normal se fonde sur une certaine somme d’organes dans les rapports donnés, et, nous le supposons, parfaitement connus: là, au contraire, où il s’écarte de la règle, c’est une autre somme d’organes dans des rapports fort compliqués, inconnus et qu’il convient de rechercher.84

Natürlich ist es eine optimistische Einschätzung Geoffroys, dass die regulären Wechselbeziehungen von Organen im frühen neunzehnten Jahrhundert vollständig bekannt sind. Die Trennlinie zwischen rapports donnés und rapports inconnus ist so scharf ­offenbar gezogen, um den epistemologischen Vorrang der Frage nach den Gesetz­ mäßigkeiten monströser Missbildungen zu betonen und zugleich die wissenschaft­ liche Herausforderung, die sie darstellen. Auf der einen Seite der Unterscheidung stehen unbekannte Beziehungen, die der Regel widersprechen, auf der anderen Seite bekannte Beziehungen, die regelhaft sind. Diese Engführung von Regelabweichung und Unbekanntem macht das Monstrum zum wissenschaftlichen Gegenstand schlechthin, nämlich zu einem Phänomen, dessen Ursprung, Gesetze und Strukturen un­ bekannt sind. Jürgen Link hat auf die strikte Trennung der Begriffe Norm/Regel und Abweichung/Monstrosität in Geoffroys Eintrag hingewiesen und gefolgert, dass das „normale“ Wesen und das Wesen „à part“, aus denen das Monstrum besteht, durch eine „Mauer der Diskontinuität und Inhomogenität“85 getrennt sind. Allerdings sind beide Wesen ausdrücklich ein und derselbe Organismus, und die Zuschreibung von

83  Der volle Titel der Studie, die der Disziplin der Teratologie ihren Namen gibt, lautet: Histoire générale et particulière des anomalies de l’organisation chez l’homme et les animaux: Ouvrage comprenant des recherches sur les caractères, la classification, l’influence physiologique et pathologique, les rapports généraux, les lois et les causes des monstruosités, des variétés et vices de conformation, ou traité de tératologie. 84  Étienne Geoffroy St. Hilaire: Considérations générales sur les monstres comprenant une théorie des phénomènes de la monstruosité. Paris 1826. S. 13. 85  Vgl. Link, Versuch, S. 194.



Teratologie (Johann Friedrich Meckel und Étienne Geoffroy St. Hilaire)  

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Monstrosität betrifft eine Konstellation, nicht einen materiellen Gegenstand: Das Verhältnis der Organe zueinander ist gestört, die Organe sind es nicht. Eine kategorische Trennung von monströsem und normalem Organismus stellt eine Zuspitzung dar, die im Zusammenhang einer Geschichte der Normalität zwar einleuchtet86; für die Institutionsgeschichte der Teratologie aber drängt sich ein anderer Aspekt als zentral auf. Geoffroy bewirbt hier aggressiv und ausführlich ein noch zu schaffendes Forschungsfeld, das im Vergleich zur Anatomie und Physiologie der regulären Körper die ungleich größere wissenschaftliche Herausforderung darstellt. Monstra sind – hier liegt der Übergang von pathologischer Anatomie zu Teratologie – vor allem deshalb wissenschaftliche Gegenstände, weil sie interessant und rätselhaft sind, nicht weil sie die Funktionen des Normalkörpers bestimmen helfen. Auf die Möglichkeit einer Inversion des Verhältnisses von Normalität und Monstrosität hat im Anschluss an Gabriel Tarde schon Canguilhem hingewiesen: Normalität ist, im Rahmen dieser epistemologischen Umkehrung, der Nullpunkt der Monstrosität.87 Diese Gegenüberstellung von deutscher pathologischer Anatomie und französischer Teratologie verdeutlicht, dass der wissenschaftliche Umgang mit Monstrositäten sich im frühen neunzehnten Jahrhundert in vierfacher Hinsicht verändert. Die ersten beiden Neuerungen sind bereits in Meckels vergleichender Pathologie erkennbar, die letzteren beiden Bestandteil der Teratologie nach Geoffroy St. Hilaire. In Meckels vergleichender bzw. pathologischer Anatomie und in den angrenzenden Forschungen im Archiv für Anatomie und Physiologie zeigt sich (1) eine Tendenz zur Invisibilisierung des Monströsen, indem das als Gesamtorganismus und deutlich sichtbar deformierte Monstrum flächendeckend durch die partielle und mitunter nicht einmal sichtbare Monstrosität ersetzt wird, und (2) eine epistemische Funktionalisierung des Monströsen als eines Erkenntnisinstruments. Geoffroy St. Hilaires Neuerungen betreffen (3) die Überführung von Beschreibungs- in Produktionswissen und (4) die Aufwertung der Monstrositäten zu einem eigenständigen Gebiet der Wissenschaft. Das Forschungsinteresse an Missbildungen selbst, das bei Meckel implizit bleibt und hinter ihrer instrumentellen Funktion tendenziell verschwindet, macht Geoffroy explizit. Beiden gemeinsam aber ist die Vermutung, dass Deformationen jenseits ihrer negativen Erklärungsfunktion gegenüber der Normalgattung auch eine positive Funktion in der Produktion „neuer Formen“ haben – und mithin eine Möglichkeit bieten, die Entstehung einer Vielfalt der Normalgattungen aus der Anomalie heraus zu erklären. In diesem Sinne ist der Zeichencharakter des Monströsen doppelt bestimmbar: Es fungiert als Negativabdruck zu Normalfunktionen bei Organismen einzelner Gattungen,

86  Jenseits der problematischen Verordnung von Geoffroys System im starren Protonormalismus folgt die vorliegende Arbeit auch der Trennung von „medizinischem Diskurs normal“ und „naturhistorischem Diskurs normale Formen“ nicht (vgl. Link, Versuch, S. 193). 87  Canguihem, Erkenntnis, S. 312. An diese Formulierung knüpft auch Donna Haraways Modell des Cyborgs an.

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 Teratologische Folgerungen

richtig gelesen gibt es aber auch Aufschluss über die Entstehung und Anordnung von Gattungen überhaupt. Diese Vermutung Geoffroy St. Hilaires wird Flaubert gemeint haben, wenn er den Begründer der Teratologie als Vorbild für eine ästhetische Kritik der Moderne folgendermaßen würdigt: Il faut faire de la critique comme on fait de l’histoire naturelle, avec absence d’idée morale. Il ne s’agit pas de déclamer sur telle ou telle forme, mais bien d’exposer en quoi elle consiste, comment elle se rattache à une autre et par quoi elle vit (l’esthétique attend son Geoffroy SaintHilaire, ce grand homme qui a montré la légitimité des monstres).88

Die Legitimität des Monströsen auf ästhetischem Gebiet hat Geoffroy nicht zeigen wollen. Ideengeschichtliche Parallelen zwischen Teratologie und Literatur aber sind nicht zu übersehen: Die Auflösung der Normalgattungen werden auch in der Literatur begleitet von einer Konjunktur monströser Narrateme. Die Verstreuung monströser Eigenschaften über Normalkörper, das Unsichtbarwerden persistierender monströser Archaismen und die hermeneutische Arbeit am grundlegend deformierten Subjekt sind häufige Gegenstände der Literatur im neunzehnten Jahrhundert, wie auch die künstliche Produktion von Missbildungen von Mary Shelleys Frankenstein bis zu H. G. Wells The Island of Dr. Moreau. Als „Geoffroy St. Hilaire der Ästhetik“ eignet sich E. T. A. Hoffmann.

88  Gustave Flaubert: Brief an Louise Colet am 12.10. 1853. In: Ders.: Œuvres. Paris: 1951–1963. Bd. C2, S. 450–451.

3 Defiguration, Refiguration: E. T. A. Hoffmann 3.1 Monster und Monstrosität als narrative Effekte Devianz wird in der historischen Teratologie in zwei komplementären Formen kodiert: als Monstrum und als Monstrosität. Die medizinische Missbildungsforschung gewinnt dabei zusehends Abstand zur singulären Ausnahmeerscheinung des sichtbar deformierten Organismus und wendet sich der Entwicklungshemmung als einem unsichtbaren, überindividuellen und regelwidrigen Regelphänomen zu. Diesen beiden Grundformen der Teratologie entsprechen in der Literaturgeschichte das mythische Ungeheuer und die Subversion des Subjekts von innen, letztere zumeist in der Form eines übermächtigen Triebs konzeptualisiert. Eine solche überpersönliche Konzeption universeller Monstrosität bildet den Ausgangspunkt hereditärer, virulenter (vor allem syphilitischer) und mimetischer Modelle ihrer Verbreitung. Das figurale Monster ist dabei der Monstrosität zeitlich nachgeordnet, über Vererbung, Ansteckung und Impuls zur Nachahmung, anders als in der Bewegung des medizinisch-teratologischen Interesses vom Gesamtorganismus zur devianten Eigenschaft. Ich schlage für Prozesse der Überführung zwischen ortlosem Monströsem und figuralem Monster das Begriffspaar Defiguration und Refiguration vor, wobei beide Begriffe wörtlich1 verstanden werden: „Defiguration“ nicht bloß als Verzerrung, sondern als vollständiger Verlust einer anthropomorphen Form, „Refiguration“ als konkrete Wiederherstellung derselben. Von einer ersten, ursprünglichen „Figuration“, wie sie für das theologische Konstrukt des Bösen der Teufel darstellt, ist im Zusammenhang mit modernen Monstrositäten nicht auszugehen.2 Dieser Auslassung liegt natürlich einerseits wie-

1  Und damit abweichend von literatur- und performanztheoretischen Verwendungen, die Defiguration allgemeiner als entstellte Wiedergabe der Realität verstehen. Vgl. Elisabeth Bronfen: Over her Dead Body. Death, Feminity, and the Aesthetic. Manchester 1992; Gerhard Neumann: Anamorphose. E. T. A. Hoffmanns Poetik der Defiguration. In: Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg 1998. S. 377–417; Ders.: Entstellungskunst. Zur Herstellung von Individualität in E. T. A. Hoffmanns Cappriccio Prinzessin Brambilla. In: Atsuko Onuki und Thomas Pekar (Hg.): Figuration – Defiguration. Beiträge zur transkulturellen Forschung. München 2006. S. 17–44. Gabriele Brandstetter: Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart und Weimar 1997. S.  598–623. Eine überzeugende Identifikation der Figuration als zentraler Kategorie in Hoffmanns Werk findet sich bei: Daniel Müller-Nielaba, Yves Schumacher und Christoph Steier: Figur/a/tion. Möglichkeiten einer Figurologie im Zeichen E. T. A. Hoffmanns. In: Dies. (Hg.): Figur, Figura, Figura­tion: E. T. A. Hoffmann. Würzburg 2011. S. 7–14. 2  Ein Sammelband zu Figur und Figuration, der beide Begriffe primär in ihrem rhetorischen Sinne begreift, stellt überzeugend fest, wie stark Figuration als problematischer und doch „unhintergehbarer Grund sprachlicher Kommunikation“ Hoffmanns Werk prägt. Vgl. Daniel Müller-Nielaba, Yves Schumacher und Christoph Steier: Figur/a/tion. E. T. A. Hoffmann. Würzburg 2011. Dabei gelangt u. a. der Beitrag von Nicole A. Sütterlin zu einem Konzept von Defiguration, das dem hier verwendeten ähnelt.

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derum die Vorstellung einer Epochenschwelle um 1800 zugrunde und damit eines modernen „Nicht-mehr“, der Außerkraftsetzung einer Ordnung intakter Repräsen­ tation. Ein eben solches Außerkrafttreten bedeutet andererseits, unabhängig vom historischen Kontext, bereits das Auftreten des Monsters.3 Defiguration als poetische und narrative Strategie ließe sich wahrscheinlich in jeder Epoche der Literaturgeschichte nachweisen: Archilochos besingt Liebeskummer, indem er einen Sonnenuntergang beschreibt. Werthers Erotisierung überträgt Goethe auf ein dampfendes Tal, in dem die Mücken schwirren. Dostojewski lagert die Besessenheit Stawrogins aus in Dämonen, die ein ganzes Gouvernement heimsuchen. Diesen Verlagerungen liegt eine gemeinsame Strategie der Defiguration zugrunde: Eine charakterliche, emotionale oder intellektuelle Zuschreibung an eine Einzelperson wird auf dessen Umgebung übertragen. Dieser Strategie ließe sich innerhalb der rhetorischen Figurenlehre als totum pro parte beschreiben. Tatsächlich scheint ihr aber häufig eine poetische Qualität zu eignen, die dem Überzeugungs- und Veranschaulichungsparadigma der klassischen Rhetorik geradezu entgegengesetzt ist. Ihre Verwendung zielt nicht auf persuasive Eindeutigkeit, sondern auf Diffusion und Komplexitätssteigerung. Als narrative Strategie stellt sie eine Nicht-Trope dar, die gerade nicht verdichtet, sondern ausweitet, nicht verschiebt, sondern verallgemeinert. Die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts erlebt eine inflationäre Konjunktur dieses Verfahrens, die Delius zurückführt auf ein „ideologisches oder psychologisches Arrangement des Individuums mit dem Konstrukt der Natur als eines ‚Übermenschlichen‘“.4 Seine Analyse des Verhältnisses von Held und Wetter deutet zugleich in der Gegenüberstellung von „Anthropomorphisierung“ und „Desanthropomorphisierung“ an, dass diese Strategie über ein dialektisches Gegenstück verfügen muss. (Re-)Figurationen lassen sich, am anderen Pol dieser Dialektik, sowohl als Metaphern wie auch als Synekdochen beschreiben. Hermes „steht für“ den Handel und den Diebstahl, Mephistopheles „verkörpert“ das Prinzip der Negation, eine Frau mit freiem Oberkörper und wehender Fahne „personifiziert“ die Grande Nation oder die Freiheit. Diskurstheoretisch ist die Übersetzung einer abstrakten, d. h. körperlosen Entität in eine konventionell anerkannte figurative Entsprechung fassbar als Einführung eines Kollektivsymbols, in dem zur Vereinfachung der Kommunikation Inhalte gedrängt illustriert werden5, soziolinguistisch als Metapher, deren Verwendung unser Nachdenken über

3  Vgl. die Einleitung dieser Arbeit sowie Michel Foucault: Die Anormalen. Frankfurt a. M. 2007 S. 85. Ähnlich charakterisiert Michael Hagner „aufgeklärte Monster“ als Provokation der Aufklärung und spezifischen Problemfall der Moderne. Vgl. Michael Hagner: Enlightened Monsters. In: William Clark, Jan Golinski und Jan Schaffer (Hg.): The Sciences in Enlightened Europe. Chicago 1999. S. 175–217. 4  Friedrich Christian Delius: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München 1971. S. 27. 5  Vgl. Franz Becker, Ute Gerhard und Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997). S. 70–154.



Menschenmonster in Das Fräulein von Scuderi 

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den betroffenen Sachverhalt prägt und maßgeblich modifiziert.6 Sie dient in jedem Fall der pointierten Illustration der jeweils übertragenen abstrakten Einheit. Das Nachdenken über einen beliebigen Sachverhalt in einem ständigen Wechsel von figurierender Singularisierung und defigurierender Verallgemeinerung führt unweigerlich zu einem Paradoxon seiner Wahrnehmung: Er wird gleichzeitig verstanden über die vereinfachende, bildhafte Entsprechung und über die kontinuierliche Auflösung in eine immaterielle Idee seiner selbst. Die hier unterstellte dialektische Konzeption des Monströsen in Literatur und Wissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts folgt der Eingangsvermutung, dass neben der häufig konstatierten Tendenz zur Banalisierung des Menschenmonsters im Anormalen, der Unsichtbarmachung des Monströsen oder Invisibilisierung des Malum zugleich eine gegenläufige Tendenz zur Produktion und ständigen Refiguration des außergewöhnlichen Menschenmonsters vorliegt. Das Monströse wird einerseits massiv verstreut, zugleich bedarf es ständig erneuerter Gesten der Figuration, Personifizierung und Konkretisierung, um das Monstrum als Ausnahmeerscheinung und Grenzverletzung intakt zu halten. Die folgende Lektüre einer prominenten Erzählung Hoffmanns versucht nun, die „Figur“ des Monsters, seine Defiguration im Monströsen und die Notwendigkeit einer dialektischen Spannung zwischen beiden als Effekte einer narrativen Strategie zu fassen.

3.2 Menschenmonster in Das Fräulein von Scuderi Als die Erzählung endet, erhält sie den vollen Beifall der Freunde. Besonders hat ihnen gefallen, dass sie „auf geschichtlichen Grund gebaut, doch hinaufsteige ins Phantastische.“7 Die Freunde sind die Serapionsbrüder, die E. T. A. Hoffmann der Schicksalsgemeinschaft des Decamerone nachempfunden hat, ohne sie einer größeren Gefahr als dem beruflichen Alltag entfliehen zu lassen. Hoffmanns Eigenlob verweist auf zwei Leistungen: Erstens gehen der Erzählung Das Fräulein von Scuderi tatsächlich ausführliche historische Recherchen voran, ein Umstand, der ihr innerhalb von Hoffmanns umfangreichem und in kaum mehr als einem Jahrzehnt entstandenem Prosawerk einen Sonderstatus sichert.8 Zweitens liest sie sich tatsächlich als phantas-

6  So das berühmte und später revidierte Modell von George Lakoff und Mark Johnson: Metaphors we live by. Chicago u. a. 2008. 7  Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden Hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Frankfurt a. M. 1985–2004. Bd. 4, S. 853. Lateinische Bandangaben und arabische Seiten­zahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. 8  Auf die Lektüre der Wagenseil-Chronik verweist Hoffmann selbst im Rahmengespräch, zur Lektüre der „sonderbaren und merkwürdigen Rechtsfälle“ des Pitival vgl. bereits Richard Alewyn: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M. 1974. S. 354. Nach Deterding bereitet sich Hoffmann weiterhin vor durch die Lektüre von F. J. L. Meyers Briefen aus der Hauptstadt und aus dem Innern Frankreichs, von Paris wie es war und wie es ist. In einer Reihe von Briefen eines reisenden Engländers sowie von Francois-

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tische Erzählung, ohne dass auch nur eines der bekannten Hoffmannschen Signale für den Eintritt des Phantastischen aufgerufen würde: Automaten, Geister­ erscheinungen, Doppelgänger und feuerspeiende Basilisken fehlen. Statt eines genia­ lischen Künstlers am Rande des Wahnsinns ist die Titelfigur eine mittelmäßige, in Würde gealterte Dichterin, deren Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen die aus den Fugen geratene Welt noch einmal rettet. In gattungsgeschichtlicher Perspektive handelt es sich möglicherweise um die erste Detektivgeschichte.9 Im Zentrum von Hoffmanns Poetik dagegen steht sie dadurch, dass sie, wie die Freunde urteilen, überaus serapiontisch angelegt ist, nämlich die Kluft zwischen Phantastischem und Realem überbrückt. Dies entspricht nicht der basalen Formulierung des serapiontischen Prinzips10, das schließlich nur eine Qualitätskontrolle in drei Schritten fordert: Den Abgleich des poetischen Materials mit der Realität innerer Sinneseindrücke, die nuancierte poetische Erfassung derselben in „Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten“ (IV, 69) und erst in einem dritten Schritt die schriftliche Wiedergabe. Vielmehr scheint sich das Lob des Fräuleins von Scuderi auf einen Nebeneffekt des serapiontischen Prinzips zu beziehen, nämlich die Eigenschaft Serapions, im Dialog mit den psychologischen Theorien seiner Zeit die eigene Wahnvorstellung so tapfer zu behaupten und poetisch zu legitimieren, dass beides, phantastischer Wahn und empirische Wirklichkeit, gleichberechtigt nebeneinander stehen.11 Schon in einem Brief aus der Zeit der Fantasiestücke in Callots Manier schätzt Hoffmann die eigene literarhistorische Stellung maßgeblich auf Basis dieser Vermittlungsleistung ein: „Die Idee so das ganz Fabulose […] in das gewöhnliche Leben keck eintreten zu lassen ist allerdings gewagt und so viel ich weiß von einem teutschen Autor in diesem Maaß noch

Marie Voltaires Le Siècle de Louis XIV. Vgl. Klaus Deterding: Hoffmanns Erzählungen. Eine Einführung in das Werk E. T. A. Hoffmanns. Würzburg 2007. S. 207. Diese wochenlange Lektüre läuft der üblichen Arbeitstechnik Hoffmanns, wie sie Safranski beschreibt, völlig zuwider: „Man muß sich vorstellen, daß Hoffmann seine Erzählungen und Romane fast so schnell zu Papier brachte, wie wenn er sie mündlich vorgetragen hätte.“ Vgl. Rüdiger Safranski: E. T. A. Hoffmann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 406. 9  So v. a. Richard Alewyn, aber auch schon Ernst Bloch, der die Erzählung als „Anfang zum clever end“ bezeichnet. Vgl. Ders.: Gesamtausgabe Bd. 9: Literarische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973. S. 245. Kittler stellt fest, dass es sich zumindest um einen Sonderfall handelt, der so nicht wiederholt wird: Die Mutter, nach Kittler Zentrum der Verwicklung wie der Auflösung des Falls, spielt diese Rolle schon bei Poe und Arthur Conan Doyle nicht mehr. Vgl. Friedrich Kittler: Eine Detektivgeschichte der ersten Detektivgeschichte. In: Ders.: Dichter Mutter Kind. München 1991. S. 197–218. 10  So auch Helmut Pfotenhauer: Exoterische und esoterische Poetik in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 17 (1982), S. 129–144. Vgl. Uwe Japp: Das serapiontische Prinzip. In: Text + Kritik. Sonderband E. T. A. Hoffmann. München 1992. S. 63–75. 11  Vgl. Neumann, Anamorphose, S. 387: „Durch dieses Prinzip werden die Serapions-Brüder – als Erzählstrategen – in den Stand gesetzt, das Wahrnehmungsorgan der Phantasie mit jenem anderen naturwissenschaftlicher Realitätsprüfung zu verbinden und als Medium der Repräsentation von Welt nutzbar zu machen.“



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nicht benutzt worden.“12 Die entstehenden Ununterscheidbarkeitszonen von Fabulosem und Gewöhnlichem bilden die Grundlage der verächtlichen Kritiken Scotts und Goethes und zugleich des gewaltigen Einflusses Hoffmanns auf die realistische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts.13 Callotsche Manier und Serapiontisches Prinzip überschneiden sich im Strukturmerkmal der Deformation. Ornamentale Verzerrung des Gegenstandes im Sinne von Capriccio und Groteske einerseits, manische oder dichterische Verzerrung der Wahrnehmung im Sinne einer Poetik des fixen Wahns andererseits basieren auf der gleichen Strategie: Reales und Phantastisches zu kombinieren, beider Grenzen zu ver­ wischen, sie einander abwechselnd zu entfremden und anzunähern, mithin beider epistemischen und poetischen Status elementar zu verunklaren.14 Gerhard Neumann importiert aus der bildenden Kunst den Begriff der Anamorphose als Beschreibung dieses Transformationsmusters, „das alternierend Deformation in Form, Gestalt in Entstellung umschlagen lässt.“15 Die Feststellung eines ständigen Umschlagens von Form und Unform ineinander findet sich wieder bei Renate Lachmann, die Hoffmanns Phantastik in einem „Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung“ situiert, nämlich „zwischen Urteilen, die auf Darstellung (Refiguration) beharren, und solchen, die Entstellung (Defiguration) tolerieren“.16 Hoffmanns wilde Phantasie über das mordlüsterne Jahr 1680 weist vor allem Darstellungs- und Entstellungsformen auf, die sein eigenes Jahrhundert prägen: Er rekurriert auf die Modelle der Physiognomie, der frühen Psychiatrie, der Kriminalanthropologie. Es finden sich auf der Seite des Verbrechens Giftmörder, Delirante, die fixe Idee, die Manie ohne Delirium und der unspezifizierte Trieb, auf der Gegenseite der Geheimagent, ein terroristischer Strafapparat und ein postrevolutionärer Lynchmob, zusätzlich eine Hobbydetektivin, deren Methodik schon Richard Alewyn und später

12  Brief an Carl Friedrich Kunz. 4. März 1814. In: Werke, Bd. 6, S. 18. 13  Der Nachweis von Hoffmanns Nachwirkung wird in den folgenden Kapiteln weniger direkt einflussphilologisch als ideengeschichtlich demonstriert werden. 14  Eva Horn nimmt diese Verunklarung wörtlich und erzählt die Geschichte des Wahnsinnigen, der sich für Serapion hält, nach als Begegnung des Heiligen Serapion mit einem wahnsinnigen Besucher. Vgl. Eva Horn, Die Versuchung des heiligen Serapion, S. 214–215. Vgl. aber auch schon Wolfgang Preisendanz: Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein. E. T. A. Hoffmanns Erzählkunst. In: William Foerste und Karl Heinz Borck (Hg.): Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Köln und Graz 1964. S. 411–429. 15  Neumann, Anamorphose, S. 401. Problematisch scheint mir an Neumanns herausragendem und zu Recht vielzitiertem Aufsatz die Engführung heterogener Oppositionen: Romantik und Aufklärung, Defiguration und Refiguration, Psychiatrie und Literatur werden in seinen Überlegungen beinahe als Synonyme verwendet. 16  Renate Lachmann: E. T. A. Hoffmanns Phantastikbegriff. In: Gerhard Neumann (Hg.): Hoffmanneske Geschichte. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005. S. 135–152. Hier: S. 136.

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Friedrich Kittler an eine frühe Psychoanalytikerin erinnert hat.17 Die Kern- und Detektivgeschichte lässt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Ein Goldschmied ­ermordet seriell seine Kunden, wird von einem der Opfer seinerseits erstochen, sein Schwiegersohn wird zu Unrecht verdächtigt, die Auflösung des Verbrechens gelingt letztendlich der alten Dichterin und Hofdame, deren Name der Erzählung den Titel gibt. All diese Träger der Handlung nun sind nur sehr begrenzt handelnde Personen. Vielmehr handelt, durch sie hindurch, eine Nicht-Person in vielen Nicht-Gestalten: „Es“ klopft an Türen, treibt als Ahnung einen Bediensteten mit Gewalt fort, flüstert als Trieb einem Mörder seine Handlungen ein, erspäht als Mord seine unschuldigen Opfer, schlägt als Schicksal ein wie der tötende Blitz, initiiert als böser Stern unausweichliches Verbrechen. Das „German dummy subject“18 durchzieht Hoffmanns Erzählung, teils in der Funktion einer Kulisse, teils als subjektähnlicher Partizipant.19 Sie beeinflusst die Subjektkonzeption der Erzählung maßgeblich: Die simultane Präsenz einer schier unglaublichen Anzahl monströser Verbrecherfiguren und eines überpersönlichen defigurierten Verbrechens lässt Hoffmanns vielgelesene Novelle beständig pendeln zwischen Subjekten, die einem unbegrifflichen und unbegriffenen Es als Partizipante willenlos unterworfen sind, und emphatisch gesetzten Subjekten wie Dichterin, Künstler oder Geheimagent, die sich aus einem Ambiente depersonalisierter Vorgänge herausheben. Die erste Form, in der das Monströse dem betagten Fräulein von Scuderi oder vielmehr, da sie schläft, ihrer Bediensteten Martinière entgegentritt, ist bereits gedoppelt: Physisch ein „todbleiches, furchtbar entstelltes Jünglingsantlitz“ (IV, 783), in der Vorstellung der Dienerin eine meuternde und potentiell monarchenmordende Horde.20 Der erste Moment der Gefahr in der Erzählung teilt sich auf in zwei gegenläufige Angstphantasien: Der junge Mann und mutmaßliche Meuchelmörder befindet sich in einem emotionalen Ausnahmezustand, verfolgt ein höchst dringendes Anliegen unbekannter Art, verfügt über ungewöhnliches Wissen über das Opfer und stellt im

17  Kittler, Dichter Mutter Kind, S. 129. 18  Von einem „dummy subject“ wird in der Linguistik dann gesprochen, wenn ein „Es“ die Subjektposition im Satz einnimmt, das keinen konkreten Referenten besitzt, in Passiv-Konstruktionen („es wird viel gelacht“) oder in Verbindung mit spezifischen aktiven Verben („es geht mir gut“, „es gibt zwei Arten von Monstrosität“). Zum Begriff vgl. Michael B. Smith: An analysis of German dummy subject constructions. In: Proceedings of the Annual Meeting of Pacific Linguistics. Conference 1 (1985). S. 412–425. 19  Zur Unterscheidung von „setting“ und „setting-like participant“ vgl. Ronald W. Langacker: Concept, Image and Symbol. The Cognitive Basis of Grammar. Berlin und New York 1991. S. 362, Anm. 12. 20  Auch die Dienerin Martinière ist eine Figur des frühen neunzehnten Jahrhunderts und nicht des Jahres 1680. Die Horde in ihrer Imagination ähnelt Burkes Repräsentation französischer Revolutionäre, die Hoffmann wohl in der Übersetzung von Gentz kannte: „Eine Rotte heilloser Räuber und Mörder brach triefend von Blut, in das Zimmer der Königin ein“ heißt es, von einer „Kannibalenhorde“ ist wenig später die Rede. Vgl. Edmund Burke [1791]: Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen. Berlin 1991. S. 153.



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Ganzen ein „besonderes Geheimnis“ (IV, 785) dar, eine singuläre Ausnahmeerscheinung. Imaginiert als Mörder einer schutzlosen Adligen, die von ihren Bediensteten nicht mehr verteidigt werden kann, ist er Vertreter derjenigen Gattung personaler anthropophager Königsmörder, die in der politischen Ökonomie der Jahrhundertwende das monströse Gegenstück zum inzestuösen Monarchen stellt. Zugleich wird er in der Phantasie der Martinière eingebettet in eine Gruppe von „Spießgesellen“ und ist nur „einer von den verfluchten Gaunern und Spitzbuben“, eben „irgendein verruchter Unhold“ (IV, 783–784). Hoffmann verknüpft zwei Modelle der Gefahr: Das Unbekannte und Unerhörte ist bedrohlich, aber ebenso das, was einem bekannten Übel gleicht, in diesem Fall einem vorangegangenen Mord an Marquis von Tournay, und sich unter eine Regel der Gefährlichkeit subsumieren lässt: „Gerade zu der Zeit war Paris der Schauplatz der verruchtesten Greueltaten, gerade zu der Zeit bot die teuflischste Erfindung der Hölle die leichtesten Mittel dazu dar.“ (IVI, 785) Der Schauplatz Paris dient der panoramatischen Defiguration des Helden in seine Umgebung: Jedes psychische System innerhalb seiner Grenzen folgt ihrer Grundstimmung und ihrem Leitmotiv, das hier eben nicht Erotisierung, sondern Verbrechen heißt, Trägerschichten sind nicht Mücken oder Libellen, sondern Wissenschaft, Adel und Bürgertum. Die unmittelbar folgenden figuralen Manifestationen des Monströsen führt Hoffmann um der Atemlosigkeit der Erzählung willen kaum aus. Ein genialischer deutscher Apotheker namens Glaser und sein krimineller italienischer Gehilfe Exili finden kurz Erwähnung. In ihrer Kombination stellen sie ein werkinternes Zitat dar, als Personifikationen des Unheimlichen: Glaser durch seinen Namen, Exili durch seine Herkunft, beide durch ihren Beruf sind als Entsprechungen des Coppelius bzw. Coppola aus dem zwei Jahre zuvor erschienenen Sandmann markiert. Beider Funktion für die Erzählung ist die einer ersten Produktion unsichtbaren Verbrechens in einem materiellen Sinne: Glaser erfindet und Exili verwendet ein unsichtbares, nicht nachweisbares Gift. Zugleich mit dieser ersten Personifikation des vorher namenlosen Verbrechertums wird das Verbrechen selbst also nicht nur defiguriert, sondern im Medium des Giftes vollständig unsichtbar. Glaser, der nicht wieder erwähnt wird, verschwindet abrupt, und ebenso Exili, als erster der Erzählung in der Bastille. Das Übel als Gift ist damit in die Unsichtbarkeit versenkt; eine moralisch nachtseitige Wissenschaft21 bildet den Ausgang des unsichtbaren Verbrechens, das sich, indem es auf den degenerierten Adel übergreift, verselbständigt und zunächst die Gestalt des Hauptmanns Sainte Croix annimmt:

21  Zu Hoffmanns Interesse an Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) vgl. die klassischen Studien von Friedhelm Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel. E. T. A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin. Opladen 1986, sowie von Jürgen Barkhoff: Die Literarisierung des Mesmerismus bei E. T. A. Hoffmann. Ein Heilkonzept zwischen Naturphilosophie, Technik und Ästhetik. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung. Stuttgart 1996. S. 269–283.

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Leidenschaftlich, ohne Charakter, Frömmigkeit heuchelnd und zu Lastern aller Art geneigt von Jugend auf, eifersüchtig, rachsüchtig bis zur Wut, konnte dem Hauptmann nichts willkommener sein als Exilis teuflisches Geheimnis, das ihm die Macht gab, alle seine Feinde zu vernichten. (IV, 786)

Die extreme Verdichtung der Erzählung erlaubt es nicht, das Ungeheuer, dass der Hauptmann darstellt, an positiven Bestimmungen oder tatsächlichen Handlungen kenntlich zu machen: Leidenschaft, Eifersucht und Rachsucht bezeichnen nicht mehr als einen Mangel an Affektkontrolle und „Laster aller Art“ eine Triebökonomie der Beliebigkeit. Der Hauptmann ist kein böser Charakter, sondern eben ohne Charakter, eine Leerstelle, die besetzt wird von der zuvor ortlosen Pariser Monstrosität. Diese Art der Monstrosität, die sich in Hoffmanns Beschreibung weder durch die Institution Familie noch durch die Strafjustiz bändigen lässt, vervielfacht sich schnell. Ihr Reproduktionsmodus ist der der Ansteckung, den Hoffmann auch andernorts für Formen psychischer oder moralischer Defizienz verwendet – die Ausbreitung der Tollheit in Irland etwa wird (von einem Engländer) in den Elixieren des Teufels verglichen mit der eines Schnupfens. Im frühen neunzehnten Jahrhundert ist der Gedanke der Übertragung monströser Keime beim Geschlechtsverkehr eine der einflussreichsten Theorien über die Verbreitung psychischer Krankheiten.22 Im Fräulein von Scuderi entsteht Monstrosität erst durch den Kontakt zweier Träger der „Entartung“, stellt also offenbar eine Steigerungsform derselben dar: Die Brinvillier war ein entartetes Weib, durch Sainte Croix wurde sie zum Ungeheuer. Er vermochte sie nach und nach, erst ihren eignen Vater, bei dem sie sich befand, ihn mit verruchter Heuchelei im Alter pflegend, dann ihre beiden Brüder und endlich ihre Schwestern zu vergiften; den Vater aus Rache, die andern der reichen Erbschaft wegen. (IV, 786)

Die Marquise de Brinvillier durchläuft fast alle denkbaren Steigerungsformen exzeptionell kriminellen Verhaltens, beginnend bei Verstößen gegen die Sexualmoral bis zum Eltern- und Geschwistermord. Dennoch wird die Formulierung einer „Ungeheuerlichkeit“ ihrer Verbrechen dadurch sabotiert, dass sie durch eine Reihe von Prätexten plausibilisiert werden: Zu den wissenschaftlichen Arbeiten Glasers und Exilis als materieller Voraussetzung kommt ein Versagen der Institutionen Staat und Familie und späterhin die Begegnung mit dem Hauptmann. Eine seltsam unklare Fährte legt Hoffmann mit der Formulierung „aus Rache“.23 Zentral für den weiteren Verlauf der Erzählung ist

22  Vgl. dazu die Darstellung des Degenerationsdiskurses bei Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des neunzehnten Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002, S. 314–315, S. 354. 23  Hier liegt eine mögliche Schillersche Erklärung, die aber nicht ausgeführt wird: Die Marquise ist vielleicht als Verbrecherin aus verlorener Ehre angelegt. Hoffmann scheint allerdings die Geduld zu fehlen, bei psychologischen Plausibilisierungen zu verweilen.



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dagegen der Prätext ökonomischen Interesses, der einen großen Anteil der folgenden Morde und im Sinne einer Perversion sogar die zentrale Mordserie der Erzählung motiviert. So wenig sich Hoffmann mit den Lebensgeschichten und Charakterbildern des mordenden Paares aufhält, so zahlreich und ausdrücklich sind die Andeutungen auf psychologische, familiäre, politische und wirtschaftliche Grundlagen des Verbrechens.

3.3 Abweichung und Wiederholung Wenn Hoffmann Sainte-Croix und Madame de Brinvillier als „Ungeheuer“ deklariert, lassen sich zwei Aussagen über das Ungeheuerliche bereits hier treffen: Erstens ist das Monstrum motiviert – anders als im teratologischen Modell der Triebhemmung allerdings aus einer sozialen Konstellation ableitbar. Zweitens passt der Hoffmannsche Begriff zu keiner der beiden gegenläufigen Bedeutungen des Begriffs, die in zeitgenössischen Wörterbüchern festgehalten sind: Ein Ungeheuer ist weder ein übergroßes, eindeutig identifizierbares, singuläres Phänomen des Abweichenden (sondern so unauffällig, dass es sich über Jahre hinweg tarnen kann), noch entspricht es dem Diminutiv der kleinen Geschmacklosigkeit (es bleibt gefährlich). Die Veränderung, die das Monströse in Hoffmanns Erzählung durchläuft, ist präziser als Universalisierung des Anormalen denn als Banalisierung zu beschreiben. Hoffmanns panoramatisches Modell macht das Monster vergleichbar und das Monströse wiederholbar; diese Festlegung scheint wichtig genug, um im einzigen eingeschobenen Erzählerkommentar herausgehoben zu werden: Die Geschichte mehrerer Giftmörder gibt das entsetzliche Beispiel, daß Verbrechen der Art zur unwiderstehlichen Leidenschaft werden. Ohne weitern Zweck, aus reiner Lust daran, wie der Chemiker Experimente macht zu seinem Vergnügen, haben oft Giftmörder Personen gemordet, deren Leben oder Tod ihnen völlig gleichgültig sein konnte. (IV, 786)

Das semantische Feld der Wiederholung – mehrere, Beispiel, oft – zeigt eine sehr weitreichende Veralltäglichung an. Hoffmanns poetische Doppelstrategie, die Gefährlichkeit des Außergewöhnlichen und die des Regelfalls zu verbinden, führt in das poetologische Paradoxon einer Erzählung von einer unerhörten Begebenheit, die gerahmt ist von unerhörten Begebenheiten, als Beispiel weiterer unerhörter Begebenheiten herangezogen wird und vom Unerhörten überhaupt besagt, dass es sich ständig ereignet. Das Verbrechen als „unwiderstehliche Leidenschaft“ projiziert ein zentrales Anliegen der Lebenswissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts auf das Jahr 1680: Die Frage nach dem motivlosen Mord. Dass Hoffmann, Leser von Pinel und Reill24

24  Zu beiden Autoren vgl. das folgende Kapitel. Hoffmanns Lektüren sind sowohl aus der SerapionsErzählung als auch aus seinen juristischen Schriften nachweisbar. Im Fall Schmolling etwa erkennt

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überganglos auch diese Verbrechensform aufruft, folgt zunächst derselben Logik des Exzesses, die den Schrecken der Ausnahme und den der Regel nebeneinanderstellt: Jede Steigerungsmöglichkeit wird wahrgenommen, und nach Foucault ist nichts erschreckender als ein Verbrechen, dem sich kein Motiv zuordnen lässt.25 Zugleich ist der motivlose Mord Teil einer genuin poetischen Strategie der Repräsentation ortloser Monstrosität. Hoffmanns Verhältnis zur motivlosen Triebtat ist dabei zumindest ambivalent: Als poetisches Sujet taucht sie in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder al zentrales Versatzstück auf, in seinen richterlichen Voten dagegen mehrfach als unplausibles Konstrukt. So entscheidet er etwa zu Ungunsten des Angeklagten Wilhelm S., dessen Erzählung nicht im Wesentlichen von der im Folgenden analysierten Aussage Cardillacs abweicht. Wilhelm S. gibt an, „daß ich nicht zu erklären weiß, wie ich dazu gekommen, wie ich es tat, und wie ich gerade das Mittel wählte“, er weiß seinen „Zustand nicht anders, als den eines Berauschten zu erklären“. Er behauptet weiter: „doch wußte ich nicht […] was ich eigentlich gemacht hatte“; auch der Begriff des „Nachtwandlers“ fällt. (VI, 646–648) Bemerkenswerterweise weist Hoffmann das Narrativ des Angeklagten in ganz ähnlichem Vokabular ab, wie es zeitgenössische ­Literaturkritiker und im Besonderen Kritiker von Hoffmanns eigenen literarischen ­Publikationen verwenden: „Das völlig Unglaubliche und Abgeschmackte dieser Behauptung fällt in die Augen und bedarf keiner Widerlegung.“ (VI, 649) Das Motiv des motivlosen Mords als Neuerung auf ästhetischem wie juristischem Gebiet mischt sich im Fräulein von Scuderi allerdings mit dezidiert motivierten Handlungen: „Reichtum – ein einträgliches Amt – ein schönes, vielleicht zu jugendliches Weib – das genügte zur Verfolgung auf den Tod.“ (IV, 788) Grundlage monströser Handlungen sind demnach zunächst ökonomische, sexuelle, machtpolitische, kurz: eindeutig bestimmbare Motive. Die zeitgenössische deutsche und französische Psychiatrie versucht, groß­ flächig Verbrechen „ohne weitern Zweck“ zu dokumentieren, Einzelfälle, die zwar unter Sammelbegriffe zusammengefasst werden können, aber in Korrespondenz mit dem neuen, feinmaschigen und individualisierten Kontrollnetz singulär bleiben. Hoffmanns Erzählung dagegen nimmt eine Universalisierung des schlimmsten vorstellbaren Verbrechens vor, des Mordes: Giftmörder sind demnach nicht absolute Einzelfälle,

Hoffmann zwei Formen der Aufhebung moralischer Freiheit dezidiert im Rekurs auf Pinel und Reil an: den partiellen Wahnsinn in Form der „fixen Idee“ und den periodischen Wahnsinn als „intermittierende Tobsucht“ (Hoffmann VI, S. 691–730. Hier: S. 710.) Als solche gilt ihm „der blinde und unwiderstehliche Drang zum Morden“ (ebd., S. 712). Zu Hoffmanns juristischer Karriere vgl. Wulf ­Segebrecht: E. T. A. Hoffmanns Auffassung vom Richteramt und vom Dichterberuf. Mit unbekannten Zeugnissen aus Hoffmanns juristischer Tätigkeit. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 11 (1967). S. 62–138. 25  Vgl. zum ebenso plötzlichen wie zahlreichen Auftauchen der entsprechenden Gutachten, etwa Griesingers und Esquirols, das folgende Kapitel. Foucault bezeichnet als Gründungsmotiv der Psychiatrie „ein grundloses Verbrechen, ein Verbrechen, das die absolute Gefahr, die in den Gesellschaftskörper eingeschleuste Gefahr, darstellt“. Foucault, Die Anormalen, S. 160.



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sondern „Beispiele“ für eine anthropologische Konstante, deren Grundlagen Wille zum Wissen, sexuelles Begehren und ökonomisches Streben nicht allgemeingültiger formuliert werden könnten. Das Sprechen über das Ungeheuer ist also nicht ausschließlich ein Sprechen über den Wahnsinn als Ausnahmefall, das einen zentralen Topos der Hoffmann-Forschung darstellt26, sondern ebenso über die Verselbständigung elementarer Bedürfnisse. Monströse Phänomene fehlen in den wenigsten von Hoffmanns Erzählungen. Der Geisteskranke ist nur ein Bestandteil eines ganzen Kabinetts von Verunsicherungen der menschlichen Form in Hoffmanns Prosa, zu dem auch Märchenwesen, Doppelgänger, Gespenster, Automaten, sprechende Haustiere und Insekten, Mesmerisierte und Künstlerfiguren gehören und die in Hoffmanns Erzählungen geradezu den Regelfall darstellen. Das Personal seiner Erzählungen unterliegt so mehrheitlich einer Unsicherheit mit Blick auf seinen Status als real oder imaginär, einfach oder doppelgängerisch, bei klarem Verstand oder delusionär, tot oder lebendig, menschlich oder tierisch. Die Grenzfälle des Menschlichen sind jeweils Ausdruck einer problematischen Bestimmung desselben, deren Problematisierung allerdings so flächendeckend betrieben wird, dass von körperlicher und geistiger Regelhaftigkeit einer Person nur selten ausgegangen werden kann. Die Dynamisierung des Verhältnisses von Norm und Ausnahme, die Meckels und Geoffroy St. Hilaires Forschungen betreiben, erhält in Hoffmanns Schriften insofern eine ganz andere Dimension, als es der phantastischen Erzählung freisteht, beider Verhältnis ohne kontroverse epistemologische Neubestimmungen schlicht umzukehren. Die Frage nach der Reproduktion monströser Formen ist zentral für Hoffmanns gesamtes Erzählwerk und erhält allein im Fräulein von Scuderi mehrere heterogene Antworten. An die Seite des syphilitischen Modells der Kontamination (1) tritt mit dem Begriff der Vererbung ein (2) dynastisches Modell der Vererbung, das auch die Elixiere des Teufels prägt. Als wäre sich der Erzähler einzig der Tatsache einer raschen Verbreitung, nicht aber ihrer Ursachen ganz bewusst, enthält die Metapher des (3) Gespenstes ein weiteres Modell, das des Wiedergängers, das in Hoffmanns Prosa bei weitem am häufigsten auftaucht (z. B. in Das Majorat, Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, Das Öde Haus) und ihm zu Lebzeiten den Beinamen „Gespenster-Hoffmann“ eingetragen hat. Eng verbunden mit der spirituellen Wiederkehr ist die monströse Spiegelung menschlicher Individualität im Doppelgänger oder allgemeiner Menschlichkeit im Automaten (4), die im Fräulein von Scuderi ausnahmsweise fehlt, aber etwa den Sandmann, Die Automate oder den Kreisler-Erzählstrang des Kater Murr bestimmt.

26  Reuchlein weist die in der Romantikforschung topische These einer schlichten Nobilitierung des Krankhaften zumindest im Zusammenhang mit Hoffmanns Werk zurück, konstatiert aber dennoch eine Verbindung des Wahnsinns zu Genie, Einsicht und Künstlertum. Georg Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts. München 1986. S. 222–230 und 243–280.

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So einfach die Reproduktion und Verbreitung des Monströsen in den Erzählungen Hoffmanns ist, so schwierig ist ihre Kontrolle. In einer ersten Auflösung wird Sainte Croix „durch die ewige Macht des Himmels“ (IV, 787) gerichtet, die Brinvillier durch die Strafjustiz. Die Überlappung theologischer und juristischer Modelle wie auch heterogener Strukturen des Staatsapparates, deren Ahistorizität Kittler anmerkt27, liefern einen weiteren Hinweis auf die historische Doppelbödigkeit der Erzählung, die sich stets auf zwei historische und juristische Kontexte zugleich bezieht. Die Beweise gegen die Mörder sind doppelt: Indizien, die im siebzehnten Jahrhundert noch nicht hinreichend, und in der Folter erpresste (hier: brieflich festgehaltene) Geständnisse, die im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr notwendig sind. In den polizeilichen Methoden der Erzählung überschneiden sich die Modelle der enquête und des examen.28 Der Aufklärung der ersten Mordserie folgen die Hinrichtung und eine sehr temporäre Erleichterung: Die Pariser atmeten auf, als das Ungeheuer von der Welt war, das die heimliche mörderische Waffe ungestraft richten konnte gegen Freund und Feind. Doch bald tat es sich kund, daß des verruchten La Croix entsetzliche Kunst sich fortvererbt hatte. Wie ein unsichtbares tückisches Gespenst schlich der Mord sich ein in die engsten Kreise, wie sie Verwandschaft – Liebe – Freundschaft nur bilden können, und erfaßte sicher und schnell die unglücklichen Opfer. (IV, 787–788)

Diese geraffte Darstellung kontinuierlicher Verbrechen enthält Hoffmanns gesamte Poetik des Monströsen. Die Techniken des monströsen Verbrechens erscheinen darin als Kunst, eine Verbindung, die das folgende Narrativ des mordenden Goldschmiedes weiter ausführt. Die zentrale negative Definition wird im gleichen Satz gegeben: Das Monster unterscheidet nicht zwischen Freund und Feind, ist also kein berechenbares Phänomen einer Gewalt, über die sich soziale Bindungen und Oppositionen konstituieren, sondern deren radikale Negierung. Drittens aber, und dies scheint die zentrale Vorstellung: Es liegen zwei Formen des Monströsen vor, ein sichtbares und singuläres „Ungeheuer“ und das „Gespenst“ oder die Idee ortloser, unsichtbarer und verschiebbarer Monstrositäten. Beide Konzeptionen sind über die skizzierten vier Modi der

27  Vgl. Kittler, Dichter Mutter Kind, S. 197–218. Analog zum im siebzehnten Jahrhundert deplatzierten Auftauchen eines Burkeschen Pöbels sind die Standrechtsverfahren der Chambre Ardente, wie sie Hoffmann schildert, tatsächlich einem jakobinischen Revolutionstribunal aus der Zeit des Grande Terreur ähnlicher als den standesabhängigen Gerichtsverfahren des siebzehnten Jahrhunderts: So wird etwa ein Pair hingerichtet, ohne dass auf seinen Stand Rücksicht genommen wird. Ein stets gefährdeter, sichtbarer und angreifbarer Adel erinnert an die Revolution: „Noch war die Erfindung der zierlichen Glaskutschen so neu, daß das neugierige Volk sich zudrängte, wenn ein Fuhrwerk der Art auf den Straßen erschien. So kam es denn auch, daß der gaffende Pöbel auf dem Pontneuf die Kutsche der Montansier umringte …“ ( Hoffmann IV, S. 694) 28  Die Abwendung von der Untersuchung und die Hinwendung zu Überwachung und Prüfung gilt als historische Neuerung der Strafjustiz des neunzehnten Jahrhunderts. Vgl. Michel Foucault: Die Wahrheit und die juridischen Formen. Frankfurt a. M. 2003. S. 86–87.



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­ eproduktion so ineinander verschränkt, dass sie sich nicht voneinander lösen lasR sen. Ein monströses Einzeldelikt ist innerhalb dieser Konzeption nicht denkbar: Alle Morde der Erzählung sind seriell, die Gift- wie die Dolchmorde.

3.4 Überpersönliche Monstrosität Die Zuschreibung des Monströsen an eine einzelne figurative Entsprechung stellt sich als Irrtum heraus. Dasjenige Ungeheuer, das juristisch belangt werden kann, ist zwar materiell und personal, aber zugleich auch nur eine flüchtige Personifikation. Die grundlegende überpersönliche Monstrosität dagegen pflanzt sich fort und ist weder moralisch, noch juristisch, noch psychologisch fassbar. Die vier oben genannten ­Modelle der Reproduktion des Monströsen sind metaphorische Umschreibungen des Monströsen als eines übergreifenden Formprinzips, das sich beständig verflüchtigt und neu materialisiert. Jenseits dieser Metaphern von Fortpflanzung, Ansteckung, Wiedergänger und Doppelgänger geht die epidemische Ausbreitung des Monströsen zu Lasten des Menschlichen im Fräulein von Scuderi zurück auf eine nicht metapho­ rische Mimesis29: Verbrechen erzeugt strukturell Verbrechen, indem es nachgeahmt wird. Der omnipräsente Verdacht führt zum Verlust der sozialen Bindungen wie Familie, Freundschaft und Liebe: „und wo sonst Lust und Scherz gewaltet, spähten verwilderte Blicke nach dem verkappten Mörder“ (IV, 788). So bestimmend ist das Motiv des Mordes in der Pariser Gesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts nach Hoffmann, dass jeder Blick der Vergewisserung dient, sich nicht dem Menschenmonster gegenüber zu sehen – nicht nur die Mörder „verwildern“, sondern auch ihre potentiellen Opfer. Modus der Kommunikation über das Monströse ist das Gerücht, das in Geschwindigkeit, Quellenunsicherheit und Verfremdungspotential die frühneuzeitlichen Flugschriften über Missgeburten sogar übertrifft. Das Gerücht selbst hat Shakespeare als „many headed monster“ bezeichnet, und eben so findet es sich dargestellt in den prominenteren bildlichen Darstellungen nach der Trennung von fama und rumor.30 In Hoffmanns Erzählung erschafft das Gerücht Monster in kollektiven Angstphantasien und initiiert zugleich eine kollektive Mimesis an das Monströse. Die Stadtbevölkerung wird zu einem Ungeheuer mit hunderten von Augen, Ohren und Zungen:

29  Bergengruen hat überzeugend argumentiert, dass im Zentrum der Erzählung nicht Vererbung, sondern Literatur im Sinne der „Weitergabe symbolischer Inhalte“ stehe. Mit dem weiter gefassten Begriff der Nachahmung sollen hier auch diejenigen Prozesse bezeichnet sein, die nicht Ergebnis poetischer Reproduktion im engeren Sinne sind. Vgl. Maximilian Bergengruen: Das monströse Erbe (der Literatur). Ehebrecher, Verbrecher und Liebende in E. T. A. Hoffmanns ‚Das Fräulein von Scuderi‘. In: Günter Oesterle, Roland Borgards, Christiane Holm (Hg.): Monster. Zur ästhetischen Verfasstheit eines Grenzbewohners. Würzburg 2010. S. 219–237. Hier. S. 234. 30  Vgl. Kai Wiegandt: Crowd and Rumour in Shakespeare. Burlington 2012. S. 107–110.

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Desgrais’ Geschichte wurde in Paris bekannt. Die Köpfe waren erfüllt von den Zaubereien, Geisterbeschwörungen, Teufelsbündnissen der Voisin, des Vigoureux, des berüchtigten Priesters le Sage; und wie es denn nun in unserer ewigen Natur liegt, daß der Hang zum Übernatürlichen, zum Wunderbaren alle Vernunft überbietet, so glaubte man bald nichts Geringeres, als daß, wie Desgrais nur im Unmut gesagt, wirklich der Teufel selbst die Verruchten schütze, die ihm ihre Seelen verkauft. (IV, 793)

So wird durch die Kombination von Angstphantasien nacheinander aus einem Einzeltäter eine Bande der „Geheimnisvollen“, ein Gespenst und eine Teufelsfigur, und parallel aus der Pariser Bevölkerung eben jene Ansammlung potentiell monströser Subjekte, die in stetiger Erwartung des monströsen Ereignisses oder der eigenen Monstrifizierung lebt. Entsprechend nimmt auch die Zahl der Verdächtigen zu: „und so kam es, daß nicht allein Hinrichtung auf Hinrichtung folgte, sondern auch schwerer Verdacht auf Personen von hohem Ansehen lastete.“ (IV, 789) Unter Verdacht stehen eine Reihe hochgestellter Personen – ein Kardinal, eine Herzogin und ein Reichsmarschall. Sie stellen nicht einmal Personifikationen der Mordlust dar, sondern lediglich Verdachtsfälle und Beispiele für inflationäre Verwendung und Statusverlust dieses Signifikanten, dessen Universalisierung sich schließlich an seiner Personifizierung ablesen lässt. Der Mord selbst erscheint als „ein Wesen, das immer mehr überhand nahm“ (IV, 788). Die nächste eindeutige Personifikation des Verbrechens in der Erzählung, eine Schülerin von Sainte Croix mit Namen la Voisin, stellt nur eine flüchtige Materialisierung dar31: Mit ihren zwei Gehilfen wird sie nicht mehr nur enthauptet, sondern verbrannt. In ein dialektisches Verhältnis zum unsichtbaren Terror der Gespenster, Giftmörder und nächtlichen Teufel tritt ein staatlicher Terror, der sich in der Bekämpfung des ungeheuerlichen Verbrechens diesem strukturell annähert. Auf höchste Veranlassung wird eine „furchtbare Chambre ardente“ geschaffen, die die „Greuel unzähliger Hinrichtungen“ verübt und „ganz den Charakter der Inquisition“ annimmt. (IV, 789) Selbst die Obrigkeit aber (bzw. der Polizeiapparat) kann nicht monströse Züge annehmen, ohne dass ihm eine konkrete Figur entspräche: „Mich dünkt, ich sehe ihn in diesem Augenblick!“ antwortet eine unschuldig Verdächtigte auf die Frage, ob sie den Teufel gesehen habe. Ihr gegenüber sitzt, „von garstigem Ansehen und heimtückischem Wesen“ (IV, 789), la Regnie, der Leiter der Geheim­ polizei, dem seine eigene Wirkung durchaus bewusst ist, wie die Detektivin erfährt: „Aber vor Euch, mein würdiges Fräulein, möcht’ ich nicht für ein Ungeheuer gehalten werden“ (IV, 813–814). Die Selbstbeschreibung des genialischen Ermittlers Desgrais wiederum reflektiert diese Kommunikation von Verbrechen und Staatsapparat im Gewalt­exzess. Seine Binnenerzählung führt in einer diabolischen Metapher krimi-

31  Die eingangs erwähnte Akkumulations-Ästhetik Hoffmanns zwingt ihn geradezu, unter den Schrecken monströser Formen auch eine Hexe aufzurufen. Madame la Voisin ist aber, etwa verglichen mit der Figur des Äpfelweibs im Goldenen Topf, nur ein entferntes Zitat des märchenhaften Archetypus Hexe. Hoffmann hält also die Geschichte von übernatürlichen Phänomen weiterhin frei.



