Mittelalterliche Mythenrezeption: Paradigmen und Paradigmenwechsel [1 ed.] 9783412511944, 9783412511531

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Mittelalterliche Mythenrezeption: Paradigmen und Paradigmenwechsel [1 ed.]
 9783412511944, 9783412511531

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MITTELALTERLICHE MYTHENREZEPTION

PARADIGMEN UND PARADIGMENWECHSEL

ULRICH REHM (HG.)

SENSUS. STUDIEN ZUR MITTELALTERLICHEN KUNST

SENSUS. STUDIEN ZUR MITTELALTERLICHEN KUNST HERAUSGEGEBEN VON ULRICH REHM BRUNO REUDENBACH BARBARA SCHELLEWALD SILKE TAMMEN

BAND  10

MITTELALTERLICHE ­MYTHENREZEPTION PARADIGMEN UND PARADIGMENWECHSEL

ULRICH REHM (HG.)

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Fortuna (Detail), Illustration zu einem John Ridewall zugeschriebenen Traktat über Tugenden und Laster, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. Lat. 1066 (süddeutsch, 1424), fol. 236v (Digitalisat der Handschrift unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_1066)

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktionsassistenz: Jule Wölk, Alexandra Sommer, Felicitas Meisel, Bochum Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Satz: Michael Rauscher, Wien

ISBN 978-3-412-51194-4

Inhalt

6 Editorial 7 Ulrich Rehm · Einleitung 27 Katharina Meinecke · Dionysos am Hofe. Mythen(bild)rezeption bei den Umayyaden 57 Fabio Guidetti · A Sky without Myths? Pagan Imagery in Early Medieval Astronomy 81 Rebecca Müller · Mythenrezeption in karolingischer Zeit. Bilder, Texte, und Bilder in Texten 105 Susanne Moraw · Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter. Die Odyssee in den monastischen Diskursen des Mittelalters 127

Stefan Trinks · Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva. Mythenparallelismus in der monumentalen Theologie, 5. bis 15. Jahrhundert

157 Stephanie Wodianka · Metamorphosen des Ovid zum höfischen Erzählen. Philomena von Chrétien de Troyes 173 Dale Kinney · The Paradigm of spolia 193 Irene Berti/Filippo Carlà-Uhink · Mixanthropoi. Die mittelalterliche Rezeption antiker hybrider Kreaturen 223 Ronny F. Schulz · Modifikation und Neuschöpfung des Mythos in der deutschsprachigen Literatur an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert 241

Bildteil

265 Abbildungsnachweis

Editorial

Der vorliegende Band der Reihe Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunstgeschichte ist gemeinsam mit jenen von Kristin Böse und Hanna Wimmer einer von dreien, deren Veröffentlichung Silke Tammen mit großer Aufmerksamkeit begleitet hat, deren Erscheinen sie aber nicht mehr miterlebt. Zu Ostern 2018, am 2. April, erlag sie ihrer schweren Krankheit, mit der sie tapfer gerungen hat und von der sie sich bis zuletzt nicht hat abhalten lassen, im Dialog mit den ihr Verbundenen zu bleiben und wie eh und je inspirierende Blicke in die Zukunft zu werfen. Dabei hat es sie durchaus geschmerzt schließlich einsehen zu müssen, dass sie selbst an dieser Zukunft nicht mehr wird teilhaben können. Silke Tammen war, auf eine Initiative von Elena Mohr hin, die Gründerin unserer Publikationsreihe, und der Titel Sensus beruht auf ihrer Idee. Damit hat sie eines ihrer wissenschaftlichen Anliegen auf den Punkt gebracht, in dem wir uns als Herausgeberkollegium zusammenfinden konnten: das lateinische sensus bezeichnet nicht allein den intellektuell erschlossenen Sinn einer Sache; sensus bedeutet zugleich den sinnlichen Eindruck, den eine Sache auszulösen vermag. Dementsprechend lag es Silke Tammen in besonderer Weise daran, jedes künstlerische Artefakt als ein konkretes physisches Gegenüber in seinem ästhetischen Erscheinungsbild zu begreifen und aus den spezifischen Bedingungen dieser Begegnung heraus nach seinen Bedeutungen zu fragen. So vielfältig das Spektrum der seit 2009 erscheinenden Sensus-Reihe ist, alle Bände tragen auf ihre je eigene Weise dazu bei, die so formulierte Perspektive auf die Kunst des Mittelalters zu verfolgen. Allzu früh musste unsere 1964 in Detmold geborene Mitherausgeberin aus dem Leben scheiden. Vieles hätte sie gerne selbst noch bewirkt und erlebt. Ihre Begeisterungsfähigkeit und Sensibilität, ihr Mut, ihre Zugewandtheit und ihr Urteilsvermögen werden uns sehr fehlen. Wir sind dankbar für die Zeit, die wir mit Silke Tammen teilen durften. Barbara Schellewald, Bruno Reudenbach, Ulrich Rehm

Einleitung

Ulrich Rehm Anlass, Thema, Hintergrund »Mittelalterliche Mythenrezeption. Paradigmen und Paradigmenwechsel« lautete das Thema einer wissenschaftlichen Tagung, die vom 2. bis zum 4. Juni 2016 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand.1 Es ging um die Frage, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten Mythen der antiken Tradition, insbesondere der griechischen und der römischen Kultur, im Mittelalter rezipiert wurden. Unter Mythen werden dabei »kollektiv bedeutsame, durch Tradition bekannte Erzählungen von Göttern und Heroen« verstanden, »oft in ihrer Interaktion mit Menschen«. Dabei sind die beteiligten Gestalten personal gedacht.2 Ziel der Tagung war es, diese Fragestellung über die Breite der Gattungen (Literatur, Bildkünste) hinweg zu untersuchen und dementsprechend disziplinenübergreifend zu arbeiten. Dazu gehörte maßgeblich, zu untersuchen, welche Erkenntnisse sich aus den jeweiligen künstlerischen Produkten unterschiedlicher Art selbst und aus deren Entstehungskontext herleiten lassen. In der Zusammenschau der erreichten Ergebnisse war es jedoch zugleich das Ziel, für das Phänomen mittelalterlicher Mythenrezeption eine chronologische Binnenstrukturierung in den Blick zu nehmen, die es erlaubt, historisch relevante Phasen und Umbrüche zu definieren. Das entsprechende methodische Spektrum, das sich mit unterschiedlichen Gewichtungen in den Beiträgen entfaltet, soll mit dem Paradigma-Begriff im Untertitel des nun vorgelegten Bandes umrissen werden. ›Paradigma‹ in seinen zwei maßgeblichen Bedeutungen, wie Thomas S. Kuhn sie definiert hat, erscheint besonders gut geeignet zu sein, der oben benannten Spanne des Erkenntnisinteresses gerecht zu werden.3 1 Ein ausführlicher Bericht zur Tagung findet sich in der Kunstchronik vom Januar 2017: Jeannet Hommers und Hannah Jacobs, Unendlich vielschichtig: Die Rezeption antiker Mythen im Mittelalter, in: Kunstchronik 70, 2017, 48–55. 2 Hartmut Leppin, Einleitung: Antike Mythologie in christlichen Kontexten der Spätantike, in: Antike Mythologie in christlichen Kontexten der Spätantike, hg. v. Hartmut Leppin (Millennium-Studien/Millennium Studies, Bd. 54), Berlin 2015, 1–18, hier 5. 3 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1978.

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Paradigma heißt in unserem Zusammenhang: 1 ein einzelnes Element aus dem Ensemble aller Phänomene der Mythenrezeption, das gleichwohl als gemeinschaftliches Beispiel für eine bestimmte Form der Mythenrezeption gelten darf; 2 die Gesamtheit der Techniken, Modelle und Werte, die die jeweils Beteiligten an den Prozessen der Mythenrezeption miteinander teilen.4 Es werden also zum einen, wie Giorgio Agamben formulierte, ausgewählte Beispiele aus dem Gesamtensemble der betreffenden Phänomene ausgesetzt und in ihrem exemplarischen und spezifischen Charakter gleichermaßen exponiert.5 Eine historische Dimension ist dabei von vornherein schon deshalb integriert, weil die historischen Kontexte der Mythenrezeption wesentlicher Bestandteil sowohl des Interpretationshorizonts als auch des Erkenntnisziels sind. Insbesondere durch die Kennzeichnung von Paradigmen-Ensembles lässt sich eine Brücke zum Paradigma-Begriff in seiner zweiten Bedeutung schlagen, denn hierdurch werden historische Phasen der Mythenrezeption identifizierbar gemacht, deren Zäsuren sich als Paradigmenwechsel auffassen lassen. Hintergrund der Tagung und des vorliegenden Bandes ist das vom Herausgeber dieses Bandes geleitete, auf drei Jahre hin ausgerichtete Forschungsprojekt »Bildliche Mythenrezeption im Mittelalter und der Epochendiskurs moderner Kunsthistoriographie« (DFG, RE 986/5-1). Im Rahmen zweier komplementär zueinander angelegter Teilprojekte untersucht der Verfasser die bildlichen Produkte mittelalterlicher Auseinandersetzung mit den Mythen der ›paganen‹ Antike auf ihre historischen Voraussetzungen und Aussageabsichten hin; die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen – zunächst Miriam Marotzki, dann Melis Avkiran – untersuchen, welche Rolle die bildliche Mythenrezeption im Epochendiskurs der frühen Kunstgeschichtsschreibung im 19. und frühen 20. Jahrhundert spielte. U. a. werden hier die seinerzeit verbreiteten Modelle vom ›Nachleben‹ der Antike kritisch gewürdigt und historisiert. Und zugleich setzt sich das Komplementärprojekt mit den entsprechenden Ergebnissen insofern auseinander, als darin jeweils alternative Deutungsansätze vorgeschlagen, diskutiert und erprobt werden.

Zur Fragestellung aus kunsthistorischer Perspektive Ein maßgeblicher Ausgangspunkt des benannten Forschungsprojekts zur bildlichen Mythenrezeption ist die Beobachtung, dass sich Wissenschaftler bis in jüngste Publikationen hinein immer wieder scheuen, Bildmotive aus dem Repertoire antiker Götter und Helden, sobald diese im westlichen Mittelalter auftreten, bei ihrem Namen zu nennen und sie wenigstens in einem ersten Schritt als eine direkte, absichtsvolle Auseinandersetzung mit der Kultur der

4 Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M. 2009, 11–39, hier v. a. 12–14. 5 Vgl. ebenda, hier v. a. 37.

Einleitung 9

Antike gelten zu lassen. Stattdessen werden sie häufig von vornherein als allegorische Figuren oder gar als bildliche Synonyme zu christlichem Personal aufgefasst. Als Hauptverursacher für dieses Phänomen lassen sich bestimmte Konzepte der Kunsthistoriographie identifizieren, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt und in verschiedenen Variationen angewandt wurden. Deren Zweck bestand vor allem darin, zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass bei einer vermeintlich weitreichenden Ablehnung ›paganer‹ Sujets durch die mittelalterliche Kultur dennoch in vielfältiger Weise antike Originalartefakte mit entsprechenden Darstellungen verwendet wurden und eine große Zahl an mittelalterlichen Bildern zum Themenkreis der antiken Mythologie zustande kam. Das eine Konzept ist das der interpretatio christiana, das andere jenes des Disjunktionsprinzips (principle of disjunction). In ihrer jeweiligen Anwendung sind die beiden nicht immer streng voneinander abzugrenzen. Bevor ich beide Konzepte kurz erläutere, scheint es nötig, auf ein weiteres übergreifendes historisches Modell der frühen Kunsthistoriographie hinzuweisen, das den weltanschaulichen Hintergrund zu den besagten Konzepten bildet: das Modell des Nachlebens.6 In starker Verkürzung lässt sich dieses folgendermaßen beschreiben: Die in der klassischen Antike durch die Künste erreichte Schönheit wird als Gipfel menschlicher Schöpfungskraft begriffen, als ein universales Ideal, das, einmal erreicht, unauslöschlich fort- oder nachlebt, sei es in Kulturen, die diesen Idealen angeblich ignorant oder feindlich gegenüberstehen (Mittelalter), sei es in Kulturen, die sich maßgeblich an dem entsprechenden Ideal orientieren (Renaissance). Dieses Geschichtsmodell ist wesentlich vitalistisch geprägt, das heißt, es wird unterstellt, eine einmal zum Durchbruch gelangte Kraft bzw. Energie wirke in der Geschichte mehr oder weniger selbstmächtig fort.7 Dabei können die Formen dieses Fortwirkens ganz unterschiedlich aussehen, je nachdem, ob die sie hervorbringenden Kulturen jener Kraft negativ oder positiv gegenüberstehen. Für das Mittelalter hat der Kunsthistoriker Aby Warburg in diesem Zusammenhang die Metaphorik von Kern und Schale eingeführt: Der ›wahre‹ Kern jener überzeitlichen Energie aus der griechischen Antike kam demnach im Mittelalter kaum ohne Verhüllungen aus, von denen man sich erst mit dem Eintreten der Renaissance wieder verabschieden konnte.8 An dieser Stelle mag deutlich wer-

6 Dieser Begriff lässt sich, bezogen auf die Kunst des Mittelalters, zurückverfolgen bis 1862: Anton Springer, Das Nachleben der Antike im Mittelalter, in: Die Grenzboten 21, 1862, 489–499; vgl. auch: Ders., Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, Bonn 1867, 1–28; 2. Aufl. Bonn 1886, 3–37. Fokussiert auf das Œuvre Aby Warburgs vgl. z. B.: Martin Treml, Warburgs Nachleben. Ein Gelehrter und (s)eine Denkfigur, in: Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung, hg. v. Martin Treml und Daniel Weidner, München 2007, 25–40; Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 2010. 7 Vgl. Nelly Tsouyopoulos, Vitalismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, 1076–1078; Armin Wildfeuer, Vitalismus, in: Handwörterbuch der Philosophie, Göttingen 2003, 667– 668; Reinhard Mocek, Vitalismus, in: Enzyklopädie Philosophie, Bd. 3, Hamburg 2010, 2910–2912. 8 Aby Warburg, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoia zu Ferrara, Atti del X congresso internazionale di storia dell’arte in Roma. L’Italia e l’arte straniera, Rom 1922, 179–193, wiederabgedruckt in: Ders., Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin 2010, 373–400.

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den, welch entscheidende Position der Aspekt bildlicher Mythenrezeption im Epochendiskurs der frühen Kunstgeschichtsschreibung eingenommen hat. Das Konzept der interpretatio christiana kommt besonders dort zum Tragen, wo originale antike Artefakte im Mittelalter Verwendung fanden, zumeist, indem sie größeren künstlerischen Ensembles, wie z. B. Heiligenschreinen, integriert wurden.9 Besonders gut lässt sich dieses Konzept an jüngeren Interpretationen zum Einsatz antiker Gemmen am Dreikönigenschrein in der Hohen Domkirche in Köln exemplifizieren: Will man den Ausführungen von Erika Zwierlein-Diehl von 2008 folgen, so wurde der heute in Wien befindliche PtolomäerKameo vom Kölner Dreikönigenschrein mit dem Doppelporträt von Ptolomaios II. und seiner Gemahlin Arsinoe II. im hochmittelalterlichen Köln als Darstellung der Heiligen Drei Könige aufgefasst (Abb. 1).10 Als Gewährsmann dafür hält niemand Geringerer her als Albertus Magnus, der den auf dem Nackenschutz des Helmes dargestellten Kopf als den eines Äthiopiers angesprochen hat, so dass man überhaupt auf den Gedanken kommen kann, es seien insgesamt drei Personen. Die Verfasserin sieht in der Benennung des Äthiopiers den frühen Hinweis auf die Verknüpfung der Heiligen Drei Könige mit drei Kontinenten.11 Dass man hier über die verschiedenen Realitätsebenen – zwei historische Personen hier, ein Helmziermotiv dort – hinweggeblickt haben soll, lässt sich (wie auch Philippe Cordez bemerkt)12 mit der Formulierung des Albertus Magnus in gewissem Maße noch rechtfertigen, fraglich bleibt allerdings, warum der sonst durchaus auskunftsfreudige Autor die christliche Interpretation als solche einfach verschwiegen haben soll. Geht es hier um die vermeintliche Umdeutung historischer Personen, so wurde eine interpretatio christiana analog besonders oft für mythologische Motive und Sujets unterstellt. Das gilt auch für den dem Ptolomäer-Kameo einst unmittelbar benachbarten Intaglio mit der Darstellung von Venus, Amor und Mars, von dem behauptet wird, man habe Venus und Amor für die Gottesmutter mit dem Jesuskind und Mars für einen der Heiligen Drei Könige gehalten (!) (Farbabb. 1).13 Der seit dem 18. Jahrhundert auf derselben Trapezplatte nachweisbare Medusen-Kameo augusteischer Zeit schließlich soll (im Sinnes eines Pendants zum

9 Ein frühes Beispiel für die Anwendung der interpretatio christiana: William S. Heckscher, Relics of Pagan Antiquity in Mediaeval Settings, in: Journal of the Warburg Institute 1, 1937, 204–220. 10 Erika Zwierlein-Diehl, Die Gemmen und Kameen des Dreikönigenschreines (Denkmäler Deutscher Kunst. Die großen Reliquienschreine des Mittelalters, Bd. 1: Der Dreikönigenschrein im Kölner Dom; Studien zum Kölner Dom, Bd. 5), Köln 1998, 61–102, hier 92–95; Erika Zwierlein-Diehl, Antike Gemmen im Mittelalter. Wiederverwendung, Umdeutung, Nachahmung, in: Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter, hg. v. Dietrich Boschung und Susanne Wittekind (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die Antiken Kulturen des Mittelmeerraumes – Centre for Mediterranean Cultures, Bd. 6), Wiesbaden 2008, 237–284 (mit Bibliographie 273–283), hier 248–250. 11 Zwierlein-Diehl 1998 (wie Anm. 10), 92–95; Zwierlein-Diehl 2008 (wie Anm. 10), 249–250. 12 Philippe Cordez, La châsse des rois mages à Cologne et la christianisation des pierres magiques aux XIIe et XIIIe siècles, in: Lucas Burkart, Philippe Cordez, Pierre Alain Mariaux und Yann Potin (Hg.), Le trésor au Moyen Âge. Discours, pratiques et objets (Micrologus’ Library 32), Florenz 2010, 315–332, hier 321. 13 Zwierlein-Diehl 2008 (wie Anm. 10), 250.

Einleitung 11

1 Ptolomäer-Kameo, 278–269 vor Chr., von der Trapezplatte des Dreikönigenschreins, Wien, Kunsthistorisches Museum, Antikensammlung, Inv. Nr. IXa 81

karolingischen Christus-Kameo) als Bildnis der Gottesmutter aufgefasst worden sein.14 Überzeugende Belege für solche Behauptungen sucht man (fast immer) vergebens. Verführerisch am Begriff der interpretatio christiana ist, dass er eine gewisse mittelalterliche Anmutung besitzt. Tatsächlich, darauf hat Dale Kinney hingewiesen, handelt es sich um einen Terminus der modernen Kunstgeschichtsschreibung.15 Unter den zahlreichen vermeintlichen Fällen einer interpretatio christiana, für die zumeist, wo überhaupt, nur in bescheidenem Umfang historische Belege namhaft gemacht werden, ist dem Verfasser bisher nur ein einziger begegnet, der eine gewisse Plausibilität aufweist.16

14 Zwierlein-Diehl 1998 (wie Anm. 10); Zwierlein-Diehl 2008 (wie Anm. 10), 263–265, Abb. 17. Demgegenüber bietet Beate Fricke eine ganz andere Lesart (Beate Fricke, Ecce fides. Die Statue von Conques, Götzendienst und Bildkultur im Westen, München 2007, 297–298). 15 Dale Kinney, Interpretatio christiana, in: P. B. Harvey Jr. und C. Conybeare (Hg.), Maxima debetur magistro reverentia. Essays on Rome and the Roman Tradition in Honor of Russel T. Scott, Como 2009, 117–125. 16 Ulrich Rehm, Kontaktaufnahmen zur römischen Kultur der Antike? Zur Verwendung älterer Elfenbeine und Gemmen im Mittelalter, in: Wunder Roms im Blick des Nordens. Von der Antike bis zur Gegenwart, Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, hg. v. Christoph Stiegemann, Petersberg 2017, 162–173.

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Das Konzept des Disjunktionsprinzips (principle of disjunction) wurde erstmals 1933 formuliert, und zwar in einem Aufsatz, der zunächst kurz vorzustellen ist, da er sowohl für das Projekt zur bildlichen Mythenrezeption als auch für die Tagung einen maßgeblichen Referenzpunkt bildet.17 Schon das Erscheinungsdatum 1933 und die Tatsache, dass es sich um die erste englischsprachige Publikation von Erwin Panofsky und dem als Ko-Autor firmierenden Fritz Saxl handelt, mag darauf hindeuten, unter welch komplizierten Umständen dieser Text zustande kam. Er ist auf das Engste verknüpft mit der unmittelbar bevorstehenden Phase des Exils beider Autoren. Erwin Panofsky war mit den in Hamburg gemeinsam entwickelten Ergebnissen zu Fragen der klassischen Mythologie in der mittelalterlichen Kunst in die USA gereist, um mit einem entsprechenden Werbevortrag Unterstützer für die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Aby Warburgs zu finden.18 Denn diese war nach dem frühen Tod Warburgs am 26. Oktober 1929 (zwei Tage nach dem Börsenkrach an der Wall Street) in finanzielle Bedrängnis geraten, auch wenn der in die USA ausgewanderte Bruder Felix eine beträchtliche Summe zusicherte.19 Der schließlich 1933 in den Metropolitan Museum Studies erschienene Aufsatz ist bis heute die einzige kunsthistorische Publikation zum Thema Classical Mythology in Mediaeval Art, die mit dem Anspruch auftritt, das untersuchte Phänomen über die gesamte Breite des Mittelalters zu verfolgen und eine sich darauf gründende Binnenperiodisierung des betreffenden Zeitraums vorzunehmen. Mit dem dabei angewandten Disjunktionsprinzip schien das hoch- und spätmittelalterliche Rezeptionsverhalten des Mittelalters gegenüber der Antike auf einen zur historischen Regel geronnenen Lehrsatz gebracht: Wo überhaupt das antike Erbe wirksam werden konnte, dort nur unter der Bedingung des Auseinanderbrechens von Form und Inhalt20 bzw. von Motiv und Thema21. Antike Formensprache konnte angeblich ausschließlich im Kontext christlicher Thematik Anwendung finden, antike Bildthemen, allen voran die Darstellung der alten Götter, konnten allenfalls in nichtantikischer, mittelalterlicher Formensprache erscheinen.

17 Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Classical Mythology in Mediaeval Art, in: Metropolitan Museum Studies IV (1932–1933), 228–280. Kritische Ansätze dazu z. B. bei: Salvatore Settis, Von auctoritas zu vetustas: die Antike Kunst in mittelalterlicher Sicht, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 51, 1988, 157–179; Konrad Hoffmann, Panofskys „Renaissance“, in: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992, hg. v. Bruno Reudenbach (Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, Bd. 3), Berlin 1994, 139–144; Ulrich Rehm, Herkules und der Löwe des Heiligen Markus. Der mittelalterliche Transfer „paganer“ Antike an die Fassade von San Marco in Venedig, in: Philopation. Schriften über Byzanz und seine Nachbarn. Festschrift für Arne Effenberger zum 70. Geburtstag, hg. v. Falko Daim und Neslihan Asutay-Effenberger (Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, Bd. 106), Mainz 2013, 165–182. 18 Erwin Panofsky, Korrespondenz 1910–1936, hg. v. Dieter Wuttke, Erwin Panofsky, Korrespondenz 1910 bis 1968. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden, hg. v. Dieter Wuttke, Bd. 1, Wiesbaden 2001, 429–431. 19 Ron Chernow, Die Warburgs. Odyssee einer Familie, Berlin 1994, 359. 20 Panofsky und Saxl 1932–1933 (wie Anm. 17). 21 Erwin Panofsky, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939, erweiterte Neuauflage ebenda 1962.

Einleitung 13

Hatte Aby Warburg seine entsprechenden Beobachtungen noch als Inversion (und Fritz Saxl als Form- oder Gestaltwandel) bezeichnet,22 so transportierte der nunmehr eingeführte Begriff der Disjunktion von vornherein etwas Negatives. Trotz des gemeinsamen, vitalistisch geprägten Ansatzes23 lässt die Wahl unterschiedlicher Termini auf geradezu entgegengesetzte Konzepte schließen: Inversion impliziert einen kreativen künstlerischen Umgang mit den betreffenden Phänomenen, Disjunktion hingegen das letztlich destruktive Resultat eines Unvermögens. Nur am Rande sei bemerkt, dass das im Aufsatz von 1933 verhandelte ›Nachleben‹ der antiken Götter und Helden im Mittelalter ausdrücklich im Sinne eines Überwinterns von Humanität in finsteren Zeiten formuliert wurde. Hier zeigt sich in besonders drastischer Weise, in welchem Maße zeitbedingt und suggestiv der kunsthistoriographische Diskurs zur mittelalterlichen Mythenrezeption ausfallen kann. Gerade mit seinem auch später immer wieder aufgegriffenen Beispiel, den zwei HerkulesReliefs an der Fassade von San Marco in Venedig (Abb. 2), kommt Panofsky dem Konzept der interpretatio christiana besonders nahe.24 Im Fall der hier wiederverwendeten antiken Spolie mit der Darstellung des Herkules im Kampf mit dem erymanthischen Eber bleibt das Problem seiner Wiederverwendung innerhalb eines mittelalterlichen Ensembles schlicht und einfach ausgeblendet. Das mittelalterliche Pendant, das sich deutlich an der Spolie orientiert, wird zu einer Allegorie der Erlösung deklariert, so dass in der Figur des nackten Helden von vornherein angeblich gar nicht die Gestalt des Herkules, sondern eine christliche Personifikation erkannt wurde. So wenig bewusst diese Konzepte womöglich heute in den Köpfen verankert sind, so wirkungsreich sind sie offensichtlich noch. Für die Geschichte der Kunsthistoriographie heißt das: Die entscheidenden Fragen zum historischen Verständnis bildlicher Mythenrezeption im Mittelalter gelangen oft gar nicht erst an die Oberfläche. Warum griff man im Mittelalter überhaupt auf Themen und Motive der antiken Mythologie zurück? Aus welcher Motivation, mit welcher Absicht modellierte man sie immer wieder neu? Was waren die intellektuellen oder ästhetischen Motivationen und Interessen? Dies wird bisher allenfalls in Einzelfällen gefragt, kaum jedoch für die als mittelalterlich bezeichnete Ära als ganze. Ist die hinter dem Disjunktionsprinzip wirksame Vorstellung vom Nachleben der klassischen Antike erst einmal eingesickert, bleibt jegliches weitere Fragen im Keim erstickt. Das antike Ideal ›lebt‹ – ganz gleich, ob es sich vor irrationalen Anfeindungen verhüllen muss (Mittelalter) oder sich sichtbar entfalten kann (Renaissance). Die angeblichen Verhüllungen werden von den Wissenschaftlern gleich mitgeliefert: Entweder wird der

22 Zu Warburgs Inversionsbegriff vgl. Cornelia Zumbusch, Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk (Studien aus dem Warburg-Haus, Bd. 8), Berlin 2004; zu Saxls Form- und Gestaltwandel-Begriff: Katia Mazzucco, Fritz Saxl. Transformation and Reconfiguration of Pagan Gods in Medieval Art, in: The Routledge Companion to Medieval Iconography, hg. v. Colum Hourihane, London/New York 2017, 89–104, hier v. a. 98. 23 Vgl. z. B. Ulrich Raulff, Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg (Göttinger Gespräch zur Geschichtswissenschaft 1995), Göttingen 2003. 24 Rehm 2013 (wie Anm. 17).

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2 Herkules, Relief, griechischer Marmor, spätantik (?), Venedig, San Marco, Westfassade – Herkules, Relief, griechischer Marmor, Venedig, 13. Jh., ebendort

antiken oder antikisierenden Form eine christliche Bedeutung aufgezwungen oder das antike Motiv wird als formensprachlich ganz und gar unantikisch bzw. mittelalterlich eingestuft. Was das für konkrete mittelalterliche Beispiele bedeutet, lässt sich z. B. an der Westfassadenskulptur am Dom von Modena vom Beginn des 12. Jahrhunderts herausstellen (Abb. 3).25 Mitten auf der Reliefplatte mit der alttestamentlichen Szene des Opfers von Kain und Abel begegnet uns ein Motiv, das deutlich auf antike Atlasdarstellungen rekurriert. Insbesondere die noch heute existenten antiken Figuren des sogenannten Atlas Farnese und des sogenannten Atlas Albani wurden als wahrscheinliche Bezugspunkte namhaft gemacht.26 25 Marina Armandi und Rolando Bussi (Hg.), Lanfranco e Wiligelmo. Il Duomo di Modena (Quando le cattedrali erano bianchi; mostre sul Duomo di Modena e dopo il restauro), Modena 1984; Joachim Poeschke, Die Skulptur des Mittelalters in Italien, Bd. 1, Romanik, München 1998, Abb. 20–21, 38, 68–79, v. a. 72–73. 26 Stefan Schweizer, Exemplum virtutis? Zum Nachleben des antiken Atlasmotivs und zur Genese architektonischer Stützfiguren im Mittelalter, in: Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz – Okzident – Rußland, hg. v. Otto Gerhard Oexle und Maichail A. Bojcov (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, Bd. 226), Göttingen 2007, 119–185.

Einleitung 15

3 Opfer Kains und Abels, Relief, Anfang 12. Jh., Modena, Dom S. Gimignano

Statt die Figur des Atlas auch im alttestamentlichen Kontext der Modeneser Skulptur zunächst einmal als solche gelten zu lassen, wird sie – selbst in jüngerer Literatur – sogleich ins Exemplarische oder Allegorische verwandelt: So heißt es in einem 2007 erschienenen Aufsatz zur Antikenrezeption in der mittelalterlichen Skulptur: »Der Titan der antiken Mythologie hatte sich in einen Menschen verwandelt, dessen Sündendasein von Christus erlöst wird.«27 Dass auch hier, wie schon im Fall der oben benannten Herkules-Darstellungen in Venedig, ausgerechnet Erlösung den allegorischen Gehalt der betreffenden Figur ausmachen soll, unterstreicht noch zusätzlich die Zählebigkeit der Auswirkungen des Disjunktionsprinzips. Gerne wird die dem Modeneser Relief eigene Bildinschrift als Beleg für diese Art angeblich von vornherein getroffener christlicher Umdeutung angeführt. Dabei bleibt unreflektiert, dass diese Inschrift auf einen antiken Text, nämlich auf Ovids Ars amatoria, anspielt und so bewusst in den poetischen Wettbewerb mit der römischen Dichtkunst eintritt.28 Sowohl auf der Ebene des Bildes wie auch des Textes sind wir also mit antiker Form und Motivik konfrontiert, die als solche rezipiert werden können und vermutlich auch wollen, nicht zuletzt deshalb, weil hier die alttestamentliche Kultur um Motive der für etwa zeit27 Schweizer 2007, 164–165. 28 Meyer Schapiro, From Mozarabic to Romanesque in Silos, in: Art Bulletin 21, 1939, 313–374, hier 364–365.

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gleich gehaltenen ›pagan‹-antiken Kultur erweitert wurde. Welche weiterreichenden Bedeutungen ihnen zugemessen werden konnten und können, ist die Sache sich jeweils anschließender Interpretationen. Genau hier setzt das Projekt an, und genau hier sollte nach dem Wunsch des Verfassers auch die veranstaltete Tagung ansetzen – nämlich mit den Fragen: Welches sind die Paradigmen der jeweils konkreten Produkte mittelalterlicher Mythenrezeption? Und wo lassen sich maßgebliche Paradigmenwechsel erkennen? Der Versuch, darauf Antworten zu finden, heißt auch, sich mit bereits getroffenen Thesen zu Paradigmenwechseln auseinanderzusetzen. Ich greife dazu noch einmal ein Beispiel aus dem Aufsatz von 1933 auf: Aby Warburg hatte der einzigartigen Zeichnung von antiken Göttern im Münchener Martianus-Capella-Codex (clm 14271) des 11. Jahrhunderts noch den »Willen zu stofflich getreuer Archäologie«29 bescheinigt (Abb. 4).30 Panofsky hingegen galt die Darstellung als Dokument eines einschneidenden Paradigmenwechsels: Mit dieser Zeichnung vollziehe sich die endgültige Wende von einer Mythenrezeption, die (noch) Reminiszenzen an antike Bildwerke bewahre, zu einer Mythenrezeption, deren bildliche Motive sich ausschließlich aus Texten speise. Nahezu 400 Jahre lang soll diese Phase angehalten haben, in der Form und Inhalt der klassischen Antike nur auseinandergebrochen existieren konnten. Eine bestimmte Form der Ignoranz und Irrationalität gegenüber der Antike hätten demnach also in und mit der Münchener Zeichnung das Ruder für die folgenden Jahrhunderte übernommen. Auch hier wurden noch zu wenig weiterführende Fragen gestellt. Handelt es sich bei der Zeichnung in München wirklich, wie der Aufsatz von 1933 suggeriert, um eine bloße Ansammlung wenig verständiger zeichnerischer Übertragungsversuche textlicher Einzelmotive? Der dilettantische Zeichenstil mag diese Auffassung zunächst befördern. Aber lässt sich die Kombination der männlichen Nachkommenschaft (Jupiter, Apollo, Mars, Merkur) der Göttereltern (Kybele, Saturn) nicht auch als Bildzusammenhang begreifen? Um dies zu erfahren, muss man zunächst einmal das Nächstliegende tun: Untersuchen, in welchem Verhältnis das Bild zu seiner Rahmung steht, die in diesem Fall ein konkreter Text bzw. ein Codex ist. Schon der Text ist in der betreffenden Literatur zumeist unzureichend benannt. Es handelt sich um die zwei ersten Bücher von Martianus Capella allegorischem Traktat De nuptiis Philologiae et Mercurii libri.31 Das heißt, hier wird ausschließlich die mythologische Rahmung jenes Textes überliefert, der bis dahin im Wesentlichen für seine umfangreiche, als Hochzeitsallegorie formulierte Erläuterung der Sieben Freien Künste bekannt gewesen war. Dem folgt in der Münchener Handschrift der entsprechende Kommentar des Remigius von 29 Warburg (1922) 2010 (wie Anm. 8), 389. 30 109 folia, Pergament, 28,5 x 22,5 cm; vgl. Elisabeth Klemm, Die ottonischen und frühromanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Bd. 2), Wiesbaden 2004, Textband, Kat. Nr. 26, 55–56, Tafelband, Tf. 63, Abb. 56; >http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0004/bsb00046659/images< (letzter Zugriff: 23.01.2018). 31 Martianus Capella, hg. v. James Willis (Bibliotheca scriptorium graecorum et romanorum Teubneriana), Leipzig 1983; Martianus Capella, Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii), übers. von Hans Günter Zekl, Würzburg 2005.

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4 Kybele, Saturn, Jupiter, Apollo, Mars und Mercurius, Federzeichnung, Regensburg, 2. Hälfte 11. Jh., München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. Lat. 14271, fol. 11v

Auxerre, wiederum nur zu den ersten zwei Büchern des Martianus. In beiden Texten, an deren Übergang die Zeichnung steht, spielt das im Bild dargestellte Figurenpersonal eine wichtige Rolle. Und schon auf dieser Grundlage lässt sich manches erklären, wovon Panofsky glaubte, sich darüber amüsieren zu müssen. Weitere Erklärungsansätze lassen sich im Vergleich zu antiken Bildwerken treffen, wo nicht zu solchen der in der Literatur zumeist bevorzugten Marmorskulptur, dort doch zu solchen der sogenannten Kleinkünste (z. B. zu Münzbildern). Von einem Abbrechen innerbildlicher Bezüge zur Antike kann dementsprechend, wie erste Projektergebnisse erweisen, gar nicht die Rede sein. Und schließlich lässt das intellektuelle Umfeld der Zeichnung im Regensburg des 11. Jahrhunderts weiterreichende Schlüsse zu, die an anderer Stelle erläutert werden sollen.32 Es zeichnet sich ab, dass, wenn der betreffenden Zeichnung der Vollzug eines Paradigmenwechsels zugesprochen werden kann, die Zielrichtung dieses Wechsels eine ganz andere wäre als bisher vermutet. Eine bestimmte Stoffauswahl aus der antiken Mythologie wurde hier offenbar als ein eigenständiger Wissensbereich isoliert und auf seine Möglichkeiten hin befragt, ein Erkenntnismodell für seinerzeit aktuelle Fragen bereitzustellen, die sich in einer visuellen Synthese veranschaulichen lassen. Dabei spielt die im Zentrum stehende Gestalt 32 Eine Publikation des Verf. mit den Projektergebnissen ist in Vorbereitung.