Überpersönliche Monstrosität 

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nelle ­Außenwelt und kriminalistisches Innenleben parallel: „Am Louvre steh’ ich also und passe, die ganze Hölle in der Brust, auf die Teufel, die meiner spotten.“ (IV, 791, Herv. JNH) Die drei konstitutiven Spannungen des Monströsen werden durch die raschen Figurations- und Defigurationsprozesse in der Erzählung beständig aktualisiert. Sicht­bares Monster und unsichtbares Gespenst wechseln sich ab, aber auch Fiktion und Wirklichkeit, die im Gerücht nicht zu unterscheiden sind. In der monströsen Spiegelung von Verbrecher und Bevölkerung erfährt die Unterscheidung fremd/eigen eine politische Problematisierung. Die Abfolge von monströsen Verbrechen und gleichartiger Verbrechensbekämpfung stellt dabei nur die Außenansicht des Ungeheuers dar, als das Hoffmann Mord und Mordlust konzeptualisiert. Mit dem Geständnis des Goldschmieds steuert die Erzählung aber auf einen Zielpunkt zu, der sich als erster Monolog des Triebs, nämlich als verbale Artikulation derjenigen unerklärlichen Kraft bezeichnen lässt, auf die Verbrechen ohne offenkundige persönliche Vorteilnahme im frühen neunzehnten Jahrhundert zurückgeführt werden. Charakterisiert als Trieb, spricht bei Hoffmann tatsächlich eine irrationale monströse Instanz, und zwar durch den Goldschmied René Cardillac. Cardillac ist Patriarch einer Kleinfamilie, „gegen die auch nicht der geringste Verdacht aufkommt“ (IV, 792) und als genialer und psychisch labiler Goldschmied in die Reihe Hoffmannscher Künstler- und Meisterfiguren gestellt. Auf ihn fällt Verdacht erst nach seinem Tod, die Aufdeckung seiner Schuld definiert den Spannungsbogen der Detektivgeschichte. Zunächst unpersönlich „zeigte sich ein neues Unheil andrer Art“ (IV, 790). Reiche Adlige werden, auf dem Weg zu geheimen Verabredungen mit ihren Geliebten, hinterrücks erdolcht und die jeweiligen Juwelen, die sie als Geschenk mit sich führen, werden gestohlen. Die Ermittlungen der Polizei wie der Bevölkerung richten sich auf eine unbekannte Diebesbande und, wiederum auf ein im Alltäglichen situiertes Phantastisches: „als stünden die Gauner mit Geistern im Bund“ (790). Der tatsächliche Mörder wird folgendermaßen eingeführt: René Cardillac war damals der geschickteste Goldarbeiter in Paris, einer der kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seiner Zeit. Eher klein als groß, aber breitschultrig und von starkem, muskulösem Körperbau, hatte Cardillac, hoch in die funfziger Jahre vorgerückt, noch die Kraft, die Beweglichkeit des Jünglings. Von dieser Kraft, die ungewöhnlich zu nennen, zeugte auch das dicke, krause, rötliche Haupthaar und das gedrungene, gleißende Antlitz. Wäre Cardillac nicht in ganz Paris als der rechtlichste Ehrenmann, uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu helfen bereit, bekannt gewesen, sein ganz besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen hätten ihn in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können. (IV, 799)

Cardillacs Physiognomie ist sowohl die eines Verbrechers als auch die eines Künstlers. Das „gleißende“ Antlitz ruft eine vage diabolische Assoziation auf. Eine teuf­lische Energie ist bis zum Ende der Erzählung allerdings nur in den wenigen Momenten des Kontrollverlusts zu erkennen: „So konnte er sich aller Zeichen des tiefsten Verdrusses, ja einer innern Wut, die in ihm kochte, nicht erwehren“ heißt es, an anderer Stelle lacht er „wie der Teufel zum Fenster hinaus“. (IV, 798, 801) Zentrales Problem der poli-

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zeilichen und detektivischen Ermittlungsarbeit ist die mangelnde Sichtbarkeit dieser innerlichen Monstrosität: Gesucht wird ein offensichtlich monströser Täter. Eine Verbindung von Olivier Brusson als dem Schwiegersohn des unbescholtenen Cardillac zu den Verbrechen wird unmöglich, indem er von der Bereitschaftspolizei persönlich erkannt wird. Die Sicherheit des Fräuleins, in Brusson nicht den Mörder vor sich zu sehen, ist durch seine unzweifelhaft „reine“ Physiognomie gewonnen. Die Polizei weitet ihre Ermittlungen auf Cardillac auch deshalb nicht aus, weil seine Familie nicht verdachtsfähig ist. Die Schwierigkeit solcher physiognomisch informierter und am Leumund orientierter Ermittlungsarbeit liegt darin, als Urheber eines ungeheuren Verbrechens nur ein deutlich markiertes Ungeheuer verdächtigen zu können. Ein solches Ungeheuer aber unterliegt nicht den Naturgesetzen und kann unversehens im Erdboden verschwinden, wie es während der polizeilichen Ermittlungen mehrfach zu geschehen scheint. Ein fassbares Menschenmonster dagegen, das gestellt und bestraft werden kann, ist in seiner bürgerlichen Identität gar nicht von seiner Umgebung zu unterscheiden. Zum Ungeheuer wird Cardillac erst, indem er das monströse Potential bürgerlicher Identität realisiert, das Hoffmann in einer architektonischen Metapher umschreibt. In Analogie zur Unterwanderung des Subjekts durch den Trieb prägt Hoffmanns Erzählungen eine Reihe architektonischer Besonderheiten: Orte des unsichtbaren Monströsen sind bei Hoffmann meist integriert in das bürgerliche Heim, dabei aber stets verschlossene und in sich geschlossene Sub-Räume. Traditioneller Ort des Monsters in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts ist Walpoles Spukschloss, in Hoffmans Erzählung Das Majorat schon nur noch als zitathafter Nicht-Ort angeführt. Die neuen Orte des Grauens stellen eine Topographie des bürgerlichen Lebens dar: Der Teufel wohnt der Behaglichkeit halber in Berlin, der Wechselbalg Klein-Zaches und der Android Olimpia im Sandmann reüssieren auf bürgerlichen Teegesellschaften, Coppelius sucht die städtische Familienwohnung heim, Meister Floh sogar das bürgerliche Schlafzimmer, und auch die Börse als ökonomisches Zentrum der bürgerlichen Weltordnung wird im Artushof bespukt. Diese Orte des Bekannten und Sicheren unterliegen nun sämtlich einer Subversion von innen heraus: Im Keller liegt das geheime Labor des Vaters im Sandmann, hinter verschlossenen Türen der Saal, in dem Die Automate aufgereiht sind, im Nussknacker-Märchen ist es ein Wandschrank, in dem die Spielfiguren zum Leben erweckt werden, kleinere Nischen nutzen der sprechende Kater Murr als sprechendes, sehr bürgerlich-banales Monster an der Schnittstelle Mensch/Tier ebenso wie Hoffmanns anthropomorphe Flöhe oder Ameisen (Meister Floh, Signor Formica). Ausgeschlossen wird in diesem Dreischritt vom Spukschloss über das Wohnzimmer zum Geheimkabinett das Phantastische als das ganz Andere der bürgerlichen Existenz, an dessen Stelle das alltägliche Grauen tritt.32 Im Fräulein

32  Heim/Heimliches und Unheimliches werden nicht einfach deckungsgleich wie bei Freud (vgl. Freud, Das Unheimliche, S. 248), sondern bleiben räumlich unterscheidbar: Das Unheimliche ist bei



Das Geständnis des Goldschmieds 

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von Scuderi nun unterläuft ein geheimer Gang das bürgerliche Heim der Familie. In der Schilderung des Goldschmiedes klingt durch, dass erst diese Struktur, nämlich die heimliche Unterwanderung des Hauses, zugleich des Ortes und des Signifikanten der Unbescholtenheit, ihm die Idee eingibt, seiner eigenen Unterwanderung stattzugeben: „Dunkle Gedanken stiegen in mir auf, als ich diese Einrichtung sah, es war mir, als sei vorgearbeitet solchen Taten, die mir selbst noch Geheimnis blieben.“ (IV, 834) Die Häufung ähnlicher Strukturen in Hoffmanns Erzählungen legt nahe, die materiale Unterwanderung in den Beschreibungen des bürgerlichen Heims zumindest als Analogie zu, wenn nicht Allegorie auf, die psychische Verfassung seiner Bewohner zu lesen: Die Unterwanderung des bürgerlichen Heims stellt eine architektonische Entsprechung zur unheimlichen Seite seiner Bewohner dar.

3.5 Das Geständnis des Goldschmieds Sein Geständnis beginnt Cardillac gegenüber seinem Schwiegersohn mit dem Verweis auf eine familiäre Vorgeschichte: Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind. (IV, 831)

Cardillacs Mutter, bereits schwanger, fühlt sich bei einem Ball magisch angezogen von einer Juwelenkette am Hals eines spanischen Kavaliers, der ihr Interesse als sexu­ elles missdeutet. Es kommt zu einer Liebesszene, aber in dem Moment, als sie nach der Kette greift, verstirbt der Kavalier plötzlich, umklammert sie jedoch noch im Tode; erst nach langem Kampf mit der Leiche kann sie befreit werden. Der Einfluss pränataler Eindrücke, die sich von der Psyche der Mutter auf die des Kindes übertragen, ist 1819 wissenschaftlich obsolet. Hoffmanns Faszination für alle Nachtseiten der Wissen­ schaft, die neben Mesmerismus, Geisterbeschwörungen oder dem Spannungsfeld von Elektrizität und Magie33 eben auch Lavaters Eindruckslehre umfasst, legitimiert sich hier durch die Rückverlegung der Geschichte ins siebzehnte Jahrhundert. Die erneute Verbindung von Tod, Sexualität und materieller Gier ist dagegen insofern höchst avanciert, als sie durch die Institutionen Kunst und Familie verklammert wird. Ihr offensichtliches Bindeglied stellt der kunstvolle Schmuck dar, der zu Cardillacs Obsession wird. Friedrich Kittler hat gegenüber Richard Alewyn zu Recht einge-

Hoffmann nicht zum Heim gehörig und kein Aspekt des Heimischen, sondern ein klar erkennbarer Fremd-Raum. Eine Analyse der subversiven Ränder, Wandschränke und Aushöhlungen der Bürgerwohnung fehlt in der Hoffmann-Forschung seltsamerweise bislang. 33  Vgl. Rupert Gaderer: Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E. T. A. Hoffmann. Freiburg u. a. 2009.

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fordert, daneben die prä-psychoanalytische Dimension dieser Verbindung zu berücksichtigen.34 Die Figur der Mutter stellt zugleich den Ursprung des Rätsels und die einzige mögliche Instanz zur Lösung des Rätsels dar: Cardillacs Begehren kopiert das seiner Mutter; um seinen Schwiegersohn Brusson freizusprechen, bedarf es des Fräuleins, das ihm die Mutter ersetzt. Die Koppelung von Sexualität und Besitzstreben agiert Cardillacs Mutter aus, das Fräulein dagegen formuliert sie in einem improvisierten Zweizeiler: „Un amant qui craint les voleurs, n’est point digne d’amour.“ (IV, 795) Diese poetische Reflexion besagt, Liebe müsse das Verbrechen zulassen, um legitim zu sein. Die auslösenden Momente des Triebs, der den motivlosen Mord bedingt, sind also die gleichen wie in Hoffmanns Konzeption des motivierten Mordes im Fall der Marquise Brinvillier und des Hauptmanns Sainte-Croix: sexuelles Begehren, familiäre Bindung, ökonomisches Streben, Affinität zu Kunstgegenständen. Diese Parallelität von bürger­lichem und pathologischem Begehren plausibilisiert Hoffmanns architektonische Metapher zusätzlich: Eingebaut in das Heim selbst, d. h. innerhalb der Strukturen, über die sich das soziale Gefüge bestimmt, finden sich Geheimgänge und Sub-Strukturen, die das Gefüge subvertieren. Diese Subversion legt Cardillacs Geständnis offen. Das Geständnis Cardillacs ist vierfach vermittelt, wobei jede Instanz des Sprechens auf das Verstummen der vorangegangenen angewiesen ist. Bereits Cardillac gibt nur das Sprechen einer inneren Stimme aus der Erinnerung wieder, die zum Zeitpunkt seiner Erzählung schweigt. Brussons Wiedergabe von Cardillacs Erzählung wird erst möglich, als dieser tot ist. Eine dritte Brechung liegt vor mit Blick auf die Staatsgewalt, die nur aus den Angaben der Dichterin Scuderi die Erzählung Brussons rekonstruieren kann, eine vierte mit Blick auf den poetologisch interessierten und keineswegs neutralen Rahmenerzähler, den Serapionsbruder Sylvester. Hoffmann stellt sein Wissen um die Mittelbarkeit des Zugriffs der konkurrierenden Modelle von Poesie und Wissenschaft auf Devianz in der Rahmenerzählung vom Heiligen Serapion aus: Erzählungen über den Trieb sind, und dies unterscheidet seine Position von denen der Psychiater seiner Zeit, zwar als authentische Äußerungen des Triebtäters konzipiert, die allerdings mehrere dem Text äußerliche Ursprünge aufweisen. Hoffmanns Tendenz, innerhalb einer einzigen Erzählung archaische Märchenwesen und höchst moderne Automaten unvermittelt nebeneinander zu stellen, ist bereits konstatiert worden – er verfährt durchaus ähnlich mit okkulten, philosophischen und psychologischen Modellen. Die Geistererscheinung steht in Cardillacs Ausführungen als Erklärungsmodell gleichberechtigt neben fortschrittlichen psychologischen Konzepten des Triebs und einem fast psychoanalytischen Begriff der Verdrängung. Über die Entstehung der Mordlust heißt es zunächst:

34  Vgl. Kittler, Dichter Mutter Kind, S. 197–218.



Das Geständnis des Goldschmieds 

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Wie ein Gespenst stand Tag und Nacht die Person, für die ich gearbeitet, mir vor Augen, geschmückt mit meinem Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in die Ohren: ‚Es ist ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die Diamanten dem Toten!‘ […] Jene unheimliche Stimme ließ sich dennoch vernehmen und höhnte mich und rief: ‚Ho ho, dein Geschmeide trägt ein Toter!‘ – Selbst wußte ich nicht, wie es kam, daß ich einen unaussprechlichen Haß auf die warf, denen ich Schmuck gefertigt. Ja! im tiefsten Innern regte sich eine Mordlust gegen sie, vor der ich selbst erbebte. (IV, 833)

Der Trieb als innere Stimme ist „unheimlich“ im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten. Verdrängt ist in Cardillacs Fall die (pränatale) Koppelung seiner Kunst an sexuelle Lust und materielle Gier. Unterschieden werden ein rationales Subjekt des Goldschmieds, das Bericht erstattet, und ein „tiefstes Inneres“, über das er nur ungenau und im Rückgriff auf verschiedene Metaphern wie der einer körperlosen Stimme Auskunft geben kann. Mit dem Modell der Wiederkehr des Verdrängten korrespondieren zwei prominente Figurationen des Monströsen, die des Teufels und des Gespenstes. Vor dem Mord, so beschreibt es Cardillac, spricht das Gespenst, nach dem Mord schweigt es: Die Todesfolter blieb nicht aus – das Gespenst hing sich an meine Schritte – der lispelnde Satan an mein Ohr! […] Dies getan, fühlte ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit in meiner Seele, wie sonst niemals. Das Gespenst war verschwunden, die Stimme des Satans schwieg. (IV, 834)

Gespenst und Mordlust verbindet in Hoffmanns Metapher ihre Flüchtigkeit. Aus dem episodischen Charakter des Gespenstes ergibt sich eine erstaunliche Partialität des Wahns: Worin auch immer er besteht, er lässt das handelnde Subjekt jenseits der Wahnphasen vollständig intakt. So ist Cardillac ein rational planender, vorausschauender und mithin überaus erfolgreicher Mörder, zugleich durchaus liebesfähig, wie sein Verhältnis zu seiner Tochter beweist, und empathiefähig. Er hat dem Gefühl des Mitleids nicht „rein entsagt“, eine konkurrierende innere Stimme des Gewissens befiehlt ihm ausdrücklich auch sozial akzeptiertes Verhalten. (IV, 835) Cardillac ist, als intellektuell, emotional, sogar moralisch funktionsfähiges Subjekt, keineswegs deckungsgleich mit der Stimme, die ihm monströse Handlungen eingibt. Er stellt damit einen Prototyp defigurierter Monstrosität dar, wie sie neben der medizinischen Teratologie auch die Psychiatrie beschreibt: Die Fehlentwicklung umfasst nur einen klar definierten Bereich. Bleibt dieser unsichtbar, ist das Monster nicht als solches zu erkennen. Parallel zu den Metaphern des Gespenstes, des Teufels und der unsichtbaren Stimme greift Cardillac auch auf den abstrakteren Begriff des Triebs zurück: „Nun begann eine Periode, in der der angeborne Trieb, so lange niedergedrückt, mit Gewalt empordrang und mit Macht wuchs, alles um sich her wegzehrend.“ (IV, 833) Was ein Trieb ist, bleibt hier ebenso ungeklärt wie die Herkunft der unheimlichen Stimme. Eine wiederkehrende Metapher für die Unmöglichkeit der Selbstkontrolle angesichts eines übermächtigen Triebs ist „der böse Stern“ (IV, 836). Wie die Lehre vom Versehen der Mutter ist auch die Astrologie um 1819 kein aktuelles Paradigma mehr. Hoffmanns

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Wissenspoetik, die sich an unerklärlichen Phänomenen wie dem motivlosen Mord entwickelt, setzt den moderneren Humanwissenschaften der Medizin, Psychiatrie, Kriminalistik oder Ökonomie immer wieder Erkenntnisgrenzen, an denen archaische Wissensformen zum Tragen kommen. Das Zusammenspiel dieser heterogenen Erklärungsmuster, die stets genug Raum für das Nachtseitig-Unerklärliche lassen, ermöglicht Cardillac, glaubwürdig von Unerhörten zu erzählen, weil es dessen Irreduzibilität intakt lässt: Das autobiographische Narrativ der spontanen Selbstmonstrifizierung wird von den Zuhörern des Goldschmieds unbesehen übernommen. Als Zeuge und selbst fälschlich Angeklagter spricht auch Brusson von Cardillac als einem „gespenstischen Nachtwanderer“ und bestätigt dessen Beobachtungen fast gleichlautend: „Die Worte erfüllten mich mit Entsetzen. Nun wußt’ ich, daß sein irrer Geist wieder erfaßt war von dem abscheulichen Mordgespenst, daß des Satans Stimme wieder laut worden vor seinen Ohren.“ (IV, 838) Dieses Sprechen eines inneren Gespenstes bildet im neunzehnten Jahrhundert die wichtigste Strategie literarischer Wiedergabe von Devianz. Hoffmanns Goldschmied, Sades Liber­tins oder Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre bilden die Prototypen; bei Poe und Maupassant sind die Mörder bereits ganz selbstverständliche Erzähler, Woyzecks Monolog enthält nur mehr die Artikulation der Triebe, die durch ihn hindurch sprechen, und eine unartikulierte Angst vor ihnen. Hoffmann trennt zwischen handelnder Person und Figuration der inneren Stimme wie zwischen verschiedenen Personen: Das Gespenst befiehlt die jeweiligen Handlungen, Cardillac führt sie aus und verweist mehrfach auf diese personale Trennung. Einen späten Höhepunkt erreicht diese Unterscheidung von Verbrechen und Trieb in Fritz Langs „M“: Das organisierte Verbrechen weist eine Verbindung zum Monster, dem Triebtäter und Kindermörder, empört zurück. Aus dem Monolog des Triebs wird ein Dialog zwischen beiden: Das Verbrechen nimmt den Trieb gefangen und richtet über ihn, der Trieb verteidigt sich und kann dennoch niemals vom Verbrechen verstanden werden. Als Normalisierungsinstanz kommt das organisierte Verbrechen im Fräulein von Scuderi noch nicht in Frage. Überhaupt ist die Stimme des Triebs noch weitgehend auf sich gestellt: Der Staatsapparat kann nur im Rahmen einer Überbietungsästhetik, nämlich ebenfalls in Terrorexzessen, antworten. Dennoch ist bei Hoffmann auch das Sprechen des Triebs ein vermitteltes Sprechen und stellt eine Antwort dar auf eine Stimme der Autorität. Dies ist zunächst die Stimme einer prototypischen detektivischen „Mutter“, die unermüdlich der Erzählung des Monströsen lauscht und immer die gleiche Frage stellt: Immer und immer wieder ließ sich die Scuderi die kleinsten Umstände des schrecklichen Ereignisses wiederholen. Sie forschte genau, ob jemals ein Streit zwischen Meister und Gesellen vorgefallen, ob vielleicht Olivier nicht ganz frei von jenem Jähzorn sei, der oft wie ein blinder Wahnsinn die gutmütigsten Menschen überfällt und zu Taten verleitet, die alle Willkür des Handelns auszuschließen scheinen. (IV, 812)



Die Deutung der Unwahrscheinlichkeit 

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Die Überwältigung des pathologischen Subjekts durch den blinden Wahnsinn, also durch etwas, das nicht sieht und keine Vernunft zulässt, korrespondiert deutlich mit einer Erwartungshaltung der vernünftigen Autoritäten. Bis hinauf zum König wird die Rekonstruktion der Scuderi als plausibel akzeptiert. Die Suche nach der versteckten Monstrosität stellt in Hoffmanns historisierender Erzählung, anders als in der Lebenswirklichkeit des neunzehnten Jahrhunderts, noch nicht den Forschungsgegenstand hochspezialisierter Disziplinen wie Anthropometrie und Kriminalistik dar, ebenso wenig, wie das Fräulein ein professioneller Detektiv im Sinne von Dupin oder Sherlock Holmes ist. Dennoch muss die Erzählung des Menschenmonsters vor der quasi-mütterlichen und der staatlichen Autorität bereits klare formale Vorgaben antworten: Bestätigen, eine innere Stimme gehört zu haben und von ihr zu einer monströsen Handlung verleitet worden zu sein, negieren, selbstbestimmt handeln zu können, und sich in der Frage nach dem Ursprung der eigenen Monstrosität, deren Interpretation der Autorität obliegt, ratlos zeigen.

3.6 Die Deutung der Unwahrscheinlichkeit In Ermangelung spezialisierter Disziplinen können nur zwei gesellschaftliche Instanzen die Einforderung und Interpretation der Erzählung des Menschenmonsters leisten: poetischer und juridischer Diskurs, die beide nicht mit Wissen, sondern mit Ahnungen bzw. Wahrscheinlichkeiten operieren. Die Dichterin drückt es folgendermaßen aus: Nicht erwehren kann ich mir einer dunklen Ahnung, daß hinter diesem allem irgendein grauen­ volles, entsetzliches Geheimnis verborgen, und bringe ich mir die ganze Sache recht deutlich vor Augen mit jedem Umstande, so kann ich doch wieder gar nicht auch nur ahnen, worin das Geheimnis bestehe, und wie überhaupt der ehrliche, wackere Meister René, das Vorbild eines guten, frommen Bürgers, mit irgend etwas Bösem, Verdammlichem zu tun haben soll. (IV, 805)

Die Entschlüsselung dieses Geheimnisses gelingt erst, nachdem auf die physiognomische Prämisse einer Sichtbarkeit des Bösen verzichtet wird. Nach dem Geständnis Brussons steht noch dessen institutionelle Anerkennung aus. Die Dichterin bittet einen Juristen um Rat, der wie ein Poetiker antwortet: „D’Andilly hatte ruhig alles angehört und erwiderte dann lächelnd mit Boileaus Worten: ‚Le vrai peut quelque fois n’être pas vraisemblable.‘“ (IV, 842) Der Beitrag des Juristen zur Wahrheitsfindung beschränkt sich auf die grundlegende Privilegierung des Wahrscheinlichen gegenüber dem Wahren in der Aristotelischen Poetik35 und formuliert aus dieser Privile-

35  Die Studie von Rüdiger Campe über dieses poetische Paradoxon des „wahrscheinlichen Unwahrscheinlichen“ setzt bislang nur Manfred Schneider ins Verhältnis zu Hoffmanns Poetik und konstatiert eine antidemokratische Tendenz der Serapionsbrüder. Vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002; ­Manfred

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gierung heraus zugleich einen zentralen Topos der kriminologischen Neuorientierung nach 1800: Die Wahrscheinlichkeit eines rekonstruierenden Narrativs über Verbrechen, Motiv, Indizien und Tätercharakter tritt an die Stelle der unanzweifelbaren Wahrheit des Geständnisses. Wie leicht die Rezeption einer Erzählung über das Menschenmonster, die auf Wahrscheinlichkeit fußt und nicht auf Wahrheit, verschiebbar ist, und damit auch der Signifikant des Monströsen selbst, beweist das Ende der Erzählung. Eine allegorisch zugespitzte Zusammenfassung desselben liest sich folgendermaßen: Die Erzählung des Triebs (Cardillac, Brusson) wird gedeutet von der Poesie (Scuderi) und bestätigt durch das Recht (d’Andilly) und überzeugt auf diese Weise die Macht (den König). Die Aufgabe der Dichterin und in späteren Kriminalgeschichten des Detektivs liegt in der Refiguration universeller Monstrosität. Konfrontiert mit den sichtbaren Spuren und Ergebnissen eines nicht mehr sichtbaren Verbrechens, ist ihre Aufgabe, dem unpersönlichen Verbrechen ein Gesicht zu geben, ein ort- und gesichtsloses, nicht zuordenbares Grauen eindeutig auf einen Täter zu reduzieren. Die Frage, ob es sich beim Fräulein von Scuderi um eine Detektivgeschichte handelt, ist, wie schon Alewyn einräumt, nur bedingt zu beantworten. Sie lässt sich aber, mit einer Formulierung Walter Benjamins über Poes Man of the Crowd, vielleicht als „Röntgenbild einer Detektivgeschichte“36 bezeichnen: Obwohl oder gerade weil ihr integrale Bestandteile des Genres fehlen (wie etwa ein Detektiv), treten die poetischen und politischen Prämissen kriminalanthropologischer Narrative deutlicher hervor, die bereits in den Erzählungen Arthur Conan Doyles nur noch einen halbvergessenen Prätext bilden. Die Erzählung erlaubt mehrere Aussagen über die Bedingungen für das Auftauchen des Monströsen als eines zugleich konstitutiven und destabilisierenden sozialen Elements. Hoffmanns Fräulein von Scuderi enthält dadurch gleichermaßen eine Poetik wie eine politische Theorie des Monströsen.37 Der enge Zusammenhang von Poesie und Gesellschaftsordnung, der sich in der beratenden Funktion der alten Dichterin am Hofe ausdrückt, deutet eine privilegierte Stellung der Literatur im Verhältnis zum Monströsen an, die politisch nutzbar ist. Politisch in einem weniger evidenten Sinne ist die strukturelle Parallelität von sozial sanktionierten und als monströs wahrgenommenen Verhaltensweisen: Galanterie, Besitzstreben oder auch die Affinität zu Kunstwerken sind nur graduell unterscheidbar von radikaler Devianz.

Schneider: Serapiontische Probabilistik. Einwände gegen die Vernunft des größten Haufens. In: Gerhard Neumann: Hoffmaneske Geschichte. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005. S. 259–276. 36  Benjamin, Das Passagen-Werk, V.1., S. 550. 37  Politische Lektüren zu Hoffmanns Erzählungen sind bislang selten. Odila Treibel führt den plausiblen Nachweis, dass Hoffmanns Poetik des Gespenstes die Frage nach einem „Politischen, das nur mit den besonderen Mitteln des Literarischen angewiesen werden kann“ stellt, leider unter Verzicht auf die Gespenster der Fräulein-Erzählung. Vgl. Odila Triebel: Staatsgespenster. Fiktionen des Poli­ tischen bei E.TA. Hoffmann. Köln, Weimar und Wien 2003. S. 9.



Die Deutung der Unwahrscheinlichkeit 

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Eine häufige Annahme innerhalb der Hoffmann-Forschung geht davon aus, dass der Wissenschaft ihre Nachtseite, der Aufklärung eine Gegenaufklärung und der Vernunft ein Wahnsinn entgegengesetzt wird. Allerdings spielt Vernunft in Hoffmanns Erzählung keine sonderlich große Rolle, und sein einziger expliziter Kommentar zur Aufklärung liegt im Klein-Zaches, genannt Zinnober vor.38 Hier taucht Aufklärung zwar als Gegenspieler der Phantastik einmal kurz auf, allerdings nur im Sinne einer einmaligen historischen Häufung von Feenvertreibungen und Rinderpockenimpfungen.39 Stabilisiert werden soziale Beziehungen innerhalb des Fräuleins von Scuderi ebenso wenig über rationales Handeln, wie irrationales Handeln sie destabilisiert. Sowohl rational begründbare Handlungen wie ökonomisch motivierte Verbrechen als auch irrationale Handlungen wie die des Triebtäters Cardillac spielen sich innerhalb des gleichen Dreiecks von Geld, Libido und Kunst ab, aus deren Verbindung eine gesamtgesellschaftliche Monstrosität entsteht. Die jeweilige Befriedigung sexuellen und ökonomischen Begehrens kann gegeneinander eingetauscht werden, wie in der Grund­ situation der Galanterie, die Cardillacs Dolchmorde erst ermöglicht. Beide Bedürfnisse laufen dabei sogar Gefahr, miteinander verwechselt zu werden, wie in der Vorgeschichte zwischen Cardillacs Mutter und dem spanischem Kavalier. Kunst stellt einen Apparat zur sublimierenden Legitimation dieses schlichten Tausches zur Verfügung: Getauscht wird Cardillacs Schmuck statt einfachen Geldes. Eine moralische und poetische Legitimation des Austauschs von Geld und Sex, dessen „Würde“ erst die Kunst sicherstellt, liefert der Zweizeiler des Fräuleins: Um der Liebe willen muss der ökonomische Nachteil in Kauf genommen werden. Diese Verbindung wird zusätzlich sanktioniert durch die politische Macht: Der König ist nicht nur Wahrer der ökonomischen Interessen seiner Untertanen und „oberster Schutzherr der Galanterie“, sondern protegiert auch die Racine, Boileau, Scuderi seiner Umgebung. Es entsteht, theoretisch, ein stabiles Verhältnis sexueller und ökonomischer Interessen, legitimiert durch die Kunst und protegiert durch die politische Macht. Diese Stabilität scheint nun zu keinem Zeitpunkt innerhalb der Erzählung annähernd intakt; der Gedanke liegt nahe, dass schlicht eine der drei Instanzen ihre Aufgabe nicht wahrnimmt. Safranski vermutet eine ideologische Stellungnahme Hoff-

38  Hoffmanns um 1800 unübliche Interessenlage lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass er in Königsberg studiert hat, ohne die Vorlesungen des allgegenwärtigen Professors Immanuel Kant in seinen Tagebüchern auch nur zu erwähnen. 39  Überhaupt ist die Erzählung Klein-Zaches aufschlussreich zur Rekonstruktion von Hoffmanns Konzept der Monstrosität. Klein-Zaches ist ein Wechselbalg, dessen Monstrosität durch den Zauberspruch einer wohlmeinenden Fee für fast alle, denen Klein-Zaches begegnet, unsichtbar ist. Für diejenigen, die ihn in seiner wahren Gestalt sehen, wird sein soziales Prestige, das auf eine kollektive Verblendung zurückgeht, dagegen zur Quelle ohnmächtiger Wut. Klein-Zaches illustriert zwei Momente einer Poetik des Monströsen nach Hoffmann: die konstruktivistische Komponente einer Produktion von Normalität wie Monstrosität durch den Betrachter, und die Konjunktur „kleiner“, banaler Monster, die zwar nicht unmittelbar bedrohlich, dafür aber höchst enervierend sind.

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manns in der Verselbständigung der Kunst: Er gehe in dieser Erzählung „von der Publikumsbeschimpfung zur Publikumsermordung“ über.40 Die biographistische Vermutung, Hoffmann als Künstler übersetze hier sein Leiden am Zwang, seine Kunst den Mechanismen des literarischen Marktes zu überlassen, in die Wut des Goldschmieds, ignoriert allerdings die Omnipräsenz des Monströsen in der Erzählung. Cardillac als Ungeheuer fügt sich schließlich nahtlos ein in seine ungeheuerliche Umgebung. Cardillac ist hier deshalb nicht primär als Künstler- und Meisterfigur interpretiert worden, sondern als vorübergehende Verkörperung eines monströsen Signifikanten, der Paris um 1650 bzw. Berlin um 1800 beherrscht, ohne sich selbst anders zu materialisieren denn als körperloser Trieb. Der ständige Wechsel zwischen Defiguration und Refiguration des Monströsen setzt nicht erst ein, als die Geschichte sich der Kunst Cardillacs zuwendet, sondern an der Basis des skizzierten Dreiecks, nämlich da, wo „ein schönes, vielleicht zu junges Weib“ oder „ein Erbe“ erobert werden mit Hilfe von Gift statt unter Einsatz künstlerischer Sublimierung. Nicht erst die Fetischisierung des Schmucks, sondern der elementare Austausch von Bedürfnissen und Ressourcen ist Ausgangspunkt des Monströsen – hier liegt die Begründung ihrer Universalität. Das Verhältnis des Monströsen zur Wirklichkeit sexuellen und ökonomischen Begehrens fassen die beiden einzigen französischen Sätze, poetisches respektive poetologisches Kernstück der Erzählung, zusammen. Der erste ist gedichtet („Un amant qui craint les voleurs, n’est point digne d’amour“) und postuliert die Notwendigkeit, das monströse Verbrechen als Effekt der standardisierten Kopplung von Sexualität und Öko­ nomie zu tolerieren. Der zweite sagt eigentlich etwas über die Dichtung aus, nämlich, dass Wahrheit und Wahrscheinlichkeit nicht immer zusammenfallen („le vrai peut quelque fois n’être pas vraisemblable“), und kanalisiert als juristischer Ratschlag die Auslegung des Triebnarrativs: Das Ungeheuerliche muss trotz seiner Unwahrscheinlichkeit für wahr gehalten werden. Die angesprochene privilegierte Stellung der Literatur im Umgang mit dem Monströsen liegt wohl in diesem privilegierten Umgang mit dem Unwahrscheinlichen begründet: Sie muss sich nicht an das Gewöhnliche halten muss, sondern darf das Fabulose keck eintreten, mithin das Monstrum in ein ort­ loses Monströses auflösen und in ständig neuen Figurationen zurückkehren lassen. Die Lektüre hat gezeigt, dass es sich bei den Prozessen der Defiguration und Refiguration um zwei Aspekte derselben narrativen Strategie handelt, die voneinander nicht zu trennen sind: Der Schrecken des Monströsen besteht in seiner Universalität, der Schrecken des Monsters in seiner Einzigartigkeit. In der Reproduktion der Grenzüberschreitung wird jedes Monster zum Gespenst der vorangegangenen und bereits überwundenen; den Exzess, den bereits das Auftauchen des einzelnen Ungeheuers bedeutet, ergänzt Hoffmann durch einen Exzess von Imitations- und Ansteckungsprozessen, innerhalb derer figurale Monstren nur vorübergehende Refigurationen eines unsichtbaren und universellen Monströsen sind.

40  Safranksi, E. T. A. Hoffmann, S. 423–425.

4 P  sychiatrische Defiguration 4.1 Diskrete, bleiche, reine, stumme Monster Unsichtbare und universelle Monstrosität, wie sie E. T. A. Hoffmann beschreibt, findet sich gerade in der akademischen Disziplin, deren Erkenntnissen sich der heilige Serapion verweigert, so bei den Gründungsvätern der Psychiatrie, Pinel und Reil. Eine Abwendung von der äußerlichen monströsen Form und Hinwendung zur inneren Monstrosität verbindet Lebenswissenschaften und Literatur, selbst dann, wenn das Körpermonster den Ausgangspunkt der Beobachtungen darstellt: Mary Shelleys Frankenstein-Roman1 erzählt zwar bekanntlich die Geschichte einer körperlichen Deformation, verschiebt aber das narrative Interesse sukzessive von der körperlichen auf die sittliche Abweichung. Die Reihe allegorischer Ausdeutungen, die Shelleys Roman erfahren hat – Frankenstein als Allegorie der Aufklärungs-Hybris, das Experiment als Allegorie der Verdrängung der Frau aus Zeugungsvorgang und Gesellschaft, das Monster als Allegorie gesellschaftlicher Rebellion, etc.2 – lässt sich ergänzen durch eine wissenschaftshistorische Deutung, die das Monster als Sinnbild eines disziplinären Auseinandertretens der Beschäftigung mit körperlicher und psychischer Abweichung versteht. Frankensteins Geschöpf konstituiert sich als Monster in mehreren Schritten: Materiell als Produkt eines wissenschaftlichen Experiments, intellektuell, emotional und sozial aber in einer Abfolge von Lernerfahrungen, deren ­Gesamtheit einen negativen Bildungsroman ergibt wie auch eine exemplarische Menschheitsgeschichte – das Monster entdeckt nacheinander Nahrung, Feuer, Werk­ zeuge, Sprache und Schrift. Auf der imaginären Ebene erkennt es die eigene Deformation durch zwei aufeinander folgende Spiegel-Erlebnisse3 an einer Wasserober­ fläche und durch die eindeutigen Reaktionen seiner Umwelt. Auf der symbolischen Ebene begreift es sich durch den Abgleich der Aufzeichnungen Frankensteins mit der Lektüre von Plutarch, Milton und Goethe. Über die vitae parallelae erfährt es den eigenen Lebenslauf als defizitär, über die Identifikation mit Miltons Satan eröffnet sich ein plausibles Narrativ für die eigene Außenseiterstellung gegenüber der moralischen Ordnung, und in den Leiden des jungen Werther4 erhält es eine identifika­

1  Mary Shelley: Frankenstein. The 1818 Text, Contexts, Nineteenth Century Responses, Modern Criticism. Hg. von Paul Hunter. New York und London 1996. 2  Vgl. den Forschungsüberblick bei Gerd Gemünden: Die hermeneutische Wende. Disziplin und Sprachlosigkeit nach 1800. New York u. a. 1990. S. 47–48.; vgl. auch George Levine: The Ambiguous Heritage of Frankenstein. In: George Levine und U. C. Knoepflmacher (Hg.): The Endurance of Franken­ stein. Essays on Mary Shelley’s Novel. Berkeley u. a. 1979. S. 3–30. 3 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanaly­ tischen Erfahrung erscheint. In: Ders.: Schriften I. Weinheim und Berlin 1986. S. 61–70. 4  Shelley, Frankenstein, S. 87–88.

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tionsstiftende Poetik der unerwiderten Liebe. Zur Realisierung seines monströsen Potentials gelangt es durch ein klassisches Trauma, in Form der Vertreibung durch gerade jene Familie, deren Akzeptanz und Zuneigung sich das Monster gewünscht hat. Der Übergang von „what I was“, nämlich von einem zutiefst moralischen und kontaktbedürftigen Körpermonster, zu „what I am“5, zu einem grausamen und soziopathischen Sittenmonster, folgt auf diese Ablehnung. Den Versuch eines Wiedereintrittes in die symbolische Ordnung unternimmt das Monstrum mit seinem Lebensbericht, der den Mittelteil des Romans ausmacht. Dieses strukturierte Narrativ6 bildet literarhistorisch ein Übergangsphänomen innerhalb eines Prozesses der Interna­ lisierung und Invisibilisierung des Monströsen. Die Abkehr vom Körpermonster vollzieht sich im Roman unmerklich, indem die anfänglichen äußeren Beschreibungen des Monsters zunehmend der Darstellung seiner inneren Disposition weichen, bevor im zweiten Teil des Romans das Monster selbst erzählt. Symptomatisch ist die Umstellung von Außen- auf Innenansicht des Monsters im Frankenstein-Roman zunächst für eine Entwicklung in der Literaturgeschichte: Zwar spielen auch in späteren Phasen des neunzehnten Jahrhunderts körperliche Deformationen (Hugos L’homme qui rit), deren gezielte Produktion (H. G. Wells’ The Island of Dr. Moreau) und Formen phantastischer Alterität (Bram Stokers Dracula) eine Rolle. Der Fokus des Interesses liegt aber bereits 1818 deutlich auf den Darstellungen innerer Deformationen: Analog zum eingangs zitierten lakonischen Eintrag in Flauberts Dictionnaire des idées reçues behauptet Canguilhem, man müsse im neunzehnten Jahrhundert „ein Japaner sein, um noch Drachen zu malen.“7 Resultat dieser Abwendung von der körperlichen Deformation ist eine tendenzielle Invisibilisierung: Gezeichnet werden statt Drachen monströse soziale Konstellationen, oder es wird, wie in Bouvard et Pécuchet, die Ordnung des Wissens selbst monströs. Diese kunst- und literaturgeschichtliche Entwicklung steht nun in auffälligem Einklang mit einer Neuordnung der Lebenswissenschaften, die sich nicht in der teratologischen Ersetzung von „monstrum“ durch „monstrositas“ erschöpft. Vielmehr lässt sich ein Transfer des wissenschaftlichen Interesses von der physischen zur psychischen Abweichung konstatieren. Wenn damit psychische Devianz in den Mittelpunkt der Untersuchung tritt, so geschieht dies nicht im Sinne einer Gleichsetzung von Monstrosität und Wahnsinn. Mit Studien zum Zusammenhang von Wahnsinn und Literatur ließe sich eine Bibliothek füllen.8 Hier soll etwas Anderes verhandelt

5  Shelley, Frankenstein, S. 77. 6  Einer der Gründe, warum Shelleys Frankenstein-Roman hier so kurz besprochen wird, liegt g ­ erade darin, dass ein monströses Sprechen durch das Monster nicht vorliegt. Die Erzählstimmen Robert Waltons, Frankensteins und des Monsters sind formal kaum zu unterscheiden. 7  Canguilhem, Erkenntnis, S. 329. 8  Shoshana Felman spricht treffend von „Madness as Cliché“, und zwar sowohl in poetischen als auch in poetologischen Texten. Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness. Literature/Philosophy/ Psychoanalysis. Palo Alto 2003. S. 78.



Diskrete, bleiche, reine, stumme Monster 

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werden, nämlich das Insistieren eines poetischen Konzepts des unsichtbar Monströsen im wissenschaftlichen Diskurs über psychische Abweichungen. Das Kapitel verfolgt drei wissenschaftshistorische Hypothesen: (1) In der frühen Psychiatrie informiert eine Semantik des Monströsen das Verständnis von Krankheit und Wahnsinn. Die Versuche, gerade diese Semantik zu vermeiden, erhöhen ihre Wirkmächtigkeit als die eines unterdrückten Textes. (2) Die Invisibilisierung des Monströsen in der Psychiatrie gelingt maßgeblich über das Konzept des Triebs als einer epistemologischen Leerstelle. (3) Diese Entwicklung zeitigt, nach dem hier vorgestellten Modell von Defiguration und Refiguration des Monströsen fast zwangsläufig, eine triumphale Rückkehr des figuralen Monsters in der physiognomisch informierten Kriminalanthropologie gegen Ende des Jahrhunderts. Auf eine zentrale Stellung monströser Formen in der Neukonzeption der Lebenswissenschaften nach 1800 hat nachdrücklich Michel Foucault hingewiesen: „Das Monster ist die entscheidende Figur, die Figur, um welche die Machtinstanzen und die Wissensfelder sich sorgsam reorganisieren.“9 Foucaults wissenschaftshistorisches Narrativ basiert auf der Annahme einer sehr konkreten figuralen Banalisierung des Monströsen im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts: Ausgehend von einer binären postrevolutionären Kodierung des Monströsen in anthropophagem Pöbel und inzestuösem Monarchen beobachtet Foucault eine breite Streuung monströser Merkmale, die zu ihrer Veralltäglichung und Verankerung in immer weniger singulären und exzeptionellen Individuen führt – im Anormalen, im Däumling und schließlich im masturbierenden Kind. „Die Antiphysis, die der Schrecken des Monsters einst ans Licht eines Ausnahmetages brachte, ist die universale Sexualität der Kinder, die sie jetzt in die kleinen alltäglichen Anomalien einfließen läßt.“10 Das Monster stellt nach Foucault prinzipiell einen doppelten Gesetzesbruch dar, im Sinne eines Verstoßes gegen Natur- und Sittengesetz zugleich. Diese Schnittstelle körperlicher und geistiger Deformation ermöglicht den Aufstieg einer neuen Disziplin, den Foucault als Beginn eines „ubuesken Terrors“ der Psychiatrie markiert.11 Die Psychiatrie des neunzehnten Jahrhunderts – Foucault zitiert sehr überwiegend forensische Studien – besetzt die problematische Überschneidungszone rechtlicher und medizinischer Interessensgebiete und klärt in Gutachten die Frage nach der Straffähigkeit des delinquenten Subjekts. Der neue Typus des Sittenmonsters, den in der französischen Literatur vor allem Sade etabliert, verbindet nach 1800 Medizin und Recht in einer neuen Konstellation. Monströses Verhalten stellt einen Grenzfall der juristischen Kompetenz

9  Foucault, Die Anormalen, S. 85. 10  Foucault, Die Anormalen, S. 429. 11  „Grotesk“ oder, in Anspielung auf Jarry, „ubuesk“ nennt Michel Foucault die „Maximierung von Machteffekten auf der Basis der Disqualifizierung dessen, der sie produziert“ (Foucault, Die Anormalen, S. 27–28). Als Charakteristikum des psychiatrischen Diskurses zwischen 1810 und 1832 bezeichnet das Ubueske nach Foucault die Gestik eines Wahrheitsdiskurses, der sich ein Moment des Lächerlichen und Unsinnigen beimischt.

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dar und zugleich einen Problemfall der Zuständigkeit innerhalb des medizinischen Diskurses, die keine kohärente physiologische Erklärung für radikale moralische Abweichung und kein organisches Substrat psychischer Devianz bereitstellen kann. Den Versuch der frühen Psychiater, sich an eben dieser Schnittstelle zu etablieren, benennt Foucault als Ursache sowohl für die zentrale Stellung des Monsters in den Wissenschaften vom Menschen als auch für seine Verkleinerung und Banalisierung im Anormalen. Demnach erreicht die neue Disziplin eine Ausweitung der eigenen Zuständigkeiten gerade durch die systematische Schrumpfung des Gegenstandes. Um den Nachweis ihrer eigenen Unverzichtbarkeit zu führen, muss sie sich auf Vorgänge beziehen, die nicht ohne ihre Hilfe erklärbar sind (wie den motivlosen Mord) und auf gefährliche Subjekte, die gerade nicht offensichtlich und allgemein erkennbar monströs sind. Solche Subjekte sind selten körperlich deformiert und zumeist, im Sinne einer strukturellen Unähnlichkeit von Tat und Täter12, nach psychiatrischer Klassifizierung nicht einmal erkennbar wahnsinnig, sondern unterliegen nur einer „fixen Idee“ oder „Manie ohne Wahn“. Das Monster tritt gegenüber dieser unsichtbaren und gefährlich omnipräsenten Monstrosität in den Hintergrund, bleibt aber, so Foucault, wirkmächtig als „das große Modell aller kleinen Abweichungen“13. Durch diese Rekodierung des Monströsen gewinnt die Psychiatrie den Status einer autonomen Instanz an der Schnittstelle des rechtlichen und des medizinischen Diskurses, als positive Macht und Produzentin einer Norm. Foucaults Banalisierungs-Narrativ ist in dreifacher Hinsicht problematisch. Seine pauschale Kritik der historischen Psychiatrie ist zu Recht beanstandet worden.14 Auch die folgende Lektüre psychiatrischer Texte des neunzehnten Jahrhunderts, die nicht Gerichtsgutachten sind, lässt eine prinzipielle ubueske Bösartigkeit der Disziplin zweifelhaft erscheinen. Zweitens scheint eine primär psychiatriegeschichtliche Interpretation der monstra-Konjunktur im neunzehnten Jahrhundert nicht geeignet, die Gleichzeitigkeit teratologischer, politischer, psychiatrischer und literarischer Faszinationstypen zu plausibilisieren. Drittens ist Monstrosität innerhalb der psychiatrischen Literatur eher eine implizite Figur. Esquirol, für Foucault eine Schlüsselfigur mit Blick auf die Rezentralisierung der Lebenswissenschaften um die Figur des Monsters, verwendet den Begriff in seiner wichtigsten Publikation zu radikal abweichenden Verhaltensweisen nicht15, und auch in seinem Standartwerk zu Geisteskrankheiten

12  Die Formulierung stammt von Joseph Vogl: Menschliche Bestien. Zur Entstehung der Triebe. In: Jan Niklas Howe und Kai Wiegandt (Hg.): Trieb. Poetiken und Politiken einer modernen Letztbegründung. Berlin 2014. S. 92–106. 13  Foucault, Die Anormalen, S. 78. 14  André Michels beispielsweise attestiert Foucault eine „Verwechslung der normativen Ebenen“. Vgl. André Michels: Zur Archäologie einiger juristischer und psychiatrischer Kategorien bei Michel Foucault. In: Mein/Geisenhanslüke, Monströse Ordnungen, S. 183–208. Hier: S. 189. 15  Jean Étienne Dominique Esquirol: Monomanie homicide. Paris 1830.



Diskrete, bleiche, reine, stumme Monster 

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lässt sich zumindest keine Häufung des Begriffs ausmachen.16 Dennoch stellt Foucaults Grundhypothese einen Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dar. Im Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert findet unbestreitbar eine Invisibilisierung des Monströsen statt, die figurale Monster zugunsten körperloser Monstrositäten tendenziell zurücktreten lässt. Im Folgenden wird also, mit Foucault, von einem Überleben des Monströsen, wenn nicht in der Terminologie, so doch in den Denkfiguren der frühen Psychiatrie ausgegangen, selbst dort, wo sie sich mit Alltagsphänomenen und geringfügigen Abweichungen befasst. Sie resultiert allerdings nicht nur aus dem disziplinären Machtstreben der Psychiatrie selbst, sondern aus einer strukturellen Notwendigkeit der Rhetorik des Anormalen: Anomalität braucht, als System nuancenhafter Abweichungen und kleinster Schattierungen, eine intakte Extremfigur der Transgression. Ein derart starker Normalitätsbegriff, wie ihn Mediziner und Psychiater des neunzehnten Jahrhunderts verwenden, ist nur aufrechtzuerhalten, wenn seine Negation durch eindeutige und wiedererkennbare Figurationen des Anormalen illustriert wird. Jürgen Link hat die „harte“ symbolische und seman­ tische Markierung der Normalitätsgrenze als Strategie des „Protonormalismus“17 ­gekennzeichnet: Im Vergleich zum flexiblen Normalismus der Ökonomie oder Kyber­ netik bemühen sich Biologie und Psychiatrie des neunzehnten Jahrhunderts gleichermaßen um maximale Komprimierung und Stabilisierung der Normalitätszone. In der frühen Psychiatrie wird ein Normalverständnis etabliert, das auf einen kleinen und möglichst unveränderlichen Kernbestand von Zuschreibungen rekurriert. Dieser Kernbestand ließe sich auf zwei Arten und Weisen stärken: Entweder über die präzise Konturierung des normalen Individuums – diese Strategie verunmöglichen schon die Erkenntnisse der pathologischen Anatomie im frühen neunzehnten Jahrhundert, die Abweichungen im menschlichen Körper fast zur Regel ­machen. Alternativ kann eine Normalvorstellung stabilisiert werden, indem extreme Abweichungen über ihre Kontrastwirkung die Normalität affirmieren. Diese Strategie gelangt in den Lebenswissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts zu einer breiten Anwendung. Foucaults Annahme eines disziplinären ubuesken Terrors, der die Macht der Psychiatrie konsolidiert, soll hier die Überlegung an die Seite gestellt werden, dass ein enger Begriff von Normalität ein korreliertes Konzept des Monströsen strukturell notwendig macht.

16  Vgl. Jean Étienne Dominique Esquirol: Des maladies mentales. Paris 1838; vgl. auch ders.: Note sur la monomanie homicide. Paris 1827. 17  Link, Versuch über den Normalismus, S. 78–80.

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4.2 Überlegungen zu einer Problemgeschichte des Triebbegiffs Aufgreifen möchte ich eine deutlich kontraintuitivere Verortung des Monströsen in den sciences humaines nach Foucault: In Henriette Cornier haben wir dieses diskrete, bleiche, reine, stumme Monster vor uns, von dem diese Affäre – zum ersten Mal auf eine mehr oder weniger klare und explizite Weise – den Begriff oder das Element zu erkennen gibt, nämlich den Trieb.18

Der Fall Cornier beschäftigt ab 1826 die französische Psychiatrie und befeuert jahrzehntelang das Sprechen über Monomanie. Henriette Cornier, eine junge Pariser Hausangestellte, bietet ihrer Nachbarin an, deren einjährige Tochter zu beaufsich­ tigen und schneidet dem Kind in Abwesenheit der Mutter den Kopf ab. Nach dem Tatmotiv befragt, sagt sie: „Das war so eine Idee“. In der psychiatrischen Kriminal­ anthropologie fungiert diese „Idee“ als paradigmatisches Beispiel für das Konzept der Monomanie, als einer Sammelbezeichnung für rationales Vorgehen in der Verfolgung genau eines, pathologisch besetzten, Zieles oder Wunsches. Angenommen wird im Konzept der Monomanie das Vorliegen einer übermächtigen Triebkraft, die als Erklärung arationalen Verhaltens nicht Wahnsinn oder Irrationalität bedeutet, sondern ein somatisches Substrat menschlicher Bestimmungen, die mit Ratio oder ihrem Gegenteil nichts zu tun haben und ihnen mithin auch nicht entgegengesetzt sind. Der rationale Mensch bleibt, abgesehen von der einen idée fixe, im Falle der Henriette Cornier ebenso vollständig intakt und funktionsfähig wie bei ihrem literarischen Zeitgenossen Cardillac. Wenn es zutrifft, dass nicht das handelnde Subjekt monströs ist, sondern sein innerer Trieb, so muss im Kontext der psychiatrischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts die Frage nach dem Monströsen als Frage nach dem Trieb reformuliert werden. Eine solche Frage stellt Melvilles Kapitän Ahab: What is it, what nameless, inscrutable, unearthly thing is it; what cozening, hidden lord and master and cruel, remorseless emperor commands me; that against all natural lovings and longings, I so keep pushing, and crowding, and jamming myself on all the time; recklessly making me ready to do what in my own proper, natural heart, I durst not so much as dare.19

Ahabs Frage nach dem unwiderstehlichen Trieb verbindet die Probleme des Begriffs auf engstem Raum: Die prekäre Unterscheidung von Natürlichem und Widernatür­

18  Foucault, Die Anormalen, S. 179. Auf interessante Weise greift Michael Niehaus diese Idee auf: Er führt als Alternativbeispiel zu Foucaults Paradefall der Henriette Cornier die Dokumentation des Falls Gesche Gottfried an, die mit achtzehn Morden zwischen 1813 und 1827 als erste weibliche Serienmörderin gelten kann. Aus der häufigen Aufrufung des Trieb-Begriffs in der historischen Dokumentation leitet Niehaus eine Kodierung des Monströsen als Trieb ab. Michael Niehaus: Das verantwortliche Monster. In: Mein/Geisenhanslüke, Monströse Ordnungen, S. 81–102. Hier: S. 91–92. 19  Herman Melville: Moby-Dick. New York 2002. S. 406.



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lichem, die Gleichzeitigkeit von unbedingtem Streben und vollständiger Willenlosigkeit, die Unsichtbarkeit des Triebs und seine unhintergehbare Allmacht, der poetisch mit einer dreifachen personifizierenden Metapher (lord, master, emperor) begegnet wird. Zugleich veranschaulicht die antikisierende, geballte und pathosgeladene Rhetorizität der Passage – die aus einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts stammt, nicht aus einem elisabethanischen Drama – die enge Koppelung von Trieb und poetischer Sprache. Eine inhaltliche Bestimmung des Triebs wird durch vier Umstände erschwert. Eine erste Schwierigkeit besteht in der gewaltigen Bandbreite von Phänomenen, die über das Triebkonzept systematisiert werden: Ernährungstrieb, Sexualtrieb, Zerstörungstrieb, Aufklärungstrieb, Mordtrieb, moralischer Trieb, ökonomischer Trieb stellen nur eine kleine Auswahl dar. Eine zweite Schwierigkeit betrifft das unübersicht­ liche semantische Feld der Denkfigur des Triebs selbst, mit heterogenen Begriffen wie Instinkt, Drang, Impuls, Manie, nisus. Auch Konzepte wie Begehren und Affekt überschneiden sich mit Triebzuschreibungen, zusätzlich persistieren religiöse Modelle wie das der Versuchung oder der Besessenheit. Drittens stellt sich im Übergang von naturphilosophischen zu lebenswissenschaftlichen Verwendungen des Begriffs etwas ein, das sich als metaphorische Verwendung des Triebbegriffs bezeichnen lässt und sich etwa in anthropomorphisierenden triebhaften Zuschreibungen an Gesellschaftsstrukturen äußert. Metapher und eigentliche Verwendung sind dabei kaum jemals sauber zu trennen. Worin, viertens, eigentlich ein Trieb besteht bzw. woraus er zusammengesetzt ist, bliebt in den meisten historischen Bestimmungen fundamental unklar, die ihn meist über seine Folgen und Erscheinungsformen und nicht qualitativ bestimmen. Diese historischen und systematischen Unschärfen legen eine Konzentration auf zwei Fragen nahe: Mithilfe welcher rhetorischen Strategien werden Triebe sprachlich kodiert? und: welche epistemologischen und regierungstechnischen Strategien ermöglicht der Triebbegriff? Diese beiden Desiderate lassen sich reformulieren als Fragen nach der poetischen Konstitution und nach der politischen Funktion des Triebs.20 Einen Ursprung der naturhistorischen wie psychologischen Trieblehre stellt eine triadische Konzeption dar, die weit hinter den Triebbegriff selbst zurückreicht, nämlich die Konstellierung von Willen, Begehren und Streben in Aristoteles De Anima.21 Aristoteles unterscheidet drei Formen fundamental handlungsmotivierender Kräfte. Als βούλησις fasst er diejenige kognitive Disposition, die wissentlichem und willentlichem Handeln zugrundeliegt. ἐπιθυμία beschreibt die affektive Disposition impulsiven

20  Vgl. Jan Niklas Howe und Kai Wiegandt: Einleitung. In: Dies.: Trieb. Poetiken und Politiken einer modernen Letztbegründung. Berlin 2014. S. 7–18. Zur Theoriegeschichte des Triebs vgl. auch Burkhard Liebschs Beitrag im gleichen Band. 21  Aristoteles: Über die Seele. Unveröffentlichte Übersetzung von Klaus Corcilius und Tim Wagner. Fassung: August 2014. S. 26.

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sinnlichen Begehrens, nach der zu handeln in den meisten Fällen unbedacht und unmoralisch ist.22 Drittens nimmt Aristoteles eine beiden vorgängige fundamentale Antriebskraft der ὄρεξις an, wörtlich des „Appetites“. Sie besetzt die Systemstelle einer letzten und unhintergehbaren Antriebskraft: „Es bewegt und entwickelt sich nämlich nichts, was nicht strebend oder meidend ist.“23 ἐπιθυμία und ὄρεξις lassen sich mit gleicher Berechtigung als Vorläufer des Triebbegriffs verstehen24, nämlich jeweils einer Komponente dessen, was in der Moderne als Trieb bezeichnet wird. Das Orexis-Konzept ist recht nah am nisus des achtzehnten Jahrhunderts, es bezeichnet diejenige Naturkraft, die überhaupt dafür sorgt, dass etwas wächst, sich bewegt oder fortpflanzt, der Epithymia-Begriff wiederum ist höchst kompatibel mit dem Verständnis einer vorrationalen handlungsleitenden Instanz im neunzehnten Jahrhundert, das Trieb als irrational, tendenziell pathologisch und durchgängig als gefährlich ­repräsentiert. Diese beiden Verständnisse überschneiden sich in mehreren poetischen und politischen Merkmalen. Erstes Strukturmerkmal einer Poetik des Triebs ist die Rhetorik des Unhintergehbaren, die mitunter geradezu als Metaphysik des Triebs erscheint. Sie beruht auf einem interessanten Spiegelungsverhältnis von Gegenstand und Erklärungsmuster: Der Trieb ist unwiderstehlich und unhintergehbar als Handlungsimperativ für den jeweiligen Organismus, zugleich ist er als ein epistemologisches letztes Ding für den wissenschaftlichen Beobachter nicht weiter aufschlüsselbar, wie Blumenbachs nisus formativus, der „sowohl von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräften der organisirten Körper ins besondre, gänzlich verschieden ist“ und wörtlich als „erste Ursache“ eingeführt wird.25 Der dreifache Geltungsbereich dieses Elementartriebs ist der von Zeugung, Ernährung und Zellneubildung. Blumenbach beschreibt, in Übereinstimmung mit der Annahme seiner Unhintergehbarkeit, generell Effekte und Wirkungsweisen des Triebs und gerade nicht seine Zusammensetzung. Ein zweites zentrales Merkmal des modernen Sprechens über den Trieb betrifft ebenfalls die sprachliche Form seiner Darstellungen. Etwa ab 1800 lässt sich ein „Sprechen des Triebs“ selbst ausmachen, dem

22  Der Begriff sollte, philologisch korrekt, vom „θυμὸς“ unterschieden werden. Für die folgenden Überlegungen reicht eine einfache Repräsentation der emotiven Komponente der Aristotelischen Seelen­lehre aber vollständig aus. 23  Aristoteles, De Anima, 423b13. Corcilius/Wagner S. 65. 24  Einem modernen Triebbegriff käme das griechische Wort ὅρμή am nächsten. Folgt man allerdings der Nikomachischen Ethik, so ist zwar ein „akratisches“, also willensschwaches, Subjekt vorstellbar, nicht aber ein im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts getriebenes und willenloses. Robert J. Richards spricht deshalb vorsichtiger von „instinct, or its recognisable antecedent in Aristotle“, vgl. Robert J. Richards: Lloyd Morgan’s theory of instinct. From Darwinism to Neo-Darwinism. In: Journal of the History of Behavioural Sciences 13 (1977). S. 12–32. Hier: S. 13. 25  Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Göttingen 1781, S. 13.



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eine Rhetorik der Unmittelbarkeit, Spontaneität und Natürlichkeit eignet, mit der ­Implikation, anstelle der kulturellen Überformung sozialer Phänomene eine Ebene ­natürlicher Eigentlichkeit zu repräsentieren. Solche rousseauistischen Poetiken des Natürlichen folgen eigenen und neuen poetischen Grundregeln, etwa im Sturm und Drang: Sie sind auf höchst strukturierte Weise unstrukturiert, auf elaborierte Weise unartikuliert, und bringen eine Rhetorik der Überwältigung mit sich. Das Sprechen des Triebs als Beichte eines Triebtäters wird eingefasst in die Form eines scheinbaren Monologs, der sich schon bei Hoffmann ankündigt und der literarhistorisch mit den Namen Sade, Poe, Büchner und Maupassant verbunden ist. Eingeschränkte Erzähler in einem wörtlichen Sinne (nämlich als geistig defizitär, affektiv unausgeglichen, meist ohne nachvollziehbares Motiv gewalttätig) berichten, ohne dass ein extradiegetischer Erzähler korrigierend eingreifen kann, über den unwiderstehlichen Trieb. Rhetorisch sind diese Triebnarrative – dies werden die folgenden Poe-Lektüren demonstrieren – markiert durch eine ungewöhnliche Dichte von Poetizitätseffekten, die fast durchgängig Verletzungen sprachlicher Konventionen von Klarheit, Motiviertheit, Linearität, Sukzession und korrekter Grammatik darstellen. Entwickelt wird hier ein anti-rhetorisches poetisches Sprechen mit den Charakteristika von Unmittelbarkeit, grammatischer Fehlerhaftigkeit und Unberechenbarkeit, aus dem stummen epistemologischen Instrument des Triebs wird also eine bestimmte Form des Diskurses, dessen primäre formale Bestimmung eine Missachtung formaler sprachlicher Vorgaben ist. Eine grundlegende politische Bestimmung des Triebs ist seine Funktion zur Erklärung abweichenden Verhaltens. Der Trieb füllt Leerstellen naturwissenschaftlicher, lebenswissenschaftlicher und psychologischer Modelle. In dieser Stellvertreter- oder Platzhalterfunktion kommt ihm beinahe universelle Erklärungsfunktion zu. Esquirol, einer der prominentesten Gerichtspsychiater des neunzehnten Jahrhunderts, erklärt mithilfe von Trieben alle denkbaren Spielarten irrationalen Verhaltens: Selbstmordtrieb, Mordtrieb (die berühmte monomanie homicide), Vergewaltigungstrieb, anthropophager Trieb, Onanietrieb usw. bezeichnen jeweils einen Letztgrund der Erklärung für Handlungen, die etwa nach Einschätzung Esquirols nicht willentlich vorgenommen werden. Noch 1921 nimmt William McDougall eine ähnlich umfassende Erklärungsfunktion des Triebs als Ausgangspunkt seiner „hormic psychology“26, innerhalb derer der Trieb etwa dem Gen in der heutigen Populärwissenschaft entspricht. In den aktuellen Konzepten von Alkoholiker-Gen, Vergewaltiger-Gen, Raucher-Gen, Langschläfer-Gen etc. scheint das Gen gerade die Funktion einzunehmen, die dem Trieb im neunzehnten Jahrhundert eignet: Als Sammelbezeichnung für das Unerklärliche und als Residuum der Metaphysik im Organischen eignet dem Trieb zugleich maximale Erklärungsfunktion und minimale Bestimmtheit. Das politische Potential einer solchen unterbestimmten Kategorie universell anwendbarer Erklärungsmuster

26  William McDougall: An Introduction to Social Psychology. London 1908.

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ist unmittelbar einleuchtend: Mit dem Katalog widernatürlicher Verhaltensweisen geht natürlich auch ein Katalog von Maßnahmen zu ihrer Behebung einher und damit, was Foucault als psychiatrisches Dispositiv bezeichnet, nämlich eine flächendeckende Kontrolle und institutionelle Überwachung von Trieben. Ein zweites politisches Potential lässt sich prägnant anhand von Marx’ Triebkonzept rekonstruieren, nämlich das normative Potential des Natürlichen. Natur funktioniert dabei als Vorwurf in beide Richtungen: Mangel an Natürlichkeit ist pathologisch, ein Überschuss animalischer Natürlichkeit ebenso. Diese Zweideutigkeit des Naturbegriffs innerhalb der Trieblehre hat Adorno als Strukturmerkmal der Psychoanalyse markiert, indem er von Freud behauptet, er sei unentschlossen, „ob er den Triebverzicht als realitätswidrige Verdrängung negieren oder als kulturfördernde Sublimierung preisen soll“.27 Die Legitimation von Verhalten als naturkonform oder seine Charakterisierung als pathologisch hängt mithin nur von dem Grad ab, zu dem Natur positiv oder pejorativ besetzt ist. Dieses normative Potential des Naturbegriffs macht den Trieb anschlussfähig für Kulturkritik jeglicher Provenienz. Im Bereich der menschlichen Psyche spricht Marx vom „Trieb der Schatzbildung“ als „von Natur maßlos“.28 Übertragen auf das Kapital selbst, wird dieser aus Zivilisations-Perspektive maßlose Trieb kritisierbar als perverse Abwendung von einer positiv besetzten Natur: „Es [das Kapital, JNH] hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen“.29 Dieser Metapher des Saugens ist zutreffend ein parasitärer Charakter des Kapitals nach Marx zugeordnet worden; wichtig für den Zusammenhang von Trieb und Monstrosität ist die Information, dass das Kapital als nur „vampyrmäßig“ belebter Parasit deutlich monströse Züge trägt.30 Andernorts spricht Marx nüchterner vom Akkumulationstrieb, der dem Kapitalisten wie dem Kapital eignet. Die Kodierung der Eigendynamiken des Kapitals ist ganz selbstverständlich um den Trieb-Begriff zentriert, und zwar um einen destruktiven, animalischen Trieb, den „maßlos blinden Trieb, einen Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit“.31 In Marx’ Kulturmodell ist natürlich die Natur des Wolfs ebenso wie die Widernatur des Werwolfs zu überwindendes Relikt tierischer Natur bzw. phantastischer Widernatur; gegenläufig wird bei Nietzsche aber auch die Domestikation von Trieben zum Gegenstand von Kulturkritik. Natürlichkeit und Mangel an Natürlichkeit bilden in den Politiken des Triebs zwei normative Setzungen, die sich als Lob oder Tadel variabel einsetzen lassen.

27  Adorno, Minima Moralia, S. 72. 28  Karl Marx: Das Kapital. Vgl. MEW Bd. 23, S. 147 29  Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 247. 30  Vgl. auch Dirk Verdiccio: Finanzökonomie im Film. Monstrosität als Inklusionsmodus. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, 2006, S. 58–63. Hier: S. 62. 31  Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 280.



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Das wichtigste politische Potential des Triebs liegt aber in seinem Doppelcharakter als extrem handhabbares epistemologisches Instrument und extrem unzugänglicher epistemischer Gegenstand. Dieses vor allem wissenschaftspolitische Potential korrespondiert mit der poetologischen Beobachtung einer Metaphysik des Triebs und lässt sich sehr aufschlussreich in Evolutionstheorie und Psychoanalyse beobachten, deren Triebkonzepte im Folgenden zumindest gestreift werden und die innerhalb der Geschichte orektischer und thymischer Triebkonzepte jeweils einen abschließenden Höhepunkt darstellen. Für Freud wie für Darwin stellen Triebe vor allem ein Problem dar. Trotz Freuds emphatischer Setzung des Triebnarrativs als „unsere Mythologie“32 spricht seine mehrfache Korrektur und völlige Neukonzeption des Triebs für ein Bewusstsein um die problematische Vagheit des Begriffs33. Analog zu Freuds Bekenntnis zur Mythologie, also zur Setzung der Triebe als unhinterfragbarer und quasi-metaphysischer Grundannahmen, gibt auch Charles Darwin bewusst keine Definition des Instinkts, „but everyone understands what is meant“ heißt es in Origin of Species: Bei Darwin stellen Triebe ein generalisiertes Muster für menschliches und tierisches Artverhalten dar. Woraus allerdings Triebe ihrerseits bestehen, bleibt dezidiert offen, sie werden wieder über ihre Funktion und sichtbaren Folgen, nicht über qualitative Zuschreibungen bestimmt und bleiben eine funktional besetzte Leerstelle. Als möglichen Einwand gegen sein Modell der Evolution der Arten34 sieht Darwin die Komplexität tierischer Instinkte: Phänomene wie der Instinkt des Kuckucks, Eier in fremde Nester zu legen, der Impuls zur Sklavenhaltung unter Ameisen und die angeborene Tendenz zum Zellenbau bei Bienen sind so komplex, dass Darwin fürchtet, mit einer naturalistischen Erklärung keinen Glauben zu finden. An genau dieser Systemstelle taucht stets und auch bei Darwin der Trieb auf, nämlich dort, wo natürliche Erklärungen unplausibel scheinen, metaphysische Narrative aber unerwünscht sind. Sie sind ein Residuum des Unerklärlichen und ein Platzhalter der Metaphysik innerhalb der Natur, ein nicht weiter hinterfragbares Konzept. Dass diese Instinkte eine Problemstelle der Darwinschen Argumentation darstellen, wird auch an der ausgeprägten Ununterscheidbarkeitszone von habits und instincts deutlich: Darwin weicht, indem er andeutet, dass auch verfestigte Gewohnheiten vererbbar sein könnten, vorübergehend in den Lamarckismus aus.35 Weniger noch als Freud versucht Darwin, Erklärungsmuster zu finden, die hinter die Existenz von Trieben zurückgehen. Der Trieb ist jeweils ein epistemisches Instrument, das selbst nicht zum epistemischen Gegenstand werden kann, und damit ein blinder Fleck der Beobachtung. Gleichwohl erlaubt es dieses Instrument durch die Suggestion seiner rein körperlichen Provenienz, auf unerwünschte metaphysische Prätexte zu verzichten. René Girard allerdings versteht den Trieb vor allem als metaphysisches Alibi für gewaltsames Handeln: Die Idee eines Instinkts – oder, wenn man will, eines Triebes – der den Menschen in die Gewalt oder in den Tod treiben würde – bei Freud der berühmte Todestrieb – ist nur eine mythische Ausweichstellung; ein Rückzugsgefecht der Illusion unserer Vorväter, welche die Menschen dazu drängt, ihre innere Gewalt nach außen zu verlagern und daraus einen Gott, ein Schicksal oder

32  Sigmund Freud: Neue Folgen zur Einführung in die Psychoanalyse [1932]. In: Gesammelte Werke Bd. 15. London 1952. S. 101. 33  Vgl. einerseits Sigmund Freud [1915]: Trieb und Triebschicksale. Gesammelte Werke Bd. 10. London 1946. S. 210–232; dagegen die duale Konzeption des Triebs in: Ders.: Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke Bd. 13. London 1946. S. 1–69. 34  Darwin beschreibt die Instinkt-Problematik „as a difficulty sufficient to overthrow my whole t­heory.“ Vgl. Charles Darwin: The Origin of Species. New York 1962. S. 229. 35  Darwin, Origin, S. 243.

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einen Instinkt zu machen, für den sie nicht mehr verantwortlich sind und der von außen über sie regiert.36

Girard konstatiert die Verlagerung eines inneren Gewalt-Potentials nach außen. Von Gott und Schicksal trennt den Trieb allerdings (neben einigen anderen Eigenschaften), dass er tatsächlich im menschlichen Körper angesiedelt ist. Er scheint auch in epistemologischer Hinsicht mehr darzustellen als eine „mythische Ausweichstellung“, nämlich ein höchst wirkungsvolles Instrument zur Kodierung von radikaler Devianz: Selbst nicht hinterfragbar, aber mit universeller Erklärungsfunktion.

4.3 P  sychiatrische Semantik des Monströsen (Johann Christian Reil) Die hier grundlegende Annahme einer Ersetzung figuraler Monster durch überpersönliche Triebe setzt voraus, dass die Psychiatrie auf den Topos des Menschenmonsters verzichtet. Tatsächlich greift der Begründer der deutschen Psychiatrie, Johann Christian Reil, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts jede Engführung von psychischer Krankheit und Monstrosität heftig an. Entgegen Foucaults pauschaler Zuschreibung eines ubuesken Terrors an die Disziplin der Psychiatrie, der stets „hinter dem kleinen Dieb das große Monster sichtbar macht“37, lesen sich Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethodeein auf Geisteszerrüttungen (1803) als vehementes Plädoyer gegen die Bestialisierung des Wahnsinns: Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben, ausgestorbne Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadttoren, oder in die feuchten Kellergeschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick eines Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen. […] Man giebt sie der Neugierde des Pöbels Preis, und der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestien, um den müßigen Zuschauer zu belustigen.38

Reils Grundlagentext der klinischen Psychiatrie39 fordert, den Umgang mit Geisteskranken zu humanisieren und damit den Status der Betroffenen. Seine Vorschläge

36  René Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 214. 37  Foucault, die Anormalen, S. 78. 38  Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethodeein auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803. S. 14–15. 39  Andreas Marneros bezeichnet Reil als einen der „Gründer der Psychiatrie in ihrer holistischen Darstellung, die die Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie weltweit vereint“. Andreas Marneros: Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Stuttgart 2005. S. 66.



Psychiatrische Semantik des Monströsen (Johann Christian Reil)  

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entsprechen nicht durchgängig einem heutigen Verständnis respektvoller Therapie.40 Das Bemühen um eine Verbesserung ihrer Lebensumstände aber ist ihm nicht abzusprechen: Er kritisiert brutale Wächter, unmenschliche Bedingungen der Unterbringung und mangelnde Umsetzung ärztlichen Rats. Die Einrichtung zentraler psychiatrischer Anstalten fordert Reil mit Blick auf die Möglichkeit einer ununterbrochenen ärztlichen Präsenz.41 Die Notwendigkeit der humanen Einrichtung und Führung dieser Einrichtungen wird in den folgenden Jahrzehnten kaum jemals angezweifelt, aber die Umsetzung verläuft schleppend. Noch 1817 schreibt Christian Hayner, Direktor einer Irrenanstalt in Sachsen, entsetzt von „Mördergruben“, in denen „man unglückliche seelenkranke Menschen wie wütende Thiere behandelt und wie Aeser vermodern und verfaulen läßt“. Wenn Hayner allerdings fordert, Ärzte „namentlich an den Pranger“ zu stellen42, so lässt dies den Schluss zu, dass in den anderthalb Jahrzehnten seit Erscheinen von Reils Rhapsodieen die Entbestialisierung Geisteskranker fortgeschritten ist. Nach Reil sind die Übergänge zwischen Vernunft und Wahnsinn fließend. Prinzipiell ist jeder der Gefahr des Wahnsinns jederzeit ausgesetzt: Moralische und physische Potenzen, der Anfall eines hitzigen Fiebers und ein unvermeidlicher Stoß des Verhängnisses, der einzelne Familien oder ganze Staaten erschüttert, können uns für immer einen Platz im Tollhause anweisen.43

Psychische Krankheit ist demnach eine alltägliche Gefahr, die durch familiäre oder politische Entwicklungen ausgelöst werden kann. Reil interpretiert Irrenhäuser als Allegorie als Gesellschaften, als andere Orte, in denen sich die Gesamtheit sozialer Orte spiegelt, schreibt ihnen also gerade jene Rolle zu, die sie neben Kasernen, Schiffen, Internaten oder Gefängnissen in Foucaults Konzept der Heterotopie spielen:

40  Reil schlägt wörtlich „Elektricität, Galvanismus, Magnetismus, Gefühle, Ideen und andere subtile Mittel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts“ vor, daneben allerdings auch „Reiten, Schwimmen, Exerciren“. 41  Die „nöthige[n] Eigenschaften“ des Arztes in diesen Institutionen lassen auf das Selbstverständnis eines Ordinarius in Halle und Leipzig, eines preußisch-königlichen Günstlings und des Leibarztes von Goethe und Wilhelm Grimm schließen: „Aerzte, die Scharfblick, Beobachtungsgeist, Witz, guten Willen, Beharrlichkeit, Geduld, Uebung, einen imponirenden Körper, und eine Miene, die Ehrfurcht gebietet, kurz alle zur Cur Irrender nöthige Eigenschaften besitzen, sind […] selten.“ Vgl. Reil, Rhapsodieen, S. 19. 42  Christian August Fürchtegott Hayner: Aufforderung an Regierungen, Obrigkeiten und Vorsteher der Irrenhäuser zur Abstellung einiger schwerer Gebrechen in der Behandlung der Irren. Zit. nach Martin Schrenk: Über den Umgang mit Geisteskranken. Die Entwicklung der psychiatrischen Therapie vom ‚moralischen Regime‘ in England und Frankreich zu den „psychischen Curmethoden“ in Deutschland. Berlin 1973. S. V. 43  Reil, Rhapsodieen, Kap. 1, S. 11.

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„Das Tollhaus ist im Kleinen, was die Welt im Großen ist“.44 Wenig später heißt es in einer weiteren Aufwertung des Tollhauses: „Wir rücken Schritt vor Schritt dem Tollhause näher, so wie wir auf dem Wege unserer sinnlichen und intellectuellen Cultur fortschreiten“45 Diese Verbindung von kulturellem Fortschritt und Wahnsinn taucht mehrfach auf; überführen Reils systematische Festlegungen den Kranken zunächst aus der Bestialität in die Normalität, so rücken seine Beispiele ihn sogar in die Nähe von künstlerischer Begabung und Sensibilität. Die Metaphern der Bestialität, aus denen Reil die Beschreibung psychischer Krankheiten zu lösen versucht, kehren allerdings im Zuge einer schroffen Opposition von menschlicher Seele und animalischem Körper zurück. Der Seele46 schreibt Reil eine prinzipiell monströse Funktion zu, sowohl der gesunden als auch der zerrütteten: „Sie ist der natürliche Parasit des Körpers und verzehrt in dem nemlichen Verhältnis das Oehl des Lebens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die Grenzen ihres Wirkungskreises erweitert werden.“47 Körper und Seele treten bei Reil in ein Verhältnis gesunder Animalität und krankhafter Menschlichkeit. Die Metapher der Seele als eines Parasiten des gesunden Tierkörpers findet sich aber auch in ihr Gegenteil verkehrt: Monstrosität im Sinne einer Ausdifferenzierung des Subjekts in menschliche und tierische Facetten beschreibt Reil im Zusammenhang mit dem Begriff der Zerrüttung, die er als Spaltung der Psyche in mehrere „Wesen“ begreift: Der Narr ist im Anfall ein anderes, und ein anderes Wesen im Nachlaß. Während des Paroxismus wird der Furchtsame kühn, der Dummkopf beredt, das sanfte Weib eine wüthende Megäre. Der Rasende warnt seine Freunde vor einem Unglück, das er ihnen selbst zubereitet; er sorgt als Freund oder Vater im Nachlaß für die, die er im kommenden Anfall zerfleischt. Verrückte hassten ihre Kinder, drohten ihren Eltern mit Schlägen in den Anfällen, die sie außer denselben zärtlich liebten. Wahnsinnige, die in den Intervallen fromm und gutmüthig sind, werden in den Paroxismen wie von einem bösen Dämon […] angetrieben. Ein grausamer Instinct reitzt andere, wider ihren Willen, und ohne Verwirrung der Begriffe, gleich reißenden Tigern, ihre Wuth in ihren eignen Eingeweiden oder in dem Blute ihrer Nächsten abzukühlen.48

Tierische und mythisch-monströse Figurationen des Wahnsinns stehen unvermittelt nebeneinander: Geisteskranke werden einerseits als antike Furie oder dämonisch

44  Reil, Rhapsodieen, S. 140. Foucault bestimmt als Heterotopien „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Wider­ l­ager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“. Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992. S. 34–46. Hier: S. 39. 45  Reil, Rhapsodieen, S. 13 46  Reil verortet dabei das „Seelenorgan“ im Gehirn, vgl. Heinz Schott und Reiner Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006. S. 330. 47  Reil, Rhapsodieen, S. 13. 48  Reil, Rhapsodieen, S. 34–35.



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­Besessene geschildert, andererseits als zerfleischende Bestien und Raubtiere. Jenes „andere Wesen“, das in den Momenten der Abwesenheit menschlicher Qualitäten zum Vorschein kommt, stellt dabei eine Übergangserscheinung in zeitlichem wie in taxonomischem Sinne dar. Der Paroxysmus betrifft nur das kurze Intervall zwischen Anfall und Nachlassen, innerhalb dessen die Mensch-Tier-Grenze verschwimmt. Interessant ist die fundamentale Unsicherheit der normativen Bewertungen des Menschlichen und des Tierischen: Skizziert Reil die menschliche Seele zunächst in einem geradezu vampirischen Verhältnis zum Organismus, ist in der Metapher vom reißenden Tiger gerade der animalische Teil des Menschen der problematische. Wie in der Literatur um 1800 scheint also auch in der zeitgenössischen Psychiatrie zumindest terminologisch weiterhin ein Nebeneinander mythischer (Megäre), religiöser (Dämon), zoologischer (Tiger) und im engeren Sinne psychologischer Erklärungsmuster für radikale Devianz zu persistieren. Auf Reils Nähe zu literarischen Modellen der Seele ist verschiedentlich hingewiesen worden49. Eine wichtige Parallele liegt in übereinstimmenden Beschreibungen dessen, was Reil als „grausamen Instinct“ fasst. Instinkt oder Trieb ist hier zunächst nicht mehr als eine weitere Metapher, die sich allerdings im Verlauf der Rhapsodieen gegenüber den Figuren des reißenden Tiers, des Besessenen oder des antiken Mischwesens durchsetzt. Die vorteilhaften Aspekte des Begriffs liegen auf der Hand: Seine Sachlichkeit vermeidet die aufdringlichen Poetizitätseffekte mythischer Zuschreibungen, die metaphysischen Implikationen der Dämonisierung und die degradierende Normativität der Tier-Rhetorik. Zweitens deckt der Trieb als diskursive Generalisierung abweichenden Verhaltens auch die weniger spektakulären Fälle ab: Im Falle eines Serienmörders ist Besessenheit eine angemessene Beschreibungskategorie, auf alltägliche Neurosen aber trifft dies nicht zu. Drittens unterstützt die Wortwahl eine grundlegende Argumentation Reils: Instinkt und Trieb als verbindendes Merkmal von Mensch und Tier vermitteln den Eindruck einer natürlichen Konstante, die zwar bisweilen übermäßig stark ausgeprägt sein und groteske Folgen zeitigen kann50, ihre Natürlichkeit dadurch aber nicht verliert. Problematischer Triebüberschuss wird allgemein auf „Catalepsie des Vorstellungsvermögens“ zurückgeführt: „Die Seele starrt zuweilen unverwandt auf ein Object, […] wie ein Thier, das von einer Klapperschlange ins Gesicht gefaßt ist.“51 Katalepsie bezeichnet hier ein Stocken oder Verharren des Denkens an einem bestimmten Begriff. Reil führt als Beispiele an die Obsession einer

49  Am despektierlichsten fasst diese Nähe Martin Schrenk, der im Vergleich zu den analytischeren Arbeiten Pinels die Rhapsodieen Reils als „Barockoper in biedermeierischen Kostümen“ beschreibt. Vgl. Schrenk, Über den Umgang mit Geisteskranken, S. 4. 50  Die graduelle Unterscheidung von sozial anerkanntem Verhalten und Wahnsinn illustrieren Reils Überlegungen zum Kannibalismus: So berichtet er „von einer Frau, die einen so unwidersteh­lichen Appetit auf die Schulter eines Bäckers bekam, dass ihr Mann genötigt war, von demselben die Erlaubnis zu erkaufen, dass seine Frau sich mit ein paar Bissen von derselben sättigen könne“. 51  Reil, Rhapsodieen, S. 124.

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Frau mit dem Konzept des Gebärens oder die Manie einer anderen Patientin, tagelang die Worte „meine Cousine“ oder „Louis Seize“ zu wiederholen. Die Definition des Wahnsinns über ein solches Verharren, dem teratologischen Konzept der Entwicklungshemmung strukturell verwandt, bringt Reil zu der Bestimmung: „Alle Kranke, die am fixen Wahnsinn leiden, sind mehr oder weniger cataleptisch.“52 Die Beispiele, die sein psychiatrisches System illustrieren, sind um diese „fixe Idee“ organisiert: Ein Patient leidet unter der Idee, er werde am Schlag sterben, ein Priester an der wiederkehrenden Phantasie, von der Kanzel auf den Kirchenboden zu springen, ein Professor an der Vorstellung, römischer Kaiser zu sein.53 Dabei ist der Regelfall, dass die Psyche als Ganzes intakt bleibt und nur eine einzige Idee erkennbar abweicht. An den Beispielen wird deutlich, dass es sich hier nicht um die bedrohliche Form der Anomalie handelt, die nach Foucault die Psychiatrie zu ihrer eigenen Ermächtigung benötigt, sondern um harmlose, groteske, mitunter karnevaleske Formen des Wahnsinns. Auch Raserei und Tobsucht werden zurückgeführt auf die Kategorie „Instinct oder blinder Trieb“, wobei Triebe folgendermaßen bestimmt sind: Sie sind gegründet in dem ursprünglichen Charakter, der dem Organismus eingeprägt ist, bey den normalen Instinkten und Kunstfertigkeiten der Thiere, oder Folgen einer kranken Metamorphose desselben, durch welche er eine andere Richtung, neue Reflektionspunkte und anomalische Beziehungen bekommen hat. Hier ist die Pathogenie der Wuth und Tobsucht zu finden.54

Instinkte sind also zunächst animalisch und damit „normal“, „blinder“ menschlicher Trieb dagegen ist pathologisch besetzt. Das Konzept erhält im frühen neunzehnten Jahrhundert eine neue Funktion: Neben der Erklärung normalen Tierverhaltens dient es fortan zur Kodierung menschlicher Devianz. Triebbedingte Verhaltensweisen basieren dabei weder auf rationalen Erwägungen, noch auf einem individuellen Wollen (wie unvernünftig es auch sei): Instinktives Handeln ist sowohl bewusstlos-arational als auch willenlos-akratisch. Diese Entmündigung des Subjekts durch den Trieb, die nicht nur sein Denken, sondern auch seine Bedürfnisse überschreibt55, ist vollständig: „In der Hundswuth beisst der Mensch wider seinen Willen“.56 Über den Rasenden heißt es weiter, er zerstöre „ohne Zweck. Daher ist auch sein innerer blinder Drang nicht bloss

52  Reil, Rhapsodieen, S. 126. 53  Reil, Rhapsodieen, S. 339. 54  Reil, Rhapsodieen, S. 366. 55  Instinct, Trieb und Drang werden bei Reil synonym verwendet: „Es giebt Menschen, die einen unwiderstehlichen Drang zu irgend einer Handlung haben, z. B. sich zum Fenster hinauszustürzen, obgleich die Sinnlichkeit und die Vernunft ihnen das Gegentheil gebieten“ heißt es. Zwei Abgrenzungen des Trieb-Begriffs der frühen Psychiatrie beziehen sich also als auf das Kantische System: Triebe sind weder vernünftig, noch sind sie deckungsgleich mit habituellem sinnlichen Begehren, das Kant als Gegenstück zur Vernunfterwägung als „Neigung“ bezeichnet. Vgl. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Akademie-Ausgabe Bd. 7. S. 251. 56  Reil, Rhapsodieen, S. 366.



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auf Mordlust beschränkt, sondern er zerstört todte und lebendige Wesen.“57 Ohne Vernunft, ohne Willen und ohne Zweck entsprechen die Handlungen der Rasenden und Tobsüchtigen durchaus literarischen Topoi des neunzehnten Jahrhunderts: In der „Wuth ohne Verkehrtheit“ verhält sich der Kranke „wie ein Automat“58, in der „stillen Wuth“ geradezu hoffmannesk bewusstlos. Mit der Disposition Cardillacs korrespondiert in Reils Studie vor allem „der blinde und unwiderstehliche Drang zum Morden“.59 Das Menschenmonster kehrt in Reils Versuch einer Entbestialisierung des Wahnsinns also als Rasender oder Tobsüchtiger zurück, als Triumph übermächtiger Triebe über alle anderen menschlichen Vermögen. Reils Beschreibung eines Triebtäters als befangen in einem „beständigen inneren Kampf zwischen dem grausamen Trieb des auf Zerstörung gerichteten Instincts und zwischen dem tiefen Abscheu, welchen ihm die Vorstellung eines solchen Verbrechens einflösste“60 fasst die menschliche Psyche als Kampfplatz animalischer und moralischer Kräfte. Im Beschreibungsmuster des blinden Triebs nach Reil persistiert eine Semantik des Monströsen, die sich als im engeren Sinn poetisch beschreiben lässt. Joseph Vogl geht von der Koppelung jeder epistemologischen Klärung an die Entscheidung für eine Gattung aus61, deren äußere Vorgaben die Konzeption des jeweiligen Wissensobjektes maßgeblich prägen. Die von Reil gewählte Gattung der Rhapsodie, die heterogene Motive in einer offenen Form in poetischen Bezug zueinander setzt, drängt die Interpretation einer Dominanz der poetischen gegenüber der referentiellen Funktion geradezu auf. Poetische Qualitäten einzelner Beschreibungen Reils, wie sein Prosagedicht zur „Ideenjagd“62, sind in der deutschen Medizin um 1800 nicht untypisch.63 Spezifisch scheint aber auch der Umgang mit dem Monströsen durch markant poeti-

57  Reil, Rhapsodieen, S. 369. 58  Reil, Rhapsodieen, S. 377. 59  Reil, Rhapsodieen, S. 389. Zu Hoffmanns Reil-Lektüre vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit. 60  Reil, Rhapsodieen, S. 392. 61  Vogl, Poetologie des Wissens, S. 49–72. 62  „Es keimen Bilder der Erinnerung, neue Schöpfungen der Phantasie und tolle und verwirrte Raisonnements auf, die die Seele weder fixiren noch lenken kann. Sie gleicht einem Schiffe, das sein Ruder verlohren hat, und dem Spiele der Meereswogen gezwungen folgen muß. Die Phantasie hüpft ungezähmt und mit wilder Schnelligkeit von einem Gegenstand auf den andern, so daß ihr regelloses und rasches Spiel bald alle Kräfte verzehrt. Bild auf Bild jagt sich, Ideen und Gedanken drängen ungerufen zu, abentheuerliche Gestalten kommen aus dem Hintergrunde der Seele hervor, treiben losgebunden umher und fliehen gleichsam wie leichte Körper im Sturm, oder wie Hecken und Bäume beim schnellen Fahren vorüber.“ Reil, Rhapsodieen, S. 134. 63  Diese vor allem in Deutschland wirkmächtige Verbindung von Kunst und Wissenschaft begründet Jutta Müller-Tamm mit der historischen Annahme einer Überlegenheit der poetischen Einsicht in die Natur: „Wenn die Visionen des Dichters das ‚Innere‘ der Natur erfassen können, dann ist die Poesie auch ein legitimes Movens der naturwissenschaftlichen Entwicklung.“ Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus. Berlin 1995. S. 22.

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sche Sprachverwendung bestimmt. Jakobsons Bestimmung lautet: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“.64 Eine Variante dieser Projektion ist zentral für die Charakteristik abweichenden Verhaltens in den Rhapsodieen: Heterogene Satzteile werden über die dominante Metapher der Monstrosität zueinander in ein Verhältnis der Ähnlichkeit gesetzt. Das Paradigma der Monstrosität prägt gleichermaßen die Zuschreibungen an Subjekte (wütende Meghären) und deren Handlungen (zerfleischen, reißen) wie auch die Handlungsbegründungen (böser Dämon, grausamer Instinct). Darüber hinaus geraten aber auch, wie gezeigt, abweichendes und sozial akzeptiertes Verhalten, Wahnsinn und gesunde mentale Konstitution in Ähnlichkeitsrelationen. Das Verhältnis von gesunder Seele und gesundem Körper ist das gleiche wie das von Trieb und Geisteskrankem, nämlich ein parasitäres. Analog zu Jakobsons berühmter Poe-Analyse, in der er nachweist, wie „the pallid bust of Pallas“ heterogene Sinn­ blöcke über die Paronomasie in ein Verhältnis von Äquivalenz setzt65, werden in Reils insistierender metaphorischer Überblendung Handlung, Handlungsmotiv und Handelnder einander in der Zuschreibung von Monstrosität ähnlich. in Reils Rhapsodieen. Produkt dieser Privilegierung der poetischen Funktion der Sprache ist ein Parallelismus des Triebs, der Mensch und Tier, Krankheit und Gesundheit, Körper und Seele in einer Metapher universeller Monstrosität verbindet. Die unentschlossene Zuordnung monströser Attribute mal zum Subjekt, mal zum partiellen Wahn scheint ein Resultat des Versuchs, Wahnsinnige gerade nicht als Bestien zu behandeln. Der Sprachgebrauch unterläuft diese humanistische Absicht und erzeugt, indem der Eindruck ständig drohender Monstrosität auf die Normalbevölkerung ausgeweitet wird, eine Aufwertung derselben zum universellen Prinzip.

4.4 V  on der politischen Megäre zur armen Seele (Jean-Étienne Esquirol und Wilhelm Griesinger) Wenn Reil in den Rhapsodieen gleich einleitend von psychischen Erkrankungen als von Phänomenen spricht, die „ganze Staaten“66 erfassen können, ist die Französische Revolution als politischer Kontext der disziplinären Entstehung der Psychiatrie aufgerufen und damit eine weitere Opposition bezeichnet, die durch das Konzept des blinden Triebs verschaltet ist: das Ideenpaar individueller und kollektiver Raserei. Ausdrücklicher als bei Reil äußert sich diese Kopplung von Zeitgeschichte und Wahnsinnslehre bei Philippe Pinel, der ähnlich wie Reil die Humanisierung des

64  Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Sämtliche Gedichtanalysen. Berlin und New York 2007. S. 156–216. Hier: S. 170. 65  Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 193. 66  Reil, Rhapsodieen, S. 11.



Von der politischen Megäre zur armen Seele (Esquirol und Griesinger) 

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Umgangs mit Wahnsinn propagiert67 und sich zugleich entsetzt zeigt über die Befreiung von Geisteskranken während der Revolution. Die Nähe von politischem Umsturz und Wahnsinn hält Reil anekdotisch fest: Die „Barbarische Horde“ befreit, in der Annahme, dass in der Bicêtrie vor allem politisch Verfolgte, nicht Wahnsinnige festgehalten werden, alle Insassen, deren einer unmittelbar im Anschluss Amok läuft.68 Die Implikation dieser Anekdote ist eindeutig: Psychische Krankheit und Politik unterhalten Schnittstellen – nach Pinel gab es zu keinem Zeitpunkt der Geschichte mehr Fälle von Wahnsinn als während der Revolution und unmittelbar im Anschluss. Die Unterscheidung von politischer Repression und tatsächlicher Geisteskrankheit aber muss der Psychiatrie überlassen bleiben. Wahnsinn und gerade der Wahnsinn der revolutionären Rotte ist also eine politische Kategorie, über die medizinische Deutungshoheit besteht. Eine Studie über den Zusammenhang von Wahnsinn und Fehlstellung des Quergrimmdarms69 richtet Pinels Schüler Esquirol ausdrücklich an „Liebhaber politischer Phänomene und außserordentlicher Thatsachen in der Medicin“.70 Die Schilderung der Patientin Théroigne de Méricourt als einer „berühmten Buhlerin aus Luxemburg“, schwankt zwischen megärischen und dämonischen Zuschreibungen, die ihrer poli­ tischen Rolle in der Französischen Revolution gelten, nämlich „an der Spitze eines Weiberheeres“. Théroigne de Méricourt trat während der Französischen Revolution für die Bewaffnung der Frau ein. In Esquirols Studie überschneiden sich moralische, medizinische und politische Urteile bis zur Unkenntlichkeit. Die Geistesverirrung der Patientin zeigt sich demnach, nach ihrer Verhaftung und Überstellung in die Salpetrière, als politischer Furor, sie ist „sehr aufgeregt, beleidigte und drohte jedermann, sprach nur von Wohlfahrts- und revolutionären Ausschüssen, und beschuldigte jeden, der sich ihr nahete, der Mässigung und royalistischen Gesinnung etc.“71 Esquirol beschreibt Ihre Disposition zu Wasser und Kälte – etwa die Angewohnheit, ihre gesamte Zelle auch im Winter sehr feucht zu halten – und behandelt ausführlich ihre Fixierung auf politische Themen:

67  Pinel ist u. a. dafür berühmt, den Kranken in Bicêtre die Ketten abgenommen zu haben. Dabei werden dieselben allerdings nicht ersatzlos aufgegeben, sondern durch modernere Methoden der Fesselung, wie die gerade erfundene Zwangsjacke, ersetzt. 68  Reil, Rhapsodieen, S. 392–394. 69  Bei diesem nicht mehr gebräuchlichen Fachbegriff handelt es sich um ein Synonym für den Colon, den Hauptteil des Dickdarms. Die anatomischen Details einer Fehlstellung habe ich nicht recherchiert, da sie für die folgenden Überlegungen zu Medizin und Revolution nicht nötig schienen. 70  Jean Étienne Dominique Esquirol: Leichenöffnungen von Wahnsinnigen, bei denen der Quergrimmdarm eine senkrechte Lage angenommen hatte, und sein linkes Ende hinter das Schambein herabgestiegen war. Original in: Sédillot Journal de médec. (1819), übersetzt in: Deutsches Archiv für die Physiologie 5 (1819). S. 297–309. Hier: S. 297. 71  Esquirol, Leichenöffnungen, S. 298.

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Drang man in sie, so wurde sie ungeduldig, sprach für sich leise, und brauchte ähnliche Phrasen, die aus den Worten Schicksal, Freiheit, Ausschuss, Revolution, Schurken, Bösewichter, Beschluss bestanden, hervor. Auf die Gemässigten war sie sehr böse.72

Neben dem Verlust von Schamgefühl – Esquirol erwähnt mehrfach den weitgehenden Verzicht der Patientin auf Kleidung – dominiert in den Beschreibungen der Patientin diese Darstellung politischer Ideologie als einer Form des Wahnsinns. Die anderen (ausschließlich weiblichen) Fallbeispiele für die Verbindung eines senkrecht stehenden Quergrimmdarms mit geistiger Verwirrung verhandeln, deutlich kürzer, familiär vorgeprägten Wahnsinn und Manie bzw. Melancholie „wegen verhinderter Heirath“. Esquirol gibt damit der Manie der Revolutionärin einen Rahmen hereditärer und durch soziale Ausgrenzung entstandener psychischer Erkrankungen, die sich aber mit dem „senkrecht stehenden Quergrimmdarm“ jeweils auf das gleiche organische Substrat zurückführen lassen. Esquirols Studie illustriert zunächst natürlich eine Erotisierung weiblichen Wahnsinns durch männliche Psychiater, spezieller das erotische Skandalon der kämpfenden Amazone, das auch Kleists elf Jahre zuvor erschienene Penthesilea verhandelt. Zugleich verweist sie darauf, wie sehr die Triebtheorien der frühen Psychiatrie abhängig sind von der Analyse politischer Vorgängen: Gesucht wird eine Erklärung für das rasende Volk – hier in ihrer allegorischen Form der weiblichen Megäre – das zeitgleich mit den Gewalt-Exzessen der Revolution einen rationalen Diskurs über „Schicksal, Freiheit, Ausschuss, Revolution, Schurken, Bösewichter, Beschluss“ zu führen in der Lage ist. Auf diese Problemkonstellation antwortet Esquirols Konzept der Monomanie, das in der begrifflichen Tradition der „fixen Idee“ nach Pinel und Reil steht und die Auffassung angreift, dass Wahnsinn die gesamte Person erfassen muss: Parler d’un fou, c’est pour le vulgaire parler d’un malade, dont le facultés intellectuelles et morales sont toutes perverties ou abolies […] Le public, et même les hommes très instruits, ignorent qu’un grand nombre des fous conservent la conscience de leur état, celle de leur rapports avec le monde extérieur; celle de leur délire.73

Diese Einschätzung korrigiert Esquirols Konzept der „folie partielle“.74 Wichtigstes Kennzeichen dieser partiellen Verrücktheit ist die Entwicklung genau einer pathologischen Disposition, die den restlichen psychischen Organismus intakt lässt. Diese Disposition belegt Esquirol mit dem Namen „Monomanie“. Die Ausprägung der Monomanie kann hypochondrisch, religiös, politisch, erotisch, suizidal sein; gemeinsam ist all diesen Manien, wie auch der Mord-Monomanie, die Zentrierung der Verrückt-

72  Esquirol, Leichenöffnungen, S. 298–299. 73  Esquirol, Monomanie homicide, S. 3. 74  Esquirol, Monomanie homicide, S. 4.



Von der politischen Megäre zur armen Seele (Esquirol und Griesinger) 

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heit auf eine einzelne fixe Idee. Dabei eignet den Fällen, die Esquirol aufzählt, nicht die karnevaleske Unschuld der Beispiele in Reils Rhapsodieen. Verhandelt werden Elternmord, Kindsmord wie im Fall der Henriette Cornier oder Mordlust, die an Kanni­ balismus gekoppelt ist. Die Zentrierung auf Verbrechen, die kulturen- und epochenübergreifend als grauenvoll gelten und zugleich, beginnend mit Ödipus und Medea, prominenter Bestandteil von Mythos und Literaturgeschichte sind, steht in einem seltsamen Kontrast zum programmatischen Schlusssatz seiner Untersuchung über die Monomanie, der zufolge Verbrechen und Fiktion gerade keine zentrale Rolle spielt: Nihil a crimine, nulla ficta, a morbo tota.75 In der Benennung von Krankheitsbildern bei Esquirol (wie auch später bei Baillarger76) schlägt sich eine deutliche Nähe zu fiktionalen Texten und mythischen Prätexten nieder. Wenn Esquirol nachweisen möchte, dass es partielle Verrücktheit zu jeder Zeit gegeben hat, so bezieht er sich, in dieser Reihenfolge, auf die historischen Berichte von „Dichtern, Philosophen, Historikern und Ärzten“.77 Der Einfluss literarischer Prätexte auf psychologische Forschung, der im Zusammenhang mit der Psychoanalyse bereits einen Forschungs­topos darstellt, ist in der frühen Psychiatrie ähnlich stark, wie die Benennungen von Krankheitsbildern bezeugen: Alkibiadismus, Herostratismus, Bovarismus, Donjuanismus.78 Wahnsinnige orientieren sich ihrerseits an der Literaturgeschichte. Esquirol hält, einem Topos des achtzehnten Jahrhunderts folgend, in mehreren Fallbeschreibungen fest, die (meist weiblichen) Patienten hätten zu viele Romane gelesen. Als Prätext für eine Monstrifizierung von Patienten aus einem mimetischen Impuls heraus funktionieren aber auch psychiatrische Texte, und zwar nach Esquirol vor allem die von ihm selbst beschriebenen Fälle: „C’est dans cet état que Madame N. entend parler du meurtre de la fille H. Cornier; aussitôt, elle est saisie de l’idée de tuer son enfant.“79 Auch für die Patientin Marguerite Molliens wird, nachdem sie einmal von Henriette Cornier gehört hat, die Ermordung ihres eigenen Kindes zur „idée dominante“.80 Diese Macht der Nachahmung81 stellt, so konstatiert Esquirol, einen häufigen Grund für die Ausbildung von Wahnsinn dar. Damit ist auch „die Bekanntmachung der Ver-

75  Esquirol, Monomanie homicide, S. 52. 76  Vgl. Jules Gabriel François Baillarger: Recherches sur les maladies mentales. Paris 1890. 77  Esquirol, Monomanie homicide, S. 4. 78  Foucault zitiert diese Krankheitsbilder unkommentiert, deutet aber an anderer Stelle selbst einen direkten Einfluss literarischer Prätexte auf die Entstehung der Psychiatrie an eine Parallelentwicklung an: „Die Figur des monströsen Kriminellen, die Figur des Sittenmonsters, schießt plötzlich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit Urgewalt aus dem Boden. […] In der Literatur ist das Sittenmonster mit dem Schauerroman gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts allgegenwärtig.“ Foucault, Die Anormalen, S. 106. 79  Esquirol, Monomanie homicide, S. 32 80  Esquirol, Monomanie homicide, S. 36. 81  „Puissance de l’imitation“, Esquirol, Monomanie homicide, S. 45.

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brechen nicht ohne Gefahr“.82 Esquirol inszeniert Psychiatrie als gefährliches Geheim­ wissen, ohne auf die Hypothese späterer konstruktivistischer Kulturtheorien zu verfallen, dass die Krankheiten, die seine Disziplin analysiert, von ihr in nicht geringem Maße produziert werden. Esquirols Arbeiten markieren im doppelten Sinne einen Höhepunkt der Trieblehre: Tatsächlich alle kriminellen Handlungen können auf Triebe zurückgeführt werden, die selbst nicht weiter reduzibel sind. Die Psychiatrie als Disziplin erlangt über die zentrale Setzung des Trieb-Begriffs volle Deutungshoheit bei minimalem Erklärungszwang; monstres in Foucaults Sinne dagegen tauchen in Esquirols Schriften nicht auf. Indem er die Konzepte Trieb, Instinkt und Idee von Pinel und Reil übernimmt, in denen normales menschliches Verhalten beschrieben wird, sie aber vorwiegend auf Fälle radikaler politischer Devianz und unmensch­licher Verbrechen anwendet, leitet er einen dialektischen Umschlag von defigurierter psychischer Devianz, die ausschließlich über die anthropologische Konstante des Triebs bestimmt wird, zu einer Refiguration des Menschenmonsters in der Kriminalanthropologie des späten neunzehnten Jahrhunderts ein. Zunächst lässt sich ab 1850 ein deutliches Abrücken der Psychiatrie von einem Menschenverständnis beobachten, das um zielgerichtete und eindeutig bestimmbare Triebe zentriert ist. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess des Abrückens spielt Wilhelm Griesinger, der seine medizinische Arbeit an der Beschreibung und Therapie des Wahnsinns in zwei Richtungen scharf abgrenzt, nämlich mit Blick auf Literatur und Ethik: „Die poetischen und moralistischen Auffassungen sind nicht nur unnöthig und theoretisch falsch, sondern auch von positivem, practischem Schaden.“83 Er hält schon 1861 eine moralzentrierte Psychologie84 für nicht mehr satisfaktionsfähig, Shakespeare und Cervantes dagegen bescheinigt Griesinger immerhin, „in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich“ zu beschreiben. Eine Nähe zu zeitgenössischen literarischen Desideraten ist dennoch durchgängig gegeben85 und bezieht sich natürlich auch auf den Begriff des Triebs. Griesinger bemüht sich, „metaphysische“

82  Esquirol, Monomanie homicide, S. 47. 83  Wilhelm Griesinger: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende dargestellt. Amsterdam 1964 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1867], S. 10. 84  Gemeint ist neben einigen englischen Psychiatern v. a. Philippe Pinel, dessen „moralisches ­Regime“ Grundzüge der philosophischen Aufklärung aufgreift und zudem psychische Krankheit als Klassenfrage behandelt, d. h. als eine Frage der Fürsorge für den dritten Stand. Vgl. Tölle/Schott, ­Geschichte der Psychiatrie, S. 59–62. 85  Ein Beispiel ist Griesingers durchaus poetisches Aufgreifen des romantischen Unsagbarkeitstopos, dem er eine Sprachkrisen-Konnotation beimischt, die fast auf literarische Epiphanien um 1900 vorauszuweisen scheint: „Aber doch gibt es Augenblicke im Leben, wo es ist, als ob unser inneres Leben auf einmal über die Form des Wortes hinausgehoben wäre; Unsagbares, Unaussprechliches, in keines Menschen Ohr Gekommenes thut sich wie aus plötzlich geöffneter Tiefe auf und es ist uns vielleicht später, als ob Alles, was wir wissen und erreichen, nie eine Erfüllung dessen sein könne, was uns in einem einzigen solchen Augenblicke unser Innerstes verheissen hat. Da lernt man erst, was es heisst, ‚das Wort verachten‘“. Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 28.



Von der politischen Megäre zur armen Seele (Esquirol und Griesinger) 

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Grundbegriffe wie den der Leidenschaft86 möglichst weitgehend durch physiologische zu ersetzen, ohne dabei jedoch in einen radikalen Materialismus zu verfallen. Der Versuch, alle seelischen Erkrankungen aus Nervenbewegungen oder anderen körperlichen Phänomenen zu beschreiben, muss nach Griesinger ebenso scheitern wie der umgekehrte Versuch einer Rückführung jeder physischen Krankheit auf psychische Ursachen,, denn es ist „keine feste Grenze zu ziehen, wo das eigentlich Psychische beginnt“.87 Triebe werden innerhalb dieses physiologischen Modells mit Skepsis beobachtet; zumindest kritisiert Griesinger das Esquirolsche Konzept einer Rückführung einzelner Straftaten auf genau einen Trieb oder eine fixe Idee: Man fühlt alsbald das Ungenügende, solche Fälle, je nach der Art der begangenen Handlungen, einem besonderen Mord-, Brand-, Selbstmordtriebe etc. zuzutheilen oder gar sie als „reine Willenskrankheiten“ (Monomanien im Sinne der Läsion eines Seelenvermögens, des Willens) zu betrachten.88

Triebhafte Handlungen sind, Griesingers Beispielen zufolge, in erster Linie sinnlos, nämlich zur Lösung eines jeweils bestehenden Problems, seien dies Mäuse im Haus, Geldmangel oder drohende Dominanz der Ästhetik89, nicht geeignet. Verbrecherisch sind sie dagegen nur zu einem vernachlässigenswerten Grade; schon in der Wahl der Beispiele weicht also Griesinger von Esquirols Privilegierung spektakulärer politischer und moralischer Verfehlungen ab. Seine Kritik an der Theorie des Triebs als Grundlage verbrecherischen Verhaltens zielt vor allem auf die Annahme seiner Unwiderstehlichkeit, die hier als Rhetorik der Unhintergehbarkeit charakterisiert wurde: Ob und in wie weit gewisse Willensrichtungen und Trieb bei Irren, besonders solche, die zu verbrecherischen Handlungen führten, unwiderstehlich waren, ist eine Frage, die sich fast nie sicher beantworten lässt. Den Charakter rein automatischer Zwangsbewegungen hat das Allerwenigste in dem Thun der Irren; selbst in der Tobsucht – so sagen uns die Genesenen – hätte oft vieles von dem wilden Treiben noch zurückgehalten werden können; nicht einmal einen triebartigen Charakter haben gewöhnlich die verbrecherischen Thaten der Irren.90

86  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 9 87  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 23 88  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 77 89  „Ein Kranker schlug bei uns alle Fenster hinaus, welche er erreichen konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur Verstopfung von Mauselöchern zu bekommen; ein anderer, um die Gelegenheit zu benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein anderer zerriß in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln; ein ander hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden und setzte ihn dann in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammengeschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme, erwiderte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Ästhetik erlangen.“ Vgl. Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 78 90  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 78.

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Grundsätzlich „nicht zu billigen“91 ist nach Griesingers Auffassung das Konzept der Monomanie. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts scheint dieses bei Foucault sehr privilegiert beobachtete Konzept bereits obsolet, nach Griesingers Darstellung ist sie „nunmehr auch in ihrem Vaterlande einem vollständigen Zersetzungsprocesse anheimgefallen“. Wichtig an seiner Zurückweisung der Annahme monomanischen Verhaltens ist sein Zusatz, auch zu Zeiten uneingeschränkter psychiatrischer Gültigkeit sei sie „immer mehr von forensischer als pathologischer Wichtigkeit“92 gewesen: In dieser Einschränkung äußert sich implizit eine Abwendung von der gerichtsgutachterlichen Funktion der Psychiatrie und Hinwendung zur Pathologie. Griesingers Zurückhaltung gegenüber dem Trieb ist im Kontext seiner generellen Skepsis gegen Platzhalterbegriffe ohne Erklärungsfunktion zu verstehen. Im Zusammenhang mit dem Konzept der Prädisposition befürchtet er: „so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz unbekannte Sache“. Verzichten kann er auf das Konzept dennoch nicht; tatsächlich findet sich eine der ausführlichsten psychiatrischen Klassifikationen des Triebs in Pathologie und Therapie. Griesinger führt unter allgemeinen Zerstörungstrieben etwa den Trieb zum Selbstmord, differenziert in die Klassen „plötzlich auftretender Raptus zum Selbstmord mit Umneblung des Bewusstseins“, „Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Hallucinationen“, „Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung“, oder „Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und Verletzung Anderer“.93

Vollständig entfernt ist aus dieser skeptischen Aufnahme des Trieb-Begriffs ihr ursprünglicher poetischer Parallelismus von monströsem Subjekt, monströsem Handeln und monströser Handlungsbegründung. Griesinger spricht von seinen Patienten als von vereinsamten Seelen. Zu einem „Standpunkt […] der fast ausserhalb der Menschlichkeit und ihrer Interessen liegt“94 gelangt der Patient nicht durch innere Deformation, sondern durch wachsende Entfremdung von seiner Umwelt. Der „vielbesprochene Fall der Henriette Cornier“, den Griesinger fast ein wenig gelangweilt aufruft, bestätigt eine Abwendung der Psychiatrie vom Spektakel der monströsen Psyche schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts: [Bonnet] gab den Aufschluss, dass die Cornier gegen ihre Mitgefangenen sich dahin geäussert, sie habe nur aus Rache gegen den Vater des Kindes, mit dem sie früher in vertrautem Verhältnisse gestanden, das Kind ermordet, und zwar in lang prämeditierter Weise.95

Der motivlose Mord, nach Esquirol das Kennzeichen der Monomanie schlechthin96, ist somit geerdet und das paradigmatische psychiatrische Menschenmonster, die Kindsmörderin, wieder integriert in die Sphäre verantwortlicher Subjekte und straffähiger Verbrecher. Vom Menschenmonster ist schon kurz nach Esquirol weder in der

91  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 137. 92  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 137. 93  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 263–265. 94  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 271. 95  Griesinger, Pathologie und Therapie, S. 271. 96  Vgl. Esquirol, Monomanie homicide, S. 46.



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deutschen noch in der französischen Psychiatrie mehr die Rede. Dagegen erfährt das Konzept der Monomanie eine zusehends inflationäre Verwendung – sogar Eifersucht wird in die Liste der Monomanien aufgenommen.97 Wenn ein eifersüchtiger Mensch aber ein Monomane ist, kann Monomanie nicht mehr synonym mit Monstrosität, d. h. skandalöser Abweichung von der menschlichen Gattung, sein. Auch hier tritt also die Zuschreibung des Monströsen deutlich zurück. Foucaults Einschätzung einer Zentrierung der Psychiatrie um die Figur des Menschenmonster lässt sich nicht bestätigen. Im Gegenteil lässt eine Abwendung von dieser Figur jene intrinsische Koppelung von Krankheit, Hässlichkeit und Verderbtheit, wie sie um die Jahrhundertwende noch funktioniert98, bereits nicht mehr zu. Zur Überwindung der monströsen Kodierung trägt sicherlich der sachliche Umgang mit Abweichung in der zeitgenössischen Statistik bei.99 Es scheint, als wäre in der Psychiatrie bereits in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts das Konzept des Menschenmonsters überwunden, allerdings mithilfe jener poetischen Strategie der Defiguration des Monströsen im Trieb, die bei Hoffmann unauflöslich an die Notwendigkeit der Refiguration des Monsters gekoppelt ist.

4.5 Refiguration des Menschenmonsters (Cesare Lombroso) Tatsächlich kehrt das Konzept des Menschenmonsters in Cesare Lombrosos Kriminalanthropologie nur anderthalb Jahrzehnte nach Griesingers Hauptwerk geradezu triumphal zurück. Gegenläufig zur Defiguration monströser Formen in der Psychiatrie, die hier in den Begriffen von Banalisierung, Invisibilisierung und Universalisierung gefasst ist, handelt es sich dabei um eine ebenso eindeutige wie folgenreiche Refiguration des Menschenmonsters.100 Wie seine historischen Vorläufer ist es bestimmt über die Kombination verzerrter oder übersteigerter Gattungsmerkmale, einer voluminösen Kinnlade, fehlendem Bartwuchs, stark ausgeprägten Eckzähnen. Nach Peter Becker ist der Ver-

97  Paul Moreau de Tours: La folie jalouse. Paris 1877. 98  Als Beispiel für diese Koppelung sei eine Studie von Joseph und Karl Wenzel über „Cretins“­ zitiert: „Da ihre abschreckende Hässlichkeit ihnen allen Zugang bey dem weiblichen Geschlechte versagt, und sie auch zu träge sind, den Gegenstand ihrer Wünsche aufzusuchen: so befriedigen sie sich entweder selbst, oder ihre thierische Wollust führt sie zur Verbindung mit dem Viehe, wovon die Beyspiele nicht selten seyn sollen. “Joseph und Karl Wenzel: Über den Cretinismus. Wien 1802. S. 145. 99  Das Konzept des „mittleren Menschen“ nach Adolphe Quetelet lässt sich als Versuch der Ausschaltung extremer Abweichungen aus der wissenschaftlichen Überlegung verstehen. Das Anomale wird durch die eigene Seltenheit statistisch nivelliert. Parallel beschreibt auch Auguste Comte Krankheiten als wissenschaftlich nutzbare „Experimente der Natur“; sein behandelnder Psychiater ist übrigens Esquirol, der später auch als Hörer seine Vorlesungen besucht, die er als partiell geheilt wieder aufnehmen darf. Vgl. Link, Versuch, S. 212. 100  Aus dem historischen Narrativ dieser Arbeit fällt der Ausblick auf Lombrosos Arbeiten notgedrungen etwas heraus. Offensichtliche Schnittstellen, die sie mit später besprochenen Texten vor allem Zolas unterhalten, werden an dieser Stelle zunächst ignoriert.

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brecher für Lombroso prinzipiell ein „monstruoser Typus“: „Der Verbrecher als Monster war eine Mißgeburt. Sein Charakter stammte aus der Frühzeit des Menschengeschlechtes und war den bestehenden sozialen Verhältnissen nicht angemessen.“101 Genauer legt Lombroso sogar eine doppelte Interpretation des Verbrechers als Anachronismus vor, einerseits als eines Archaismus, also einer Verkörperung urmenschlicher Triebhaftigkeit, und andererseits als Phänomen der Degeneration, also als Symptom nachlassender menschlicher Triebkontrolle im Zuge des Zivilisierungsprozesses.102 Ein Narrativ über Menschenmonster im neunzehnten Jahrhundert, das stärker auf Normalisierungspraktiken und weniger auf poetische Effekte des Monströsen angelegt ist, müsste wohl Lombrosos Kriminalanthropologie als Zielpunkt wählen: In L’uomo delinquente radikalisiert er psychiatrische Triebmodelle, rekurriert auf statistische und anthropometrische Verfahren und aktualisiert die Diskurse von Physiognomie und Teratologie. Als Wegbereiter völkischer Ideologie und totalitärer Kriminalistik prägt sein Modell des verbrecherischen Menschen entscheidende Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier wird es deshalb nur andeutungsweise beleuchtet, weil es innerhalb der Dialektik von Defiguration und Refiguration des Monströsen zwar eine radikale, keineswegs aber eine originelle Fassung des Menschenmonsters darstellt. Die Prozesse von Invisibilisierung, Unkenntlichwerden und Banalisierung, denen der Signifikant des Monströsen im neunzehnten Jahrhundert unterworfen ist, wecken zwangsläufig die Phantasie einer klaren Erkennbarkeit radikaler Devianz. Dieses Bedürfnis bedient Lombroso. Ein publikationsstarkes Genre seit den 1970er Jahren bilden kritische Studien zur Kriminalanthropologie, die mitunter erscheint als „eine Mischung aus Dummheit und Inhumanität, die im Kosmos der Wissenschaften ihresgleichen sucht“.103 Im Zuge einer Studie zu Monstrosität interessiert zunächst die Darstellung des Verbrechens als einer Gemeinsamkeit von Mensch und Tier. Explizit unter Verweis auf Darwins „Vorarbeiten“ rekonstruiert Lombroso, in Analogie zum Ursprung der Arten, den „Ursprung des Verbrechens“ artenübergreifend, nämlich angefangen bei insektenmordenden Insekten über kannibalische Skorpionide bis zu muttermordenen Füchsen. Ziel dieser bizarren Reihung ist der Nachweis, dass der Begriff der Gerechtigkeit berechtigterweise nur auf menschliche Handlungen angewandt werden kann – eine Abgrenzung, die Lombroso mit Blick auf die Affektökonomie bei Herden- und Haustieren sogleich unterläuft: Am interessantesten ist aber die Natur der ursächlichen Momente, die im ganzen und grossen auch in der Thierwelt dieselben sind wie unter den Menschen. Bei beiden sind es die Rache, die Liebe, die Überbevölkerung, der Genuss berauschender Substanzen, animalischer Kost und die Vererbung, welche als die häufigsten Ursachen des Verbrechens erkannt werden.104

101  Becker, Verderbnis und Entartung, S. 149. 102  Vgl. Beckerhoff, Monster und Menschen, S. 83–84. 103  Vgl. Peter Strasser: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. Frankfurt a. M und New York 1984. S. 7. 104  Lombroso, Verbrecher, S. 27.