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des Apollo die Rolle der Erkenntnisfigur, wie sie es auch bei Martianus tut. In diese Richtung jedenfalls gehen die Überlegungen, an denen im Bochumer DFG-Projekt derzeit gearbeitet wird. Die Beispiele ließen sich multiplizieren. Mit einem Sprung in das spätere Mittelalter möchte ich noch einen einzigen weiteren Komplex aufgreifen: Aby Warburg hat den schönen Begriff des Albericus-Olymp geprägt.33 Er bezog diesen Terminus auf Darstellungen der antiken Götter im 14. und 15. Jahrhundert, die sich deutlich auf Ekphraseis beziehen oder besser, die als bildliche Antworten auf bestimmte Götterbeschreibungen gelten dürfen (Farbabb. 2). Längst hat man sich in der Forschung darauf verständigt, dass der damit repräsentierte Olymp eher Bersuire- oder Berchorius-Olymp heißen müsste.34 Denn es sind die einleitenden Beschreibungen aus dessen sogenanntem Ovidius moralizatus, auf die sich die Bilder beziehen. Wenig beachtet und noch weniger erklärt ist die Tatsache, dass diese Bilder fast immer innerhalb von Handschriften auftreten, die den Berchorius-Text gar nicht enthalten, sondern vor allem in Ovide-moralisé-Handschriften. Mit Blick auf die Frage von Paradigmenwechseln aber ist vor allem zu fragen: Ist es angemessen, dieses sehr spezielle Bildphänomen, wie Panofsky das tat, als symptomatisch für die ganze Epoche des späteren Mittelalters zu erklären und dieser Zeit entsprechend eine naive Textabhängigkeit und -gläubigkeit zu unterstellen? Und ist das, worüber Panofsky sich hier wiederum amüsierte, nicht Resultat eines absichtsvoll poetisch-allegorisierenden und zugleich unterhaltsam-humoristischen Umgangs mit den Götterfiguren? Dieser könnte deutlich werden, vergliche man manche der Götterbilder in Codices, denen ein deutlich unterhaltsames, teilweise sogar parodistisches Moment zukommt, mit Darstellungen in anderen Gattungen und Anwendungsbereichen, die auf dieselben textlichen Quellen rekurrieren, jedoch einen ganz anderen, würdevoll-ernsthaften Charakter aufweisen. Man denke etwa an die Reliefs des Tempio Malatestiano (Abb. 5), der Grabkirche des Sigismondo Pandolfo Malatesta und dessen Gemahlin Isotta degli Atti.35 Hier fügen sich die entsprechenden Darstellungen zur antiken Mythologie mit vielen weiteren zu einer Art kosmisch orientiertem Weltmodell, das keinerlei humoristischen Spielraum eröffnet. Die hier beobachtete Art des Herausbildens größerer kosmologischer Summen mithilfe mythologischen Personals könnte sich als ein bedeutendes Paradigma des 15. Jahrhunderts erweisen, wenn man weitere bekannte Bildprogramme jener Zeit hinzunimmt. 33 Warburg (1922) 2010 (wie Anm. 8), 387. 34 Sabrina Vervacke, Autour des „dieux d’Albericus“ et de leur usage, in: Images of the Pagan Gods. Papers of a Conference in Memory of Jean Seznec, ed. by Rembrandt Duits and François Quivieger, London/Turin 2009, 151–176; vgl. auch Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, übers. v. Horst Günther, Frankfurt a. M. 1990, 362, Anm. 82. 35 Vgl. z. B.: Maurice L. Shapiro, Studies in the Iconology of the Sculptures in the Tempio Malatestiano, Ph.D. Thesis New York 1958, Ann Arbor (Michigan) 1989; Stanko Kòkole, Agostino di Duccio in the Tempio Malatestiano, 1449–1457. Challenges of Poetic Invention and Fantasies of Personal Style, PhD Thesis Baltimore 1997, Bd. 1–2; Cetty Muscolino, Il Tempio Malatestiano di Rimini, Ravenna 2000; Cetty Muscolino und Ferruccio Canali (Hg.), Il Tempio della Meraviglia. Gli Interventi di Restauro al Tempio Malatestiano per il Giubileo (1990–2000), Florenz 2007; M. Musmeci (Hg.), Templum Mirabile, Atti del Convegno sul Tempio Malatestiano (Rimini 2001), Rimini 2003.

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5 Apollo, Marmorrelief, ca. 1449/54, Werkstatt des Agostino di Duccio, Rimini, Tempio Malatestiano, Cappella di Sant’Agostino, linker Pfeiler, Nord-OstSeite.

Wie diese kurzen Beispiele zeigen, kann der im titelgebenden Terminus Mythenrezeption enthaltende Begriff der Rezeption eine entgegengesetzte Perspektive gegenüber jenen Erklärungsansätzen eröffnen, die sich maßgeblich am Nachleben-Modell orientieren – ganz analog zu Michael Baxandalls Perspektivwechsel gegenüber dem Modell des Einflusses.36 Es geht bei der Rezeption nämlich gerade nicht um den Blick vom vermeintlichen Ursprung auf dessen jeweilige Nachwirkungen, sondern umgekehrt: von den einzelnen Produkten einer bildlichen Rezeptionsleistung hin auf deren mögliche Bezugsgrößen. Der Rezeptionsbegriff erfordert es, das jeweilige bildliche Einzelprodukt des Mittelalters in seiner ihm jeweils eigenen Rezeptionsleistung ernst zu nehmen.37 Das heißt, es ist vom jeweils einzelnen, Mythos rezipierenden Bild auszugehen und danach zu fahnden, was genau eigentlich rezipiert wird, welche konkreten bildlichen und außerbildlichen Referenzen sich benennen lassen, unter welchen Interessen und Motivationen die spezifische Art der Rezeption zustande kam bzw. welche Interessen und Motivationen womöglich durch das betreffende Bild selbst impliziert 36 Baxandall, Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures, New Haven, Conn./London 1985; hier zitiert: Ders., Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Kunst, Berlin 1990, 102– 105. 37 Ingo Herklotz, Rezeptionsgeschichte, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart/Weimar 2003, 317–319.

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oder formuliert werden. Zugegebenermaßen ist diese Perspektive auch Vertretern eines Nachleben-Ansatzes nicht fremd; Aby Warburg jedenfalls versuchte in seiner Untersuchung zu den Dekane-Bildern im Palazzo Schifanoia in Ferrara tatsächlich, die Brücke vom einzelnen Motiv des Quattrocento bis in die Antike zurück zu schlagen.38 Dabei scheint es allerdings darum zu gehen, exemplarisch zu belegen, dass es eine Art ununterbrochener Fortexistenz der mythischen Figuren bis in die griechische Antike zurück gebe, bei der es letztlich mehr um das Faktum der Kontinuität und weniger um die Frage nach den spezifischen Motiven und Bedingungen der betreffenden Rezeptionsphänomene geht. Von einem rezeptionshistorischen Ansatz ausgehend kann das jeweilige Rezeptionsphänomen – damit jedenfalls ist zu rechnen – im Einzelfall auch als historisch ganz aus der Reihe tanzend aufgefasst werden, als womöglich singuläres, aus individuellen Interessen heraus entwickeltes künstlerisches Einzelereignis.

Zusammenfassung der Beiträge Es bleibt zunächst festzuhalten, dass der einleitende Vortrag der diesem Band vorausgegangenen Tagung nicht Teil dieser Publikation geworden ist. Das liegt daran, dass Maria MoogGrünewald (Tübingen) es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Phänomen mittelalterlicher Mythenrezeption in die zu deren historischem Verständnis nötige Breite der Geschichte des Mythos einzuspannen; und dazu konnte sie als ausgewiesene Expertin des mythologischen Feldes auf das Spektrum ihrer eigenen Publikationen zurückgreifen, auf die an dieser Stelle schlicht verwiesen werden soll.39 Unter dem Titel Der antike Mythos im Mittelalter nutzte Maria Moog-Grünewald ihre Eröffnungsposition zur grundlegenden Erläuterung dessen, was in der griechischen und römischen Antike unter dem Begriff des Mythos verhandelt wurde und welche Konzepte der Mythenerklärung bzw. der Mythenkritik seinerzeit geläufig waren. Davon ausgehend zeigte sie markante historische Kontinuitäten, Brüche und Wiederentdeckungen in Mittelalter und Früher Neuzeit auf. Parallel dazu diskutierte sie die prägenden Perspektiven der jüngeren Wissenschaftsgeschichte auf den Mythos (beginnend mit Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos),40 insbesondere mit Blick auf die Zuschreibung von Funktionen (z. B. Schreckensab38 Warburg (1922) 2010 (wie Anm. 8). 39 Vgl. z. B.: Maria Moog-Grünewald, Metamorphosen der „Metamorphosen“ – Rezeptionsarten der ovidischen Verwandlungsgeschichten in Italien und Frankreich im XVI. und XVII. Jahrhundert, Heidelberg 1979; Dies., Zum Verhältnis von Mythos und Philosophie – Am Beispiel von Plato und Sartre, in: Revue Luxembourgeoise de Littérature Générale et Comparée 1989, 68–80; Dies., Über die ästhetische und poetologische Inanspruchnahme antiker Mythen bei Roberto Calasso, „Le nozze di Cadmo e Armonia“, und Christoph Ransmayr, „Die letzte Welt“, in: Antike Mythen in der europäischen Tradition, hg. v. Heinz Hofmann, Tübingen 1999, 243–260; Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Maria Moog-Grünewald, Der neue Pauly, Supplemente, Bd. 5, Stuttgart 2008; Maria Moog-Grünewald, Eros und Erkenntnis: Der Mythos von Diana und Acteon, in: Comparatio – Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 1, 2009, 29–44. 40 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979 u. ö.

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bau, Evidenzerzeugung) und auf die Frage, wie die Tradierung von Mythen innerhalb historischer Gesellschaften mutmaßlich vonstattenging. Für das Mittelalter betonte sie die Übernahme der Allegorese als ein maßgebliches Interpretationsverfahren und demonstrierte diese in typologetischer Zuspitzung am Beispiel der Figur des Orpheus als Typus Christi.41 Als bemerkenswerten Faktor der Verknüpfung zwischen Antike und Mittelalter machte sie zudem die Übernahme des integumentum-Konzepts in die Dichtungstheorie aus.42 Eine wichtige Vermittlungsinstanz zwischen Antike und Mittelalter seien mit Blick auf den Aspekt der Mythenrezeption die Schriften des Boëthius gewesen. Doch damit zu den Beiträgen dieses Bandes selbst: Er beginnt mit einem Beitrag zum transkulturellen Austausch mythologischer Bildmotive in der Levante an der Schwelle von der Spätantike zum Mittelalter. Katharina Meinecke (Wien) stellt unter dem Titel Dionysos am Hofe. Mythenrezeption bei den Umayyaden? heraus, dass es unter dem Kalifat der Umay­ yaden zu Bildrezeptionen aus dem Bereich der griechischen bzw. römischen Mythologie gekommen sei, die zum Teil bereits über die Kultur des Sasanidenreichs vermittelt worden seien. Insbesondere dionysische Motivik spiele hier eine Rolle, für die sich zum Teil auch Parallelen in der christlichen Ikonographie aufzeigen ließen. Das maßgebliche Interesse für ein entsprechendes Rezeptionsverhalten sieht die Verfasserin in einer identifikatorischen Bezugnahme auf prominente Elite- bzw. Hofkulturen. Der festliche Stimmungsgehalt, der Ausdruck von Prunk und Wohlstand sowie manche triumphale Komponente ließen die dionysischen Vorbilder als besonders attraktiv und den Ansprüchen der eigenen Kultur angemessen erscheinen. Ob den betreffenden Bildern die Absicht eignet, auf konkrete mythologische Inhalte zu verweisen, lässt sich pauschal nicht beantworten, kann bisher aber in vereinzelten Fällen vermutet werden. Fabio Guidetti (Berlin) zeigt in seinem Beitrag A Sky without Myths? Pagan Imagery in Early Medieval Astronomy, dass das Interesse karolingischer Gelehrter an antiken Texten und Bildern zur Astronomie bzw. Astrologie groß war, dass es jedoch zugleich für gefährlich erachtet wurde. Die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit diesem Wissensgebiet habe sich mit dem Wunsch nach exakter Berechenbarkeit des Ostertermins begründet. Es habe außer Frage gestanden, dass die Anordnung der Sterne als Teil der Schöpfung aufzufassen sei und dementsprechend jegliche Erkenntnis darüber nur von Gott selbst stammen könne. Die Gefahr sowohl spiritueller als auch epistemischer Abwege sowohl für die Gelehrten als auch für die von diesen zu Unterweisenden wurde jedoch betont. Auf seinem Argumentationsweg bietet Guidetti ein differenziertes Bild von den möglichen spätantiken Modellen für die Produktion astronomischer Handschriften im Frühmittelalter und deren Rezeption. Die zwei herausstechenden Luxus-Produkte, die Leidener Aratea-Handschrift und der Londoner Cicero-Codex, lassen sich mit dem seinerzeit aufkommenden Bewusstsein dafür verknüpfen, 41 Zur typologetischen Deutung der Orpheus-Figur vgl. z. B. Helmut Puff, „Orfeuß der Erst puseran“. Eine Zeichnung Albrecht Dürers, in: „Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle“: Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. v. Lev Mordechai Thoma und Sven Limbeck, Ostfildern 2009, 163–184, hier 166–170, hier 171–175. 42 Zum Begriff des integumentum vgl. z. B. Ulrich Ernst, Lüge, integumentum und Fiktion in der antiken und mittelalterlichen Dichtungstheorie: Umrisse einer Poetik des Mendakischen, in: Das Mittelalter 9, 2004, 73–100.

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dass die Unterwerfung des westlichen Europa unter ein einheitliches, wissenschaftlich begründetes Zeitmaßsystem als ein imperialer Anspruch gegolten haben durfte. Rebecca Müller (Augsburg, Frankfurt a. M.) beleuchtet unter dem Titel Mythenrezeption in karolingischer Zeit – Bilder, Texte und Bilder in Texten jenen Zeitraum, innerhalb dessen Antikes einerseits breit tradiert, andererseits auch unterschlagen wurde und dem unter dem Terminus karolingische Renaissance eine programmatische Antikennähe zugeschrieben wird. Der Schwerpunkt liegt auf einem Schriftdokument und zwei bildtragenden Artefakten, die bislang nicht aus der gemeinsamen Perspektive der Mythenrezeption betrachtet wurden: die für das Verständnis von antikem Mythos und mythologischen Darstellungen zentralen Passagen der sogenannten Libri Carolini des Theodulf (Ende 8. Jahrhundert), die für Karl den Kahlen angefertigte sogenannte Cathedra Petri (um 870) sowie das wohl im Umfeld eines westfränkischen Klosters entstandene Flabellum im Museo del Bargello (um 870). Es handelt sich um Artefakte, die eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem Mythos aufweisen. Ihre Diskussion erlaubt den Schluss, dass von einem karolingischen Mythendiskurs ausgegangen werden kann, der zumindest für den avisierten Leser- und Betrachterkreis eine breite Kenntnis von Mythen voraussetzte, die sich mit einem gewissen Bildungskanon und Formen der Panegyrik verknüpfte. Die mythologischen Bilder hätten dabei offenbar einer Zusammenschau mit christlich determinierten Bildern bedurft, weniger um die Gefahr von Missverständnissen oder gar der Idolatrie zu bannen, mehr hingegen, um dem Mythos grundsätzlich eine Funktion zu geben. Die angesprochenen Beispiele erweisen sich als Formen produktiver Aneignung, die den Mythos für die eigenen, durchaus nicht immer neuen Ziele in Dienst nimmt. Susanne Moraw (Münster i. W.) untersucht in ihrem Beitrag Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter: Die Odyssee in den monastischen Diskursen des Mittelalters die Tradierung zentraler Elemente der Odyssee im westlichen Europa anhand zweier im monastischen Kontext entstandener Bildzeugnisse: eines Wandgemäldes in der Klosterkirche von Corvey (spätes 9. Jahrhundert) und einer Zeichnung aus dem Codex des Hortus deliciarum (spätes 12. Jahrhundert). Die für das Mittelalter grundlegende Sexualisierung des Kampfes zwischen Odysseus und den Ungeheuern (Skylla, Charybdis, Sirenen) sei bereits in der Spätantike festgeschrieben worden. Die weiblichen Figuren erscheinen dabei als Aggressoren und als Opfer ihrer eigenen Sexualität zugleich. Auch die Heroisierung des siegreichen Odysseus im Angesicht seiner Feindinnen begegne schon in der Spätantike, z. B. in der Sarkophagskulptur. Mittelalterliche Darstellungen bauen auf entsprechende, in der Spätantike vollzogene Umdeutungen auf. Die Darstellungen der halbnackten Sirene und Skylla mit dem wehrhaften Odysseus im Kloster Corvey führten den hier adressierten Mönchen das Ideal des standhaften Kämpfers gegen die Versuchung vor Augen. Im Hortus deliciarum geben die Sirenen, in luxuriöse Gewänder gehüllt, den Nonnen ein negatives Exempel, auf das drastische Bestrafung folgt. Odysseus verkörpere bei alledem den miles Christianus, der im ›Schiff der Kirche‹ den Gefahren des Weltmeeres begegnet. Stefan Trinks (Berlin) definiert in seinem Beitrag Adam – Orestes, Eva – Arachne, Maria – Minerva. Mythenparallelismus in der monumentalen Theologie, 5.–15. Jahrhundert ein generelles Paradigma nachantiker Mythenrezeption, das von einer Parallelexistenz griechischrömisch geprägter und biblisch-christlicher Mythologie ausgeht und das der Verfasser als

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Mythenparallelismus bezeichnet. Er nimmt eine Differenzierung in drei größere Zeiträume vor, die durch unterschiedliche Arten des Umgangs mit strukturellen Analogien zwischen diesen beiden Traditionen definiert sind. Vom 4. bis zum 6. Jahrhundert sei es, so Trinks, weitgehend bei ›pagan‹-antiken Bildmotiven geblieben, denen (im Sinne damaliger Missionierungsstrategie) lediglich eine ›größere‹ Wahrheit hinterlegt worden sei. Vom 6. bis zum 12. Jahrhundert hätten Motive aus der antiken Mythologie motivisch und stilistisch vielfach christliche Bildformulierungen geprägt. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert seien vorübergehend vernachlässigte Aspekte der antiken Motivwelt unter dem Anspruch allumfassender Tradierung der historischen Rahmung des irdischen Christuslebens wiederentdeckt und in überwiegend allegorisierter Auffassung ins Bild gesetzt worden. Der Verfasser zeigt, wie seit der Spätantike die Gestalt Mariens im Sinne eines Gegenmodells zu Eva motivisch mit dem Mythos des Wettstreits zwischen Athena bzw. Minerva und Arachne verknüpft worden sei und wie für eine kurze Phase am Übergang zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert der seinerzeit in Santa María de Husillos (Palencia) aufgestellte antike Orestes-Sarkophag, vermutlich ohne dass der Orestes-Mythos als solcher erkannt wurde, zu einer vielfältigen Rezeption in der Skulptur am Pilgerweg nach Santiago de Compostela angeregt habe, die sich besonders in einer erheblichen Erweiterung der Adam-und-Eva-Ikonographie geäußert habe. In ihrem Beitrag Metamorphosen des Ovid zum höfischen Erzählen: Philomena von Chrétien de Troyes vergleicht Stephanie Wodianka (Rostock) Chrétiens Philomena-Erzählung mit jener Ovids. Dabei stellt sie heraus, wie Chrétiens Text die translatio literarischer Kultur von Griechenland über Rom in das Frankreich des 12. Jahrhunderts reflektiert habe und welche Strategien entwickelt worden seien, um die Überlegenheit der eigenen literarischen Kultur gegenüber jener der Antike zu erweisen. Die Verknüpfung von Mündlichkeit (wörtliche Rede, Dialog), Volkssprachlichkeit und Naturnachahmung (insbesondere im Sinne der Onomatopoesie) spiele dabei die entscheidende Rolle zum Lebendighalten des kommunikativen Gedächtnisses. Die wichtigste Modifikation Chrétiens sei die Konkretisierung der Metamorphosen zu Vögeln: Prokne verwandelt sich in eine Schwalbe, Philomena in eine Nachtigall. Nur im Altfranzösischen richtet sich mit dem Ruf Letzterer, »Oci« (Töte!), der Tötungsappell gegen alles Unhöfische in der Nachfolge des Therees. Indem der Wortklang die Pointe der Erzählung bestimmt, eröffne Chrétien zudem den Paragone mit den Bildkünsten: Während sich die Ekphrasis auf Äußerliches beschränke, gelange die Erzählung durch wörtliche Rede zu einer unauslöschlichen Einschreibung in das Gedächtnis. Chrétiens Absicht einer dauerhaften Translation und Integration des Mythos äußere sich in dessen Rückbindung an den Jahreszeitenrhythmus, an das zeitgenössische höfische Wertesystem und in der Verankerung im Gedächtnis Frankreichs; denn – so die Taktik des Autors: Die Rezipienten seiner Geschichte könnten kaum anders, als mit dem in der Natur begegnenden Vogelruf der Nachtigall Chrétiens Philomena und deren Appell zu verknüpfen. Dale Kinney (Bryn Mawr, Pennsylvania) macht mit The Paradigm of Spolia deutlich, dass sich mittelalterliche Mythenrezeption maßgeblich auch durch die Verwendung von Spolien habe ereignen können. Die jeweils aktualisierte Nutzung antiker Darstellungen sieht sie in einem gewissen Widerspruch zu Erwin Panofskys sogenanntem Disjunktionsprinzip. Während dieses von vornherein das grundsätzliche Scheitern mittelalterlicher Künstler an der ›klassischen‹ Einheit von Form und Inhalt impliziere, gehe jede Art der Neuinszenierung

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antiken Bildmaterials mit einer grundsätzlichen Affirmation dieser Einheit einher. Fraglich allerdings ist, laut Kinney, ob und inwieweit die jeweiligen mythologischen Inhalte jeweils verstanden worden und ob sie im Sinne einer aktualisierten Deutung zu begreifen seien. Gerade an ihrem Fallbeispiel, der Wiederverwendung römischer Kapitelle mit Götterfiguren in Santa Maria in Trastevere im Rom des 12. Jahrhunderts, liegt es näher, von einem zunächst pragmatischen und ästhetischen Interesse auszugehen als von intendierten Neudeutungen, etwa im Sinne der sogenannten interpretatio christiana. Kinney macht deutlich, dass sich die im 12. Jahrhundert wiederverwendeten Spolien am ehesten als Formen ohne konkreten Inhalt auffassen ließen, denen, je nach Bildung, dem neuen Kontext mehr oder weniger angemessene Interpretationen zugesprochen werden konnten. Dies habe durchaus auch mit einem Bewusstsein für den Antikenbezug geschehen können. Der Beitrag verdeutlicht, dass eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen mittelalterlicher Mythenrezeption grundsätzlich auch eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweils entsprechenden Forschungsparadigmen erfordert. Irene Berti und Filippo Carlà-Uhink (beide Heidelberg) untersuchen unter dem Titel Mixanthropoi: Die mittelalterliche Rezeption antiker hybrider Kreaturen die mythischen, aus menschlichen und tierischen Anteilen zusammengesetzten Mischwesen. Der Fokus liegt auf Zentral- und Norditalien als einem die Antike besonders breit rezipierenden und stark vernetzten Kulturraum. Die ausgewählten Fallbeispiele betreffen den Minotaurus als eine vermeintlich historische Person sowie die Sirenen und Kentauren als Kreaturgattungen bzw. Völker, aus denen gelegentlich personal verstandene Figuren (Beispiel: Chiron) herausstechen. Die Verfasser verfolgen die Geschichte der betreffenden Mischwesen von der antiken Überlieferung über die prägenden christlichen Deutungen (insbesondere durch Augustinus und Isidor von Sevilla) bis in die mittelalterlichen Text- und Bildüberlieferung hinein. Während der Minotaurus im Mittelalter recht konstant als Allegorie des Teufels interpretiert worden sei und sein Gegner Theseus dementsprechend als Christus, habe das konkrete Erscheinungsbild, halb Mensch, halb Stier, sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Verfasser begründen dies mit zeitgenössischen Konventionen, die, je nach Motivkombination, eine Deutung als Mensch oder Dämon bzw. Teufel nahelegten. Die Sirenen, in der Antike ambivalente Wesen, die mit Tod und Gesang verknüpft und seit der Spätantike stark sexualisiert waren, hätten sich im Mittelalter von Vogel- zu Fischfrauen gewandelt, ohne dass die Vogelsirene ganz abgelöst worden sei. Maßgeblich für die Rezeption sei indirekte Homer-Kenntnis, das Buch Jesaia und womöglich auch die nordische Sagenwelt gewesen. Die mittelalterliche Sirene sei Figur des Übergangs zum Tod, sexuelle Versucherin und Grenzgängerin zu fremden Kulturen gewesen. Ebenfalls als liminale und hoch sexualisierte Figuren hätten schon in der Antike die Kentauren gegolten, die zum Gefolge des Dionysos zählten. Im Mittelalter seien sie, ganz ähnlich den Sirenen, entweder als reale dämonische Bedrohung aufgefasst worden oder als allegorische Figuren, die insbesondere Zorn und Wollust, aber auch Häresie verkörpern konnten, oder sie hätten als Menschen am Rande der zivilisierten Welt und somit als missionierbare Geschöpfe gegolten. Einmal an ihr christliches Umfeld angepasst, hätten die Mischwesen ein beachtliches Spektrum an Erscheinungsbildern und an Bedeutungen entfalten können.

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Unter dem Titel Modifikation und Neuschöpfung des Mythos in der deutschsprachigen Literatur an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert weist Ronny F. Schulz (Kiel) einen Wandel in der Anwendung antiker Mythen als Erzählstoffe nach, der sich als Paradigmenwechsel begreifen lasse. Anhand eines Gedichts des Heinrich Frauenlob, der anonymen Versnovelle Pyramus und Thisbe und des Apolloniusromans Heinrichs von Neustadt wird ein aus der Frühneuzeitforschung entliehenes Erklärungsmodell vorgeschlagen, da das herkömmliche, mit Dämonisierung und Allegorisierung argumentierende Modell hier nicht greife, bleibt doch die Möglichkeit einer regelrechten Neuschöpfung des Mythos darin von vornherein ausklammert. Auf dem Prüfstein stehen somit zugleich diejenigen Epochenmodelle, die Mittelalter und Frühe Neuzeit durch einen wesentlichen Bruch im Bereich der Antikenrezeption zu definieren versuchen. Die exemplarisch analysierten Texte bezeugen an der Schwelle zum 14. Jahrhundert einen Ablösungsprozess des Mythos aus seiner engen Bindung an die christliche Allegorese zugunsten der Entdeckung seines poetischen Potentials und dessen kreativer Umsetzung bis hin zum Anspruch der Neuschöpfung.

Zusammenfassung der Ergebnisse Versucht man, die Ergebnisse der benannten Beiträge von Althistorikern, Archäologen, Kunsthistorikern und Philologen zusammenzufassen, so ist kaum mit einem unumstößlichen historischen Modell mittelalterlicher Mythenrezeption über die gesamte Epoche des Mittelalters und deren künstlerische Gattungen hinweg zu rechnen. Dennoch sei im Folgenden eine Art vorläufiges Gerüst zur Diskussion gestellt, das sich durch weitere Forschungen falsifizieren, bestätigen oder erweitern lässt. Als maßgebliches Verfahren zur Interpretation des Mythos wurde aus der Antike jenes der Allegorese übernommen. Das der Antike entlehnte integumentum-Konzept wurde im Laufe des Mittelalters zur wesentlichen Grundlage mittelalterlicher Dichtungstheorie. Für die Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert zeichnet sich die Tendenz ab, ›pagan‹-antike Bildmotive in die christliche Kultur zu übernehmen, wo diese Analogien zu christlichen Traditionen erkennen lassen. Zudem kam es in dieser Phase zur motivischen Angleichung christlicher Figuren an solche der mythologischen Tradition. Unter den spätantiken Schriftzeugnissen ist das Œuvre des Boëthius als maßgebliche Vermittlungsinstanz mythologischen Wissens anzusehen; zu ergänzen wäre jenes des Martianus Capella. Bildliche Rezeptionen der antiken Mythologie beschränkten sich im Mittelalter nicht auf die christliche Kultur, sondern lassen sich auch für islamische Kulturen belegen. Unter dem Kalifat der Umayyaden kam es während des 7. und 8. Jahrhunderts insbesondere zu dionysisch geprägten Darstellungen, die vermutlich zum Teil bereits über die Kultur des Sassanidenreichs vermittelt waren. Dabei ging es offensichtlich um die Anknüpfung an prominente Elite- bzw. Hofkulturen, wobei auch Bezugnahmen auf die christliche (insbesondere byzantinische) Kultur nicht ausgeschlossen erscheinen. Im westlichen Frühmittelalter wurde antike Mythologie maßgeblich über astronomische bzw. astrologische Texte und Bilder rezipiert. Der Umgang mit diesem Wissensgebiet war mit dem Wunsch nach exakter Berechnung des Ostertermins legitimiert, zugleich wurden

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jedoch die spirituellen und intellektuellen Gefahren betont. Das Errichten eines einheitlichen Zeitmaßsystems konnte zudem als imperiale Aufgabe im Sinne des römischen Kaisertums verstanden werden. Die Libri Carolini des späten 8. Jahrhunderts hingegen lassen auf einen zeitgenössischen Mythendiskurs schließen, der eine breite Kenntnis von Mythen voraussetzt, die Teil eines Bildungskanons und Ausgangspunkt für zeitgenössische Panegyrik waren. Unter diesen Maßgaben kam es zu einer produktiven Aneignung mythologischer Motivik. Hinzu kamen moralisierende Tendenzen, unter denen antike Helden Vorbild für monastische Verhaltenscodices sein konnten (Beispiel: Odysseus), während mythische Mischwesen (Beispiel: Sirenen) negative Gegen-Exempla boten. Im späten 11. und 12. Jahrhundert kam es in den Bildkünsten zu einer erheblichen Vielfalt an Motivadaptionen aus antiken Mythos-Darstellungen, die häufig – gelegentlich auch ohne genauere Kenntnis des jeweils betreffenden Mythos – in Bilder bzw. Bildprogramme christlichen Inhalts integriert wurden. Auch eine verstärkte Spolienverwendung ist festzustellen, die jedoch nur selten sicheren Aufschluss darüber zulässt, ob entsprechende mythologische Inhalte eine Rolle spielten. Die besonders im 12. Jahrhundert zuhauf erscheinenden Darstellungen von Mischwesen (insbesondere Sirenen und Kentauren) sind überwiegend negativ konnotiert, weisen aber eine gewisse Bandbreite an Bedeutungen auf. Sie wurden als dämonische Wesen im Sinne einer realen Bedrohung aufgefasst, als allegorische Figuren, die bestimmte Laster oder häretische Devianz verkörpern, oder als reale und missionierbare Geschöpfe an den Rändern der zivilisierten Welt. In der Literatur kommt es im 12. Jahrhundert zu dem bemerkenswerten Anspruch einer translatio der literarischen Kunst vom antiken Griechenland über Rom in die eigene höfische Kultur (man spricht auch von einer aetas ovidiana) – durchaus mit dem Anspruch der Überbietung. Besonders die Aspekte der Volkssprachlichkeit, der Evokation von Mündlichkeit, des Anspruchs auf Naturnachahmung sowie der Rückbindung an das eigene Gesellschaftssystem wurden im Sinne von Überlegenheitserweisen eingesetzt. An der Schwelle zum 14. Jahrhundert werden im Bereich der literarischen Künste antike Mythen aus ihrer engen Bindung an die christliche Allegorese gelöst und in ihrem Potential zur Anregung poetischer Neuschöpfungen entdeckt. Gerade damit kommt es zu einer relativ großen Freiheit, Mythisches auf die eigene Kultur (und somit wiederum auch auf Christliches) zu beziehen. In den Bildkünsten bleibt das Prinzip der allegorischen Auffassung mythologischer Figuren besonders prägend.

Dionysos am Hofe Mythen(bild)rezeption bei den Umayyaden

Katharina Meinecke Die Umayyaden, die erste Dynastie des Islamischen Reiches (reg. 661–750), stehen in der Levante an der Schwelle von der Spätantike zum Mittelalter. Ihr Reich, das in seiner größten Ausdehnung von der iberischen Atlantikküste bis an den Indus und die Grenzen Chinas reichte, vereinte die Territorien von zwei Großmächten, die die Geschichte der antiken Welt maßgeblich geprägt hatten: Zum einen waren bereits im Zuge der islamischen Eroberung 635–642 ehemals byzantinische Gebiete, vor allem die Levante und Ägypten, an das Kalifat gefallen, zum anderen war 651 das Sasanidenreich, der Gegenspieler zunächst der Römer und in ihrer Nachfolge der Byzantiner, vollständig besiegt und dem Kalifat eingegliedert worden.1 Der Westteil dieses weitläufigen Reiches war tief in der Tradition der griechischrömisch-byzantinischen, ›klassischen‹ Antike verankert, deren hellenisierte und christlich geprägte Kultur auch nach der Machtergreifung der Umayyaden weiter gepflegt wurde. Im ehemals sasanidischen Osten lebte währenddessen die persische Tradition fort. Die Islamisierung schritt insgesamt nur langsam voran. Diese weite geographische Ausdehnung des Kalifats, das mehrere Zentren antiken Kunstschaffens und verschiedene ikonographische Traditio­nen in sich vereinte, spiegelt sich auch in der Bildersprache der Umayyaden. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Motive aus den unterschiedlichen visuellen Kulturen auf dem Gebiet des Kalifats aufnahm und zu neuen Bildern zusammenführte.2 Dies gilt insbesondere für das Kernland der Umayyaden im heutigen Syrien, Libanon, Jordanien und Paläs1 Albrecht Noth, Früher Islam, in: Ulrich Haarmann und Heinz Halm (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, 4. Aufl., München 2001, 11–100, hier 58–62. 2 Am Beispiel des Palastes von Mschatta in Jordanien erläutert: Katharina Meinecke, The Encyclopaedic Illustration of a New Empire. Graeco-Roman-Byzantine and Sasanian Models on the Facade of Qasr al-Mshatta, in: Stine Birk, Troels Myrup Kristensen und Birte Poulsen (Hg.), Using Images in Late Antiquity, Oxford/Philadelphia 2014, 283–300; Katharina Meinecke, Antike Motive in der frühislamischen Kunst. Neue Beobachtungen zur Bauornamentik des Palastes Mschatta in Jordanien (8. Jh.), in: Gerald Grabherr und Barbara Kainrath (Hg.), Akten des 15. Österreichischen Archäologentages in Innsbruck 27. Februar – 1. März 2014 (IKARUS 9), Innsbruck 2016, 215–226; Katharina Meinecke, Die Bauornamentik von Mschatta, in: Johannes Cramer, Barbara Perlich und Günther Schauerte (Hg.), Qasr alMschatta. Ein frühislamischer Palast in Jordanien und Berlin, 2 Bde. (Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege 16), Petersberg 2016, hier Bd. 1, 161–187.

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tina mit der Hauptstadt Damaskus, aus dem der Großteil der uns heute überlieferten, von den umayyadischen Kalifen beauftragten Bildwerke stammt. Dort dominieren aufgrund der starken Hellenisierung der Region griechisch-römisch-byzantinische Bildmotive. Diese ›klassische‹ Ikonographie wurde jedoch um einzelne, sorgfältig ausgewählte Bildmotive sasanidischen Ursprungs ergänzt, die zuvor in der Bildersprache der Region keine Rolle gespielt hatten.3 Unter den ›klassischen‹ Bildmotiven, die sich die Umayyaden aneigneten, lassen sich einige auf eindeutig christliche Darstellungen zurückführen.4 Andere entsprechen allgemein bukolischen Figuren, wie sie uns in belebten Ranken auf Fußbodenmosaiken von Kirchen begegnen, die in der Region noch im 8. Jahrhundert von aktiven Werkstätten verlegt wurden.5 Wieder andere Motive wie Greifen oder Kentauren sind deutlich älter.6 Unter den in der umayyadischen Bildersprache verwendeten ›klassischen‹ paganen Motiven lassen sich jedoch kaum eindeutige Mythenbilder fassen. Bei keiner einzigen umayyadischen Darstellung handelt es sich nämlich um die exakte Wiedergabe eines griechisch-römischen Mythenbildes. In einigen Fällen erscheint ein mythologischer Ursprung der Darstellungen jedoch sehr wahrscheinlich. Interessanterweise betrifft dies immer dionysische Motive. Dazu zählen insbesondere einige Wandgemälde in dem unter dem Kalifen Hisham (reg. 724–743) in der transjordanischen Wüste errichteten Badehaus von Qusayr Amra, die Lorenz Winkler-Horacek bereits 1998 in einem Aufsatz in den Damaszener Mitteilungen überzeugend auf Darstellungen des Dionysosmythos zurückgeführt hat.7 Einige wenige weitere Bildwerke lassen sich anschließen, die im Folgenden zusammen mit den Wandgemälden aus Qusayr Amra in Hinblick auf ihre möglichen Vorlagen kurz vorgestellt werden sollen. 3 Rina Talgam, The Stylistic Origins of Umayyad Sculpture and Architectural Decoration, Wiesbaden 2004, 48–72; Meinecke 2016, Bauornamentik von Mschatta (wie Anm. 2), 184–185; Katharina Meinecke, Katalog der Bauornamentik, in: Johannes Cramer, Barbara Perlich und Günther Schauerte (Hg.), Qasr al-Mschatta. Ein frühislamischer Palast in Jordanien und Berlin, 2 Bde. (Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege 16), Petersberg 2016, hier Bd. 2, 59–195, hier 135–137, 149–150. 4 Christliche Motive sind z. B. Buckelrind und Löwe, die auf Jes 11,6–7 und 65,25 zurückgehen, wie z. B. an der Fassade des ›Wüstenschlosses‹ Mschatta überliefert (Meinecke 2016, Katalog der Bauornamentik [wie Anm. 3], 131–133), oder ein Jonaszyklus, der vor Kurzem in der Wandmalerei des ›Badeschlösschens‹ Qusayr Amra identifiziert wurde (Maria Vittoria Fontana, Su una possibile raffigurazione della storia di Giona a Qusayr ’Amra, in: Rivista degli studi orientali 85, 2012, 279–304). 5 Allgemein bukolisch sind z. B. die Figuren von Landleuten, wie sie häufig in Kirchenmosaiken mit belebten Ranken vorkommen und in den Stuckdekor des ›Palastes‹ von Qasr al-Hayr al-Gharbi übernommen wurden (Daniel Schlumberger, Qasr el-Heir el Gharbi [Bibliothèque Archéologie et Histoire, Bd. 120], Paris 1986, Tf. 67d–f, 68d–e, 70) oder auch die menschlichen Figuren auf der MschattaFassade (Meinecke 2016, Katalog der Bauornamentik [wie Anm. 3], 143–145). Figürliche Mosaiken mit einer belebten Ranke, die noch ins mittlere 8. Jh. datiert werden können, finden sich in der Stephanskirche von Umm ar-Rasas in Jordanien: Michele Piccirillo, The Mosaics of Jordan, Amman 1993, 219, 238–239; Peter Baumann, Spätantike Stifter im Heiligen Land. Darstellungen und Inschriften auf Bodenmosaiken in Kirchen, Synagogen und Privathäusern, Wiesbaden 1999, 148, 155–156 (zur Datierung). 6 Meinecke 2016, Katalog der Bauornamentik (wie Anm. 3), 137–141. 7 Lorenz Winkler-Horacek, Dionysos in Quṣayr ‛Amra – Ein hellenistisches Bildmotiv im Frühislam, in: Damaszener Mitteilungen 10, 1998, 261–290.