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Motivationen für Verbrechen sind also bei Mensch und Tier ähnlich, die lediglich der Grad der Anwendbarkeit von juristischen und ethischen Standards der „Gerechtigkeit“ trennt. Ebenfalls artenübergreifend tauchen in Einzelfällen artfremde Verhaltensweisen auf, „mit einer unmotivirten und zum Charakter der anderen Individuen derselben Art in schroffem Gegensatze stehenden Perversität“.105 Diese Perversität ist von wesentlich größerer Sichtbarkeit und Wiedererkennbarkeit als in den hier besprochenen literarischen Visualisierungen und stellt eine geradezu vulgäre Refiguration des Menschenmonsters dar. Ein markantes Beispiel liefert Lombrosos Beschreibung des typischen Mörders: Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adlers- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend.106

Immer wieder kommt Lombroso auf die „ungewöhnliche Länge der Eckzähne“107 und der Ohren108 bei Mördern zu sprechen sowie auf die Blässe ihres Gesichts. Es bedarf keiner großen Phantasieleistung, um in der bleichen, dunkelhaarigen Gestalt mit ­geringem Bartwuchs, langen Ohren, ausgeprägten Kiefern, scharfen Eckzähnen und fortgesetztem diabolischen Grinsen ein figurales Monstrum wiederzuerkennen, das von John Polidori bis Bram Stoker phantastische Narrative des neunzehnten Jahrhunderts bevölkert, nämlich den Vampir. In der offenbar unbeabsichtigten, jedenfalls zu keinem Zeitpunkt expliziten Aufrufung solcher Archetypen der phantastischen Literatur manifestiert sich ein Versuch, die historische Invisibilisierung des Monsters, seine Auflösung in körperlose und ortlose Monstrositäten, rückgängig zu machen. Der Verbrecher, wie ihn Lombroso sehen möchte109 stellt gerade das dar, was die psychiatrischen Entwürfe von Reil bis Griesinger nicht mehr liefern: Eine eindeutige, exzeptionelle Ausnahme von einer intakten menschlichen Norm. Lombroso invertiert damit die Universalisierungsgeste der frühen Psychiatrie, die ja gerade von einer Kon-

105  Lombroso, Verbrecher, S. 27. 106  Lombroso, Verbrecher, S. 230. 107  Lombroso, Verbrecher, S. 233. 108  Vgl. auch Cesare Lombroso und Salvatore Ottolenghi: Die Sinne der Verbrecher. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2 (1891). S. 337–360. Hier: S. 349. 109  Ob seine Daten vorsätzlich gefälscht oder einseitig interpretiert sind, spielt hier keine Rolle. Ein grundsätzlich manipulativer Charakter eignet jedenfalls Lombrosos Abwandlung des Konzepts der Physiognomie: Er analysiert nicht nur angeborene Merkmale. Eine nicht unwesentliche Rolle zur Identifizierung des Verbrechers spielt etwa die Tätowierung, also ein nachträglich hinzugefügter Aspekt der äußeren Erscheinung, der dem Verbrechertypus zumindest nicht angeboren ist: „Vor allem aber ist es die traurige Klasse der Verbrecher, wo das Tätowiren seinen eigenthümlichen Charakter und eine seltsame Zähigkeit und Verbreitung gewinnt.“ (Lombroso, Verbrecher, S. 259)

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tinuität zwischen normal und pathologisch besetzten Trieb-, Begehrens- und Affektstrukturen ausgeht. Die Attraktivität von Lombrosos Modell für die faschistische Rassenlehre erklärt sich dadurch, dass seinem „monstruosen“ Verbrecher kein Modell von Hybridität zugrundeliegt, d. h. kein System von unmerklichen Übergängen und verschobenen Nuancen, sondern die Annahme eindeutiger Alterität zum Normalmenschen. Innerhalb des hier vorgelegten historischen Narrativs stellt Lombrosos Beitrag zur Geschichte der Monstrositäten ein extremes dialektisches Ausschlagen hin zum Pol der Refiguration des Monströsen dar. Wenn in der Literaturgeschichte die Hinwendung zu defigurierten, nur psychologisch nachvollziehbaren Monstrositäten gegenüber etwa den Vampirgeschichten einen Komplexitätsgewinn darstellt, so lässt sich dies vielleicht auch für wissenschaftliche Theorien behaupten: Je figuraler die Konzeption von Monstrosität, desto schlichter die Techniken seiner Herstellung oder Herleitung. Die weitere Verfolgung der Rezeptionsgeschichte von Lombrosos Verbrecher-Typus bis in den Antisemitismus der 1930er Jahre jedenfalls ist nicht Bestandteil dieser Arbeit. Zusammenfassend ist ein Prozess der Invisibilisierung des Monströsen im Trieb unübersehbar. Entgegen Foucaults Annahme vollzieht sich diese Invisilibierung nicht im Rahmen einer großen Rezentrierung der Lebenswissenschaften um den Begriff des Monströsen, sondern sehr weitgehend unter Aussparung desselben. Im Trieb allerdings findet sich ein wissenschaftliches Formkorrelat zu Hoffmanns Konzeption der körperlosen Monstrosität: Der Trieb ist allen Menschen gemeinsam und in der Ausnahme­ figur des Verbrechers lediglich besonders stark ausgeprägt, er ist unwiderstehlich und unhintergehbar und kann sowohl vererbt werden (dies wäre Lombrosos M ­ odell) als auch sich durch mimetische Akte (wie bei Esquirol) ausbreiten. Der homo delinquens, der um 1900 als Form radikaler Alterität zur menschlichen Gesellschaft auftaucht, erscheint zwar als erneuter Bruch mit der psychiatrischen Überwindung des Menschenmonsters durch den körperlosen Trieb, lässt sich im Rahmen einer Dialektik von Defiguration und Refiguration des Monströsen aber erklären: So wie Hoffmann der ortlosen Monstrosität in Paris einen mordenden Goldschmied zur Seite stellt, operiert auch die Psychiatrie mit einer doppelten Vorstellung von universeller, unsichtbarer Bedrohung einerseits und individueller radikaler Abweichung andererseits. Um die ethische, ästhetische und politische Kategorie der Delinquenz wirkungsvoll beschreiben zu können, reicht die Behauptung ihrer Universalität nicht aus, s­ ondern es ­bedarf einer komplementären figuralen Repräsentation singulärer, exzeptioneller Monstrosität. Nur beide Beschreibungen gemeinsam stellen eine plausible Beschreibung regelmäßig auftauchender, skandalös außergewöhnlicher Abweichung dar.

5 Der Monolog des Triebs: Edgar Allan Poe 5.1 Gesten der Leugnung Auf die juristischen Fragen nach dem motivlosen Mord, nach der Möglichkeit der Systematisierung psychischer Devianz und nach einer Erklärung für strukturelle Unähnlichkeiten zwischen Tat und Täter antwortet um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aber nicht nur das neue Instrumentarium der Psychiatrie und Kriminalanthropologie, sondern, unaufgefordert und juristisch irrelevant, meist spektakulär, aber nicht selten sachkundig, ein exzessives literarisches Sprechen über das Monströse. Eine Rekonzeptualisierung des Monströsen über Narrative des Triebs, die sich dem psychiatrischen Diskurs nur mühevoll ablesen lässt, ist in erheblich größerer Konzentration den Erzählungen Edgar Allan Poes eingeschrieben. Analog zur Invisibilisierung des Monströsen in den Lebenswissenschaften sind Poes monströse Gestalten fast ausnahmslos nicht über ihre äußere Erscheinung als solche erkennbar. Das folgende Kapitel zeigt anhand von vier exemplarischen Lektüren jeweils ein zentrales Strukturelement seiner Poetik des Monströsen auf: An die Stelle eines Sprechens über das Monstrum tritt (1) zunehmend ein Sprechen des Monströsen selbst, wie in den Humanwissenschaften um den Begriff des Triebs zentriert. Triebhafte Monstrosität erfährt (2) eine feste Verankerung in der Natur des Menschen und eine Aufwertung zur natürlichen Konstante, unter dem Begriff der Perversion. Der Monolog des Triebs arbeitet sich (3) an einer immateriellen, internalisierten Instanz soufflierender Überwachung ab, die ich als impliziten Psychiater bezeichnen möchte. Überwachende und monströse Instanz weisen (4) überraschend fließende Übergänge auf und stehen zueinander in einem Verhältnis mimetischer Angleichung. Wie Hoffmanns1 ist auch Poes Gesamtwerk rund um monströse Figuren organisiert. Auch in seinen Erzählungen fungieren als Orte monströser Ereignisse meist bürgerliche Wohn- und Schlafzimmer.2 Der Topos des lebendig Begrabenseins3 mutet dabei lediglich an wie die letztmögliche Steigerungsform einer Kategorie von Grenzfällen, die Poe immer wieder aufruft: Die Übergänge zum Tierischen, zu Krankheit und Wahnsinn, die unvorher-

1  Aufgrund der offensichtlichen inhaltlichen Gemeinsamkeiten in beider Poetik, die im Folgenden aufgezeigt werden, soll hier auf den zusätzlichen einflussphilologischen Nachweis eines materiellen Einflusses Hoffmanns auf Poe verzichtet werden. Ohnehin hat Poe in der Vorrede zu den Tales of the Grotesque and the Arabesque gegen zeitgenössische Tendenzen zur Reduzierung seines Werks auf die Tradition der deutschen Schauerromantik Protest eingelegt: „But the truth is that, with a single exception, there is no one of these stories in which the scholar should recognize the distinctive features of that species of pseudohorror which we are taught to call Germanic […] If in many of my productions terror has been the thesis, I maintain that terror is not of Germany, but of the soul.“ Edgar Allan Poe: Poetry and Tales. Library of America 1984. S. 129–130. 2  Vgl. The Imp of the Perverse, The Tell Tale Heart, The Mystery of Marie Roget, The Black Cat. 3  The Fall of the House of Usher, Berenice, The Premature Burial.

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gesehene Entwicklung zum Mörder, die Verunklarung persönlicher Identitäten, der Prozess des Sterbens kreieren strukturverwandte Momente der beengenden Unsicherheit über den Fortbestand individuell-menschlicher Form. Tatsächlich verwendet Poe die Figur des Untoten, Scheintoten und lebendig Begrabenen nicht als Grenz-, sondern als Regelfall: „But alas! The real sleepers were fewer, by many millions, than those who slumbered not at all; […] and there was a general and sad unrest.“4 Seine Theorie der Perversion, an die die folgenden Überlegungen anschließen, gilt nicht einer Erläuterung devianten Verhaltens, sondern beansprucht, eine bislang philosophisch wie naturgeschichtlich nicht erfasste anthropologische Konstante aufzudecken. Poes Auf- bzw. Abwertung des motivlosen Mordes zum „mere household event“ (IV, 143) und des Untoten zum Regelfall ermöglicht allerdings eine Differenzierung des jeweiligen Einsatzes von Poe und Hoffmann in die Dialektik des Banalen: Hoffmann beginnt an den Orten des Gewöhnlichen, deren Abgründe er überraschend aufdeckt. Poe setzt beim Auftauchen des unerhört Abgründigen an, um es zum Gewöhnlichen zu erklären. Sehr selten ist dies Abgründige physisch wahrnehmbar. Wie gering Poes Interesse an der phantastischen Ausgestaltung körperlicher Deformation ausgeprägt ist, illus­ trieren drei Beispiele: In The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall, einer frühen Science-Fiction-Erzählung, werden ausführlich Enge, wechselnde Druckverhältnisse und die Einsamkeit eines Ballonreisenden auf dem Weg zum Mond nachgezeichnet. Die Mondbewohner, denen er begegnet, beschreiben drei Worte: „ugly little people“ (II, 99). Wenig originell fallen auch die monströsen Figuren aus, denen Arthur Gordon Pym begegnet: Schwarze Kannibalen und am Ende der Reise eine überdimensionierte weiße Frauengestalt sind Figurationen deutlich menschlicher Alterität gegenüber dem (männlichen, weißen) Protagonisten. Symptomatisch für diese zurückhaltende Phantastik, deren Strategie einer Produktion des Terrors über das Unsichtbare fast ohne Körpermonster auskommt, ist die einzige Beschreibung eines ungewöhnlichen Tieres, das als Kadaver auf dem Meer treibt: It was three feet in length, and but six inches in height, with four very short legs, the feet armed with long claws of a brilliant scarlet, and resembling coral in substance. The body was covered with a straight silky hair, perfectly white. The tail was peaked like that of a rat, and about a foot and a half long. The head resembled a cat’s with the exception of the ears – these were flopped like the ears of a dog. The teeth were of the same brilliant scarlet as the claws. (IV, 179–180)

Poes unscheinbares Monster stellt eine Rekombination von Elementen aus Ratte, Katze und Hund dar, also denjenigen drei Tieren, die um 1840 in Baltimore, Richmond und New York am häufigsten zu finden sind. Die einzige einigermaßen exoti-

4  Edgar Allan Poe: The Complete Works. Hg. von James A. Harrison. New York 1965–1979: AMS Press [=Nachdruck der „Virginia-Ausgabe“, New York 1902]. Bd. 5, S. 267. Alle folgenden Zitate stammen aus dieser Ausgabe, angegeben sind jeweils nur Band-Nummer und Seitenzahl.



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sche Ergänzung zu dieser Konstellation höchst banaler Merkmale ist die weiße Farbe als Zeichen für die Nähe der Polarlandschaft. Zentrales Charakteristikum des Tieres ist seine mehrfache Plausibilität: als Polarbewohner ist es weiß, als Säugetier bekannten Säugetieren ähnlich und in Größe und Proportionen durchaus vorstellbar. Es hat Gliedmaßen, Fell, Schwanz, Ohren und Zähne und ruft in keinem Sinne den Kanon der archaischen figuralen Monster auf. Poes Konzeption des Phantastischen über eine Reihe kleiner, in sich plausibler Verschiebungen der Realität folgt zwar nicht Foucaults Dreiteilung von Sittenmonster, zu besserndem Individuum und masturbierenden Kind, lässt sich aber durchaus als eine Form der Banalisierung des Monsters auffassen, deren Grundlage eine radikale Perspektivierung des Monströsen bildet. In einer programmatischen Fußnote zu The Thousand-and-Second Tale of Sheheradzade entwirft Poe eine Apologie des kleinen Monsters: The term ‚monster‘ is equally applicable to small abnormal things and to great, while such epithets as ‚vast‘ are merely comparative. The cavern of the myrmeleon is vast in comparison with the hole of the common red ant. A grain of silex is also a ‚rock’. (VI, 92)

Poes Betonung der Perspektive5 auf das Monster verschärft den Hoffmannschen Diminutiv etwa aus Meister Floh oder Klein-Zaches. Die Grundlage des Sprechens über das Monster ist nicht mehr dessen Größe und Unform, sondern die jeweilige Position und Disposition des Beobachtenden. Ähnlich funktioniert die rationale Erklärung von Poes Sphinx als „living monster of hideous conformation“. (VI, 240) Ihre Monstrosität beruht auf einer optischen Täuschung des nervösen und niedergeschlagenen Erzählers, und nur eine Beschreibung von „exceeding minuteness“ ermöglicht ihre Identifikation als „Sphinx, of the family Crepuscularia, of the order Lepitoptera, of the class of Insecta – or insects.“ (VI, 243) Auch vor jedem Blick auf die Konzeption psychischer Monstrosität in Poes Erzählungen ist also ein Prozess der Banalisierung und Invisibilisierung des Monströsen zu konstatieren: Seine Monster sind unscheinbar und teils geradezu lächerlich klein. Die Besonderheit seiner Konzeption des Monströsen liegt aber in einer Kippfigur von fragiler Norm und radikaler Abweichung. An die Stelle mythischer oder phantastischer Körpermonster tritt flächendeckend unsichtbare Monstrosität im Sinne einer psychischen Störung, die nicht mit körperlicher Deformation einhergeht. Cardillac ist in Hoffmanns Werk eine Ausnahmefigur, in Poes tales of terror sind eingeschränkte Erzähler und Protagonisten ohne Kontrolle über ihr Triebleben die Regel. Sie sind hyp-

5  Die Definition des Ungeheuers über seine Größe, etwa nach Adelung oder Frisch, werden mit dieser radikalen Perspektivierung hinfällig. Die Verkleinerung des monströsen Gegenstandes ist eine Form seiner Banalisierung und kann als Vorstufe zu seiner Universalisierung verstanden werden. Kleine Monster tauchen bei Poe regelmäßig (vgl. im Folgenden) zur Kodierung innerer Monstrosität auf. Vgl. auch William S. Marks: The Art of Corrective Vision in Poe’s The Sphinx. In: Pacific Coast Philology 22.1–2 (1987). S. 46–51.

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notisiert6, Alkoholiker7, hereditär nervenkrank8, gequält von der Existenz eines Doppelgängers9 oder einer plötzlichen Entwicklung zur Geisteskrankheit unterworfen10, bis zum Wahnsinn gefoltert worden11, von einem spezifischen Impuls wie dem der Rache besessen12 oder von einem unbestimmten Trieb geleitete Mörder.13 Monstro­ sität ist dabei zumeist nicht Grunddisposition, sondern Resultat einer allmählichen, schleichenden Veränderung: Egaeus und Berenice verwandeln sich jeweils „in a manner the most subtle and terrible“ (II, 18) vom grüblerischen Leser zum Monomanen, von der Najade zur Epileptikerin. Die Übergänge vom Menschlichen zum Monströsen bilden eine Reihe nur nuancenhafter Abweichungen. In der Poe-Forschung, vor allem zur Erzählung The Fall of the House of Usher, ist verschiedentlich auf die metaphysikkritische Tendenz seiner Erzählungen vor allem mit Blick auf das Konzept des Erhabenen hingewiesen worden14, der konsequent auch das mythische Ungeheuer als metaphysische Einheit zum Opfer fallen muss. Im Rahmen der hier entwickelten Dialektik von Defiguration und Refiguration des Monströsen nimmt Poe eher eine Rehabilitierung oder Rettung der Metaphysik im Mikrologischen vor, wie sie Adorno als Aufgabe der modernen Kunst bezeichnet15: Der Verschiebung des Ungeheuers ins fast unsichtbar Kleine und seiner kompletten Defiguration in unsichtbare monströse Potentiale korrespondiert, in sehr viel schnellerer Abfolge als in der deutschen Romantik, jeweils die Rücküberführung dieses Potentials in Figurationen menschlicher Monstrosität. In The Masque of the Red Death erscheint das Monströse nur vorläufig personifiziert, nämlich in Form eines maskierten ungebetenen Gastes, der sich dematerialisiert, sobald ihm die Maske abgerissen wird. Er hinterlässt aber die Pest, die alle Versammelten zu Trägern der Maske des roten Todes in einem viel wörtlicheren Sinne, nämlich als Infizierte, macht. Diese Geschichte einer Verdrängung – alle Teilnehmer des Maskenballs sind Adlige, die sich vor der Pest in ein isoliertes Schloss zurückgezogen haben – ist charakteristisch für die Kopplung des Monströsen an das Unheimliche in

6  Von Kempelen and His Discovery, Mesmeric Revelation. 7  The Black Cat. 8  The Fall of the House of Usher, Metzengerstein. 9  William Wilson 10  Berenice, Eleonora. 11  The Pit and the Pendulum. 12  The Cask of Amontillado, Hop Frog. 13  The Tell-Tale Heart, The Imp of the Perverse. 14  Vgl. zuletzt Jack G. Fuller: The Power of Terror. Kant and Burke in the House of Usher. In: Poe Studies / Dark Romanticism 22.2 (2009). S. 27–35. Nach Fuller wendet sich Poes Deprivilegierung des monströsen Stimulus zugunsten der Umstände seiner Betrachtung primär gegen Versuche, „terror“ im Anschluss an Kant und Burke über den Begriff des Erhabenen zu fassen. Seiner Lesart der Erzählung „The Fall of the House of Usher“, die neben der Unzulänglichkeit des Erhabenen auch den prinzipiell defizitären Charakter intellektuellen Zugriffs auf Gegenstände der Angst betont, lassen sich neben der Sphinx auch Poes Detektivgeschichten entgegenhalten. 15  Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 2000. S. 399.



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seiner basalen Definition nach Jentsch16: In vielen der hier nur kurz angerissenen Erzählungen erlangt eine überwundene animistische Vorstellung neue Geltung, indem Tote wiederauferstehen oder Materie plötzlich belebt scheint. Mitunter scheint es dezidiert ein verdrängter Affekt, der des Gewissens wie in The Tell-Tale Heart oder der einer dynastischen Todessehnsucht wie in The Fall of the House of Usher, der ge­ waltsam und, nach Freuds Definition des Unheimlichen, „in Angst verwandelt“17 zurückkehrt. All diese Narrative von Angst, Verdrängung und Mord gehen zurück auf unsichtbare pathologische Triebhaftigkeit. Umso merkwürdiger sind zwei fast mechanisch wiederholte Gesten zu Beginn fast jeder Erzählung monströsen Inhalts, die eine solche Disposition verneinen. Es ist zu gefährlich, suggeriert die eine dieser Gesten, über den vorliegenden Fall von Monstrosität zu reden; es liegt kein Fall von Monstrosität vor, suggeriert die andere. Ligeia als Wiedergängerin verlangt vom Erzähler „that I should institute no inquiries“ (II, 249). Die Erzählung von Berenice ist „a story that should not be told“ (II, 18), The Premature Burial endet auf einer Warnung vor dem Sprechen vom Monster: „They must be suffered to slumber, or we perish“ (V, 273). Die effektvolle Mahnung, nicht über das Monster zu sprechen, ist natürlich zunächst der Kunstgriff eines erfahrenen Autors, der sich an ein Zeitschriftenpublikum mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne wendet. Der angekündigte Plot wird durch das jeweilige einleitende Erzählverbot aufgewertet zu einem Geheimnis. Gerade das Versprechen, Sachverhalte zu berichten „which are too entirely horrible for the purposes of legi­ timate fiction“ (V, 255) ist eine kluge verkaufsfördernde Maßnahme. Allerdings zeigt sich vor allem in Poes tales of ratiocination eine Korrelation von Tabuisierung durch den zumeist extradiegetischen Erzähler und Kernproblematik der Erzählebene: Tatsächlich widersetzt sich der Erzählgegenstand, in Gestalt eines flüchtigen Verbrechers, einer falschen Spur oder gezielten Desinformation, der Erzählung; meist bleibt ein „mystery all unsoluble“ (II, 274, The Fall of the House of Usher) über das Ende der Erzählung hinaus bestehen. Die einleitende Geste der Unaussprechlichkeit stellt also die Frage nach der prinzipiellen poetischen Darstellbarkeit psychischer Abgründe. Damit ist ein Kernanliegen von Poes Detektivgeschichten benannt: Eine sprachliche Form für Gegenstände zu finden, die sich strukturell der Beschreibung widersetzen und fast nicht beschrieben werden können. Dieses fast Unbeschreibbare ist weder das ganz Andere sprachlich konstituierter Realität (dies entzöge sich der Darstellung vollständig) noch ein Bestandteil bereits etablierter Terminologien in Literatur und Lebenswissenschaften. Gegenstände der Poeschen Poiesis sind hybride Wesen, skandalöse Grenzfälle, nach der hier vertretenen Definition: Monster. Walter Benjamins

16  Ernst Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 22 (1906). S. 203–205. 17  Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1970. S. 241–74. Hier: S. 264.

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Annahme, die Verbrecher der Poeschen Detektivgeschichten seien „weder Gentlemen noch Apachen sondern bürgerliche Privatleute“18, ist falsch mit Blick auf die drei gattungsbegründenden Dupin-Erzählungen: In The Murders in the Rue Morgue ist es ein sehr großer und gut abgerichteter Orang-Utan, den erst die Unterstellung von Menschlichkeit wahrhaft monströs macht, in The Mystery of Marie Rogêt ein in Abwesenheit analysiertes Subjekt mit militärischem, nicht bürgerlichem Hintergrund und in The Purloined Letter ein Minister, der durch Prozesse der Substitution zumindest Dichter, Mathematiker und König ist und in seinem merkwürdigen poststrukturalistischen Nachleben auch Königin und deren Liebhaber wird.19 Das Versprachlichungsverbot, das der Detektiv bzw. Erzähler jeweils überwinden muss, ist nicht begründet in einer bürgerlichen Unkenntlichkeit des Verbrechers, sondern korrespondiert mit dem Narratem der verhinderten Annäherung an das Zentrum des Labyrinths oder den Eingang des Zedernwalds: Diese Orte besetzt das Monstrum. Die zweite, ähnlich wirkungsvolle Geste zu Beginn von Poes Erzählungen besteht darin, das Vorliegen eines monströsen Sachverhalts so vehement zu leugnen, dass der Leser gerade eine solche Monstrosität annehmen muss und zugleich ein Bestreben, sie zu vertuschen. Gerade die grauenvollsten unter seinen Erzählungen erscheinen zu ihrem Beginn als „mere household events“ (The Black Cat). Varianten dieser Gestik reichen vom betont sachlichen Hinweis auf fiktive Forschungsliteratur (Von Kempelen and his Discovery) oder der Selbststilisierung des Erzählers als eines sachlichen Wissenschaftlers (The Facts in the Case of M. Valdemar) bis zum Gegenteil eines sprechenden Wahnsinnigen, der seinen Wahnsinn jeweils vehement leugnet. Diese Geste scheint zunächst das Gegenteil der rhetorischen insinuatio der Gefährlichkeit und Unaussprechlichkeit. Beide Gesten sind dennoch komplementär: Die Beunruhigung des Lesers durch die Geste der unerzählbaren Gefahr ergänzt Poe um die Verunsicherung über den Wahrheitsgehalt und epistemischen Status des Gesagten. Der letztere Fall, in dem das Sittenmonster selbst spricht, interessiert für die vorliegende Arbeit insofern besonders, als sie eine literarhistorische Novität darstellt. Mit Edgar Allan Poe beginnt das Phänomen, das hier „Monolog des Triebs“ heißen soll: Trieb­täter, Psychopathen, Wahnsinnige, Delirante erzählen aus ihrer eigenen und auf ­besondere Weise einge-

18  Benjamins Poe-Lektüre steht unverkennbar unter dem Einfluss von dessen französischer Rezeption und ist geprägt von Ungenauigkeiten. Besonders im Passagen-Werk scheint sich Benjamin kaum mehr der Poe-Texte als vielmehr seiner Erinnerung und der Auslegungen Baudelaires zu bedienen. Poe firmiert im Exposé auch als „erster Physiognom des Interieurs“; da Poes humorvolle, aber theoretisch belanglose Philosophy of Furniture, die wenig Korrespondenzen mit Benjamins Interieur-Projekt aufweist, nirgendwo sonst zitiert wird, scheint Benjamin sie eher aufgrund ihres Titels ausgewählt zu haben. Ein weiteres originelles Versatzstück von Benjamins Poe-Rezeption dagegen, seine Präferenz für The Man of the Crowd gegenüber den klassischen Detektiv-Geschichten, wird im Folgenden noch aufgegriffen. Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. 1. Frankfurt a. M. 1991. S. 53–55. 19  Vgl. John P. Muller und William J. Richardson (Hg.): The Purloined Poe. Lacan, Derrida, and Psychoanalytic Reading. Baltimore 1988; darin v. a. die Beiträge von Johnson und Felman.



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schränkten Perspektive ihr eigenes Handeln. Damit entfallen gegenüber den Verbrechens- und Wahnsinnserzählungen des frühen neunzehnten Jahrhunderts jede analytische Distanz und jede Möglichkeit der externen Kommen­tierung. Natürlich ließe sich argumentieren, dass etwa die Monologe der Sadeschen Sittenmonster zeitlich vorausgehen20; im Unterschied zu den Monologen der Libertins betreiben aber Poes Menschenmonster keine diskursive Ethik und keine Radikalisierung der aufklärerischen Theodizee. Kaum ein Katechismus der Aufklärung ist argumentativ so pedantisch aufgebaut wie Sades Anleitungen zu Vergewaltigung und Körper­verletzung; Poe dagegen lässt den unartikulierten Trieb sprechen, mit aller semantischen Polyvalenz, die dem Begriff im letzten Kapitel zugeschrieben worden ist.

5.2 Substitutionen des Monströsen Zur Rekonstruktion des poetischen Projektes, das hier als „Monolog des Triebs“ bezeichnet wird, bieten sich vor allem die Anfänge von Poes Erzählungen an, in denen sich eingeschränkte Erzähler vorstellen. The Black Cat beginnt folgendermaßen: For the most wild yet most homely narrative which I am about to pen, I neither expect nor solicit belief. Mad indeed would I be to expect it, in a case where my very senses reject their own ­evidence. Yet, mad am I not – and very surely I do not dream. (V, 143)

Die einleitende Geste folgt der Strategie der offensiven Leugnung monströser Inhalte. „Most homely“ heißt es im ersten Satz, „a series of mere household events“ wird wenig später angekündigt, die sich bei klarem Verstand analysieren ließe als „nothing more than an ordinary succession of very natural causes and effects“ (V, 143). Dieser Behauptung einer kausallogischen Erklärbarkeit der erzählten Ereignisse kontrastiert von Anfang an der emphatische Ton der Erzählung voller Exklamationen, aggressiver Leseranreden, parallelistischer Satzkonstruktionen und klimaktischer Dramatisierungen: „these events have terrified – have tortured – have destroyed me.“ (V, 143) Wichtiger noch leiten die Stichworte des Traums und des Wahnsinns eine Verun­sicherung über den Realitätsstatus des Erzählten ein, die maßgeblich von der Unzuverlässigkeit des Erzählers abhängt. Indem er Wahnsinn und Delirium leugnet, lädt er geradezu ein, sie zu attribuieren, wie die entsprechende Fokussierung zahlreicher Studien zu Terror, Unheimlichem und Pathologischem bei Poe beweist.21 Die Aufrufung des

20  Auch der Apuleiische menschliche Esel ist natürlich streng genommen ein monströser Erzähler. „Novität“ ist hier also nicht im Sinne einer einmaligen unerhörten Überschreitungsgeste zu verstehen, sondern im Sinne einer flächendeckenden Umstellung auf ein neues Erzählparadigma. 21  Horst Conrad etwa nimmt Poe zum Ausgangspunkt einer Analyse literarischer Angst überhaupt. Vgl. ders.: Die literarische Angst. Das Schreckliche in Schauerromantik und Detektivgeschichte. Düssel­dorf 1974.

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Wahnsinns unterliegt dabei einer Besonderheit: Der Erzähler steht offenbar nicht am Anfang einer souveränen Erzählung, sondern scheint auf etwas oder jemanden zu antworten: „I neither expect nor solicit belief“ ist eine gängige Formel für die Exposition phantastischer Inhalte, im Folgenden aber heißt es: „Mad indeed would I be“ (V, 143), nicht „I would be mad“. Es wird offensichtlich auf ein außerhalb der Erzählung, von einem Souffleur, der nicht der monströse Erzähler ist, geäußertes Stichwort Bezug genommen, das des Wahnsinns. Über diesen Wahnsinn ist der Erzähler klar als Menschenmonster zu identifizieren, getrieben von einem inneren „demon“ oder „fiend“. Er verstümmelt und tötet zunächst eine Katze und erschlägt später seine Frau, deren Leiche er in einer Kellerwand einmauert. Ausdrücklich als „monster“ figuriert in seiner Wiedergabe der Geschehnisse die Katze; monströse Attribute werden zwischen Menschenmonster und Katzenmonster in schneller Folge ausgetauscht. Während ­seiner gedrängten Wiedergabe scheint der Erzähler die Übernahme der narrativen Authorität durch eine andere Instanz zu antizipieren und sowohl zu fürchten als auch zu erhoffen: Hereafter, perhaps, some intellect may be found which will reduce my phantasm to commonplace – some intellect more calm, more logical, and far less excitable than my own, which will perceive, in the circumstances I detail with awe, nothing more than an ordinary succession of very natural causes and effects. (V, 543)

Dabei benutzt der Erzähler selbst, unabhängig vom antizipierten Sprechen einer externen Instanz, Elemente einer Pathologie des getriebenen Menschen. Er analysiert nüchtern seine eigene Kindheit und Persönlichkeitsentwicklung, verschiedene Stadien seiner Ehe und seinen sozialen Status. Seine eigene Liebe zu Haustieren und zu seiner Ehefrau bezeichnet er als „disposition“ (V, 145). Dieser kausalen Verknüpfung der Geschehnisse mit Kindheit, unglücklicher Ehe oder Alkoholismus widerspricht eine Zuschreibung der Beliebigkeit an gerade diese Informationen: „and I mention the matter at all for no better reason than that it happens, just now, to be remembered“ (V, 144). Es liegt offenbar ein kausaler Zusammenhang vor, dessen Rekonstruktion aber nicht durch den Erzähler und nicht auf der Ebene der Erzählung geleistet wird. Deren Identität stellt die zentrale Auslassung der Erzählung dar, die das Sprechen des Erzählers zu bestimmen scheint, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Monolog des Triebtäters selbst. Die Veränderungen seines Charakters bespricht er in den Begriffen der Psychiatrie als „radical alteration for the worse“ in den Kategorien „general temperament“ und „character“ und führt sie, durchaus kausallogisch, zurück auf Alkoholismus. Seine Veränderung entspricht den psychiatrischen Beschreibungen monomanischer Störungen: „I grew, day by day, more moody, more irritable, more regardless of the feelings of others“ (V, 144). Die Blendung seiner Katze beschreibt er folgendermaßen:



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The fury of a demon instantly possessed me. I knew myself no longer. My original soul seemed, at once, to take its flight from my body; and a more fiendish malevolence, gin-nurtured, thrilled every fibre of my frame. (V, 145)

Verschiedene Erklärungsmodelle für das Unerklärliche überlagern einander auch bei Poe. Zentral gesetzt ist die christliche Besessenheitslehre, hier gekoppelt an ein idiosynkratisches Modell einer „fliehenden Seele“ und an die bereits analysierte Metapher des inneren Dämons bzw. des Teufels22. In der „fibre“ scheint eine Referenz an die Nervenheilkunde nach Brown23 auf, in der Engführung von Alkoholexzess und Gewalt eine Reminiszenz an bacchantische spontane Selbstmonstrifizierung. Daraus resultiert der temporäre Verlust der Fähigkeit zu vernünftigem Handeln, und, „when reason returned with the morning“, ein starkes Schuldgefühl. Wie in einer Illustration der Monomanie-Lehre kehrt allerdings die temporäre Umnachtung zurück und führt zur Tötung der Katze: But this feeling soon gave place to irritation. And then came, as if to my final and irrevocable overthrow, the spirit of PERVERSENESS. Of this spirit philosophy takes no account. Yet I am not more sure that my soul lives, than I am that perverseness is one of the primitive impulses of the human heart – one of the indivisible primary faculties, or sentiments, which give direction to the character of Man. (V, 146)

Die zeitliche Distanz zum eigenen Handeln macht aus dem Triebtäter einen Triebtheoretiker. Seine Theorie ist zirkulär: Aus dem eigenen Erleben werden generalisierende Überlegungen über die Natur des Menschen abgeleitet, die wiederum als Erklärungsschemata für das eigene Handeln dienen. Zusammengehalten wird diese Abfolge deduktiver und induktiver Operationen durch den Begriff der Perversion, eines der Leitmotive der Poeschen Poetik des Anomalen.24 Perversion funktioniert dialektisch: Perverse Handlungen sind bedingt durch eine Tendenz der Seele „to offer violence to its own nature“ (V, 146), also von einem Bedürfnis, gerade das zu tun, was rational als falsch erkannt ist.25 Der Gegenpol zu rationalem Handeln ist dabei keineswegs die Kantische Neigung oder die juristische Kategorie des Affekts: Während er seine Katze erhängt, fühlt der Erzähler nach Selbstauskunft bereits Trauer und Reue, vernünftige ethische Erwägung und affektive Disposition sind also durchaus in Einklang miteinan-

22  Der Teufel heißt hier „fiend“, andernorts, als kleines Teufelchen v. a. „imp“, vgl. im Folgenden. 23  Eine Darstellung von Browns Arbeit und Einfluss auf die Romantik findet sich bei Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg/Br. 1999, v. a. S. 103–108. 24  Vgl. die folgende Kurzanalysen zu The Imp of the Perverse und The Tell-Tale Heart. 25  Ein solches rationales Gesetz ist gemeint, wenn Poe vom Drang spricht „to violate that which is the Law“ (Poe III, S. 852). Nach Thomas Ollive Mabbott bezieht sich Poes Darstellung der Perversion auf einen Vorläufertext, Georgiana Fullertons Roman Ellen Middleton, den er 1844 begeistert rezensiert; vor allem scheint ihm die Formulierung „to lose one’s head“ gefallen zu haben. Vgl. Poe III, S. 1218.

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der – nicht aber mit der begangenen Handlung. Perversion bedeutet, von einer inneren Monstrosität zum Regelverstoß gezwungen zu werden, sei es gegen Gesetze der Vernunft oder der Moral, gegen ein Strafgesetzbuch, oder gegen die eigenen Interessen. Nach dem Tod der Katze kommt es zu einer Reihe monströser Zuschreibungen an das erhängte Tier: als „apparition“ (V, 147) an einer Hauswand, als „phantasm“ (V, 148) in den Träumen des Erzählers und, als es sich als Wiedergänger materialisiert, als „creature“ und „strange beast“, dessen Gegenwart dem „breath of a pestilence“ (V, 149–151) verglichen wird, und mehrfach als „monster“ (V 151, 154). Parallel beschreibt der Erzähler weiterhin sich selbst in den psychiatrischen Begriffen des Menschenmonsters: Seinen Hass auf den Wiedergänger versucht er immer wieder medizinisch nüchtern zu beschreiben, wird aber von „Schimären“ und Wahnvorstellungen in dieser Beschreibung zurückgeworfen. Seine emotionale Disposition gegenüber der Katze bleibt, ebenso wie der gespenstische Status der Doppelgänger-Katze, ein kategoriales Problem („yet I should be at loss how otherwise to define it“, V, 150). Seine Selbstzuschreibungen sind die eines rasenden Zorns, der Gefühlsschwankung („moodiness“), und der dunklen Gedanken („darkest and most evil of thoughts“, V, 151). Er versucht, auch die zweite Katze zu ermorden und ermordet versehentlich seine Frau, die versucht, ihn daran zu hindern. Zur Tatzeit befindet er sich in einem Zustand unerklärlicher „madness“, auch als „wrath“ bezeichnet, vor allem aber ist er ein Getriebener („goaded“, V, 152). Sein Wahnsinn ist wiederum kenntlich als idée fixe durch die Tatsache, dass er anschließend klar seine Lage analysiert. Als einzige Möglichkeit, der Strafe zu entgehen, bleibt ihm, die Leiche seiner Frau im Keller einzumauern. Die analytische Klarheit der theoretisierenden Passagen der Erzählung spiegelt sich in dieser vollständigen Geistesgegenwart und Funktionsfähigkeit des Erzählers jenseits der partiellen Anomalie. Ein zurechnungsfähiges Subjekt entschuldet sich über die Auflistung von Dämonen, Trieben und inneren Stimmen, die ihm zuzuschreiben, juristisch aber nicht anzurechnen sind. Als rein gerichtliches Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit, als das die Erzählung in der Forschung mitunter betrachtet wird26 erscheint sein Monolog dennoch nicht. Er lässt sich zu plausibel auch als Einbruch des Phantastischen lesen, nach Todorovs Bestimmung des Phantastischen als einer „Unschlüssigkeit“27 des Lesers über den Realitätsstatus des Erfahrenen. Diese Unsicherheit bleibt der Erzählung durchgängig erhalten: Ein übergroßes Abbild einer erhängten Katze an der Wand seines abgebrannten Hauses kann nicht nur vom unzuverlässigen Erzähler, sondern auch von herbeigeeilten Schaulustigen eindeutig ausgemacht werden. Dieses Abbild wird zunächst beschrieben als übernatürliche Erscheinung, gleich im folgenden Satz wird eingeschränkt: „But at length reflection came to my aid“ (V, 148). Die folgende

26  Vgl. John Cleman: Irresistible Impulses. Edgar Allan Poe and the Insanity Defense. In: Harold Bloom (Hg.): Edgar Allan Poe. New York 2002. S. 73. 27  Zvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt a. M. 1992. S. 25.



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Erklärung des Vorgangs im Rahmen der Naturgesetzte28 ist allerdings haarsträubender als jeder denkbare Rekurs auf übernatürliche Kräfte. Sie beruhigt zwar „wonder and terror“ des Erzählers, ist aber offensichtlich nicht dazu geeignet, Zweifel des Lesers zu beseitigen. Vielmehr korrespondiert die mehrfache Aufrufung abergläubischer Vorstellungen (etwa der Engführung von schwarzer Katze und Hexe) mit der unglaublichen Häufung von Zufällen (am prominentesten: der exakte Wiedergänger der ermordeten Katze) und der schicksalhaften Fügung zum Ende der Erzählung (der Wiedergänger der Katze rächt sich, indem er den Mörder der Justiz ausliefert). Sie korrespondiert weiterhin mit einer langen Reihe von Spiegelungs- und Substitutionsprozessen von Opfer und Täter: Die Monstrosität des Erzählers, dem die erste Katze zum Opfer fällt, spiegelt sich in der Heimsuchung durch die zweite Katze, die sie ersetzt; anstelle dieses Wiedergängers erschlägt der Erzähler seine Frau; anstelle des Opfers wiederum zeigt die Katze der Staatsgewalt durch lautes Schreien den Mord an. Die Verschiebung der Monstrosität zwischen Erzähler und Tier gipfelt schließlich in dem Irrtum: „The monster, in terror, had fled the premises forever!“ (V, 154). Monstrosität ist Gegenstand des Austauschs zwischen Erzähler und Katze, eher ein wandernder Signifikant als eine stabile Zuschreibung, und steigert sich in den Exzessen von innerem Dämon und Teufel auf der einen, in der gespenstischen Verrückung von Erscheinung, Phantasma und Wiedergänger auf der anderen Seite. Die Schlussszene transformiert diese ortlose Monstrosität, die sich mal im Menschen und mal im Tier temporär refiguriert, in Klangwellen: Ein Schrei, „utterly anomalous and inhuman“ zeigt der Polizei den Fundort der Leiche. Er stammt von der Katze: „I had walled the monster up within the tomb“(V, 155). Dieses System von Spiegelungen drängt eine allegorische Interpretation der Katze geradezu auf, als Personifikation des Gewissens oder des zerstörerischen Triebs. Beide Aspekte, subtile Phantastik und aufdringliche Allegorese, machen den poetischen Mehrwert der Erzählung gegenüber einer reinen Verteidigungsrede des Wahnsinns aus, wie sie sich vor Gericht verwenden ließe. Vor dem Hintergrund dieses Mehrwerts ist auch Poes Poetik des Triebs zu lesen: Der Trieb, dessen Konsistenz durch die heterogenen Konzeptualisierungen als innere Stimme, Teufel, Dämon, Perversion, Intoxikation, „sentiment“ und „spirit“ nicht näher bestimmt, sondern unausgesetzt verunklart wird, ist eingebettet in eine Ununterscheidbarkeitszone von Realem und Phantastischem. Er stellt, darin überschneidet sich Poes poetisches Triebkonzept mit den psychiatrischen Modellen von Reil bis Esquirol, keine Erklärung der Handlung dar, sondern einen Platzhalter des Unerklärlichen, ein Residuum des Widernatürlichen, das seinen Platz innerhalb der Natur des Menschen einnimmt.

28  Um den Protagonisten zu wecken, wirft, nach dessen Vermutung, ein Nachbar die erhängte Katze durch ein Fenster. Einstürzende Wände drücken den Kadaver auf zufällig frisch aufgetragenen Mörtel. Dessen Verbindung mit Ammoniak, der aus dem Tierkörper austritt, wird verbrannt und hinterlässt den besagten Abdruck.

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5.3 Jenseits der Phrenologie Verhandlungsgegenstand des Monologs in The Black Cat ist der unerklärliche Trieb der „perverseness“, den Poe ausführlicher in The Imp of the Perverse analysiert. Die gleichnamige Erzählung besteht aus einer längeren theoretischen Abhandlung und einer kurzen narrativen Episode, die zwar gleichfalls einen Mord verhandelt, als zentrale Perversion aber gerade nicht Mordlust, sondern Redelust verhandelt. So geschieht ein Mord, erst im Folgenden aber fühlt sich der Mörder, der zugleich Erzähler ist, „harrassed“ und „haunted“, verspürt einen „icy chill“, er leidet unter „attacks“ bzw. „fits of perversity“ (VI, 152–153), die das klassische Vokabular des Triebs aufrufen. Planung und Durchführung des Mordes werden lakonisch und fast gleichgültig erzählt, ein Exzess des Triebhaften beginnt erst nach der Tat. Die Erzählung ließe sich wiederum als Allegorie auf das Gewissen lesen, also im Sinne einer Internalisierung externer moralischer Instanzen. Poes Erzähler bietet aber in den theoretischen Vorüber­ legungen, die deutlich mehr als die Hälfte des Textes einnehmen, eine andere Erklärung an – erneut gegenüber einer nicht eingeführten extradiegetischen Instanz: I have said this much, that in some measure I may answer your question – that I may explain to you why I am here – that I may assign to you something that shall have at least a faint aspect of a cause for my wearing these fetters, and for my tenanting this cell of the condemned. (VI, 150)

Die „Frage“29 des Adressaten der Erzählung ist bereits in das Narrativ des Triebtäters integriert. Sie zielt auf eine Begründung für eine offensichtlich grundlose Tat. Die Besonderheit gegenüber etwa The Black Cat besteht darin, dass weniger der Mord unter dem Triebbegriff verhandelt wird als der Drang, den Mord zu gestehen. Die historische Kriminalanthropologie interessiert sich primär für verbrecherische Triebe – anthropophagische und inzestuöse Begehrensstrukturen, Perversion und Mordlust. Ausgerechnet denjenigen Trieb, der sich auf die Versprachlichung aller anderen Triebe richtet, der also sowohl die Grundlage kriminalistischer Arbeit als auch den blinden Fleck ihrer Beobachtung ausmacht, bezeichnet nun Poe als Imp of the Perverse in deutlicher Abgrenzung zu den lebenswissenschaftlichen, hier vor allem phrenologischen Triebkonzeptionen. Poe kritisiert dabei nicht die Phrenologie als Disziplin, der er in einer Rezension aus dem Jahre 1836 die „majesty of a science“ zuschreibt.30 Die Grundannahme Galls,

29  In einer früheren Version des Textes heißt es: „that I may be able, in some degree, to give an intelligible answer to your queries.“ (Vgl. Notes in VI, S. 289). Poe präzisiert in der Überarbeitung, dass statt mehrerer möglicher Fragen nur eine einzige, nämlich diejenige nach dem dem Grund des vorliegenden Verbrechens, Ausgangspunkt der Erzählung sein kann. 30  Edgar Allan Poe: Phrenology and the Moral Influence of Phrenology, VII, S. 252. Vgl. Erik Grayson: Weird Science, Weirder Unity. Phrenology and Physiognomy in Edgar Allan Poe. In: Mode 1 (2005). S. 56–77, v. a. S. 57.



Jenseits der Phrenologie 

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dass jeder menschlichen Eigenschaft und jedem menschlichen Trieb ein bestimmtes Hirnareal zugeordnet werden kann31, zitiert er durchaus affirmativ in den Begriffen von „alimentiveness“, „amativeness“ oder „combativeness“ als den drei phrenolo­ gischen Grundtrieben (VI, 146–147). Seine Kritik zielt auf die Unvollständigkeit der Wiedergabe der Triebmanifestationen durch die Hirnforschung: Übersehen haben Gall und seine Schüler demnach „a radical, primitive, irreducible sentiment“, die Perversion. Poe verbindet diese Beobachtung mit einer methodischen Kritik der Phrenologie, die von Überlegungen a priori statt von empirischer Beobachtung ausgeht: „We saw no need for the impulse – for the propensity. We could not perceive its necessity.“ (VI, 147) Poes Plädoyer zugunsten einer Humanwissenschaft a posteriori richtet sich gegen die metaphysische Annahme einer funktionalen Strukturierung der mensch­ lichen Psyche auf Basis eines Schöpferwillens. Der alltäglichen Beobachtung ist nach Poe vielmehr zu entnehmen, dass es neben funktional besetzten Triebmanifestationen wie denen des Ernährungs- oder Fortpflanzungstriebs einen zumindest dysfunktionalen, wenn nicht kontraproduktiven Trieb gibt: Induction, a posteriori, would have brought phrenology to admit, as an innate and primitive principle of human action, a paradoxical something, which we may call perverseness, for want of a better term. In the sense I intend, it is in fact, a mobile without a motive, a motive that is not motivirt. (VI, 146–147)

Dieser Drang erscheint als grundlegende Funktion menschlichen Lebens: Poe erweitert das biologische Repertoire der Triebe, deren Grundformen „alimentiveness/combativeness“ und „amativeness“ ungefähr den späteren Prinzipien natürlicher und sexueller Selektion entsprechen, um eine Komponente der „perverseness“. Deren empirischen Nachweis führt er über Beispiele: Ein Redner bemerkt, dass er seine Zuhörerschaft langweilt, und dehnt gerade darum seinen Vortrag unendlich aus. Die Ausführung einer Arbeit, deren Aufschub existenzbedrohend ist, wird gerade aus diesem Wissen heraus verzögert. Jemand steht an einer Felskante, und gerade das Entsetzen vor einem tödlichen Fall bringt ihn dazu, sich dem Abgrund weiter zu nähern. Poe beschreibt nicht das momentane Aussetzen von Reflexion, sondern einen allmählichen Prozess der Verstärkung des Drangs, gegen jede rationale Überlegung zu handeln: „The impulse increases to a wish, the wish to a desire, the desire to an uncontrollable longing, and the longing […] is indulged.“ (VI, 148) Das Wortfeld, mithilfe dessen Poe diesen Prozess beschreibt, ist das körperloser Monstrosität: „the ghost that has so long overawed us“, „a cloud of unnameable feeling“, „the genius in the Arabian nights“, „a shape, far more terrible than any genius, or any demon of a tale“, a „passion so demoniacally impatient“, „a direct instigation of the arch-fiend“ (VI,

31  Vgl. Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Göttingen 2005. S. 54–64.

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148–149). Erkennbar ist das durchaus mit dem phrenologischen Projekt kompatible Bemühen, Perversion zugleich über einen unsichtbaren Trieb zu begründen als auch, sie als Korrelat sichtbarer Deformation zu konzeptualisieren: Schon der Titel der Erzählung evoziert als „Wicht“ oder „Teufelchen“ eine solche Refiguration defigurierter Monstrosität, an die die Konzeptualisierungen als Dämon, Genius oder Geist nahtlos anschließen. Anders als Gall und seine Schüler, die als organisches Substrat psychischer Deformation Hirnregionen und Hirntätigkeiten bestimmen, ruft Poe das ganze Repertoire mythischer Monstrosität auf. Er begreift das perverse Bedürfnis, den eigenen Interessen zuwiderhandeln, als anthropologische Konstante32: „No one who trustingly consults and thoroughly questions his own soul, will be disposed to deny the entire radicalness of the propensity in question.“ (VI, 147) Es ist zugleich unhinterfragbar, „irreducible“, und vor allem nicht funktional zu bestimmen, eben weil es keine erkennbare Funktion aufweist, nicht motiviert ist. Zu einer natürlichen Konstante kann es nur werden, indem Natur nicht als einheitliche Schöpfung (oder als Zusammenspiel problemlösender Adaptionen) verstanden wird, sondern als Kampfplatz konkurrierender Triebe. Poe transformiert die Form radikaler Devianz, als die Perversion in The Black Cat erscheint, in eine Konstante menschlicher Existenz. ­Mutwillige Zerstörung oder Selbstzerstörung, Handeln wider besseres Wissen und Gewissen sind demnach nicht Anzeichen einer pathologischen Disposition, sondern Manifestationen prinzipiell nicht kontrollier- oder erklärbarer Triebe. Status dieser perversen Triebe ist der einer unhintergehbaren anthropologischen Konstante.

5.4 Der implizite Psychiater Eine dialektische Volte vollzieht die Erzählung, die an diese theoretischen Vorüberlegungen anschließt. Derjenige perverse Trieb, dessen Illustration die theoretische Abhandlung dient, ist eben kein Drang zu Arbeitsaufschub oder Selbstmord, sondern der Drang, sich der Staatsgewalt auszuliefern und in allen Einzelheiten die eigene pathologische Disposition zu erläutern. Der Mord ist bereits begangen, als die Perversion auftritt. Sie stellt einen Trieb zur Triebversprachlichung dar:

32  Es scheint Poe tatsächlich um eine genuin menschliche Disposition zu gehen. Peter von Matt beschreibt „das große Grauen, die wüste Barbarei mitten in der Zivilisation“ bei Hoffmann und Poe als Resultat einer Persistenz des Tiers im Menschen – das Konzept der „Perverseness“ setzt allerdings eindeutig menschliche Reflexion voraus. Vgl. Peter von Matt: Das Tier Murr. In: Gerhard Neumann (Hg.): Hoffmanneske Geschichte. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005. S. 179–197. Seine kurze Studie beschreibt Triebhaftigkeit vor allem im Rekurs auf die „Dimension des Tiers“ (S. 189) und setzt Poes Orang Utan ins Verhältnis zur Tier-Werdung des Malers Ettinger bei Hoffmann und umgekehrt die detektivische Kunstfigur Dupin zu der des „Überbau-Theoretikers“ Murr. Vgl. auch Gerhard Neumann: Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 40 (1996). S. 87–122.



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They say that I spoke with a distinct enunciation, but with marked emphasis and passionate hurry, as if in dread of interruption before concluding the brief but pregnant sentences that consigned me to the hangman and to hell. (VI, 152–153)

Beschrieben sind hier nicht Triebe als Gegenstände psychiatrischer Arbeit wie homizidale Monomanie, Zerstörungstrieb oder gefährliche fixe Idee, sondern gerade derjenige Trieb,, auf dem psychiatrische Arbeit aufbaut und ohne den sie unmöglich wäre, der Drang, über die eigene Triebhaftigkeit zu reflektieren und sie nach den Regeln emphatisch-erratischen bzw. poetischen Sprechens einer externen Instanz anzuvertrauen. Poes Erzählung legt damit den Konstruktionsmodus des Triebnarrativs frei, das nur scheinbar im Monolog, tatsächlich aber aus einer Zwiesprache von delinquenter Instanz und authoritärer Beobachtung heraus verfasst ist. Diese Konzeptua­lisierung des Triebs geht insofern über die Entwürfe der Psychiatrie hinaus, als in deren Beobachtung stets ein blinder Fleck verbleibt: die Systemstelle des Gegenübers, der den Triebtäter erst zum Sprechen bringt. Perversion als heimliches zerstörerisches Prinzip ist in der menschlichen Triebstruktur verankert33, einer ihrer Bestandteile aber ist die Tendenz, sie offenzulegen und damit als Gefährdung strukturell aufzuheben. Klarer noch tritt die Dominanz eines verborgenen Ansprechpartners für Poes Konzeption des Triebs in der fast zeitgleich entstandenen Erzählung The Tell Tale Heart zutage. Deren wesentliche Asymmetrie ist gut darstellbar auf Basis von Jakobsons sechsgliedrigem Kommunikationsschema34: Vier Funktionen der Sprache sind in der Erzählung klar untergeordnet. Auf der referentiellen Ebene werden ein Mord und ein Geständnis verhandelt, auf der metalingualen Ebene die Darstellbarkeit dieses Ablaufs, auf der phatischen Ebene sich eher beiläufig des Kontakts versichert („hearken!“), auf der emotiven Ebene drückt sich ein getriebenes Subjekt aus. Dominiert wird das Narrativ offensichtlich von seiner poetischen Funktion: In diesem „­supreme artistic achievement“35 ruft Poe auf engstem Raum ein gewaltiges rhetorisches Repertoire auf: Geminatio („very, very dreadfully nervous“, „wide, wide open“, „stone, stone dead“), Anapher („I heard all thing in heaven and in the earth. I heard many things in hell“), Parenthese (and now – have I not told you … – now“), Klimax („I foamed – I raved – I swore“), Epipher („Object there was none. Passion there was none“), Lautmalerei („much such a sound as a watch makes“), Exclamatio („hearken!“, „Oh so gently!“), Hendiadioyn („so cleverly, so cunningly“), geradezu exzessive Wiederholung („yet the noise increased … but the noise steadily increased … but

33  Es lässt sich eine erstaunliche Parallele zum dualen Trieb-Konzept des späten Freud konstatieren (vgl. Kapitel 4.2.): „Perverseness“ ähnelt stark Freuds Konzept von „Thanatos“ als zerstörerischem und selbstzerstörerischem Trieb, der gleichfalls einer Art „amativeness“ (Eros) entgegengesetzt ist. 34  Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. S. 83– 121. Hier: S. 88–94. 35  So Mabbott, Poe II, S. 789.

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the noise steadily increased  … but the noise arose over all and continually increased“), rhetorische Fragen („How then am I mad?“, „Was it possible they heard not?“). Vor allem aber strukturiert die Erzählung ein endloser Parallelismus, der die Gefahr der Monotonie autodiegetischen Erzählens in der ersten Person nicht vermeidet, sondern ins Unerträgliche übersteigert: „I had … I kept … I say … I knew … I resolved … I grew furious … I gazed … I scarcely breathed … I held … I tried.“ Die Aufzählung rhetorischer Mittel lässt sich um die zentrale Synekdoche des „Evil Eye“ und die Metapher des „hellish tattoo of the heart“ erweitern – es gibt kaum einen Satz der Erzählung, der nicht markante Poetizitätseffekte enthält.36 Die selbst in der Prosa Poes höchst ungewöhnliche Dichte rhetorischer Figuren scheint zunächst der nervösen Disposition des Erzählers oder der Erzählerin37 geschuldet. Der zeitliche Abstand des Erzählvorgangs zur Tat und das Beharren des Erzählers auf der eigenen Rationalität suggeriert aber eine andere Erklärung für den skizzierten poetischen Exzess: Die emotionale Intensität des Tatzeitpunkts wird durch eine Sprache reproduziert, die gerade in Abwesenheit der temporären Umnachtung, aus einer nachträglichen Klarheit heraus, die Intensität der Erfahrung reproduzieren soll. Poetischer Exzess als Kennzeichen des monströsen Erzählers bei Poe stellt mithin eine Strategie zur Wiedergabe von Triebüberschuss dar, nicht dessen Effekt. Der wichtigere Bezugspunkt als die Erinnerung an die Tat scheint aber tatsächlich die Erwartungshaltung des Zuhörers. Als konative Funktion der Sprache bezeichnet Jakobson die Möglichkeit einer direkten Adressierung38. Zahlreicher noch als The Black Cat enthält die Erzählung Aufforderungen, zuzuhören, zuzustimmen, zu lachen, ein Urteil zu revidieren. Auch hier scheint ein offensichtlich unzuverlässiger Erzähler in den ersten Sätzen seiner Erzählung auf jemanden zu antworten: True! – nervous – very, very, dreadfully nervous I had been and am; but why will you say that I am mad? The disease had sharpened my senses – not destroyed – not dulled them. Above all was the sense of hearing acute. I heard all things in the heaven and in the earth. I heard many things in hell. How then, am I mad? Hearken! And observe how healthily, how calmly I can tell you the whole story. […] Now this is the point. You fancy me mad. Madmen know nothing. But you should

36  Alle Zitate stammen aus der kurzen narrativen Passage, Bd. 5, S. 88–95. Poetizität ist hier weiterhin nach Jakobson gedacht als Fokussierung der sprachlichen Mitteilung auf die Form der Mitteilung. In diesem Sinne sind hier Rhetorik und Poetik ausnahmsweise einmal Synonyme. 37  Das Geschlecht des Erzählers ist nicht ganz eindeutig männlich, wie Gita Rajan festhält. Sie stellt überzeugend dar, dass die selbstverständliche Annahme eines männlichen Mörders aufschlussreiche Rückschlüsse auf die Poe-Forschung zulässt. Zu deren Verteidigung lässt sich höchstens sagen, dass eine pathologische Verbrecherin als Erzählerin in Poes restlichem Werk nicht vorkommt und damit nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich ist. Bei der maskulinen Form „der Erzähler“ bleibe ich hier der Einfachheit halber, und weil sein/ihr Geschlecht für meine Untersuchung keine entscheidende Rolle spielt. Vgl. Gita Rajan: A Feminist Rereading of Poe’s The Tell-Tale Heart. In: Papers on Language and Literature 24.3 (1988), S. 283–300. 38  Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 92.



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have seen me. You should have seen how wisely I proceeded – with what caution – with what foresight – with what dissimulation I went to work. (V, 88)

Wenig später heißt es: „Oh, you would have laughed at how cunningly I thrust it in!“ Der Adressat ist klar extradiegetisch: „you should have seen me“ (V, 89) suggeriert seine Abwesenheit zum Zeitpunkt der Tat wie ihrer Entdeckung. Die plaudernden Polizeibeamten scheiden mithin als mögliche Adressaten aus. Der Erzähler erwartet von seinem Gegenüber nachträgliche Komplizenschaft, Bewunderung, Belustigung, zugleich Sympathie, die zur Vorsicht rät: „Now you may think that I drew back – but no.“ (V, 90) Aber das zentrale, noch dreimal wiederkehrende Motiv des gespenstischen Dialogs stellt die Zurückweisung des Wahnsinns dar: „Have I not told you that what you mistake for madness is but over acuteness of the senses?“ (V, 91); „do you mark me well? I have told you that I am nervous: so I am“ (V, 92); „If you still think me mad, you will think so no longer when I describe the wise precautions I took for the concealment of the body.“ (V, 92) Der Adressat der Erzählung vereint also, in der Vorstellung des Mörders, folgende Charakteristika: Er nimmt Anteil am Ablauf der Tat und an der pathologischen Disposition des Täters, unterstellt ihm Wahnsinn und steht ihm zugleich in einem Verhältnis der Einfühlung gegenüber. Zur Rekonstruktion der möglichen Identität des Angesprochenen gibt die Erzählung mehrere Anhaltspunkte: Im Wohnzimmer schlägt unter den Brettern das Herz des Ermordeten, hörbar nur für den Mörder. Polizeibeamte stehen plaudernd über eben diesen Brettern: And still the men chatted pleasantly, and smiled. Was it possible they heard not? Almighty God! – no, no! They heard! – they suspected! They knew! – they were making a mockery of my horror! – this I thought, and this I still think. But anything was better than this agony! Any thing was more tolerable than this derision! (V, 94)

Die Polizei also fragt gerade nicht nach seiner Tat, dem Mord an einem alten Mann, dessen Verhältnis zum Erzähler unklar bleibt, und verstärkt durch ihre Präsenz nur einen inneren Drang zum Geständnis. Auf die isolierte, motivlose Tat, die das intellektuelle und physische Funktionieren des Täters intakt und unberührt lässt (wie in The Black Cat werden die Spuren der Tat in kühler Planung und präziser Durchführung beseitigt), folgt nun ein „perverser“ Impuls, über diese Tat zu sprechen. Erzählender Mörder, Opfer und angesprochene Instanz stehen zueinander in einem Verhältnis wechselseitiger Beobachtung. Eines der Augen des Opfers erinnert an das eines Raubvogels, und sein Blick ist, für den Mörder, traumatisierend: „Whenever it fell upon me, my blood ran cold“. (V, 88) Aufgerufen wird auch hier eine abergläubische Vorstellung, die des „Evil Eye“ (V, 89), der Blick also aufgeladen zu einem Instrument der Unterdrückung. Umgekehrt wird dieses Verhältnis der Unterwerfung durch den Blick, indem der Täter sein Opfer wiederholt nachts beobachtet. Statt dass das furchterregende Auge des alten Mannes auf den Erzähler fällt, fällt aus

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einer Laterne ein einzelner Lichtstrahl Nacht für Nacht auf das geschlossene Auge des Opfers. Die Umkehrung von Sehen und Gesehenwerden39 verleiht dem Erzähler eine neue Macht über den alten Mann, die allerdings davon abhängt, dass der Blick nicht erwidert werden kann. Der Mord folgt konsequent darauf, dass das Auge eines Nachts geöffnet, nicht geschlossen ist. Die Änderung der Blickrichtung und der nächtliche Wechsel der Verfügungsgewalt über den Blick ermöglicht aber eine sehr weitgehende Einfühlung des Mörders in sein Opfer: It was not a groan of pain or grief – oh, no! – it was the low stifled sound that arises from the bottom of the soul when overcharged with awe. I knew the sound well. Many a night, just at midnight, when all the world slept, it has welled up from my bosom, deepening, with its dreadful echo, the terrors that distracted me. I say I knew it well. I knew what the old man felt, and pitied him, although I chuckled at heart. (V, 90)

Ausgetauscht werden zwischen Täter und Opfer die Position des aktiven Blicks, die schlaflose Angst und die Macht, diese Angst hervorzurufen. Erneut spiegelt bzw. bricht sich dieses Spiegelverhältnis in den Leseranreden: Das rhetorische Arsenal dient der Veranschaulichung einer Tat, die gesehen und verstanden werden soll („do you mark me well?“), gerade Einfühlung und sogar Sympathie wird vom Betrachter verlangt („you would have laughed!“). Auf die Erlösung des Täters vom Beobachtetwerden durch die aggressive Übernahme der Beobachterrolle folgt in Poes Ökonomie des Blicks der Wunsch, wiederum beobachtet zu werden und die konsequente Selbstanzeige des Täters. Der Ausruf „dissemble no more“ (V, 94) am Ende der Erzählung drückt in einer weiteren Variation der Metapher von Blick, Licht und Aufklärung den Wunsch aus, alles sichtbar zu machen. In den gleichen Beschreibungen, in denen zuvor die Mordlust thematisiert wurde, wird jetzt das Bedürfnis beschrieben, den Mord zu versprachlichen. Resultat dieses Bedürfnisses, suggeriert die Erzählung, ist die Erzählung. Die Sichtbarkeit der Leiche und des Täters ist ein Anliegen der Polizei. Die Sichtbarkeit der zugrundeliegenden psychischen Mechanismen und die minutiöse Dokumentation ihrer sprachlichen Entsprechungen, die Entscheidung über Nervosität über Wahnsinn sind dagegen Anliegen eines Psychiaters. Psychiater des neunzehnten Jahrhunderts erwarten, wenn sie den Dialog mit Patienten aufnehmen, nicht nur emphatisches Sprechen, die Persistenz abergläubischer, mythischer oder naturreligiöser Vorstellungen, spontane Emotionalitätsschwankungen und ein Denken in vagen Assoziationen und vereinfachenden Metaphern – all dies sind bereits Kennzeichen

39  Nach Lacan ist dies die Unterscheidung von Subjekt und Objekt; Paranoia, und um solche handelt es sich in der Erzählung augenscheinlich, entsteht dann, wenn sich der Blick selbst als Objekt klein a im Feld des Sehens materialisiert. Vgl. Claudia Blümle und Anne von der Heiden: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Lacans Bildtheorie. Zürich u. a. 2009. S. 7–42. Hier: S. 21–23.



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moderner Literatur. Sie erwarten zugleich, sofern eine partielle Manie und prinzipielle Ansprechbarkeit des Gegenübers gegeben ist, eine Spaltung von pathologisch handelndem und klar beschreibendem Persönlichkeitsteil, also einen Fiktionsüberschuss in der Wiedergabe der Wirklichkeit, der durch beider Nicht-Identität notwendig wird. Die Dichte rhetorischer Figuren, anders gesagt: die massive Poetizität des Mördernarrativs ist also bedingt durch die Erwartungshaltung eines Psychiaters, der in den Erzählungen Poes niemals innerhalb der Erzählung auftaucht, ihre Form aber entscheidend prägt. Damit ist die Frage nach der angesprochenen Instanz auch in The Black Cat beantwortet: Der Monolog des Triebtäters wird offenbar von einer externen Instanz erwartet und geradezu abgefragt, die nur ein impliziter Psychiater sein kann. Die Form der Diskursivierung des Monströsen ist die einer nur scheinbar monologischen Trieberzählung, der sich schon eingangs als Dialog zu erkennen gibt. Der Erzähler aus The Black Cat befindet sich kurz vor seiner Hinrichtung in der Situation „to unburden my soul“, also in der Situation einer Lebensbeichte, und in der Position eines geständigen Verbrechers. Das Reizwort „mad“ zu Anfang der Erzählung ist dabei als narrativer Strukturierungsvorschlag der unsichtbaren psychiatrischen Authorität zu lesen, der in der Erzählung durchgängig befolgt wird: Berichtet wird nicht von Handlungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Strafbarkeit oder von Sünden unter dem Gesichtspunkt ihrer Verggebbarkeit, sondern von Trieben, Impulsen und Wahnvorstellungen. Der Monolog des Triebs nach Poe ist also tatsächlich ein Dialog zwischen zwei Instanzen, deren eine (die Psychiatrie) notwendig verborgen sein muss, damit sich unter ihrem nicht erwiderbaren Blick die andere (die Delinquenz) vollständig offenbaren kann. Dem psychiatrischen Interesse an pathologischer Devianz kommt, innerhalb von Poes Konzeption, eine Tendenz des monströsen Subjekts entgegen, gerade diese Devianz zu verbalisieren und an einen unsichtbaren Zuhörer zu adressieren. Dessen implizite Stellung produziert in The Tale Tell Heart, gemeinsam mit der unmerklichen Überblendung von Leseranrede und einer der Erzählung offenbar vorausgehender, dem Leser jedenfalls unbekannten Dialogsituation, eine neue Substitution: Anstelle des impliziten Psychiaters, der das Narrativ des Mörders kanalisiert und bestimmt, muss sich der Leser direkt angesprochen fühlen. Auch der Dialog zwischen pathologischem Subjekt und Psychiater ist also als poetische Strategie40 erkennbar: Die Dominanz der konativen Funktion deutet auf den Versuch der Anbahnung eines Dialogs. Gegenstand dieses Dialogs sind der monströse Trieb und die Unmöglichkeit seiner Beschreibung – mittelbar also die Begrenztheit der Sprache und damit, nach Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion, die sprachliche Struktur der Botschaft selbst.

40  Dazu passt auch, dass Poe zentral auf einen literarischen Prätext rekurriert. Phrenologie und Physiognomie bilden negative Prätexte, vor deren Hintergrund sich Poes eigene Modellierung des Triebs entwickelt. Handlung und Spannungsbogen sind an einen literarischen Prätext angelehnt, nämlich an Dickens’ Erzählung The Clock-Case.

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5.5 Mimesis an das Monströse In The Black Cat und The Tale Tell Heart sind zwei Personen, monströser Erzähler und unsichtbarer Gesprächspartner, an der Produktion des Triebnarrativs beteiligt; bereits angedeutet wurde, dass sie zueinander in einem Verhältnis der Spiegelung stehen. Sogar in ein Doppelgänger- und Substitutionsverhältnis setzt Poes Erzählung William Wilson (IV, 299–325) den Triebtäter und die beobachtende Instanz: Den Erzähler verfolgt während seines ganzen Lebens eine verbrecherische Doppelgänger-Figur mit Merkmalen eines diabolischen Sadismus, die ihm allerdings physisch so ähnlich ist und so insistierend seine soziale Stellung usurpiert, dass alle Außenstehenden und zum Schluss selbst der Erzähler eine personale Trennung anzweifeln. Eine Theorie des Monsters als Doppelgängers hat René Girard entwickelt, ohne dabei allerdings den Besonderheiten des Sittenmonsters im neunzehnten Jahrhundert Rechnung zu tragen41; die vorliegende Arbeit interessiert sich für den Doppelgänger nur im Sinne einer besonderen Refiguration monströser Merkmale. Die gängige Unterteilung von Poes Erzählungen in tales of ratiocination und tales of terror, die auf einen Vorschlag des Autors selbst zurückgeht, legt nahe, Figuren und Defigurationen des Menschenmonsters und seines Gegenübers, des impliziten Psychiaters, primär in seinen Schauergeschichten zu suchen. Überraschenderweise charakterisiert aber die Ausrichtung auf einen monströsen Kern hin ebenso sehr die Detektivgeschichten. Zur Analyse dieses monströsen Kerns eignet sich die abstrakteste dieser Erzählungen, die Walter Benjamin als „Röntgenbild der Detektivgeschichte“42 bezeichnet. Gegenstand von The Man of the Crowd sind, in Übereinstimmung mit Poes dialektischer Anordnung von Versprachlichungsverbot und Versprachlichungsexzess, „mysteries which will not suffer themselves to be revealed“. (IV, 134) Im Unterschied zur Dupin-Trilogie fehlen fast alle konstitutiven äußeren Merkmale der Kriminalerzählung, also Verbre-

41  Girards Theorie des monströsen Doppelgängers enthält eine radikale Fassung der wechselseitigen Bedingtheit von Monstrum und Beobachter. Mit Girard ließe sich das Verhältnis von Mann der Menge und Erzähler bestimmen über eine Gleichzeitigkeit von Schrecken und Lust beim Wiederkennen des Eigenen im Fremden: „Das immerzu verkannte Grundprinzip ist die Einheit von Doppelgänger und Ungeheuer. Selbstverständlich überhöht der Mythos einen der beiden Pole, meist den monströsen, um den anderen zu verbergen. Es gibt kein Ungeheuer, das nicht zur Verdopplung tendiert, es gibt keinen Doppelgänger, der nicht heimliche Monstrosität in sich birgt. Dem Doppelgänger muß der Vorrang gegeben werden, ohne aber das Ungeheuer zu eliminieren; in der Verdopplung des Ungeheuers erscheint die wahre Struktur der Erfahrung an der Oberfläche.“ René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987. S. 211–247. Hier: S. 235. 42  „Poes berühmte Novelle ‚Der Mann der Menge‘ ist etwas wie das Röntgenbild einer Detektiv­ geschichte. Der umkleidende Stoff, den das Verbrechen darstellt, ist in ihr weggefallen. Die bloße Armatur ist geblieben: der Verfolger, die Menge, ein Unbekannter, der seinen Weg durch London so einrichtet, daß er immer in ihrer Mitte bleibt. Dieser Unbekannte ist der Flaneur. […] Den Unterschied zwischen dem Asozialen und dem Flaneur verwischt Poe vorsätzlich. Ein Mann wird in dem Maße verdächtiger als er schwerer aufzutreiben ist.“ Benjamin, Das Passagen-Werk, V.1., S. 550.



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chen, Täter, Opfer, Motiv, Ermittlung und Auflösung. Stattdessen zeigt Poe das nackte Gerüst des Genres, das aus zwei komplementären mimetischen Prozessen besteht, nämlich aus einer triebhaften Angleichung des Delinquenten an das Normale und der Mimesis einer selbstreferentiellen Normalisierungsinstanz an die Delinquenz im schnellen Wechsel. Poes Man of the Crowd veranschaulicht die Autonomisierung eines monströsen Prinzips, das sich mühelos vom fiend auf den Beobachter desselben überträgt und von seinem Träger entkoppelt wird. Übertragung ist dabei nicht im Sinne einer Übertragungskrankheit gedacht, sondern als Folge einer Angleichung an das Monster, zu der seine Verfolgung unweigerlich wird. Der Erzähler des Man of the Crowd ist kein Triebtäter, sondern ein Intellektueller und klar der analytischen bzw. psychiatrischen Seite des Trieb-Dialogs zuzuordnen. Auf dieser Zuschreibung scheint sogar besonderes Gewicht zu liegen, denn weder Dupin noch Arthur Gordon Pym, noch eine andere Figur in Poes Erzählungen wird jemals so aggressiv als gebildeter Leser eingeführt. Seinen (rekonvaleszenten) Gesundheitszustand erklärt er über eine Analogie zu „the vivid yet candid reason of Leibniz, the mad and flimsy rhetoric of Gorgias“ (IV, 134), das Gaslicht des frühen Abends vergleicht er mit der Klarheit von Tertullians Schriften, die „Unlesbarkeit“ seines Gegenübers, des Mannes der Menge, zu Anfang und Ende der Geschichte mit Grüningers Hortulus Animae.43 Mit seiner detektivischen Erzählhaltung korrespondiert eine Metapher der korrekten Lektüre: Der Erzähler liest „a wild history“ aus einem Gesicht ab, beschreibt eine gesellschaftliche Schicht als „an obvious one“, eine andere ist „not possible to mistake“, und er bezeichnet Passanten als „themes for speculation“. (IV, 134–135) Bei Poe erscheint der Mann der Menge als prototypischer Flaneur: Er beobachtet seine Umgebung „with a calm and inquisitive interest“. Zigarre, Zeitung und ein gelegentliches griechisches oder deutsches Zitat weisen ihn derjenigen sozialen Klasse des neunzehnten Jahrhunderts zu, die nach Benjamin zu gesellschaftlichen Produktionsprozessen keine andere Haltung als die des unbeteiligten Beobachters einnehmen kann.44 Der Erzähler liest Physiognomien wie Zeitungsanzeigen, aus Interesse, aber auch, weil er nichts anderes zu tun hat:

43  Poes Wahl zur Exemplifizierung von Unlesbarkeit ist überraschend. Grüningers erbauungsliterarischer Seelengarten enthält zwar unüblich anzügliche Illustrationen, nicht aber besondere Rätselhaftigkeiten. 44  Es ist gerade die Langeweile und intellektuelle Unterforderung, die nach Walter Benjamin den Flaneur in die Nähe des Journalisten und des Detektivs rückt; er beginnt unweigerlich, Informationen zu sammeln. Mit Blick auf den Mann der Menge aber sieht Benjamin einen entscheidenden Unterschied: „Baudelaire hat es gefallen, den Mann der Menge, auf dessen Spur der Poesche Berichterstatter das nächtliche London die Kreuz und die Quer durchstreift, mit dem Typus des Flaneurs gleichzusetzen. Man wird ihm darin nicht folgen können. Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht.“ (Benjamin I.2., S. 627.)

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I had been amusing myself for the greater part of the afternoon, now in pouring over advertisements, now in observing the promiscuous company in the room, and now in peering through the smoky panes into the street. (IV, 135)

Seine Tätigkeit ist allerdings zielgerichteter, als diese Selbstbeschreibung suggeriert. Leitinteresse seiner Beobachtungen ist die kriminalistische Frage, inwieweit Individuen „liable to suspicion“ sind. (IV, 134–135) Noch bevor er dem delinquenten Subjekt der Geschichte begegnet, unterwirft der Erzähler die gesamte Stadtbevölkerung einem Generalverdacht: Gegenstand seiner Lektüre ist die Großstadtmenge, der verborgene Text, auf dessen Entzifferung sich sein Ehrgeiz richtet, sind ihre kriminellen Aktivitäten. Derjenigen Gruppe von Passanten, „which is pointedly termed as the decent“, gut gekleideten Männern, die als Buchhalter oder Geschäftsleute identifizierbar sind, widmet er entsprechend kaum Aufmerksamkeit. „With much inquisitiveness“ beobachtet er dagegen all jene Bevölkerungsgruppen, die ihm nicht unmittelbar anständig scheinen: Taschendiebe, Spieler, Betrüger, Juden, Bettler, ledige Frauen, Prostituierte, Alkoholiker, Drehorgelspieler, Schausteller, Straßenmusikanten (IV, 135–137), die, je später es wird, einen immer größeren Teil der Menge ausmachen. Eine dominante Aufklärungs- und Licht-Metaphorik begleitet diese Veränderung: As the night deepened, so deepened to me the interest of the scene; for not only did the general character of the crowd materially alter (its gentler features retiring in the gradual withdrawal of the more orderly portion of people, and its harsher ones coming out into bolder relief, as the late hour brought forth every species of infamy from its den), but the rays of the gas-lamps, feeble at first in their struggle with the dying day, had now at length gained ascendancy, and threw over every thing a fitful and garish luster. All was dark yet splendid. (IV, 139)

Das Zwielicht, beschrieben als Kampf zwischen natürlichem Licht und Gasbeleuchtung, wird abgelöst durch hereinbrechende Dunkelheit, die Sicht zusätzlich erschwert durch einen undurchdringlichen Nebel und gleichmäßigen schweren Regen. Die „wild effects“ der Gasbeleuchtung im Regen stellen die Bedingungen einer merkwürdigen Verfolgung, die in Dämmerung, Nebel, Nacht und starkem Regenfall stattfindet. Den folgenden Tag dagegen beschreibt ein einziger Satz. Es scheint, dass mit dem Zwielicht als Grundlage der detektivischen Arbeit auch das Agens der Erzählung entfällt.45 Die potentielle Gefährlichkeit der späten Passanten leitet der Erzähler aus un­ regelmäßiger Berufstätigkeit, ethnischer Abstammung, vermutbarer Promiskuität oder unterstellten Verbrechen ab. Der Erzählerblick ist analytisch-kühl und zeigt keine An-

45  Analog operiert auch Poes Detektiv Dupin stets im Zwielicht: „,If it is any point requiring reflection,‘ observed Dupin, as he forbode to enkindle the wick, ,we shall examine it to better purpose in the dark.‘“ (Poe VI, S. 29)



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zeichen viktorianischer Verklärung des Stadtprekariats46; zugleich fehlt ihr aber auch jene Tendenz zur Dämonisierung der Menge, die im Anschluss an und unter Berufung auf Poes Erzählungen bei Baudelaire entsteht. Die Menge erscheint mit zunehmendem Zwielicht zwar gefährlicher, monströs aber ist sie nicht. Die Steigerungsformen sozialer Devianz bereiten den Auftritt des Monsters nur vor: Suddenly there came into view a countenance (that of a decrepid old man, some sixty-five or seventy years of age), a countenance which at once arrested and absorbed my whole attention, on account of the absolute idiosyncrasy of its expression. Anything even remotely resembling that expression I had never seen before. (IV, 139–140)

Auffällig ist die Dichte von Zuschreibungen von origineller Individualität. Die gesamte Aufmerksamkeit des Erzählers wird sofort nicht nur erregt, sondern aufgesaugt – eine Metapher die noch mehrmals wiederkehrt. Der Gesichtsausdruck des alten Mannes ist absolut idiosynkratisch, nichts entfernt Vergleichbares ist denkbar. Der Erzähler glaubt, einen Diamanten und einen Dolch an der abgemagerten, schmutzigen Gestalt zu erkennen, Anzeichen für eine ehemalige Zugehörigkeit zu einer privilegierten Klasse. Die erste vergleichende Assoziation sind ikonische Teufelsdarstellungen. Den Zuschreibungen „devil“ und „fiend“ korrespondieren in Poes Erzählungen fast ausnahmslos monströse Handlungsschemata, etwa, dass Menschen lebendig begraben oder eingemauert, Vaterfiguren, Haustiere oder Ehefrauen erschlagen oder Unschuldige grausam gefoltert werden. Eine entsprechende Erwartungshaltung wird formuliert, um im Verlauf der Erzählung auf spektakuläre Weise nicht eingelöst zu werden: There arose confusedly and paradoxically within my mind, the ideas of vast mental power, of caution, of penuriousness, of avarice, of coolness, of malice, of blood-thirstiness, of triumph, of merriment, of excessive terror, of intense – of supreme despair. (IV, 140)

Die Erzählung von zwei Männern, deren einer des anderen ziellose Wanderungen durch die Großstadt eine ganze Nacht lang und einen folgenden Tag verfolgt, enthält keine weiteren relevanten Handlungsabläufe, sondern nur die wiederholte Darstellung zweier unveränderlicher affektiver Dispositionen: Ungeduld, Eile, Unruhe auf Seiten des Verfolgten, Neugier, Erstaunen, Konzentration (absorption) auf Seiten des Verfolgers. Der Mann der Menge sucht die belebtesten Straßen, gerät in Unruhe, sobald er sich auf einer leeren oder halbleeren Straße sieht, und zeigt sich beruhigt, sobald er in einer dichteren Menschenmenge eintaucht. Sein Verfolger gleicht sich

46  Vgl. Eugène Sue: Mystère des Paris. Paris 1828; Anonymus: Die Geheimnisse von Berlin. Aus den Papieren eines Berliner Kriminalbeamten. Berlin 1844. Zum populären zeitgenössischen Genre der „authentischen“ Fiktion von Großstadtkriminalität vgl. Veronica Thanner: Gefährliche Gestalten im Innersten. Literatur und Kriminologie um 1850. In: Jan Niklas Howe und Kai Martin Wiegandt, Poetiken und Politiken des Triebs. Berlin 2014. S. 107–128.

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jeder seiner Bewegungen an und beschließt dreimal in fast gleichlautenden Wendungen, dem „craving desire“ seiner Neugierde bis zur Lösung des Rätsels nachzugehen; sein Interesse am Verfolgten ist mittlerweile „all-absorbing“ (IV, 145) geworden. Nachdem er ihm eine ganze Nacht lang und den folgenden Tag über gefolgt ist, versucht er ihn zu konfrontieren, stellt sich ihm in den Weg – und muss enttäuscht feststellen, dass ihn der Verfolgte keines Blickes würdigt, sondern sofort wieder in die Menge eintaucht. Der betroffene Erzähler erklärt ihn zur Allegorie der Menge: „The old man“ I said at length, „is the type and the genius of deep crime. He refuses to be alone. He is the man of the crowd. It will be in vain to follow, for I shall learn no more of him, nor of his deeds. The worst heart of the world is a grosser book than the Hortulus Animae, and perhaps it is but one of the great mercies of God that ,er lässt sich nicht lesen‘.“

Die Menge ist damit keine Zusammenstellung verschiedener Klassen und Charaktere, von Buchhaltern, Spielern, Dieben, Prosituierten und Offizieren, aber auch kein lesbarer Text. Sie wird allegorisch repräsentiert durch ein einzelnes Individuum, ziellos, unverständlich und versehen mit diabolischen Attributen. Die Einsamkeit beider Figuren, ihre Unruhe und die Sinnlosigkeit ihres Handelns haben eine Reihe von Lesern, von Baudelaire über Ernst Bloch bis zu Michel Butor, dazu inspiriert, die ziellose Flucht und Verfolgung als allegorische Repräsentation moderner Existenz zu interpretieren. Durch die Verfolgung nähert sich die Erzählung einer Entzifferung jener authentischen Realität nicht an, die das vermutete Verbrechen bedeutet47; Unlesbarkeit bleibt das Charakteristikum des Mannes der Menge. Jenseits dieser Beschreibung der Menge, modern oder nicht, interessiert hier vor allem das Verhältnis von triebhafter Beobachtung und triebhafter Flucht, also der Mann der Menge als „the type and genius of deep crime“ und der Beobachter als Absorbierter. Die psychiatrischen Fallstudien produzieren Aussageformen des ­ Ununterdrück­baren – wie „eine innere Stimme zwang mich“, „ein unwiderstehliches Begehren zog mich“, oder, in Henriette Corniers lapidarer Formulierung: „Das war so eine Idee“.48 Gerade solche Formulierungen finden sich bei Poe, wie gezeigt, in der Beschreibung des ­Bedürfnisses, nicht etwa zu morden, zu vergewaltigen oder lebendig zu begraben  – sondern in der Beschreibung des Bedürfnisses, nachdem diese Handlungen vorgenommen worden sind, darüber zu reden. In The Man of the Crowd sind es zwei komplementäre Bedürfnisse der beiden Beteiligten, die sich als unkontrollierbare Triebe auffassen lassen: Das Verschwinden in der Menge durch den

47  So jedenfalls Joseph Vogls Bestimmung der Detektivgeschichte: „Diese Wirklichkeit ist ein Verweisungszusammenhang, ein semiotischer Effekt und wirklich nur, insofern sie sich selbst konsequent verschweigt. Unter ihrer Oberfläche wartet stets eine authentische Realität, deren Äußerungen eine mühsame und unnachgiebige Entzifferung verlangen.“ Vgl. Joseph Vogl: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München 1992. S. 56. 48  Foucault, Die Anormalen, S. 179. Vgl. das vorangegangene Kapitel.



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„fiend“, das Verhindern dieses Verschwindens durch den Erzähler. Beide bedingen sich wechselseitig: Die Angst vor der Einsamkeit und vor der Sichtbarkeit, die ein Verlassen der Großstadtmenge bedeutet, scheint den Verfolgten dazu zu bringen, die Menge zu suchen. Ohne dieses Fluchtverhalten wäre das Interesse des Erzählers nicht denkbar, der wiederum trotz aller Hindernisse des Wetters und der Großstadt versucht, gerade diese Sichtbarkeit immer wieder herzustellen. Beider Impulse sind mimetisch: Der Verfolgte gleicht sich dem Fluss der Menge an und versucht, über eine Mimesis an das Normalverhalten der Passanten, in ihr zu verschwinden. Seine Bewegungsabläufe imitiert wiederum der Verfolger, der über Nachahmung und Einfühlung eine Mimesis an seine „geniale“ Devianz betreibt und, letztlich von ihr ausgeschlossen, zurückbleibt. Diese Sehnsucht nach „Absorption“ verbindet beide so eng, dass sie in der Rezeptionsgeschichte der Erzählung mehrfach in den Verdacht einer Personalunion geraten sind. Walter Benjamin nimmt eine Quasi-Personalunion von Erzähler und Verfolgtem an, als zweier Pole einer „Dialektik der Flânerie“.49 Der Gedanke ist in der Detektivtheorie der 20er Jahre nicht unüblich – so behauptet auch Ernst Blochs überraschende Interpretation des Ödipus-Stoffes als des „Urstoffes des Detektorischen schlechthin“ explizit eine personale Identität von Jäger und Gejagtem in der Detektivgeschichte.50 Im Rekurs auf Baudelaires Poe-Lektüre bezogen spitzt Michel Butor diese Konstellation zu: Diese beiden Figuren, die sich in den Straßen von London folgen, sind im Grunde ein und dieselbe. Die zweite folgt den Spuren der ersten, die von ihr nichts weiß, und diese ist, ohne zu wissen, der Initiator, der Führer der zweiten, so wie Poe, ohne es zu wissen, der Führer Baudelaires wird.“51

Die Behauptung einer Personalunion kann von einer ersten Verwechslung Baudelaires zur selbstverständlich zitierten Identität beider Personen in der neueren PoeForschung52 eine erstaunliche Karriere vorweisen. Dass der Detektiv tendenziell hinter seinem Gegenstand verschwindet, ist unmittelbares Resultat der analytischen

49  Benjamin I.2., S. 529. 50  „So lange treibt der Jäger, der die Beute ist und vor sich selber versagt, dies ungeheuerliche Gewerbe, bis der Spätdurchschauende für den Täter von Freveln büßt, an denen er weder mit seinem Charakter noch mit seinem Bewußtsein, doch mit höchst antiker, höchst moderner Personalunion beteiligt ist.“ Ernst Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In Gesamtausgabe Bd. 9: Literarische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1965. S. 242–263. Hier: S. 255. 51  Michel Butor: Ungewöhnliche Geschichte. Versuch über einen Traum von Baudelaire. Frankfurt a. M.: Fischer 1992. S.21. Baudelaires Hauptinteresse gilt 1852, kurz nach der Übersetzung von Poes erstem Erzählungsband ins Französische, dem Verfolgten; in „Der Maler des modernen Lebens“ aus dem Jahre 1863 dagegen dem Erzähler, Beide begreift er jeweils als Paradigma urbaner Modernität. 52  Carlo Salzani: The City as Crime Scene. Walter Benjamin and the Traces of the Detective. In: New German Critique 34.1 (2007). S. 165–187. Hier: S. 168.

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Methode und damit Charakteristikum der Detektivgeschichte.53 Deren epistemologische Grundlage ist ein indifferenter Generalverdacht, der der Ortlosigkeit des Monströsen und der Universalität des Triebs Rechnung trägt. Ihre Methode ist die einer mimetischen Angleichung an den unbekannten Täter, der bei Poe als Orang-Utan, Lustmörder oder „fiend“ deutlich monströse Züge trägt. In The Mystery of Marie Rôget besteht sie in der Nachahmung des Gesichtsausdrucks des Delinquenten, in The Purloined Letter in einer Substitution des Ministers durch den Detektiv, im Man of the Crowd in einem Modus identifikatorischer Lektüre, der jeweils das tendenzielle Verschwinden des Detektivs in der mimetischen Angleichung an den Täter zur Folge hat. Poes Kriminalgeschichten stellen eine Heuristik des Monströsen dar, deren Methode mimetisch ist. Dennoch kann von einer Verwechselbarkeit beider Protagonisten im engeren Sinne keine Rede sein: Der eine erzählt, der andere entzieht sich, der eine ist gebildet und ökonomisch privilegiert, der andere sozial ausgeschlossen, der eine ist mittleren Alters, der andere etwa sechzig Jahre alt. Gemeint ist in der missverständlichen Rede von der Identität der Protagonisten vielleicht eher – und hier wird beider Verwechselbarkeit für eine Historiographie des Triebs interessant – dass beide jeweils eine Instanz der Produktion des Triebmonologs verkörpern, die ohne einander nicht denkbar wären: Das Sprechen des Psychiaters braucht, ebenso wie das des Detektivs, einen Prätext, sei er noch so rudimentär und unartikuliert. Das Verbrechen ist schon begangen, die psychische Krankheit bereits ausgebrochen, das delinquente Subjekt liegt vor, sei es mit Diamant und Dolch im Gürtel oder mit dem abgeschlagenen Kopf des Nachbarkinds auf dem Schoß. Die Legitimation des Detektivs wie des Psychiaters liegt in der Vorgängigkeit der Triebe vor ihrer Untersuchung. Umgekehrt spricht der Trieb niemals zuerst, sondern wartet, dass die kriminalanthropologische, juristische oder medizinische Autorität das Wort an ihn richtet. Wenn die Ansprache entfällt, nimmt er sie in Form des impliziten Psychiaters in seine Rede auf. Die Sprechakte lassen sich dann kaum mehr in Frage und Antwort, Geständnis und Protokollierung, authentische Selbstbeschreibung und wissenschaftliche Analyse aufteilen: Menschenmonster und Psychiater folgen einer Choreographie synchroner Bewegungen, immer nebeneinander oder kurz hintereinander. Poes Detektiv Dupin versucht, um sich einzufühlen, bis in den Gesichtsausdruck hinein den Täter nachzuahmen; im Man of the Crowd wird die Angleichung des Gesichtsausdrucks durch die Angleichung der Bewegungsabläufe ersetzt. Die Analogie von detektivischer und psychiatrischer Arbeit

53  Kracauer bescheinigt dem Detektiv eine Unauffälligkeit bis zur „Entpersonalisierung“: „Glattrasiertes Gesicht, dessen smarte Züge, abgesehen von ihrer Prägung durch den Intellekt, der Eigen­ bedeutung entbehren, „trainierter Sportsmannskörper, beherrschte Bewegungen“ […]; ferner un­ auf­dringliches Benehmen und Kleidung nach der Mode und den Umständen: dies die typische Erscheinung des Detektivs.“ Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt a. M. 1971. S. 52–53.



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lässt sich innerhalb seiner Erzählungen am besten festmachen anhand von Professor Tarr and Dr. Feather (VI, 53–77). In einer Umkehrung der Verhältnisse übernehmen die Insassen einer Irrenanstalt sowohl die Gestaltung des klinischen Alltags als auch dessen diskursive Theoretisierung. Delinquenz und Aufdeckung von Delinquenz, d. h. sittlich-psychische Monstrosität und ihre Versprachlichung, sind für Poe zwei jeweils für sich genommen attraktive Seiten eines Spiels, das ganz ernsthaft weiter­ gespielt werden kann, nachdem ein Spieler die Seiten gewechselt hat. Die Reaktionen Baudelaires, Valérys und Mallarmés auf Poe im Allgemeinen und den Man of the Crowd im Besonderen dokumentieren seine herausragende Stelllung für die Ästhetiken des Bösen, Hässlichen und Morbiden in der französischen Moderne.54 Vor allem in Baudelaires Konzeption des Bösen spielt Poes Modell eines monströsen Signifikanten, der beständig zwischen Beobachter und Gegenstand der Beobachtung wandert, eine zentrale Rolle.55 Sehr konkret greift Guy de Maupassant, in dessen Werk körperliche und körperlose Deformationen ohnehin einen hohen Stellenwert haben56, in seiner Erzählung Un fou Poes komplexe Abfolge mimetischer Akte auf, die menschliche Monstrosität zwischen beobachtender und delinquenter Instanz entstehen und wandern lässt. Ein hochrangiger Richter begeht in dieser Erzählung zwei Morde – aus der Annahme heraus, dass Mordlust eine anthropologische Konstante darstellt, aus einem beinahe wissenschaftlichen Interesse am Verbrechen und aus einem mimetischen Impuls zur Angleichung an diejenigen pathologischen Subjekte, deren Analyse seine berufliche Tätigkeit bestimmt. Der sukzessive Kontrollverlust, der diesen Prozess der Mimikry begleitet, ist in Metaphern des Triebs kodiert. Dabei tritt an die Stelle der perverseness das religiöse Motiv der tentation. In ihrer Funktion zur Erklärung kontraintuitiven Verhaltens aber unterscheiden sich beide Konzepte nicht: La tentation ! La tentation, elle est entrée en moi comme un ver qui rampe. Elle rampe, elle va, elle se promène dans mon corps entier, dans mon esprit, qui ne pense plus qu’à ceci : tuer ; dans mes yeux, qui ont besoin de regarder du sang, de voir mourir; dans mes oreilles, où passe sans cesse quelque chose d’inconnu, d’horrible, de déchirant et d’affolant, comme le dernier cri d’un être ; dans mes jambes, où frissonne le désir d’aller, d’aller à l’endroit où la chose aura lieu ; dans mes mains qui frémissent du besoin de tuer.57

54  Auf die merkwürdige Asymmetrie zwischen französischer Bewunderung und angelsächsischer Missachtung bzw. Verachtung gegenüber Poe hat u. a. Jonathan Culler hingewiesen. Vgl. Ders: Baudelaire und Poe. In: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 100 (1990). S. 61–73. Hier: S. 61. 55  Vgl. die kurzen Ausführungen zu deviantem Selbstentwurf bei Baudelaire zu Beginn des Kapitels 7 dieser Arbeit. 56  Maupassants obsessives Verhältnis zu Missbildungen auch körperlicher Art bezeugt vor allem die Erzählung La Mère aux Monstres, seine Faszination für körperlose, unsichtbare Monstrosität als Versatzstück moderner Selbstwahrnehmung die Erzählung L’Horla. 57  Guy de Maupassant: Un Fou [1887]. In: Ders.: Œuvres Complètes. Bd. 11. Paris 1975. S. 161–173. Hier: S. 167–168.

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Auch bei Maupassant tritt also die Instanz der Verbrechensbekämpfung zum pathologischen Verbrecher in ein Verhältnis mimetischer Angleichung. Die Metaphern einer inneren Stimme, eines sich einnistenden Parasiten, einer unbeherrschbaren Kreatur im Inneren der eigenen Psyche sind bereits bekannt, ebenso die Kopplung der Beschreibung des perversen Triebs an hochgradig poetische Sprache. Maupassant beschreibt die Versuchung mithilfe einer viralen Metapher, als einen Fremdkörper, der sich zunächst „anschleicht“ und dann im gesamten Körper parasitär ausbreitet. Das in der vorliegenden Studie entwickelte Modell von Defiguration und Refiguration ist auch auf Maupassants Erzählung anwendbar: Aus seinen Erfahrungen im Umgang mit Verbrechern destilliert der Polizeipräsident ein ortloses, monströses Prinzip und setzt es als anthropologische Konstante. Zur Refiguration dieses Prinzips und mithin zum personalen Monster wird er selbst: „Les médecins aliénistes, à qui on l’a confié, affirment qu’il existe dans le monde beaucoup de fous ignorés, aussi adroits et aussi redoutables que ce monstrueux dément.“58 Dieser Abschluss des kurzen Rahmennarrativs der Erzählung – der verstorbene Richter wird einleitend sehr knapp vorgestellt und seine Erzählung als posthum gefundenes Manuskript ausgegeben – verdoppelt die Figur einer Einfühlung in die pathologische Disposition, die der Richter auf der Ebene der Binnenerzählung vornimmt.59 Eine erfolgreiche Identifikation mit dem monströsen Verbrechen durch den Rahmenerzähler bleibt aus. Seine Schlussbemerkung aber reformuliert das Problem der gleichzeitigen Wahrnehmung von Monstrosität als figural und ortlos, das die hier vorgestellten Erzählungen Poes und Hoffmanns strukturiert: Das Monster ist absoluter Grenz- und Ausnahmefall – das Entsetzen des  Rahmenerzählers bildet bei Maupassant das affektive Korrelat dieser Bestimmung  –  und zugleich ist das Monströse etwas Alltägliches. Seine Banalisierung ist unvollständig insofern, als sie stets ein Paradoxon im Sinne des letzten Satzes von Maupassants Erzählung zu produzieren scheint: Es gibt zahllose absolute Ausnahmefälle einer dennoch gültigen Regel. Das superlative und massiv angstbesetzte Attribut der Monstrosität ist unabhängig von der prinzipiellen Kopierbarkeit und tatsächlichen Häufigkeit des bezeichneten Phänomens. Der delinquente Richter geht von der All-

58  Maupassant, Un Fou, S. 173. 59  Dabei ist die Figur des Richters allerdings die überlegene intellektuelle Instanz, der sich der Rahmenerzähler eingangs vorbehaltlos unterordnet, vgl. den Anfang der Erzählung: „Il était mort chef d’un haut tribunal, magistrat intègre dont la vie irréprochable était citée dans toutes les cours de France. Les avocats, les jeunes conseillers, les juges saluaient en s’inclinant très bas, par marque d’un profond respect, sa grande figure blanche et maigre qu’éclairaient deux yeux brillants et profonds.“ Maupassant, Un fou, S. 161. Florian Beckerhoff hat gegen die Forschungsannahme einer „naturalistischen“ Qualität der Erzählung überzeugend für eine psychologische Qualität dieses Erzählschemas von brillanter Binnenerzählung und naivem Rahmennarrativ plädiert. Seiner Lesart einer ironischen Struktur der Erzählung ist weniger leicht zuzustimmen: Allein die Verunsicherung des Lesers, die diese Konstellation mit sich bringt, bedeutet noch keine ironische Distanzierung von den klassischen Narrativen der Kriminalliteratur oder der Psychiatrie. Vgl. Beckerhoff, Monster und Menschen, S. 141.



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täglichkeit des Monströsen aus – ebenso wie die psychiatrischen Gutachter, die seinen Fall beurteilen – und die Besonderheit seines Falls besteht darin, aus der ge­ sicherten Position des Analytikers, der hermeneutisch-kriminologische Arbeit am Monströsen leistet, diesen allgemeinen Grundsätzen eine individuelle monströse Form zu geben, die der Irrenärzte darin, seine Außergewöhnlichkeit zu nivellieren und ihn als „ein Monster unter vielen“ zu klassifizieren. Beiden Instanzen der Produktion des Monströsen lässt sich also eine Erscheinungsweise desselben zuordnen: Der implizite Psychiater kanalisiert und kommentiert die defigurierte Monstrosität, das delinquente Subjekt wird gesetzt als Refiguration. Poes und Maupassants Erzählungen lassen auf eine erstaunliche Nähe beider Instanzen zumindest in der poetischen Imagination des neunzehnten Jahrhunderts schließen. Die Poetik des Monströsen nach Poe lässt sich damit auf vier zentrale Beobachtungen reduzieren: Perversität bzw. monströse Triebökonomie ist allen Menschen gemeinsam. In Sprache überführt wird diese Art der Monstrosität in einem scheinbaren Monolog des delinquenten Subjekts, das allerdings angewiesen bleibt auf die soufflierende Instanz eines impliziten Psychiaters. Die Instanzen dieses Dialogs schließlich nähern sich, wenn sie miteinander in Dialog treten, einander mimetisch an.

6 Perfektion und Caprice 6.1 Naturalismus und „Darwinismus“ Wenn monströse Eigenschaften übertragbar und banal sind, liegt es nahe, sie als ­soziales Regelphänomen zu begreifen. Eine solche Generalisierung nimmt Émile Zola vor. Seine Poetik des experimentellen Romans spitzt die Kopierbarkeit menschlicher Monstrosität zu einem Konzept universeller Bestialität zu: In allen Gesellschaftsschichten, bei beiden Geschlechtern und in allen erdenklichen Handlungssituationen analysieren seine Romane monströses Verhalten. In Abgrenzung zu den imma­teri­ ellen Abweichungen in der Psychiatrie bedeutet Zolas Allegorie der Bête humaine eine zumindest metaphorische Rückkehr des vom Sittenmonster verdrängten Körpermonsters, das aber keineswegs den phantastischen Entwürfen deformierter Individuen aus der ersten Jahrhunderthälfte gleicht, deren außergewöhnliche Subjektivität sie stets in die Nähe des Genies rückt. Wenn sich Zola 1880, im Vorwort zum Roman expérimental, ausführlich der „romantischen Rhetorik“ seiner früheren Arbeiten schämt, so gilt seine Scham gerade dieser Konzeption exzeptioneller Singularität, auf deren Überwindung sein Projekt des experimentellen Romans zielt. Seine naturalistischexperimentelle Gegenkonzeption integriert den Trieb, als eine Folge des Zusammenspiels von Erbmaterial und Milieu, in die Bestandsaufnahmen des Alltäglichen. Dieses Zusammenspiel zu rekonstruieren ist Aufgabe des experimentellen Romans, dessen Methodik sich Zola strikt und kompromisslos vorstellt, gerade dann, wenn sich die Erzählung „des phénomènes spéciaux“ zuwendet.1 Welcher Art die speziellen Phänomene sind, denen das Experiment gegenübersteht, formuliert Zola in einer Analogie zwischen seinem eigenen Projekt und dem des Physiologen Claude Bernard: Romancier und Anatom verbindet demnach der unerschrockene Blick auf die Missbildung und der unbeirrte Gang durch das Leichenschauhaus. Der Arbeitsplatz des Gerichtsmediziners fungiert hier als Allegorie für die Konfrontation des Literaten mit sozialen Wirklichkeiten, der in seiner experimentellen Tätigkeit „Ekel und Horror“2 überwinden muss. Als Beispiel eines solchermaßen experimentellen Romans nennt er Balzacs Cousine Bette: Das Gelingen und die Legitimität des Romans hängen davon ab, dass die Hauptfigur Hulot weder geheilt wird noch sein eigenes Handeln unter Kontrolle bringen kann – um interessante experimentalpsychologische Ergebnisse zu erzielen, ist ein Mindestmaß an nicht reduzierter und unaufgelöster Devianz notwendig. Diese Devianz ist allerdings gerade nicht phantastischer Natur. Zola formuliert in seinem Lettre à la jeunesse eine moralische Absage an die Monstrositäten der Romantik, wobei er Romantik und Idealismus als Synonyme versteht und primär über die

1  Émile Zola: Le Roman expérimental. Paris 1880. S. 26. 2  Émile Zola: Lettre à la jeunesse. In: Ders.: Le Roman expérimental. Paris 1880. S. 95.

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Begriffe des Übernatürlichen und des Irrationalen definiert.3 Monstrosität scheint also bei Zola zwei gegenläufige Bedeutungen und Verwendungen aufzuweisen. Diese doppelte Verwendung knüpft an eine der eingangs erörterten Spannungen des Begriffs an: Die Opposition von realer und fiktiver Monstrosität findet sich hier komp­ liziert um eine darstellungstheoretische Dimension, nämlich als Gegenüberstellung von naturalistischer Wiedergabe realer Monstrosität und künstlicher Produktion autonomer Monstrosität, die Zola als romantisch bezeichnet. Zola rekapituliert in De la Critique den gängigen Vorwurf gegenüber naturalis­ tischer Prosa, dass sie, um Monstrositäten wirkungsvoll zur Schau stellen zu können, die psychologische Beobachtung zugunsten der physiologischen aufgibt.4 Er greift diesen Vorwurf affirmativ auf und wirft im Gegenzug romantischer Prosa vor, Monstrositäten gezielt auszublenden. Je eleganter die Pariser Garderoben, die Edmont de Goncourt beschreibt, desto ekelhafter müssten, nach Zolas Vermutung, die darunterliegenden „monstruosités“ sein – die Goncourt gerade nicht zeigt. Die Monstrosität des Gegenstands der Darstellung, als Eigenschaft dieses Gegenstands, nicht der Darstellung, wäre nach Zola Nachweis der Wahrheit und Natürlichkeit der Darstellung. Nach Zola ist es im Alterswerk des verbliebenen Goncourt-Bruders und speziell im autobiographisch geprägten Les frères Zemganno gerade die Scheu vor psychischen Abgründen und „zirkusartigen“ Hässlichkeiten, die Autor und Erzähler von der Wahrheitssuche abhält. Zugleich findet sich Monstrosität in einer zweiten Besetzung bei Zola aber auch als Inbegriff des krankhaft Romantischen: Du moment où l’on quitte le terrain solide du vrai, on est lancé dans toutes les monstruosités. Prenez les romans et les drames romantiques, étudiez-les à ce point de vue ; vous y trouverez les raffinements les plus honteux de la débauche, les insanités les plus stupéfiantes de la chair et de l’esprit.5

Das feste Terrain naturalistisch-experimentellen Schreibens zu verlassen führt zur Produktion romantischer Monstrositäten. Dagegen sind das Auffinden von Monstrositäten in der sozialen Wirklichkeit und ihre Nachbildung zentrale Anliegen naturalistisch-experimentellen Schreibens. Diese doppelte Bedeutung der „monstruosités“ ließe sich als begriffliche Unschärfe Zolas abtun, wenn sie sich weniger durchgängig in seinen theoretischen Schriften wiederfände, in Le Roman Experimental, Lettre à la

3  Zola, Le Roman expérimental, S. 35. Hier liest sich Zola in der Tradition Flauberts, der an Sand schreibt : „Je me suis toujours efforcé d’aller dans l’âme des choses, et de m’arreter aux généralités les plus grandes, et je me suis detourné, exprès, de l’Accidentel et du dramatique. Pas de monstres, et pas de Héros!“ Gustave Flaubert: Correspondance. Bd. 4. Paris 1980. S. 1000. 4  „[…] de mêler, dans la peinture des monstres, la physiologie à la psychologie, ou plutôt de supprimer la psychologie au profit de la physiologie.“ Émile Zola: De la critique. In: Ders.: Le Roman expérimental. Paris 1880. S. 292. 5  Zola, Le Roman expérimental, S. 113–114.



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jeunesse und Du roman. Monstrosität in der Literatur und vor allem die Frage, ob sie wünschenswert ist, scheint ein Kernanliegen von Zolas naturalistischer Poetik. Unterteilen lassen sich Monstrositäten in Zolas Verständnis in Deformationen des Dargestellten und solche der Darstellung: Das programmatische „voir la nature“ führt zwangsläufig zur Dokumentation von Monstrositäten, nämlich denjenigen, die die soziale Wirklichkeit ausmachen. Gerade umgekehrt entsteht aus dem Versagen oder der Weigerung der kritisierten romantischen Autoren, Natur und Gesellschaft zu sehen, wie sie sind, die Produktion wirklichkeitsabgewandter Monstrosität. Diese zweite Natur ist für Zola eine Unnatur: „Leur nature est une monstruosité, qu’ils ont rapetissée ou grandie“.6 Diese Opposition erinnert an die Teratologie des Aristoteles, der Kunstfehler der Natur als interessante Forschungsgegenstände betrachtet und Kunstfehler der Kunst als Zumutung. Die Abgrenzung gegenüber der literarischen Phantastik jedenfalls ist offensichtlich: Monstrosität wird von einem Produkt künstlerischer Tätigkeit zu einer Eigenschaft der sozialen Wirklichkeit. Zolas Forderung nach Überwindung der künstlichen Monstrositäten der Romantik klingt passagenweise wie eine politische Streitschrift gegen groteske poetische Formen: De même dans le roman ; écrivez franchement des poèmes, si vous éprouvez un jour le besoin d’idéaliser ; ne me donnez pas des histoires grotesques et impossibles, en voulant me faire croire que cela s’est passé ainsi. Pas d’œuvres bâtardes et hypocrites, voila tout. Pas de mélange inacceptable, pas de monstres moitié réels et moitié fabuleux ; pas de prétention à conclure sur des mensonges, dans une pensée morale et patriotique.7

Zolas Ekel gegenüber dem Grotesken scheint ausgelöst durch eine „Bastardisierung“ von Wirklichkeit und künstlerischer Bearbeitung. Monstrosität, hier wieder pejorativ besetzt, bedeutet eine Vermischung von Realem und Fabelhaftem, deren Produzenten Zola politisch-reaktionäre Motive unterstellt. Er fordert, ein romantisches Paradigma exzeptioneller, singulärer Monstrosität in der Literatur zu überwinden, und plädiert für die Anerkennung und Dokumentation alltäglicher, banaler und „natürlicher“ Monstrosität. Natürlichkeit ist dabei keineswegs durchgängig organisch besetzt, sondern wird wiederholt über eine Metapher des Menschen als Maschine kodiert. Zola verändert La Mettries berühmtes Modell8 insofern, als er Menschen vor allem als defizitäre Apparate darstellt. In diesem Verständnis des Menschen als defekte Maschine liegt eine naturalistische Entzauberungsgeste gegenüber dem Monströsen: Abweichendes Verhalten wird reduzibel auf die Faktoren Milieu, Familie bzw. Erbmaterial und eine sehr vage gehaltene dritte Größe, bei der es sich um den Trieb weniger im evolutionstheoretischen als im psychiatrischen Sinn zu handeln scheint. Als poeti-

6  Émile Zola: Du roman. Sur Stendhal, Flaubert et les Goncourts. In: Ders.: Le Roman expérimental. Paris 1880. S. 229. 7  Zola, Du roman, S. 285–286. 8  Julien Offray de la Mettrie: L’homme machine. Die Maschine Mensch. Franz.-Dt. Hamburg 1990.

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sche Umsetzung dieses Programms der Entzauberung lässt sich La bête Humaine verstehen. Eine von Zolas menschlichen Bestien sagt, angesichts eines Schnellzugs: Ah! C’est une belle invention, il n’y a pas à dire. On va vite, on est plus savant … Mais les bêtes sauvages restent des bêtes sauvages, et on aura beau inventer des mécaniques meilleures encore, il y aura quand même des bêtes sauvages dessous.9

Die Bestie unterscheidet von der Maschine ihre prinzipielle Unberechenbarkeit. Zola geht zwar mit erheblicher Zuversicht davon aus, dass die Mechanismen, die tierischem und menschlichem Handeln zugrundeliegen, in naher Zukunft restlos entschlüsselt werden10, wähnt die Romane seiner Zeit jedoch noch nicht einmal in der Nähe einer solchen Entschlüsselung. Welcher Art die zukünftigen Erkenntnisse über menschliche Bestien sein werden, deutet Zola im Konzept einer „fêlure héréditaire“ 11 an, das programmatisch die Aspekte Trieb, Abstammung und Milieu vermischt. Es überwiegen Charakteristiken des kriminellen Menschen als instinktbestimmtes Tier, das, analog zum konstatierten psychiatrischen Parallelismus von handelndem Subjekt und Handlungsmotivation, wiederum von einem „brüllenden Tier in seinem Inneren“12 beherrscht wird. Beschädigtes Erbgut und beschädigendes Milieu sind, etwa in der Genealogie der Trinkerfamilie, kaum unterscheidbar. Familiäre Veran­ lagung, Umstände des Aufwachsens, vor allem die ökonomische Situation, in die ein Individuum hineingeboren wird und denen im gesamten Rougon-Macquart-Zyklus viel Aufmerksamkeit gewidmet wird13, bedingen die individuelle Triebökonomie. Zola verweist in seinen theoretischen Texten regelmäßig darauf, dass diese Konzeption des Menschen als Schnittstelle aus Erbmasse, Milieu und Trieb in enger Anlehnung an die naturwissenschaftlichen Fortschritte seiner Zeit entsteht. Als wichtigsten ­medizinischen Grundlagentext für seine Theorie des Romans bezeichnet er Claude

9  Émile Zola: La bête humaine. Paris 1893. S. 46–47. 10  Zola, Le Roman expérimental, S. 23–24. 11  Zola, La bête humaine, S. 58. 12  Zola, La bête humaine, S. 45. 13  Das gleiche Erklärungsmuster, detaillierter und psychologisch nuancierter, entwickelt Zola in seinem Roman L’Assommoir (1877). Geld spielt bei Zola eine fundamental andere Rolle als in der französischen Romantradition des früheren neunzehnten Jahrhunderts. In Flauberts L’education sentimentale, Balzacs Illusions Perdues und Maupassants Bel Ami ist der ökonomische Aspekt des Aufstiegs der jeweiligen Protagonisten eingebettet in ein kompliziertes Motivgeflecht: Soziale Klassenzugehörigkeit ist Bestandteil der erotischen Beziehungen (als Hinderungsgrund und/oder Antriebsgrund für Liaisons bei Maupassant), motiviert die Diskussion von Kunst um der Kunst willen oder Kunst um des Erfolgs willen, die in Balzacs Illusions Perdues als Frage nach Literatur und Journalismus gestellt wird, oder fungiert als Medium der sozialen Anerkennung wie in Flauberts Madame Bovary. Zola zerschlägt dieses Beziehungsgeflecht, nicht in der Darstellung einer anderen sozialen Klasse oder über besonders realitätsnahe Schilderung, sondern in der literarischen Aufwertung des Geldes zum Selbstzweck, dessen Bedeutung unabhängig von erotischen, ästhetischen und politischen Begleiterscheinungen ist.



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Bernards Introduction à l’étude de la médecine expérimentale. Als allgemeinere Grundlage seiner experimentellen Anordnungen nennt er allerdings „le retour à la nature, l’évolution naturaliste qui emporte le siècle“.14 Im Hintergrund seiner naturalistischen Poetik des Bestialischen steht, als Referenz immer wieder angeführt, allerdings nie ausführlich diskutiert, Darwins Evolutionstheorie: Je donne aussi une importance considérable au milieu. Il faudrait aborder les théories de Darwin; mais ceci n’est qu’une étude générale sur la méthode expérimentale appliquée au roman, et je me perdrais, si je voulais entrer dans les détails.15

Wenn Zola seine eigenen naturalistischen Milieustudien des Monströsen als Anwendung evolutionstheoretischer Modelle auf soziale Zusammenhänge deklariert, so legt dies einen hohen Stellenwert des Monströsen auch in Darwins Evolutionstheorie selbst nahe. Die Anwendung evolutionstheoretischer Modelle auf soziale Strukturen ist im Rahmen einer Studie zum Monströsen ein problematischer Gegenstand, weil sozialdarwinistische Modelle Natürlichkeit durchgehend eng an Normalität koppeln. Politische Ökonomie und Evolutionstheorie unterhalten ein kompliziertes Verhältnis wechselseitiger Bezugnahmen, stillschweigender Annäherungen und ausdrücklicher Distanzierungen; so äußert sich Marx irritiert über die Abbildung viktorianischer Sozialstrukturen in The Origin of Species: Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine eigene englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ‚Erfindungen‘ und Malthusschem ‚Kampf ums Dasein‘ wiedererkennt.16

Seine Verwunderung über den Eingang ökonomischer Populationsmodelle in die Evolutionstheorie17 hindert Marx bekanntlich nicht daran, umgekehrt Darwins Evolutionstheorie dezidiert als naturwissenschaftlichen Ausgangspunkt der eigenen materialistischen Anthropologie zu setzen und ihm ein Exemplar des Kapitals „in tiefer Anerkennung“ zu widmen. Eine öffentliche Erwiderung dieser Anerkennungsgeste vermeidet Darwin.18 Für die vorliegende Studie ist eine Parallelentwicklung in politischer und biologischer Theoriebildung des neunzehnten Jahrhunderts unmittelbar relevant, die zunächst noch allgemeiner anmutet als die Gemeinsamkeit eines Interesses an Bevölkerung und Überbevölkerung, nämlich die Reformulierung der Frage

14  Zola, Le Roman expérimental, S. 3 15  Zola, Le Roman expérimental, S. 22. 16  Karl Marx an Friedrich Engels. Brief vom 18. Juni 1862. MEW 30, S. 249. 17  Darwin bezieht sich vor allem, und zu Marx’ ärgerlichem Erstaunen affirmativ, auf Malthus’ Überlegungen zu Bevölkerung und Überbevölkerung im Essay on the Principle of Population. 18  Vgl. Howard Gruber: Darwin on Man. A Psychological Study of Scientific Creativity. London 1974. S. 72; ebenso Robert M. Young: Darwin’s Metaphor. Nature’s Place in Victorian Culture. Cambridge 1985. S. 21.

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nach der Entstehung des Neuen. Das antike Axiom, dass „die Natur keine Sprünge macht“19, muss, nachdem im Zuge der Französischen Revolution der Nachweis erbracht ist, dass Gesellschaftsordnungen sich durchaus sprunghaft verändern können, zweifelhaft werden – sofern die Analogie von politischer Theorie und Naturphilosophie aufrechterhalten werden soll. Schon Geoffroys republikanisch inspirierte Teratologie verwendet Monstrositäten als Argument für die Möglichkeit plötzlicher Veränderungen in der Gesellschafts- wie in der Naturordnung. Politische wie biologische Theorien des neunzehnten Jahrhunderts diskutieren zwei diametral entgegengesetzte Antworten auf die Frage, wie Neues entsteht, die zumindest in den Debatten der Evolutionstheorie bis heute wiedererkennbar sind20: Die Entstehung und Ausdifferenzierung der Arten wird entweder auf allmähliche, geringe Veränderungen in Form sukzessiver Umweltanpassungen zurückgeführt (Gradualismus) oder auf eine Abfolge plötzlicher, spontaner Mutationen in der Natur (Saltationimus). Ersetzt man nur einige Begriffe – Natur durch Geschichte, Art durch Klasse – lässt sich das Marxsche Modell des Klassenkampfes als Abfolge von Umstürzen und radikalen Einschnitten als orthodox saltationistisch bezeichnen.21 Die Strukturanalogie der Fragen nach der Möglichkeit radikaler Veränderung in Natur- und Gesellschaftsordnung wird hier in Vorbereitung der ersten zentralen These des folgenden Kapitels bemüht: Die Kategorie des Monströsen ist (1) in der Evolutionstheorie überraschenderweise eine poli­ tische, wie zunächst anhand der Arbeiten von Robert Knox dargestellt wird. Sie wird von Darwin (2) offenbar gerade deshalb in seinen Überlegungen zur natürlichen ­Selektion weitgehend vermieden, kehrt aber (3) im Rahmen von Darwins Theorie sexueller Selektion als kapriziöser Extremwert der ornamentalen Form zurück.