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Welche Rolle spielten Mythendarstellungen in diesem hellenisierten, christlich geprägten Umfeld, in dem die Machthaber sich und ihre neue Religion zu legitimieren suchten? Was war das Interesse der umayyadischen Auftraggeber gerade an diesem Erzählstoff? Bei der Untersuchung der vermeintlichen Mythenbilder stellt sich außerdem die Frage, ob man bei den Umayyaden überhaupt eine Mythen-Rezeption fassen kann, also die intendierte Aneignung nicht nur des Bildes, sondern auch seines Inhalts, oder ob es sich nicht eher um eine Mythen-Bild-Rezeption, das heißt die Aneignung von Darstellungsform und -stil ohne den ursprünglichen Bildinhalt handelt. Um diesen Fragen nachzugehen, sollen zunächst die umayyadischen Bildwerke nach vermeintlich dionysischen Vorlagen kurz in Hinblick auf ihre möglichen Vorbilder vorgestellt und daraufhin in den weiteren Kontext dionysischer Darstellungen in der Spätantike eingeordnet werden. Dabei möchte ich vorschlagen, dass die umayyadischen Herrscher Mythenbilder als Teil einer Eliten- bzw. Hofkultur rezipierten, an der sie ebenso wie ihre Nachbar- und Vorgängerreiche teilhaben wollten.

Dionysische Ikonographie bei den Umayyaden Ein Großteil der uns bekannten umayyadischen Bildzeugnisse stammt aus einem höfischen Kontext. Reiche Ausstattung mit Bauornamentik aus Stuck und Stein, Malerei und Mosaiken ist vor allem aus den großen multifunktionalen Anlagen, den sogenannten Wüstenschlössern oder qusur überliefert, die – wie in einigen Fällen aus Bauinschriften oder Angaben in der nachumayyadischen arabischen Literatur erschlossen werden kann – von den Kalifen und ihren Familien erbaut wurden. Weitere aufwendige Innenausstattung mit Bildern findet sich in Moscheen wie dem Felsendom in Jerusalem oder der Großen Moschee von Damaskus, bei denen es sich ebenfalls um kalifale Bauprojekte handelt. Schließlich tragen auch die ersten Münzen, die von den Kalifen vor der Münzreform Abd al-Maliks von 696–697 herausgegeben wurden, bildliche Darstellungen.8 Als problematisch für die Bewertung der Beweggründe der umayyadischen Auftraggeber stellt sich der Mangel an zeitgenössischen umayyadischen Schriftquellen heraus. Zum einen entstand der Großteil der Literatur zur Umayyadenzeit frühestens unter den Abbasiden, der Nachfolgerdynastie der Umayyaden, die diesen gegenüber voreingenommen war. Zum anderen sind die wenigen überlieferten literarischen Quellen aus der Umayyadenzeit, wie die Dichtung, bislang nur unzureichend ediert, weshalb auf sie kaum zurückgegriffen werden kann. Die Bildzeugnisse selbst dienen daher als Primärquellen. Unter den überlieferten Bauten ist das ›Badeschlösschen‹ Qusayr Amra, ca. 70 km östlich von Amman in der transjordanischen Wüste gelegen, für die Frage der Mythenbilder besonders ergiebig. Von der umfangreichen Anlage, die den ›Wüstenschlössern‹ bzw. qusur zuzu8 Zu den Münzen s. Jeremy Johns, Archaeology and the History of Early Islam. The First Seventy Years, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 46,4, 2003, 411–436, hier 426–433; Clive Foss, Arab-Byzantine Coins. Money as Cultural Continuity, in: Helen C. Evans und Brandie Ratliff (Hg.), Byzantium and Islam. Age of Transition 7th–9th Century (Ausst.-Kat. New York, Metropolitan Museum), New York 2012, 136–143.

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rechnen ist, zeichnen sich im Gelände noch die Überreste verschiedener Gebäude wie einer Moschee und einem palastartigen Bau ab.9 Erhalten hat sich jedoch nur ein kleines Badehaus, das aus einer großen, aufgrund einiger repräsentativer Herrscherdarstellungen als Audienzhalle gedeuteten Eingangshalle und drei daran anschließenden kleinen Baderäumen besteht.10 In der Audienzhalle ebenso wie in den Baderäumen sind sämtliche Wände und Gewölbe mit figürlichen Wandmalereien überzogen. Der Eindruck, den die Forschung bis vor wenigen Jahren von dieser umfangreichen Freskenausstattung gewinnen konnte, beruhte einerseits auf den Zeichnungen des Wiener Orientmalers Alphons Mielich in der 1907 erschienenen ersten Publikation der Anlage, andererseits auf einer Restaurierung der 1970er Jahre, bei der u. a. die Konturen der Figuren nachgezogen wurden, was den Malereien einen naiven, plumpen Ausdruck verlieh.11 Jüngst sind von 2010–2014 etwa ein Drittel der Fresken unter der Ägide des World Monument Fund erneut restauriert worden – darunter auch einige der hier besprochenen Bilder –, wodurch ein vorher unvorstellbarer Detailreichtum zum Vorschein gekommen ist, der teilweise sogar neue Deutungen der Bilder ermöglicht. U. a. wurde bei den Restaurierungen eine bislang unbekannte Inschrift entdeckt, die es erlaubt, den Thronfolger al-Walid ibn Yazid, den Neffen des regierenden Kalifen Hisham (reg. 723–743) und späteren Kalifen Walid II. (reg. 743–744), als Bauherrn des Bades zu identifizieren.12 In den Lünetten der als Apodyterium (Ankleideraum) und als Tepidarium (lauwarmer Baderaum) gedeuteten Räume des Badetraktes befinden sich die Darstellungen, die Lorenz Winkler-Horacek auf dionysische Mythenbilder zurückführen konnte (Farbabb. 3–5; Abb. 1).13 Im Apodyterium ist über dem Durchgang in die Audienzhalle eine Szene dargestellt, als deren Vorlage Winkler-Horacek die Auffindung der schlafenden Ariadne durch Dionysos erkannt hat (Farbabb. 3).14 Dargestellt ist auf diesem heute frisch restaurierten Wandbild eine auf dem Boden oder auf einem Bett – möglicherweise ist rechts das Bein eines Möbels zu erkennen – liegende weibliche Gestalt. Ihr ist eine weiße Decke oder ein Kissen untergelegt, das die Konturen ihres Körpers nachzeichnet. Ein brauner Mantel bedeckt ihre Beine und den rechten Arm; ein langer Gewandzipfel fällt zusätzlich unter ihrem angewin9 Denis Genequand, Une mosque à Quṣayr ‛Amra, in: Annual of the Department of Antiquities of Jordan 46, 2002, 583–589. 10 Alois Musil und David Heinrich Müller (Hg.), Ḳuṣejr ‛Amra, Wien 1907; Garth Fowden, Qusayr ‛Amra. Art and the Umayyad Elite in Late Antique Syria, Berkeley/Los Angeles/London 2004; Claude Vibert-Guige und Ghazi Bisheh, Les peintures de Qusayr ‛Amra. Un bain omeyyade dans la bâdiya jordanienne, Beirut 2007. Da diese Monographien jedoch vor den jüngsten Restaurierungen entstanden sind, sind die darin vorgetragenen Beschreibungen und Deutungen der Motive inzwischen teilweise überholt. 11 Musil und Müller 1907 (wie Anm. 10); World Monuments Fund (Hg.), Conservation at Qusayr ’Amra Jordan, New York 2015, 4–6, >https://www.wmf.org/sites/default/files/article/pdfs/2016_qusayr_amra_ booklet.pdf< (abgerufen am 21.02.2017). 12 World Monuments Fund 2015 (wie Anm. 11), 2, 14–16; Frédéric Imbert, Le prince al-Walīd et son bain. Itinéraires épigraphiques à Quṣayr ‛Amra, in: Bulletin d’Études Orientales 64, 2016, 321–363, hier 331–336. 13 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 266–280. 14 Ebenda, 266–276; Garth Fowden, Greek Myth and Arabic Poetry at Quṣayr ‛Amra, in: Anna Akasoy, James Edward Montgomery und Peter E. Pormann (Hg.), Islamic Crosspollinations. Interactions in the Medieval Middle East, Exeter 2007, 29–45.

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1 Wandbild mit erhöht stehendem Kleinkind, 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Tepidarium, Westwand

kelten linken Arm auf den Boden herab. Ihr Oberkörper ist unbekleidet, wie die neuen Restaurierungen gezeigt haben, die auch ihre weiblichen Brüste klar herausgebracht haben. Der Kopf der Figur ruht auf dem angewinkelten linken Arm, während sie den rechten Arm in einem Ruhegestus über den Kopf gelegt hat. Hinter ihr steht ein kleiner Eros, der sich in Ausfallschrittstellung auf sie zubewegt. Er wendet dabei den Oberkörper zurück und weist mit dem ausgestreckten rechten Arm auf eine männliche Gestalt, die von links auf die Liegende herabblickt. Von dieser Figur ist hinter einer durch Wellenlinien bezeichneten Geländekuppe nur der Oberkörper zu sehen. Der Dargestellte stützt sich mit dem linken Arm auf die Geländelinie und führt die rechte Hand zum Kinn. Am Fußende der Liegenden steht ein Podest mit einer Kanne. Mit diesem Bild sind, wie Winkler-Horacek bereits herausgearbeitet hat, Darstellungen der schlafenden Ariadne auf Naxos, wie sie auf stadtrömischen Sarkophagen überliefert sind, gut vergleichbar.15 Charakteristisch sind das Haltungsmotiv der schlafenden Schönen mit dem in einem Ruhegestus über den Kopf gelegten Arm, dessen Kontur nach der Restaurierung deutlich zu erkennen ist, der nackte Oberkörper und die Drapierung des Mantels sowie der kleine Eros, der in einigen Darstellungen – sofern nicht Pan diese Aufgabe übernimmt16 15 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 270–273. 16 Friedrich Matz, Die dionysischen Sarkophage, Bd. 3 (Die antiken Sarkophagreliefs, Bd. 4,3), Berlin 1969, 383–385, Nr. 214, Tf. 223; 388–391, Nr. 217–218, Tf. 232–233, 236; 394–397, Nr. 222, Tf. 234.

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– den Mantel der Schlafenden lupft und sich zugleich, oft mit ausladender Geste wie in Qusayr Amra, dem herannahenden Dionysos zuwendet.17 Die Darstellung des nachdenklichen Mannes im Hintergrund weicht hingegen von der geläufigen Dionysos-Ikonographie auf den Sarkophagen ab und lässt sich, wie Winkler-Horacek bereits festgestellt hat, am ehesten auf Darstellungen des Endymion-Mythos zurückführen.18 Auf einigen Sarkophagen mit Endymion-Darstellungen erscheint nämlich der Schlafgott Hypnos in dieser Pose mit nachdenklich aufgestütztem Kinn auf einem Felsstreifen hinter dem schlummernden Jüngling.19 Gelegentlich lupft ein kleiner Eros Endymions Mantel. Auch wenn die Auffindung Ariadnes auf Naxos und der Hypnos aus der EndymionIkonographie als Vorlagen für dieses Wandbild eindeutig scheinen, lassen sich einige Elemente wie die flächige Unterlage der Schlafenden und die Kanne zu ihren Füßen durch diese Vergleiche nicht erklären. Diese Elemente finden sich jedoch auf frühen Darstellungen der Heiligen Familie, deren Bildschema vielleicht bereits im 7. Jahrhundert in Palästina entwickelt wurde. Ein Beispiel ist der bemalte Deckel eines Reliquiars in der Kapelle Sancta Sanctorum in Rom, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Pilgermitbringsel des 7. Jahrhunderts aus Jerusalem handelt.20 Darauf ist Maria auf einem großen Kissen liegend wiedergegeben, das ähnlich wie in Qusayr Amra ihre Gestalt zusätzlich hervorhebt. Über ihr liegt das kleine Jesuskind in einer gemauerten Krippe, die wohl an die altarartige Krippe in der Geburtskirche erinnern soll. Zu ihren Füßen sitzt Joseph in nachdenklicher Pose, den Kopf in die Hand gestützt wie Hypnos auf den Endymion-Sarkophagen. Nadia Ali machte 2015 in einem Vortrag in Berlin auf zwei Ikonen aus dem Katharinenkloster auf dem Sinai aufmerksam, die dasselbe Motiv wiedergeben und von denen zumindest die frühere noch in der Umayyadenzeit entstanden sein könnte. Sie werden ins 8.–9. Jahrhundert und in die 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts oder ins 10. Jahrhundert datiert.21 Die frühere der beiden Ikonen zeigt neben der Krippenszene auch das erste Bad des kleinen Christuskindes, zu dem offenbar auch ein Gefäß gehört, das neben Joseph auf einer Geländekante aufgestellt ist. Bei diesem Gefäß handelt es sich jedoch um eine Amphora statt, wie in Qusayr Amra, um eine Kanne. Dieselbe Kombination von Maria auf dem Kissen, dem nachdenklich neben ihr sitzenden Joseph und dem von Ammen gebadeten Jesuskind ist u. a. auch auf einem emaillierten Kreuz in der Kapelle Sancta Sanctorum wiedergegeben, das wohl ebenfalls ins 9. Jahrhundert 17 Ebenda, 383, Nr. 213, Tf. 223; 393, Nr. 221, Tf. 233; 397–398, Nr. 223, Tf. 232; 399–400, Nr. 225, Tf. 246–247; 400–401, Nr. 227, Tf. 248. 18 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 274–275. 19 Hellmut Sichtermann, Die mythologischen Sarkophage, Bd. 2, Apollon, Ares, Bellerophon, Daidalos, Endymion, Ganymed, Giganten, Grazien (Die antiken Sarkophagreliefs, Bd. 12,2), Berlin 1992, 114–116, Nr. 51–52, Tf. 52.3, 55.2, 56.2, 58.2, 61.1. 20 Kurt Weitzmann, The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai. The Icons, Bd. 1, From the Sixth to the Tenth Century, Princeton, N. J. 1976, 68, Abb. 14. 21 Ebenda, 68–69, Nr. B.41, Tf. 27, 95; 73–76, Nr. B.45, Tf. 30, 99, 100a. Vortrag von Nadia Ali im Rahmen der Summerschool Globalized Classics im August 2015 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mab van Lohuizen-Mulder, Frescoes in the Muslim Residence and Bathhouse Qusayr ’Amra. Representations, Some of the Dionysiac Cycle, Made by Christian Painters, in: Babesch 73, 1998, 125–152 meint, Maler aus Ägypten hätten das Badehaus von Qusayr Amra ausgemalt, und führt für einige Motive Vergleichsbeispiele aus dem spätantiken Ägypten an; die Ikonen erwähnt er jedoch nicht.

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datiert werden kann, und erscheint auch auf zahlreichen byzantinischen Elfenbeinreliefs des 10.–11. Jahrhunderts.22 Anders als Ariadne ist Maria in all diesen Darstellungen voll bekleidet und weist auch nicht den Ruhegestus mit dem über den Kopf gelegten Arm auf, der in Qusayr Amra deutlich erkennbar ist. Zudem ist der neben ihr sitzende Joseph als Ganzkörperfigur statt, wie Hypnos, als Büste dargestellt. Die Übereinstimmungen sind also nicht ausreichend, um diese späten Darstellungen der Heiligen Familie anstelle der paganen Mythenbilder als alleinige Vorbilder für das Fresko in Qusayr Amra zu postulieren. Dennoch sind die Übereinstimmungen weitreichend genug, um eine Beeinflussung durch diese christlichen Bilder anzunehmen. Solche oder ähnliche Darstellungen Christi Geburt aus dem zum Kalifat gehörenden Palästina oder vom Sinai könnten für den Entwurf des Wandbildes in Qusayr Amra mitherangezogen und mit der älteren mythologischen Ikonographie verbunden worden sein, auf die letztendlich auch die christlichen Darstellungen selbst zurückzuführen sind. Dass christliche Ikonographie den Entwerfern der Wandgemälde von Qusayr Amra nicht nur bekannt war, sondern auch als solche verstanden wurde, belegen Jonas-Darstellungen an der Südwand des westlichen Seitenschiffes der Audienzhalle, deren Bildinhalt durch Beischriften auf Griechisch identifiziert werden kann.23 Während sich Winkler-Horacek, ohne auf die christlichen Vergleichsbeispiele einzugehen, für eine Deutung des Wandgemäldes als Auffindung der schlafenden Ariadne auf Naxos aussprach,24 sah Garth Fowden in seiner 2004 erschienenen Monographie zu Qusayr Amra, wie bereits der Entdecker der Anlage, Alois Musil, in der liegenden Figur einen in ein Tuch gehüllten Leichnam. Fowden schlug daher eine Deutung mit Bezug auf den Bauherrn des Badehäuschens vor, den er, in Unkenntnis der erst später entdeckten Inschrift, als den Kalifen al-Walid II. identifizierte. Er sah in der Darstellung eine Trauerszene, die al-Walids Schmerz über den Tod der von ihm angebeteten, aber zunächst unerreichten Salma versinnbildlichen sollte. Die Trauer des Kalifen wird in zahlreichen von al-Walid selbst verfassten Gedichten thematisiert, die in dem um die Mitte des 10. Jahrhunderts kompilierten Kitab al-Aghani überliefert sind.25 Al-Walid konnte Salma erst nach seiner Thronbesteigung ehelichen, sie verstarb jedoch überraschend kurze Zeit später.26 Daher wird die Deutung Fowdens durch die neue Restaurierung widerlegt, die einerseits durch die neugefundene Inschrift eine Datierung des Baus und von dessen Ausstattung in die Zeit vor al-Walids Thronbesteigung 22 Emailkreuz Rom: Hartmann Grisar, Die römische Kapelle Sancta Sanctorum und ihr Schatz. Meine Entdeckungen und Studien in der Palastkapelle der mittelalterlichen Päpste, Freiburg 1908, 62–69, bes. 63, Abb. 31; Weitzmann 1976 (wie Anm. 20), 69. Elfenbeinreliefs: Alois Goldschmidt und Kurt Weitzmann, Die byzantinischen Elfenbeinskulpturen des 10.–13. Jhs., Bd. 2, Reliefs (Berlin 1979), 25–26, Nr. 4–5, Tf. 2; 29, Nr. 17, Tf. 5; 31–32, Nr. 25, Tf. 8; 37–38, Nr. 42, Tf. 18; 43, Nr. 59, Tf. 23; 59, Nr. 118, Tf. 49; 60, Nr. 122, Tf. 45; 73, Nr. 197, Tf. 73; 74, Nr. 203, Tf. 67; 75, Nr. 207, Tf. 68. 23 Fontana 2012 (wie Anm. 4); World Monuments Fund 2015 (wie Anm. 11), 11. 24 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 276. Diese Deutung auch bei van Lohuizen-Mulder 1998 (wie Anm. 21), 130. 25 Fowden 2004 (wie Anm. 10), 264–265; Fowden 2007 (wie Anm. 14), 36–37. Zu den Gedichten alWalids s. ebenda, 186–188; Francesco Gabrieli, Al-Walid Ibn Yazid. Il califfo e il poeta, in: Rivista degli Studi Orientali 15, 1935, 1–64, hier 30–33. 26 Fowden 2004 (wie Anm. 10), 187–188.

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und damit vor den Tod Salmas ermöglicht. Andererseits hat die Restaurierung den unverhüllten Körper der Liegenden deutlich hervorgebracht, was die Deutung als Leichnam weniger wahrscheinlich macht. Das in einigen der besprochenen Darstellungen mit der Heiligen Familie verbundene erste Bad des Christuskindes liefert zudem eine Parallele zu einem weiteren Wandbild in Qusayr Amra (Farbabb. 5). Dieses befindet sich zusammen mit zwei weiteren Wandgemälden in den Lünetten des an das Apodyterium anschließenden, als Tepidarium gedeuteten Raumes (Farbabb. 4–5; Abb. 1). Winkler-Horacek hat diese drei noch nicht restaurierten Wandbilder ebenfalls auf den Dionysos-Mythos bezogen.27 Die Identifizierung der Vorlagen ist jedoch weit weniger eindeutig als bei der schlafenden Schönen im Nebenraum. Alle drei Wandbilder zeigen nackte Frauen und ein ebenfalls unbekleidetes Kleinkind vor einer Architekturkulisse. Im ersten Bild über dem Durchgang in das Apodyterium sind drei nackte Frauen wiedergegeben (Farbabb. 4). Die Mittlere steht und hält ein Baby auf dem Arm.28 Währenddessen trägt rechts eine zweite Frau einen Eimer herbei.29 Links sitzt die dritte Nackte mit dem Rücken zu den beiden anderen, wendet jedoch den Kopf in deren Richtung zurück und hält einen Gegenstand in der Hand, bei dem es sich möglicherweise ebenfalls um ein Gefäß handelt. In dem zweiten Fresko an der Ostwand über dem Durchgang in den anschließenden Kuppelsaal ist das Bad des Kindes dargestellt (Farbabb. 5).30 Eine nackte Frau schreitet von links auf ein großes, schalenförmiges Wasserbecken in der Mitte des Bildes zu. In den ausgestreckten Armen hält sie ein Baby über das Becken, wohl um es gleich darin zu baden. Von rechts nähert sich eine zweite Nackte mit einer Schale in der Hand. Die Szene in der dritten Lünette an der Westwand ist aufgrund des Erhaltungszustandes nur noch schwer nachvollziehbar (Abb. 1). In der Mitte steht erhöht ein Kleinkind und streckt die Arme in die Luft. Links davon ist eine füllige nackte Frau zu erkennen, die sich leicht nach vorne gebückt von dem Kind abwendet. In den Händen hält sie vermutlich ein Gefäß, aus dem sie etwas ausgießt.31 Rechts sitzt eine dritte Frau, die dem Kleinkind den Rücken zukehrt, jedoch den Kopf zu diesem umwendet. Diese drei Wandbilder weisen gewisse Ähnlichkeiten zu Darstellungen aus der Kindheit des Dionysos auf. Vor allem das Bad des kleinen Zeussohnes bei den Nymphen von Nysa, das seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. bildlich belegt ist, bietet einige Parallelen zu dem Fresko mit der Badeszene an der Ostwand.32 In der Spätantike erlangte dieses Motiv eine größere 27 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 276–280. Mab van Lohuizen-Mulder 1998 (wie Anm. 21) hat das Bild über dem Durchgang in das Apodyterium als den Dionysosknaben bei den Nymphen von Nysa gedeutet. 28 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 277. 29 Dieser Eimer ähnelt dem Gefäß, das eine der vollplastischen Frauenstatuen aus dem ins mittlere 8. Jh. datierten ›Wüstenschloss‹ Mschatta in der linken Hand hält: Jens Kröger, Katalog der Skulpturen, in: Johannes Cramer, Barbara Perlich und Günther Schauerte (Hg.), Qasr al-Mschatta. Ein frühislamischer Palast in Jordanien und Berlin, 2 Bde. (Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege 16), Petersberg 2016, hier Bd. 1, 7–38, hier 15–17, Nr. 5, Abb. 15–19. 30 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 276–277. 31 Ebenda, 277. 32 Frühester Beleg ist ein Skyphos aus Silber aus Pompeji: Glen Warren Bowersock, Infant Gods and

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Beliebtheit, als es auch auf Achill, Alexander den Großen und ab dem 8. Jahrhundert, wie auf der besprochenen Ikone vom Sinai, dem späteren Emailkreuz und den Elfenbeinreliefs, schließlich auch auf das Christuskind übertragen wurde.33 In den meisten Darstellungen stimmen die Schalenform des Wasserbeckens und die häufig rechts positionierte zweite Nymphe oder Amme, die das Badewasser eingießt, mit dem Wandbild in Qusayr Amra überein. Unterschiede gibt es jedoch in der Art und Weise, wie die Nymphe oder Amme das zu badende Kind hält. Entweder liegt das Kind wie ein Neugeborenes auf dem Schoß seiner Betreuerin, oder es sitzt aufrecht und blickt nach vorne. Unter den Darstellungen der Kindheit des Dionysos kommt, worauf Winkler-Horacek bereits hingewiesen hat, die Badeszene auf dem Theaterfries von Perge aus dem 2. Jahrhundert dem Wandbild in Qusayr Amra am nächsten.34 Eine am Boden kniende Nymphe hält den kleinen Dionysosknaben wie die Nackte in Qusayr Amra mit nach vorne gestreckten Armen über das Becken. Anders als ihr Pendant in Jordanien steht sie jedoch nicht, sondern kniet und fasst das Kind zudem an den Armen statt an den Hüften. Das Motiv der ausgestreckten Arme, das in den dionysischen Darstellungen die Ausnahme bildet, ist dafür häufig in Zusammenhang mit dem ersten Bad des Christuskindes zu finden, so auf dem bereits besprochenen Emailkreuz in Rom und auf zahlreichen Elfenbeinreliefs. In der Regel fasst eine allerdings ebenfalls kniende Amme das Kind an der Taille oder den Hüften und hält es mit ausgetreckten Armen entweder unmittelbar über das Becken oder stützt mit den ausgestreckten Armen den bereits im Becken sitzenden Knaben.35 Auch wenn diese herangezogenen Vergleichsbeispiele um einiges später zu datieren sind als die Fresken in Qusayr Amra, ist nicht auszuschließen, dass sie auf eine frühere, bereits in der Umayyadenzeit entwickelte Vorlage zurückzuführen sind. Möglicherweise wurden in der Badeszene in Qusayr Amra also wiederum mythologische und christliche Vorlagen vermischt. In ihrer Nacktheit unterscheiden sich die in Qusayr Amra dargestellten Frauen jedoch sowohl von den Nymphen, die meist nur einen Mantel um die Hüften geschlungen haben, als auch von den vollständig bekleideten Ammen des Christuskindes. Für das erhöht stehende Kleinkind in der Lünette der Westwand bieten erneut Darstellungen aus der Kindheit des Dionysos eine mögliche Parallele. Auf drei Kindersarkophagen des früheren bis mittleren 2. Jahrhunderts, auf denen u. a. das Bad des Dionysosknaben wiedergegeben ist, ist außerdem eine von Friedrich Matz als »Investitur des Dionysos« bezeichnete Szene eingefügt (Abb. 2).36 Der kleine Gott, nun schon als älteres Kleinkind dargestellt, steht erhöht auf einem Felsen. Mit einer Hand umfasst er den Stängel eines narthex, eines Riesenfenchels, während der andere Arm locker an seinem Körper herabhängt. Zu seinen Füßen sitzen sein Lehrer, der alte Silen, und ein junger Satyr. Die Szene wird von zwei Nymphen eingefasst, von denen eine dem Knaben eine Binde um den Kopf legt. Zwar Heroes in Late Antiquity. Dionysos’ First Bath, in: Renate Schlesier (Hg.), A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism, Berlin 2011, 4, Tf. 2, Abb. 2. 33 Zur Darstellung des ersten Bades s. Bowersock 2011 (wie Anm. 32). Zu den Darstellungen des ersten Bades des Jesuskindes s. Anm. 21–22. 34 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 279, Tf. 74c; Bowersock 2011 (wie Anm. 32), 4, Tf. 3, Abb. 5. 35 Zum Beispiel Grisar 1908 (wie Anm. 22), 63, Abb. 31; Goldschmidt und Weitzmann 1979 (wie Anm. 22), Nr. 4, 5, 17, 59, 203. 36 Matz 1969 (wie Anm. 16), 345–359, bes. 351–357, Nr. 200–202, Tf. 210, 212, 215.

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weicht die Armhaltung des Kleinkindes von der Darstellung in Qusayr Amra ab, und auch die Begleitfiguren fehlen, das erhöht stehende Kleinkind sticht jedoch hervor und könnte in Kombination mit der Badeszene trotz aller Unterschiede dafür sprechen, dass in Qusayr Amra für die Wandbilder des Tepidariums ein Zyklus mit Darstellungen aus der Kindheit des Dionysos als Vorlage herangezogen wurde. Für die dritte Szene, in der eine Frau das Baby auf dem Arm trägt, gibt es in der Dionysosikonographie allerdings keine Parallelen. Am ehesten könnte man in der stehenden Frau mit dem Kind eine Parallele zum Götterboten Hermes erkennen, der Dionysos nach seiner zweiten Geburt aus dem Schenkel des Zeus zu den Nymphen bringt.37 Wie die Vergleiche gezeigt haben, wurden die verschiedenen mythologischen Motive und deren möglicherweise ebenfalls herangezogene christliche Weiterentwicklungen in Qusayr Amra nicht exakt übernommen, sondern es wurden Anpassungen vorgenommen. Offenbar wurde nicht eine bestimmte Vorlage genau kopiert, sondern es wurden im Sinne einer emulatio mehrere Vorlagen, die sich heute nur noch vage nachvollziehen lassen, verwendet und an die jeweiligen Bedürfnisse des Auftraggebers und den Kontext angepasst.38 Besonders auffällig ist in den drei Wandgemälden des Tepidariums die völlige Nacktheit der dargestellten Frauen, die in den dionysischen Bildern und anderen mythologischen Badeszenen von Kindern keine Entsprechung findet, jedoch gut zur Funktion und zum feucht-warmen Ambiente des Baderaumes passt. Winkler-Horacek ließ die endgültige Deutung der Bilder daher offen, auch wenn er die Interpretation der Szene über dem Durchgang zum Apodyterium als Bad des kleinen Dionysos durchaus für vertretbar hielt.39 Auch Fowden sah von einer Deutung der Szenen ab und führte die Darstellungen nur ganz allgemein auf die griechischrömische Badetradition zurück, zu der es gehörte, sowohl nackt zu baden als auch nackte mythologische Figuren als Schmuck in den Baderäumen aufzustellen.40 Bezüge zur Welt des Dionysos finden sich in Qusayr Amra schließlich auch in dem Deckengemälde im Tonnengewölbe des Apodyteriums. Dieser Gewölbedekor besteht aus einem Gittermuster aus sich kreuzenden Bändern, die mit Blattstäben verziert sind. Die dadurch entstehenden rautenförmigen Felder sind jeweils mit einer menschlichen Figur, einer Büste oder einem Tier ausgefüllt.41 Entsprechende Gittermuster sind vor allem auf Stoffen sowie auf Mosaiken, wie sie auch im syrisch-palästinensischen Raum überliefert sind, 37 Vgl. den Deckel eines Sarkophags in Baltimore, Walters Art Gallery: Friedrich Matz, Die dionysischen Sarkophage, Bd. 2 (Die antiken Sarkophagreliefs 4,2), Berlin 1968, 231–233, Nr. 95, Tf. 116, 119. 38 Für diesen Prozess des eher freien Assoziierens nach einer oder mehreren nur noch vage auszumachenden Vorlagen, die eventuell auch der Flächenkunst entstammen und die den jeweiligen kontextuellen Bedürfnissen oder dem Zeitgeschmack angepasst werden – also kein reines Kopieren –, hat die englischsprachige Skulpturenforschung den Begriff emulation geprägt; vgl. Elaine K. Gazda, Roman Sculpture and the Ethos of Emulation. Reconsiderung Repetition, in: Harvard Studies in Classical Philology 97, 1995, 121–156; E. K. Gazda, Introduction. Beyond Copying. Artistic Originality and Tradition, in: Elaine K. Gazda (Hg.), The Ancient Art of Emulation. Studies in Artistic Originality and Tradition from Present to Classical Antiquity, Ann Arbor 2002, 1–24, hier 7, 15, 24. 39 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 277–279. 40 Fowden 2004 (wie Anm. 10), 57–60. 41 Musil und Müller 1907 (wie Anm. 10), Tf. 34; Fowden 2004 (wie Anm. 10), 67–68, Abb. 19.

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2 Kindersarkophag mit Darstellung der Kindheit des Dionysos, um 160 n. Chr., Rom, Musei Capitolini, Inv. 726

häufig bezeugt.42 Sie könnten als Vorlagen für den Gewölbedekor des Apodyteriums gedient haben. Auch für einige der figürlichen Darstellungen in den Rautenfeldern finden sich Parallelen in anderen Medien der Flächenkunst, wie Mosaiken und Textilien. Dazu zählt eine Tänzerin, die an eine Mänade erinnert, worauf bereits Winkler-Horacek hingewiesen hat (Abb. 3).43 Sie trägt ein Gewand aus einem ärmellosen, hemdartigen roten Oberteil, das an der Taille mit einem breiten weißen Band gegürtet ist, und dazu einen langen weißen Rock mit rotem Saum. Während sie mit dem linken Bein ausschreitet, wendet sie den Oberkörper beinahe frontal dem Betrachter zu, den Kopf leicht zu ihrer Rechten geneigt. Sie stemmt den rechten Arm in die Hüfte, den linken hat sie über dem Kopf erhoben. Dieser Figurentyp ist in der griechisch-römischen Ikonographie für tanzende Mänaden geläufig.44 Die Mänaden tragen einen gegürteten Peplos mit Überwurf, der von den Umrissen her dem Gewand der Tanzenden in Qusayr Amra entspricht. Der Figur in Qusayr Amra sehr ähnlich ist z. B. eine Zimbeln schlagende Mänade auf einem Mosaik mit dionysischem thiasos in einem Haus in

42 Mosaiken: z. B. in der Kirche von Khalde Choueifat, Libanon (Ende 5. Jh.; Pauline Donceel-Voûte, Les pavements des églises byzantines de Syrie et du Liban. Décor, archéologie et liturgie, Louvain-La-Neuve 1988, 360, Abb. 344; 361, Abb. 345; 370; Janine Balty, Les mosaïques de Syrie au Ve siècle et leur répertoire, in: Byzantion 54, 1984, 437–468, hier 463, Tf. 15,1); House of the Green Carpet, Antiochia (2. Hälfte 5. Jh.; Doro Levi, Antioch Mosaic Pavements, Rom 1971, Tf. 128b; Balty 1984 [wie Anm. 42], Tf. 8, Abb. 2). Stoffe z. B. bei: Marielle Martiniani-Reber, Lyon, musée historique des tissus. Soieries sassanides, coptes et byzantines Ve–XIe siècles, Paris 1986, 53–54, Nr. 21, 69, Nr. 41; 71, Nr. 44, 76, Nr. 52, 77, Nr. 54–55, 78, Nr. 57; 102–103, Nr. 86. Vgl. auch den Dekor der situla aus Vrap (Albanien), New York, The Metropolitan Museum of Art, Inv. 17.190.1707 (6.–7. Jh.), >http://www.metmuseum.org/ collection/the-collection-online/search/464115< (abgerufen am 23.04.2015). 43 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 282–283. 44 Vgl. Figurentypen 8 und 32 auf kaiserzeitlichen dionysischen Sarkophagen bei Friedrich Matz, Die dionysischen Sarkophage, Bd. 1 (Die antiken Sarkophagreliefs 4,1), Berlin 1968, 22, Nr. 8; 32, Nr. 32, 65–66, Nr. 114; s. auch Fowden 2004 (wie Anm. 10), 66–67, Anm. 102.

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3 Deckengemälde, Ausschnitt mit Tänzerin, 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Apodyterium

Madaba, also in nächster Nähe des Badehäuschens, das wohl in die 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts datiert werden kann.45 Zum Umfeld dionysischer Festumzüge gehören im Gewölbedekor des Apodyteriums möglicherweise auch zwei musizierende Tiere: Eines sieht auf den ersten Blick aus wie ein Bär, der in ganz menschlicher Haltung auf einem würfelförmigen Tisch oder Hocker sitzt und ein Saiteninstrument spielt (Abb. 4). In der benachbarten Raute befindet sich ein tanzender Affe. Winkler-Horacek bezieht die beiden musizierenden Tiere zusammen mit der an eine Mänade erinnernden Tänzerin und dem Flötenspieler in der ihr benachbarten Raute auf »paradiesische Vorstellungen in einem weitgefaßten dionysischen Sinn«, wobei Dionysos auf Weingenuss als Teil der höfischen Kultur anspiele.46 Für beide Figuren gibt es im 45 Piccirillo 1993 (wie Anm. 5), 69, Abb. 33; 76–77, Abb. 44. In die 1. Hälfte des 6. Jhs. datiert Susanne Muth, Eine Kultur zwischen Veränderung und Stagnation. Zum Umgang mit den Mythenbildern im spätantiken Haus, in: Franz Alto Bauer und Norbert Zimmermann (Hg.), Epochenwandel? Kunst und Kultur zwischen Antike und Mittelalter, Mainz 2001, 95–116, hier 110–111, Abb. 32 das Mosaik mit Achill aus einem weiteren Haus in Madaba, das wahrscheinlich derselben Werkstatt zuzuweisen ist. 46 Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 282, 285–288. Zur Diskussion um Weingenuss bei den Umayyaden und speziell bei al-Walid II. s. Literaturangaben ebenda.

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4 Deckengemälde, Ausschnitt mit musizierendem Tier und tanzendem Affen, 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Apodyterium

syrisch-palästinensischen Raum keinerlei Vergleiche. Lediglich auf einem fragmentarisch erhaltenen Mosaik aus Sousse in Tunesien, das sich heute im Pariser Louvre befindet, ist ein ganz ähnliches, auf einem Saiteninstrument spielendes Tier wiedergegeben, das von den Bearbeitern jedoch als Affe gedeutet wird.47 Möglicherweise kann man daher auch in dem musizierenden Tier in Qusayr Amra einen Affen erkennen – was auch besser zu dem tanzenden Affen im benachbarten Bildfeld passen würde –, oder die Maler in Qusayr Amra könnten eine Vorlage missverstanden bzw. umgedeutet haben. Das Mosaik aus Sousse ist durch ineinander verschlungene Flechtbänder in einzelne dreieckige Bildfelder aufgeteilt, die um ein zentrales hexagonales Medaillon angeordnet sind. Der musizierende Affe füllt eines der Dreiecksfelder; in den anderen sind, soweit erhalten, einzelne Tiere wiedergegeben, die allerdings nicht vermenschlicht sind. Die Darstellung im zentralen Bildfeld ist

47 Paris, Louvre, Inv. M.A. 1.798: Louis Foucher, Inventaire des mosaiques. Feuille n. 57 de l’Atlas Archéologique Sousse, Tunis 1960, 61, Nr. 57.125, Tf. 32b; Ilona Julia Jesnick, The Image of Orpheus in Roman Mosaic. An Exploration of the Figure of Orpheus in Graeco-Roman Art and Culture with Special Reference to its Expression in the Medium of Mosaic in Late Antiquity (British Archaeological Reports. International Series 671), Oxford 1997, 131, Nr. 19, Abb. 153.