6.2 Politiken des Tigerarms (Robert Knox) Die Produktion von Monstrositäten und die Entstehung neuer Arten sind bereits in der medizinischen Teratologie epistemologisch eng verbunden, die ja stets argumentiert „by analogy from the production of monsters to the origin of species“.22 Wenn es

19  Die lateinische Formulierung „Natura non facit saltus“, die Darwin aufgreift, stammt wohl von Carl von Linné; Varianten finden sich bei Leibniz, Bonnet oder Kant. Vgl. Darwin, Origin, S. 194. 20  Vgl. Stephen Jay Gould: The Structure of Evolutionary Theory. Cambridge/Mass. 2002. 21  Auch hier steht Marx in der Tradition Hegels. Die wachsenden Zweifel gegenüber der Annahme einer Kontinuität ohne Sprünge im neunzehnten Jahrhundert illustrieren dessen folgende Überlegungen: „Es gibt keinen Sprung in der Natur, wird gesagt […]. Es hat sich aber gezeigt, daß die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, in: Ders.: Werke, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1986, S. 440. 22  Evelleen Richards: A Political Anatomy of Monsters, Hopeful and Otherwise. Teratogeny, Tran-



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möglich ist, durch Modifikation der Umweltbedingungen ein Monster zu schaffen, ist es nach Étienne Geoffroy St. Hilaire auch möglich, eine neue Spezies zu schaffen. Den Einfluss der französischen Teratologie auf die englische Evolutionstheorie des neunzehnten Jahrhunderts im Allgemeinen und Geoffroys Wirkung auf die britischen Anatomen Robert Knox und Richard Owen im Besonderen hat Evelleen Richards nachgewiesen; Robert Knox war mit Cuvier und Geoffroy persönlich bekannt und mit der Debatte zwischen beiden vertraut.23 Er ist in doppelter Hinsicht eine aufschlussreiche Figur zur Rekonstruktion viktorianischer Monstrosität, als Autor einer einflussreichen Studie über den „tiger arm“ einerseits, als skrupelloser Wissenschaftler andererseits, der in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Zeit geradezu als Inkarnation Frankensteins gilt. Im Zuge der Burke-Hare-Affäre kauft Knox in den Jahren 1827/1828 zu wissenschaftlichen Zwecken Leichen von den Grabräubern, aber auch siebzehnfachen Mördern William Burke und William Hare.24 Robert Knox befasst sich, anlässlich der Sektion eines Jaguars25, mit einer sehr ausgeprägten Korrespondenz zwischen einer seltenen Missbildung am menschlichen Arm und einem Detail der regulären Anatomie der Raubkatze. Es handelt sich um eine kleine Öffnung im Oberarmknochen, durch die die Oberarm-Arterie und der Median­nerv kurz vor dem Ellenbogen hindurch geleitet werden. Knox nimmt an, dass die Analogie zwischen den beiden strukturell ähnlichen Phänomenen – der regulären Ausbildung der Jaguargliedmaßen, wie sie ihm vorliegt, und der irregulären Ausbildung des menschlichen Oberarmknochens, von der er bislang nur gehört hat – weiter­ geführt werden kann: Wenn die Missbildung des menschlichen Arms besagte kleine Öffnung enthält, müssen sich auch der Verlauf von Arterie und Nervenbahn entsprechend dieser Umbildung anpassen „and follow the laws of deformation as strictly as our structures obey usually the laws of formation.“26 Durch einen Zufall erhält Knox wenige Tage nach der Formulierung dieser Voraussage die Gelegenheit, gerade diese

scendentalism, and Evolutionary Theorizing. In: Isis 85.3 (1994). S. 377–411. Hier: S. 380. Vgl. wiederum auch Kapitel 3 dieser Arbeit; neben Étienne und Isidore Geoffroy St. Hilaire lässt sich der Satz besonders auf die Teratogenese Camille Darestes anwenden. 23  Richards, Monsters, S. 383. Vgl. auch dies.: The Moral Anatomy of Robert Knox. The Interplay between Biological and Social Thought in Victorian Scientific Naturalism. In: Journal of the History of Biology 22 (1989). S. 373–436. 24  Ruth Richardson: Death, Dissection, and the Destitute. London und New York 1987. S. 137–140. Diese Verwicklung beendet Knox’ Karriere, sichert ihm aber bleibenden Nachruhm. Wohl keinem anderen Missbildungsforscher des neunzehnten ist ein Kinofilm des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet (The Anatomist, 1961). 25  Robert Knox: Contributions to Anatomy and Physiology. Communicated at Various Times to the Anatomical and Physiological Society in Edinburgh. In: The Edinburgh Medical and Surgical Journal 56 (1841). S. 125–139. Es handelt sich beim von Knox untersuchten Tier offensichtlich um einen Jaguar, auch wenn seine Studie generelle Beobachtungen zu Raubkatzen beinhaltet. Warum sich die Missbildung wissenschaftshistorisch als „tiger arm“ durchgesetzt hat, ist mir rätselhaft. 26  Knox, Contributions to Anatomy and Physiology, S. 125.

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Missbildung am menschlichen Körper zu untersuchen. Er beschreibt mit offensichtlicher Begeisterung: […] and on looking attentively at the structure, my assistant immediately called my attention to an anomaly corresponding strictly with what I had predicted two nights previously to the Anatomical Society, viz. the presence of a supra-condyloid process: its connection with the inner condyle of the humerus by means of a ligament or aponeurotic expansion, and the consequent deviation of the main artery and median nerve from their usual course, in order to pass behind this process in the groove, half osseous, half ligamentous, thus formed, afterwards to return, a little lower down, so as rapidly to regain their usual relative position in the bend of the elbow; in short, the precise anatomy of the arm of the Jaguar. [Hervorhebungen R. Knox]27

Knox weist nach, dass die beobachtete Missbildung die prognostizierten Veränderungen in Blut- und Nervenbahn mit sich bringt. Arterie und Nerv verändern ihren Verlauf, um die Oberarm-Öffnung zu passieren, und nehmen anschließend ihre reguläre Bahn wieder auf. Diese Deformation entspricht präzise der Anordnung der zwei Tage zuvor untersuchten Gliedmaßen des Jaguars. Knox interpretiert diese geglückte Doppelstudie zu Jaguar und Mensch als endgültige Widerlegung der Annahme eines göttlichen Schöpfungsplans. Diese Interpretation richtet sich innerhalb seiner Studie recht vage gegen die Bridgewater ­Treatises, deren Konzeption einer „natural theology“ die Erklärungsfunktion mechanischer Ursachen dem Gedanken einer teleologischen Struktur der Natur unterordnet.28 Knox sieht in Mutationen wie denen des Jaguar-Arms den Nachweis, dass organische Entwicklungen nicht einem Telos der Natur folgen, sondern ausschließlich mechanischen Notwendigkeiten: Wenn im Oberarm eine Öffnung auftritt, müssen Nervenbahn und Arterien ihren Verlauf entsprechend ändern. Wenn dieses Gesetz gattungsübergreifend gilt, ist der Gedanke eines Gattungsgefüges obsolet, dessen Grenzen göttlich sanktioniert wären. Auf Basis der Übereinstimmung von missgebildeter menschlicher und regulärer felider Anatomie bestreitet also Knox prinzipiell eine hierarchische Struktur der Natur, die sich einer Schöpferintention zuschreiben ließe: Arten entwickeln sich nicht, im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung durch Komplexitätsgewinn, auf ein Ziel der Schöpfung hin, sondern ihre Entwicklung folgt kausalen Gesetzmäßigkeiten. Eine solche argumentative Funktion

27  Knox, Contributions to Anatomy and Physiology, S. 127. 28  Dieser betonten und häufigen antitheologischen Wendung bei Knox eignet ein seltsam anachronistisches Moment. Einen konkreten Gegenspieler in der pathologischen Anatomie, der stringent theologisch argumentierte, gibt es 1841 nicht mehr. Knox’ Zuschreibung einer dominant theologischen Argumentation an den bereits verstorbenen Georges Cuvier ist nicht überzeugend, und auch die Bridgewater Treatises taugen nur in stark überzeichneter Wiedergabe als Gegner. Darwin stellt The Origin of Species ein Zitat von Whewell aus eben jenen Treatises voran, demzufolge Veränderungen in der Natur Ausdruck natürlicher Gesetze, nicht Resultat göttlichen Eingreifens sind. Vgl. Charles Darwin [1859]: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. London 1869.



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der Missbildung ist hier schon einmal nachgezeichnet worden: Schon als Instrument der Epigenesis-Theoretiker des späten achtzehnten Jahrhunderts stehen Monstrositäten im Dienst einer negativen Theodizee.29 Knox’ polemische Interpretation des Jaguar-Arms, in der sich die Begriffe Teleologie und Theologie bis zur Ununterscheidbarkeit überschneiden, geht allerdings in einem entscheidenden Punkt weit über die Teleologiekritik der Epigenesistheorie hinaus: Seine Studie greift nicht nur theologische, sondern in gleichem Maße anthropozentrische Weltbilder an. Er bezeichnet Missbildungen als „startling proof of the strength of the analogies subsisting occasionally between man and the lower animals“30, entwickelt also aus der Beschäftigung mit Missbildungen heraus den Gedanken einer starken Analogie­ beziehung zwischen den Arten. Diese Analogie beschränkt sich nicht auf das reine Konstatieren funktionaler Entsprechungen einzelner Körperteile bei verschiedenen Gattungen. Vielmehr verweist die Missbildung nach Knox auf einen übergeordneten Plan in der Natur, der über Gattungsgrenzen hinweg Gültigkeit hat, sie ist „an undeniable argument of the existence of a general scheme or plan embracing the whole range of the animal kingdom“.31 Zu diesem Königreich der Tiere gehört, missgebildet oder nicht, auch der Mensch, und zwar nach Knox Ausführungen nicht als Spitze oder Krone dieser Entwicklung, sondern als ein Bestandteil unter anderen. Damit transportiert Knox’ Studie über den Jaguar-Arm, wenngleich die offensicht­ lichere Stoßrichtung seiner Polemik eine antitheologische ist, zugleich diejenige Kränkung des Menschen im neunzehnten Jahrhundert, die Freuds berühmtes Bonmot erst Charles Darwin zuschreibt: Die Zumutung, vom Tier nicht prinzipiell unterschieden zu sein.32 Anders als Geoffroy nimmt Knox als Basis der Fehlbildung keine Entwicklungshemmung, sondern eine „retrogressive Entwicklung“ an, also eine nach Maßgabe der Anatomie einer anderen Gattung folgerichtige Entwicklung, deren Verlauf im missgebildeten Organismus also irgendwie als Information vorhanden sein muss. Ausführ­ licher erläutert Knox in seinen Contributions to the Philosophy of Zoology, dass tatsächlich jeder einzelne, auch menschliche, Organismus einen vollständigen evolutionären Gedächtnisspeicher darstellt33: Mensch und Tier teilen eine gemeinsame Entwicklung

29  Vgl. Kapitel 1 dieses Buches. 30  Knox, Contributions to Anatomy and Physiology, S. 128. 31  Knox, Contributions to Anatomy and Physiology, S. 128. 32  Zwischen der „kopernikanischen“ und der „freudschen“ Kränkung, die den Menschen aus dem Mittelpunkt des Universums bzw. aus der souveränen Verfügungsgewalt über seine eigene Seele entfernen, steht die Darwinsche Kränkung für den Verlust einer kategoriellen Trennung von Mensch und Tier. Vgl. Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1917). S. 1–7. Hier: S. 4. 33  „The same, I believe holds in man; so that, were all the existing species of any family to be accidentally destroyed, saving one, in the embryos and young of that one will be found the elements of all the species ready to reappear to repeople the waters and the earth.“ Robert Knox: Contributions to

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und sämtliche Erbinformationen, wenngleich nicht alle diese Informationen zur Ausbildung sichtbarer Merkmale führen.34 Das embryonale Stadium bezeichnet er gattungsübergreifend als Zustand der parallelen Existenz gattungsunspezifischer Eigenschaften. Knox verleiht dem Embryo den Status einer vollendet unvollendeten Lebensform: In the embryo I see a perfect, not an imperfect being; its developments, transmutations, metamorphoses follow certain laws; they equally tend to perfection of the individual species as a species, of the individual as an individual. But their developments must not be called imperfect, inferior, or arrested developments, merely because they happen to tend towards, and to produce, inferior forms of organization, as we esteem them.35

Weder sind, in diesem Modell, einzelne Gattungen anderen unterlegen, noch sind Transmutationen und Deformationen mit einer normativen Abwertung verbunden. Es entfällt also die traditionelle affektive Valenz des Monströsen: Deformationen evozieren keine Angst, stellen keinen Skandal dar und sind nicht einmal eine Bedrohung der Gattung, sondern im Erfolgsfall eine Gattung, im Falle ausbleibender Reproduktion äußerlich abweichende, strukturell aber durch und durch regelkonforme, natürliche und sogar „perfekte“ Organismen. Die Unterscheidung von Normalgattung und Monstrosität wird ersetzt durch ein einziges Unterscheidungskriterium der Überlebensfähigkeit.36 Die Frage nach der Entstehung unterschiedlicher Phänotypen – der Begriff Gattung wird vermieden – beantwortet Knox mit einer Theorie generativer Monstrosität. Er ersetzt die epigenetische Konzeption einer einzigen Entwicklungskraft (nisus formativus, vis essentialis) durch eine duale Konzeption von Formation und Deformation. „Formation“ bezeichnet dabei die Entwicklung gemäß der typischen Gattungsentwicklung, „deformation“37 die individuelle Ausprägung von Eigenschaften. Mit diesen beiden Grundkräften korrespondieren bei Knox zwei elementare Gesetzmäßigkeiten, denen die Entwicklung von Organismen unterworfen ist, das „law of specialization“, das die individuelle Entwicklung eines Organismus innerhalb der Möglichkeiten seiner Gattung bestimmt, und das „law of deformation“, das die Überwindung dieser Grenzen, d. h. die Entwicklung nicht artspezifischer Merkmale, und damit die

the Philosophy of Zoology. With Special Reference to the Natural History of Man. In: Lancet, 14. Juli 1855. S. 24–26. Hier: S. 25. 34  „That one great scheme or plan has at all times existed“ (Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 24). Aus heutiger Sicht stellt die Verwendung des Begriffs „plan“ natürlich Knox‘ eigenes Modell wiederum unter Teleologie-Verdacht. Gegenüber dem kritisierten Modell eines Schöpfungsplans ließe es sich mit Deleuze als plan d’immanence beschreiben, als Ebene, auf der alles nebeneinander liegt. 35  Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 26. 36  Dieses Kriterium gilt für Gattungen bzw. Formen ebenso wie für deformierte Ausnahmen, vgl. Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 26. 37  Knox, Contributions to Anatomy and Physiology, S. 125.



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Transgression scheinbarer Gattungsgrenzen, reguliert. Beide Gesetze gelten für alle Organismen und sind gleichermaßen stabil: „The laws of deformation are as constant and regular as the laws of formation“38. Die Lücken zwischen den als Gattungen etablierten Formen werden geschlossen durch die Annahme einer Grundkraft der Deformation, und entsprechend sind auch die Übergänge zwischen deformierten Ausnahmen und Gattungen fließend. Im universellen Embryo, der heterogene und gattungsunspezifische Eigenschaften in sich vereinigt, sind alle vergangenen und zukünftigen Arten angelegt als Möglichkeiten. Entsprechend kann sich aus dem noch ungeformten Embryo jederzeit ein neuartiger Phänotyp entwickeln oder ein archaischer Phänotyp überraschend wieder auftauchen. Knox Antwort auf die Frage nach der Entstehung des Neuen ist also trotz seiner obsessiven Beschäftigung mit Missbildungen39 nicht saltationistisch: Durch die Kraft der Deformation entsteht zwar ein singulärer, einmaliger Organismus – der aber gerade nichts spektakulär Neues darstellt. Zwischen den bekannten Gattungen liegt eine unendliche Vielfalt deformierter Zwischenstufen in graduellen Abstufungen. Knox begreift die Deprivilegierung des Menschen innerhalb der Natur ausdrücklich politisch. Er skizziert in seiner Philosophy of Zoology eine jahrhundertealte Verschwörung gegen die philosophische Zoologie und die Wahrheit, getragen von Vatikan und Sorbonne: But man’s history had been made the subject of elaborate works by historical and theologicohistorical writers; the animal and vegetable worlds had been described as subservient to him; whatever trenched on histories which, taken literally, are clearly and simply fabulous, gave alarm to powerful classes of men, deeply and intensely interested in obstructing all inquiry into truth, and Goethe, Oken, and Geoffroy St. Hilaire would have shared the fate of Galileo, but for the accidentally altered circumstances of the European world.40

Schon im Untertitel des Artikels, „with special reference to the Natural History of Man“ ist der Mensch zentral gesetzt, aber Knox streicht ihn noch einmal in Großbuchstaben heraus, wenn er die Gründe für die Blockade der Lebenswissenschaften durch Theologie und Metaphysik diskutiert: „The reason was this: the field of inquiry included MAN“.41 Der Einschluss des Menschen in das Gebiet der vergleichenden Anatomie und Pathologie ist demnach problematisch, weil er eine strukturelle Trennung von menschlicher und tierischer Entwicklungsgeschichte unmöglich macht. Natürlich ist

38  Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 25. 39  Diese privilegierte Stellung der Monstrosität bei Knox lässt sich nach Alan W. Bates auch an einer späteren Studie zu „Aztec children“ ablesen: „As in the case of the tiger arm, Knox had relied on rare anomaly to support his arguments.“ Vgl. Alan W. Bates: The anatomy of Robert Knox. Murder, Mad Science, and Medical Regulation in 19th Century Edinburgh. Eastbourne 2010. S. 145. Zugespitzter heißt es bei Evelleen Richards: „It was by this means, through the action of the ‚deformating powers of nature‘ that Knox accounted for the origin of new species.“ Richards, Political Anatomy, S. 310. 40  Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 24. 41  Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 24.

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Knox’ Vorstellung eines Ketzerprozesses gegen Goethe auf Basis seiner Überlegungen zum Zwischenkieferknochen nicht kompatibel mit unserem heutigen Verständnis des frühen neunzehnten Jahrhunderts, aber sie zeigt, wie hochgradig ideologisch die Frage nach der Entstehung der Arten und die korrelierte Frage nach der Entstehung von Monstrositäten in seinen Contributions diskutiert werden. Voraussetzung für die von Knox geforderte Philosophie der Zoologie auf anatomischer Basis ist sehr konkret die weltpolitische Entwicklung des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts: Erst die Französische Revolution macht eine nicht-teleologische Sichtweise auf die Zoologie überhaupt denkbar.42 Erst ein radikaler, atheistischer Naturbegriff, so lässt sich Knox‘ politisches Programm paraphrasieren, ermöglicht den Verzicht auf Gattungen und ihre Hierarchisierung, den Knox mit einer maximal provozierenden Geste fordert:„Distinct species exist not in Nature“.43 Zu welchem Grad die Unterscheidung und Klassifizierung von Lebewesen bei Knox ein politischer Vorgang ist, lässt sich seiner, vor dem Hintergrund des Verzichts auf den Gattungsbegriff völlig kontraintuitiven, Aufwertung von „natürlicher Familie“ und „Rasse“ zu politischen Leitkategorien entnehmen44. Den Universalitätsanspruch seines wissenschaftlichen Rassismus’ hat Jürgen Osterhammel wohl nicht unangemessen als den eines „geschlossenen Wahnsystems“ beschrieben.45 Die zentrale Stellung von Deformation innerhalb dieser Naturkonzeption ist mit einer epistemischen, moralischen und ästhetischen Aufwertung deformierter Organismen verbunden. So wendet sich Knox gleichermaßen gegen Meckels und Geoffroys Annahme einer Entwicklungshemmung, deren Resultat ein defizitäres Gattungsexemplar wäre, wie auch gegen die Möglichkeit einer zielgerichteten graduellen Evolution, deren Resultat Gattungen wären: There can be no such thing as arrested development, nor a gradual development of all forms towards perfection. Nature’s works are perfect, first and last; and the hypothesis which supports the idea of a development tending to perfection is simply another expression of the doctrine

42  „The French revolution had occurred – that mightiest of all events. The artificial bonds of society were loosened. Men for the first time ventured to think.“ Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 24. 43  Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 25. 44  Robert Knox: The Races of Man [1850]. A philosophical enquiry into the influence of race over the destinies of nations. London 1862. Knox bestimmt das ideologische Kernanliegen der Studie im Vorwort zur zweiten Auflage so: „That human character, individual and national, is traceable solely to the nature of that race to which the individual or nation belongs.“ 45  Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München 2009. S. 1119.



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of a final cause. […] Development can only mean development, and nothing else […] The laws of deformation are as constant and regular as the laws of formation, which we call perfect, as belonging to the existing world; this is all.46

Die wiederholte Verwendung des ästhetischen Begriffs der Perfektion ist kein Zufall.47 Perfektion bezeichnet einen Zustand der Makellosigkeit48, nicht das Resultat einer Abfolge von Verbesserungen. Solche Vollkommenheit schreibt Knox ausdrücklich allen existierenden Organismen, damit auch den nach herrschender Meinung oder geltender Gattungslehre missgebildeten, zu. Dies macht die Verortung von Missbildungen fast paradox: Sie sind erstens Ausdruck einer Grundkraft der Deformation, über die Knox das Auftauchen des Neuen in der Natur erklärt, und zweitens für sich genommen jeweils perfekt, also in sich geschlossener ästhetischer Gegenstand. Die Zuschreibung der Perfektion an jeden einzelnen Organismus begleitet eine Abwertung des Prinzips der „Entwicklung“: Sie bedeutet bei Knox wertfrei Veränderung, nicht Komplexitätsgewinn oder Vollendung. Eine Unterscheidung regelkonformer und nicht-regelkonformer Entwicklung ist hinfällig, da ausdrücklich jede natürliche, d. h. real existierende, Form von Entwicklung regelhaft ist. „Development“ und „deformation“ sind hier beinahe Synonyme, zumindest aber funktionale Entsprechungen: Deformation ist das Sichtbarwerden der Entwicklung, die im Fall regulärer Formierung unsichtbar bleibt. Ihre Funktion ist die Produktion des Neuen in der Natur. In Knox‘ radikaler Evolutionstheorie fällt der Aufwertung der Missbildung das Konzept der Gattung zum Opfer. Dieses Opfer ist dreifach politisch motiviert und richtet sich gegen Theologie, Teleologie und Anthropozentrismus.

6.3 Variation statt Deformation (Charles Darwin) Eine zentrale Stellung von Monstrositäten im Vorfeld von Darwins Evolutionstheorie zeichnet sich nicht erst bei Robert Knox ab. In seiner Analyse klassifikatorischer Gesten des achtzehnten Jahrhunderts in Les Mots et les Choses bescheinigt Michel Foucault schon dem „Quasi-Evolutionsimus“ bei Maupertuis und Robinet ein Natur-

46  Knox, Contributions to the Philosophy of Zoology, S. 25. 47  Knox Interesse an vor allem bildender Kunst prägt seine Auffassung von Medizin. Ästhetik und Anatomie setzt vor allem seine historisch-biographische Studie Great Artists and Great Anatomists sehr selbstbewusst zueinander ins Verhältnis. Anatomen sind für Knox zugleich Künstler und Theo­ retiker ihrer Kunstausübung, ihr Aufgabengebiet ist eine spekulative Ästhetik des Lebewesens und vor allem des Menschen. Vgl. Robert Knox: Great Artists and Great Anatomists. A Biographical and Philosophical Study. London 1852; vgl. dazu Allister Neher: Robert Knox and the Anatomy of Beauty. In: Med Humanities 37 (2011). S. 46–50. 48  Roland Galle: Vollkommen/Vollkommenheit. In. Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6. Stuttgart und Weimar 2005.

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verständnis, das Arten nur aus der Annahme einer Kontinuität von Deformationen erklären kann: Die sichtbaren Arten, die sich unserer Analyse anbieten, sind aus dem unaufhörlichen Grunde der Monstrosität herausgetrennt, die erscheinen, aufblitzen, untergehen und sich mitunter erhalten. […] Da ist zunächst die Notwendigkeit, die Monstren eingreifen zu lassen, die quasi die Geräuschkulisse, das ununterbrochene Murmeln der Natur sind.49

Knox’ Modell geht über eine Bestimmung von Monstrositäten als Murmeln der Natur bereits hinaus: In seiner radikalen Einheitstheorie greifen die Monstren sogar entscheidend in die Evolution ein. Wenn Missbildungen im achtzehnten Jahrhundert eine Geräuschkulisse darstellen, also die unendliche Menge denkbarer Fälle, in denen keine präzise Gattungsinformation artikuliert wird, so sie bei Knox diejenigen materiellen Bestandteile der Naturordnung, an denen die immaterielle Kraft der Evolution ablesbar wird. Bei Maupertuis scheint die Gattung das Besondere und die nicht überlebensfähige Zwischenform der Regelfall, der dadurch weniger interessant und zur ambienteähnlichen Partizipante der Evolution wird – für Knox ist eine Gattung nichts, was in der Natur überhaupt vorkäme, und die Missbildung ist eine Manifestation der Grundkraft der Deformation. Beide Sichtweisen finden Eingang in Darwins Evolutionstheorie. Monstrosität begegnet einmal, im Kontext natürlicher Selektion, explizit als belangloses Intermezzo nicht überlebensfähiger Devianz, das die Natur murmelt und anschließend vergisst, und später, im Kontext sexueller Selektion, implizit geradezu als Agens der Evolution. Diese zweite, implizite Konzeption von Monstrosität in Darwins Evolutionstheorie geht nicht auf einen direkten persönlichen Einfluss von Knox auf Darwin zurück; tatsächlich scheint Darwin Referenzen auf zu vermeiden.50 Expliziten Eingang in seine Überlegungen finden dagegen die teratologischen Studien Richard Owens, der als „British Cuvier“51 zunächst eine unplausible Figur für die Aufwertung von Monstrositäten ist. Mit Knox teilt er allerdings sowohl das Interesse am Tiger Arm als auch an Doppelmissbildungen.52 Wie bei Knox nehmen Missbildungen auch bei Owen diejenige Systemstelle innerhalb der Evolution ein, an der Neues entsteht. Eine Gesprächsnotiz Darwins bezeugt diesen Stellenwert der Monstrositäten bei Owen: Mr. Owen suggested to me, that the production of monsters (which, Hunter says owe their origin to very early stage) & which, follow certain laws according to species, present an analogy to the production of species.53

49  Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1974. S. 201. 50  Vgl. wiederum Evelleen Richards, Moral Anatomy. 51  Vgl. Nicolaas A. Rupke: Richard Owen. Biology without Darwin. Chicago 2009. S. 66.-68. 52  Beide interessieren sich beispielsweise zeitgleich für die bereits erwähnten Aztec Children. 53  Charles Darwin: On Evolution. The Development of Natural Selection. Hg. v. Thomas F. Glick und David Kohn. Indianapolis 1996. Notebook B. S. 63.



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Darwin nimmt also Owens Überlegung zur Kenntnis, die Evolution der Arten in Analogie zur Entstehung von Monstrositäten zu denken. Auf einen noch direkteren Einfluss der medizinischen Teratologie auf Darwin weist ein offenbar vielgelesenes Buch in seiner Bibliothek hin, nämlich Isidore Geoffroy St. Hilaires Abhandlung über die Geschichte der Missbildungen54, deren Untertitel Traité de tératologie die programmatische Erforschung von Missbildungen in der Tradition seines Vaters Etienne55 erstmals mit dem Begriff der neuen Disziplin belegt. Eine der zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen in Darwins Ausgabe, deren Mehrfarbigkeit auf wiederholte Lektüre hindeutet, bezieht sich auf eine Passage, in der Isidore Geoffroy erläutert, dass sich fast jede monströse Variation auf „retardment de developpment“ zurückführen lässt.56 Die dieser Seite zugeordnete handschriftliche Bemerkung Darwins auf den unbedruckten letzten Seiten des Buchs (die er vollständig mit Notizen beschrieben hat) besagt rätselhafterweise: „admits that arrests of Developmt does not apply to variation.“57 Mit diesem Missverständnis sind die zwei wichtigsten Abgrenzungen Darwins gegenüber der französischen Teratologie bereits bezeichnet: Darwins Modell setzt, erstens, an die Stelle der Monstrosität die Variation als Ergebnis gradueller Evolution und lässt, zweitens, das Konzept der Entwicklungshemmung nicht als universelle Erklärung für Neu- oder Fehlbildungen gelten, ohne dabei freilich Knox’ wilde Ablehnung zu teilen. Darwins Interesse gilt primär genetischer Variabilität, nicht modifikatorischer. Veränderungen des Organismus, die auf einmalige Zufälle, seien es Umweltereignisse oder Entwicklungsstörungen, zurückzuführen sind, interessieren ihn weniger als solche, die aus generationenübergreifenden Anpassungsprozessen resultieren. Sein Anliegen einer Rekonstruktion der allgemeinen Gesetze der Entwicklung der Arten kann deren exzentrische Ausnahmen nur am Rande untersuchen. Dennoch lässt sich der Einfluss beider Geoffroys, zumindest aber ein paralleles Interesse, an einer weiteren Bemerkung auf den letzten Seiten von Isidores Buch aufzeigen, die lautet: „in wild animals very few monstrosities“.58 Geoffroys Beobachtung, dass domestizierte Tiere ein reichhaltigeres Spektrum an Missbildungen aufweisen, findet eine Entsprechung

54  Isidore Geoffroy St. Hilaire: Histoire générale et particulière des anomalies de l’organisation chez l’homme et les animaux. Paris 1832. Supplementary Material in Charles Darwin’s Copy. Biodiversity Heritage Library Nr. 106438. 55  Den älteren Geoffroy St. Hilaire bezeichnet Darwin, neben Buffon und Lamarck, im Vorwort zum Ursprung der Arten als Vordenker der Evolutionstheorie. Vgl. Charles Darwin [1859]: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. London 1869. S. VI. 56  Entwicklungshemmung ist hier in eben der Bedeutung verwendet, wie sie im Kapitel 3 dieser Arbeit anhand Meckels und des älteren Geoffroy herausgearbeitet wurde. 57  Biodiversity Heritage Library, Supplementary Material. Notiz auf den letzten Seiten von Darwins Ausgabe. 58  Biodiversity Heritage Library, Histoire. Anmerkung auf S. 355 von Darwins Exemplar.

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in Darwins eigenen Untersuchungen zum Thema genetischer Variation in The Origin of Species, die mit eben dieser Begründung bei Haustieren beginnen und lange verweilen.59 Domestizierte Arten sind missbildungsanfälliger, geben aber auch generell wertvolle Hinweise auf die Entstehung von Variation, weil in der Zucht einzelne Merkmale gezielt produziert und reproduziert werden. In The Origin of Species verwendet Darwin den Begriff des Monströsen als Bezeichnung für radikale Fälle von „single variation“, die er andernorts gemäß dem viktorianischen Sprachgebrauch und in der Tradition des lusus naturae auch als „sports“ beschreibt. „Monstrosity“ wird an prominenter Stelle definiert, nämlich im Zuge einer Darstellung von Definitionsschwierigkeiten, die die Begriffe „species“ und „variation“ betreffen. Der Begriff der Monstrosität stellt demnach eine ähnliche definitorische Herausforderung dar wie der der Art oder Gattung: No one definition has as yet satisfied all naturalists; yet every naturalist knows vaguely what he means when he speaks of a species. Generally the term includes the unknown element of a distinct act of creation. The term ‚variety‘ is almost equally difficult to define; but here community of descent is almost universally implied, though it can rarely be proved. We have also what are called monstrosities; but they graduate into varieties. By a monstrosity I presume is meant some considerable deviation of structure in one part, either injurious to or not useful to the species, and not generally propagated.60

Der Dreischritt von Gattung, Art und Monstrosität deutet zunächst ein starkes Interesse an Missbildungen im Rahmen von Origin of Species an. Darwin distanziert sich jedoch über den Zusatz „I presume“ bereits von der angegebenen Begriffsverwendung. Aus dem Adjektiv „considerable“ spricht eine weit fortgeschrittene Banalisierung der monströsen Deformation, die nicht contra naturam ist, nicht aufsehenerregend oder skandalös, sondern schlicht noch beachtlich und zudem recht beliebig – daher das fast herablassend unbestimmte Numeralium „some“. Von Knox’ polemischem Plädoyer für die Integration der Monstrositäten in die Reihe gesetzmäßiger Phänomene der Evolution trennt diese Sichtweise ihre betonte Sachlichkeit: Monstrositäten sind von Spielarten einer Gattung auch bei Darwin nur graduell unterschieden. Allerdings drückt er Skepsis gegenüber der generellen Tauglichkeit des Begriffs aus. „Variations“, ebenso wie „deviations“ oder die seltener verwendeten „deformations“ teilen in Darwins Verwendung mit Monstrositäten die bereits in der Teratologie beobachtete begriffliche Unschärfe: Sie bezeichnen sowohl den Vorgang der Abweichung als auch den abweichenden Organismus oder das abweichende Charakteris­tikum. Darwins Konzept der Abweichung und das teratologische Konzept des Monströsen trennt dagegen der Grad der bezeichneten Devianz. Monstrositäten als unvermittelt auftauchende, signifikante Veränderungen des Erscheinungsbildes eines Organis-

59  Darwin, Origin of Species, S. 14–45. 60  Darwin, Origin of Species, S. 44.



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mus können in Darwins Verständnis der natürlichen Selektion keine tragende Rolle spielen, weil es auf der gradualistischen Annahme generationenübergreifender, lang­ wieriger Anpassungsprozesse basiert: Natural selection can act only by the preservation and accumulation of infinitesimally small inherited modifications, each profitable to the preserved being; and as modern geology has almost banished such views as the excavation of a great valley by a single diluvial wave, so will natural selection, if it be a true principle, banish the belief of the continued creation of new organic beings, or of any great and sudden modification in their structure.61

Mit der gradualistischen Stoßrichtung von The Origin of Species ist eine skandalöse Umwälzung, wie sie ein monströser Körper darstellt, nicht vereinbar. Dies dokumentiert die Analogie zur Flutwelle: Dass sich Außergewöhnliches in der Natur ereignen kann, bestreitet Darwin nicht. Um dauerhaft Spuren zu hinterlassen, muss es sich aber wiederholen und stabilisieren, seinen Charakter des Außergewöhnlichen also verlieren. Entsprechend plausibel scheint Mark Blumbergs Behauptung: „Darwin himself had explicitly considered and rejected any role for monsters in his evolutionary scheme“.62 Auch die Lektüre von The Descent of Man bestätigt zunächst eine untergeordnete Bedeutung des Monströsen: Monstrosität und Variation weisen auch hier nur graduelle Unterschiede auf. Entsprechend eignet bei Darwin dem Monströsen keine Skandalfunktion. Missbildungen sind nicht, wie für Étienne Geoffroy St. Hilaire, eigenständiger epistemischer Gegenstand, der eigene Erklärungsmuster erforderlich machen würde. Darwin greift dessen Theorie der Entwicklungshemmung zwar auf, verwendet sie aber dezidiert nicht als universelles Modell der Erklärung für Monstrositäten, sondern als ein Modell der Erklärung von Variation (neben der direkten Einwirkung von Umwelteinflüssen, der Nutzung oder Nichtnutzung einzelner Körperteile und entsprechender Veränderung korrelierter Körperteile, etc.). Dieses Modell erklärt auch einige Monstrositäten: „Various monstrosities come under this head; and some, as a cleft-palate, are known to be occasionally inherited“.63 Als Beispiel für Missbildung aufgrund einer Entwicklungshemmung verwendet Darwin allerdings fast demonstrativ nicht den Wolfsrachen oder die – offenbar sorgfältig studierten – dominant körperlichen Missbildungen aus Les lois et les causes, sondern, in der Tradition John Lockes, „microcephalous idiots“ als Beispiel zugleich körperlicher und geistiger Retardation. Ohne den Aspekt der Entwicklungshemmung allzu stark zu machen, gelingt ihm so allein durch seine Beispielauswahl, den Eindruck einer schillernden, extravaganten Monstrosität zu vermeiden. An ihre Stelle tritt der Eindruck eines traurigen

61  Darwin, Origin of Species, S. 95–96. 62  Mark Samuel Blumberg: Freaks of Nature. What Anomalies Tell Us about Development and Evolution. Oxford und New York 2009. 63  Charles Darwin [1871]: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. London 2004. S. 54.

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Zurückbleibens oder Verkümmerns von Gattungseigenschaften.64 Die fast demonstrative Lustlosigkeit Darwins im Umgang mit dem Begriff der Monstrosität lässt sich also auch jenseits jeder politischen Problemlage erklären als Desinteresse gegenüber einer Form der Variation, deren erratischer Charakter sie von den problemorientierten Adaptionsprozessen natürlicher Selektion zunächst auszunehmen scheint.

6.4 Abweichung und sexuelle Selektion Gegen ein solches systembedingtes Zurücktreten der monströsen Deformation in der Evolutionstheorie zugunsten der Variation lässt sich eine weitere Anmerkung Darwins in seiner Geoffroy-Ausgabe lesen, die Monstrositäten implizit einen erheblichen Stellenwert zuweist. Die Anmerkung bezieht sich auf reproduktionsfähige DoppelMissbildungen, die nach Geoffroy drastisch in der Minderzahl sind, und lautet: „but then it is th[e] one perfect that breeds“. Im Sinne ihres Verfassers gelesen besagt die Anmerkung, dass monstres doubles sich nur im Ausnahmefall fortpflanzen. Aber sie kann auch als Kommentar zum Verhältnis von Missbildung und Gattung gelesen werden: Die überlebensfähige Gattung wäre demnach die Ausnahmeerscheinung des einen perfekten Exemplars, das sich fortpflanzt, die große Mehrzahl an denkbaren, nicht perfekten anatomischen Bildungen wären nicht überlebensfähige Organismen, die Zwischenstadien zu den existierenden Arten darstellen.65 Für Darwins Verständnis von Monstrositäten scheint die Frage nach ihrer Fortpflanzungsfähigkeit zentral. Entsprechend ist ihr hauptsächlicher Verhandlungsort nicht seine frühe Abhandlung über natürliche Selektion, sondern vor allem der zweite Teil von Descent of Man, der sich mit sexueller Selektion befasst und standardmäßig Ausgangspunkt der Rekonstruktionsversuche einer „Darwinschen Ästhetik“ ist.66 Monstrositäten dienen im ersten Teil von Descent of Man zunächst, wie bereits bei Knox, als Argumentationshilfe für die Hypothese ausgeprägter Analogien zwischen den Arten, die auch den Menschen einschließt:

64  Vgl. Darwin, Descent of Man, S. 58. 65  Die Ähnlichkeit dieses Gedankens zum „Murmeln de Zwischenstufen“ in Foucaults MaupertuisInterpretation ist ideengeschichtlich wohl kein Zufall. Arthur Lovejoys Studie über die Idee einer lückenlosen Kette der Arten, in der jedes Wesen mit jedem verwandt ist, situiert Darwins Interesse für solche untergegangenen oder gar nicht erst überlebensfähigen Zwischenglieder in eben dieser Tradition. Vgl. Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. Cambridge/Mass. 1976. S. 235–236. 66  Randy Thornhill: Darwinian Aesthetics. In: Charles B. Crawford und Dennis L. Krebs: Handbook of Evolutionary Psychology. Ideas, Issues, and Applications. Mahwah 1998. Kritik an der Verwendung des Ästhetik-Begriffs in darwinistischen Modellen, die Fitness und Schönheit umstandslos überblenden, übt Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M. 2003. S. 228.



Abweichung und sexuelle Selektion 

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Monstrosities, which graduate into slight variations, are likewise so similar in man and the lower animals, that the same classification and the same terms can be used for both, as has been shewn by Isidore Geoffroy St. Hilaire.67

Monstrositäten sind hier ein extremer Ausdruck von variability, deren Gesetze für Mensch und Tier gleichermaßen gelten. Darwin legt ausführlich dar, in wie vielfachem Sinne sich Menschen unterscheiden können – in Bezug auf Länge der Gliedmaßen oder Form des Gesichts, Struktur der Zähne oder Muskeln. Er rekapituliert die Gesetze, nach denen sich Variation vollzieht68, und gelangt zu dem Ergebnis: „All these so-called laws apply equally to man and the lower animals; and most of them even to plants.“69 Er ruft seinen Lesern zugleich ins Gedächtnis, dass kein Körper den Lehrbuchbeschreibungen gleicht und belegt dies mit der hohen Zahl von „abnormalities“ und „deviations“ in voll funktionsfähigen und für den anatomischen Laien unauffälligen Körpern.70 Gemeint sind körperliche Abweichungen – die Unterschiede bei geistigen Fähigkeiten, zwischen Individuen wie zwischen verschiedenen Ethnien, hält Darwin für so „notorious“71, dass sie keiner weiteren Diskussion bedürfen. Anomalien sind Kennzeichen für Individualität und von bloßen Variationen innerhalb einer gegebenen Norm nur graduell unterschieden. Wenn auch Monstrosität nur eine Form von Variation ist, können drastische anatomische Abweichungen keinen Platz außerhalb der Gattungen erhalten, sondern werden als Extremwert innerhalb eines Systems kleinster gradueller Verschiebungen und Hybridisierungen gefasst. Hybride als Variationen, die aus Fällen sexueller Selektion über Gattungsgrenzen hinweg resultieren, sind in Descent of Man entsprechend prominenter als Monstrositäten, die nur als irrtümliche Zuschreibung an Hybridität auftauchen: Independently of fertility, the characters presented by the offspring from a cross have been thought to indicate wether or not the parent-forms ought to be ranked as species or varieties; […] I have come to the conclusion that no general rules of this kind can be trusted. The ordinary result of a cross is the production of a blended or intermediate form; but in certain cases some of the offspring take closely after one parent-form, and some after the other. This is especially apt to occur when the parents differ in characters which first appeared as sudden variations or monstrosities.72

Darwin wendet sich gegen die Unterscheidung von Arten und Varietäten auf Basis der  körperlichen Erscheinung von Nachkommen, die das Resultat von Kreuzungen

67  Darwin, Descent of Man, S. 48. 68  Vgl. bereits Charles Darwin: Variation of Animals and Plants under Domestication. London 1868. Bd. 2, v. a. Kap. 22 und 23. 69  Darwin, Descent of Man, S. 45. 70  Darwin, Descent of Man, S. 44–45. 71  Darwin, Descent of Man, S. 45. 72  Darwin, Descent of Man, S. 201.

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 Perfektion und Caprice

­ arstellen. Solche Kreuzungserscheinungen, die mal phänotypisch einem der Elternd teile gleichen, mal eine Mischform darstellen, lassen keine Aussage darüber zu, ob die ­Eltern Variationen der gleichen Gattung darstellen oder unterschiedlichen Gattungen angehören. Die Nüchternheit dieser Beobachtung steht in hartem Kontrast zu ihrer politischen Brisanz, die sich erst aus ihrem Kontext erschließt: Darwin diskutiert als Hybride nicht Variationen der Fruchtfliege, sondern menschliche mulattoes.73 Von der Annahme einer Einheit der menschlichen Gattung hängen wesentliche ethische und politische Fragen seiner Zeit ab, vor allem die Legitimität von Sklaverei und Kolonialherrschaft. Dabei legt Darwin deutliche Vorsicht im Umgang mit diesem heiklen Gegenstand an den Tag. So führt er einen „supposed naturalist“ ein74, der gegenüber den historischen und politischen Dimensionen der Frage nach den menschlichen Ethnien ideal unvoreingenommen ist, „who had never before seen a Negro, Hottentot, Australian, or Mongolian“.75 Die Frage nach der Einheit der menschlichen Gattung beantwortet Darwin dezidiert als naiver Naturalist. Hybride selbst, und nach Darwin insbesondere solche, die Monstrositäten ähneln, sind nur im Sonderfall reproduktionsfähig. Werden sie mit einem Vertreter einer der beiden Gattungen der Elterngeneration gekreuzt, sind wahrscheinliche Resultate entweder eine Rückanpassung der Nachkommen an eine der beiden Gattungen oder ein vollständiges Verschwinden der hybriden Merkmale, indem sich der Phänotyp des anderen Elternteils durchsetzt. Ein kontinuierliches Absorptionsverhältnis in diesem Sinne besteht nach Darwin auch zwischen nordamerikanischen „mulattoes“ und „negroes“. Darwin verwirft dennoch die Annahme, dass Menschen unterschiedlicher Abstammung als Angehörige unterschiedlicher Gattungen zu betrachten seien; vor allem weist er die Hypothese zurück, dass die geringere Lebenskraft von „mulattoes“, von der er allerdings ausgeht76, einen Beweis darstellt für die „distinctness“ der ­Elterngattungen. Vielmehr stellt er den graduellen Charakter der Unterschiede zwischen menschlichen Ethnien heraus77. Menschliche Hybriden gibt es nicht; gemäß der Bestimmung von Monstrosität als irrtümlicher Zuschreibung an Hybridität, gibt es keine Menschenmonster und nicht einmal Mischwesen, die mit ihnen verwechselt

73  Das entsprechende Kapitel in Descent of Man heißt „On the Races of Man“ und zitiert Knox mit seiner gleichnamigen Schrift gleich eingangs, allerdings wenig affirmativ, als Befürworter der Hypothese, dass die menschlichen „Rassen“ unterschiedlichen Ursprungs sind. 74  Darwin, Descent of Man, S. 203. 75  Darwin, Descent of Man, S. 196. 76  Bei Darwin heißt es: „The inferior vitality of mulattoes is spoken of in a trustworthy work as a well-known phenomenon“ (Darwin, Descent of Man, S. 200). Es handelt sich bei der Quelle um Militärstatistiken, deren Eindeutigkeit möglicherweise mit dem prekären sozialen Status von „mulattoes“ auch innerhalb militärischer Strukturen im neunzehnten Jahrhundert zusammenhängt. 77  Dieser Beobachtung verleiht Darwin großen Nachdruck: Die gleiche Formulierung „they graduate into each other“ taucht dreimal in schneller Folge auf, Darwin, Descent of Man, S. 203–204.



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werden könnten.78 In den hier untersuchten literarischen Entwürfen des neunzehnten Jahrhunderts wird Monstrosität primär unter dem Gesichtspunkt möglicher Menschenmonster verhandelt, als des sozial problematischsten und philosophisch attraktivsten Falls einer Verunsicherung der Gattungsgrenzen. Anders als bei Hoffmann, Poe oder Maupassant vermeidet Darwin, auch in The Descent of Man, Monstrosität als singuläre, skandalöse Abweichung beim Menschen. Die Begriffe Deformation, Mutation, selbst Variation und Hybrid, treten, in Kombination mit verstärkenden Adjek­tiven wie „considerable“, an die Stelle der „monstrosity“. Die Wahrnehmung einer grundlegenden Monstrosität in der Entwicklung der Arten gilt es gerade zu überwinden: The belief that animals so distinct as a monkey, an elephant, a humming-bird, a snake, a frog and a fish, &c., could all have sprung from the same parents, will appear monstrous to those who have not attended to the recent progress of natural history. For this belief implies the former existence of links binding closely together all these forms, now so utterly unlike.79

Die Zuschreibung von Monstrosität, an einzelne Hybride wie an den gesamten Prozess der Evolution, ist also Resultat von Unkenntnis. Dies bedeutet allerdings gerade keinen Verzicht auf Figuren radikaler physischer Abweichung. Drastische Deformationen tauchen in einem gänzlich anderen Kontext als dem der Vermischung von Ethnien prominent auf, nämlich in Darwins Theorie der sexuellen Selektion. Schon in The Origin of Species finden sich Bemerkungen über markant abweichende körperliche Merkmale, die wegen ihrer offensichtlichen Hässlichkeit nicht als ornamentale Formen bezeichnet werden können.80 Dabei stellt Darwin verwundert fest, dass es eine Klasse phänotypischer Merkmale zu geben scheint, die weder als „weapons“ noch als „charms“ funktional besetzbar scheinen, also weder Überlebensfähigkeit dokumentieren noch als offensichtlich schönes Ornament eine leicht einsichtige ästhetische Präferenz des anderen Geschlechts bedienen: Yet, I would not wish to attribute all such sexual differences to this agency [gemeint ist die Unterteilung in weapons und charms, JNH]: For we see peculiarities arising and becoming attached to

78  Darwins Darstellungen nicht nur von Variation, sondern auch von Hybridität vermeiden den Eindruck des Absonderlichen dezidiert. Er verweist gerade im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsfähigkeit von Hybriden auf die Existenz einer „perfekten Serie“ von vollständig fruchtbaren bis zu vollständig sterilen Organismen. Als Beispiel für Hybridität nennt er das Maultier, wenig monströs, steril, aber gesund. Vgl. Darwin, Descent of Man, S. 203. 79  Darwin, Descent of Man, S. 185. 80  Zwischen beiden Modellen der sexuellen Selektion, d. h. zwischen der kurzen Skizze von 1859 und dem ausführlichen Entwurf von 1871 liegt natürlich eine Zäsur in Darwins Verständnis ihrer Bedeutung, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann. Revidiert wird, grob gesagt, in The Descent of Man die folgende Grundannahme der notwendigen Nützlichkeit überlebensfähiger Merkmale: „[N]ature cares nothing for appearances, except in so far as they may be useful to any being.“ Vgl. Darwin, Origin of Species, S. 83.

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 Perfektion und Caprice

the male sex in our domestic animals (as the wattle in male carriers, horn-like protuberances in the cocks of certain fowls, &c.), which we cannot believe to be either useful to the males in battle, or attractive to the females. We see analogous cases under nature, for instance, the tuft of hair on the breast of the turkey-cock, which can hardly be either useful or ornamental to this bird; – indeed, had the tuft appeared under domestication, it would have been called a monstrosity.81

Der letzte Satz deutet an, dass sich der Begriff der Monstrosität nur auf Haus- und Zuchttiere bezieht und keine natürlichen Phänomene beschreibt. Ein solches Definitionskriterium taucht allerdings nicht in Darwins oben zitiertem Dreischritt von ­species, variation und monstrosity auf. Und auch die beiden Beispiele für wilde bzw. gezüchtete Auffälligkeiten sind nicht überzeugend im Sinne einer solchen Gegenüberstellung zu lesen: Das mit Abstand auffälligste Merkmal des männlichen Truthahns, der hier als Wildtier firmiert, ist nicht das Haarbüschel auf seiner Brust, sondern jener längliche, rote Hautlappen, der sich in der Brutzeit türkis verfärbt – also ein deplatzierter und höchst auffälliger „wattle in male carriers“. Truthähne sind seit etwa 2500 Jahren Haustiere82 – bei den beiden Beispielen handelt es sich also nicht gerade um Pole einer Opposition von nicht-klassifizierbarem Merkmal bei Wildtieren und Monstrosität bei Haustieren. Darwins ungewöhnlich unscharfe Verwendung weist den Begriff der Monstrosität als verdrängten Subtext der „peculiarities“ aus: Wenn das Merkmal eines Wildtieres dann als monströs bezeichnet würde, wenn es sich an einem Haustier befände, das Wildtier aber ein Haustier ist, bedeutet dies, dass die Bezeichnung monströs nicht falsch ist, sondern von Darwin strategisch gemieden wird. Die Beschreibung der vorliegenden „peculiarities“ korrespondiert allerdings tatsächlich eng mit zwei von Darwins drei Bestimmungen der Monstrosität als „some considerable deviation of structure in one part, either injurious to or not useful to the species, and not generally propagated“.83 Die Kriterien der deutlichen Abweichung und der Nutzlosigkeit sind erfüllt, nicht dagegen das Kriterium der individuellen Extravaganz. Es gibt, so stellt Darwin bereits in Origin of Species fest, so etwas wie gattungskonstitutive monströse Merkmale. Darwin trennt dabei ornamentale und monströse gattungskonstitutive Formen nach der Plausibilität, mit der sie aus menschlicher Sicht eher als schön oder erstaunlich beschrieben werden können. Diejenige Komponente, die die „peculiarities“ monströs macht, besteht in Staunen, Ekel, Belustigung, also in der affektiven Reaktion des sexuell desinteressierten menschlichen Betrachters. Diesen Besonderheiten widmet Darwin in Descent of Man verstärkte Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den Deformationen und Variationen, die er in seinem Modell der natürlichen Selektion als Bestandteil jedes normalen Organismus verhan-

81  Darwin, Origin of Species, S. 90. 82  Darwin selbst diskutiert den Haustruthahn ausführlich in seiner Domestikations-Studie. Bereits vor 2300 Jahren bei den Mayas, aber auch in Europa schon ab dem frühen sechzehnten Jahrhundert ist die Domestikation von Truthähnen dokumentiert. Vgl. Eintrag „Turkey“ in der Encyclopedia Britannica. 83  Darwin, Origin of Species, S. 44.



Abweichung und sexuelle Selektion 

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delt, eignet dabei seiner Darstellung von Körperornamenten, gerade menschlichen, jenes Moment von Kapriziösität, Skurrilität und Bizzarerie, das die typische Wahrnehmung des Monströsen im neunzehnten Jahrhundert bestimmt. Der wenig zen­ tralen Stellung der Monstrosität innerhalb seiner Diskussion natürlicher Selektion steht eine komplementäre Aufwertung derselben in der Diskussion der sexuellen Selektion, unter dem Begriff des Ornaments, gegenüber. Darwin verschiebt im zweiten Teil von The Descent of Man kurzzeitig den Fokus von genetischer auf modifikatorische Variation, nämlich in seiner Analyse künstlicher Körperornamentierungen. Sein Erstaunen gilt erheblichen Abweichungen des individuellen Phänotyps von einer westlichen Normalvorstellung der menschlichen Gattung, die noch dazu absichtlich herbeigeführt werden. Der Begriff der Monstrosität findet in Darwins Ästhetik keine Verwendung, dezidiert unnatürliche Deformationen finden sich dagegen in The Descent of Man in hoher Zahl, vor allem im Zusammenhang mit exotischen Schönheitsvorstellungen: In one part of Africa the eyelids are coloured black; in another the nails are coloured yellow or purple. In many places the hair is dyed of various tints. In different countries the teeth are stained black, red, blue, etc., and in the Malay Archipelago it is thought shameful to have white teeth ‚like those of a dog.‘ […] In the Old and New Worlds the shape of the skull was formerly modified during infancy in the most extraordinary manner, as is still the case in many places, and such deformities are considered ornamental. For instance, the savages of Colombia deem a much flattened head ‚an essential point of beauty’. With other nations the head is shaved, and in parts of South America and Africa even the eyebrows and eyelashes are eradicated. The natives of the Upper Nile knock out the four front teeth, saying that they do not wish to resemble brutes. Further south, the Batokas knock out only the two upper incisors, which, as Livingstone remarks, gives the face a hideous appearance, owing to the prominence of the lower jaw; but these people think the presence of the incisors most unsightly […] In various parts of Africa and in the Malay Archipelago the natives file the incisors into points like those of a saw, or pierce them with holes, into which they insert studs.84

Den deformierenden Charakter dieser Maßnahmen bezeichnet Winfried Menninghaus als „Selbst(ver)formung“.85 Deformationen in Ornamentfunktion spielen eine Schlüsselrolle in Darwins Theorie des attraktiven Körpers: Aus der zitierten Bestandsaufnahme heraus – die im Original noch wesentlich länger ist – postuliert Darwin innerhalb seiner Diskussion sekundärer menschlicher Geschlechtsmerkmale allgemeine Funktionen der Verzierung für die sexuelle Selektion, ohne zunächst auf unauffäl­ ligere Beispiele im westlichen Sinne klassischer Selbstdekoration überhaupt einzu­ gehen. Alle hier aufgeführten Modifikationen des eigenen Äußeren lassen sich zwei gegenläufigen Tendenzen zuordnen, dem Versuch der Vermeidung oder dem der Verstärkung animalischer Attribute. Sowohl die Annäherung an tierische Charakteristika,

84  Darwin, Descent of Man, S. 641–642. 85  Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Berlin 2011. S. 66–68.

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 Perfektion und Caprice

etwa in Form krallenartig gefeilter Nägel, als auch die Entfernung bestimmter als tierisch empfundener Komponenten der menschlichen Anatomie wie etwa dominanter Schneidezähne können demnach attraktivitätssteigernd wirken. Nun hätte Darwin dieses Material auch ohne Reiseberichte und ethnologische Studien zusammentragen können. Tätowierungen und Körperbemalungen, vor allem aber die scheinbar arbiträren Verstümmelungen des eigenen Körpers zur Betonung der eigenen sexuellen Attraktivität sind feste Bestandteile der Freak Shows des neunzehnten und noch des zwanzigsten Jahrhunderts, in Barnum’s Grand Scientific and Musical Theater und in den zahllosen Ausstellungen in Europa und Nordamerika.86 Zwei Publikumsrenner dieser Shows, die auf natürliche Missbildungen zurückgreifen, entsprechen Darwins Faszinationstypen der geleugneten und der übersteigerten Animalität: Die „Venus der Hottentotten“, eine Frau südafrikanischer Herkunft mit ungewöhnlichem Körperbau und vor allem stark ausgeprägtem Gesäß, wird, begleitet von einem Narrativ über fehlgebildete Genitalien, ab Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in Käfigen in London und Paris ausgestellt und ausdrücklich dazu angehalten, animalisches Verhalten an den Tag zu legen.87 Umgekehrt wurden die mikrozepha­ lösen Geschwister Maximo und Bartola um 1848 in den USA ausgestellt als Abkömmlinge einer degenerierten aztekischen Oberschicht, deren Deformation gerade auf unnatürliche, nicht animalische Qualitäten zurückgeführt wird.88 Natürlich handelt es sich bei mikrozephalöser Rückbildung des Kopfes um ein Krankheitsbild und bei der Entfernung von Schneidezähnen nach Darwin um ein modisches Paradigma. Beide finden sich aber, wie bereits einleitend anhand von Benjamins Modell der Mode und Foucaults Vorlesungen über die Anormalen konstatiert wurde, im neunzehnten Jahrhundert regelmäßig einander zugeordnet. Die Faszinationstypen der Freak Shows stellen, im Sinne einer nicht mehr attraktiven, sondern nur noch bestaunenswerten Übertreibung, den Möglichkeiten modischer Selbstgestaltung einen Grenzwert zur Verfügung. Der Unterschied zwischen monströsen und ornamentalen Ausprägungen fehlender oder überschüssiger anatomischer Merkmale ist dabei nicht durch natür­ liche bzw. unnatürliche Entstehung markiert, sondern über den Grad ihrer Übertreibung, d. h. über ihre Kompatibilität oder Inkompatibilität mit einer dominanten Schönheitsnorm. Gegenüber der einfachen Konstellierung von Freak und Zuschauer in diesen Ausstellungen insistiert Darwins Darstellung auf einer prinzipiellen Austauschbarkeit von beobachtender und beobachteter Instanz, etwa, wenn er notiert: „The wife of the chief of Latooka told Sir S. Baker that Lady Baker ‚would be much improved if she would extract her four front teeth from the lower jaw’“.89 Radikale

86  Vgl. Fiedler, Freaks, S. 274–276. 87  Vgl. Stammberger, Monster und Freaks, S. 42–43. 88  Vgl. Nadja Durbach: The Spectacle of Deformity. Freak Shows and Modern British Culture. ­Berkeley und Los Angeles 2010. S. 115–146. 89  Darwin, Descent of Man, S. 642. Diese mehrfach wiederholte Geste der Perspektivierung kultu-



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Abweichungen von bestehenden ästhetischen Normalvorstellungen werden perspektiviert als Abweichungen von kulturell kontingenten ästhetischen Präferenzen. Mit kulturenübergreifender Gültigkeit formuliert Darwin einen Imperativ der ornamentalen Form: Hardly any part of the body, which can be unnaturally modified, has escaped. The amount of suffering thus caused must have been extreme, for many of the operations require several years for their completion, so that the idea of their necessity must be imperative.90

Künstlichen Körper-Ornamenten eignet der paradoxe Status einer unnatürlichen Konstante der menschlichen Natur: Jede Zuwiderhandlung oder Unterlassungshandlung gegen einen natürlichen Imperativ der Ornamentierung müsste ihrerseits unnatürlich besetzt sein. Dieser Gleichzeitigkeit von Natürlichkeit und Unnatürlichkeit entspricht die ausbleibende Differenzierung von (fremd)kultureller Norm und individueller Extravaganz, die fließende Übergänge zwischen individuellen und kollektiven „unnatürlichem“ Selbstentwurf nahelegt. Darüber hinaus suggeriert die Nähe von Darwins „caprices“ zu den „Monstrositäten“ der Freak Shows aber auch eine Kontinuität zwischen ornamentaler und monströser Form. Übertreibungen, die aus einer bestimmten kulturellen Perspektive monströs wirken, können aus einer anderen Perspektive ästhetischen Normalvorstellungen als ornamental entsprechen. Auf Humboldt führt Darwin die folgende Feststellung zurück: „Man admires and often tries to exaggerate whatever characters nature may have given him“.91 Diese Tendenz zur Übertreibung rückt ornamentale Selbstgestaltung in die Nähe der freiwilligen Selbstmonstrifizierung: Wenn jedes natürliche Charakteristikum überboten und übertrieben wird, setzt sich der individuelle Organismus gegenüber der Gattung in ein Verhältnis von möglichst weitreichender Abweichung. Nach Darwin unterscheidet sich Variation von Monstrosität nur graduell; wenn also deutlich erkennbare Abweichung und Extravaganz imperativisch gefordert sind, grenzt das Resultat notwendig an Monstrosität. Exzentrische Ornamente sind demnach Formkorrelate einer Abfolge von Übertreibungs- und Überbietungsgesten. Die kühle, fast kulturrelativistische Perspektive auf Möglichkeiten der Steigerung individueller körperlicher Attraktivität lässt sich als demonstrativer Bruch mit eurozentrischen Exotisierungen der Erscheinungsformen kultureller Alterität verstehen und mithin als Fortschritt in der Verwissenschaftlichung des Sprechens über monströse Formen. Für die vorliegende Studie scheint die interessantere Perspektive, gesteigerte sexuelle Attraktivität des Trägers „unnatürlicher“

reller Normen findet Entsprechungen in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, etwa in Herman Melvilles satirischer Spiegelung von Queequegs Blick auf die westliche Zivilisation und dem Blick der westlichen Zivilisation auf Queequeg in Moby Dick. 90  Darwin, Descent of Man, S. 642. 91  Darwin, Descent of Man, S. 351–352.