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nicht erhalten, es könnte sich aber um den mythischen Sänger Orpheus gehandelt haben.48 Der musizierende Affe würde dann in die Musik des Orpheus einstimmen.49 Möglicherweise könnte man die beiden Tiere in Qusayr Amra daher, statt sie in einen dionysischen Zusammenhang zu stellen, auch als Rezeption des Orpheusmythos oder zumindest der Orpheusikonographie identifizieren. Richard Ettinghausen und ihm folgend Garth Fowden haben den Affen, der offenbar zur Musik des musizierenden Tieres in der Nachbarraute tanzt, hingegen mit einer Episode in Zusammenhang gebracht, die in abbasidischen Quellen des späten 8.–9. Jahrhunderts überliefert ist. Darin wird erzählt, wie der Kalif al-Walid II. einen Komödianten aus Medina einbestellt habe, der in ein Affenkostüm gekleidet für ihn singen und tanzen musste.50 Außerdem soll der Kalif Yazid (reg. 680–683) nach Auskunft weiterer abbasidischer Quellen einen zahmen Affen besessen haben, der Kunststückchen aufführte.51 Für Ettinghausen und Fowden geben die beiden Tiere in Qusayr Amra daher verkleidete Menschen wieder, die in höfischer Tradition stehen. Auch sie sehen die Tiere wie Winkler-Horacek folglich in einem höfischen Kontext, ohne jedoch einen Bezug zum Dionysosmythos herzustellen. Schließlich weisen in diesem Deckengemälde möglicherweise noch die drei Büsten in den zentralen Rauten des Gewölbes in die dionysische Sphäre (Farbabb. 6). Die weibliche Büste in der Mitte hält, wie die jüngsten Restaurierungen klar herausgebracht haben, in der rechten Hand einen Strauß aus weißen Blumen.52 Sie wird außerdem als einzige Figur des Gewölbedekors von Weinlaub und Trauben eingefasst, die sie entweder als Personifikation des Herbstes oder als Anhängerin des Dionysos, als Mänade, kennzeichnen könnten. Gegen eine Deutung der Büsten als Jahreszeitenpersonifikationen spricht zum einen ihre Dreizahl (für eine vierte Büste bietet die Komposition allerdings auch keinen Platz), zum anderen, dass die anderen beiden Büsten wohl als männlich anzusprechen sind und eine Mischung von männlichen und weiblichen Genien als Jahreszeitenpersonifikationen ungewöhnlich wäre. Für die untere der beiden männlichen Büsten lässt sich außerdem eine Parallele in der dionysischen Bilderwelt der Spätantike finden. Dargestellt ist ein Mann mit langem weißem Bart, etwa kinnlangen Haaren und einer hohen Stirnglatze, der bis auf einen weißen Mantel auf der linken Schulter unbekleidet ist. In der rechten Hand hält er einen langen braunen Stab mit einem schmalen grauen Aufsatz, bei dem es sich vielleicht um eine Lanze handelt. Mit dieser Büste gut vergleichbar ist eine Büste auf einem ägyptischen Wandbehang des 5.–7. Jahrhunderts im Metropolitan Museum in New York, die wohl den greisen Silen wie48 Abweichend deutet Foucher 1960 (wie Anm. 47), 61 das Instrument in der Hand des Affen auf dem Mosaik als Kithara und den musizierenden Affen selbst folglich als Parodie einer Orpheusdarstellung. 49 Jesnick 1997 (wie Anm. 47), 131. 50 Richard Ettinghausen, The Dance with Zoomorphic Masks and Other Forms of Entertainment Seen in Islamic Art, in: George Makdisi (Hg.), Arabic and Islamic Studies in Honor of Hamilton A. R. Gibb, Leiden 1965, 211–224, hier 219 zitiert zu dieser Episode das Kitab al-Aghani, eine Gedichtsammlung des 10. Jhs. Fowden 2004 (wie Anm. 10), 68 führt weitere Quellen des späten 8.–9. Jhs. auf. 51 Fowden 2004 (wie Anm. 10), 68, Anm. 103; Encyclopaedia of Islam, 2nd édition, s. v. Ḳird (F. Viré), >http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/kird-SIM_4386< (abgerufen am 07.05.2015). 52 World Monuments Fund 2015 (wie Anm. 11), 11.

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dergibt (Farbabb. 7).53 Auf diesem Wandbehang sind, soweit erhalten, Medaillons in drei Reihen übereinander angeordnet, die jeweils die Büste einer Figur des dionysischen thiasos einfassen. Anders als in Qusayr Amra sind diese Büsten jedoch in Dreiviertelansicht wiedergegeben. Der Silen ist wie die Büste in Qusayr Amra glatzköpfig und nur mit einem auf seiner linken Schulter aufliegenden Mantel bekleidet. Sein Bart und die lockigen Haare sind dagegen deutlich kürzer als bei seinem Pendant in Jordanien, und in der Rechten hält er den für ihn charakteristischen Hirtenstab statt einer Lanze. Auffällig ist jedoch die Übereinstimmung darin, dass sowohl bei den Büsten in Qusayr Amra als auch bei vielen der Büsten auf dem Wandbehang die rechte Hand mit einem Attribut wiedergegeben ist, was bei Büsten von Jahreszeitenpersonifikationen, wie sie z. B. auf Mosaiken in der Levante belegt sind, vergleichsweise selten vorkommt.54 Die dritte Büste, die, wie die neuen Restaurierungen ergeben haben, ein sehr charakteristisches, scheinbar um den Bauch geschlungenes Gewand trägt, findet auf dem nur unvollständig erhaltenen Wandbehang und anderen Monumenten keine Entsprechung. Abgesehen von diesen Darstellungen im Badetrakt von Qusayr Amra, die sich mehr oder weniger eindeutig auf dionysische Ikonographie beziehen lassen, bietet unter den bekannten umayyadischen Bildwerken lediglich noch das bronzene Kohlebecken, das im ›Wüstenschloss‹ al-Fudayn in der Nähe von Mafraq in Jordanien gefunden wurde, in seinem Dekor augenfällige Bezüge zum dionysischen thiasos (Abb. 5).55 Erhalten ist nur eine Seite des ursprünglich viereckigen Beckens inklusive eines Griffs, zwei Beinen in Form von Adlergreifenprotomen auf Rädern und zwei nackten Frauenfiguren als Aufsätzen, die wohl an den Ecken auf dem Rand des Beckens montiert waren. Das Blech des Beckens auf der Vorderseite ist mit sechs großen Nischen verziert. Die einzelnen Nischen bestehen jeweils aus zwei Säulen mit korinthisierenden Kapitellen und einem Bogen, an dessen Außenseite Granatäpfel oder Knospen angebracht sind; die Kalotten der Nischen sind durchbrochen gearbeitet. Der untere Teil der Nischen umschließt jeweils eine etwas kleinere Ädikula mit bogenförmigem Abschluss und muschelartig verzierter Kalotte. In diesen Ädikulen sind jeweils zwei Figuren wiedergegeben. Während die Gestaltung der großen Nischen mit den außen an der Archivolte entlanglaufenden Knospen bzw. Granatäpfeln auf sasanidische Vorbilder zurückzuge-

53 New York, Metropolitan Museum Acc. N. 31.9.3: László Török, Transfigurations of Hellenism. Aspects of Late Antique Art in Egypt AD 250–700, Leiden/Boston 2005, 231–232, Tf. 10. 54 Beispiele für Büsten von Jahreszeitenpersonifikationen mit einem Attribut in der Hand, wie z. B. einer Sichel für den Sommer, aus der Levante: el-Maqarqesh und Petra (2. Viertel 6. Jh.; Rachel Hachlili, Ancient Mosaic Pavements. Themes, Issues, and Trends. Selected Studies, Leiden/Boston 2009, Tf. VIII.2.b und c); Deir es-Sleib, Kirche (2. Hälfte 5. Jh.; ebenda, 189 Abb. VIII–6). Vgl. auch das Mosaik aus Acholla in Tunesien, heute Tunis, Bardo Museum (2. Jh.; Aïcha Ben Abed-Ben Khader, Elisabeth de Balanda und Armando Uribe Echeverría, Image de pierre. La Tunesie en mosaïque, Tunis 2002, Abb. 289). 55 Amman, Archäologisches Museum Inv. J. 15700–15707: Anna Ballian, Al-Fudayn, in: Evans und Ratliff 2012 (wie Anm. 8), 212–216, hier 212–213, Nr. 143; Almut von Gladiss, Die antike Welt im Kulturwandel – Der Beginn der Islamisierung, in: Beate Salje, Nadine Riedl und Günther Schauerte (Hg.), Gesichter des Orients. 10.000 Jahre Kunst und Kultur aus Jordanien (Ausst.-Kat. Bonn und Berlin), Bonn/ Berlin 2004, 236–247, hier 244–245, Abb. 11.12.

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5 Kohlebecken, 8. Jh., Amman, Archäologisches Museum, Inv. J. 15700-15707

hen scheint,56 stehen die Figuren in den Ädikulen eindeutig in ›klassischer‹ dionysischer Tradition. Keine der Figuren oder Figurengruppen auf dem Kohlebecken entspricht exakt bekannten Vorlagen des dionysischen thiasos. Attribute, Haltungsmotive und Handlungszusammenhänge erlauben jedoch die Zuordnung zu diesem Themenkreis. In den beiden äußeren Nischen ist jeweils eine fettleibige, anscheinend bärtige und damit männliche Person dargestellt, die einen Mantel um die Hüften geschlungen hat, über dem ihr dicker Bauch deutlich hervorschaut. Sie steht mit überkreuzten Beinen und wird von einer deutlich kleineren Figur zu ihrer Rechten gestützt. In der rechten Hand hält der Dargestellte einen voluminösen, mit kleinen Punkten verzierten Gegenstand, bei dem es sich um einen Weinschlauch oder eine Keule handeln könnte, und in der Linken eine flache Schale. Zu seinen Füßen steht rechts ein konisches, sich nach oben verbreiterndes Gefäß.57 Das Haltungsmotiv mit den überkreuzten Beinen und die im Verhältnis deutlich kleinere Stützfigur sind als Darstellungs56 Vergleichbare Gestaltung von Archivolten finden sich z. B. im Stuckdekor von sasanidischen Häusern aus dem Ktesiphongebiet, die ins 6. oder evtl. schon frühe 7. Jh. datiert werden, wo an Bogenranken montierte Lotusblüten im Wechsel mit Rosetten oder Palmettenreihen die Archivolte flankieren (Jens Kröger, Sasanidischer Stuckdekor. Ein Beitrag zum Reliefdekor aus Stuck in sasanidischer und frühislamischer Zeit nach den Ausgrabungen von 1928/9 und 1931/2 in der sasanidischen Metropole Ktesiphon [Iraq] und unter besonderer Berücksichtigung der Stuckfunde von Taht-i Sulaiman [Iran], aus Nizamabad [Iran] sowie zahlreicher anderer Fundorte [Baghdader Forschungen 5], Mainz 1982, 58–59, Nr. 56–8; 110–113, Nr. 160–3; 113, Nr. 164, Abb. 62; 260–261, Tf. 15.3, 45.3, 47.2). Am Großen Iwan von Taq-e Bostan, der wahrscheinlich Khusrau II. (reg. 590–628) zugeschrieben werden kann, begleiten Knospen die Archivolte (Matthew P. Canepa, Sasanian Rock Reliefs, in: Daniel T. Potts [Hg.], The Oxford Handbook of Ancient Iran, Oxford 2013, 856–877, hier 870–871, Abb. 45.7–45.8). Abweichende Datierung des Großen Iwans in die Zeit des Peroz (457/459–484): Kurt Erdmann, Die Kunst Irans zur Zeit der Sasaniden, Mainz 1969, 38–39, 70; Roman Ghirshman, Iran. Parther und Sasaniden, München 1962, 193; Hubertus von Gall, The Figural Capitals at Taq-e Bostan and the Questian of the So-Called Invest­iture in Parthian and Sasanian Art, in: Silk Road Art and Archaeology 1, 1990, 99–122, hier 100. 57 Ballian 2012 (wie Anm. 55), 213: Weinschlauch in der Linken und Weinmischgefäß zu seinen Füßen.

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schema charakteristisch für den trunkenen Dionysos.58 Der Gott ist in der Regel unbekleidet, kann gelegentlich aber auch einen Mantel um die Hüften geschlungen haben und wird von einem kleinen Satyr gestützt. Weinschlauch und Schale hält er allerdings nicht, gibt jedoch gelegentlich einem kleinen Panther aus einer Weinkanne zu trinken.59 Auch die Körperfülle und der Bart entsprechen eher dem greisen Silen, der auf dionysischen Sarkophagen ebenfalls meist trunken dargestellt wird und gestützt werden muss. Er wird jedoch nicht wie Dionysos repräsentativ in Frontalansicht in dem Haltungsschema mit überkreuzten Beinen wiedergegeben, sondern reitet als Teil des thiasos auf einem Esel oder wird von jungen Satyrn gehalten.60 In den übrigen Ädikulen auf dem Kohlebecken ist jeweils ein Paar aus Mann und Frau wiedergegeben. In der zweiten Ädikula von links ist Pan dargestellt, zu erkennen an seinen Bocksbeinen und Hörnern. Er hat das rechte Bein wie im Sprung erhoben und fasst einer ihm zugewandten, unbekleideten weiblichen Gestalt zu seiner Rechten an die Hüfte. Die Nackte greift mit ihrer rechten Hand eines seiner Hörner, während sie ihn mit der Linken wegzuschieben scheint. In dieser Dynamik erinnert das Figurenpaar an erotische dionysische Gruppen aus Satyr und Mänade, wie sie seit der Klassik dargestellt werden. Dabei bedrängt ein Satyr – aber gelegentlich auch Pan61 – eine Mänade, die seine Annäherungsversuche abwehrt.62 Entweder rennt sie vor dem sie verfolgenden Satyr davon, oder sie wendet sich wie in dieser Gruppe auf dem Kohlebecken dem Satyr zu, der meist versucht, ihr Gewand wegzuziehen. Während die Satyrn in der Regel nackt wiedergegeben sind, sind die Mänaden anders als auf dem Kohlebecken, auf dem die Frauen wie im Tepidarium in Qusayr Amra vollkommen nackt sind, jedoch meist in einen Mantel gehüllt, der zumindest einen Teil ihres Körpers bedeckt, oder sie sind sogar voll bekleidet. Auf dem Kohlebecken aus al-Fudayn verortet, neben dem Hirtengott Pan, ein kleiner Panther zu Füßen der Nackten die Szene im dionysischen Bereich. In der zweiten Ädikula von rechts auf dem Kohlebecken findet sich eine typische Verfolgungsszene, wie sie z. B. auch auf dionysischen Sarkophagen der römischen Kaiserzeit überliefert ist.63 Dargestellt sind eine abermals unbekleidete Frau rechts und eine sie verfolgende, 58 So deutet von Gladiss 2004 (wie Anm. 55), 245 die Darstellung. Für eine Fülle von Vergleichsbeispielen s. Erwin Pochmarski, Dionysische Gruppen. Eine typologische Untersuchung zur Geschichte des Stützmotivs (Sonderschriften des Österreichischen Archäologischen Instituts 19), Wien 1990; außerdem Friedrich Matz, Die dionysischen Sarkophage, Bd. 4 (Die antiken Sarkophagreliefs 4,4), Berlin 1975, Tf. 304–327. 59 Zum Beispiel Pochmarski 1990 (wie Anm. 58), Tf. 29.2, 35.1–2, 55.2, 56.1, 57.1, 58.2. 60 Matz, Bd. 2, 1968 (wie Anm. 37), 199–201, Nr. 84, Tf. 98, 102 (München, Glyptothek, Inv. 223); 273, Nr. 136, Tf. 159 (verschollen; ehemals Rom, Palazzo Albani-Del Drago alle Quattro Fontane). 61 Zum Beispiel auf einem dionysischen Sarkophag in der Kathedrale von Sclafani (Sizilien) aus späthadrianisch-frühantoninischer Zeit (Matz, Bd. 2, 1968 [wie Anm. 37], 182–183, Nr. 74, Beilage 29, Tf. 86), auf der rechten Nebenseite eines Sarkophags in den Vatikanischen Museen, Galleria dei Candelabri IV 30 aus dem früheren 3. Jh. (Matz 1969 [wie Anm. 16], 389–391, Nr. 218, Tf. 231) oder auf einem Säulensarkophag ehemals in Frascati, Villa Taverna (Matz 1975 [wie Anm. 58], 469–470, Nr. 278, Tf. 303). 62 Vgl. zum Beispiel die Verfolgungsgruppen auf Sarkophagreliefs der römischen Kaiserzeit: Matz, Bd. 1, 1968 (wie Anm. 44), 65–66, Nr. 114–115. 63 Ebenda, Nr. 114. Besonders gut vergleichbar sind Matz, Bd. 2, 1968 (wie Anm. 37), 298–300, Nr. 159,

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wohl männliche Gestalt links. Die Nackte hält in ihrer rechten Hand einen gekrümmten Stab, der an ein lagobolon erinnert, wie es sonst Satyrn oder Pan mit sich führen. Brüste und Vagina der Frau sind klar herausgearbeitet. Die männliche Figur, die ihr hinterherspringt, hält in der rechten Hand einen langen Stab mit Aufsatz, bei dem es sich vielleicht um einen thyrsos handelt, was eine Benennung als Satyr nahelegen würde. Spitze Ohren oder ein Satyrschwänzchen sind jedoch nicht wiedergegeben.64 Eine sehr explizite sexuelle Szene, wie sie in der dionysischen Ikonographie kaum abgebildet wird, ist in der dritten Ädikula von rechts dargestellt. Zu sehen ist ein sich umarmendes Paar, wobei das erigierte Glied des Mannes und die Vagina seiner Partnerin erkennbar sind. Zu Füßen des Mannes steht wiederum eine kleine Raubkatze, die die Szene eindeutig im dionysischen Milieu verankert. Die dritte Ädikula von links nimmt schließlich ein eher repräsentativ nebeneinanderstehendes Paar in Frontalansicht ein. Die rechte Figur, die bis auf einen auf ihrer linken Schulter aufliegenden Mantel völlig unbekleidet und an ihren Brüsten und ihrer betonten Vagina wieder eindeutig als weiblich zu erkennen ist, steht dabei mit überkreuzten Beinen in einer Pose, wie sie sonst für Dionysos überliefert ist.65 Zu ihren Füßen springt wie bei Dionysos eine kleine Raubkatze. Die Figur zu ihrer Rechten ist mit einem um die Hüften geschlungenen Mantel bekleidet, der auf der linken Schulter aufliegt. In der rechten Hand hält sie eine flache Schale. Das Geschlecht der Figur ist nicht eindeutig auszumachen, wahrscheinlich ist sie, wie der Vergleich mit den anderen Paaren in den Ädikulen nahelegt, als männlich zu denken.66 Die Szenen in den Ädikulen scheinen somit an dionysische Ikonographie angelehnt, sind aber keine exakten Kopien bekannter Darstellungsschemata. Für Ädikulen mit dionysischen Figuren gibt es zahlreiche Vergleiche. Meist ist allerdings, wie z. B. auf dem Großteil der stadtrömischen dionysischen Säulensarkophage oder dem berühmten Wandbehang in Riggisberg, in jeder Nische jeweils nur eine einzelne Figur wiedergegeben.67 Einige wenige Monumente geben in den Ädikulen jedoch auch erotische Gruppen aus Satyr und Mänade wieder. Dazu zählt ein nur noch in Zeichnungen erhaltener dionysischer Säulensarkophag des späten 2. bzw. frühen 3. Jahrhunderts, der sich ehemals in Frascati befand. Drei der fünf darauf wiedergegebenen Nischen werden von einer Gruppe aus Satyr und Mänade eingenommen, wobei in einer Nische ein kleiner Panther, wie er mehrmals auf dem umayyadischen Kohlebecken vorkommt, die Szene bereichert.68 Eine weitere Ädikula nimmt, wie auf dem Kohlebecken, eine Gruppe aus Pan und Mänade ein, während in der zentralen Nische der auf einen kleinen Satyr gestützte Dionysos dargestellt ist, wenn auch nicht mit überkreuzten Beinen. Ein weiteres Beispiel für eine Ädikula mit Satyr und Mänade Tf. 177 und Matz 1969 (wie Anm. 16), 394–397, Nr. 222, Tf. 234. 64 Ballian 2012 (wie Anm. 55), 213 identifiziert die Figuren als einen nicht weiter benannten Anhänger des Dionysos und eine Nymphe. 65 Vgl. z. B. Dietrich Willers in: Dietrich Willers und Bettina Niekamp, Der Dionysos-Behang der AbeggStiftung (Riggisberger Berichte, Bd. 20), Riggisberg 2015, 25–31, mit zahlreichen Vergleichsabbildungen; von Gladiss 2004 (wie Anm. 55), 245 benennt die Gruppe daher als Dionysos und Ariadne. 66 So auch Ballian 2012 (wie Anm. 55), 213. 67 Wandbehang Riggisberg, Abbegg-Stiftung: Willers und Niekamp 2015 (wie Anm. 65), bes. Tf. 1–10. Dionysische Säulensarkophage: Matz 1975 (wie Anm. 58), 467–471. 68 Matz 1975 (wie Anm. 58), 469–470, Nr. 278, Tf. 303.

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findet sich auf dem Fragment eines spätantiken ägyptischen Wandbehanges in Cleveland.69 Solche oder ähnliche Monumente bzw. die für ihre Herstellung verwendeten Vorlagensammlungen70 könnten für das Kohlebecken von al-Fudayn als Vorbilder gedient haben. Eine prominente Rolle spielen in der umayyadischen Bildersprache schließlich Weinranken, in denen man ebenfalls einen Bezug zur dionysischen Sphäre vermuten könnte. Weinranken, die von Vögeln, Tieren und menschlichen Figuren bevölkert sind, finden sich beispielsweise im Stuckdekor der ›Wüstenschlösser‹ Khirbat al-Mafjar bei Jericho und Qasr al-Hayr al-Gharbi in der Syrischen Wüste nahe Palmyra sowie in den Fresken von Qusayr Amra.71 Besonders prominent erscheinen sie auf der Fassade des ›Wüstenschlosses‹ Mschatta in der Nähe von Amman, deren Wandbereich um den einzigen Eingang der Anlage von Reliefs überzogen ist, die ein dichtes Netz aus Weinranken wiedergeben. Diese Weinranken sind zumindest auf der linken Fassadenhälfte von unzähligen Vögeln, Tieren, Fabelwesen und einigen wenigen menschlichen Figuren bevölkert.72 Bei diesen ›belebten Ranken‹ sind ›klassische‹ griechisch-römisch-byzantinische Vorlagen evident.73 Darstellungen von Akanthusranken oder Weinreben, die von kleinen Figürchen, Tieren und Vögeln bevölkert werden, gehören im griechisch-römisch-byzantinischen Bereich zu den am weitesten verbreiteten Motiven überhaupt.74 Sie sind nicht nur auf Mosaiken überliefert, sondern auch in der Bauplastik und Wandmalerei, auf Altären, Sarkophagen und Urnen, auf Keramik- und Metallgefäßen, auf Möbeln und jeder anderen erdenklichen Art von Gebrauchsgegenständen, die verziert werden konnten. Zunächst waren diese Ranken von eindeutig dionysischen Figuren bevölkert, wie z. B. auf der Türlaibung des ›Bacchustempels‹ in Baalbek aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.,75 um ein Beispiel aus dem geographischen Umfeld der ›Wüstenschlösser‹ zu nennen. Diese Weinranken verkörpern die dionysische tryphe, also den Prunk und den Glanz, Reichtum, Glück und Fruchtbarkeit, die der Weingott seinen Anhängern spendet. Später begegnen sie uns in der Levante vor allem in den Fußbodenmosaiken von Kirchen, die noch bis ins 8. Jahrhundert mit ebensolchen Motiven verlegt 69 The Cleveland Museum of Art, Inv. 75.6: Dietrich Willers in: Willers und Niekamp 2015 (wie Anm. 65), 14, 16, Abb. 5. 70 Zu Wirkkartons für die Textilherstellung s. Annemarie Stauffer, Antike Musterblätter. Wirkkartons aus dem spätantiken und frühbyzantinischen Ägypten (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz. Reihe A. Grundlagen und Monumente, Bd. 15), Wiesbaden 2008. 71 Khirbat al-Mafjar: Hana Taragan, The Peopled Scrolls at the Umayyad Palace in Jericho – Some Observations, in: Asher Ovadiah und Nurith Kennan-Kedar (Hg.), East Meets West. Art in the Land of Israel, Tel Aviv 1998, 93–108. Qasr al-Hayr al-Gharbi: Schlumberger 1986 (wie Anm. 5), 15–16, Tf. 78a, 84a. Qusayr Amra: Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 280–282. 72 Berlin, Museum für Islamische Kunst, Inv. I. 6163: Meinecke 2014 (wie Anm. 2); Meinecke, Antike Motive 2016 (wie Anm. 2); Meinecke, Bauornamentik von Mschatta 2016 (wie Anm. 2); Meinecke, Katalog der Bauornamentik 2016 (wie Anm. 3). 73 Meinecke, Antike Motive 2016 (wie Anm. 2), 217–218; Meinecke, Bauornamentik von Mschatta 2016 (wie Anm. 2), 119–126. 74 Einen guten Überblick über die Entwicklung der belebten Ranke seit hellenistischer Zeit geben Jocelyn Mary Catherine Toynbee und John Bryan Ward Perkins, Peopled Scrolls. A Hellenistic Motif in Imperial Art, in: Papers of the British School at Rome 18, 1950, 1–43. 75 Ebenda, 32, Tf. 22.2.

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wurden.76 Dort trat der christliche Gott an die Stelle des Weingottes, wobei die allgemeine Aussage dionysischer tryphe – Fruchtbarkeit, Fülle, Sorglosigkeit und Wohlergehen – erhalten blieb.77 Die allgemeine Aussage der belebten Weinranken ermöglichte ihre universelle Einsetzbarkeit schließlich auch in der frühislamischen Bildersprache.78 Die Bildaussage von Prosperität und Wohlergehen könnte dort sowohl auf Gott als auch auf den Kalifen bezogen worden sein, wie Hana Taragan für den Stuckdekor von Khirbat al-Mafjar vorgeschlagen hat.79 Der hohe dekorative Wert des Rankendekors und seine Allgegenwärtigkeit in Architektur und Kleinkunst weit über den sakralen Raum hinaus erleichterten zudem seine Verbreitung und sicherten die lange Lebensdauer des Motivs.80 Ein konkreter Bezug zu Dionysos lässt sich daher für die umayyadischen Weinrankendarstellungen wohl nicht mehr herstellen, die allgemeinen Werte dionysischer tryphe könnten jedoch gerade in dem herrscherlichen Ambiente, in dem diese dargestellt wurden, noch nachleben.

Dionysische Ikonographie in der Spätantike Dionysische Motive sind auch in den ikonographischen Traditionen derjenigen beiden Reiche häufig belegt, auf denen die Umayyaden ihre Bildersprache maßgeblich aufbauten, nämlich des Römischen bzw. Byzantinischen und im Sasanidischen Reiches. Besonders auf Luxusgütern und in der Ausstattung der Häuser der Oberschicht bzw. sogar im herrscherlichen Palast sind dionysische Bildmotive anzutreffen. Dass von den umayyadischen Auftraggebern insbesondere die Hofkultur des Römischen bzw. Byzantinischen und des Sasanidischen Reiches rezipiert wurde, belegen die Herrscherbilder der umayyadischen Kalifen, die zum Teil an sasanidischen, zum Teil an byzantinischen Vorbildern orientiert sind und ausgewählte Herrscherinsignien bewusst aufgreifen.81 So ist eine Stuckfigur an der Fassade des Palastes von Qasr al-Hayr al-Gharbi eindeutig von Darstellungen des Sasanidenkönigs auf dem Thron abgeleitet und trägt neben der sasanidischen Tracht auch die für die sasanidi76 Der späteste Mosaikboden mit belebten Ranken ist in der Stefanskirche von Umm ar-Rasas nahe Madaba in Jordanien überliefert (s. Anm. 5). 77 Gabriele Mietke, Vine Rinceaux, in: Evans und Ratliff 2012 (wie Anm. 8), 175–182, hier 175. Vgl. Anm. 119. Bibelzitate und christliche Schriftsteller zu Wein s. Claudine Dauphin, Symbolic or Decorative? The Inhabited Scroll as a Means of Studying some Early Byzantine Mentalities, in: Byzantion 48, 1978, 10–34, hier 27, 32–33 und Mark W. Merrony, The Reconciliation of Paganism and Christianity in the Early Byzantine Mosaic Pavements of Arabia and Palestine, in: Studium Biblicum Franciscanum. Liber annuus 48, 1998, 441–482, hier 470–471. Merrony fasst weitere in der Forschung vorgebrachte christliche Deutungsansätze zusammen. Allgemein zum Bezug dionysischer und christlicher Weinranken auch Winkler-Horacek 1998 (wie Anm. 7), 283. 78 Baumann 1999 (wie Anm. 5), 162–163. Dauphin 1978 (wie Anm. 77), 27–28 weist darauf hin, dass alte pagane Motive wie der Weinstock, den sie als »neutral theme« (S. 28) bezeichnet, in den Kontext der jeweiligen Religion eingebettet, ganz bestimmte, unterschiedliche Bedeutungen annehmen können; sie bezieht ihre Aussagen jedoch auf Juden und Christen. 79 Taragan 1998 (wie Anm. 71), 104. 80 Toynbee und Ward Perkins 1950 (wie Anm. 74), 2–3. 81 Oleg Grabar, Islamic Art and Byzantium, in: Dumbarton Oaks Papers 18, 1964, 67–88, hier 84–85.

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schen Herrscher charakteristische Flügelkrone.82 Der unter einem Bogen Thronende in der zentralen Ädikula der ›Audienzhalle‹ von Qusayr Amra, in dem die Forschung mehrheitlich den Kalifen erkennen möchte, geht hingegen auf römische bzw. byzantinische Vorbilder des frontal thronenden Kaisers zurück und greift auch den seit tetrarchischer Zeit für den Kaiser gebräuchlichen Nimbus auf.83 Bereits vor der Machtergreifung der Umayyaden waren das Römische bzw. Byzantinische Reich und das Sasanidenreich jedoch keine gegensätzlichen, separaten Entitäten, sondern beide Mächte hatten in jahrhundertelangem Austausch miteinander ihre Hofkultur mitsamt dem zugehörigen Zeremoniell, den Luxusgegegenständen und Freizeitvergnügen weiterentwickelt.84 Zudem war die Rezeption der Hofkultur dieser beiden Großmächte der Spätantike in den Nachbarreichen zu einem allgemein verständlichen Marker für Elitenkultur avanciert, zu einer »special, coded, common language between courts«.85 Die Aneignung byzantinischer Herrscherikonographie ist dementsprechend auch in anderen spätantiken Reichen belegt, im 6. Jahrhundert z. B. bei den Langobarden in Italien, deren König Agilulf sich auf einer bronzenen Helmplatte in demselben Bildschema frontal thronend wie der vermeintliche Kalif in Qusayr Amra darstellen ließ, oder im Königreich Himyar im Süden der Arabischen Halbinsel, wo ein großformatiges Relief wohl einen von Byzanz gestützten König im Darstellungsschema der Konsuln auf Elfenbeindiptychen repräsentiert.86 Die enge Anlehnung an sasanidische Herrscherbilder stellt bei den Umayyaden jedoch eine Besonderheit dar. Ganz offensichtlich verstanden sich die Umayyaden als Nachfolger der Sasaniden, die sie durch die vollständige Eingliederung des Sasanidenreiches ins Kalifat de facto auch waren. 82 Schlumberger 1986 (wie Anm. 5), 15, Tf. 64a, d; Talgam 2004 (wie Anm. 3), 65, Abb. 69. 83 Grabar 1964 (wie Anm. 81), 84–85, Abb. 23; Fowden 2004 (wie Anm. 10), 113–141; Nadia Ali, Quṣayr ‛Amra, la peinture du personnage trônant sur l’eau. Aspects pratiques de la fabrication d’une image, in: Annales Islamologiques 40, 2006, 107–137; Vibert-Guige und Bisheh 2007 (wie Anm. 10), 42. Abweichend deutet Marco Di Branco, I sei principi di Qusayr ‛Amra. Fra Tardoantico, Ellenismo ed Islam, in: Rendiconti dell’Accademia nazionale dei Lincei, Classe di scienze morali, storiche e filologiche 18, 2007, 597–620 den Thronenden mit Nimbus als den Propheten Mohammed. 84 Zur im gegenseitigen Austausch geformten Elitenkultur der Spätantike s. bes. Matthew P. Canepa, The Two Eyes of the Earth. Art and Ritual of Kingship between Rome and Sasanian Iran, Berkeley/Los Angeles/ London 2009; Matthew P. Canepa, Distant Displays of Power. Understanding Cross-Cultural Interaction Among the Elites of Rome, Sasanian Iran, and Sui-Tang China, in: Matthew P. Canepa (Hg.), Theorizing Cross-cultural Interaction Among the Ancient and Early Medieval Mediterranean, Near East and Asia (Ars Orientalis 38), Washington D.C. 2010, 121–154. 85 Robin Cormack, But is it Art?, in: Jonathan Shepard und Simon Franklin (Hg.), Byzantine Diplomacy. Papers from the Twenty-fourth Spring-Symposium of Byzantine Studies, Cambridge, March 1990, Aldershot/ Brookfield 1992, 218–236, hier 236. 86 Agilulf-Platte, aus Val di Nievole, heute in Florenz, Museo Nazionale del Bargello, Inv. 681: Otto von Hessen, I reperti Longobardi (Lo specchio del Bargello 5), Florenz 1981, 3–15; Bente Kiilerich, The Visor of Agilulf. Longobard Ambitions in Romano-Byzantine Guise, in: Acta archaeologica København 68, 1997, 139–151; Zafar: Paul Yule, Late Antique Arabia. Zafar, Capital of Himyar. Rehabilitation of a »Decadent« Society. Excavations of the Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1998–2010 in the Highland of the Yemen (Abhandlungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 29), Wiesbaden 2013, 126–127, 129, 136, Abb. 7.3–7.7; Sarah Japp, Cultural Transfer in South Arabia during the First Half of the First Millenium CE, in: Zeitschrift für Orient-Archäologie 6, 2013, 300–319, hier 311.

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Die Sasaniden, die dem Zoroastrismus anhingen, nutzten in vorislamischer Zeit dionysische Motive im Rahmen ihrer eigenen Herrscherrepräsentation.87 Bereits der zweite Sasanidenkönig Shapur I. (reg. 239–270) stattete seinen neu errichteten Palast in Bishapur mit dionysischen Darstellungen aus, die größtenteils von römischen Vorlagen übernommen waren.88 In einem der Säle wurde, für sasanidische Bauten ungewöhnlich, ein Mosaikboden verlegt, von dem sich einige Reste entlang der Wände erhalten haben. Die Mosaiken bestehen abwechselnd aus hohen Bildfeldern in den die Wände gliedernden Nischen, die Frauenfiguren bei verschiedenen Tätigkeiten wiedergeben, und länglichen Bildfeldern mit Maskenfriesen. Die Masken stellen dionysische Figuren dar, die teilweise an ihren Attributen eindeutig zu erkennen sind. So zeigt ein Bildfeld z. B. Pan mit syrinx, einen Satyr mit lagobolon und wohl Dionysos selbst mit langen Locken und Trauben im Haar.89 Diese Maskenfriese gehen auf römische Vorbilder zurück, wie eine ganz ähnliche Darstellung auf einem Mosaik des 2. Jahrhunderts aus dem Antiochener Vorort Daphne verdeutlicht. Es gibt in einem Bildfeld die Masken des Dionysos, eines jungen Satyrs, einer Mänade und eines alten Silens wieder, in einem anderen tragische und komische Theatermasken.90 Sehr gut vergleichbar sind auch die Maskenfriese auf einem sekundär in der Basilika von Petra verbauten Reliefblock des 2. Jahrhunderts n. Chr.91 Wie auf dem Mosaikpaneel in Bishapur sind dort syrinx und lagobolon als Attribute der dargestellten Mänaden-, Satyr-, Dionysos- und Pansköpfe dargestellt. Bei den Frauenfiguren in den hohen Bildfeldern handelt es sich um Tänzerinnen, eine Harfenspielerin, eine Girlandenbinderin, eine am Boden wie beim Mahl lagernde Frau, die einen Vorhang zur Seite schiebt, sowie Frauen mit Blumen und Handgirlanden. Sie gehen teilweise, wie die Girlandenbinderin oder die am Boden Lagernde, der venusgleich das

87 Richard Ettinghausen, From Byzantium to Sasanian Iran and the Islamic World. Three Modes of Artistic Influence, Leiden 1972, 3–10 hat dionysische Motive in der sasanidischen Bildersprache zusammengetragen. 88 Roman Ghirshman, Bîchâpour, Bd. 2, Les mosaïques sassanides (Musée du Louvre – Département des Antiquités Orientales. Série Archéologiques 7), Paris 1956; Hubertus von Gall, Die Mosaiken von Bisha­pur und ihre Beziehung zu den Triumphreliefs des Shapur I, in: Archäologische Mitteilungen aus Iran 4, 1971, 193–205; Ettinghausen 1972 (wie Anm. 87), 5, Abb. 14–15; Janine Balty, Mosaïques romaines, mosaïques sassanides. Jeux d’influences réciproques, in: Josef Wiesehöfer und Philip Huyse (Hg.), Ērān und Anērān. Studien zu den Beziehungen zwischen dem Sasanidenreich und der Mittelmeerwelt. Beiträge des Internationalen Colloquiums in Eutin, 8.–9. Juni 2000 (Oriens et Occidens 13), Stuttgart 2006, 29–44. 89 Paneel Nr. 3: Ghirshman 1956 (wie Anm. 88), 40–42, Tf. 9; von Gall 1971 (wie Anm. 88), 194, Tf. 32; Balty 2006 (wie Anm. 88), 31–32, Abb. I.1. 90 Aus dem ›House of the Triumph of Dionysos‹, Antakya, Museum, Inv. 873: Fatih Cimok (Hg.), Antioch Mosaics, Istanbul 2000, 90–91. Diesen Vergleich bringen bereits Ghirshman 1956 (wie Anm. 88), 117– 119 (er deutet die Masken jedoch als Porträts) und Balty 2006 (wie Anm. 88), 36. Von Gall 1971 (wie Anm. 88), 195–196, Tf. 33.2 weist außerdem auf einen Friesblock mit ähnlichen Darstellungen aus Urfa im Archäologischen Museum in Istanbul hin. 91 Marie-Jeanne Roche, Figurines, Sculpture, and Reliefs, in: Zbigniew T. Fiema, Chrysanthos Kanellopoulos, Tomasz Waliszewski und Robert Schick, The Petra Church, Amman 2001, 350–358, hier 355–357, Nr. 32–33.

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Gewand von einer Schulter geglitten ist, auf griechisch-römische Vorbilder zurück.92 Andere Motive scheinen mit sasanidischer Ikonographie vermischt, so z. B. eine der Frauen mit Blumenstrauß und Handgirlande, deren bodenlanges Gewand unten schirmartig aufgefächert ist, wie es für römische Darstellungen ungewöhnlich ist, sich jedoch ganz ähnlich bei späteren sasanidischen Bildwerken findet.93 Hubertus von Gall führte die Auswahl der dionysischen Motive im Bildschmuck des Palastes auf die Rolle des Weingottes als Triumphator zurück,94 was aufgrund des Fehlens jeglicher Anspielungen an Triumphalikonographie jedoch relativ unwahrscheinlich erscheint. Der Ausgräber Roman Ghirshman hatte die dionysischen Darstellungen hingegen mit dem persischen Neujahrsfest Nowruz in Zusammenhang gebracht. Etwas allgemeiner und dadurch meines Erachtens weitaus treffender sahen Janine Balty und Matthew P. Canepa in den Frauenfiguren und Masken eine allgemeine Anspielung auf höfische Feste.95 Dazu passen auch das Girlandenbinden und Herbeitragen von Blumen und Handgirlanden, die die Vorbereitungen für das Fest verbildlichen, das die Tänzerinnen und die Gelagerte bereits feiern.96 Weitere Darstellungen, die auf dionysische Motive zurückgehen, finden sich auf Silbergefäßen, die dem sasanidischen Einflussbereich zugeordnet werden können und wohl zumindest teilweise in offiziellen höfischen Werkstätten hergestellt wurden.97 Ein spätsasanidischer Teller in Moskau, für den es einen parthischen Vorläufer aus der Zeit um 200 n. Chr. in London gibt, zeigt ein Paar auf einem Wagen, bei dem es sich vermutlich um Dionysos und Ariadne handelt.98 Vorne auf dem Wagenkasten steht ein kleiner Putto, der mit der linken Hand eine Kanne ausgießt, während er mit der rechten Hand die Peitsche schwingt, um zwei weibliche Figuren mit flatternden Gewändern nach dem Vorbild dionysischer Mänaden anzutreiben, die vor dem Wagen laufen. Diese sind als diejenigen zu denken, die den Wagen 92 Paneele 2, 4, 5, 7, 8, 10, 15, 16, 18: Ghirshman 1956 (wie Anm. 88), 39–40, 42–54, 57–60, Tf. 5–8; Balty 2006 (wie Anm. 88), 36–38. Vgl. für die Frau, die eine an einem Baum befestigte Girlande bindet, einen römischen Sarkophag in Agrigent, Museo Regionale (spätes 3. Jh.): Rita Amedick, Die Sarkophage mit Darstellungen aus dem Menschenleben, Bd. 4, Vita privat (Die antiken Sarkophagreliefs 1,4), Berlin 1991, 121, Nr. 3, Tf. 104.1. Generell zu Darstellungen von Girlandenbinderinnen: ebenda, 105–107, Tf. 104–105. 93 Paneel 4: Ghirshman 1956 (wie Anm. 88), 42–44, Tf. 7.1; Balty 2006 (wie Anm. 88), 38, Abb. IV.2. Den ›iranischen Eindruck‹ der Figur bemerkt bereits Balty 2006 (wie Anm. 88), 36. Vgl. eine deutlich spätere vergoldete sasanidische Kanne in Washington, Freer and Sackler Gallery, Inv. S1987.117 (6.– 7. Jh.), die drei Frauen zeigt, deren Gewandsäume ähnlich aufgefächert sind wie bei der Dargestellten auf dem Mosaik, >http://www.asia.si.edu/collections/edan/object.php?q=fsg_S1987.118a-b< (abgerufen am 12.01.2017). 94 von Gall 1971 (wie Anm. 88), 198–199. 95 Balty 2006, 39 (wie Anm. 88); Canepa 2009, 77 (wie Anm. 84). 96 Den Zusammenhang zwischen Girlandenbinden und Festen betont auch Amedick 1991 (wie Anm. 92), 107. 97 Die Datierung und regionale Zuordnung in den Iran oder nach Zentralasien ist bei den ›sasanidischen‹ Silbergefäßen problematisch; einige Gefäße dürften auch schon in nachsasanidischer Zeit entstanden sein (Prudence Oliver Harper, The Royal Hunter. Art of the Sasanian Empire [Ausst.-Kat. New York, The Asia House Gallery], New York 1978, 24–27; Prudence Oliver Harper und Pieter Meyers, Silver Vessels of the Sasanian Period, Bd. 1, Royal Imagery, New York 1981, 5–13; Talgam 2004 [wie Anm. 3], 50–51). 98 Ettinghausen 1972 (wie Anm. 87), 4–5, Tf. 3, Abb. 10, Tf. 4, Abb. 13.

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ziehen, wie ein römischer Kameo des 2. Jahrhunderts in Neapel verdeutlicht. Darauf ist ein ganz ähnliches Motiv wiedergegeben, wobei der Wagen jedoch von zwei Psychen gezogen wird.99 Auf dem Teller folgt Herakles, erkennbar an Keule und Löwenfell, dem Wagen; über der ganzen Szene wächst ein Weinstock. Unter der Bodenlinie ist zwischen zwei Musikanten ein Panther dargestellt, der aus einem henkellosen Gefäß trinkt – ein Motiv, das z. B. auch auf römischen Sarkophagen belegt ist. Besonders gut vergleichbar ist ein Wannensarkophag des früheren 3. Jahrhunderts in den Vatikanischen Museen, auf dem der aus einem großen Krater trinkende Panther ebenfalls unterhalb von Dionysos und Ariadne erscheint.100 Auf den beiden persischen Tellern wohnt der Darstellung neben der festlichen Stimmung, die die tanzenden Mänaden und der Wein trinkende Panther evozieren, auch der triumphale Aspekt des Dionysos inne, den von Gall in den Mosaiken in Bishapur auszumachen glaubte. Weitere Gefäße zeigen inmitten von Weinranken Tänzerinnen, die bis auf einen bandartigen Schleier, der hinter ihrem Körper einen Bogen bildet, vollkommen unbekleidet sind, oder leicht bekleidete Frauen bei verschiedenen Aktionen.101 Auf zwei Silbergefäßen in Virginia und New York gießt eine Frauenfigur aus einer Kanne eine Flüssigkeit aus, die von einem kleinen Panther aufgefangen wird.102 Dieses Motiv des trinkenden Panthers ist in der griechisch-römisch-byzantinischen Bildersprache charakteristisch für Dionysos. 103 Richard Ettinghausen brachte es auf den sasanidischen Gefäßen mit dem Fruchtbarkeitskult der Anahita in Verbindung. Die Göttin in dem Relief an der Rückwand des Großen Iwans von Taq-e Bostan, der wahrscheinlich in die Zeit Khusraus II. (reg. 590–628) datiert werden kann, hält nämlich in derselben Art und Weise eine Kanne wie die Tänzerinnen auf den Silberkannen, jedoch ohne einen Panther zu ihren Füßen.104 Ettinghausen meinte daher, bei den dionysischen Motiven in der sasanidischen Bildersprache handele es sich lediglich um einen »Transfer«, womit er eine unveränderte Übernahme allein der Bildformen ohne deren Inhalt bezeichnete.105 Andere sprachen den sasanidischen Silbergefäßen hingegen jegliche religiöse Bedeutung ab und deuteten sie ebenso wie die darauf angebrachten Darstellungen rein als 99 Ebenda, 4, Tf. 4, Abb. 12. 100 Vatikan, Museo Chiaramonti: Paul Zanker und Björn Christian Ewald, Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage, München 2004, 306–309. 101 Richard Ettinghausen, A Persian Treasure. The World-Wide Cult of Bacchus and a Persian Goddess of Fertility Prove to Be the Basis of Hitherto Mysterious Figures on Ancient Silver, in: Arts in Virginia 8,1–2, 1967–1968, 28–41, hier 32–33, Abb. 7, 9; Ettinghausen 1972 (wie Anm. 87), 4, Tf. 3, Abb. 9, Tf. 5, Abb. 16. Auch Weinleseszenen kommen vor: Ettinghausen 1972 (wie Anm. 87), 5, Tf. 3, Abb. 17; Martha L. Carter, in: Harper 1978 (wie Anm. 97), 71–73, Nr. 24. 102 Henkellose Vase im Virginia Museum of Fine Arts, Adolph D. and Wilkins C. Williams Fund 66.17 (4.–5. Jh.): Ettinghausen 1967–1968 (wie Anm. 101), 28–29, Abb. 1–4; 39, 41, Abb. 21; Ettinghausen 1972 (wie Anm. 87), 5–6, Tf. 6–7, Abb. 20–22; Jacques Duchesne-Guillemin, Art et Religion sous les Sassanides, in: Atti del convegno internazionale sul tema La Persia nel Medioevo (Roma, 31 marzo – 5 aprile 1970), Rom 1971, 377–388, hier 384, Tf. 9, Abb. 2. Kanne in New York, Metropolitan Museum of Art, Mr. and Mrs. C. Douglas Dillon Gift and Rogers Fund 67.10 (6.–7. Jh.): Martha L. Carter, in: Harper 1978 (wie Anm. 97), 60–61, Nr. 18. 103 S. Anm. 59. 104 Ettinghausen 1967–1968 (wie Anm. 101), 41. Zu Taq-e Bostan s. Anm. 56. 105 Ettinghausen 1972 (wie Anm. 87), 1, 6.

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Zeugnisse der Hofkultur.106 Möglicherweise lassen sich beide Ansätze verbinden, z. B. könnten die Gefäße bei religiös motivierten Feierlichkeiten am Sasanidenhof wie dem Neujahrsfest Nowruz verwendet worden sein.107 Auf jeden Fall eigneten sich die dionysisch inspirierten Motive gut, um, wie ihre ›klassischen‹ Vorbilder, eine festliche Stimmung zu evozieren. Auch im christlich geprägten Einflussbereich von Byzanz waren dionysische Themen in Literatur und Bildwerken weiterhin präsent.108 Mitunter finden sich dionysische Darstellungen wie im Sasanidenreich auch auf Silbergefäßen, z. B. auf drei Silbertellern aus dem Schatzfund von Mildenhall.109 Eine große Platte mit über 60 cm Durchmesser, die ins 4. Jahrhundert datiert wird, ist mit thiasoi in zwei um eine zentrale Okeanosmaske konzentrisch angeordneten Kreisen verziert. Der innere Ring gibt in kleinen Figuren einen Meeresthiasos aus Nereiden, Tritonen und Seetieren wieder, der äußere zeigt deutlich größere dionysische Figuren. Die dargestellten Figurentypen entsprechen dem geläufigen Repertoire, wie es u. a. auf den kaiserzeitlichen Sarkophagen des 2. und 3. Jahrhunderts verbreitet war. Auch die tanzende Mänade, deren Typus für die Tanzende im Deckengemälde des Apodyteriums von Qusayr Amra als Vorbild diente, ist zwischen Pan und einem Doppelflöte spielenden Satyr auf dem Teller wiedergegeben.110 Zwei deutlich kleinere Teller aus demselben Schatzfund geben jeweils ein dionysisches Figurenpaar wieder, Satyr bzw. Pan mit einer Mänade. Diese Darstellungen dürfen wohl nicht als Zeugnis eines vom Besitzer des Tellers ausgeübten Dionysoskultes angesehen werden. Der Eigentümer des Tellers war wahrscheinlich sogar Christ, denn unter den weiteren Objekten des Hortfundes befinden sich auch drei mit einem Christogramm verzierte Löffel.111 Die Teller mit dionysischen Darstellungen wurden wahrscheinlich in einer kaiserlichen Werkstatt in einer der Residenzstädte des Reiches hergestellt und kamen als Geschenk des Kaisers an einen seiner Anhänger nach Großbritannien oder waren womöglich weiterverschenkt worden.112 In diesem Zusammenhang sei auch kurz auf die ›Parabiago-Platte‹ hingewiesen, obgleich sie nicht mit dionysischen Motiven verziert ist.113 Im Zentrum der Silberplatte von ca. 40 cm Durchmesser, die aufgrund von technischen Beobachtungen dem 4.–5. Jahrhundert zugewiesen wird, sind Kybele und Attis in einer von Löwen gezogenen triumphalen Quadriga 106 Duchesne-Guillemin 1971 (wie Anm. 102), 385–386. 107 Martha L. Carter, in: Harper 1978 (wie Anm. 97), 61. 108 Einige Beispiele von dionysischen Bildwerken hat Troels Myrup Kristensen, Nonnus and the Art of Late Antiquity, in: Domenico Accortini (Hg.), Brill’s Companion to Nonnos of Panopolis, Leiden 2016, 460–478 zusammengefasst. 109 Ruth E. Leader-Newby, Silver and Society in Late Antiquity. Functions and Meanings of Silver Plate in the Fourth to Seventh Centuries, Aldershot/Burlington 2004, 144–146; Richard Hobbs, The Mildenhall Treasure, London 2012, 19–29; Ders., The Mildenhall Treasure. Late Roman Silver Plate from East An­glia, London 2016, 18–80. 110 Hobbs 2016 (wie Anm. 109), 31–32, Abb. 41 (Szene 11, Fig. 23).  111 Hobbs 2012 (wie Anm. 109), 39, 44; Hobbs 2016 (wie Anm. 109), 222–225, Abb. 381–383; 227– 228, 284–286. 112 Hobbs 2012 (wie Anm. 109), 39–40, 44–45; Hobbs 2016 (wie Anm. 109), 268–269. Zu Silbergefäßen als kaiserliche Ehrengaben s. Franz Alto Bauer, Gabe und Person. Geschenke als Träger personaler Aura in der Spätantike (Eichstätter Universitätsreden, Bd. 116), Eichstätt 2009, 9–15. 113 Leader-Newby 2004 (wie Anm. 109), 146–147.

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dargestellt, umgeben von kosmischen Symbolen. Über ihnen fahren Helios und Selene in ihren Quadrigen über den Himmel, rechts von ihnen ist Aion in einem mit dem Zodiak verzierten Reif dargestellt. Im unteren Register sind vier Putti als Jahreszeitengenien über den Büsten von Okeanos und Thetis, zwei Nymphen und rechts Tellus mit Füllhorn und Putten abgebildet. Die hier dargestellten Motive stammen aus unterschiedlichen ikonographischen Zusammenhängen und sind von Objekten verschiedener Gattungen bekannt. In Bezug auf Qusayr Amra ist die am Boden lagernde Tellus von besonderem Interesse, da sie von einem Putto zu ihrer Rechten begleitet wird, der in einem ganz ähnlichen Haltungsmotiv wie der Eros in den Ariadne-Darstellungen in Schrittstellung hinter der Lagernden steht und mit dem ausgestreckten rechten Arm auf den Wagen des Götterpaares weist. Die lagernde Tellus unterscheidet sich jedoch leicht von den Darstellungen Ariadnes, vor allem da ihr der charakteristische Ruhegestus fehlt. Weitere Mythenbilder, häufig auch des Dionysos und seines Kreises, finden sich in der Spätantike auf Mosaiken in den Häusern der Oberschicht.114 In den Bereich der Elitenkultur gehören schließlich auch die bereits als Vergleichsstücke herangezogenen großformatigen Wandbehänge. Der Wandbehang in Riggisberg verdeutlicht erneut, dass die dionysischen Bilder keinen Widerspruch zum christlichen Glauben darstellten. Zusammen mit dem sekundär als Grabtuch verwendeten dionysischen Wandbehang wurde nämlich ein im späten 4./frühen 5. Jahrhundert hergestellter Seidenstoff gefunden, der Szenen aus dem Marienleben wiedergibt und möglicherweise vom Totenhemd der/des Bestatteten stammt.115 Wie beim Schatz von Mildenhall war es für den spätantiken Besitzer der Artefakte offensichtlich kein Problem, sowohl mythologische als auch christliche Bilder nebeneinander zu verwenden. Noch im 5. Jahrhundert entstand mit den Dionysiaka des Nonnos außerdem die umfassendste bekannte literarische Quelle zu Dionysos, verfasst wohl von einem Christen. In 48 Büchern – es ist das längste aus der Antike überlieferte Gedicht überhaupt – schildert Nonnos in gelehrtem Detailreichtum das Leben und vor allem den indischen Triumphzug des Weingottes.116 Das Epos ist als Ausdruck der paideia zu verstehen, des auf den klassischen griechischen und lateinischen Schriftstellern basierenden Bildungskanons, der in Ost- wie in Westrom von der Oberschicht auch in der Spätantike noch gepflegt wurde, unabhängig von der Religion der Lernenden. Das Aufrechterhalten des alten Bildungsideals erlaubte es den Angehörigen der Oberschicht u. a., sich als Teilhaber an einer fortlaufenden Tradition zu sehen. Auf diese Weise hatten in der spätantiken Gesellschaft die Mythen weiterhin ihren Platz.117 Ihre Teilhabe an der paideia konnten die Angehörigen der Oberschicht auch durch Mythendarstellungen auf repräsentativen Bildträgern wie Silbertellern, Wandbehängen und 114 Glen Warren Bowersock, Hellenism in Late Antiquity, Cambridge/New York/Port Chester/Melbourne/ Sydney 1990, 48–52; Myrup Kristensen 2016 (wie Anm. 108), 471–474. 115 Dietrich Willers in: Willers und Niekamp 2015 (wie Anm. 65), 100–103. 116 Zur Einordnung des Nonnos z. B. Bowersock 1990 (wie Anm. 114), 41–49; Dietrich Willers in: Willers und Niekamp 2015 (wie Anm. 65), 103–107; Nicole Kröll, Die Jugend des Dionysos. Die AmpelosEpisode in den »Dionysiaka« des Nonnos von Panopolis (Millenium-Studien, Bd. 62), Berlin/Boston 2016, 241–263. 117 Leader-Newby 2004 (wie Anm. 109), 123–125.

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Mosaiken visualisieren. Dies gilt insbesondere für die Parabiago-Platte mit ihren vielfältigen Anspielungen. Doch warum nun gerade Dionysos? Allein die Teilhabe an der römisch-byzantinischen Elitenkultur der Spätantike erklärt noch nicht, warum sich die christliche bzw. im Sasanidenreich zoroastrische Elite häufig mit Motiven aus dem Mythos gerade dieses Gottes umgab. Dionysos und seine Bilderwelt eigneten sich aus mehreren Gründen wohl besonders gut für die Repräsentation des Herrscherhauses und der diesem nacheifernden Oberschicht: Dionysos verkörperte die tryphe, Prunk und Glanz, Reichtum, Glück und Wohlergehen, die er zunächst selbst gebracht hatte, die aber auch auf die Herrscher abfärbte, die sich seit dem Hellenismus mit ihm identifizierten.118 Diese tryphe wird durch die üppig wuchernden Weinranken symbolisiert, die Dionysos und sein Gefolge umgeben. Im christlichen Kontext wurden die Weinranken zum Symbol für Christus, wobei der christliche Gott mit seinem Versprechen von Fruchtbarkeit, Fülle und Wohlergehen die Stelle des Weingottes einnahm.119 Auf dieselbe Weise konnten die Motive wohl in andere kulturelle Kontexte wie zu den zoroastrischen Sasaniden und später den islamischen Umayyaden übertragen werden, was die Beliebtheit von Weinrankendarstellungen in deren Bildersprache erklären könnte. Im Sinne dieser tryphe war die Identifizierung mit Dionysos in der Spätantike auch einem Herrscher würdig. Insbesondere seine Rolle als Triumphator, auf der das Hauptaugenmerk der Dionysiaka des Nonnos liegt, sprach offenbar die Zeitgenossen an und konnte sogar auf den Kaiser übertragen werden. Daher konnte noch im späten 4. Jahrhundert der Hofdichter Claudianus in seinem Panegyrikus auf das vierte Konsulat des Honorius den christlichen Kaiser in seiner juwelenbesetzten triumphalen Robe mit dem Weingott vergleichen.120

Fazit Die besprochenen Beispiele haben gezeigt, dass keine ›klassischen‹ Mythenbilder unverändert in die umayyadische Bildersprache übernommen wurden. Das erschwert es, den einzelnen verwendeten Motiven eine konkrete Vorlage zuzuweisen. Dennoch lassen sich einige Darstellungen in der umayyadischen Bildersprache, insbesondere in Qusayr Amra und auf dem Kohlebecken aus al-Fudayn, mit einiger Wahrscheinlichkeit auf dionysische Vorlagen zurückführen. Mythenbilder, insbesondere des Dionysos, waren Teil der Elitenkultur der beiden spätantiken Reiche, deren Erbe die Umayyaden antreten und mit denen sie sich als gleichrangig präsentieren wollten. Dionysos repräsentierte in dieser spätantiken Elitenkultur gleich mehrere erstrebenswerte Eigenschaften: Er und sein thiasos verkörperten – mythisch überhöht – die tatsächlich am Hof gefeierten Feste, wie sie in den Mosaiken aus Bishapur oder durch die musizierenden Tiere in Qusayr Amra dargestellt wurden. Außerdem stand er 118 Walter Ameling, Tryphe, in: Der Neue Pauly, hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred Landfester: >http://dx.doi.org/10.1163/1574–9347_dnp_e1221860< (abgerufen am 11.04.2017). 119 Christus bezeichnet sich im Johannesevangelium (15,1–11) selbst als Weinstock, Gott als den Weinbauern und seine Jünger als die Reben. 120 Verfasst 398 n. Chr.; zitiert bei Leader-Newby 2004 (wie Anm. 109), 158.

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für die tryphe, den Wohlstand, den jeder Herrscher seinem Reich verspricht. Schließlich versinnbildlichte er durch seine triumphale Komponente den Herrscher als Welteroberer, denn jeder der spätantiken Herrscher nahm für sich in Anspruch, nicht nur sein Reich, sondern die gesamte Welt zu beherrschen.121 Schließlich waren wie Dionysos auch die Umayyaden Welteroberer. Da sich jedoch keine Darstellungen in ihrer Bildersprache ausmachen lassen, die auf Dionysos als Triumphator anspielen, lässt sich nicht nachweisen, ob diese Konnotation in den von ihnen angeeigneten dionysischen Motiven mitschwang. Als Vorlagen dienten den Umayyaden wohl Artefakte der Hofkultur wie die hier besprochenen Gefäße aus Edelmetall oder die kostbaren Stoffe. Außerdem könnten im Kalifat vorhandene vorislamische Vorlagensammlungen herangezogen worden sein, wodurch sich die beobachteten Ähnlichkeiten zu stadtrömischen Sarkophagen oder nordafrikanischen Mosaiken erklären lassen könnten.122 Diese ›Musterbücher‹ könnten bis in umayyadische Zeit von Werkstätten tradiert worden sein. Abschließend bleibt noch zu klären, inwieweit man bei den Umayyaden tatsächlich von einer Mythen-Rezeption ausgehen kann, also von einer intendierten Aneignung nicht nur des Bildes, sondern auch seines Inhalts, oder ob wir nicht eher eine Mythen-Bild-Rezeption fassen können. Selbst im Falle einer reinen Mythen-Bild-Rezeption ist zudem zu hinterfragen, warum die Umayyaden gerade diese Vorlagen übernahmen. Am Hof des Umayyadenkalifen gab es zweifelsohne Personen, die des Griechischen mächtig waren und folglich auch die ›klassischen‹ Mythen lesen konnten. Dies belegen schon alleine die zwar kurzen, aber sehr programmatischen Beischriften auf Griechisch auf den Wandbildern von Qusayr Amra, auch wenn sie leider gerade in den vermeintlich dionysischen Darstellungen fehlen. Griechisch wurde am Beginn der Umayyadenzeit auch in der Verwaltung des Kalifats zunächst weiter verwendet und auch später noch von der Bevölkerung in der Levante, insbesondere von den Kirchenvertretern, gesprochen.123 Auffällig ist an den umayyadischen Bildern nach dionysischen Vorlagen jedoch, dass abgesehen von Pan auf dem Kohlebecken aus al-Fudayn keine unmissverständlich dionysischen Figuren wie Pan und Satyr abgebildet sind und in den umayyadischen Bildern generell, die Weinranken ausgenommen, sämtliche für den dionysischen thiasos charakteristischen Attribute fehlen. Waren die Mythenbilder also nur zufällig als Vorlagen ausgewählt, weil sie vom Bildinhalt her gut zu der Funktion des jeweiligen Raumes passten? Diese Erklärung mag auf die Badenden im Tepidarium zutreffen, die anders als ihre vermeintlich dionysischen Vorbilder schließlich vollkommen nackt dargestellt sind. Die Vorlagen könnten durch diese ikonographischen Veränderungen an die Funktion des Bade121 S. dazu Josef Wiesehöfer, Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., Zürich 1993, 220; Canepa 2009 (wie Anm. 84), 101–102; Canepa 2010 (wie Anm. 84), 125, 160, 167; Matthew P. Canepa, Emperor, in: Catherine M. Chin und Moulie Vidas (Hg.), Late Ancient Knowing. Explorations in Intellectual History, Oakland 2015, 155–174. 122 Andreas Schmidt-Colinet, Das Tempelgrab Nr. 36 in Palmyra. Studien zur palmyrenischen Grabarchitektur und ihrer Ausstattung (Damaszener Forschungen, Bd. 4), Mainz 1992, 92, 95, 102, 141 wies bereits in der palmyrenischen Bauornamentik des 3. Jhs. Bezüge zur stadtrömischen Sarkophagikonographie nach, die er auf Mustervorlagen in den an der syrischen Küste ansässigen Sarkophagwerkstätten zurückführte. 123 Zu Griechisch im Umayyadenreich s. Fowden 2004 (wie Anm. 10), 265–272.

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raumes angepasst worden sein. Beim Bild der Auffindung Ariadnes im Apodyterium mag diese Erklärung jedoch kaum überzeugen – es sei denn, man würde den Eros, der auf den Sarkophagen (nicht aber in dem Wandgemälde in Qusayr Amra!) das Gewand der Schlafenden wegzieht, als Anspielung auf das Entkleiden verstehen. Möglicherweise könnten auch die nur partielle Übernahme der Motive und die Vermischung verschiedener mythologischer und christlicher Vorlagen dafür sprechen, dass zumindest in Qusayr Amra die Bildaussagen der Vorbilder nur auf einer sehr allgemeinen Ebene übernommen wurden. Dies könnte besonders für die Weinranken gelten, die wie bereits in der griechisch-römisch-byzantinischen und wohl ebenso in der sasanidischen Ikonographie den Wohlstand und die Fruchtbarkeit verkörpert haben könnten, die auch der umayyadische Kalif seinem Reich versprach.124 Abschließend lässt sich die Frage, ob in den ›Wüstenschlössern‹ der genaue mythologische Zusammenhang der angeeigneten Darstellungen übernommen wurde, kaum entscheiden. Als Teil einer Hofkultur, an der alle Herrscher der spätantiken Welt und entsprechend auch die Umayyaden partizipieren wollten, wurden die Mythenbilder jedoch rezipiert.

124 Baumann 1999 (wie Anm. 5), 162–163. Dauphin 1978 (wie Anm. 77), 27–28. Vgl. Anm. 78.

A Sky without Myths? Pagan Imagery in Early Medieval Astronomy1

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Introduction Mythology was ubiquitous in Graeco-Roman antiquity: myth was among the most important hermeneutic tools for interpreting reality; it permeated religion, philosophy, cosmology, as well as the various aspects of everyday life. During the Roman imperial period, the rise of Christianity had to cope with the problem of the all-pervasiveness of myth. Writing at the beginning of the third century AD, the apologist Tertullian, in his treatise On Idolatry, took very seriously the threat represented by mythological images, qualified by him as potential receptacles of daemons. Thanks to the widespread diffusion of these images, evil beings could enter the everyday lives of Tertullian and his fellow Christians through every kind of artistic medium (Tert. idol. 3,2): But when the devil introduced into the world artificers of statues and of images, and of every kind of likenesses, that former rude business of human disaster attained from idols both a name and a development. Thenceforward every art which in any way produces an idol instantly became a fount of idolatry. For it makes no difference whether a moulder cast, or a carver grave, or an embroiderer weave the idol: because neither is it a question of material, whether an idol be formed of gypsum, or of colours, or of stone, or of bronze, or of silver, or of thread.2 1 I thank Kristen Lippincott and Anna Santoni for their help and suggestions. 2 “At ubi artifices statuarum et imaginum et omnis generis simulacrorum diabolus saeculo intulit, rude illud negotium humanae calamitatis et nomen de idolis consecutum est et profectum. Exinde iam caput facta est idololatriae ars omnis quae idolum quoquomodo edit. Neque enim interest, an plastes effingat, an caelator exculpat, an phrygio detexat, quia nec de materia refert, an gypso, an coloribus, an lapide, an aere, an argento, an filo formetur idolum.” Tertullian’s text is quoted according to the edition by A. Reifferscheid and G. Wissowa in the Corpus Christianorum: Quinti Septimi Florentis Tertulliani Opera, Pars II: Opera Montanistica, Turnholti 1954 (Corpus Christianorum. Series Latina, II); the English translation is by S. Thelwall, in: The Writings of Quintus Septimius Florens Tertullianus, vol. I, Edinburgh 1869 (Ante-Nicene Christian Library, XI).

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With the process of Christianisation, slowly progressing between the fourth and the sixth century AD, the presence of pagan gods and heroes in the Romans’ lives gradually decreased: already in the fourth century they had virtually disappeared from funerary imagery, where they had been replaced by new Christian themes visualising the expectation for a blessed afterlife; by the end of the same century they were officially eliminated from the public realm, in consequence of the laws prohibiting pagan cult practices, issued by the emperor Theodosius in AD 391–392.3 However, myth was still heavily present within the domestic space, where it continued to be widely used in the decorations of walls and pavements, luxury objects, clothing, and books. In contrast to the continuity observable in the late antique East, where mythological imagery was still alive in the Umayyad period, in the Latin West the collapse of Roman institutions under the pressure of the barbarian invasions caused what Bryan Ward-Perkins has called “the end of civilization”:4 houses were destroyed, and their decorations plundered; valuable objects were buried, in the hope of being recovered after the danger, but in many cases their owners never came back, leaving to modern archaeologists the task to retrieve them. With the collapse of the imperial government in the West, the church took over the administrative and economic functions previously held by Roman public officials, including the transmission of culture, which in most areas became monopolised by religious institutions: teaching was now imparted in cathedral and monastic schools, and the leading intellectuals and writers also held religious offices in the regular or secular clergy. Christianisation extended its influence over every aspect of cultural life, including the sciences. In this context, the situation of astronomy was particularly delicate: for, more than any other science, Graeco-Roman astronomy was deeply connected with mythology. Ancient descriptions of the sky helped viewers recognize and remember the positions of individual stars by grouping them into imaginary figures (in Greek eidola), i.e. the constellations, which were then associated with mythological characters and stories, working as both memory aids and aetiological explanations. It is quite easy to understand the Christian concern towards the ancient astronomical learning, with its scientific and moral implications: how could a Christian scholar, who was in most cases also a monk or a priest, learn and teach astronomy without making reference to the gods, heroes, and beasts described by the most authoritative Greek and Latin writers? And, in doing so, how could he be sure that these pagan stories would made no harm to his own soul, or to the young and more easily influenced souls of his pupils? An attempt to solve this problem was made between the late sixth and the early seventh century by two of the leading intellectuals of that time: Gregory of Tours and Isidore of Seville.

Gregory of Tours As bishop of Tours between 573 and 594, Gregory was among the most important church representatives in the Frankish kingdom, and one of the most prolific writers of his age: 3 The laws are preserved in book XVI of the Theodosian Code: Cod. Theod. 16,10,10–12. 4 B. Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005.

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besides his famous History of the Franks (Historia Francorum) in ten books, eight books of hagiographic content, and a commentary on the Psalms, he also wrote a treatise on astronomy, which has come down to us with the title De cursu stellarum.5 This work is actually not devoted only to astronomical matters. It is rather, to borrow Pascale Bourgain’s words, “a treatise on the miracles of the Creator God, including the astronomical observations of the constellations”: in a word, a book on “the grandeur […] of Creation”; as such, it could be conceived by Gregory, during his later revision of his own works, as the concluding book of his literary legacy, although it was later transmitted mainly in separate, often anonymous form.6 Gregory’s treatise can be divided into four parts: 1) §§ 1–8. A list of the seven wonders of the world, based on ancient sources but reshaped from a Christian point of view. These include Noah’s Ark, the city of Babylon, Salomon’s Temple, the Mausoleum of Halicarnassus, the Colossus of Rhodes, the Theatre of Heraclea, and the Pharos of Alexandria. As can be seen, some of the seven wonders of Graeco-Roman tradition are still mentioned, while others that were more explicitly linked with pagan cult practices (such as the Temple of Artemis at Ephesus, or the statue of Zeus at Olympia) are eliminated and substituted with biblical monuments. The seven wonders are listed in chronological order, starting with the account of the flood in the book of Genesis and ending with the masterpieces of Hellenistic engineering.7 2) §§ 9–16. In contrast to these wonders, built by men and ultimately destined to destruction, Gregory lists the seven wonders of Creation, which, having been set up by God, will last until the end of time. These include the tides of the Ocean, the birth and growth of plants from their seeds, the Phoenix bird, the mount Aethna, the hot springs of Grenoble, the Sun, and finally the cycles of lunar phases and of the motion of the stars. 3) §§ 17–34. These astronomical references mark the transition to the second half of the text, which deals more specifically with astronomical issues. The third section includes a description of the motions of the Sun and the Moon, and a list of the principal constellations according to their appearance during the course of the year. Each of the 14 constellation entries includes a drawing, reproducing the arrangement of the group of stars, and a text describing the times of its risings according to the different months of the year. 5 On Gregory of Tours and his writings see now the contributions in A Companion to Gregory of Tours, ed. A. C. Murray, Leiden/Boston 2015 (Brill’s Companions to the Christian Tradition, LXIII). 6 P. Bourgain, The Works of Gregory of Tours: Manuscripts, Language, and Style, in: Companion (as in n. 5), 141–188, esp. 142–144. On the manuscript transmission of the De cursu stellarum see: P. Bourgain and M. Heinzelmann, L’œuvre de Grégoire de Tours: la diffusion des manuscrits, in: Grégoire de Tours et l’espace gaulois. Actes du Congrès International (Tours, 3–5 novembre 1994), ed. N. Gauthier and H. Galinié, Tours 1997 (RACF, Supplément, XIII), 273–317, esp. 312–313; B. Obrist, Les manuscrits du De cursu stellarum de Grégoire de Tours et le manuscript Laon, Bibliothèque Municipale 422, Scriptorium, LVI, 2002, 335–345; J. J. Contreni, Gregorius Turonensis, in: Catalogus Translationum et Commentariorum, vol. IX, ed. V. Brown, Washington, D.C. 2011, 55–71, esp. 60–61; id., Gregory’s Works in the High Medieval and Early Modern Periods, in: Companion (as in n. 5), 566–581, esp. 567 and 577–578. 7 Among the latter also the still puzzling Theatre of Heraclea must be listed, for which no direct ancient source has hitherto been detected.

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4) §§ 35–47. In the last section, Gregory uses the times of rising of certain specific stars and constellations as markers, in order to establish the proper times for the night prayers in every month of the year. In the chapter marking the transition from the first to the second half of the treatise, Gregory states his purpose and method, offering interesting insights about the relation between the authority of the ancient scientific tradition and the data acquired through personal observation of the sky (Greg. Tur. stell. 16): I would like, God willing, and as much as I have experienced myself, to give an explanation about this motion [i.e. of the stars] to those who ignore it. But I will omit the names which Virgil and the other poets gave to the stars, using only those denominations by which our peasants call them by long use, or which are expressed by the shape of the signs themselves, such as ‘cross‘, ‘sickle‘, and other figures. And this because I am not writing a scientific treatise on this topic, nor am I teaching how to predict the future, but I am explaining in which way the motion of the stars can be rationally employed to accomplish God’s praise, and at what times one who wants to perform this duty with attention should wake up at night and praise God.8

Gregory declares here his aim in writing this text: the motions of the stars are described in order to give the clergy the means of establishing the correct times for prayers during the night. This mainly practical purpose is confirmed by the subtitle of the treatise preserved in its oldest complete manuscript:9 “Ratio qualiter ad officium implendum debeat observari”, i.e. “Explanation on how [the motion of the stars] should be observed in order to fulfil the Divine Office”.10 From the onset of his treatment of astronomical issues, Gregory makes an explicit claim of non-scientific interest: he is going to explain simply what he has learned through experience (“de quanto experimentum accipi”), and feels the need to distance himself from the professional practitioners of science (“non ego in his mathesin doceo”), especially the specialists of astrology (“neque futura perscrutare praemoneo”). For this reason, he decides not to use the traditional Graeco-Roman names of constellations, but to refer to them either by the names by which they had been known for a long time to the local peas8 “De quo cursu, si Deus iubeat, velim, de quanto experimentum accipi, rationem nescientibus dare. Sed nomina quae his vel Maro vel reliqui indiderunt poetae postpono, tantum ea vocabula nuncupans, quae vel usitate rusticitas nostra vocat vel ipsorum signaculorum exprimit ordo, ut est crux, falcis vel reliqua signa; quia non ego in his mathesim doceo neque futura perscrutare permoneo, sed, qualiter cursus in Dei laudibus rationabiliter impleatur, exhortor, vel quibus horis qui in hoc officio adtente versari cupit, debeat nocte consurgere vel Dominum deprecare.” Gregory’s text is quoted according to the edition by B. Krusch in the Monumenta Germaniae Historica: Gregorii Turonensis Opera, Hannoverae 1885 (MGH, Scriptores rerum Merovingicarum, vol. I); the English translation is my own. 9 Bamberg, Staatsbibliothek, ms. Patr. 61, f. 75v. The manuscript, written in Beneventan script, was produced in southern Italy (perhaps at Montecassino) towards the end of the eighth century. Cfr. D. Blume, M. Haffner and W. Metzger, Sternbilder des Mittelalters: Der gemalte Himmel zwischen Wissenschaft und Phantasie, 4 vols., Berlin 2012–2016, vol. I, 40 and 199–201, cat. n. 5, with further bibliographical references. The manuscript is digitised on the website of the Staatsbibliothek Bamberg: >http://bsbsbb. bsb.lrz.de/~db/0000/sbb00000157/images/index.html< (accessed March 2018). 10 On monastic timekeeping in the early middle ages see at least S. C. McCluskey, Astronomies and Cultures in Early Medieval Europe, Cambridge 1998, 97–113.