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­ rnamente und seine Ausstellbarkeit als monströser „freak of nature“ als Bestandteil O derselben Faszination radikaler Devianz zu lesen. Darwin bezieht die Tendenz zur Übertreibung in einem kurzen Ausblick ausdrücklich auch auf westliche Mode: „In the fashions of our own dress we see exactly the same principle and the same desire to carry every point to an extreme; we exhibit, also, the same spirit of emulation.“92 Gegenstand dieses Wetteiferns ist nicht die durchschnittliche Erscheinung oder diejenige, die vom Standpunkt einer gerade herrschenden Norm maximal nachvollziehbar ist, sondern die „extreme“, d. h. individuell extravagante Erscheinung. Der paradoxe Status extremer Ornamentierung als Ausdruck einer natürlichen Tendenz zur unnatürlichen Übertreibung resultiert aus einer (natürlichen) Tendenz der ständigen Überbietung und Überwindung natürlicher Gegebenheiten, in der sich wiederum Mode und Monstrosität überschneiden. Natürliche Selektion, darin ist Mark Blumberg Recht zu geben, basiert nicht auf der Idee der Monstrosität. Sexuelle Selektion aber wird gerade über nicht problem­ lösende Merkmale gesteuert, deren Skurrilität in Darwins Beschreibungen sich vom viktorianischen Verständnis von monster nur graduell unterscheidet. Die Monstrositäten, die der junge Darwin trotz Owens eindringlichem Hinweis nicht als Modellfall natürlicher Selektion zu sehen beschließt, tauchen als ornamentale „capricious changes of customs and fashions“93, ausdrücklich als Gemeinsamkeit von Mensch und Tier, in seiner Modellierung sexueller Selektion wieder auf. Sie werden in ein gänzlich anderes Feld der Evolutionstheorie eingeschrieben, als es Zolas Modell einer einfachen Kontinuität zwischen Mensch und Tier nahelegt, die sich über die Konstante eines Überlebens-Triebs herleiten lässt. Der „Zielkonflikt von natürlicher und sexueller Selektion“94 macht gerade jene Übertreibungen ornamentaler Formen, die Darwin als Kapriziösitäten der Natur bezeichnet, fassbar als Formkorrelate einer artenübergreifenden „love of novelty“95, die sexuelle Präferenzen an das Neue, Überraschende und Abwegige koppelt. Die Überschreitung eines vernünftigen Maßes an Ornamentierung vergrößert nicht nur die Fortpflanzungschancen des männlichen Pfaus, auch menschliche Reproduktion erscheint Darwin an die Figur der Transgression und Übertreibung gekoppelt: As the great anatomist Bichot long ago said, if every one were cast in the same mould, there would be no such thing as beauty. If all our women were to become as beautiful as the Venus de Medici, we should for a time be charmed; but we should soon wish for variety; and as soon as we

92 Darwin, Descent of Man, S. 651. 93 Darwin, Descent of Man, S. 116. Darwins mehrfache Verwendung der „Caprice“ als artenübergreifender Konstante in der sexuellen Selektion macht sein Modell anschlussfähig für die antiken Kodierungen von Monstrosität als Scherz der Natur. 94  Menninghaus, Versprechen der Schönheit, S. 80. 95  Darwin, Descent of Man, S. 556.



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had obtained variety, we should wish to see certain characters in our women a little exaggerated beyond the then existing standard.96

Der Wunsch nach polarisierender Übertreibung ist nach Darwin also stabiler als eine artspezifisch (oder kulturspezifisch) standardisierte ästhetische Präferenz. Attraktivität beruht aus evolutionärer Perspektive maßgeblich auf Übertreibung und jeweiliger Überwindung eines gegebenen Schönheitsideals. Das Monströse scheint bei Darwin, nachdem es in der natürlichen Selektion zur beachtlichen Abweichung degradiert wird, nur auf diesem Umweg und unter dem Begriff der Übertreibung oder „Caprice“ eine Funktion zu übernehmen, die ihr bei Geoffroy oder Knox zukommt: Die Funktion desjenigen Ortes in der Natur, an dem sich etwas Neues ereignet, das irreduzibel ist auf Umweltanpassungen. Kapriziösität ist dabei kein menschliches Alleinstellungsmerkmal: But not only can we partially understand how it is that man is from various conflicting influences rendered capricious, but the lower animals are, as we shall hereafter see, likewise capricious in their affections, aversions, and sense of beauty. There is also reason to suspect that they love novelty, for its own sake.97

Die „caprice“ beschreibt jene nicht voraussagbaren Unterschiede in den ästhetischen Urteilen, die den Unterschied zwischen ästhetischer Aufwertung und ästhetischer Disqualifikation, zwischen Verzierung und Missbildung, festlegen. Das Monströse bezeichnet dabei jenen Grenzwert, der in der Abfolge von Übertreibungen angestrebt wird, aber nicht erreicht werden darf, da er selbst nicht mehr attraktiv ist. Ornamentale und monströse Formen konvergieren in ihrer Tendenz zum Extrem und unterscheiden sich mit Blick auf die Reproduktionsaussichten ihrer Träger. Teratologie scheint bis Mitte des Jahrhunderts deshalb so bereitwillig Teratogenese zu werden, weil ein wissenschaftlicher Wert der Monstrosität vorausgesetzt wird (zumindest gibt Geoffroy das an). Bei Darwin begegnet erstmals explizit ein anderer Grund für eine wünschenswerte Produktion von radikaler Devianz, der einen Vorteil nicht für den (wissenschaftlichen) Betrachter, sondern für den abweichenden Organismus selbst darstellt: Ornamentale Übertreibung gattungsspezifischer Merkmale kann die eigene Attraktivität steigern. Monstrosität, in Descent of Man als ornamentale Deformation beschrieben, wird damit nicht epistemologisch, sondern ästhetisch aufgewertet. Die Stellung der Monstrosität in der Evolutionstheorie lässt sich auf drei höchst unterschiedliche kleine Nenner bringen: Sie ist erstens ein politisches Problem, zweitens im Sinne natürlicher Selektion nur graduell von Variation zu unterscheiden, und drittens im Rahmen sexueller Selektion eine kapriziöse Möglichkeit evolutionärer Veränderung.

96  Darwin, Descent of Man, S. 354. 97  Darwin, Descent of Man, S. 116.

7 Deviantes Self-Fashioning: Henry James 7.1 Radikale Devianz als ästhetisches Leitbild Literarische Körpermonster und Sittenmonster lassen sich als poetische Pendants zu wissenschaftlichen Konzeptionen äußerer und innerer Deformation in Teratologie und Psychiatrie beschreiben. Eine ähnlich deutliche Entsprechung ist zwischen Darwins eher impliziter Theorie des Monströsen und naturalistischen Poetiken trotz Zolas expliziter Bezugnahme nicht herstellbar. Die animalische Triebhaftigkeit der naturalistischen „menschlichen Bestien“ korrespondiert nicht mit der evolutionären Funktion des Monströsen als Grenzwert der ornamentalen Form. Darwins Verständnis der Selbst-(Ver)formung als radikale Caprice findet dagegen geradezu programmatische Entsprechungen in ästhetischen Modellen des neunzehnten Jahrhunderts, die vom Naturalismus denkbar weit entfernt sind, wie sich an drei prominenten Beispielen illustrieren lässt. De Sades Libertin-Figuren als klassische Sittenmonster der Aufklärung1 beziehen ihre diskursive Überlegenheit aus einer monströsen Sexualität. Als „monstre“2 des Juliette-Romans reißt Papst Pius einem gekreuzigten Jungen das Herz heraus, verzehrt es und ejakuliert dabei. Die Behauptung einer intellektuellen, moralischen und ästhetischen Überlegenheit dieser radikalen Form der Aufklärung gründet allerdings nicht auf der jeweiligen Handlung, sondern auf deren Diskursivierung. Die Monstrosität der Libertins aus Justine und Juliette konstituiert sich nicht primär über Vergewaltigung, Folter und Mord, sondern über die narrative Einbindung dieser Vorgänge in einen antichristlichen Überbau. Die Selbstbeschreibungen der Libertins als Gottmonster3 fungieren als negative Theodizee, dienen zugleich aber der narrativen Konstitution exzeptioneller und überlegener Individualität, also ebenso sehr dem Selbstentwurf wie dem philosophischen Argument. Tatsächlich lassen sich die Nachweise grenzenloser Handlungsfreiheit und die Nachweise unterbleibenden göttlichen Eingreifens innerhalb dieser Monologe kaum unterscheiden. Dezidiert bei einer ästhetischen Konzeption des Monströsen setzt Baudelaires Ästhetik der Perversion an, dessen Aufwertung des Bösen, Morbiden und Kranken in den Fleurs du mal eine Ästhetik des Monströsen auf zwei Ebenen zugrunde liegt. Ähnlich wie de Sade

1  Zu „Sade as the truth of Kant“ vgl. Slavoj Žižek: Kant and Sade. The Ideal Couple. In: lacanian ink 13 (1998). S. 12–25. Hier: S. 25; Jacques Lacan: Kant avec Sade. In: Ders.: Écrits 2. Paris 1971. S. 119–148; Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a. M. 1986; Pierre Klossowski: Sade, mon prochain. Paris 1967. Wie schon angedeutet, ließe sich eine Geschichte der Monstrosität im neunzehnten Jahrhundert unter anderen theoretischen Vorzeichen durchaus zentrieren um „Sade’s visions of perverted libertines creating monstrous hybrids or feeding a vicious force of nature“, so bei Julia Douthwaite: The Wild Girl, Natural Man, and the Monster. Chicago 2002. S. 205. 2  Donatien Alphonse François de Sade: Œuvres complètes. Bd. 9. Paris 1987. S. 207. 3  Vgl. Manfred Schneider, Gottmonster, S. 553.

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 Deviantes Self-Fashioning: Henry James

konzipiert Baudelaire einerseits männliche, intellektuell-künstlerische posture über die monströse Selbstbeschreibung: „Comme les anges à l’œil fauve“ nähert sich ein lyrisches Ich dem Bett einer Geliebten in Le revenant 4, von der Vergiftung weiblicher Gesundheit und Lebensfreude handelt À celle qui est trop gaie.5 Das Prosagedicht Le mauvais vitrier entwirft ein Modell motivlosen, abwegigen Handelns, das stark an Poes „perverseness“ erinnert6; die Figur des Dichters wird in Spleen et Idéal eingeführt als „dérision“ und „ce monstre rabougri“7, als grauenvolle Missgeburt, von der eigenen Mutter verflucht. Kritische Distanz zu diesem Dichterbild zeigt sich beim späten Baudelaire, der gegenüber Sainte-Beuve zugibt, die öffentliche Wahrnehmung seiner Person als Werwolf als kränkend zu empfinden8, obwohl sie als Konsequenz seiner öffentlichen Selbststilisierung gelten muss. Ebenso präsent wie diese Selbststilisierung ist seine Konzeption der grausamen Frau als Menschenmonster, nämlich als muse malade, géante, als Vampir oder grausames Tier.9 Baudelaires Poetik des Monströsen ist in höchstem Grade symmetrisch: Monströs wird nicht nur, in einer „pervertierte[n] Rhetorik des Teufels“10, das lyrische Ich, sondern regelmäßig auch sein angesprochenes Gegenüber und nicht selten seine gesamte Umgebung: „La vie fourmille des monstres innocents“11 heißt es in Mademoiselle Bistouri. Poesie ist nach Baudelaire der Prozess der Aufdeckung solch unschuldiger Monstrositäten (auch als „bizarreries“ bezeichnet), und zugleich, vergegenwärtigt man sich Baudelaires dämonische Selbst-Stilisierung, ein Vorgang von mimetischer Angleichung an eine monströse Umwelt.12 Exzeptionell-monströse Identität des Dichters und universell-monströse Bestimmung seiner Umwelt erscheinen in dieser Konstellation als Kehrseiten eines poetischen Prozesses der Annäherung von Ich und Welt, deren Gemeinsamkeit ihr verborgener Abweichungscharakter darstellt. Eine Warnung des Baudelaire-Lesers Nietzsche stellt ein Beispiel dar für einen poetisch-philosophischen Habitus, der mit einer sol-

4  Charles Baudelaire: Les Fleurs du mal. Hg. v. Jacques Dupont. Paris 1991. S. 109. Eine ambivalente Gleichzeitigkeit von dämonischer und animalischer Monstrosität ist im doppeldeutigen „fauve“ ausgedrückt – „fahl“ als Adjektiv, „Raubtier“ als Substantiv. 5  Baudelaire, Fleurs du mal, S. 196–197. 6  Charles Baudelaire: Sämtliche Werke. Franz.-Dt. Bd. 8 Hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois. München und Wien 1985. S. 136–139. 7  Baudelaire, Fleurs du mal, S. 60–62. 8  Baudelaire an Sainte-Beuve. Etwa 24. Januar 1862. In: Sämtliche Werke. Franz.-Dt. Bd. 3. München und Wien 1975. S. 46–47. 9  Baudelaire, Fleurs du mal, S. 65, 72, 77. 10 Alt, Ästhetik des Bösen, S. 227. 11  Charles Baudelaire: Petits poèmes en prose (le spleen de Paris). Hg. v. Marcel Albert Ruff. Paris 1969. S. 138. 12  Zum Wechselverhältnis von Monstrosität und poetischer Humanität vgl. Donald Aynesworth: Humanity and Monstrosity in Le Spleen de Paris. In: Romanic Review 73.2 (1982). S. 209–221. Zum Motiv des unschuldigen Monsters bei Baudelaire vgl. auch Marie Maclean: Narrative as Performance. New York 1988. S. 156.



Radikale Devianz als ästhetisches Leitbild 

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chen Mimesis an das Monströse spielt: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“13 Zentrale Philosopheme Nietzsches wie der dionysische Kunsttrieb oder die Überwindung der Moral legen nahe, dass es sich bei den Gegenständen seiner eigenen Betrachtungen um gerade solche Ungeheuer handelt14 und bei der ausgesprochenen Warnung eher um eine affirmative Besetzung und intellektuelle Aufwertung als um ein Verbot des ungeheuerlichen Denkens. Diesen Verdacht bestätigt die Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse (1886) eindrücklich: „Es scheint, daß alle großen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflößende Fratzen über die Erde hinwandeln müssen“.15 Die affirmative Besetzung monströsen philosophischen Denkens oder monströser dichterischer Weltaneignung bezeichnet dabei keineswegs eine gegenläufige ästhetikgeschichtliche Tendenz zu den hier ausführlicher diskutierten Texten. Der Goldschmied Cardillac ist Künstler in einem emphatischen Sinne, sogar „einer der kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seinesr Zeit“.16 Um sein kriminelles Genie zu überführen, bedarf es zugleich des poetischen Genies des Fräuleins von Scuderi, d. h. es wird eine doppelte Aufwertung des monströsen Cardillac zum privilegierten Gegenstand künstlerischer Reflexion und zum begnadeten Kunstschöpfer vorgenommen. Der Erzähler aus The Black Cat verkörpert eines der „primary faculties, or sentiments, which give direction to the character of Man“.17 Dieses menschliche Grundvermögen der Perversion soll eine Erweiterung menschlicher Erkenntnis und Erfahrung darstellen, für die Poe sowohl paradigmatischen Charakter reklamiert als auch Originalität: Poes Erzähler sind Vorläufer von Baudelaires perversem lyrischen Ich, das sich über die unschuldigen Monster seiner Umgebung zugleich erhebt und sich in ihnen wiederfindet. Bei Poe wie bei Hoffmann produziert der Überschuss an nicht-menschlichen, unmenschlichen oder übermenschlichen Qualitäten der Protagonisten den poetischen Effekt sich selbst überbietender, monströser Menschlichkeit. Ein historischer Entwicklungsvektor ließe sich allenfalls aus den moralischen Abwertungen monströser Subjektivität bei Hoffmann ableiten, die bei Poe ausbleiben und bei Nietzsche und Baudelaire geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Erkennbar ist allerdings eine durchgängige Aufwertung des Menschenmonsters

13  Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Berlin 1994. S. 71. 14  Analog beschreibt John Elbert Wilson den Begriff der „Monstrosität per defectum“ nach Nietzsche als emphatisches Auszeichnungs- und Alleinstellungsmerkmal, das aufgrund seines triebbesetzten Kritikvermögens allein Sokrates zukommt. Vgl. John Elbert Wilson: Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches. Berlin 1996. S. 65. 15  Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 71. 16  Hoffmann IV, S. 799. 17  Poe III, S. 852.

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auf drei Ebenen, von denen zwei hier bereits dokumentiert worden sind: (1) als ästhetischer Gegenstand, dem zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet wird und dem im Monolog des Triebs ein eigener Modus literarischen Sprechens korreliert ist, (2) als epistemisches Ding, aus dem sich Aussagen über anthropologische Grundlagen ableiten lassen und (3) als legitimes, wenn nicht sogar privilegierendes Versatzstück poetischer Subjekt-Entwürfe. Der dritten Feststellung widmet sich dieses Kapitel. Ich möchte anhand von Henry James’ Erzählung The Beast in the Jungle demonstrieren, dass um 1900 monströse Selbstbeschreibung ein anerkanntes und in seiner Etabliertheit bereits dysfunktionales Versatzstück devianter poetischer Selbstentwürfe ist. Als Gegenstück zur französisch-naturalistischen Poetik eines auf die Faktoren Erbgut, Milieu und Trieb restlos reduziblen Monströsen wird im viktorianischen England die Idee eines irreduzibel individuellen Monströsen zum selbstverständlichen Ausgangspunkt der poetischen Produktion von Monstren. Die historische Spaltung des Subjekts in Viktorianer und Freak, also reflektierenden moralischen Agenten und animalisches Triebwesen, ist seit Stevensons Protagonistenpaar Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) geradezu sprichwörtlich fixiert. Stevensons Roman greift das Modell einer wissenschaftlich-teratologischen Produktion des Monsters auf, das schon Mary Shelley verwendet. Das Verhältnis von Jekyll und Hyde unterliegt allerdings einer sehr viel strikteren Trennung von monströser Handlung und nicht-monströser Erzählung: Das Handeln geht von Hyde, das Erzählen von Jekyll aus.18 Zwischen Viktorianer und Freak besteht also ein doppeltes Verhältnis von Verzeitlichung: Jekyll ist Hyde als sein Schöpfer vorgängig, Hyde als Agent ist dagegen Jekyll als Chronist immer um mindestens einen Schritt voraus. Die Erzählung ist der hilflose Versuch, das Monstrum wieder einzuholen und die wilde, präreflexive und zivilisationsfeindliche Attraktivität seiner Handlungen wenigstens durch moralische Verurteilung einzuholen. Zugleich treten viktorianisches Subjekt und innere Bestie in ein Verhältnis wechselseitigen Beobachtens und Lauerns – das sich bei Henry James ungleich komplizierter gestaltet. James’ poetische Konzeption der Monstrosität versteckt sich in winzigen Nuancen und verdichtet in einem einzigen Satz – dem letzten – drei widersprüchliche poetologische Modelle; entsprechend fordert seine Erzählung eine etwas kleinteiligere Lektüre. Sie verfolgt vier Hypothesen: (1) James entwirft eine poetische Konzeption des Monströsen, die sich als devianter Selbst-Entwurf bezeichnen lässt. (2) Monstrosität ist, innerhalb dieses Entwurfes, Effekt eines aufwändigen Arrangements poetischer Effekte. (3) Monstrosität ist funktional besetzt als Versuch, Distinktion zu produzieren. (4) Die utopische Überblendung von Fremdem und Eigenem im devianten SelfFashioning produziert eine elementare und irreduzible Fremdheit.

18  Monika Schmitz-Emans bewertet, mit Blick auf die Frage: „Lassen Monster sich zum Reden bringen?“, Stevensons Erzählung entsprechend als Rückschritt gegenüber etwa den Erzählungen Poes, in denen das Monster sich längst artikuliert. Vgl. Schmitz-Emans, Monstren aus der Innenperspektive, S. 527.



Zeitliche Bestimmungen der Bestie 

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7.2 Zeitliche Bestimmungen der Bestie The Beast in the Jungle (1903)19 verhandelt den seltsamen Fall, dass nicht die Herausbildung einer monströsen Individualität, sondern gerade das Ausbleiben einer monströsen Deformation ein tragisches Ereignis bedeutet. Dominantes Motiv der Erzählung ist das Scheitern: Schon das Eingangsbild einer Abendgesellschaft, auf der Suche nach einem „originellen Motiv“ in einem „fast berühmten“ alten Landsitz zeigt ein kollektives Versagen am ästhetischen Gegenstand: Es gelingt den Gästen trotz aller Bemühungen nicht, Originalität und Berühmtheit des Ortes in ein persönliches Erlebnis zu überführen. Ihre Annäherungen an das Besondere des Schlosses bestehen nur in „mysterious appreciations and measurements“ (61). Diese Konstellation einer trägen und ziellosen Suche nach der ästhetischen Erfahrung, die der Landsitz Weatherend zu versprechen scheint, bereitet das Aufeinandertreffen zweier scheiternder Protagonisten vor. John Marcher sieht sich verloren in der kleinen Menschenmenge, ein Zustand, den er sich selbst geradezu als Charaktermerkmal zuschreibt.20 Sein Hadern mit der Unmöglichkeit, einen Ort wie den besuchten Landsitz zu kaufen und zu besitzen, ist nur ein Anlass, über die eigene Existenz als Misserfolg zu sinnieren. Henry James hat später einmal das habituelle Scheitern, „this sterilizing habit of the failure“21, als Marchers zentrale Eigenschaft bezeichnet. May Bartram, eine selbst mittellose Verwandte der privilegierten Besitzer des Schlosses, gehört der Abendgesellschaft auf ähnlich randständige Weise an. Beide erkennen einander vage wieder und bemühen sich im Gespräch, eine besondere persönliche Bindung herstellen. Ihr gemeinsames Scheitern bezieht sich zunächst auf die Vergangenheit: […] the past, invoked, invited, encouraged, could give them, naturally, no more than it did. It had made them anciently meet – her at twenty, him at twenty-five; but nothing was so strange, they seemed to say to each other, as that, while so occupied, it hadn’t done a little more for them. They looked at each other as with an occasion missed; the present would have been so much better if the other, in the far distance, in the foreign land, hadn’t been so stupidly meagre. (61)

In der Metapher der „Magerkeit des Anderen“ fasst James enttäuschte Erwartung. Beide versuchen, einer episodischen ersten Begegnung in Italien eine Anekdote abzuringen, aus der sich eine alte Freundschaft ableiten ließe. Formal scheitert dieses Bemühen an Marchers geradezu unhöflicher Vergesslichkeit: Er verwechselt Urlaubs-

19  Zitiert wird im Folgenden aus der „New York Edition“: The Novels and Tales of Henry James. New York 1907–1909. Alle Angaben innerhalb dieses Kapitels mit Band- und Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe, soweit nicht anders gekennzeichnet auf Bd. 17, der The Beast in the Jungle enthält. 20  „The party of visitors at the other house, of whom he was one, and thanks to whom it was his theory, as always, that he was lost in the crowd, had been invited over to luncheon.“ Henry James: The Altar of the Dead, The Beast in the Jungle, The Birthplace, and other Tales. NYE 17, S. 61. 21  NYE 2, S. 1250–1251.

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ort, Jahreszahl und gemeinsame Bekannte, also alle äußeren Umstände des ersten Zusammentreffens. Schlimmer für beide Beteiligten scheint, dass sich auch nach Richtigstellung der Ereignisse nichts ereignet hat, das als gemeinsame Erinnerung Bindung rechtfertigt. Wenn beide die Unterhaltung dennoch fortsetzen, so nicht aus positivem Interesse am tatsächlichen Gegenüber22, sondern um ein weiteres Scheitern zu verhindern: „they didn’t quite want it to be a failure“ (67). Aus der Sicht John Marchers, zu dem die Erzählinstanz gerade so viel Distanz hält, dass nicht von einer personalen Erzählsituation gesprochen werden kann23, scheint die Etablierung einer gemeinsamen Vergangenheit so wünschenswert, dass er sogar bereit ist, sie künstlich herzustellen: „He would have liked to invent something, get her to make-belief with him that some passage of a romantic or critical kind had originally occurred.“(67) Marchers Wunsch, nachträglich ein eindrückliches gemeinsames Erlebnis zu erfinden, das zukünftiges wechselseitiges Interesse begründen könnte, kommt May Bartram auf eigentümliche Weise umgehend nach. Sie erwähnt ein solches zurückliegendes Ereignis, das sich, als Versprechen wie als Drohung, in die Zukunft projizieren lässt. Diese Überwindung einer für beide unbefriedigenden Gegenwart nicht zugunsten der mageren tatsächlichen Vergangenheit24, sondern durch eine zugleich düstere und glamouröse, in der Vergangenheitsform evozierte Zukunft legt den monströsen Keim der Erzählung frei und stellt das fehlende gemeinschaftsstiftende Element zur Verfügung25: Well, it was very simple. You said you had had, from your earliest time, as the deepest thing within you, the sense of being kept for something rare and strange, possibly prodigious and terrible, that was sooner or later to happen to you, that you had in your bones the foreboding and the conviction of, and that would perhaps overwhelm you. (71)

22  Über May Bartrams Motive verrät die Erzählung nichts. Marcher dagegen ist sich darüber im Klaren, dass er für seine alte Bekannte als neue Bekanntschaft keine Verwendung fände. 23  Sowohl was die Perspektive angeht als auch in Bezug auf Ton und Stil lässt sich eine deutliche Entwicklung innerhalb der Erzählung ausmachen. Während der Anfang der Erzählung nur gelegentlich Marchers Reflexionen nachzeichnet und eine sachliche narrative Wiedergabe von – mit einer Ausnahme – hoher psychologischer Plausibilität liefert, löst sich die Distanz der erzählenden Instanz zum Ende hin vollständig auf; die Schlusspassage ist innerhalb von James’ grundsätzlich reservierter Prosa ein einzigartiges Beispiel von distanzlosem Pathos. 24  Millicent Bell hat gegenüber der klassischen Kritik von Allan Tate überzeugend argumentiert, dass die ungewöhnliche Länge der Handlungsexposition – immerhin zwei von sechs Kapiteln der Erzählung lässt sich diese Funktion zuschreiben – notwendig ist, um eine solche triadische Konzeption von Zeit zu konturieren: „It is appropriate that even before the question of his future is broached, John Marcher finds himself in a limbo from which the sense of the past has departed.“ Millicent Bell: Meaning in Henry James. Cambridge/Mass. 1991. S. 263. 25  James führt Bartrams Rekapitulation ausdrücklich als Kompensation einer Defizienz ein, als etwas „that their actual show seemed to lack“. NYE 17, S. 66.



Zeitliche Bestimmungen der Bestie 

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Der Gegenstand von May Bartrams Aussage ist auf keineswegs sehr einfache Weise an die Form seiner Darstellung gebunden. Aus dem epischen Präteritum führt ihre indirekte Wiedergabe von Marchers Narrativ ins Plusquamperfekt des „had had“, das eine Ursprünglichkeit und Unvordenklichkeit der monströsen Vorstellung nahelegt. Der Partizipialkonstruktion „being kept“ eignet keine grammatische Zeitlichkeit, wohl aber die semantische eines Aufschubs oder einer Verzögerung. Zwei Formen von Zukunft in der Vergangenheit, die mit Ereignis einerseits und Form des Ereignisses andererseits zwei unterschiedliche Aspekte des gleichen Sachverhalts bezeichnen, stehen einander gegenüber: „was to happen to you“ bezeichnet eine Unausweichlichkeit, „would perhaps overwhelm you“ eine Möglichkeit. Solche Verwendungen des Präteritums, in denen eine erzählungsimmanente Zukunft mitgedacht wird, sind nach Käte Hamburger Anzeichen für den Verlust der Vergangenheitsbedeutung des Präteritums26 und für Fiktionalität; in May Bartrams knapper Binnenerzählung bedeuten sie gerade eine Steigerung des Wahrheitsgehaltes. Dies liegt zunächst an der Häufung beglaubigender Superlative des Ursprünglichen, Eigentlichen und geradezu somatisch Authentischen: „from your earliest time on“, „the deepest thing within you“, „in your bones“, „conviction“.27 Es liegt aber auch an der abwegigen Kommunikationssituation: May Bartram ist Erzählerin eines Vorgangs, der ausschließlich in vergangenen Äußerungen John Marchers, also des Adressaten der gegenwärtigen Erzählung, besteht. Eine zweite semantische Häufung läuft dieser Betonung des Wahrheitsgehaltes zuwider: „the sense“, „possibly“, „sooner or later“, „foreboding“, „perhaps“ enthalten gerade gegenläufig Zweifelhaftigkeiten und Unwägbarkeiten, die sich nicht auf das Ereignis selbst, aber auf dessen Zeitpunkt und konkrete Manifestation beziehen. Das Adjektiv „prodigious“ weist in eben diese Richtung, nämlich auf das prodigium als dasjenige unter den Ciceronischen Korrelaten des Monströsen28, das die zeichenhafte Bezugnahme auf die Zukunft am deutlichsten betont. Die bereits bekannten Charakteristika des Monströsen werden auf grammatischer und semantischer Ebene repräsentiert: Unvordenklichkeit und Unausweichlichkeit, scheinbarer Monolog und Notwendigkeit der dialogischen Form sowie die deutliche Zuschreibung eines zeichenhaften Charakters bei noch ungeklärter Bedeutung. May Bartrams knappe Beschreibung der titelgebenden Bestie ist hier deshalb so eingehend untersucht, weil sie innerhalb der Erzählung die deutlich konkreteste Beschreibung dessen bleibt, was in der Folge als Beast in the Jungle immer wieder lauert, zum Sprung ansetzt und sich doch niemals materialisiert: Ein Entwurf devianter, ­gefährlicher, unheilvoller Individualität, dessen Verwirklichung sich immer wieder

26  Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957. S. 59–61. 27  Alle diese Einheiten sind kunstvoll in einem einzigen Satz verdichtet: NYE 17, S. 71. 28  Bis auf das „ostendere“, das im englischen „ostentatious“ keine Verbindung mehr zum Monströsen unterhält, greift James tatsächlich alle drei Verben (monstrare, prodicere, portendere) auf; dies ein weiterer Beleg für eine erstaunliche historische Konstanz der Begriffsverwendung.

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verschiebt, bis es für seine Verwirklichung zu spät ist. Der unklaren Beschreibung der Bestie entspricht eine Gleichzeitigkeit von bedrohlichen und privilegierenden Attributen: „Something rare and strange, possibly prodigious and terrible“ bezeichnet ein monströses Ereignis, das Marchers Leben und, ab dem Zeitpunkt von beider Zufallsbegegnung, auch May Bartrams strukturiert. Beide erwarten das Ereignis mit einer Spannung, die der widersprüchlichen Affektökonomie des suspense29 folgt und sich mal hoffnungsvoll, mal ängstlich äußert. Die Diskursivierung dieses Ereignisses erfolgt nach den poetologischen Regeln für die Kodierung unsichtbarer Monstrosität, die ich anhand von Poe dargestellt habe: Sie erfolgt, erstens, in einem scheinbaren Monolog Marchers, der nur sporadisch durch Fragen und bestärkende Kommentare May Bartrams unterbrochen wird. Die Instanz des unsichtbaren Psychiaters wird dabei ersetzt durch eine weibliche Protagonistin, deren Mitleiden das erwartete Ereignis durch persönliche Betroffenheit aufwertet und der in der Forschungsliteratur plausiblerweise eine der Jahrhundertwende angemessenere „therapeutic position“30 bescheinigt wird. Bartrams positiver Beitrag zur Konstitution von Marchers Monstrosität beschränkt sich dennoch darauf, sie als Gegenstand des Gesprächs und der Spekulation regelmäßig aufzurufen. Zweitens gilt zugleich ein Redeverbot und ein Imperativ der ununterbrochenen Thematisierung; der Gegenstand liegt jenseits der Sprachgrenze und muss gerade deshalb ständig in Sprache überführt werden. Seine Existenz des Gegenstands bleibt unhinterfragt. Aus dieser paradoxen Konstellation heraus ergibt sich eine mythische Aufladung der „Bestie“: Sie gehört zu John Marcher, existiert aber nur in seinen Unterhaltungen mit May Bartram, sie lässt sich nicht in Worte fassen, wird aber jahrzehntelang von beiden ununterbrochen thematisiert, und sie materialisiert sich nicht, bezieht aber gerade aus dieser Abwesenheit ihren drohenden Latenzcharakter. Sie ähnelt darin der hier skizzierten epistemischen Funktion des Triebs im neunzehnten Jahrhundert, als monströse Instanz der Subversion des Subjekts von innen, deren eigene Gestalt stets unklar bleibt.

29  Der Begriff aus Hitchcocks Filmtheorie wirkt möglicherweise deplatziert, zumal Hitchcocks Interesse, „die Aufmerksamkeit des Zuschauers wachzuhalten“ nicht zu James’ dringenderen Anliegen gehört. Seine poetische Strategie entspricht allerdings exakt Hitchcocks Definition derjenigen nervlichen Anspannung, die sich ergibt, indem einem sicheren Wissen um das Eintreten eines Ereignisses eine fundamentale Unsicherheit über den Zeitpunkt seines Eintretens korreliert wird. Vgl. François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1988. S. 62. 30  Omri Moses: Henry James’s virtual Beast. In: the Henry James Review 32.3 (2011). S. 266–273. Hier: S. 267. Moses bezieht sich auf die einflussreichen Lektüren von Sedgwick (s. u.) sowie Leo Bersani und Adam Philipps: Intimacies. Chicago 2008.



Arbeit am Monströsen 

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7.3 Arbeit am Monströsen In der Forschungsliteratur steht meist die Frage nach dieser Gestalt der Monstrosität John Marchers im Mittelpunkt, d. h. der Versuch einer allegorischen Interpretation der Bestie.31 Da es sich sowohl um eine Tat als auch um ein Ereignis handeln kann, um etwas, das der Protagonist erleidet oder tut, ist es nur über die Merkmale des Außergewöhnlichen und Unausweichlichen zu bestimmen und über die Zugehörigkeit zu Marcher, dessen existenzielle Vagheit ihn selbst aber zu einem ähnlich spekulativen Gegenstand macht wie die Bestie im Dschungel.32 Eine überzeugende Lesart der Erzählung interpretiert das existentielle Scheitern Marchers als Resultat eines mangelnden Eingeständnisses der eigenen sexuellen Orientierung. Eve Kosofsky Sedgwick argumentiert, dass sich als Schlüssel der Erzählung eine Homosexualität Marchers (und auch James’, wie ihre biographistische Rhetorik nahelegt) geradezu aufdrängt, „as soon as an assumed heterosexual male norm is at all interrogated“.33 Diese Hypothese wird in der neueren James-Forschung nicht mehr als solche, sondern beinahe als Feststellung zitiert: „In James’s coded text, the beast that lurks within is closeted homosexual desire“.34 Diese Deutung ist höchst plausibel; die einleuchtende Beobachtung, dass die Kodierungen von Monstrosität und Homosexualität um 1900 Schnittstellen aufweisen, stellt aber noch keine Rekonstruktion der poetischen Konzeption des Monströsen bei James dar. Meine Lektüre versucht nicht, „Inhalt“ oder „Bedeutung“ der Monstrosität Marchers zu entschlüsseln, sondern zu zeigen, dass der beständige Aufschub einer Konkretisierung das zentrale strukturelle Merkmal dieser Monstrosität ist. Das kunstvoll produzierte Geheimnis um den Inhalt seiner Monstrosität ist bereits der Inhalt seiner Monstrosität. Diese Interpretation stützt sich zunächst auf eine absonderliche Unstimmigkeit der Erzählung selbst. Henry James wird selbst von kritischen Lesern zugestanden, in

31  Vgl. Bell, Meaning in Henry James, S. 271: „As allegory, the story is designed to illustrate the idea that no life escapes a destiny“. Die Erzählung wird häufig zusammen mit dem Roman The Ambassadors gelesen, der im gleichen Jahr erscheint und mit dem sie das Grundmotiv des Scheiterns teilt. 32  Origineller als jede autobiographische Lesart scheint mir unter den Interpretationen als Schlüsselerzählung der Vorschlag, Marcher als literarische Reflexion zu Peirce zu lesen. Vgl. Megan M. Quickley: Vengeful Vagueness in Charles Sanders Peirce and Henry James. In: Philosophy and Literature 31.2 (2007). S. 362–377. 33  Eve Kosofsky Sedgwick: The Beast in the Closet. James and the Writing of Homosexual Panic. In: Rachel Adams und David Savran (Hg.): The Masculinity Studies Reader. Malden/Mass. 2002. S. 147– 174. Hier: S. 161. Eine kritische Lektüre ihrer eigenen Position als paranoid unternimmt Sedgwick in: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity. Durham 2003. Vgl. auch Matthew Helmers: Possibly Queer Time. Paranoia, Subjectivity, and The Beast in the Jungle. In: The Henry James Review 32.2 (2011). S. 101–115. Hier v. a.: S. 110. 34  Roger N. Lancaster: The Trouble with Nature. Sex in Science and Popular Culture. Berkeley und Los Angeles 2003. S. 264.

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seinen Erzählungen in hohem Maße psychologische Plausibilität zu erzeugen.35 Die beschriebene Konstellation in The Beast in the Jungle ist psychologisch höchst kontraintuitiv: Ein egozentrischer Mann, der habituell alle Umstände und Ereignisse seines Lebens auf Besonderheiten hin auswertet, verfügt über genau ein zentrales Geheimnis und gibt es ein einziges Mal in seinem Leben preis. Als er die Person wiedertrifft, mit der er sein Geheimnis geteilt hat, erinnert er sich weder an die Person, noch an die Unterhaltung, noch an deren äußere Umstände. James macht nicht einmal den Versuch, diese Merkwürdigkeit zu plausibilisieren. Dies legt den Verdacht einer nachträglichen Aufladung der vergessenen Unterhaltung zum existentiellen Ereignis nahe, und zwar durch beide Gesprächspartner. Die ersten beiden Kapitel der Erzählung enthalten den erfolglosen Versuch, eine für beide Gesprächspartner enttäuschende ­Gegenwart mithilfe eines besonderen Ereignisses in der Vergangenheit zu überwinden. Das Scheitern dieses Versuchs löst bei Marcher den Wunsch aus, etwas zu erfinden – ein Wunsch, dem May Bartram zuvorkommt, ausdrücklich mit der Absicht „to save the situation“ (67). Meine Interpretation geht davon aus, dass die titelgebende Bestie vor der zweiten Unterhaltung mit May Bartram sehr viel weniger präsent war, als Marcher, um einer besonderen Beziehung zu Bartram willen, aber auch in Folge seines narzisstischen Wunsches nach individueller Besonderheit, ihr nachträglich zuschreibt. Die Bestie erhält ihre Bedeutung nicht „from earliest time on“, sondern erst, indem es zum geteilten Geheimnis beider Protagonisten wird. Der Wunsch nach etwas Besonderem produziert also das Besondere – dies rettet die psychologische Plausibilität der Erzählung und legt zugleich den Blick frei auf den Modus der poe­ tischen Konstruktion des Monströsen, der, wie in allen vorangegangenen Beispielen aus dem neunzehnten Jahrhundert, dialogisch erfolgt, nämlich zwei Seiten der Kommunikation erfordert: Die Instanz einer monströsen Subjektivität und eine zweite Instanz, deren insistierende Frage nach der monströsen Subjektivität selbige erst ins Leben ruft. Wie Poes Triebtätern ohne den impliziten Psychiater die Stichworte für ihre Monologe fehlten, scheint Marcher erst Bartrams Anregung und später ihre beständige Nachfrage zu benötigen, um Monstrosität in seinem Selbstentwurf zentral setzen zu können. Diese Interpretation besagt nicht, dass die erste Unterhaltung der beiden Protagonisten erfunden ist – nach May Bartram erinnert sich sofort auch Marcher – sondern dass ihre Bedeutung, um der Etablierung einer besonderen Beziehung willen, deutlich überhöht wird und zum „Luxus“, nämlich einem metaphysisch ­anmutenden Fiktionsüberschuss, in Marchers Lebensentwurf erst durch das anhaltende Interesse seiner Freundin werden kann: „Somehow the whole question was a new luxury to him – that is from the moment she was in possession.“(70) Monstrosität begegnet hier also explizit als unhintergehbare und schicksalhafte, geradezu

35  Eine Erosion dieser Plausibilität in James’ Spätwerk konstatiert allerdings Roland Hagenbüchle: Subjektivität. Eine historisch-systematische Hinführung. In: Ders., Reto Luzius Fetz und Peter Schulz (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Berlin 1998. Bd. 2. S. 57.



Arbeit am Monströsen 

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­ etaphysische Bestimmung Marchers, implizit aber als Modell eines luxuriösen m Selbstentwurfs. Die Bestie im Dschungel ist der einzige Unterhaltungsgegenstand der an Unterhaltungen reichen und selbst innerhalb von James’ Werk vergleichsweise handlungs­ armen Erzählung. Im Anschluss an die Begegnung auf Weatherend treffen sich Marcher und Bartram über mehrere Jahrzehnte mit großer Regelmäßigkeit und führen eine enge Beziehung, die die Aspekte von Sexualität und räumlichem Zusammenleben ausklammert. Die Basis ihrer Gemeinsamkeit ist das Gefühl einer lauernden Bestie: Something or other lay in wait for him, amid the twists and the turns of the months and the years, like a crouching beast in the jungle. It signified little whether the crouching beast were destined to slay him or to be slain. The definite point was the inevitable spring of the creature; and the definite lesson from that was that a man of feeling didn’t cause himself to be accompanied by a lady on a tiger-hunt. Such was the image under which he had ended by figuring his life. (79)

Alle weiteren Beschreibungen der Bestie sind negativer Art. Sie ist zunächst nicht denkbar als Form der sozialen Auszeichnung: „It isn’t anything I’m to do, to achieve in the world, to be distinguished or admired for“ (72). Die Erfahrung oder das Ereignis, dass der Sprung der Bestie bedeutet, sind so hochgradig individuell, das sie mit gesellschaftlicher Anerkennung nicht kompatibel sind. Die Bestie liegt außerhalb dessen, was der allgemeinen menschlichen Erfahrung zugänglich ist – gerade dies macht ihren Auszeichnungs- und Bedrohungscharakter aus. Zugleich lähmt sie Marcher geradezu: „It isn’t a question of what I ‚want‘ – God knows I don’t want anything. It’s only a question of the apprehension that haunts me – that I live with day by day.“ (73) Gegenüber dem erwarteten Ereignis gibt es keine Handlungsmöglichkeiten jenseits geduldigen Wartens: ‚It’s to be something you’re merely to suffer? Well, say to wait for – to have to meet, face to face, to see suddenly break out in my life; possibly destroying all further consciousness, possibly annihilating me; possibly, on the other hand, only altering everything, striking at the root of all my world and leaving me to the consequences, however they shape themselves.‘ (72)

Als konkrete monströse Ereignisse werden erwogen ein Immobiliengeschäft Bartrams (dies im Unernst), weiterhin Liebe und Wahnsinn. Beide scheiden als bekannte und benennbare, damit zu wenig außergewöhnliche Gegenstände menschlicher Erfahrung aus. Wie bei Poe findet das Motiv der Abgrenzung zum banalen Wahnsinn Verwendung zur Bedeutungssteigerung der Monstrosität Marchers; seine häufige Nachfrage ‚Do you think me simply out of my mind?‘ oder ‚Do I merely strike you as a harmless lunatic?‘ hat rein katechetische Funktion: Über die ständig gleiche Beantwortung der rhetorischen Frage wird Gemeinschaft im Glauben an das Unsichtbare und Absurde hergestellt. „It was always open to him to accuse her of seeing him but as the most harmless of maniacs“ bezeichnet eine standardisierte und ritualisierte Möglichkeit Marchers, auf das ausbleibende Ereignis zu rekurrieren, ohne eine andere Antwort als die Nega-

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tion des Wahnsinns erhalten zu müssen. Eine positive Bestimmung, so sehr er sie zu verfolgen scheint, würde das Ereignis um den Terror und zugleich um den Luxus des Unnennbaren bringen und es unwiderruflich banalisieren. „His unhappy perversion“ (81) ist also keine Verdrehtheit, die in einem Krankheitsbild fixiert wäre, sondern zentrales Versatzstück der Konstruktion seiner individuellen Erfahrung als einzigartig und unvergleichlich. James konzipiert die Bestie als irreduzibles Geheimnis ohne inhaltliche Bestimmungen, nicht einmal Gewalttätigkeit ist ihr notwendig zuzuschreiben: I don’t think of it as – when it does come – necessarily violent. I only think of it as natural and as of course above all unmistakable. I think of it simply as the thing. The thing will of itself appear natural. (73)

Die einzige positive Bestimmung der Bestie betrifft nicht ihre Erscheinungsform, sondern ihre Funktion zur Stiftung einer unauflösbaren und lebenslangen Gemeinschaft zwischen den Protagonisten der Erzählung. Wenn Marcher sich an ihre erste Thematisierung erinnert, so mit der zufriedenen Feststellung: „[It] had served its purpose well, had given them quite enough.“ May Bartrams Funktion besteht in „giving him this constant sense of his being admirably spared“ (76–77). Diese funktionale Zuschreibung regelt beider Verhältnis und legt es auf Passivität fest. Die Grundelemente der Handlung sind in drei wiederkehrenden Verben gefasst: die gemeinsame Wachsamkeit in „to watch“, die Suspendierung des Terrors bei gleichzeitiger ununterbrochener Antizipation in „to wait“ und die Idee der Rettung in „to be saved“. Die fast Beckettsche Absurdität dieses Wartens scheint den Protagonisten zu ­keinem Zeitpunkt bewusst.36 Bei geringer Erzählzeit umfasst die erzählte Zeit Jahrzehnte, wiedergegebene Handlung besteht fast nur in den Dialogen Bartrams und Marchers über das „beast“. Diese repetitiven Dialoge bestehen fast ausschließlich aus einer doppelten Geste der Aufrufung und dezidierten Vermeidung, die ein beidsei­ tiges Vergnügen zu sein scheint: The thing to be, with the only person who knew, was easy and natural – to make the reference rather than be seeming to avoid it, to avoid it rather than be seeming to make it, and to keep it, in any case, familiar, facetious even, rather than pedantic and portentous. (80)

Die aufwändige Balance von ständiger Thematisierung und Nicht-Thematisierung erzeugt eine spezifische Variante der Dialektik von Defiguration und Refiguration des Monströsen in James’ Konzeption, die in den Begriffen simulatio und dissimulatio fassbar ist. Nach der hier vertretenen Lesart liegt der Figuration der Bestie eine Phantasieleistung zur Ermöglichung andernfalls unmöglicher Kommunikation zugrunde. So wird

36  James stellt, im Gegensatz zu Beckett, die Absurdität dieses Wartens nicht aus und schreibt sich nicht in die Tradition „stoischer Komödianten“ ein. Vgl. Hugh Kenner: Flaubert, Joyce and Beckett. The Stoic Comedians. London 2005.



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die Bestie am Leben gehalten durch fortgesetzte Spekulationen, geraunte Aufrufungen, poetische Neubenennungen. Diese unausgesetzte simulatio und künstliche Produktion eines vage metaphysischen Narrativs exzeptioneller und singulärer Individualität läuft beständig Gefahr, durch Wiederholung in Pedanterie abzugleiten und auf eine vulgäre, offensichtliche Weise monströs („portentous“) zu werden. Sie bedarf deshalb eines Gegenstücks, um den Gegenstand bei aller Originalität vertraut, sogar drollig („facetious“) zu halten. Wenn James die jahrzehntelange Konversation über die innere Bestie als „a long act of dissimulation“ (82) bezeichnet, ist dissimulatio ebenso im rhetorischen wie im medizinischen Sinne aufgerufen, als Leugnung einer eingebildeten Krankheit wie auch als Herunterspielen der poetischen Leistung, die diese Einbildung zuallererst produziert. Für die Bestie gilt der rhetorische Grundsatz, dass Authentizität und Glaubwürdigkeit des Kunstwerks davon abhängen, wie konsistent sein Kunstcharakter geleugnet wird. Ein kalkuliertes Schweigen ergänzt das rhetorische Arsenal der Vermutungen und Andeutungen um den von Poe bekannten Kunstgriff eines Redeverbots, der den Gegenstand der Unterhaltung weiter aufwertet. Die Faszination der Bestie, auch als „the real truth“ bezeichnet, hängt ab von ständige Thematisierung und Ausbleiben jeder konkreten Zuschreibung. Um sie intakt zu halten, müssen Marcher und Bartram in einer ständigen Überbietungsrhetorik alle verfügbaren Superlative heranziehen: „It would be the worst“, she finally let herself say. „I mean the thing I’ve never said.“ It hushed him a moment. „More monstrous than all the monstrosities we’ve named?“ „More monstrous. Isn’t that what you sufficiently express“ she asked, „in calling it the worst?“ (103)

Die Aufladung und Überhöhung des Gegenstandes, die über die wiederholte Aufrufung und Besetzung mit Superlativen bei vollständiger inhaltlicher Unklarheit funktioniert, benötigen mit Wiederholung und Auslassung also nur zwei komplementäre rhetorische Figuren. Das Biest ist zwar „the thing“, also der privilegierte Gegenstand der Unterhaltung, scheint aber eben auch erst aus dieser Unterhaltung heraus zu entstehen. Wenn Bartram sagt: „We have thought almost anything“ und Marcher antwortet: „Everything. Oh!“ (87), so fungiert diese Geste der Resignation als Bestätigung einer offenbar notwendigen Unbenanntheit des Gegenstandes.37 Die Arbeit am Monströsen folgt der immer gleichen dreiteiligen Strategie: Das Schreckliche ansprechen, es als unaussprechbar bezeichnen, und die Bestätigung einholen, dass es unaussprechbar ist: „Oh yes there were times we did go far“ (Marcher); „We’ve had together great imaginations, often great fears; but some of them have been unspoken“

37  Die Unmöglichkeit, das „Wissen“ über die Bestie in eine „Benennung“ der Bestie zu überführen, interpretiert Rachel Salmon als Nachweis einer Konstruktion der Bestie als Gegenstand einer sakralen Hermeneutik. Vgl. Rachel Salmon: Naming and Knowing in Henry James’s The Beast in the Jungle. The Hermeneutics of a Sacred Text. In: Orbis Litterarum 36 (1981). S. 302–322.

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(Bartram); „they were too, too dreadful?“ – „Too, too dreadful – some of them.“ (100–101)38

7.4 Selbstentwurf und Distinktion Die Aufrufungen des namenlos Grauenvollen sind funktional besetzt, wenngleich ihre Funktion nicht thematisiert wird. Die Vereinbarung zu warten, zu beobachten und gerettet zu werden bedeutet eine gemeinsame Vorstellung der Gefahr, die eine Rettung notwendig macht. Auf diese Vorstellung spielt May Bartram ironisch an: Our habit saves you at last, don’t you see? Because it makes you, after all, for the vulgar, indistinguishable from other men. What’s the most inveterate mark of men in general? Why the capacity to spend endless time with dull women – to spend it I won’t say without being bored, but without minding that they are, without being driven off at a tangent by it; which comes to the same thing. (84)

Dieser Vorschlag wird von Marcher ebenso scherzhaft aufgenommen. Die zentrale Übereinkunft, die den repetitiven Diskurs über das unsichtbare Monströse strukturiert, besteht darin, dass die außergewöhnliche Qualität seiner Person, seines Schicksals und Lebens von Bartram nie in Zweifel gezogen wird. Das gefürchtete Scheitern als Horizont von Marchers Bemühungen um ein außergewöhnliches Narrativ dagegen bestünde darin, „von anderen Männern nicht unterscheidbar zu sein“ zu sein, oder, wie es zu Beginn der Erzählung heißt, „lost in the crowd“. Der geheime Elitismus von Bartram und Marcher besteht in einem exklusiven Wissen über Marchers Monstrosität. Die Aufwertung der eigenen Person, die Marcher durch das Bestien-Narrativ erzielt, bedarf im Gegenteil sogar einer Unbestimmtheit der Bestie, um einer banalen Festlegung zu entgehen. Nur in dieser Unbestimmtheit bleibt sie, als „something that nobody else knows or has known“ (73), exklusiv genug, um auch Bartrams Position als notwendige Beobachterin aufzuwerten, der folgerichtig Marchers Bestialität ähnlich wichtig und sogar glamouröser erscheint.39 Die Funktion der Bestie ist die Produktion von Einzigartigkeit. Diese Funktion stellt, entgegen Marchers und Bartrams Rhetorik desinteressierter Selbstaufgabe einen durchaus ökonomisch kodierten „profit“ (115) dar: Bartrams Tod erlebt Marcher als „privation“ und fühlt sich „bereaved“: „The terrible truth was that he had lost – with everything else – a distinction as well;

38  Eine Parallele drängt sich auf: Die Formulierung „the horror, the horror“ aus Joseph Conrads Heart of Darkness ist ähnlich vage und ähnlich zentral, und sie weist eine ähnliche Verbindung zu Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf, so legt Marlow zumindest in seiner perfiden Wiedergabe gegenüber Kurtz’ Verlobter nahe. 39  „She almost set him wondering if she hadn’t even a larger conception of singularity for him than he had for himself.“ (NYE 17, S. 80) Tatsächlich erweist das Ende der Erzählung May Bartram als die ungleich weniger naive Figur.



Selbstentwurf und Distinktion 

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the things he saw couldn’t help being common when he had become common to look at them.“ (119) Die selbstentworfene und kunstvoll in Dialogen bestätigte Monstrosität soll helfen, eine banale Existenz zu vermeiden: Das Monströse ist ein Superlativ devianter Selbstbeschreibung, der Marcher Distinktionsgewinn und eine poetische Aufwertung der eigenen Existenz ermöglicht. Die Metapher der Bestie erlaubt es, ­außergewöhnliche Kommunikation über die eigene Person herzustellen, die sie allen bürgerlichen Konventionen und sozialen Zwängen entrückt, allen denkbaren Gruppen, and die Individualität verloren werden könnte und allen verwechselbaren, gewöhnlichen biographischen Narrativen. Der Gewinn individueller Einzigartigkeit ist also, innerhalb von James’ Poetik der Bestie, der Mehrwert des Monströsen. Diese Einzigartigkeit wird mit der Aufgabe von Selbstbestimmung bezahlt. Die Passivität des Wartens ist durchgängig mit einer Semantik von Schicksal, Gesetz und psychologischer Unausweichlichkeit korreliert: Oh he understood what she meant! ‚For the thing to happen that never does happen? For the beast to jump out? No, I’m just where I was about it. It isn’t a matter as to which I can choose, I can decide for a change. It isn’t one as to which there can be a change. It’s in the lap of the gods. One’s in the hand of one’s law – there one is. As to the form the law will take, the way it will operate, that’s its own affair.‘ (85)

Neben dem Raubtier im Dschungel ist diese Metapher des Rechts die prominenteste zur Beschreibung von Marchers Fremdbestimmung. In der Hand des eigenen Gesetzes zu sein bedeutet eine Invertierung der Kantischen Selbstgesetzgebung – nämlich eine Form selbstgewählter existentieller Unfreiheit. „One’s law“ ist ein selbstgesetztes Recht, das dennoch die Qualität eines unveränderbaren Schicksals annimmt.40 Ausgeliefert ist Marcher diesem schicksalhaften Gesetz so weitgehend, dass er dem monströsen Ereignis weder entgehen noch es herbeiführen kann: It all hung together; they were subject, he and his great vagueness, to an equal and indivisible law. When the possibilities themselves had accordingly turned stale, when the secret of the gods had grown faint, had perhaps even evaporated, that, and that only was failure. It wouldn’t have been failure to be bankrupt, dishonoured, pilloried, hanged; it was failure not to be anything. […] He didn’t care what awful crash might overtake him, with what ignominy or what monstrosity he might yet be associated with […] if it would only be decently proportionate to the posture he had kept, all his life, in the threatened presence of it. (97)

40  An anderer Stelle heißt es, Marcher befinde sich „within the immediate jurisdiction of the thing that waited“ (NYE 17, S. 93). Das Gesetz, unter dem er steht, kann also zugleich als vollständig selbstbestimmt und vollständig fremdbestimmend gelesen werden: „He still, however, wondered. ‚But doesn’t the man of courage know what he’s afraid of – or not afraid of? I don’t know that, you see. I don’t focus it. I can’t name it. I only know I’m exposed.’“ (NYE 17, S. 88)

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Das besondere Ereignis im Leben John Marchers, so zeichnet sich im Lauf der Erzählung immer klarer ab, bleibt aus. Mit dem Fortgang der Erzählung, die statt wechselnder Handlungsmomente einfach das Altern der beiden Protagonisten referiert, gerät das anfängliche Motiv des Scheiterns sukzessive wieder in ihren Mittelpunkt. Mit der Möglichkeit, dass sich am Ende seines Lebens die Bestie als reines Imaginationsprodukt herausstellt, schleicht sich bei Marcher eine neue Furcht ein: „[H]is existence could only become the most grotesque of failures.“ (96) Das Ausbleiben eines monströsen Ereignis, einer superlativen Auszeichnung oder vollständigen Vernichtung, wäre die größte denkbare Enttäuschung: „It wasn’t a thing of the monstrous order; not a fate rare and distinguished; not a stroke of fortune that overwhelmed and immortalised; it had only the stamp of the common doom.“ (109) An die Stelle von „to wait“ tritt „to be sold“, an die Stelle von „too monstrous“ tritt „too late“. Marcher sehnt Entehrung, Hinrichtung oder Monströses in gleich welcher Form gegen Ende der Erzählung geradezu herbei. May Bartram erlangt, bei immer schlechterer Gesundheit, eine Einsicht in das Wesen der Bestie, die sie Marcher allerdings nicht mitteilt. Sie gibt ihm lediglich zu verstehen, dass es sich nicht um ein vollständiges Scheitern handelt: „That possibility, for her, he saw, would be monstrous; and if she guaranteed him the immunity from pain it would accordingly not be what she had in mind.“ (105) Das Biest ist also gesprungen, ohne dass es Marcher bemerkt hätte, auf seine ungläubige Nachfrage bekräftigt May Bartram: „Why what was to have marked you out. The proof of your law. It has acted. I’m too glad.“ (111) Die Möglichkeit der Banalität des monströsen Ereignisses als positive Begebenheit, mit Namen und Datum, scheint zumindest für Marcher schlimmer als die Phase des Wartens und der Ungewissheit: „Before, you know, it was always to come. That kept it present.“ (112) Es handelt sich bei Marchers Monstrosität also um eine Projektion außergewöhnlicher Individualität in die Zukunft, mithilfe derer zugleich die Gegenwart aufgewertet wird – solange die Projektion intakt ist. Zur Beschreibung dieser Projektion scheint mir der Begriff des „Self-Fashioning“ hilfreich, den Stephen Greenblatt bezeichnet als „the power to impose a shape upon oneself“.41 Der Vorteil von Greenblatts Konzept etwa gegenüber Bourdieus HabitusBegriff42 liegt im Akzent, den das Wort Fashioning auf die individuellen Handlungsspielräume legt, die damit gegenüber den strukturellen (sozialen) Bedingungen, denen Selbstentwürfe unterliegen, deutlich aufgewertet werden. Die zusätzliche Implikation einer schöpferisch-artistischen Tätigkeit des sich selbst Entwerfenden ist im Rahmen von Greenblatts Projekt einer poetics of culture durchaus gewollt und mit der Selbst-

41  Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago 1980. S 1. 42  Habitus- und Self-Fashioning-Konzepte weisen durchaus eine große Anzahl ähnlicher Versatztücke auf, sowohl im Bereich der Motivik (Ausdruck von Klassenzugehörigkeit, sozialer Aufstieg, Verinnerlichung und Automatisierung von kollektiven Verhaltensformen, separate Kommunikationsschemata für den Umgang mit Verwandten und Fremden) als auch in den konkreten Bestandteilen von Habitus nach Bourdieu und Self-Fashioning nach Greenblatt (Kleidung, Wortwahl, Gestik, Geschmack, Freizeitbeschäftigung).



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erfindung John Marchers in Henry James’ Erzählung höchst kompatibel. Ein wesentliches Versatzstück von Greenblatts Modell erschwert seine Anwendung auf monströse Selbstentwürfe des neunzehnten Jahrhunderts: Greenblatt nimmt eine notwendig fixe Konstellation von „authority“ und „alien“ im Selbst-Fashioning frühneuzeitlicher Autoren an, wobei der oder das Fremde stets diejenige Authorität bedroht, auf der der eigene Selbstentwurf aufbaut, sei es Kirche, Staat, heilige Schrift oder Militärverwaltung. Die alternativen Beschreibungen dieses Fremden als „absence of order“ oder „demoniac parody of order“43 besagen, dass ein monströses Element ausschließlich als Möglichkeit der Abgrenzung für frühneuzeitliche Selbstentwürfe gelten kann, nicht aber als aufrufbare Authorität oder gar als Inhalt des Entwurfs. James’ Konzept einer selbstentworfenen inneren Bestie lässt sich also nur in Erweiterung von Greenblatts Konzept über die Spielregeln der Renaissance hinaus als deviantes Self-Fashioning beschreiben. Das deviante, spezifisch moderne Element von Marchers Selbstentwurf besteht darin, die Abwesenheit von Ordnung, die das Monströse bedeutet, in ein individuelles Ordnungsprinzip zu überführen und damit ein sozial nicht akzeptiertes und nur schwer kommunizierbares Phänomen der Unordnung als Authorität und Ordnungsprinzip zu etablieren. Historische Voraussetzung dieser Möglichkeit von deviantem Self-Fashioning ist trivialerweise der Bedeutungsverlust staatlicher und kirchlicher Autorität für die literarische Produktion, ästhetikgeschichtliche Voraussetzung die Proklamation einer autonomen Kunst. Strukturell bedeutet die Ausweitung der Selbstgestaltungs-Möglichkeiten auf monströse Sprech- und Verhaltensmuster eine Auflösung der antipodischen Struktur von Selbst-Entwurf. Das elementar Fremde wird in Gestalt des Monstrums in die Konzeption des Eigenen einbezogen. Dies ver­ändert allerdings nicht die Funktion des Kontrollgewinns, die Greenblatt dem Self-­Fashioning zuschreibt: Eben durch die Selbststilisierung als Träger und Opfer einer unsichtbaren und unfassbaren Monstrosität, der Suggestion eines vollständigen Kontrollverlusts also, gelingt es Marcher in der Erzählung, May Bartram lebenslang an sich zu binden.