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ants (“ea vocabula nuncupans, quae […] usitate rusticitas nostra vocat”), or simply by words describing their shape (“[ea vocabula […] quae […]] ipsorum signaculorum exprimit ordo”). However, only a couple of names explicitly referring to agriculture can be found in Gregory’s treatise: one is the Wagon (plaustrum) (§ 33), which is attested as an alternative denomination for Ursa Maior already in the Iliad,11 the other is the Sickle (falcis) (§ 30), which however, being nowhere else attested, could also be Gregory’s own invention. All the other names are based on the shapes of the constellations and the relative positions of the stars within them; Gregory regularly reduces the groups of stars to simple geometrical figures: for example, the semi-circular shape of Corona Borealis is associated with the Greek letter sigma (с) (§ 21), the four bright stars of Lyra with the Greek letter omega (ω) (§ 22), the body and spread wings of Cygnus model the shape of a large cross (§ 23), etc. The importance of Gregory’s approach lies precisely in this effort of abstraction, which helps explain his choice of distancing himself from the Graeco-Roman scientific tradition. As we have seen, Gregory’s main interest was neither scientific astronomy nor astrology, but rather the establishment of a simple and effective way for the measurement of time: in stating that he has left out all the ancient names of constellations, he does not justify his choice on the basis of religious concerns. Accordingly, we do not find, for example, in Gregory’s text that vehement condemnation of astrological practices which (as I will show later) is characteristic of other Christian writers when dealing with cosmological and astronomical issues. The distancing from traditional descriptions of the sky is better interpreted as a consequence of the scope of the text itself. Gregory explicitly says that the treatise aims at an audience provided with no astronomical knowledge (§ 16: “velim, de quanto experimentum accipi, rationem nescientibus dare”), so there would have been no point in his making reference to a tradition which was unknown to his readers. This is not to say that Gregory’s treatise has nothing scientific in it: rather the contrary. His tendency towards abstraction, as well as the claim that his data derive from direct personal observation of the sky, rather than relying on the assertions of previous authors, testify to a genuine scientific concern on the part of the bishop of Tours.12 To be sure, Gregory obviously refers to constellations, defined as groups of stars which are close to one another, and whose risings and settings take place at the same time; but the way in which he assembles these groups of stars, and in particular the spatial 11 Il. 18,487: Ἄρκτόν θ᾽, ἣν καὶ Ἄμαξαν ἐπίκλησιν καλέουσιν (“and the Bear, which they also call by the name of Wagon”). 12 The extent of Gregorius’ scientific self-consciousness has been a matter of discussion: a positive evaluation of Gregory’s originality in method and content is proposed by W. Bergmann and W. Schlosser, Gregor von Tours und der „rote Sirius“. Untersuchungen zu den astronomischen Angaben in De cursu stellarum ratio, Francia, XV, 1987, 43–74, and by S. C. McCluskey, Gregory of Tours, Monastic Timekeeping, and Early Christian Attitudes to Astronomy, Isis, LXXXI, 1990, 8–22; according to these authors, Gregory’s claim that his data derive from personal observation of the sky can be considered reliable. On the contrary, A. Loose, Astronomische Zeitbestimmung im frühen Mittelalter: De cursu stellarum des Gregor von Tours, Diss., Ruhr-Universität Bochum 1988, regards Gregory rather as a compiler of earlier sources, in particular because he adopts a ratio of 5/3 between the longest and shortest daylight (15 hours in June, nine hours in December) which is actually more suitable to Mediterranean countries than to north-western France; however, as McCluskey pointed out (14–15), this kind of approximation was widespread in antiquity in order to make astronomical calculations more simple.

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model used for arranging them into a coherent and easily recognisable unity, is entirely new. This mental process is clearly detectable through the drawings associated with the constellation entries:13 as pointed out by Bergmann and Schlosser, Gregory provides “a visual, but not figurative representation” of the constellations.14 In other words, the drawings reproduce the groups of stars as they are actually seen in the night sky, without integrating them, as was customary in Graeco-Roman astronomical tradition, in a figurative or mythological representation (Farbabb. 8). The method for drawing the constellations in the Greek and Roman scientific tradition is best attested by Ptolemy’s prescriptions for the construction of a celestial globe, included in Book 8 of the Almagest (Ptol. Alm. 8,3 [vol. II, p. 182,20–23 Heiberg]): Concerning the way in which the shape of every single constellation is configured, we will draw them as simple as possible, surrounding the stars pertaining to each constellation by means of single outlines, which shall not be too in contrast with the general colour of the sphere: in order that, on the one side, we do not renounce the advantage of the indications given by those lines; but, on the other side, the likeness of the image to reality shall not be diminished by the introduction of bright colours. In this way, it will be easy for us to remember the correspondences between the globe and the sky, because we got used, also while studying the globe, to look at the bare stars without any ornaments.15

According to this model, the constellations are drawn by enclosing adjacent stars by means of a continuous outline, whose final shape is then related to the silhouette of a human being, an animal, or an object. This was the standard way of drawing the constellations in GraecoRoman astronomy, at least from the 4th century BC well into Late Antiquity. Gregory, on the contrary, takes into account only the brightest stars of each constellation, linking them with one another by means of imaginary straight lines, which allow him to describe their shapes by association with very simple geometrical figures. By comparing these two approaches, it becomes clear how innovative Gregory’s method is with respect to Graeco-Roman tradition: it is actually closer to modern conventions of constellation drawing than to those adopted by previous astronomers.16 The elementary shapes recognised by Gregory in the night sky con13 The drawings are more or less correctly preserved only in the Bamberg manuscript: in the other exemplars of Gregory’s treatise the stars are simply aligned horizontally, as if they were letters in a text, thus losing their peculiar spatial arrangements. 14 Bergmann and Schlosser (as in n. 9), 47. 15 “Τοὺς μέντοι τῶν μορφώσεων ἑνὸς ἑκάστου τῶν ζῳδίων σχηματισμοὺς ὡς ἔνι μάλιστα ἁπλουστάτους ποιήσομεν γραμμαῖς μόναις τοὺς ὑπὸ τὴν αὐτὴν διατύπωσιν ἀστέρας ἐμπεριλαμβάνοντες, καὶ ταύταις οὐ πολλῷ τοῦ καθ ̓ ὅλην τὴν σφαῖραν χρώματος διαφερούσαις, ἵνα μήτε τὸ τῆς ἐξ αὐτῶν διασημασίας χρήσιμον παραλελειμμένον ὑπάρχῃ, μήτε ἡ τῶν ποικίλων χρωμάτων παράθεσις ἀφανίζῃ τὴν πρὸς τὴν ἀλήθειαν τῆς εἰκόνος ὁμοιότητα, ῥᾳδία δ᾽ ἡμῖν καὶ εὐμνημόνευτος ἡ κατὰ τὴν προσβολὴν τῆς ἀναθεωρέσεως σύγκρισις γίνηται συνεθιζομένοις καὶ ἐπὶ τῆς σφαιρικῆς εἰκόνος γυμνῇ τῇ τῶν ἄστρων φαντασίᾳ.” Ptolemy’s text is quoted from the Teubner edition: Claudii Ptolemaei Opera quae exstant omnia, vol. I: Syntaxis mathematica, ed. J. L. Heiberg, 2 vols., Lipsiae 1898–1903; the English translation is my own. 16 As shown by E. Bethe, Das Alter der griechischen Sternbilder, Rheinisches Museum, N. F. LV, 1900, 414–434, esp. 429–431, the idea of connecting the stars with one another through imaginary straight lines actually predates the traditional Graeco-Roman procedure described by Ptolemy, and can be considered as the origin of such archaic names of constellations as ‘the Wagon’ (for Ursa Maior), ‘the

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firm his initial claim of understatement: he is not writing a scientific treatise, but only a short handbook for people with no previous knowledge of astronomy; and, in doing so, he borrows concepts and terminology from the agricultural world. Indeed, Gregory’s text is a precious document of the survival of a pre-mythological way of identifying the constellations: this was superseded already in archaic Greece by the developing methods of scientific research and by the mythologisation of the sky, but survived in popular culture well into late antiquity and until modern times. Gregory’s refusal of ancient astronomical conventions is not due to a lack of scientific knowledge, nor to religious concerns because of the strong relation between astronomy and mythology. The neglect of pagan mythology is certainly a welcome side effect of his choice, but not the main reason for it: at the centre of his interest lies the intellectual challenge of giving literary and scientific dignity to the traditional and popular organization of the night sky, making it understandable also by readers not provided with traditional scientific training and skills.

Isidore of Seville A very different approach characterises, a few decades later, another of the leading intellectuals of the early middle ages, Isidore of Seville. At the beginning of the seventh century, Isidore wrote a treatise, with the title De natura rerum, for Sisebutus, the learned king of the Visigoths (reg. 612–621), a personal friend of his and himself author of a Latin astronomical poem about lunar and solar eclipses. In this case, too, it is worth considering the preface to the text, in order to understand Isidore’s approach to his subject matter, as well as the method and scope of his treatise (Isid. nat. praef. 1–2): [1] While I do not ignore the fact that you are distinguished for oratorical talent and for the chosen variety of your readings, nonetheless you further expand your interests, and demand that I supply to you some notions about the natural sciences and the origins of things. For my part, having run through the works of previous authors, I do not hesitate to satisfy your interest and wish, explaining to a certain extent the measurement of days and months, as well as the turning points of the year and the alternation of the seasons, and also the nature of the elements, and finally the motions of the Sun and the Moon, some astronomical causes, i.e. the signs of rain and winds, as well as the place of the earth in the universe and the alternating tides of the sea. [2] I noted down all these things in a short book, according to what has been written by the ancients, and especially as they are written in the works of catholic authors. For, knowing the nature of such things is not part of a superstitious form of knowledge, provided that they are examined with a safe and sober learning. On the contrary, if they were completely unrelated with the pursuit of truth, that famous wise king would never had said: ‘He himself gave me the true knowledge

Hound’s Tail’ (for Ursa Minor), or ‘the Key’ for Cassiopeia. Ancient depictions of constellations (Pleiades and Taurus?) according to this method are perhaps to be found on f. 64r of the so-called Codex Climaci Rescriptus, a palimpsest manuscript whose original script is dated to the late fifth or the first half of the sixth century AD: I thank Kristen Lippincott for having kindly provided this reference. Unfortunately, nothing more can be said until the preliminary publication of this section of the manuscript.

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of what exists, that I know the disposition of the sky and the qualities of the elements, the changes of motions and the divisions of time, the cycles of the years and the positions of the stars.‘17

Differently from Gregory, Isidore explicitly states his awareness that this form of scientific knowledge can be dangerous, if the reader forgets the true doctrine of Christian faith and lets himself be driven out of the way to salvation by wrong readings. For this reason, the opinions of Christian writers (“sicut in litteris catholicorum virorum scripta sunt”) must be preferred over that of ancient Greek and Roman authors. But, notwithstanding its potentially dangerous character, this subject deserves to be studied. This already marks an important difference between Gregory’s and Isidore’s approaches: Gregory’s dealing with astronomical matters needed no justification, because it was explicitly linked with the practical purpose of establishing the correct times for prayer; on the contrary, Isidore’s exquisitely scientific interest had no immediate practical advantage, and for this reason required justification. This is provided by a biblical quotation from the book of Wisdom, attributed to king Salomon (sap. 7,17–19), stating that the true knowledge of natural phenomena, including the elements, the sky, and the measurement of time, comes directly from God: as a consequence, this kind of study not only should be allowed, but is indeed desirable for a Christian, as part of the general pursuit of truth. The necessary condition fur such an enterprise is that the astronomical matters be set free from all the superstitions of pagan authors. The Sacred Scripture guides Isidore also in his treatment of the constellations, which is included in chapter XXVI of the treatise, under the title De nominibus astrorum. Here, the description of the individual constellations is preceded by a short introduction, in which the author justifies his choice of maintaining the traditional Greek and Latin denominations of the stars, even if they explicitly refer to pagan gods and myths. Isidore takes as his starting point two passages in the book of Job (Iob 9,9 and 38,31–32), in which the stars are mentioned as representing the majesty and wonder of God’s Creation: in both passages, some stars and constellations are indicated by their Greek and Roman names (Pliades, Arcturus, Lucifer, Vesper, Orion, Hyades). Isidore uses these passages to address the central problem: 17 “[1] Dum te praestantem ingenio facundiaque ac vario flore litterarum non nesciam, inpendis tamen amplius curam, et quaedam ex rerum natura vel causis a me tibi efflagitas suffragandum. Ego autem satisfacere studio animoque tuo decursis priorum monumentis non demoror, expediens aliqua ex parte rationem dierum ac mensuum, anni quoque metas et temporum vicissitudinem, naturam etiam elementorum, solis denique ac lunae cursus, et quorundam causas astrorum, tempestatum scilicet signa atque ventorum, necnon et terrae positionem alternos quoque maris aestus. [2] Quae omnia, secundum quod a veteribus viris ac maxime sicut in litteris catholicorum virorum scripta sunt, proferentes, brevi tabella notamus. Neque enim earum rerum naturam noscere superstitiosae scientiae est, si tantum sana sobriaque doctrina considerentur. Quin immo, si ab investigatione veri modis omnibus procul abessent, nequaquam rex ille sapiens diceret: ‘Ipse mihi dedit horum quae sunt scientiam veram, ut sciam dispositionem caeli et virtutes elementorum, conversionum mutationes et divisiones temporum, annorum cursus et stellarum dispositiones‘”. The text is quoted from the edition of the Collection des Études Augustiniennes: Isidore de Séville, Traité de la nature, Introduction, texte critique, traduction et notes par J. Fontaine, Paris 1960 (Collection des Études Augustiniennes. Série Moyen Âge et Temps Modernes, XXXIX); Fontaine’s lengthy introduction (ibid., 1–150) is still the best study available about Isidore’s text and historical context. The English translation is my own.

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how should a Christian scholar deal with astronomy as a pagan form of knowledge (Isid. nat. 26,1–2)? [1] […] While reading these names of stars in the Scriptures, let us not give approval to the unsubstantiated nonsenses of the poets, who, due to false beliefs, gave the stars these denominations, taken from the names of men or from the denominations of other creatures. For the wise men of the pagans attributed some names to certain stars, in the same way as they did with the days of the week. [2] But, if the Sacred Scripture uses these same names, it does not for this reason endorse their unsubstantiated fabrications: on the contrary, making out of visible things figures for the invisible ones, it uses these names, which are widely known, for the sake of human understanding, in order that any unknown thing it refers to becomes more easily known through a referent which is understood by human senses.18

The explanation here provided is borrowed directly from saint Jerome, who, as the official translator of the Bible for the Roman church, had chosen to change the Hebrew names of the constellations, found in the text of the book of Job, into the traditional Graeco-Roman ones, even if these were so directly linked to pagan mythology: this was not to be intended, Jerome says, as an endorsement to the “ridiculous and incredible lies” (“ridicula ac portentosa mendacia”) of the poets, but simply as a way to make the theological and moral argument understandable to a larger audience all over the Roman Empire, an audience which obviously could not be reached if the original Hebrew names had been kept.19 After putting forward Jerome’s self-justification, Isidore then goes on to describe the constellations and stars mentioned in these biblical passages: the two Bears, the Pleiades, Orion, Lucifer and Vesper; he also adds of his own the Comet and Sirius, as well as the planets. Isidore came back to the same topic a couple of decades later, in book III of his magnum opus, the Etymologiae (or Origines). The book is devoted to the four arts of the quadrivium: arithmetic, geometry, music, and astronomy. In the last chapter, which bears the title De nominibus stellarum; quibus ex causis nomina acceperunt, the author deals briefly with the Sun and the Moon, then goes on to describe the main constellations, the planets, and the twelve zodiacal signs, examining each one of them with particular attention to its meteorological significance. Interestingly, Isidore does not avoid mentioning the traditional mythological identifications of the stars, but he repeatedly warns his readers not to trust them. For example, about the planets and the Zodiac he says (Isid. orig. 3,70,21–22): [21] The Romans consecrated them [scil. the planets] to the names of their gods, that is, of Jupiter, Saturn, Mars, Venus, and Mercury. Themselves deceived, and wishing to deceive others into the worship of those who had granted them something in accordance with their desires, they used to point out some

18 “[1] […] Haec nomina stellarum dum in Scripturis legimus, vanis deleramentis poetarum assensum non praebeamus, qui falsis opinionibus vocabula ista in astris ex hominum nominibus, vel aliarum creaturarum vocabulis imposuerunt. Ita enim stellarum quarundam gentilium sapientes nomina sicut et dierum indiderunt. [2] Quod vero eisdem nominibus sacra utitur scriptura, non eorum idcirco vanas adprobat fabulas, sed faciens ex rebus visibilibus invisibilium rerum figuras ea nomina pro cognitione hominum ponit, quae late sunt cognita, ut quidquid incognitum significat, facilius per id quod est cognitum humanis sensibus innotescat.” 19 In Am. 2,5,7–9 (279–281, ll. 250–288 Adriaen).

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stars in the sky, saying that that star was Jupiter’s, and that one was Mercury’s: thus, this vain belief was born. The devil strengthened this erroneous belief, but Christ overturned it. [22] Also regarding those which are called ‘constellations’ by the same pagans, in which an image of living beings is formed out of some stars, such as the Bear, the Ram, the Bull, the Scale and others of this kind, those who observed the stars, inspired by superstitious folly, imposed the shape of a body on a group of stars, conforming, through certain characteristics, their images and names to those of their gods.20

In this case, Isidore is borrowing some thoughts from Augustine’s Commentary on the Psalms (Aug. in Psalm. 93,3, ll. 24–31 Dekkers-Fraipont), in which the bishop of Hippo warned his readers not to use the traditional pagan names for the constellations and the days of the week, because “from the mouth of a Christian, a language appropriate to the church flows better” (ibid., ll. 14–15: “melius ergo de ore christiano ritus loquendi ecclesiasticus procedit”). Despite this explicit condemnation, however, Isidore’s treatment of the zodiacal constellations is actually a mixture of astronomical, meteorological, and also mythological references. If an explanation for the name of a constellation can be found within the realm of natural science, then Isidore privileges it over the mythological one: for example, Cancer marks the time of the year when daylight starts to become shorter, thus moving backwards like a crab (§ 26), Virgo is connected with the infertility of the soil in August (§ 27), Libra with the balance between day and night at the Autumn equinox (§ 28), etc. If such a link is not possible, he recurs to those traditional mythological explanations, against which he constantly warns his readers. Mythology governs also Isidore’s treatment of other constellations, such as Perseus and Andromeda, Auriga, Ursa Maior, Bootes, Lyra, Centaurus. These, however, are explicitly quoted as examples of the complete mythologisation of the pagan sky, a process which he condemns as false and dangerous from the point of view of both natural science and theology, especially because, in Isidore’s view, it leads directly to astrological superstition. Thus, the conclusion of book III is entirely devoted to a severe condemnation of astrology (Isid. orig. 3,70,37–40): [37] But, whatever the kind of superstition according to which they were named by men, these are nevertheless stars that God created at the beginning of the world, and that He arranged in order that they might define the seasons through their determined motions. [38] Therefore, observations of these stars, or horoscopes, or other superstitious beliefs that attach themselves to the study of the stars, that is, to the knowledge of destiny, are also, without doubt, contrary to our faith; they ought to be so completely 20 “[21] Has [scil. planetas] Romani nominibus deorum suorum, id est Iovis, Saturni, Martis, Veneris atque Mercurii sacraverunt. Decepti enim et decipere volentes in eorum adulationem qui sibi aliquid secundum amorem praestitissent, sidera ostendebant in caelo, dicentes quod Iovis esset illud sidus et illud Mercurii: et concepta est opinio vanitatis. Hanc opinionem erroris diabolus confirmavit, Christus evertit. [22] Iam vero illa quae ab ipsis gentilibus signa dicuntur, in quibus et animantium imago de stellis formatur, ut Arcton, Aries, Taurus, Libra et huiusmodi alia, hi qui sidera perviderunt in numerum stellarum speciem corporis superstitiosa vanitate permoti finxerunt, ex causis quibusdam deorum suorum et imagines et nomina conformantes.” The text is quoted from the edition recently published in the series of the Auteurs latins du Moyen Âge: Isidore de Séville, Étymologies, Livre III: De mathematica, texte établi par G. Gasparotto avec la collaboration de J.-Y. Guillaumin, traduit et commenté par J.-Y. Guillaumin, Paris 2009 (Auteurs latins du Moyen Âge, XVIII); the translation is my own.

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ignored by Christians that it seems they have not even been written. [39] But some people, enticed by the beauty and clarity of the constellations, have rushed, with their minds blinded, into the movements of the stars, so that they try to be able to foretell the outcomes of events by means of harmful calculations, which are called astrology; not only the wise men of Christian religion, but also those of the pagans, Plato, Aristotle, and others, driven by the truth of nature, condemned these people with unanimous judgement, saying that such a belief would rather produce confusion about nature. [40] For, if humanity was forced to the variety of its actions by a necessity determined by its birth, why should the good deserve praise and the evil receive punishment by the laws? And, even if these authors did not devote themselves to heavenly wisdom, they nonetheless fought justly against the errors of those people with the testimony of truth.21

Again, Isidore is borrowing the words of another Christian writer: the passage is taken verbatim from the concluding chapter of Cassiodorus’ Institutiones (Cass. inst. 2 concl. 2). Cassiodorus’ handbook aims at the education of the ideal Christian wise man, which is said to be achieved through the knowledge of pagan writers and the continuous meditation of the Sacred Scripture; secular science should not be despised, but with an important caveat: this knowledge is of no advantage if it ignores the true laws of God, as is the case, for example, with astrology. This negative judgment is at the same time moral and scientific. Astrological practices are not only “contrary to our faith” (“fidei nostrae […] contraria”): they are also dangerous for the knowledge of natural science, because they can originate some erroneous opinions about the nature and origins of the celestial bodies. In this context, both Cassiodorus and Isidore quote the testimonies of Plato and Aristotle, saying that pagan philosophers, too, condemned astrology, not out of moral or religious reasons, but simply out of a scientific concern for the true knowledge of natural phenomena (“veritatis testimonio”). From a Christian point of view, moreover, astrology’s deterministic premises represent a danger for the doctrine of free will: if a man’s destiny is determined from his birth by the influence of the stars, then there would be no praise in doing good, nor blame in doing bad, since human behaviour would not be the consequence of individual choices. This is actually the main reason why belief in astrology is considered so dangerous: it had the potential to destroy the very foundations of Christian ethics.

21 “[37] Sed quolibet modo superstitionis haec ab hominibus nuncupentur, sunt tamen sidera quae Deus in mundi principio condidit ac certo motu distinguere tempora ordinavit. [38] Horum igitur signorum observationes, vel geneses, vel cetera superstitiosa quae se ad cognitionem siderum coniungunt, id est ad notitiam fatorum, et fidei nostrae sine dubitatione contraria sunt; sic ignorari debent a Christianis ut nec scripta esse videantur. [39] Sed nonnulli siderum pulchritudine et claritate perlecti in lapsus stellarum caecatis mentibus conruerunt ita ut per subputationes noxias, quae mathesis dicitur, eventus rerum praescire posse conentur: quos non solum Christianae religionis doctores, sed etiam gentilium Plato, Aristoteles atque alii rerum veritate commoti, concordi sententia damnaverunt, dicentes confusionem rerum de tali persuasione generari. [40] Nam sicut genus humanum ad varios actus nascendi necessitate premerentur, cur aut laudem mereantur boni aut mali legum precipiant ultionem? Et quamvis ipsi non fuerint caelesti sapientiae dediti, veritatis tamen testimonio errores eorum merito perculerunt.”

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The Carolingian rediscovery of Aratus If seen from the perspective of ancient Graeco-Roman scientific tradition, the texts of Gregory and Isidore are characterized by a non-specialist approach: Gregory’s treatise was meant simply to give the clergy the necessary skills for establishing the correct times for prayer, while Isidore’s works are merely a short introduction to natural sciences, quite far from the complexities of ancient astronomical texts. Not surprisingly, these two authors were part of the syllabus of early medieval monastic schools: as Barbara Obrist pointed out,22 the complete text of Gregory’s De cursu stellarum happens to be preserved only in miscellaneous manuscripts, containing collections of texts assembled probably in the seventh century for the teaching of the liberal arts: Gregory’s treatise is usually accompanied by Isidore’s De natura rerum and by one of the latter’s main source texts, namely Cassiodorus’ Institutiones. This state of things started to change in the second quarter of the eighth century, when some late Roman illustrated astronomical books seem to have reappeared in northern France monasteries, where they were carefully studied, copied, and (when necessary) translated. From this period onwards, astronomy began to be studied directly on ancient Greek and Roman texts, which obviously contained a lot of references, both written and visual, to mythological characters and stories. A noteworthy forerunner, in this as in many other respects of early medieval culture, was the venerable Bede, who in his chronological and cosmological treatises (De temporibus and De natura rerum, written at the beginning of the eighth century; and De temporum ratione, written around AD 725) tried to put together the Christian cosmology, as described by Isidore, with the information provided by ancient pagan authors, mainly Pliny the Elder.23 Bede’s example was soon to be followed by the subsequent generations of scholars in northern France, who began a veritable hunt for ancient astronomical writings. The renewed interest for these texts originated mainly from a practical reason: the study of ancient astronomy was undertaken in order to establish the criteria for a reliable measurement of time during the year, in order to define the correct dates for Easter and the other liturgical solemnities. In other words: the limited astronomical hints given by Gregory of Tours in his treatise could well suffice the needs of measuring the hours of the night; but, in order to make more complex measurements over a longer period of time, medieval scholars had to resort to the ancient astronomical tradition, which could offer a more complete description of the fixed stars. From a survey of the extant manuscripts, it can be stated that at least four illustrated Roman astronomical books were available in early medieval France: three of them were written in Latin, one was in Greek. These were lavishly decorated luxury books, illustrated with images of the constellations and maps of the sky, produced during the fourth and early fifth century AD, when a great interest in astronomy is attested among the late Roman aristocracy. 22 Obrist (as in n. 5), 342–343. 23 Bede’s treatises on nature and time are edited in: Bedae Venerabilis Opera, Pars I: Opera didascalica, 3 vols., Turnholti 1975–1980 (Corpus Christianorum. Series Latina, CXXIII), 173–234 (De natura rerum), 239–545 (De temporum ratione), 579–611 (De temporibus). For a general introduction, with further bibliographical references, see at least G. H. Brown, A Companion to Bede, Woodbridge 2009 (Anglo-Saxon Studies, XII), 27–32; F. Wallis, Bede and science, in: The Cambridge Companion to Bede, ed. S. DeGregorio, Cambridge 2010, 113–126.

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The artistic and economic value of these books ultimately ensured their survival during the early middle ages: with the transfer of social and economic power from the secular aristocracy to the Church, the treasures of wealthy families (including their libraries) became possession of monasteries or episcopal sees, either by bestowal or by simple continuity, since many bishops and founders of monasteries, in fifth- and sixth-century Gaul, were in fact local aristocrats. After having been kept for 300 years in monastic or cathedral libraries, these books regained popularity from the eighth century: in this period, they attracted the attention of a new generation of scholars, who, being not satisfied by the traditional medieval astronomical introductions, began striving to recover some witnesses of ancient scientific knowledge. All these books pertain to the so-called Aratean tradition, originated from the astronomical poem Phaenomena (meaning ‘things visible‘, namely in the sky), written in the third century BC by the Greek poet Aratus. This poem, whose first and longer section contains a description of the stars and constellations visible in the night sky, was one of the most influential literary works of Graeco-Roman antiquity: despite becoming soon outdated in many details due to the progresses made by Hipparchus (second century BC) and Ptolemy (second century AD), Aratus continued to be widely read as a convenient introduction to astronomy, which every cultivated person should know and learn, while its quotation in the Acts of the Apostles (act. 17,28) assured its success also for a Christian audience. Aratus’ poem was translated into Latin several times between the first century BC and the fourth century AD; and, at least from the Roman imperial period (if not earlier), commented and illustrated editions were produced, both in the original Greek and in Latin translation, including astronomical and mythological explanations, maps of the sky, and images of the constellations. The Roman astronomical manuscripts that survived into the early medieval period were exemplars of these commented and illustrated editions of Aratus.24 The four late Roman books rediscovered and copied in the eighth and ninth centuries can be recognized as the archetypes of the extant manuscript tradition of several ancient astronomical writings (fig. 1). The first manuscript whose rediscovery can be dated with a certain degree of verisimilitude was a Greek edition of Aratus’ Phaenomena with extensive commentary and illustrations, which was translated into Latin, probably in the monastery of Corbie, in western Francia, during the second quarter of the eighth century.25 The anonymous translator of what is now called the Aratus Latinus tried his best, in spite of his very poor knowledge of Greek: he translated the whole book, without recognising any distinction between text and commentary, moving forward word by word with the aid of some Graeco-Latin glossaria which had originally been prepared for the understanding of Greek homilies and biblical exegesis, and which were obviously insufficient for translating both Aratus’ allusive poetry and the astronomical 24 On the reception of Aratus’ Phanomena in antiquity and the middle ages see J. Martin, Histoire du texte des Phénomènes d’Aratos, Paris 1956 (Études et commentaires, XXII); on the manuscript transmission of the Latin Aratea see M. D. Reeve, Some astronomical manuscripts, CQ, XXX, 1980, 508–522; id., Aratea, in: Texts and Transmission: A Survey of Latin Classics, ed. L. D. Reynolds, Oxford 1986 (1983), 18–24. 25 This text has been studied from the linguistic point of view (as a witness for the development of Latin language before the Carolingian standardisation) by H. Le Bourdellès, L’Aratus Latinus: étude sur la culture et la langue latines dans le Nord de la France au VIIIe siècle, Lille 1985.

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1 Scheme of the transmission of the Aratean tradition from Late Antiquity into the Latin Middle Ages

technicalities of its introductions and commentaries. Today only four manuscripts of this early medieval translation are extant, testifying to its unsuccessful outcome. Indeed, the scholars of that period soon felt deeply unsatisfied with this translation, which then underwent substantial revision and reworking. From this operation, carried out in the second half of the eighth century, two new texts were produced. The first one was a catalogue of stars, the so-called De signis caeli, which excerpted from the translated text only the sections describing the positions of the stars inside each constellation. The choice of keeping only the star catalogue, thus eliminating both the poetic text and the mythological commentary, corresponded with a practical scientific interest, whose aim was the production of a handbook for the identification of the constellations. But, slightly later, mythology too began to be of some interest for Carolingian scholars: and, from the same earlier translation, a new version of the commentary of the Aratus Latinus was developed. This time, the editing eliminated only the text of Aratus’ poem, whose translation was completely unintelligible, but preserved the astronomical introductions, the mythological commentary (containing the different myths linked to every constellation), as well as the catalogue of stars.26 26 More information on the two consecutive versions of the Aratus Latinus can be found in F. Guidetti,

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The texts, however, represent only one side of the ancient astronomical materials now available to Carolingian scholars: for, the Greek manuscript whose discovery led to this renewed scientific interest was an illustrated book. As a consequence, its illustrations too were copied and included in the new manuscripts produced in the Carolingian period. As we may expect, the books characterised by a more strictly scientific interest (namely, those which chose to copy only the star catalogue) stand out for a rigorous adherence to the ancient model also in copying the illustrations; on the contrary, in the images accompanying the mythological commentary of the Aratus Latinus the iconographies are often misunderstood. The main figurative recension of the De signis caeli, in particular, shows some characteristic features of ancient mythological imagery. From the point of view of the transmission of ancient iconographies, the example of Andromeda is particularly striking. The influence of the ancient Roman model is clearly detectable in two tenth-century manuscripts of the star catalogue, now both preserved in the Bibliothèque nationale de France, produced respectively in the monasteries of Saint-Benoît at L’apparato iconografico del codice Vat. gr. 1087. Per la ricostruzione dell’edizione tardoantica del corpus arateo, in: Antiche stelle a Bisanzio. Il codice Vat. gr. 1087, Atti della I Giornata di studi del Gruppo di ricerca sui Manoscritti astronomici illustrati (Pisa, Scuola Normale Superiore, 8 febbraio 2012), ed. F. Guidetti and A. Santoni, Pisa 2013 (Seminari e Convegni, XXXII), 113–152, esp. 122–124.

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2 De signis caeli: constellation of Andromeda, Limoges, ca. 900–930, Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. Latin 5239, fol. 219v

Fleury (western Francia) and Saint-Martial at Limoges (Aquitania).27 In the illustration of the late Roman archetype, the ill-fated princess most likely wore a Greek dress, a chiton, which was originally meant to be transparent, so that the girl’s body could be glimpsed through the cloth; this detail caused some problems to Carolingian illuminators, who were not trained in reproducing this typically Graeco-Roman relation between human body and cloth. As a consequence, in the Fleury manuscript Andromeda’s dress simply loses its transparency (Farbabb. 9), while the illustrator in Limoges privileged the characterisation of the princess’s nudity, drawing the dress behind her (fig. 2). According to the ancient myth, Andromeda is being offered as bride to a sea-monster: the latter is visible under her feet, depicted as a mixed being, with a 27 Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. Latin 5239 (Limoges, ca. AD 950): Blume, Haffner, Metzger (as in n. 9), vol. I, 98–99 and 415–421, cat. n. 43. Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. Latin 5543 (Fleury, ca. AD 925–950): ibid., vol. I, 87–89 and 422–429, cat. n. 44. Further bibliographical references are included in the catalogue entries of the two manuscripts in the website of the Bibliothèque nationale de France: >http://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc64174w< (Latin 5239) and >http://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc64506m< (Latin 5543) (accessed: March 2018). Both manuscripts are digitised in the Mandragore database: >http://mandragore.bnf.fr< (accessed: March 2018).

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3 Virgil, Georgics, book 3: two bulls fighting for a heifer, Rome, ca. 400, Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, ms. Vat. lat. 3225, f. 5v

snake’s body and a dog’s head, following a common Hellenistic and Roman iconography. Particularly interesting is the bridal apparel which surrounds the princess: instead of the simple crown and casket which are normally found in Hellenistic and early Imperial art, as shown for example in a famous Augustan fresco from the Vesuvian villa of Boscotrecase (Farbabb. 10),28 in these astronomical manuscripts Andromeda displays a whole set of precious silver vases, which bear a very close resemblance to those found in the so-called ‘Esquiline Treasure‘, a late Roman bridal apparel produced probably around AD 380.29 This antiquarian detail provides a plausible date for the model of this set of illustrations, that is for the original Greek codex which stands at the beginning of this branch of tradition. This is confirmed also by the particular layout of the constellation images: in some of the best copies, including the already mentioned Latin 5543, these are characterised by a thick rectangular frame, which reproduces the typical layout of late Roman book illustrations (fig. 3).30 28 New York, Metropolitan Museum of Art, inv. 20.192.16. See the information on the fresco in the Museum website (>http://www.metmuseum.org/art/collection/search/250945http://www.e-codices.unifr.ch< (accessed: 1 February 2017). 35 Leiden, Universiteitbibliotheek, ms. VLQ 79 (Aachen, AD 816). On this famous manuscript see at least Blume, Haffner, Metzger (as in n. 9), vol. I, 53–67 and 292–298, cat. n. 23, with further bibliographical references; especially on the date see R. and M. Mostert, Using astronomy as an aid to dating manuscripts. The example of the Leiden Aratea Planetarium, Quaerendo XX, 1990, 248–261. 36 London, British Library, ms. Harley 647 (Aachen, ca. AD 820–830). Blume, Haffner and Metzger (as in n. 9), vol. I, 68–69, 89–91, and 321–326, cat. n. 28. The manuscript is fully digitised in the British Library website >http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?index=3&ref=Harley_MS_647http://gfa.gbv.de/dr,gfa,019,2016,r,14.pdf< (letzter Zugriff: 26.01.2018). Die Polemiken der Kirchenväter (die ebenfalls antiken Stimmen folgen)

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ßen. Die umstrittenen Bilder dürften von Beginn an die Wahrnehmung des den Herrscher repräsentierenden Thrones dominiert haben, indem sie, im Einzelnen pointierte, gut erkennbare Motive ausweisend, zu einer in ihrem Dekorationssystem und den Materialien überaus wertvollen und in der Erscheinung prächtigen ›Bildwand‹ zusammengefügt sind und in all diesen Charakteristika von den elfenbeinernen Leisten abgesetzt sind. Die Hierarchie, die in dem Anbringungsort reflektiert ist, bleibt dabei unbenommen. Für eine positive Ausdeutung des Helden spricht wie bei den Odysseus-Szenen der Gewölbemalereien im Corveyer Westbau bereits die starke visuelle Präsenz ohne klare Negativkonnotationen in der Bildlichkeit.49 Für ein Verständnis als Inversion des bekannten Gehalts, als Parodie – hier wäre eingehender das karolingische Konzept dazu zu untersuchen – oder Negativexempel, fehlen die visuellen Hinweise. Gleichwohl ist mit Nees die Originalität der Platten zu betonen. In den funktionalen Kontext eines am Altar verwendeten Geräts führt der wohl um 870 entstandene Fächer aus der Klosterkirche Saint-Philibert de Tournus (Farbabb. 15), der – aus heutiger Sicht in einzigartiger Weise – einen lyrischen Stoff rezipiert.50 Das Flabellum greift mit Szenen aus Vergils Bucolica antike Dichtung auf, die mythologische Figuren in einem neuen Kontext auftreten lässt, ohne die Mythen selbst zu erzählen. Der geöffnet knapp einen Meter lange Fächer ist mit Bildern überzogen und verbindet Malerei auf Pergament mit Schnitzerei in Knochen beziehungsweise Elfenbein, mithin zwei in ihrer Haptik und Ästhetik ganz unterschiedliche Medien.51 Eine knappe Stifterinschrift auf dem mittleren Nodus des Griffes nennt als Auftraggeber einen »Iohel«, der möglicherweise mit dem Mönch Geilo identifiziert werden kann, der 870 für ein Jahrzehnt als Abt in Saint-Philibert wirkte. Sein Vater, ein aquitanischer Graf, ist in der königlichen Verwaltung belegt.52 ›Bewohnte Ranken‹, eine davon reich an Weintrauben, füllen die beiden Schmalseiten des Etuis (Farbabb. 16 und hoben auf die fragwürdige Moral des Helden und auf seine Männerliebe, vor allem aber auf das Konzept seiner Himmelfahrt und seine Verehrung als Gott ab, vgl. Henrike Maria Zilling, Jesus als Held. Odysseus und Herakles als Vorbilder christlicher Heldentypologie, Paderborn 2011, 189–199. Ein treffendes Gegenbild für einen Kaiser lässt sich daraus kaum konstruieren. 49 Weitere mögliche Konnotationen wie die einer Parallelisierung des Königs mit Salomon (vgl. Staubach 1993 [wie Anm. 31], bes. 342–343) und König David als Exemplum (vgl. ablehnend Staubach 1994 [wie Anm. 28], 398) können an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 50 Florenz, Bargello, Inv. 31/C; die Höhe der einzelnen Elfenbeinplatten divergiert zwischen 5 cm und 6,5 cm. Grundlegend zu dem Flabellum sind Lorenz Eitner, The Flabellum of Tournus (The Art Bulletin Supplement 1), New York 1944; Danielle Gaborit-Chopin, Flabellum di Tournus, Florenz 1988 (mit Farbabbildungen, hier 58, Anm. 11 zu den Maßen der Tafeln); Dies., Le Flabellum de Tournus: son origine et sa place dans l’art carolingien, in: Jacques Thirion (Hg.), Saint-Philibert de Tournus histoire, archéologie, art, Tournus 1995, 585–612; Isabelle Cartron, Le flabellum liturgique carolingien de SaintPhilibert: du don d’un souffle à la geste des moines, in: Revue belge de philologie et d’histoire 88, 2, 2010, 153–176; hier 148 ein Überblick zu den Datierungsansätzen; Herbert L. Kessler, Borne on a Breeze: the Function of the Flabellum of Tournus as Meaning, in: Philippe Cordez (Hg.), Charlemagne et les objets. Des thésaurisations carolingiennes aux constructions mémorielles, Bern 2012, 57–85. 51 Der Unterschied mag ursprünglich geringer gewesen sein, wenn man die wenigen erhaltenen (aber offenbar nie näher untersuchten) Farbreste als Hinweis auf eine Polychromie der Elfenbeine sieht und von Einlagen in Edelstein oder Glas ausgeht, vgl. Kessler 2012 (wie Anm. 50), 71, Anm. 36. 52 Zum Stifter bes. Cartron 2010 (wie Anm. 50), 172.

Mythenrezeption in karolingischer Zeit 97

17), große Teile des Griffes und das äußere, breiteste Register des Fächerblatts, dessen bei geöffnetem Fächer am engsten gefasste, schmale Zone einen stehenden Blattfries zeigt. Vegetabile Elemente dominieren damit das Gesamtbild. Dazwischen befindet sich ein durch farbige, dunkel konturierte Bänder abgesetzter Streifen mit (der Faltung entsprechenden) Feldern, der alternierend Figuren, meist Heilige, und ornamental aufgefasste Motive aus Fauna und Flora zeigt. Die Muttergottes nimmt dabei das Zentrum der Vorderseite ein, der heilige Philibert jenes der Rückseite. Einige offenbar für ein Bildmotiv vorbereitete hell- beziehungsweise grüngrundige Felder sind leer geblieben. Die Breitseiten des Etuis enthalten jeweils drei übereinandergesetzte, rund 7 cm hohe Elfenbeine mit in sich abgeschlossenen Szenen bukolischer Thematik (Farbabb. 18 und 19). Über seinen Klappmechanismus lässt sich der Fächer öffnen und schließen. Prächtige Inschriften in goldener Kapitalis am äußeren Rand beider Seiten sprechen Maria und den heiligen Philibert als Empfänger an, rühmen das flabellum als »decus eximium« und nennen seine Funktion, mit Hauch und leichter Bewegung die Fliegen zu verjagen.53 Ausführlicher noch spricht das Objekt über sich in der kleineren in Silber gesetzten Unzial-Inschrift unter den Heiligen, die ausführt, dass »dieses Flabellum« Fliegen fernhalte und gerade bei großer Hitze für frische Luft sorge.54 Abriebspuren 53 Zum Gebrauch von flabella grundlegend Renate Kroos und Karl-August Wirth, Flabellum (und Scheibenkreuz), in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, IX, 1991, 428–507; in: RDK Labor, >http:// www.rdklabor.de/w/?oldid=89012< (abgerufen am 11.07.2017); s. a. Kessler 2012 (wie Anm. 50), passim mit ausführlichen Quellenbelegen; Cartron 2010 (wie Anm. 50), 159–161. 54 Vorderseite: »FLAMINIS HOC DONUM REGNATOR SUMME POLORUM / OBLATUM PURO PECTORE SUME LIBENS VIRGO PARENS XRI VOTO CELEBRARIS EODEM / HIC COLERIS PARTIER TU FILIBERTE SACER. Sunt duo quae modicu(m) confert estate flabellu(m). / Infestas abicit muscas et mitigat estu(m) / Et sine dat tedio gustare munus ciboru(m) / Propterea calidum qui vult transire per annu(m) / Et tutus cupit ab atris existere muscis / Omni se studeat aestate muniri flabello.« – Rückseite: »HOC DECUS EXIMIUM PULCHRO MODERAMINE GESTUM / CONDECET IN SACRO SEMPER ADESSE LOCO / NAMQUE SUO VOLUCRES INFESTAS FLAMINE PELLIT / ET STRICTIM MOTUS LONGIUS IRE FACIT. Hoc quoque flabellum tranquillas excitat auras / Aestus dum fervet ventum facit atque serenum / Fugat et obscenas importunasque volucres.« »Empfange mit Wohlwollen dies Geschenk eines Hauchs, Lenker des höchsten Himmels, dargeboten durch ein reines Herz. Jungfrau, Mutter Christi, sei gepriesen mit demselben Geschenk, und Du Philibert, Priester, sei auch geehrt. – Zwei Dinge erbringt dieser bescheidene Fächer. Er verjagt die schmutzigen Fliegen und mildert die Hitze. Und er erlaubt, das Geschenk der Speisen [der Eucharistie? s. u.] zu genießen. Daher: wer ein heißes Jahr überstehen will und geschützt von den schrecklichen Fliegen sein möchte, der sorge dafür, sich den Sommer über mit einem Fächer zu versorgen.« – »Dieser außergewöhnliche Schmuck, ausgeführt mit einer schönen Lenkung, soll immer an einem heiligen Ort aufbewahrt werden. Denn sein Hauch verjagt das feindliche Geschmeiß und mit einer leichten Bewegung vertreibt er es. – Der Fächer vertreibt auch die stehende Luft und, auch wenn es heiß ist, verleiht er Luftzug und Ruhe und läßt das schmutzige und rücksichtslose Geschmeiß fliehen.« Zit. nach Karl Strecker (Hg.), Poetae Latini Aevi Carolini 4,2/3 (MGH Poetae), Hannover 1923, 1045–1046 – Kessler 2012 (wie Anm. 50), 62, übersetzt mit »Offering«, während andere Autoren m. E. zutreffend »munus ciborum« als Speise/Nahrung wiedergeben. Der Bezug zur Eucharistie ergibt sich aus dem Kontext: Die Aufbewahrung an einem »heiligen Ort« und die Übereignung an Maria und den hl. Philibert bestätigen die Funktion als liturgischer Fächer im Gegensatz zu dem den Inschriften zufolge profanen Gebrauch des Fächers in Monza, vgl. Roberto Cassanelli, Il flabello „di Teodelina“ nel tesoro del duomo di Monza.

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an den Elfenbeinen, aber auch diese Inschriften führten Herbert Kessler zu der Vermutung, dass der Fächer »was employed actively in the liturgy«.55 Fünf der Szenen am Etui gehen eindeutig auf die Bucolica zurück. Die bewegliche Klappseite zeigt oben, der 1. Ekloge folgend, den Hirten Tityrus, der sich im Schatten einer Buche seiner Freilassung erfreut und von Meliböus besucht wird, der durch einen Veteranen von seinem Land vertrieben ist und einer ungewissen Zukunft entgegensieht. Hier ist das BildText-Verhältnis besonders eng, denn zahlreiche Details, das entspannte Flötenspiel des Kuhhirten unter dem ›Dach‹ eines Baumes, der ein Muttertier mit sich zerrende Ziegenhirte, der Wasserlauf und die Vögel im Geäst reflektieren Motive des Textes. Mit Letzteren geht das Elfenbein darin weiter als das Bild zur 1. Ekloge im spätantiken Vergilius Romanus, der den einzigen direkten Vergleich bietet (Farbabb. 20).56 Darunter folgt sogleich die letzte, 10. Ekloge, in der Gallus, eine historische Persönlichkeit und Freund Vergils, dem Pan sein Liebesleid klagt. Im untersten Feld ist die 2. Ekloge aufgenommen, in der der Hirte Corydon ebenfalls seine unerwiderte Liebe beklagt. Auf der anderen Etuiseite nimmt die Mitte die 5. Ekloge ein, in der Menalcas und Mopsus für den toten Daphnis singen, während darunter wohl der Musikwettstreit zwischen Menalcas und Damoetas aus der 3. Ekloge gezeigt ist. Die obere Szene mit Thronenden, Zuhörern und links einem Redner wurde zunächst als die Verkündigung der Prophezeiung aus der 4. Ekloge verstanden. Es ist jedoch keine eindeutige Verbindung zu diesem Text hergestellt, was im Vergleich zu den übrigen verwundert. Daher wurde, zuletzt von Herbert Kessler, überzeugend eine Art Autorenporträt vermutet, möglicherweise Vergil vor einem seiner Gönner, dem Juristen Alfenus Varus, und damit eine Situation, die die 6. Ekloge einleitet, oder Vergil vor dem Kaiser.57 Greift man ein Ergebnis Paul Klopschs zur mittellateinischen Bukolik auf, dass nämlich die Eignung der Bukolik für die

„Status questionis“, in: Studi monzesi 2, 1987, 17–24, hier 23, sowie Renate Kroos und Karl-August Wirth 1991 (wie Anm. 53). 55 Kessler 2012 (wie Anm. 50), 61–62. Ich danke Philippe Cordez und Herbert Kessler für Hinweise zum Zustand des Fächers. 56 Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Vat. lat. 3867, vgl. Carlo Bertelli und Eberhard König (Hg.), Vergilius Romanus, 3 Bde., Zürich 1985; vgl. Florentine Mütherich, Die illustrierten Vergil-Handschriften der Spätantike, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 8, 1982, 205–221; David H. Wright, The Roman Vergil and the origins of medieval book design, London 2001. Ein Vergleich der Bilder kann neben den Übereinstimmungen auch zahlreiche Unterschiede ausmachen, die unabhängig von den Gegensätzen in Format und Medium bleiben, so Tityrus’ nur mit einem Hüfttuch bekleidete Gestalt oder seine Flöte, die in ihrer Krümmung eher an ein Horn erinnert. Von der spätantiken Handschrift wie vom Text stärker entfernt erweist sich das Bild der T-Initiale in der Vergilhandschrift Clm 18059 (11. Jh., München, Bayerische Staatsbibliothek f. 163r), s. Henkel, Nikolaus, Text – Glosse – Kommentar. Die Lektüre römischer Klassiker im frühen und hohen Mittelalter, in: Eckart Conrad Lutz, Martina Backes und Stefan Matter (Hg.), Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, Zürich 2010, 237–262, 242, Abb. 82. Eine eingehende Untersuchung des Verhältnisses der Bucolica zu den Bildern des Flabellums kann an dieser Stelle nicht unternommen werden. 57 Danielle Joyner, Flabellum of Tournus, in: Jan M. Ziolkowski und Michael C. J. Putnam (Hg.), The Virgilian Tradition. The First Fifteen Hundred Years, New Haven 2008, 436–438, 437; Kessler 2012 (wie Anm. 50), 67–68; Letzteres die Überlegung von Mütherich 1982 (wie Anm. 56), 209.

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Panegyrik ein wichtiges Motiv ihrer mittelalterlichen Rezeption war,58 dann ist diese Überlegung plausibel. Ob für den Betrachter eine Übertragung auf den zeitgenössischen Herrscher möglich war, ist angesichts der – sieht man von der Situation des Thronens ab – fehlenden bildlichen Bezüge fraglich; allerdings fällt auf, dass in den Auslegungen bei dem vielgelesenen Servius wie auch bei dem Kommentator des 9. Jahrhunderts in den Scholia Bernensia eine historisch-biographische Allegorese überwiegt, also etwa nach Möglichkeiten der Übertragung auf Vergils Lebenssituation, auf Octavian etc. gesucht wird.59 Auch bei der 4. Ekloge bleibt die christlich-religiöse Ausdeutung eine unter mehreren.60 Welche Überlegungen können dazu geführt haben, das Etui eines während der Messe eingesetzten Fächers prominent mit Szenen der Bucolica zu schmücken?61 Die Szenen bieten eine von der Textvorlage unabhängige Reihenfolge, eine Auswahl der Eklogen und ergänzen das Programm um eine Szene, die Entstehungsumstände und Entstehungsbedingungen von Literatur reflektiert. Die Zusammenstellung der gezeigten Eklogen ist nicht willkürlich.62 Beide Seiten erlauben, verfolgt man eine Leserichtung von oben nach unten, einen Einstieg in die Dichtung: Die eine beginnt mit der einführenden Ekloge, um gleich darauf die letzte zu bieten, mit der sie auf mehreren Ebenen verbunden ist;63 die andere Seite setzt mit einer von den übrigen Szenen abzusetzenden Vortrags- und Präsentationssituation ein. Die 5. und die 10. Ekloge werden als die zentralen Gedichte des Gesamtwerks betrachtet und nehmen unter den Elfenbeintafeln jeweils eine mittige Position ein. Spätantike illustrierte Vergilhandschriften waren im Entstehungsumkreis des Fächers vorhanden (nachweislich in St. Denis und in Tours, beides mögliche Provenienzen des Fächers).64 Unabhängig davon, wie eng man die Verbindung zu diesen im Entstehungsprozess der Elfenbeine beurteilt, ist angesichts der Qualität des im Umkreis des Hofes oder eines führenden westfränkischen Klosters entstan58 Paul Klopsch, Mittellateinische Bukolik, in: Lectures médiévales de Virgile (Actes du colloque organisé par l’Ecole Française de Rome, Rom, 25–28 octobre 1982), Rom 1985, 145–165, 151, 157. 59 Zu den Scholia (Bern, Burgerbibliothek, Cod. 172) bes. Ute Tischer, Die zeitgeschichtliche Anspielung in der antiken Literaturerklärung, Tübingen 2006, bes. 111–118; Luca Cadili, David Daintree und Mario Geymonat (Hg.), Scholia Bernensia in Vergilii Bucolica et Georgica, Amsterdam 2003. 60 So findet sich in den Scholia Bernensia zu »virgo« (Ecl. 4,6): »VIRGO Iustitia inter rusticos morata, fugiens mores hominum malos, in caelum abisse fertur et nunc redisse. VIRGO Iustitia quae decrevit propter hominum conversationes; vel Terra, quae nunc frugifera sicut et tunc; vel secundum nos Maria«, David Ch. C. Daintree, Scholia Bernensia: An Edition of the Scholia on the Eclogues of Virgil in Bern Burgerbibliothek Manuscript 172, PhD thesis, University of Tasmania 1993, 148, vgl. Martin Irvine, The Making of Textual Culture. „Grammatica“ and Literary Theory, 350–1100, Cambridge 1994, 148–155, zu dieser Stelle 153. 61 Die wenigen mit Blick auf die Funktion vergleichbaren Objekte, das Flabellum in Canosa und jenes in Monza, tragen keine figürlichen Darstellungen, vgl. Cassanelli 1987 (wie Anm. 54). 62 Darauf wies bes. Cartron 2010 (wie Anm. 50), 165–166 hin; Kessler 2012 (wie Anm. 50), 69–70 sieht hingegen die Auswahl als eher unspezifisch an, die Szenen »rather seem to have been chosen to assert a fundamental bucolic aura«. 63 Vgl. dazu Paola Gagliardi, L’ecl. 1 e l’ecl. 10 di Virgilio. Considerazioni su un rapporto complesso, in: Philologus 157, 2013, 94–110. 64 David Herndon Wright, When the Vatican Vergil was in Tours, in: Katharina Bierbrauer, Peter K. Klein und Willibald Sauerländer (Hg.), Studien zur mittelalterlichen Kunst 800–1250: Festschrift für Florentine Mütherich zum 70. Geburtstag, München 1985, 53–66.

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denen Fächers auszuschließen, dass der Konzepteur die Szenen nicht verstand. Im Gegenteil weist gerade die vom Textfluss abweichende, an literarischen Kriterien orientierte und spezifisch ad hoc für diesen Ort konzipierte Zusammenstellung auf eine reflektierte Aufnahme und Verarbeitung hin. Florentine Mütherich sah den Rückgriff auf antike bukolische Dichtung rasch erklärt mit der Bedeutung Vergils in der christlichen Welt und seiner Rezeption, »von der allgemeinen Rolle der Hirtengestalt in der christlichen Vorstellungwelt bis zu der christologischen Interpretation der 4. Ekloge als messianische Verheißung«.65 Gerade diese Ekloge fehlt jedoch. Danielle Gaborit-Chopin schlug vor, die an den Anfang gestellte 1. Ekloge unmittelbar auf die Geschichte des Konvents zu beziehen.66 Die Mönche von Saint-Philibert hatten seit der Zerstörung ihrer Abtei auf der Insel Noirmoutier durch die Normannen eine Odyssee durch verschiedene westfränkische Klosterstandorte hinter sich, an denen sie der Gefahr jedoch weiterhin ausgesetzt waren, bis sie sich 875 endlich in Tournus niederließen. Die Sätze: »Ich [nos] dagegen verlasse die Heimat, die süßen Gefilde: Ich bin verbannt von daheim« könnten sich auf diese Situation bezogen haben, und auch in folgenden Szenen ist das Sehnen nach etwas Verlorenem dominant.67 Den performativen Charakter des Bildensembles betonte erstmals Danielle Joyner, die als dessen Grundthemen Prophezeiung und dichterische Inspi-

65 Florentine Mütherich, Die illustrierten Vergil-Handschriften der Spätantike, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 8, 1982, 205–221, bes. 208. Die Rezeption auch des Schulbuchautoren Vergils in karolingischer Zeit ist durch Ambivalenz geprägt; bei Alkuin etwa bestimmt die jeweilige Textgattung weitgehend die Haltung gegenüber dem antiken Autor. Vgl. Gernot Wieland, Alcuin’s Ambiguous Attitude Towards the Classics, in: The Journal of Medieval Latin 2, 1992, 84–95; Louis Holtz, Alcuin et la réception de Virgile du temps de Charlemagne, in: Hermann Schefers (Hg.), Einhard. Studien zu Leben und Werk, Darmstadt 1997, 67–80; Christiane Veyrard-Cosme, Tacitus Nuntius. Recherches sur l’écriture des Lettres d’Alcuin (730?–804), Paris 2013, bes. 173–185. Zu der Vergilrezeption in Theodulfs Carmen 45, der einem Leser mit Moral und Bildung zutraut, auch in der Lektüre erotischer Dichtung die darin enthaltene Warnung vor Amor zu erkennen, Cardelle de Hartmann 2015 (wie Anm. 28), bes. 46–49. Aus den Schriften des Lupus von Ferrière hingegen, dem Adressaten des eingangs zitierten Briefs aus der Feder Einhards, erhellt eine wie selbstverständliche Rezeption antiker Autoren (Emmanuel v. Severus, Lupus von Ferrières. Gestalt und Werk eines Vermittlers antiken Geistesgutes an das Mittelalter im 9. Jahrhundert, Münster 1940, 123 sprach von einem »gänzlich ohne Reflexion gelebte[n] Verhältnis zur Antike«, in dem die »Beschäftigung mit dem Bildungsgut der Antike kein Problem« darstellte; vgl. zu Lupus Louis Holtz, L’humanisme de Loup de Ferrières, in: Claudio Leonardi (Hg.), Gli Umanesimi medievali (atti del II congresso dell’ „Internationales Mittellateinerkomitee“, Florenz, Certosa del Galluzzo, 11–15 settembre 1993), Florenz 1998, 201–213. Zuletzt unterstrich Contreni die dichte Überlieferung der Schriften Vergils in karolingischer Zeit und wies nach, dass auch über die Person Vergils und damit über den historischen Kontext seines Schreibens bemerkenswert viel bekannt war, s. John J. Contreni, Getting to Know Virgil in the Carolingian Age: The Vita Publii Virgilii, in: Valerie L. Garver und Owen M. Phelan (Hg.), Rome and Religion in the Medieval World. Studies in Honor of Thomas F. X. Noble, Farnham 2014, 21–45. 66 Gaborit-Chopin 1995 (wie Anm. 50), 597. Cartron 2010 (wie Anm. 50), 166, wies darüber hinaus darauf hin, dass auch ein Bezug zur Biographie Vergils, der Konfiskation seiner Güter, denkbar ist, die mit dem in den Bucolica thematisierten Exil verknüpft wurde. 67 Ecl. 1, 3–4; die Übersetzung nach Niklas Holzberg (Hg. und Übers.), Hirtengedichte/Bucolica; Landwirtschaft/Georgica, Berlin/Boston 2016, 43.

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ration ansah.68 Wenn der Fächer geöffnet wird, verschwinden die vergilschen Bilder (während die dicht besetzten Ranken immer sichtbar bleiben). So wie Vergil in der 4. Ekloge das Kommen Christi offenbart, so lassen die Tafeln der Bucolica beim Öffnen des Fächers die christliche Bildwelt hervortreten. Indem Joyner eine metaphorische Verbindung zwischen Inspiration, jener Vergils durch Apoll, mit Atmung und Windhauch sieht, verbindet sie die Themenwahl mit dem inschriftlich so betonten Luftfächeln am Altar: Die Inspiration göttlicher Prophezeiung wird zur Inspiration des Heiligen Geistes, der als himmlischer Hauch die Gegenwart Gottes bei der Eucharistie anzeigt.69 Kessler führt den performativen Aspekt weiter, indem er das Spannungsfeld, das sich zwischen Gebrauch des Objekts und (dann nicht sichtbaren) Bildern fruchtbar macht.70 Auf die antiken Hirten folgen der Gute Hirte und seine Schäfer, die Priester; vielleicht ein Bezug auf Hosea 4,19 (»Ligavit eum spiritus in alis suis, et confundentur a sacrificiis suis«) und Jeremias 22,22, der sich gegen den König von Juda richtet: »Omnes pastores tuos pascet ventus«; mit dem Öffnen des Fächers wird in dem Erscheinen Mariens die nicht bildlich umgesetzte Prophetie erfüllt.71 Der Fächer schützt vor den Fliegen und damit vor den Verführungen des Teufels, und Kessler vermutet in den möglichen Verführungen auch den »decus eximium pulchro moderamine gestum«.72 Die – etwa im Gegensatz zu den erwähnten illustrierten Vergilhandschriften – auffällig unverhüllten Genitalien könnten mit darauf hinweisen, ohne dass etwa eine einseitig negative Deutung der Tafeln nahegelegt würde. Wie bei Theodulf der Leser,73 so ist es hier der Betrachter, dessen innere Haltung durch die Bilder geprüft wird; den Mönchen wird vor Augen geführt, wodurch sie sich nicht ablenken lassen dürfen. Mehrere Deutungsmuster scheinen damit auf, die sich gegenseitig nicht ausschließen: eines, das auf die Wertschätzung des antiken Autors und die Übernahme bukolischer Motive rekurriert; eines, das die historische Situation der Rezipienten reflektiert, und ein drittes, demzufolge das Agieren mit dem Objekt und das Sich-Verhalten der bukolischen wie der christlichen Bilder dazu eine Vielzahl von Assoziationen erlaubt, die auf die Reinheit der Gedanken und die Hinwendung zu Gott abheben. In jedem Fall wird, und das ist die Vorgabe des Objekts, ein weitreichendes ikonographisches Verständnis der Betrachter vorausgesetzt, denn auch bei einer Vertrautheit mit Vergils Text erschließt sich der einzelne Bezug nicht auf den ersten Blick. Dies zumal als die ja recht umfangreichen Inschriften darauf keinerlei Bezug nehmen, sondern in redundant erscheinender Weise die Funktion betonen, die den Lesern ohnehin vertraut sein musste. Die Elfenbeine setzen damit eine Bilderfahrung voraus, wie sie erst illustrierte Handschriften boten, deren Studium sich wiederum mit einem tatsächlichen inhaltlichen Verständnis des Dargestellten verbindet. 68 Joyner 2008 (wie Anm. 57), 437–438. 69 Ebenda. 70 Kessler 2012 (wie Anm. 50), 62 zu dieser Fragestellung. Die Argumentation Kesslers kann hier nur grob nachgezeichnet werden. 71 Ebenda, 72. 72 Ebenda, 84. 73 Vgl. Anm. 65.

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Wie an der Cathedra, die die Herkulestafeln unterhalb der kosmischen Herrscherwelt präsentiert, ist für das Flabellum der Anbringungsort von zentraler Bedeutung, aus dem sich hier ein Vorher/Nachher zu anderen Bildern ergibt. Der Ort verleiht den bukolischen Bildern erst das Potential, auf die Erfüllung einer Prophezeiung vorauszuweisen, eine Erfüllung, die hier, anders als bei dem Thron, die auf die Antike rekurrierenden Bilder wörtlich überdeckt. Die vorgestellte Auswahl karolingischer Auseinandersetzungen mit der Verbildlichung antiker Mythologie kann bereits wegen des zeitlichen Hiats zwischen Theodulf und dem späten 9. Jahrhundert nicht als repräsentativ gelten, schon gar nicht für ›die‹ Karolingerzeit. Dieter Blume hat jüngst für die Sternbilder nochmals die Unterschiede in der Rezeption mythologischer Bilder und Erzählungen im Umkreis Karls des Großen zu jener unter Ludwig dem Frommen unterstrichen.74 Charakteristisch erscheint, dass die mythologischen Bilder jenseits der Sternenkunde – das legen jedenfalls Cathedra und Flabellum nahe – anderer Bilder, eindeutig christlich determinierter, bedürfen, wobei es weniger darum zu gehen scheint, die Gefahr von Missverständnissen oder gar Idolatrie zu bannen als vielmehr, dem Mythos überhaupt eine Funktion und damit einen Ort zu geben. An der Cathedra ist es die allegorische Interpretation, die (auch hier) den Mythos an dem Rezeptionshorizont auszurichten vermag und so ›rettet‹.75 Gleichfalls folgt bei dem Flabellum, in dem Pan in den Bildern der antike Hirtengott bleibt, offenbar notwendigerweise eine christliche geprägte Bilderwelt. Die Themen der beiden besprochenen Werke überraschen dabei nicht, denn die Taten von Helden wie Herakles und Odysseus waren in der Spätantike beliebte panegyrische Referenzen und der bukolische Motivkreis wurde in Literatur wie bildender Kunst aufgegriffen. Die unterschiedlichen Konzepte, die die Forschung von der Bewertung des Mythos bei Theodulf wie an der Cathedra entworfen hat, sind untrennbar mit der Problemstellung verbunden, wie die Rolle der Antike in karolingischer Zeit grundsätzlich zu bewerten und zu differenzieren ist. Für dieses noch zu schreibende Kapitel einer Forschungsgeschichte des Frühmittelalters hat Nees eine wichtige Grundlage gelegt, wenn er – gegen etwa Erwin Panofskys Diktum, Karls des Großen »guiding idea was the renovatio imperii romani«, alle kulturellen Anstrengungen hätten dazu gedient, »to bring about an aurea Roma iterum renovata« – eine weniger selektive, stärker an den Quellen (auch jenen aus der Zeit vor der Kaiserkrönung) und an dem gänzlich christlichen Weltbild orientierte Bewertung karolingischer Antikenrezeption fordert.76 Mit Blick auf die Mythenrezeption ist zu betonen, dass mit der 74 Dieter Blume, Mechthild Haffner und Wolfgang Metzger, Sternbilder des Mittelalters: Der gemalte Himmel zwischen Wissenschaft und Phantasie, Band I: 800–1200, Berlin 2012, bes. 51–69. 75 Brisson 2005 (wie Anm. 3), bes. 171–180. 76 Nees 1991 (wie Anm. 28), bes. 5–8, mit Zitaten aus Erwin Panofsky, Renaissance and Renascences in Western Art, Stockholm 1960, 44. Zu präzisieren wäre für die Mythenrezeption zumal der Status, der der karolingischen Zeit dabei zukommt, die etwa in der frühen Untersuchung von Panofsky und Saxl implizit nicht den Middle Ages zugeschrieben wird, vgl. Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Classical Mythology in Mediaeval Art, in: Metropolitan Museum Studies 4, 2, 1933, 228–280; an einigen Stellen ist explizit von »high mediaeval art« u. Ä. die Rede, für die die Beobachtung einer Trennung von Form und Inhalt gelten (u. a. 263). Die jüngere Forschung betonte im Gegensatz zu Panofsky (u. a. 1960, 106)

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Mythenkritik und der Mythenallegorese ein genuin antikes Erbe angetreten wurde, hier also kein Gegensatz zur Antike konstruiert werden kann; ein Verständnis etwa der Cathedra Petri als »apparently classicizing anti-Roman work« führt hier in die Irre.77 Die angesprochenen Werke erweisen als einen Weg der Mythenrezeption die produktive Aneignung, die dem Mythos nicht die Existenzberechtigung abspricht, sondern ihn für die eigenen, durchaus nicht immer neuen Ziele in Dienst nimmt.

den kreativen, nicht nur konservierenden Umgang mit den antiken Konzepten und Bildern. Für jüngere Ansätze zu einer Forschungsgeschichte der mittelalterlichen Mythenrezeption vgl. Eric M. RamírezWeaver, A Saving Science. Capturing the Heavens in Carolingian Manuscripts, Pennsylvania State University 2017, 11–13; Katia Mazzucco, Fritz Saxl, Transformation and Reconfiguration of Pagan Gods in Medieval Art, in: Colum Hourihane (Hg.), The Routledge Companion to Medieval Iconography, London/ New York 2017, 89–104. 77 So Nees 1991 (wie Anm. 28), 288.

Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter Die Odyssee in den monastischen Diskursen des Mittelalters

Susanne Moraw »Heiliger Homer« Hugo Rahner1 »Homer the Theologian« Robert Lamberton2

Einleitung Wandten sich die bildenden Künstler – und Künstlerinnen – des Mittelalters der Gestalt des Odysseus und den Abenteuern dessen Irrfahrt zu, dann taten sie dies im Kontext der christlichen Allegorese. Aus anderen Kontexten, die auf dieser Tagung angesprochen wurden, sind beim derzeitigen Kenntnisstand Darstellungen des Odyssee-Mythos nicht überliefert. Das gilt beispielsweise für den Bereich der weltlichen Bildung und für die Visualisierung von paideia.3 Der umfangreichen Homertradierung und -forschung im byzantinischen Osten steht im lateinischen Westen nichts Vergleichbares gegenüber;4 entsprechende Bilder produzieren beide nicht. Auf mittelalterlichen Karten sind unter den Fischen und Seemonstern gelegentlich auch Sirenen, seltener eine Skylla oder gar Charybdis zu finden.5 Sie visualisie1 Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, 3. Aufl., Zürich 1957, 239–328: »Dritter Teil – Heiliger Homer«. Mein herzlicher Dank, sowohl für die Einladung zur Tagung als auch für wertvolle Hinweise zur Verfassung dieses Beitrags, geht an die Organisatoren der Tagung, Ulrich Rehm und Miriam Marotzki, sowie an das ganze Team des Projekts »Bildliche Mythenrezeption im Mittelalter«. 2 Robert Lamberton, Homer the Theologian. Neoplatonist Allegorical Reading and the Growth of the Epic Tradition, Berkeley 1986. Zur Begriffsklärung theológos ebenda, 22–31. 3 Vgl. den Beitrag von Katharina Meinecke in diesem Band. 4 Zu Byzanz s. Filippomaria Pontani, Sguardi su Ulisse. La tradizione esegetica greca all’ Odissea, Rom 2005, 137–340; zum lateinischen Kulturraum s. ebenda 341–518 (ab der Mitte des 14. Jhs.) und Georg Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, Leipzig 1912, 1–20. 5 Beispielsweise auf der mappa mundi in der Kathedrale von Hereford (um 1300): Chet Van Duzer, Sea Monsters on Medieval and Renaissance Maps, London 2013, 33–36, v. a. Abb. 21. Eine Sirene in gefährlicher Nähe eines Schiffes auf einer Karte in einer Ausgabe (Paris, Bibliothèque nationale de France, MS

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ren nicht nur die Schönheit und Gefährlichkeit des Meeres, sondern auch den Reichtum der Schöpfung und die Kunstfertigkeit des Kartenmalers.6 Zumindest bei der Darstellung von Skylla und Charybdis, vielleicht auch bei den Sirenen, wird jeder gebildete Betrachter, jede gebildete Betrachterin an Homers Odyssee gedacht haben, auch wenn er oder sie das Epos nicht im Original kannte.7 Diese Darstellungen bieten eine Anspielung auf die Odyssee, allerdings ohne deren Protagonisten Odysseus. Ähnliches gilt für die häufige Darstellung von Sirenen in den Bestiarien oder in illustrierten Ausgaben des Physiologus.8 In den Fällen, in denen die Mischwesen aus Mädchen und Vogel (oder Mädchen und Fisch) in direkte Interaktion mit Schiffern treten,9 wird bei den Betrachtern wohl die Assoziation mit den homerischen Sirenen aufgekommen sein. In einem der noch zu behandelnden mittelalterlichen Beispiele wurden derartige Darstellungen in direkter räumlicher Nähe zu einer expliziten Odyssee-Darstellung angebracht (Abb. 5 und 6). Was den Bereich des Politischen anbelangt, war zwar die »Herrschaftslegitimation durch Antikennähe« im Mittelalter durchaus bekannt,10 von Karl dem Großen bis hin zu den spanischen Kleinkönigen am Vorabend der Reconquista – Darstellungen des Odysseus oder der Odyssee finden sich darunter jedoch

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nouv. acq. lat. 2290; um 1248) der Commentaria in apocalypsin des Beatus von Liébana: ebenda, 19, Abb. 7. Ebenda noch weitere Beispiele. Wurden Sirenen ursprünglich als Mischwesen aus Frau und Vogel imaginiert, so werden seit dem 8. Jh. auch Darstellungen der Sirenen als Mischwesen aus Frau und Fisch populär; vgl. Jacqueline Leclercq-Marx, La Sirène dans la pensée et dans l’art de l’Antiquité et du Moyen Âge. Du mythe païen au symbole chrétien, Brüssel 1997, 69–91. Van Duzer 2013 (wie Anm. 5), 11–12. Vgl. Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 5), 131 zu den beiden Bereichen, als deren Personifikation die mittelalterlichen Sirenen in der bildenden Kunst auftreten konnten: »l’eau et la séduction féminine«. So beinhaltet das Gedicht Adelae Comitissae, das Baudri de Bourgueil um 1100 der Tochter Wilhelms des Eroberers widmete, auch die Beschreibung einer fiktiven mappa mundi in der Form eines Fußbodenmosaiks, mitsamt der Erwähnung der Skylla (V. 757). Das Gedicht ist »a playful encyclopedia of what reasonably educated people at the turn of the twelfth century knew«: Monika Otter, Baudri of Bourgueil, „To Countess Adela“, in: Journal of Medieval Latin 11, 2001, 60–141, hier 60. Für weniger Gebildete galt vermutlich das Verdikt von Lamberton 1986 (wie Anm. 2), 282: »The Homeric tales largely returned to the oral tradition during the Middle Ages and became thoroughly dissociated from the poetry that had been their vehicle.« Dazu Baudouin Van den Abeele (Hg.), Bestiaires médiéveaux. Nouvelles perspectives sur les manuscrits et les traditions textuelles, Louvain-La-Neuve 2005 und Otto Schönberger (Hg.), Physiologus. Griechisch/ Deutsch, Stuttgart 2001 (Sirenen = Nr. 13). Zu Mischwesen s. auch den Beitrag von Irene Berti und Filippo Carlà im vorliegenden Band. Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 5), 125–130 sowie Katalog, 279, Abb. 172–173 diskutiert diverse Darstellungen, die eine Anspielung auf das homerische Sirenen-Abenteuer sein könnten. So z. B. in einem Bestiarium, London, British Library, Harley ms. 4751 (Ende 12. Jh.); ebenda, Abb. 58: eine riesenhafte Fisch-Sirene taucht hinter einem kleinen Schiff auf, in dem sich ein Mann mit beiden Händen die Ohren zuhält, um sich gegen den betörenden Gesang der Verführerin zu wappnen. Oder im sog. Göttweig-Physiologus New York, Pierpont Morgan Library (1. Hälfte 12. Jh.); ebenda, Abb. 59: zwei VogelSirenen umstehen gestikulierend/singend ein Schiff, dessen unachtsame Besatzung bereits in tiefen Schlaf gefallen ist. Stefan Trinks, Antike und Avangarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago, Berlin 2012, 29 und Anm. 48. Zu Herrscherlob und Herrscherkritik vgl. die Beiträge von Rebecca Müller und Ronny Schulz im vorliegenden Band.