7.5 Drei Rhythmen James’ Poetik des Monströsen fügt dem Modell eines umfassenden devianten Selbstentwurfs aber die pessimistische Perspektive seines notwendigen Scheiterns bei. Nach Bartrams Tod begibt sich Marcher auf eine lange Reise, „now that the Jungle had been threshed to vacancy and that the Beast had stolen away.“44 Eine unerwar-

43  Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning, S. 9. Zur analogen Konstruktion des Exzesses als einer Möglichkeit der Etablierung von Authorität ex negativo, nämlich als Instanz der Kontrolle des Exzesses, vgl. S. 177–178. 44  NYE 17, S. 116. Scheitern ist dabei zu verstehen als Ausbleiben des monströsen Ereignisses und damit viel fundamentaler als Bankrott, Hinrichtung oder öffentliche Demütigung: „He had been the man of his time, the man, to whom nothing on earth was to have happened.“ (NYE 17, S. 125)

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tete letzte Wendung erhält die Erzählung, als Marcher nach seiner Rückkehr May Bartrams Grab besucht. Ein trauernder Ehemann an einem anderen Grab lässt ihn die eigene Unfähigkeit zu persönlicher Bindung ebenso wie zur Trauer spüren. Derjenige Aspekt der Beziehung zwischen Marcher und Bartram, der sie unter sozialen Aspekten als besonders markiert, nämlich der Verzicht auf ihre Deklaration als Liebesverhältnis, wird im Zuge dieser überraschenden Schlusswendung zum Inbegriff des „common doom“. Marcher wird sich bewusst, dass das gemeinsame Warten beide von der Verwirklichung einer Liebesbeziehung abgehalten hat, und füllt damit die Leerstelle des sprungbereiten Monsters zum ersten Mal inhaltlich: The Beast had lurked indeed, and the Beast, at its hour, had sprung […] It had sprung as he didn’t guess; it had sprung as she hopelessly turned from him, and the mark, by the time he left her, had fallen where it was to fall. […] this horror of waking – this was knowledge, knowledge under the breath of which the very tears in his eyes seemed to freeze. (126)

Die hochemotionale und fast pathetische Schlusssequenz durchbricht auffällig den kühlen, analytischen Erzählgestus. Der häufigste Schluss, der aus diesem Wechsel im Erzählton gezogen wird – eine persönliche Betroffenheit des Autors durch eine autobiographische Nähe zum existenziellen Scheitern Marchers – verdeckt ein wenig, was an ihr so überraschend ist: He saw the jungle of his life and saw the lurking beast; then, while he looked, perceived it, as by a stir of the air, rise, huge and hideous, for the leap that was to settle him. His eyes darkened – it was close; and, instinctively turning, in his hallucination, to avoid it, he flung himself, face down, on the tomb. (126–127)

Betrachten wir den ersten Satz dieser Passage genauer, so fällt zunächst sein seltsam lyrischer45 und zugleich zerklüfteter Charakter auf. Er beginnt wie eine Chevy-ChaseStrophe mit vier bzw. drei Hebungen und stumpfen Kadenzen. Die Erzählung scheint zunächst auf einer melancholischen Ballade zu enden, mit Tendenz zur Moritat, berücksichtigt man das plötzliche moralische Pathos von Verfehlung und Scheitern auf der semantischen Ebene.46„Then“ markiert eine rhythmische wie inhaltliche Zäsur,

45  James ist einer der wenigen Prosaautoren, im Zusammenhang mit deren enorm verdichteten Texten eine Untersuchung mit den Mitteln der Lyrikanalyse wohl nicht gerechtfertigt werden muss. Der eingehenden und überzeugenden Untersuchung der letzten Sätze durch David Smit entgeht leider gerade diese lyrische Qualität – vermutlich, weil Smit einen dramatischen Charakter der Passage postulieren möchte. Vgl. David Smit: The Leap of the Beast: The Dramatic Style of Henry James’s The Beast in the Jungle. In: The Henry James Review 4.3 (1983). S. 219–230. Hier: S. 229–230. 46  Millicent Bell fasst diese Ebene der Erzählung zusammen als „the obvious moral that egotism such as Marcher’s deserves punishment“. Vgl. Bell, Meaning in Henry James, S. 262. Ihrer Feststellung, dass es sich bei dieser Offensichtlichkeit nicht um den Kern der komplexen Erzählung handeln kann, ist völlig zuzustimmen.



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von der jambischen Leichtigkeit des balladenhaften Erzählabschlusses geht der Satz in einen fast vollständigen Hexameter über, ins epische Versmaß, in dem ein schweres schicksalhaftes Widerfahrnis erzählt wird. Der Hebungsprall zwischen „air“ und „rise“ markiert den zweiten rhythmischen Bruch im Satz. Ihm folgt ein Abgleiten in eine hektische und arhythmische Prosa, die eine kreatürliche Todesangst reflektiert. Diesen poetischen Formen entspricht jeweils eine distinkte Wahrnehmung des monströsen Ereignisses: Der Moritat im ersten Satzteil eignet eine melancholische Distanz und entspricht ein Monstrum, das Leitmetapher des von Marcher selbst entworfenen Narrativs ist. Marcher „sieht“ die Bestie und den Dschungel aus der Perspektive des zurückblickenden und plötzlich wissenden Beobachters. „To see“ bezeichnet ein Wiedererkennen: Dschungel und Bestie sind vertraute Metaphern für Marchers Leben (und für dessen permanente Gefährdung), die er selbst entworfen hat. „To look“ und „to perceive“ dagegen bedeuten die überraschte Wahrnehmung einer Monstrosität, die weder bekannt noch selbst erdacht ist. An die Stelle einer souveränen Einsicht tritt der Einbruch eines unvorhergesehenen und unkontrollierbaren Ereignisses. Die pathetische Abfolge von Daktylen und Trochäen im zweiten Satzteil enthält zwei charakteristische Markierungen des Unheimlichen, nämlich erstens eine Verunsicherung über die Realität angenommener Kausalzusammenhänge – „wie durch“ eine Luftbewegung, nicht „durch“ eine Luftbewegung erhebt sich das Monstrum – und zweitens den Luftzug oder Lufthauch selbst, der, gerade noch physisch wahrnehmbar, als Grenzphänomen von Natürlichem und Immateriellem in der Spukgeschichte das Auftauchen des Geistes markiert. Antiken Mythos und Gespenstergeschichte verbindet die figurale Konzeption des Monströsen, also die Aufrufung phantastischer Wesen nicht als Metaphern, sondern als handelnde Figuren. Entsprechend ist die Bestie, ursprünglich Produkt von Marchers Phantasie, in diesem Stadium der Angst nicht mehr metaphorisch-fiktiv, sondern mythisch-fiktiv, eine bedrohlich konkrete Manifestation unsichtbarer Monstrosität. Der dritte Satzteil vervollständigt diese Transformation abstrakter Metaphorik in reale Bedrohung: Syntax, Rhythmus und Semantik werden parallel „hideous“, hässlich, sprachlich markiert durch das umgangssprachliche „to settle“ und die Zersplitterung auch des folgenden Satzes in die kleinstmöglichen Sprachfetzen, die sich durch Kommata abtrennen lassen. An die Stelle einer geisterhaften oder mythisch-erhabenen Erscheinung tritt die hässliche Gewissheit, „beseitigt“ zu werden, an die Stelle einer souveränen Rückschau die Mimesis einer stammelnden, zerfetzten Sprache an ihren hässlichen Gegenstand, die das plötzliche Hereinbrechen einer ganz und gar unpoetischen Realität suggeriert. Wenn soeben in einer provisorischen Formulierung metaphorische, mythische und reale Fiktionalität unterschieden wurden, ist angedeutet, dass kein Bestandteil des Schlussabsatzes von The Beast in the Jungle eine Bestie impliziert, die nicht Produkt von Marchers Einbildung wäre. James schließt in der Formulierung „in his hallucination“ die Möglichkeit einer materiellen Bestie und mithin jede Interpretation als phantastische Erzählung aus. Anders als etwa in The Turn of the Screw erfolgt eine starke Leserleitung,

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die jede Verunsicherung über den Realitätsstatus des Monströsen vermeidet.47 James zeigt hier drei gattungspoetische Varianten der Monstrosität: Sie kann ein spielerischer Selbstentwurf sein, eine pathetische Heldengeschichte oder eine hässliche Halluzination. In dieser absteigenden Reihe sprachlicher Souveränität scheitert eine Poetik des monströsen Selbstentwurfs, die innerhalb der Erzählung als Antwort auf existenzielles Scheitern entworfen war. Die Produktion des Monstrums funktioniert über Ellipse und Wiederholung, Redeverbot und wechselnde Benennung, Superlativ und Andeutung, kurz: über eine poetische Geheimsprache, in der Monstrosität entsteht und verhandelbar wird. Ihr Kennzeichen ist, ihren Gegenstand niemals ganz benennen zu können. Sie ist damit geeignet zur Produktion jener Vagheit, die dem erwarteten monströsen Ereignis erst seine Extravaganz verleiht. Die Einlösung des Versprechens von exzeptioneller Singularität dagegen liegt nicht innerhalb ihrer Möglichkeiten. Das katastrophische Ende der Erzählung erweist die gesamte Handlung als erfolglose Suspendierung eines bereits zu Beginn angelegten Scheiterns. Entsprechend scheitert in dieser Schlusspassage nicht nur Marchers ambitionierter Lebensentwurf, sondern die poetische Sprache als Medium des devianten Selbstentwurfs. Das monströse Ereignis entzieht sich ihrer Kontrolle. Der Bestie nicht ausweichen, ihre Form nicht bestimmen und den Zeitpunkt ihres Sprungs nicht antizipieren zu können bezeichnet eine Gemeinsamkeit mit den hier diskutierten Konzepten des unhintergehbaren Triebs, die René Girard folgender­ maßen zusammenfasst: Das Subjekt wird also die Monstrosität gleichzeitig innerhalb und außerhalb seiner eigenen Person feststellen können. […] Das Subjekt fühlt sich im Innersten seines Seins von einem übernatürlichen Wesen erfüllt und heimgesucht, das es auch von außen belagert. Es sieht sich entsetzt einem doppelten Angriff ausgesetzt, dessen ohnmächtiges Opfer es ist. Es gibt keine Verteidigung gegen einen Gegner, der sich nicht an die Schranken zwischen Innen und Außen hält.48

Wichtigstes poetologisches Kennzeichen dieser Monstrosität ist auch bei James eine Rhetorik der Unhintergehbarkeit. Der Unterschied zu allen vorangegangenen Poetiken des Monströsen aber liegt darin, dass die Unausweichlichkeit und Unhintergehbarkeit aggressiv als poetisches Produkt ausgewiesen wird. James skizziert das paradoxe Szenario einer vollständigen Ohnmacht gegenüber einer poetischen Eigenproduktion, einer Selbstsetzung, die einer Entselbstung gleichkommt.

47  Die Überforderung der symbolischen Ordnung lässt sich als „Einbruch des Realen“ bezeichnen, innerhalb der Erzählung natürlich eines fiktiven Realen. Vgl. zu dieser Formulierung Sabine Schneider: Adalbert Stifter, die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und die methodischen Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft. In: Boris Previsic (Hg.): Die Literatur der Literaturtheorie. Bern u. a. 2010. S. 187–199. Hier: S. 197. 48  Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 242.



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Diese erfolglose Selbstmodellierung ruft natürlich ein dem Monströsen eng verwandtes Konzept erfolgloser Verdrängung auf, das nur wenige Jahre später in Freuds Essay Das Unheimliche (1919) eine entscheidende Neuformulierung erhält. Unheim­ liches und Monströses sind zu Beginn dieser Untersuchung provisorisch auseinandergehalten worden: Beide Begriffe trennt, dass das Gefühl des Unheimlichen49 sich ­gerade nicht auf etwas Neues und Fremdartiges richtet, wie es das Monströse als skandalöse Abweichung darstellt, sondern nach Freuds Definition auf „etwas wiederkehrendes Verdrängtes“.50 Der Begriff des Unheimlichen, der im Zusammenhang mit James deutlich häufiger aufgerufen wird als der des Monströsen51, erlaubt aber einen spekulativen Ausblick auf die Folgen dessen, was hier im Anschluss an James als monströses Self-Fashioning bezeichnet worden ist: Eine Option des Selbstentwurfs um 1900 ist offenbar die Produktion eines Narrativs größtmöglicher Devianz. Ausgeschlossen wird in diesem Entwurf eine angstbesetzte Gewöhnlichkeit des „common doom“. Monströses Self-Fashioning bedeutet die poetische Produktion von Distinktion, zugleich aber die Aussparung oder Verdrängung von Material, das mit der produzierten exzeptionellen Individualität nicht kompatibel ist. Dem Warten auf die Bestie, also dem Wunsch nach deviantem Self-Fashioning, steht die Angst vor ihrem Ausbleiben gegenüber, die Mittelmäßigkeit, Scheitern und Versagen des poetischen Selbstentwurfs bedeutet, eine Angst, die bereits James’ frühere Erzählung The Jolly Corner (1908)52 dominiert. Der Sprung der Bestie lässt sich also durchaus als Wieder-

49  Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1970. S. 241–274. Hier: S. 244–246. Die unscharfe Kategorisierung des Unheimlichen als Emotion als auch die Rolle, die in dieser Klassifikation seine ästhetische Provenienz spielt, habe ich andernorts versucht darzulegen: Jan Niklas Howe: Wiedererkennen und Angst. Das Unheimliche als ästhetische Emotion. In: Jan Niklas Howe, Fabio Camilletti, Martin Doll und Rupert Gaderer: Phantasmata. Techniken des Unheimlichen. Berlin 2011. S. 47–62. 50  Freud, Das Unheimliche, S. 263. 51  Und zwar vor allem mit Blick auf seine Erzählung The Turn of the Screw (1898), in der James Stereotypen der Spukgeschichte und avancierten psychologischen Terror verbindet. Monströs sind auch hier weniger die Gespenster der Erzählung als das stillschweigende Einverständnis, das die beiden Kinder mit ihnen einzugehen scheinen: „They know – it’s too monstrous; they know, they know!“ (James, NYE 12, S. 203). Der monströse Effekt wird nicht dem Auftauchen des Fremden zugeschrieben, sondern der Allianz, die es mit dem Vertrauten eingeht. Eine konsequent freudianische Lesart verteidigt Shoshana Felman: Turning the Screw of Interpretation. In: Yale French Studies 55/56 (1977). S. 94–207. 52  Die Erzählung stellt Alltagswelt und monströse Gegenwelt in ein grotesk-komisches Verhältnis zueinander: Auch hier erzählt James vom Bedauern über verpasste Möglichkeiten in einer Rhetorik des „being sold“. Der Protagonist besucht, nach Jahrzehnten der Abwesenheit, sein Elternhaus und findet es von Spukgestalten bevölkert, die seiner eigenen Vergangenheit entstammen. Er beschließt, seinerseits gegenüber diesen Geistern zur spukenden Heimsuchung zu werden. Den erzielten Distinktionsgewinn feiert er als deviantes Self-Fashioning und gelungene Gespenstwerdung: „People enough, first and last, had been in terror of apparitions, but who had ever before so turned the tables and become himself, in the apparitional world, an incalculable terror?“ (NYE 17, S. 385)

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 Deviantes Self-Fashioning: Henry James

kehr des Verdrängten lesen, nämlich dann, wenn die Verdrängung sich auf die Möglichkeit bezieht, dass sie nicht springt. Diese aporetische Konstruktion einer Katastrophe, deren Ausbleiben eine Katastrophe bedeutet, demonstriert, dass sich deviantes Self-Fashioning nach James sehr weit von der Orientierung an sexuellen Selektionsvorteilen entfernt hat, die monströse Selbstformungsversuche in zeitgenössischen ethnologischen Narrativen bestimmt. Marchers Selbstentwurf führt gerade nicht zu sexuellem Erfolg, seine Selbstgesetzgebung ist nur dann in Analogie zum Imperativ der „Caprice“ zu setzen, wenn deren spezifische funktionale Zuschreibungen ausgeblendet werden. Nach Freud heißt der Prozess einer Transformation von Triebwünschen in eine geistig-künstlerische Leistung, sofern diese gelingt, Sublimierung; eine psychoanalytische Lesart der Erzählung müsste entsprechend Marchers Scheitern als Resultat einer misslungenen Triebveredelung interpretieren. In der hier vertretenen „teratologischen“ Lesart ist es eine Folge derjenigen irreduziblen Unkontrollierbarkeit des Monströsen, die es als Instrument der Selbstbeschreibung gleichermaßen attraktiv und gefährlich macht.

Das Monströse überlebt seine Banalisierung Zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten und zwischen 1800 und 1900 entwickelt sich eine Poetik des Monströsen: Schon in der medizinischen Teratologie des frühen neunzehnten Jahrhunderts vollzieht sich ein Übergang vom figuralen Monster zur unsichtbaren Monstrosität. Letzterer eignet zunächst eine instrumentellepistemische Funktion, sie wird aber sukzessive aufgewertet zum eigenständigen wissenschaftlichen Gegenstand. Bei Geoffroy St. Hilaire wird das instrumentelle Interesse an der Missbildung zu einem Interesse an ihrer Produzierbarkeit. Die Produktion monströser Formen steht auch im Zentrum von E. T. A. Hoffmanns Poetik des unsichtbaren Monströsen: Defiguration und Refiguration des Monströsen sind komplementäre Bestandteile einer narrativen Strategie, deren Folge eine breite Streuung und Invisibilisierung monströser Merkmale ist. Unsichtbare Monstrosität prägt ebenso die Konzepte geistiger Erkrankung in der frühen Psychiatrie, deren Invisibilisierungs-Strategien um das Konzept des Triebs organisiert sind. Edgar Allan Poe ersetzt das Sprechen über monströse Formen durch ein Sprechen des Menschenmonsters, das aber von der soufflierenden Instanz eines impliziten Psychiaters abhängig bleibt. Überwachende und monströse Instanz geraten in ein Verhältnis wechselseitiger mimetischer Angleichung. Im Vorfeld der Evolutionstheorie ist die Kategorie des Monströsen politisch besetzt; sie spielt in Darwins Überlegungen zur natürlichen Selektion keine Rolle, kehrt aber in seiner Theorie der sexuellen Selektion als Extremwert der ornamentalen Form zurück. Ebenfalls ästhetische, wenngleich nicht sexuelle, Funktion eignet Monstrosität bei Henry James, bei dem sie als poetischer Selbstentwurf und Effekt einer aufwändigen poetischen Strategie von Wiederholung und Auslassung begegnet. Entgegen der Ankündigung, keine historischen Vektoren nachzuzeichnen, liest sich diese Zusammenfassung wie eine Entwicklungsgeschichte: Aus figuralen Monstern wird unsichtbare Monstrosität, von physischen Deformationen verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf psychische, aus einem epistemischen Instrument wird ein ästhetischer Gegenstand, und aus einem angstbesetzten Ungeheuer wird eine originelle Option des Distinktionsgewinns. Es ist hoffentlich gelungen, zu zeigen, dass diese Entwicklungen dialektischen Gegenbewegungen unterworfen sind: Figuralität kehrt in der Metapher der menschlichen Bestie, physische Deformation in der Kriminalanthropologie des verbrecherischen Menschen zurück, und die Angst vor dem Monstrum steht völlig unverbraucht am Ende derselben James-Erzählung, in der es besonders radikal als Versatzstück von Self-Fashioning gebraucht wird. Diese gegenläufigen Tendenzen illustrieren, was eingangs als Dialektik bezeichnet worden ist: Die Spannungen von Fremdem und Eigenem, Physischem und Psychischem, Realem und Fiktivem, die der Begriff des Monströsen aufruft, sind nicht auflösbar in einer eindeutigen Entscheidung für einen der beiden jeweiligen Pole. Sie sind, als unaufgelöste Spannungen, strukturelle Merkmale des Begriffs, ebenso wie Zeichenhaftigkeit und Angewiesenheit auf poetische Sprache. Die Analysen zu Hoffmann, Poe und James sollen abschließend durch die sehr kursorische Lektüre eines gewaltigen

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Textes ergänzt werden, an dem sich diese Grundstrukturen einer Poetik des Monströsen im neunzehnten Jahrhundert exemplarisch aufzeigen lassen. Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851) enthält die hier erarbeiteten konstitutiven Merkmale einer Poetik des Monströsen in seltener Dichte und Vollständigkeit1, beginnend mit der Juxtaposition von figuralem Monster und unsichtbarer Monstrosität. Das titelgebende Wal-Phantasma des Romans ist neben den sprichwörtlichen Duos Jekyll/Hyde und Frankenstein/Kreatur das wohl meistzitierte figurale Monster des neunzehnten Jahrhunderts. Im Roman ist der Wal allerdings nur sichtbares Korrelat einer immer wieder beschriebenen unsichtbaren monströsen Weltordnung, einer metaphysischen und angstbesetzten Wirklichkeit hinter den sichtbaren Phänomenen: „and of all these things the Albino whale was the symbol“.2 Analog stellt der Entschluss Kapitän Ahabs und seiner Mannschaft, „to hunt that mortal monster in person“3 eine allegorische Entsprechung des erzählerischen Anliegens dar, diese Form der Monstrosität sichtbar und greifbar zu machen, die sich immer wieder in Nebel und Unschärfe oder undurchdringliche Tiefe verflüchtigt. Moby Dick, im Roman häufiger als „monster“ denn als Tier beschrieben, verkörpert die drei Spannungen des Begriffsfeldes von Monster und Monstrosität (1–3) und ebenso die Zuschreibungen von Zeichenhaftigkeit (4) und Poetizität (5). 1. Physische und psychische Abweichung stehen einander in einem Spiegelverhältnis gegenüber, auf der einen Seite das archaische, furchteinflößende Körpermonster der Naturgeschichte, andererseits eine um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts höchst populäre Form geistiger Erkrankung: Ahab wird wiederholt als Monomane bezeichnet.4 Der monströse Wal und der monströse Trieb, den Wal zu jagen, sind gleichermaßen Gegenstand des Romans und nicht einmal durchgängig klar zu unterscheiden. Die Zuschreibung der Monomanie wandert zwischen Ahab und Moby Dick als „the monomaniac incarnation of all those malicious agencies.“5 Ahabs Monstrifizierung ist eine Reaktion auf die traumatische Konfrontation mit einer als monströs verstandenen Weltordnung, deren Allegorie der Wal darstellt – der Wal als Körpermonster wiederum ist eine Projektion der inneren Monstrosität Ahabs, die

1  Melville ist kein eigenes Kapitel gewidmet aufgrund von Umfang und Wucht des Romans, neben dem sich kaum weitere (und kürzere) Texte hätten analysieren lassen. Seine mythischen, biblischen und shakespeareschen Anleihen machen ihn innerhalb der Geschichte der Monstrositäten im neunzehnten Jahrhundert zum Fremdkörper. Desto besser lässt sich der Roman verwenden, um Strukturelemente einer Poetik des Monströsen aufzuzeigen, die über das neunzehnte Jahrhundert hinausreichen. 2  Melville, Moby Dick, S. 165. 3  Melville, Moby Dick, S. 191. 4  Melville verwendet „monomania“ offenbar als Synonym für Wahnsinn; für eine Esquirol-Lektüre oder zumindest die Kenntnisnahme zeitgenössischer Gerichtsfälle spricht die Verwendung im Sinne einer psychischen Erkrankung, die mit Ausnahme einer einzigen idée fixe das psychische Subjekt intakt lässt: „all my means are sane, my motive and my object mad.“ (Melville, Moby Dick, S. 157). 5  Melville, Moby Dick, S. 156.



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monströse Aufladung des Wals wird im Roman eindeutig nicht nur als Formkorrelat der Monomanie Ahabs, sondern als deren direktes Ergebnis bestimmt. Physische und psychische Deformation stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. 2. Der Wal als in erheblichem Maße poetisch überformter Gegenstand eines zweifelhaften Erfahrungswissens wirft im neunzehnten Jahrhundert notwendig die Frage nach dem Verhältnis von realer und fiktionaler Monstrosität auf. Die biblischmythischen Verwendungen des Leviathans sind deutlich etablierter und vor allem eindrücklicher als Studien zu seiner noch wenig fortgeschrittenen naturgeschichtlichen Erforschung. Zugleich stammt das wenige verfügbare akademische Wissen fast durchgängig von Verfassern ohne eigenen Augenzeugenstatus, muss sich also auf das berüchtigte Garn von Seemännern stützen. Warum der Wal sich als Gegenstand der Wissenschaft nicht eignet, legt Melville in einem kurzen Exkurs über die „uncertain, unsettled condition of this science of Cetology“6 dar, innerhalb dessen er mit beiden Cuviers, Hunter und Lesson maßgebliche Zoologen zumindest ein partielles Scheitern einzugestehen zwingt. Die stilisierte Gefährlichkeit des Wals lässt keine Annäherung zu, sein entfernter und unzugänglicher Lebensraum erschwert die Beobachtung, und seine gigantische Unförmigkeit macht die bildliche Wiedergabe fast unmöglich. Auch der Realitätsstatus des monströsen Wals schlechthin, Moby Dick, bleibt bis zur kurzen Jagdszene am Romanende unklar: Über sein Aussehen, seine Untaten und sogar über seine Existenz wird kommuniziert in „outblown rumours“, „morbid hints“, und „half-formed foetal suggestions of supernatural agencies“.7 3. Fremdes und Eigenes sind in Melvilles Roman ähnlich schwer zu trennen. Monströs wird Moby Dick vor allem durch die insistierende Anthropomorphisierung seitens des Erzählers. Intelligenz, Affektfähigkeit und Bösartigkeit kontrastieren mit seiner animalischen Eigenschaft, nur durch „blindest instinct“8 bestimmt zu werden. Umgekehrt unterliegt auch Kapitän Ahab einer Grundkraft des monomanischen Triebs oder Instinkts, die fast durchgängig über eine Metapher parasitärer Monstrosität kodiert ist: „The chick that’s in him pecks the shell. T’will soon be out.“9 Analog zum Poeschen Imp der Perversion begegnet hier die Metapher eines ungeschlüpften Kükens als einer unkontrollierbaren Kreatur innerhalb des psychischen Systems: „God help thee, old man, thy thoughts have created a creature in thee“.10 Die gewaltige weiße Kreatur im Meer und das innere Küken sind Metaphern für die Verschaltung von monströser Persönlichkeitsentwicklung und als feindlich empfundener Lebenswelt. 4. Monstrosität ist in Moby Dick durchgängig zeichenhaft besetzt. Bereits das erste Kapitel heißt programmatisch „loomings“. Gemeint sind undeutlich aufragende

6  Melville, Moby Dick, S. 115. 7  Melville, Moby Dick, S. 153–155. 8  Melville, Moby Dick, S. 139. 9  Melville, Moby Dick, S. 137. 10  Melville, Moby Dick, S. 170.

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Gegenstände in Nebel, Zwielicht oder großer Entfernung, die ebensogut Baumstämme wie Wale, Felsen wie Schiffe, Treibgut wie Schiffbrüchige sein können. Diese undeutlichen Gegenstände müssen im Roman immer wieder neu interpretiert werden und unterliegen, wie Moby Dick selbst, einer zumeist allegorischen Deutung.11 Auslegungszwang ist einerseits ein Resultat von Ahabs Wahnsinn: „to any monomaniac man, the veriest trifles capriciously carry meanings“.12 Aber auch der Erzähler Ishmael interpretiert die Konstellation von wahnsinnigem Kapitän, besessener Mannschaft, bösartigem Meeresungetüm und aussichtloser Jagd allegorisch: „Methinks it pictures life.“13 Eine metaphysische Qualität erlangen die monströsen Zeichen im Roman im Zusammenhang mit der Farbe Weiß, der Melville eine kulturgeschichtliche Abhandlung mit metaphysischer These widmet: Unter der Oberfläche einer freundlichen, farbigen und mannigfaltigen Welt liegt demnach eine feindselige, farblose Ordnung von metaphysischer Monstrosität verborgen. Menschliches Wissen über diese Ebene der Weltordnung gibt es nicht, dafür aber einen jedem Menschen gemeinsamen affektiven Zugang über die unbestimmte Panik, die die Farbe Weiß auslöst. Die Setzung der Farbe Weiß als Chiffre für das Dämonische erklärt alle farbigen und sogar alle sichtbaren Phänomene zur uneigentlichen Oberfläche und dagegen ausgerechnet das Weiße, also das Ausbleiben von Farbinformationen, zum „mystischen“ Zeichen einer tieferen und eigentlichen Ordnung. Gerade seine Unlesbarkeit, die „visible absence of color“ und „indefiniteness“ macht seine paradoxe Zeichenhaftigkeit als „dumb blankness full of meaning“ aus.14 5. Die prekäre Unterscheidung von realer und fiktionaler Monstrosität macht das Monstrum für Melville zum poetischen Gegenstand. Er widmet den klassifikatorischen Gesten der Zoologie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts eine sarkastische Kritik in Form eines überdrehten „cetologischen“ Exkurses. Er enthält eine Typologie des Wals, der Gegenstand und Format der wissenschaftlichen Untersuchung, also Meeres­säuger und geschriebenen Text, in den Kategorien des Folio-, Oktav- und Duodez-Wals aufeinander bezieht. Melville schreibt den Wal in ein fortlaufendes Argument über die Gleichwertigkeit und Komplementarität poetischer und wissenschaftlicher Repräsentationen der Wirklichkeit ein. Die Opposition von praktischem und akademischem Wissen durchzieht den Roman und erstreckt sich auf so unterschiedliche akademische Diskurse wie Geographie, Meteorologie, Ökonomie und Schiffsbau. Allgemeingültige Aussagen über Wale be­treffen „any sperm whale,

11  Trotz aller Verweise Melvilles auf eine kohärente „Bedeutung“ der monströsen Zeichen des Romans scheint eine allegorische Lesart allerdings nicht intendiert: „So ignorant are most landsmen of some of the plainest and most palpable wonders of the world […] they might scout at Moby Dick as a monstrous fable, or still worse and more detestable, a hideous and intolerable allegory.“ (Melville, Moby Dick, S. 172) 12  Melville, Moby Dick, S. 185. 13  Melville, Moby Dick, S. 144. 14  Melville, Moby Dick, S. 165.



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be he poetic or scientific“.15 Analog ist auch Ahab eine genialische Künstlerfigur, zugleich ein Zweifler mit Zügen von Macbeth und Hamlet. Das Bild des wahnsinnigen Kapitäns, der, von einer inneren Monomanie zerfressen, das übermächtige Körpermonster „knife in hand“16 angreift, illustriert eine Korrespondenzpoetik des Monströsen: Nicht nur Kapitän und Wal verhalten sich spiegelbildlich. Moby Dicks weiße Monstrosität spiegelt sich in seiner als monströs gezeichneten maritimen Umgebung, in „white squall“ und „white tide“. Ahabs Monomanie ist reflektiert in einer wilden Mannschaft, bestehend aus Menschenfressern und sozialen Ausgestoßenen. Beide, Kapitän und Mannschaft, erfahren eine weitere Spiegelung in der Gestalt des gespenstischen Parsen Fedallah und seiner Geistermannschaft; alle diese beteiligten Figuren sind gefangen in einer Welt undurchdringlicher Oberflächenzeichen, die einen Einblick in die grundlegende, eigentliche Monstrosität der Weltordnung nur selten freigeben.17 So lässt sich der Roman lesen als Poetik des Monströsen in einem streng Jakobsonschen Sinne: Melvilles Diskurs über das Monströse hat die Form eines fortlaufenden Parallelismus‘. Ausnahmslos alle Phänomene des Romans – diese Aus­ schließ­lichkeit wird begünstigt durch die heterotopische Grundkonstellation der Schiffsreise – sind über ihre gemeinsamen monströsen Attribute miteinander verbunden. Einige Möglichkeiten der Fortschreibung des Modells von Defiguration und Refiguration des Monströsen sind im Rahmen dieses Buchs nicht weiter verfolgt worden. Ein Aspekt monströser Formen, der um der Ernsthaftigkeit der Untersuchung willen weitgehend ausgeblendet worden ist, betrifft ihre komische Wirkung und ihre Nähe zu grotesken Formen. Sowohl bei Hoffmann als auch bei Poe treten neben blutrünstigen Triebtätern eben auch sprechende Alraunen und Flöhe bzw. Homo-Cameleoparden in staatstragender Funktion auf. Selbst bei Henry James scheint kurzzeitig so etwas wie komische Monstrosität möglich, wenn in The Jolly Corner der menschliche Protagonist die Spielregeln kurzerhand ändert und zur Heimsuchung für alle Gespenster wird, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen. In Oscar Wildes The Canterville Ghost (1887) wird ein britisches Gespenst von neu eingezogenen amerikanischen Hausbesitzern ermahnt, nicht zu laut mit seinen Ketten zu rasseln, von ihren Kindern mit Kopfkissen beworfen und mit einer Gespensterattrappe erschreckt und verfällt schließlich im Bewusstsein der eigenen Anachronizität in tiefe Melancholie. Das Konzept des niedlichen Monsters nimmt in der Dialektik von Defiguration und Refiguration eine Sonderstel-

15  Melville, Moby Dick, S. 118. 16  Melville, Moby Dick, S. 157. 17  Diese Annahme einer monströsen Weltordnung lässt einen Ausblick zu auf die Zukunft der modernen Monster jenseits des hier behandelten Zeitraums: Schon Diderot vermutet, dass entweder die Natur monströs ist oder die Gesellschaft, eine Vermutung, die bei Freud zur Gewissheit wird. Jenseits von Melvilles Korrespondenzästhetik des Monströsen entwickelt sich, ausgehend von Dostojewskis Straflagerphantasie über Kafka bis zu den literarischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus, eine Tendenz zur Darstellung monströser sozialer Anordnungen anstelle des monströsen Subjekts.

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lung im Sinne einer Gleichzeitigkeit von Figuration und Banalisierung ein; einen herausragenden pädagogischen Wert dieser Konstellation legt die ungeheure Anzahl von aktuellen Kinderbüchern nahe, die kleine und freundliche Monster porträtieren. Zu den nicht konsequent aufgearbeiteten Anschlussmöglichkeiten des Forschungsdesiderats einer Poetik des Monströsen zählt auch die politische Nutzbarmachung der negativen Potenziale des Monströsen im Anschluss an Lombroso und an die historische Physiognomie, die bis in die Rassenlehre des Nationalsozialismus hinein wirksam bleibt. Die Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen als monströs – dies sind innerhalb der europäischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts v. a. Hermaphroditen, Homosexuelle, in gewissem Sinne auch Frauen18, außerhalb derselben potenziell alle Vertreter kultureller Alterität – wird, ebenso wie Strategien der ästhetischen Aufwertung, möglich durch die unterbestimmte Zeichenhaftigkeit monströser Formen. Wenn die vorliegende Studie einige Gelegenheiten zur ideologiehistorischen Thesenbildung ausgelassen hat, so aus der Überlegung heraus, dass eine poetologische Lesart moderner Monstrosität erschwert würde durch die gleichzeitige Beobachtung der politischen Bedingungen, die sie möglich machen und der Interessen, die sie nötig machen. Belege für diese Schwierigkeit liefert die einleitend erwähnte kulturwissenschaftliche Rhetorik der „hoffnungsvollen Monster“19, die aus dem kategoriellen Dazwischen der Monster eine Subversion kategorieller Fixierung schlechthin ableitet. Subvertiert wird demnach vor allem eine starre Kategorisierung des Menschlichen.20 Positiv besetzte Monstrosität als modernes Instrument zur subversiver Originalität wird in kulturtheoretischen Arbeiten mitunter so affirmativ aufgegriffen, dass sich von der Fortschreibung eines literarischen Musters des neunzehnten in der Theoriebildung des zwanzigsten Jahrhunderts sprechen lässt. Ein Ausgangspunkt dieser Konjunktur scheint die Intellektuellen-Definition Sartres als das „monströse Produkt monströser Gesellschaften“.21 Derrida kündigt am Ende seines Aufsatzes Die Struktur, das Zeichen

18  So zumindest Birgit Stammberger: „Letztendlich dienten die Bezugnahmen auf Monstrositäten der Herstellung eines einheitlich-allgemeinen, aber immer minderwertigen weiblichen Geschlechtskörpers.“ Stammberger, Monster und Freaks, S. 310. 19  Zur Verwendung des Begriffs in der Evolutionstheorie vgl. Stephen Jay Gould: Return of the Hopeful Monster. In: Ders.: The Panda’s Thumb. New York 1982. S. 155–161. 20  Damit wird das Scheitern eines Kernanliegens der Aufklärung gefeiert, wie Monika SchmitzEmans im Anschluss an Agamben aufzeigt: „Demnach hätten Evolutionismus, Freudianismus und die an sie anschließenden Wissensdiskurse der Moderne die intendierte definitorische Konsolidierung des „Humanen“ nicht selbst konterkariert, wohl aber deren Scheitern publik gemacht.“ Monika Schmitz-Emans: Monstren aus der Innenperspektive. Minotaurus-Figuren in der modernen Literatur. In: Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009. S. 523–552. Hier: S. 525. Vgl. dazu Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a. M. 2003. S. 38–40. 21  Jean Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950–1971. Reinbek 1995. S. 90–148. Hier: S. 109. Vgl. Dorothea Wildenburg: Sartres „heilige Monster“. In: Intellektuelle. Aus Politik und Zeigeschichte 40/2010. S. 19–25.



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und das Spiel in den Wissenschaften vom Menschen einen neuen „Typus historischen Fragens“ an, „dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur erst abzuschätzen vermögen“. Gegenstand dieses Fragens ist die Kategorie des noch nicht Benennbaren, das sich erst ankündigt und dies nur tun kann – so wie dies jedesmal bei einer Geburt der Fall ist – in der Gestalt, der Nicht-Gestalt, in der unförmigen, stummen und schreckenerregenden Form der Monstrosität. 22

An die Bestimmung der Monstrosität knüpft Derrida gleichermaßen die Hoffnung auf neue Einsichten und die Befürchtung neuer Schrecken der Erkenntnis. Auf diese Ambivalenz monströser Formen als Hoffnungsträger und Vorboten der Katastrophe ist Derrida immer wieder zurückgekommen: In einem Interview von 1990 beschreibt er die Zukunft als „notwendig monströs“ und das Monstrum als denjenigen Gegenstand, auf dessen Ankunft alle kulturelle Aktivität gerichtet ist.23 Weniger ambivalent erscheint eine paradigmatische Figur des deformierten Marginalen und der monströsen Subversion als kommunikationsstiftender kybernetischer Parasit, der Kommunikation qua Störung erst ermöglicht, bei Michel Serres24, als Cyborg, der historische GenderKonstruktionen aufzubrechen ermöglicht, bei Donna Haraway25, als wissenschaftshistorischer Hybrid, der die epistemologische Ordnung der „Moderne“ desavouiert, bei Bruno Latour26, als postkolonialer Hybrid, der Konstrukte kultureller Identität problematisiert, bei Homi Bhaba27 und im Abjekt-Symptom-Komplex bei Julia Kris­

22  Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976. S. 422–442. Hier: S. 442. 23  Jacques Derrida: Passages—from Traumatism to Promise. In: Points … Interviews 1974–1994. Hg. v. Elisabeth Weber. Stanford 1995. S. 386–387. 24  „Irrtum, Ungewißheit, Verwirrung und Dunkelheit gehören zur Erkenntnis, das Rauschen gehört zur Kommunikation – die Ratte gehört zum Haus. Ja, mehr noch, sie ist das Haus.“ Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1987. S. 26. 25  „The cyborg is resolutely committed to partiality, irony, intimacy, and perversity. It is oppositional, utopian, and completely without innocence. No longer structured by the polarity of public and private, the cyborg defines a technological polis based partly on a revolution of social relations in the oikos, the household.“ Donna Haraway: A Cyborg Manifesto. In: Dies.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. London 1991. S. 149–181. Hier: S. 151. 26 „Wenn man aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmeßgeräten, etc. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte noch auf der Seite der Subjekte, noch in der Mitte zu Hause fühlen, muß wohl oder übel etwas geschehen.“ Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt a. M. 2008. S. 69. 27  „Hybridity is the perplexity of the living as it interrupts the representation of the fulness of life; it is an instance of iteration, in the minority discourse, of the time of the arbitrary sign – ‚the minus in the origin‘ – through which all forms of cultural meaning are open to translation because their enunciation resists totalization.“ Homi K. Bhaba: DissemiNation. Time, narrative, and the margins of the modern nation. In: Ders. (Hg.): Nation and Narration. New York 1990. S. 291–322. Hier: S. 314.

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teva.28 Gesucht und gefunden wird im monströsen Zwischenwesen eine Figur der Auflösung polarer Binaritäten, ein kategoriales Dazwischen, das die Willkür kategorialer Setzungen entlarvt und ihre kontinuierliche Destabilisierung dokumentiert; für Paul de Man wird entsprechend Sprache selbst monströs.29 Das grundlegende Pathos des Marginalen, Abseitigen und Deformierten scheint ein Selbstverständnis von Theoriebildung illustrieren zu können, die sich der kategorialen Festlegung sowohl der eigenen Gegenstände als auch der eigenen Methodik verweigert. Mit den Literaturen des Monströsen im neunzehnten Jahrhundert korrespondiert also im zwanzigsten Jahrhundert ein Theorieparadigma, das die gleichen Potentiale einer Ästhetik der Abweichung in einer ähnlichen Rhetorik der Subversion nutzbar macht. Monstra als Chiffre für subversive Originalität haben ihre Attraktivität als Superlativ origineller Abweichung offenbar nicht dadurch verloren, dass sie in Hollywood-Filmen und ComputerSpielen flächendeckend und meist ohne Originalitätsanspruch zum Einsatz kommen. Nach Evelleen Richards stellen Monstrositäten sogar eine Metapher für den inneren Zusammenhalt sozialer Systeme dar: „The metaphor of the monster […] is a particular powerful one for making sense of the glue that holds bodies, entities, texts, and other material and social arrangements together.“30 Monstrosität ist nach Richards nicht nur eine Metapher, sondern eine Seinsweise, eine Möglichkeit der Erweiterung der eigenen (enttäuschenden) Möglichkeiten und der Rebellion gegen vorgefertigte Denkund Lebensweisen. Dies scheint auch für die Geschichte monströser Selbstbeschreibungen in der Kulturtheorie zu greifen, auf die Fiedlers folgende Feststellung einer Ununterscheidbarkeit von Monstrum und Betrachter präziser zutrifft als in seiner Formulierung gemeint ist, nämlich auf den Kulturtheoretiker offenbar in höherem Maße als auf den Menschen im Allgemeinen: „[…] the distinction between audience and exhibit, we and them, normal and Freak, is revealed as an illusion, desperately, perhaps even necessarily, defended, but untenable in the end.“31 Eine letzte Steigerungsmöglichkeit dieser Aufwertung vom Gegenstand der Kulturtheorie zum Muster ihrer Selbstbeschreibung und zur metaphorischen Bestimmung menschlicher Gesellschaft nimmt Latour vor, wenn er Monster als „nahezu alles“ beschreibt, nämlich als Produkt von Hybridisierungstechniken und Gegenstand von Reinigungstechniken, die gemeinsam die Summe moderner epistemischer Praktiken ergeben:

28 „The symptom: a language that gives up, a structure within the body, a nonassimilable alien, a monster, a tumor, a cancer that the listening devices of the unconscious do not hear, for its strayed subject is huddled outside the paths of desire.“ Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York 1984. S. 11. 29 Nämlich als „some monstrous thing we cannot imagine seeing from the outside“. Vgl. David L. Clark: Monstrosity, Illegibility, Denegation. De Man, bp Nichol, and the resistance to Postmodernism. In: Cohen 1996. S. 40–71. Hier: S. 41. 30  Richards, Anatomy, S. 404. 31  Fiedler, Freaks, S. 36.



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Nun sind aber die Hybriden, die Monstren – oder die ‚cyborgs‘ und ‚tricksters’, wie Donna Haraway sie nennt – nahezu alles. Sie bilden nicht nur unsere Kollektive, sondern auch die der anderen, von uns irreführend als vormodern bezeichnet.32

Diese Bestandsaufnahme monströser Denkfiguren ließe sich um eine komplementäre Sichtung etwa der Motivik der klassischen Avantgarden ergänzen; ihre Persistenz auch nach 1900 scheint aber bereits hinlänglich belegt. Monstrum und Monstrosität sind für die moderne Produktion ästhetischer und intellektueller Paradigmen, in deren Tradition sich die postmoderne Theoriebildung mal widerwillig wie im Falle Latours, mal emphatisch einschreibt, nicht nur ein zentrales Instrument, sondern auch ein integrales Versatzstück ihres Selbstverständnisses. Deutlich wird dabei die paradoxe Gleichzeitigkeit von inflationärem Auftauchen der Monstra und vollständiger Intaktheit des Skandals, der ihnen eignet. Die poetische Operation, die diese Gleichzeitigkeit ermöglicht, ist hier im Rahmen der Poetiken des Monströsen im neunzehnten Jahrhundert beschrieben worden als Abfolge von Defiguration und Refiguration; die Häufung monströser Signifikanten in der postmodernen Theoriebildung legt die Vermutung nahe, dass diese dialektische Maschine weiterhin vollständig funktionstüchtig ist. Die ungebrochene und diskursübergreifende Verwendung ermöglicht noch einmal einen Rückschluss auf die Gültigkeit von Foucaults Banalisierungshypothese: Ein homogenes Set von Regierungstechniken des Monströsen, die aus einem ubuesken Terror der historischen Psychiatrie entstehen und in einer systematischen Banalisierung des Monströsen resultieren, ist keine plausible Erklärung der vielfältigen Erscheinungsformen des Monströsen im neunzehnten Jahrhundert. Die vorangegangenen Lektüren haben gezeigt, dass die Regierungstechniken der Marginalisierung des Monströsen und die Selbsttechniken körperlicher, künstlerischer und existentieller Selbstmonstrifizierung sich zeitlich überlagern, und darüber hinaus, dass beiden eine gemeinsame Poetik radikaler Devianz zugrundeliegt. Figurales Monster und unsichtbare Monstrosität, reale Missbildung und fiktives Wunderwesen, Stigmatisierung des Fremden als monströs und monströser Selbstentwurf, Körpermonster und Sittenmonster existieren parallel zu jedem Zeitpunkt dieser Untersuchung, ohne dass sich eindeutige Entwicklungsvektoren aufzeigen ließen. Foucaults Hypothese einer „großen Transformation des Monsters zum Anormalen“33 ist damit zu widersprechen34:

32  Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 68. 33  Foucault, Die Anormalen, S. 144. 34  Diese Arbeit verdankt Foucaults Überlegungen zur Anomalie sehr viel, wie sicher deutlich geworden ist. Der Abgrenzungsversuch bezieht sich zentral auf Foucaults pessimistisches Einschreiben auch monströser Subjektentwürfe in ein Narrativ fortgesetzter Regierungs- und Selbsttechniken zur Kontrolle des Individuums. Dagegen sind hier sowohl poetische Eigendynamiken monströser Zuschreibungen stark gemacht worden als auch, vor allem bei James, Versuche, mithilfe monströser Selbstbeschreibung Kontrollmechanismen zu überwinden. Diese Versuche sind maximal anschlussfähig an Foucaults späte Formulierung einer minimalen politischen Ethik, „nicht auf diese Weise und

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Das Monstrum stellt deshalb ein so wirkungsvolles Strukturierungsangebot für Anomalität zur Verfügung, weil es seine Banalisierung regelmäßig überlebt. Monstrosität funktioniert, dieser Nachweis war Ziel der vorliegenden Studie, als ein poetischer Superlativ des Abweichenden, der beliebig aktualisiert werden kann über eine Abfolge von insistierender Aufrufung, inhaltlicher Verunklarung, existenzieller Verleugnung, scheinbarem Redeverbot und mit Hilfe des klassischen Arsenals rhetorischer Figuren zur Produktion herausgehobener Bedeutung. Dieses Überleben des Monstrums führt zurück auf die eingangs gestellte allgemeine Frage nach einem ästhetischen Wert des Monströsen und auf die noch allgemeinere Frage nach der ästhetischen Lust an der Abweichung. Nelson Goodman formuliert diese Frage nach der Einheit des Ästhetik-Begriffs als „paradox of ugliness“: Often the emotions involved in aesthetic experience are not only somewhat tempered but also reversed in polarity. We welcome some works that arouse emotions we normally shun. Negative emotions of fear, hatred, disgust may become positive when occasioned by a play or painting.35

Der Versuch dieses Buches, den Begriff der Monstrosität gegenüber dem Bösen, der Phantastik oder dem Wahnsinn aufzuwerten, geht auf einen Vorteil zurück, den er auch gegenüber dem Konzept des Hässlichen aufweist: Er produziert kein Paradoxon in Goodmans Sinne. Hässliche Kunstwerke, ebenso wie Begebenheiten mit unklarem Realitätsstatus, wahnsinnige Protagonisten oder böse Erzähler, verfügen nicht per se über ästhetischen Wert. Sie erhalten ihn durch eine aufwändige poetische Operation, die positive Zuschreibungen des „Eigenen“ oder Vertrauten mit negativen des „Fremden“ und Abweichenden, unglaubwürdige Fiktion mit belastbarer Realität, physische mit psychischer Abweichung in ein Mischverhältnis bringt, in einen Zustand der gleichzeitigen Präsenz im selben Objekt. Die Ambivalenz des monströsen Zeichens löst eine Verunsicherung auf mindestens diesen drei Ebenen aus. Die unbestreitbare ästhetische Attraktivität von Phänomenen, die den Bestimmungen des Schönen gerade nicht zugeordnet werden können36, liegt also nicht notwendig im Charakter der Abweichung begründet, sondern, so der hier vertretene Vorschlag, in der Zweifelhaftigkeit des Verhältnisses dieser Abweichung zur verletzten Norm, anders gesagt: in der Tatsache, dass sie die Norm nicht nur provoziert, sondern möglicherweise zu

um diesen Preis regiert zu werden“. (Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992. S. 12) 35  Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis 1976. S. 246. 36  Winfried Menninghaus argumentiert, „etwas am Schönen“ verlange nach „einer Supplementierung durch ein Nicht-Schönes, nach einer Verunreinigung, um nicht qua Reinheit und ‚Lauterkeit‘ gerade die Unlust ekelhafter Sättigung zu bewirken.“ (Menninghaus, Ekel, S. 48). Diese SupplementFunktion erfüllen nach Menninghaus im achtzehnten Jahrhundert Konzepte wie Grazie, stille Größe und Seele; als paradigmatische Verunreinigung im neunzehnten Jahrhundert können monströse Formen gelten.



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ihrer Erweiterung oder Modifikation beiträgt. Die Problematisierung der ästhetischen Norm, die im Fall des Monsters ja auf dramatische Weise eindringlich ist, reicht als Appell an das ästhetische Sensorium des Betrachters aus, um radikal Abweichendes als ästhetisches Objekt zu klassifizieren. Monstrosität in ihren beiden komplementären Erscheinungsfiguren von figuralem Monstrum und defigurierter Monstrosität ermöglicht die Produktion von als „neu“ und „skandalös“ markierten und herausgehobenen Bedeutungen. Die konkreten historischen Verwendungen – von kriminalanthropologischer Stigmatisierung bis zur Zuschreibung origineller Individualität oder politischer Subversivität – sind dabei höchst flexibel. Die Konzentration der vorliegenden Arbeit auf eine „Poetik“ des Monströsen ist insofern als der Versuch zu verstehen, statt kulturhistorischer Entwicklungsvektoren eine erstaunlich stabile Abfolge sprachlicher Operationen aufzuzeigen, die die Oppositionen fremd/eigen, physisch/psychisch und real/fiktiv aufzurufen ermöglicht, ohne die jeweilige Spannung auf­zulösen. Diese mehrfache Ambivalenz der monströsen Form macht ihre elementare P ­ oetizität aus: Sie lenkt den Blick von der (unklaren) referenziellen Ebene der Mit­teilung automatisch auf die Operation der Verunklarung und damit auf die Form der Mitteilung. Die historische Konjunktur monströser Formen in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, die in den eingehender analysierten Poetiken bei Hoffmann, Poe und James und in den Verweisen auf Jean Paul, Baudelaire, Maupassant und Zola oder in der abschließenden Melville-Lektüre deutlich geworden ist, spricht dafür, dass die Produktion skandalöser Devianz aus einer Wettbewerbssituation entsteht. Niklas Luhmann hat den rhetorischen Topos, dass Variation Freude macht, als „Formverbrauchseffekt“ der Kunst37 bezeichnet. Dieser Effekt fordert strukturell die Häufung radikal abweichender Formen in der Kunst- und Literaturgeschichte, in deren Abfolge von Überbietungs- und Übertreibungsgesten Sichtbarkeit, Originalität und Wiedererkennungswert am einfachsten durch skandalöse Devianz gewährleistet werden kann. Das Verhältnis von Neuem und Monströsem ist hier anhand der Beziehung von Politischer Ökonomie und Evolutionstheorie schon einmal kurz skizziert worden: Das Monstrum als Kunstwerk – denn um ein solches ging es ja in den diskutierten „Poetiken“ des Monströsen – stellt eine noch nicht als schön akzeptierte Konstellation dar, eine Hybridisierung und Vermischung heterogener, bereits anerkannter Normvorstellungen. Es ist, wie die natürliche Monstrosität in Darwins Darstellung, nicht immer mit überzeugenden Überlebens- und Reproduktionschancen ausgestattet. Sein Auftauchen aber folgt notwendig aus dem Druck, den die rasche Abnutzung ästhetischer Formen produziert. Poetische Monstren sind Effekte einer doppelten Wettbewerbs­ situation: Nicht nur gegenüber vorangegangenen Kunstwerken, sondern auch gegenüber der wissenschaftlich erfassbaren Wirklichkeit steht ja der Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts in einer agonalen Beziehung, wie das Geplänkel zwischen

37 „Nur neue Werke gefallen. So setzt sich die Kunst einem Formverbrauchseffekt aus. Sie placiert sich selbst historisch.“ Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995. S. 77.

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 Das Monströse überlebt seine Banalisierung

Jean Paul und Meckel, Hoffmanns Attacke auf die Psychiatrie oder Poes selbstbewusste Fortschreibung der Phrenologie nahelegen. Zola als einziger der hier diskutierten Auto­ ren versucht sich dieser Wettkampfsituation zu entziehen, indem er wissenschaft­liches Experiment und literarische Wiedergabe der Wirklichkeit zusammen­fallen lässt, und gerät in die seltsame Lage, die Produktion sowohl seiner literarischen Gegenspieler als auch die eigene als monströs bezeichnen zu müssen. Baudelaire hat dagegen die konstitutive Bedeutung von Monstren innerhalb seines eigenen Werkes prägnant als Versuch einer Überwindung derjenigen Langeweile beschrieben, die sich einstellt, wenn Wirklichkeit lediglich wiedergegeben wird: „Je trouve inutile et fastidieux de représenter ce qui est, parce que rien de ce qui est ne me satisfait. La nature est laide, et je préfère les monstres de ma fantaisie à la trivialité positive.“38 Die positiven Trivialitäten der Wirklichkeit sind allerdings auch in den konkurrierenden Lebenswissenschaften nicht durchgängig privilegierter Gegenstand: Es scheint, als gäbe es einen Verbrauchseffekt auch wissenschaftlicher Konzepte, dem sich durch periodische Aktualisierung der Skandalfigur des Monstrums begegnen lässt. Dafür spricht die Konjunktur von Monstrositäten in den Lebenswissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts; dafür spricht auch die kulturwissenschaft­liche Aktualität der Denkfigur. Paul Valéry bestimmt als formales Korrelat des Monsters auf Beobachterseite allerdings weder poetische oder wissenschaftliche Kompetenz: „Le complément nécessaire d’un monstre c’est un cerveau d’enfant.“39

38  Charles Baudelaire: Le salon de 1859. In: Ders.: Œuvres complètes Bd. 2. S. 619–620. 39  Paul Valéry: Au sujet d’Adonis. In: Ders.: Variété. Paris 1927. S. 81.

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von Goethe, Johann Wolfgang 36, 64, 74, 97, 109, 165–166 Griesinger, Wilhelm 114, 118–120, 123 Groteske, grotesk 4, 43, 54, 56–57, 77, 111–112, 157

Banalisierung 5–7, 13, 33, 38, 55, 75, 81, 99–100, 121–122, 127, 152, 170, 205, 210, 213–214 Baudelaire, Charles 145, 147–149, 151, 184–185, 215–216 Benjamin, Walter 5–6, 29, 94, 130, 144–145, 149 Bildungshemmung, Entwicklungshemmung 58–59, 63–65, 69, 73, 112, 163, 166, 169, 171 Bildungstrieb 53, 66, 104

Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 4, 49, 73–96, 121, 124, 126, 138, 175, 185, 205, 209, 215

Canguilhem, Georges 4, 9, 14, 23, 26, 30, 49, 51, 71, 98 Cicero 15, 37 Cuvier, Georges 64, 66, 70, 161–162, 168 Dareste, Camille 8, 68 Darwin, Charles 64, 107, 159–160, 162–163, 167–181 Defiguration 5, 7, 14, 23, 47, 73–75, 77, 79, 96–97, 99, 121–122, 124, 128, 152, 194, 205, 209, 213 Detektiv 93–94, 130, 146, 149–150 Diderot, Denis 44–46, 56, 209 Doppelgänger 37, 76, 83, 85, 134, 144 Esquirol, Jean Étienne Dominique 100–101, 105, 114–121, 124, 135, 206 Evolution, Evolutionstheorie 7, 107, 166, 168–171, 175 Flaubert, Gustave 1, 72, 156–157, 194 Foucault, Michel 3–7, 14, 18, 36, 48, 52, 54, 84, 99–102, 106, 108, 117, 120, 148, 167–168, 213 Freud, Sigmund 2, 26, 30, 88, 106–107, 129, 139, 163, 203–204, 209 Geoffroy St. Hilaire, Étienne 56, 63–72, 160–161, 165, 169, 171, 173, 205

James, Henry 4, 49, 126, 129, 183–204, 209, 213, 215 Jean Paul  56–57 Knox, Robert 160–174, 181 Lavater, Johann Caspar 47 Linné, Carl von 25, 160 Locke, John 33–35 Lombroso, Cesare 47, 121–124, 210 Marx, Karl 106, 159–160 de Maupassant, Guy 151–153 Meckel, Johann Friedrich 55–69, 71, 215 Melville, Herman 102, 206–209, 215 Menschenmonster 5, 24, 53, 75, 85, 88, 94, 113, 120–122, 131–132, 150, 174–175, 184 Mischwesen 11, 27–28, 46, 174 Mythologie, Mythos 36, 107 Owen, Richard 161, 168 Paré, Ambroise 21, 25, 42 Phantastik, phantastisch 1, 30, 54, 77, 95, 126, 135, 157, 214 Phrenologie 136–137, 143, 215 Physiognomie, Physiognomik 36, 77, 87–88, 122–123, 143, 210 Pinel, Philippe 81, 97, 114–116, 118 Plinius d. Ä. 29–33 Poe, Edgar Allan 1, 49, 76, 92, 105, 114, 125–153, 175, 185, 190, 193, 195, 205, 209, 215 Psychiatrie 5, 36, 48–49, 77, 82–83, 91–92, 97–124, 143, 152, 155, 183, 205, 213, 215 Psychoanalyse 8, 106–107, 117, 163

232 

 Index

Refiguration 7, 14, 23, 47, 73, 75, 77, 94, 96, 99, 118, 121–124, 128, 138, 144, 152–153, 194, 205, 209, 213 Reil, Johann Christian 81, 97, 108–114, 118, 123, 135 Richter, Johann Paul Friedrich [Jean Paul]  56–57

Teratologie 8, 36, 43, 51–72, 91, 122, 157, 160–161, 169–170, 181, 183, 205 Trieb 7–8, 53, 66–67, 77–78, 87–88, 90–92, 97–114, 124, 128, 131, 143, 145, 150, 155–158, 186, 206

de Sade, Donatien Alphonse François 1, 44, 183 Selektion, natürliche 114, 137, 160, 168–173, 175–177, 180–181, 205 Selektion, sexuelle 114, 137, 160, 168, 171–181, 205 Self-Fashioning 12, 183, 186, 198–205 Schlegel, Friedrich 3, 56–57 Shelley, Mary 49, 97–98, 186

Wahnsinn 81, 83, 92–93, 95, 98–99, 102, 109–112, 114–117, 125, 128, 130–132, 141–142, 193, 206, 208, 214

Unheimliches, unheimlich 55, 88, 203

Zola, Émile 49, 155–159, 215