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nicht. Erst im Cinquecento konnte Odysseus als ein exemplarischer Held und Anführer die Wände von Palazzi oder eine ganze Galerie im Schloss Fontainebleau schmücken.11 Der bevorzugte Kontext für mittelalterliche Odyssee-Darstellungen war also die christliche Allegorese. Diese Art der Mythenrezeption war nobilitiert durch die Allegorese der Bibel und lässt sich, dazu gleich, bereits in der Spätantike greifen.12 Der Kontext lässt sich beim derzeitigen Stand der Denkmälerkenntnis sogar noch weiter einschränken: auf christliche Allegorese im monastischen Bereich.13 Erhalten haben sich zwei Beispiele – was nicht allzu viel ist. Die schmale Materialbasis wird jedoch bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen durch den Umstand, dass die beiden erhaltenen Denkmäler ganz unterschiedlicher Natur sind und damit ein breites Spektrum der Möglichkeiten abdecken, innerhalb derer die Odyssee im monastischen Kontext rezipiert werden konnte: Das erste Beispiel stammt aus dem späten 9. Jahrhundert, das zweite aus dem späteren 12. Jahrhundert; das erste schmückte als Fresko den Vorraum einer Klosterkirche, derjenigen von Corvey, das zweite ein theologisches Lehrbuch, den Hortus deliciarum; das erste wurde von Mönchen in Auftrag gegeben und rezipiert, das zweite von Nonnen konzipiert, ausgeführt und verwendet. Im Folgenden werde ich zunächst einen Blick zurück auf die Spätantike werfen und kurz skizzieren, welche Formen der bildlichen und literarischen Odyssee-Rezeption es dort gab. Dann zeige ich, was davon ins Mittelalter übernommen und den neuen Rezeptionskontexten angepasst wurde: zunächst am Beispiel der karolingischen Fresken im Westwerk von Corvey, dann anhand des Hortus deliciarum. Den Abschluss bilden ein Fazit und ein Ausblick.

Rückblick auf die Spätantike Homer hatte die Begegnung seines Helden Odysseus mit den verführerischen, aber todbringenden Sirenen sowie mit der sechsköpfigen hundeartigen Menschenfresserin Skylla konzipiert als eine Konfrontation von Mensch und Ungeheuer.14 Die Rezeption in Antike und 11 Jeanette Stoschek, Themen der Odyssee in der italienischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Max Kunze (Hg.), Wiedergeburt griechischer Götter und Helden. Homer in der Kunst der Goethezeit, Mainz 1999, 195–203. 12 Zur paganen Homer-Allegorese: Félix Buffière, Les mythes d’Homère et la pensée grecque, Paris 1956 und Lamberton 1986 (wie Anm. 2). Zur Bibel-Allegorese: Lamberton 1986, 44–54, 78–82, 283–284. Zur christlichen Homer-Allegorese s. u. 13 Die von Francisco Prado-Vilar, Flabellum: Ulisse, la Catedral de Santiago y la Historia del Arte medieval español como proyecto intelectual, in: Anales de Historia del Arte 2011, Volumen Extraordinario 2, 281–316 in die Diskussion gebrachte skulptierte Marmorsäule, die sich ehemals an der Porta Francigena der Kathedrale von Santiago de Compostela befand, zeigt nicht das Sirenen-Abenteuer des Odysseus, sondern eine Bestrafung lasterhafter Menschen durch die Sintflut. Das hat Stefan Trinks ausführlich dargelegt: Trinks 2012 (wie Anm. 10), 110–121, 332–344. Zu den zahlreichen Sirenen-Darstellungen in und an mittelalterlichen Kirchen, gleichfalls ohne Odysseus, s. Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 5), 93–228. 14 Begegnung mit den Sirenen: Homer, Odyssee 12, 158–200; davor (12, 39–46) Beschreibung ihrer Taten durch Kirke: »Diese [die Sirenen] bezaubern / Sämtliche Menschen, wer immer sie träfe. Wer diesen Sirenen / unberaten sich nähert und anhört, was immer sie ihm singen / Der kehrt nimmer nach Hause.

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Spätantike machte daraus, das wurde an anderer Stelle ausgeführt,15 eine Konfrontation von Mann und Frau. Die auch für das Mittelalter wegweisende Verweiblichung und Sexualisierung der Odyssee-Ungeheuer sei zunächst anhand weniger spätantiker Darstellungen skizziert. Damit verbunden sei ein Aufzeigen der Bandbreite an räumlichen und ideellen Kontexten, in denen die bildliche Rezeption in der Spätantike vonstatten ging.16 Ein wichtiger Kontext, in dem die Begegnung des Odysseus mit den Sirenen und mit Skylla zur Darstellung gebracht werden konnte, war der des Wassers: Auf zahlreichen Mosaiken an Brunnenanlagen und in Badegebäuden finden sich neben Fischen und anderen Meerwesen auch die entsprechenden Szenen aus der Odyssee. Das polychrome Mosaik aus dem 3. Jahrhundert (Farbabb. 21) war ursprünglich Teil eines weitaus größeren Mosaiks mit Meeresthematik, das alle vier Seiten eines Brunnens im Innenhof eines Hauses im nordafrikanischen Thugga umrahmte.17 Links gleitet das Schiff des Odysseus mit geblähten Segeln von der Insel der Sirenen davon. Der Held steht gefesselt am Mastbaum, damit er der Versuchung des Sirenengesangs nicht nachgeben kann, und wirft einen sehnsüchtigen Blick zurück. Die deutlich kleiner dargestellten Gefährten, denen gemäß Kirkes Rat die Ohren mit Wachs verstopft wurden, geben sich alle Mühe, in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Die Sirenen wurden entsprechend der antiken künstlerischen Konvention als Mischwesen aus schönem Mädchen und Vogel imaginiert. Ihre Bekleidung beschränkt sich auf ein locker umgeschlungenes Pallium, das die weiße Haut des Frauenleibes sehr gut zur Geltung bringt. ›Verführung‹ meint hier in erster Linie ›Verführung eines Mannes durch weibliche Sexualität‹. Wie auf den ein[...] Die Sirenen / Sitzen auf grasigen Auen und wollen mit tönenden Liedern / Zauber verbreiten; doch liegen daneben in Menge auf Haufen / Faulende Menschen, Knochen und schrumpfende Häute an ihnen« (Übersetzung Anton Weiher). Eine Beschreibung der Gestalt der Sirenen findet im Epos nicht statt. Begegnung mit Skylla: Homer, Odyssee 12, 201–259. Davor (12, 85–92) Beschreibung ihrer Gestalt durch Kirke: »Dort haust Skylla, ein schauerlich bellendes Wesen. Nun freilich / Klingt ihre Stimme, als käme sie her vom saugenden Hündchen. / Aber sie selbst ist ein böse geartetes, riesiges Untier. [...] Füße hat sie, sie sind wie verkümmert, ein ganzes Dutzend, / Hälse ein halbes von schrecklicher Länge, auf jedem ein Schädel, / Schrecklich und furchtbar. Dreifach geordnete Reihen von Zähnen / Sitzen fest und eng, voll schwarzen getöteten Aases«. 15 Susanne Moraw, Vom männlichen Bestehen einer Gefahr zur Ideologie der totalen Vernichtung: Skylla und die Sirenen von Homer bis Herrad von Hohenburg, Visual Past 2.1, 2015, 89–135, >http://www. visualpast.de/archive/vp2015_0089.html< (letzter Zugriff: 26.01.2018). 16 Die Odyssee in der Spätantike. Bildliche und literarische Rezeption ist das Thema der im Druck befindlichen Habilitationsschrift der Verfasserin. Die Ergebnisse zum Sirenen- und zum Skylla-Abenteuer werden im Folgenden knapp skizziert. An neueren, bereits zugänglichen Publikationen seien genannt: Björn Christian Ewald, Das Sirenenabenteuer des Odysseus – ein Tugendsymbol? Überlegungen zur Adaptabilität eines Mythos, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 105, 1998, 227–258 und Marianne Govers Hopman, Scylla. Myth, Metaphor, Paradox, Cambridge 2012. 17 Heute Tunis, Musée de Bardo, Inv.-Nr. 2884 A; 250/270 n. Chr.; Claude Poinssot, Quelques remarques sur les mosaïques de la maison de Dionysos et d’Ulysse à Thugga, in: La Mosaïque gréco-romaine, Paris 1965, 219–232. Ein Beispiel für die Darstellung von Skylla: großes polychromes Fußbodenmosaik mit Meerwesen und mythischen Gestalten aus den Thermen von Thaenae, spätes 3. Jh., heute Museum Sfax, Inv.-Nr. M 41, M 41bis, M 52. Skylla ist hier sogar drei Mal dargestellt, ein Mal davon in unmittelbarer Nähe des Schiffes des Odysseus (und der Sirenen): René Massigli, Musées et collections archéologiques de l’Algérie et de la Tunisie. Musée de Sfax, Paris 1912, 1–5; Moraw 2015 (wie Anm. 15), Abb. 6.

Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter 109

gangs angesprochenen mittelalterlichen Seekarten dient die Darstellung der Sirenen (und in anderen Fällen der Skylla) dem Zweck, die Schönheit und die Gefährlichkeit des Meeres zu evozieren. Der Unterschied zu den mittelalterlichen Meeres-Darstellungen liegt vor allem darin, dass in der Spätantike noch explizit auf die homerische Episode und die Person des Odysseus rekurriert wird.18 Der zweite spätantike Kontext, in dem die beiden Episoden aus der Odyssee dargestellt wurden, ist der von billig produzierter Massenware, Geschenken ans Volk und Glücksbringern. Odysseus wird hier inszeniert als Identifikationsfigur des ›kleinen Mannes‹, dem es gelingt, sich aus einer gefahrvollen Situation zu retten. Dabei helfen ihm Schlauheit, Mut und eine gute Portion Glück – aber gelegentlich auch Skrupellosigkeit, Verzicht auf decorum und keine Rücksicht auf Verluste.19 Auf mehr als 100 erhaltenen Kontorniaten – als Glückbringer und Amulette verschenkten kleinen Bronzemedaillons20 – ist die Konfrontation des Odysseus mit Skylla zu sehen. Ein Exemplar in Berlin (Abb. 1) zeigt Skylla entgegen der homerischen Beschreibung als schöne junge Frau mit nacktem Oberkörper, deren Monstrosität allein durch ihre drei Fischschwänze und durch die reißenden Hunde an ihren Hüften zum Ausdruck gebracht wird.21 Skyllas linke Hand hält ein Steuerruder; mit der Rechten greift sie nach einem Mann im Schiff, um ihn gleich seinen unglücklichen Gefährten an den Haaren über Bord zu ziehen. Zwei winzige Gestalten schwimmen bereits im Wasser; ein dritter Gefährte wird gerade von dem rechten ›Fischbein‹ verschlungen, während einer der Hunde nach seinem Gesicht schnappt. Das Schicksal der aufgefressenen Gefährten ist ähnlich drastisch dargestellt wie im homerischen Epos.22 Was vom Stempelschneider verändert wurde, ist nicht nur das Aussehen 18 Das gilt zumindest für das Sirenen-Abenteuer. Bei Skylla ist das nicht immer der Fall, sie kann auch in der (Spät-)Antike allein auftreten: Elena Walter-Karydi, Skylla. Bilder und Aspekte des Mischwesens, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 112, 1997, 167–189, hier 178. 19 Odysseus als der Tückische, Skrupellose ist eine der Formen, in denen die homerische Figur im römischen Kulturkreis rezipiert wurde (neben dem standhaften Weisen und der lächerlichen Gestalt): Alessandro Perutelli, Ulisse nella cultura Romana, Florenz 2006. Auf der hier behandelten Gruppe von spätantiken Denkmälern werden diese problematischen Züge ins Positive gewendet. Im Mittelalter lassen sich derartige Denkmäler m. W. nicht finden; eine problematisierte Sicht auf Odysseus bietet nur die mittelalterliche Literatur. In Dantes Divina commedia ist Odysseus derjenige, der zuviel wissen will und dessen nostos schließlich in der Hölle endet: Piero Boitani, Ulisses and the Three Traditions, in: Jan M. Ziolkowski (Hg.), Dante and the Greeks, Dumbarton Oaks 2014, 265–272. 20 Zusammenstellung der Kontorniaten: Andreas Alföldi – Elisabeth Alföldi, Die Kontorniat-Medaillons I–II, Berlin 1976–1990. Interpretation: Peter F. Mittag, Alte Köpfe in neuen Händen. Urheber und Funktion der Kontorniaten, Bonn 1999. 21 Kontorniat Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett, Objektnr. 18206978; 395–423 n. Chr.; >http://ww2.smb.museum/ikmk/object.php?lang=de&id=18206978< (letzter Zugriff: 26.01.2018). Der Kontorniat ist oben durchbohrt, wurde also tatsächlich als Amulett getragen. Das Sirenen-Abenteuer ist beispielsweise auf sog. Kuchenformen zu finden, Negativformen aus gebranntem Ton, die vermutlich zum Backen von Kuchen dienten, die bei öffentlichen Spielen an das Volk verteilt wurden: Ostia, Museum Inv.-Nr. 3770; 200–250 n. Chr.; Jan Willem Salomonson, Römische Tonformen mit Inschriften. Ein Beitrag zum Problem der sogenannten „Kuchenformen“ aus Ostia, in: Bulletin antieke beschaving 47, 1972, 88–113, Abb. 15. 22 Homer, Odyssee 12, 245–257.

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1 Stadtrömischer Kontorniat, Odysseus und Skylla, 395–423, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett

der Skylla, sondern auch und vor allem die Rolle des Odysseus. Bei Homer ließ er die Gefährten wissentlich in den Tod rudern, um sich und wenigstens einen Teil der Mannschaft zu retten; als Skylla dann angreift, schaut er in die falsche Richtung und agiert relativ hilflos.23 In dieser spätantiken Darstellung hingegen wurde Odysseus so positiv inszeniert wie es gerade noch möglich war, ohne den Inhalt des Epos komplett zu negieren: Er und das Schiff nehmen die gesamte linke Hälfte des Bildfeldes ein, und schaffen so ein kompositorisches Gegengewicht zur Gestalt der Skylla; Odysseus’ Kopf mit dem Helm ragt im Bild über den Kopf der Skylla hinaus; seine Lanze richtet sich energisch auf Skyllas Brust, als könne er im nächsten Augenblick zustechen und damit die Gefährten retten; er ist ein voll gerüsteter und bewaffneter Mann, sie ist eine nackte Frau. Die Tendenz, Odysseus auf Kosten seiner Widersacherinnen und auf Kosten der inhaltlichen Übereinstimmung mit der Odyssee positiv hervorzuheben, ist charakteristisch für viele Darstellungen der Spätantike. Sie wird uns in der mittelalterlichen Kunst wieder begegnen. Der dritte und für die Zukunft wichtigste spätantike Kontext für die hier diskutierten Odyssee-Darstellungen ist derjenige des Grabes und des Sakralbaus. Hier, so lässt sich plausibilisieren, wurden die Bilder in einer Weise rezipiert, die als Allegorese bezeichnet werden kann. Aus dem 3. Jahrhundert stammt eine Gruppe von stadtrömischen Sarkophagdeckeln mit Darstellung der Vorbeifahrt an der Insel der Sirenen.24 Als ein Beispiel mag dieses Fragment aus der Kalixtus-Katakombe (Abb. 2) dienen.25 23 Ebenda, 108–110 und 228–246. 24 Zum Folgenden Ewald 1998 (wie Anm. 16) und Susanne Moraw, Odysseus, in: Reallexikon für Antike und Christentum 26, Stuttgart 2013, Sp. 75–92, hier 83–84, 89–90. 25 Ewald 1998 (wie Anm. 16), 229, Anm. 16.

Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter 111

2 Deckelfragment eines stadtrömischen Sarkophags, Odysseus und die Sirenen, 3. Jh., Rom, Museum der Kalixtus-Katakombe

Es zeigt das bereits bekannte Schema des verzückt lauschenden Odysseus am Mastbaum, mit den durch Wachs in den Ohren immunisierten Gefährten und den Sirenen, die hier vollständig nackt wiedergegeben wurden. In ihrem ursprünglichen Kontext, auf dem Deckel eines paganen Sarkophags, sollte diese Darstellung vermutlich eine rühmende Aussage über den hier bestatteten Menschen treffen: Etwa, dass er oder sie genau wie Odysseus einer tödlichen Gefahr widerstanden und damit in gewisser Weise den Tod überwunden habe.26 Irgendwann später, vor dem Ende des 7. Jahrhunderts,27 wurde die Szene aus dem Sarkophagdeckel herausgebrochen und in die Kalixtus-Katakombe verschleppt, wo sie wohl als Verschlussplatte eines loculus-Grabes diente.28 Dort, in einem christlichen Kontext, sollte die rühmende allegorische Aussage über den hinter dem Marmorrelief bestatteten Menschen jetzt christlich verstanden werden: Odysseus, der den Versuchungen der Sirenen widerstanden hatte und letztendlich nach Hause zurückkehren konnte, als eine Allegorie für die Seele des wahren Gläubigen, der den Versuchungen der Welt widerstanden hatte und nun zur Belohnung ins 26 Vgl. Paul Zanker und Björn Christian Ewald, Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage, München 2004, 113–115. Ein weiteres Beispiel für die Darstellung des Skylla- und des SirenenAbenteuers in einem paganen Grab in der Kyrenaika: Moraw 2015 (wie Anm. 15), 105–108, Abb. 10a.b. 27 Zur Belegungsdauer der römischen Katakomben: Vincenzo Fiocchi Nicolai, Fabrizio Bisconti und Danilo Mazzoleni, Roms christliche Katakomben. Geschichte, Bilderwelt, Inschriften, Regensburg 1998, 9–69. 28 Janet Huskinson, Some Pagan Mythological Figures and their Significance in Early Christian Art, in: Papers of the British School at Rome 42, 1974, 68–97, hier 80. Insgesamt sind fünf derartige Fälle bekannt: Ewald 1998 (wie Anm. 16), passim, Tf. 34,2; 229, Anm. 16 und 17.

112  Susanne Moraw

himmlische Vaterland gelangt war. Vergleichbare Allegoresen lassen sich für diejenigen Fragmente postulieren, die als Schmuck frühchristlicher Sakralbauten verwendet wurden:29 Hier war die Figur des standhaften Odysseus wohl vor allem als Vorbild für die Gläubigen gedacht. Die jüdische Allegorese des Sirenen-, vielleicht auch des Skylla-Abenteuers auf einem Fußbodenmosaik des 6. Jahrhunderts im Kontext einer Synagoge wurde an anderer Stelle behandelt.30 Die christlich-allegorische Lesart der spätantiken Sarkophagdeckel war von den Produzenten, die für eine pagane Klientel arbeiteten, nicht intendiert. Ebenso wenig wurden bei der christlichen Zweitverwendung nachträglich entsprechende Hinweise – etwa ein Kreuz oder eine Beischrift – in das Bild eingefügt. Die christliche Allegorese fand allein im Kopf des Betrachters statt. Bei der Rezeptionssteuerung half zum einen der christliche Kontext, zum anderen die Tradition der literarischen Allegorese, wie sie von den Kirchenvätern seit Clemens von Alexandria vorgenommen wurde.31 Sie machte aus den Sirenen, vereinzelt auch aus Skylla, Allegorien für die Versuchung zum Bösen; Odysseus hingegen wurde zu einer Allegorie für den wahren Christen, der dieser Versuchung widersteht. Die homerische Konfrontation von Held und Ungeheuer wurde damit einer neuerlichen Umdeutung unterzogen: Sie wurde zu einer Konfrontation von Gut und Böse. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen. Denn die liebliche Figur der Sirenen steht gewissermaßen für die Begierde nach den sinnlichen Genüssen, die mit verderblichen Liebkosungen die Festigkeit des gefangenen Verstandes verweichlichen[,]

schreibt Bischof Maximus von Turin in einer seiner Predigten.32 In vergleichbarer Weise äußert sich der heilige Hieronymus zu Skylla: In dieser Brandung [des Meeres der Welt] verschlingt die Charybdis der Sinnlichkeit das Heil [der Seele], da lockt mit dem Antlitz eines jungen Weibes die Skylla der Begierde zum Schiffbruch der Sittsamkeit.33

Skylla und die Sirenen werden in der Literatur der Spätantike aber nicht nur zu Allegorien des Bösen. Ein weiterer Rezeptionsstrang, der mir für das Verständnis dieser Figuren im Mit29 Vollständige Vorderseite eines Sarkophagdeckels mit Sirenen-Abenteuer, Inschrift für die dei manes eines jungen römischen Ritters, Darstellung von Philosophen als Ausweis von Bildung; verbaut in einer Kapelle des 4. oder 5. Jahrhunderts an der Via Tiburtina: Gioacchino Mancini, Recenti ritrovamenti di antichità cristiane a Roma, in: Atti del III congresso di acheologia cristiana, Vatikan 1934, 193–200; Moraw 2015 (wie Anm. 15), 115–116, Abb. 13. 30 Ruth Ovadiah und Asher Ovadiah, Mosaic Pavements in Israel, Rom 1987, 34–36, Nr. 31A; Moraw 2015 (wie Anm. 15), 110–114, Abb. 12. 31 Ausführlich zur christlichen Allegorese des Sirenen-Abenteuers: Rahner 1957 (wie Anm. 1), 281–328; vgl. Moraw 2013 (wie Anm. 24), Sp. 88–89. 32 »Syrenarum enim quaedam suavis figura est mollis concupiscentia voluptatum, quae noxiis blandimentis constantiam captae mentis effeminat.« Maximus von Turin, Predigten 37, 3 (Übersetzung nach Hugo Rahner 1957). 33 »In illo aestu Charybdis luxuriae salutem vorat, ibi ore virgineo ad pudicitiae perpetranda naufragia Scyllaeum renidens libido blanditur.« Hieronymus, Briefe 14, 6 (Übersetzung nach Hilde Claussen 2007).

Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter 113

telalter gleichfalls von Bedeutung zu sein scheint, gestaltet diese gefährlichen weiblichen Ungeheuer zu Opfern um: zu Opfern der sexuell motivierten Gewalt ihnen überlegener Gottheiten oder zu Opfern der eigenen sexuellen Frustration. So wird von den Sirenen gesagt, dass sie sich selbst ins Meer stürzten und dort ertranken, weil Odysseus ihren Verführungskünsten nicht erlegen war.34 Skylla hingegen tritt auf als eine schöne junge Frau, die das Begehren entweder des Meermannes Glaucus oder des Herrschers des Meeres, Neptun, erweckt. Daraufhin wird sie aus Eifersucht von Circe, die Glaucus für sich selbst wollte, oder von Amphitrite, der Gattin des Neptun, in das bekannte Ungeheuer verwandelt.35 In anderen Versionen ist Neptun selbst der Urheber der Verwandlung, weil Skylla ihn zugunsten eines anderen abgewiesen hatte.36 Einige Varianten dieser Erzählungen wurden ins Mittelalter tradiert und lassen sich beispielsweise bei den drei Vatikanischen Mythographen nachweisen.37

Die Rezeption im Mittelalter I: Corvey Das erste Beispiel für die mittelalterliche Rezeption des Odyssee-Mythos stammt aus der karolingischen Benediktinerabtei Corvey.38 In dem zwischen 873 und 885 errichteten Westwerk der Klosterkirche wurde ein Nebenraum mit einem Meeresfries in Freskotechnik dekoriert (Abb. 3). Auf der zeichnerischen Nachbearbeitung sind oberhalb des Kämpferstreifens ›Wasserpflanzen‹, Delphine, ein kleines Segelboot sowie diverse mythische Wesen zu erkennen. Die uns interessierende Szene befindet sich im hinteren Teil des Raumes und sei hier nochmals in einem Detailfoto gezeigt (Farbabb. 22). Rechts im Bild, nur unvollständig 34 Narrationes fabularum Ovidianarum 5, 8 hg. von D. A. Slater, Oxford 1927; Servius, Commentarium in Vergilii Aeneida 5, 864, hg. von Georg Christian Thilo und Herrmann Hagen, Leipzig 1881, 654, 21655, 5. 35 Verwandlung durch Circe: Narrationes fabularum Ovidianarum 14, 1–2 ed. Slater 1927; Servius, Commentarium in Vergilii Aeneida 3, 420 hg. von Thilo und Hagen 1881, 417, 9–24; Fulgentius, Mitologiarum libri tres 2, 9 ed. Helm 1898. Verwandlung durch Amphitrite: Servius, Commentarium in Vergilii Bucolica 6, 74 Thilo und Hagen 1887, 79, 3-80, 4. 36 Servius, Commentarium in Vergilii Aeneida 3, 420hg. von Thilo und Hagen 1881, 417, 9-24 ; vgl. Nonnos, Dionysiaka 42, 409. 37 Mythographus Vaticanus I (Lebensdaten vermutlich zwischen 875 und 1075, vgl. Ronald E. Pepin, The Vatican Mythographers: an English Translation, Fordham 2008, 6) 1,42 und 2,183: Selbstmord der Sirenen aus sexueller Frustration. Mythographus Vaticanus II (Pepin 2008, 7: »later than the First [Vatican Mythographer]«) 123: Sirenenselbstmord; 196: Skylla von Circe aus Eifersucht in ein Monster verwandelt. Mythographus Vaticanus III (ist nach Pepin 2008, 9 identisch entweder mit Alberic Londinensis oder mit Alexander Neckam; beide lebten in der 2. Hälfte des 12. Jhs.) 11,8: Skylla von Circe aus Eifersucht in ein Monster verwandelt; 11,9: Sirenen sterben aus Kummer, weil Odysseus ihnen entkommt. 38 Hilde Claussen, Ikonographie der figürlichen Wandmalerei. Odysseus und „das grausige Meer dieser Welt“: Zur ikonographischen Tradition der karolingischen Wandmalerei in Corvey, in: Hilde Claussen und Anna Skriver (Hg.), Die Klosterkirche von Corvey II. Wandmalerei und Stuck aus karolingischer Zeit, Mainz 2007, 156–183. Corvey war die wichtigste karolingische Klostergründung in Sachsen.

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3 Westwerk der Klosterkirche von Corvey, Rekonstruktion der karolingischen Wanddekoration, Odysseus und das mare saeculum, 873–885

erhalten, steht eine einzelne Sirene. Die in der (Spät-)Antike kanonische Dreizahl der homerischen Sirenen (vgl. Abb. 2 und Farbabb. 21) ist im Mittelalter nicht mehr verpflichtend. Jetzt kann auch eine einzelne Sirene das Kollektiv repräsentieren. Noch sichtbar sind auf dem Fresko der bis zur Hüfte reichende Vogelleib, der nackte Oberkörper sowie das offen über den Rücken fallende, extrem lange Haar. Aus den erhaltenen Resten lässt sich rekonstruieren, dass diese Sirene einst ein Saiteninstrument spielte.39 Mit diesem begleitete sie ihren verführerischen Gesang, der die Schiffer ins Verderben locken sollte. Links der Sirene vollzieht sich der Kampf zwischen Odysseus und Skylla. Ähnlich den spätantiken Darstellungen erscheint Skylla als Mischwesen aus nacktem Frauenleib und einem zweifach geringelten Fischschwanz. Aus ihren Hüften entspringen drei wild kläffende Hunde. In der Beuge ihres linken Armes hält Skylla, dies ist eine mittelalterliche Innovation, einen der Gefährten, einen kleinen nackten Mann. Der derart Festgeklemmte hängt waagerecht in der Luft und blickt hilfesuchend auf den von links nahenden Odysseus. Der Held, bekleidet wohl mit dem Pilos sowie mit einer kurzen, an beiden Seiten gerafften Tunika, steht bereits auf dem Schwanzende des Ungeheuers. Sein Kopf ragt über den seiner Gegnerin deutlich hinaus, was ihm auf der ikonographischen Ebene zusätzliche Überlegenheit verleiht. Ein in der vorgestreckten Linken gehaltener Ovalschild gibt ihm Deckung. Mit der Rechten stößt Odysseus seine Lanze in den Rachen eines der Hunde. Der dritte Hund, ganz rechts, ist leider nur unvollständig erhalten. Das Erhaltene lässt jedoch darauf schließen, dass sein Körper reglos herabhing, er als bereits von Odysseus erlegt zu interpretieren war. 39 Vgl. die Umzeichnung ebenda, Abb. 182.

Der miles Christianus als Sirenen- und Skyllatöter 115

Skylla hat dem wenig entgegenzusetzen. Sie erhebt zwar die rechte Hand, hielt darin aber wohl keine Waffe – während ihre spätantiken, deutlich energischeren Vorgängerinnen zur Not auf ein Schiffsruder zurückgreifen konnten (Abb. 1). Hier hingegen evoziert Skyllas Geste eher den Eindruck hilflosen Flehens. Der Ausgang des Kampfes ist zwar nicht dargestellt, scheint aber recht eindeutig: Odysseus wird erst Skyllas Hunde und dann sie selbst töten und damit seinen gefangenen Gefährten befreien. Mit dieser Art der Darstellung verkehrten der karolingische Freskenmaler und seine Auftraggeber die homerische Geschichte in ihr exaktes Gegenteil. Odysseus ist nun nicht mehr der mit wenig Skrupeln behaftete Anführer, der notgedrungen sechs seiner Gefährten opfert und dem menschenfressenden Ungeheuer eher hilflos gegenübersteht. Er ist jetzt vielmehr der strahlende Held, der entschlossen die Gefährten rettet und dem scheußlichen Monster die verdiente tödliche Niederlage zufügt. Der narrative Kern des Odyssee-Mythos ist damit in seiner ersten genuin christlichen Bildfassung aufgegeben. Was die Produzenten und Rezipienten dieser Darstellung hingegen gewannen, ist die inhaltliche Übereinstimmung des Bildes mit den Inhalten der zuvor skizzierten, aus der Spätantike übernommenen literarischen Rezeptionsstränge: mit der Vorstellung von Skylla als Opfer und mit der christlichen Allegorese. Wie präsent die christliche Allegorese des Mythos auch in karolingischer Zeit war, belegt ein Brief Dungals von Saint Denis an einen befreundeten Abt. Er datiert ins frühe 9. Jahrhundert, ist also nur wenig älter als die Fresken von Corvey. Die entsprechende Passage lautet in deutscher Übersetzung: Wir wünschen, dass es Euch stets in Gott so wohlergehen möge, dass Euch bei der Fahrt über das grausige Meer dieser Welt weder die trügerischen Künste der schönen Skylla täuschen, noch die todbringenden Gesänge der Sirenen zu ergötzen vermögen, sondern dass Ihr mit keuschem Blick und verstopften Ohren im Schutze Gottes unversehrt, wie der vorausschauende Ithaker [...], als Sieger über die feindliche Welt in den Hafen des himmlischen Vaterlandes gelangen möget.40

Das »grausige Meer dieser Welt«, das mare saeculum, ist auch auf dem Fries von Corvey dargestellt (Abb. 3), exemplifiziert u. a. anhand der Skylla und der Sirene. Sie beide sind Allegorien für das Böse, für die Versuchungen, denen der christliche Mensch – hier konkret: die Mönche des Klosters – im Verlauf seines Lebens ausgesetzt ist. Odysseus dagegen ist eine Allegorie für den standhaften Gläubigen, der diesen Versuchungen widersteht. Er sollte den Mönchen von Corvey ebenso ein Vorbild sein wie dem Abt, an den Dungal seinen Brief adressierte. Das Widerstehen der Versuchung wurde vom Künstler inszeniert als ein aktiver Kampf gegen das Böse. Wohl nicht zufällig gleicht das ikonographische Schema des Kampfes Odysseus gegen Skylla dem Schema, in dem der Erzengel Michael auf zeitgleichen Darstellungen 40 »Optamus vos semper in Domino verae prosperitatis stabilitate gaudere; ut non, in huius formidando saeculi pelago navigantes, Schylleae vos pulchritudinis fallacia decipiat nec Serenarum loetiferi cantus oblectent, sed casto velut ille providus Itachus aspectu obturatis auribus inlaesi, divino agitante spiraminis flatu, ad supernae portum patriae devicto hostilis Ilio mundi superatisque victores Frigibus perveniatis.« Dungalus Scottus, Briefe 6 (MGH Epist. 4, Karol. Aevi 2, Berlin 1895, 581, Z. 8–14); dt. (relativ freie) Übersetzung zitiert nach Claussen 2007 (wie Anm. 38), 163.

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4 Elfenbeintafel aus der Hofschule Karls des Großen, Der Erzengel Michael tötet den Drachen, frühes 9. Jh., Leipzig, Grassi Museum für Angewandte Kunst

den Drachen besiegt.41 Auf einer Elfenbeintafel aus der Hofschule Karls des Großen42 steht Michael über dem winzigen Symbol des Bösen, dessen zweifach geringelter Schlangenschwanz an den der Skylla erinnert (Abb. 4). Gleich dem Odysseus hält Michael in der Linken einen ovalen Schild und in der Rechten eine Lanze. Diese Lanze stößt er dem Drachen in den aufgerissenen Rachen, genau wie Odysseus das bei Skyllas Hunden tat. Der Sieg über das Böse wird von dem Erzengel allerdings deutlich müheloser errungen als von dem mythischen Helden. Noch müheloser siegt allein Christus, der in den zeitgleichen Darstellungen als Christus victor bereits reglos auf dem überwundenen Drachen (oder einem ähnlichen Untier) steht.43 Die moralische Botschaft, die den Mönchen von Corvey anhand der Fresken vermittelt werden sollte, war also klar: Töte in dir jede Versuchung, so wie Odysseus die Skylla tötete und der Erzengel den Drachen. Beim heutigen Betrachten der Fresken, so mitgenommen von der Zeit sie auch sein mögen, stellt sich jedoch unwillkürlich die Frage, ob die mittelalterlichen Mönche tatsächlich nur auf deren allegorische Bedeutung fokussierten und die wörtliche Ebene, das erzählende Bild, komplett ausklammerten. Bei einer literarischen Allegorese des antiken Mythos mag das möglich sein. Bei einer bildlichen Allegorese hingegen, mit ihrem inhärenten Zwang zur bildlichen Konkretisierung der Erzählebene und mit ihrer die Sinne ansprechenden Materialität, scheint das weitaus schwieriger. Fühlten sich die Mönche von Corvey beispielsweise nicht eher angezogen von der Sinnlichkeit, die von der nackten Haut und den endlos langen Haaren der Sirene ausging, anstatt sie als Warnung zu begreifen? Eventuell galt für sie Ähnliches, wie es Stefan Trinks für die Betrachter eines Kapitells der Pilgerkirche San Pedro in Jaca postulierte: Vor einem Kapitell wie dieser bestrickenden Darstellung eines Schleiertanzes dringt eine christlichmoralisierende Sinnschicht schon deshalb kaum durch, weil der Betrachter buchstäblich in die Stoffe involviert wird, indem er permanent versucht, die kunstvoll verwobenen Schleierbahnen visuell zu ver-

41 Claussen 2007 (wie Anm. 38), 172, Anm. 79 und Andrea Schaller, Der Erzengel Michael im frühen Mittelalter. Ikonographie und Verehrung eines Heiligen ohne Vita, Bern 2006, 21–171. 42 Elfenbeinrelief Leipzig, Museum für Kunsthandwerk/Grassimuseum Inv. Nr. 53.50; Anfang 9. Jh.; Theo Jülich, Katalog Nr. X 30: Erzengel Michael; in: Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff (Hg.), 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit, Mainz 1999, 747–748. Laut Schaller 2006 (wie Anm. 41), 44 handelt es sich hier um die erste gesicherte Darstellung des Themas. 43 Schaller 2006 (wie Anm. 41), 53–62.

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folgen. Der mittelalterliche Betrachter dürfte angesichts der unübersehbaren Attraktionen kaum weniger gebannt gewesen sein.44

Die Rezeption im Mittelalter II: Herrad von Hohenburgs Hortus deliciarum Im späteren 12. Jahrhundert konzipierte und verfertigte Herrad, die Äbtissin des Augustinerinnenklosters Hohenburg, den Hortus deliciarum, den ›Garten der Köstlichkeiten‹.45 Sie griff dabei vermutlich zurück auf Vorarbeiten ihrer Amtsvorgängerin Relinda und wurde unterstützt von Nonnen aus dem Scriptorium des Klosters.46 Das anspruchsvolle Werk war eine Kombination aus Exzerpten theologischer Texte, sowohl der Kirchenväter als auch zeitgenössischer Autoren, und zahlreichen farbigen Illustrationen. Gegliedert in die vier Abschnitte Altes Testament, Neues Testament, Ekklesiologie und Jüngstes Gericht sollte es den jungen Novizinnen die göttliche Heilsgeschichte anschaulich machen.47 Zusätzlich informierte Herrad ihre Mitschwestern mit diesem Buch über die aktuellen theologischen Debatten und bezog Stellung in der Frage der innerkirchlichen Reformbestrebungen.48 Der Hortus deliciarum verbrannte 1870 in der Straßburger Bibliothek, als Kollateralschaden des Deutsch-Französischen Krieges. Die moderne Forschung stützt sich auf eine (unvollständige) Rekonstruktion, die vom Warburg Institute durch diverse Abschriften, Zeichnungen und Ähnlichem unter der Leitung von Rosalie Green angefertigt wurde.49 Der Abschnitt zur Ekklesiologie beinhaltete mehrere moralisierende Allegorien, deren Grundthema die Vervollkommnung des einzelnen Menschen und der Kampf gegen die eigenen Laster ist.50 Eine dieser Allegorien beinhaltet das odysseische Sirenen-Abenteuer. Sie 44 Trinks 2012 (wie Anm. 10), 194. 45 Der Hortus deliciarum rückte in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses: Claudia Poggi und Marina Santini, Herrada di Hohenburg, un artista magistrale, in: Marirì Martinengo, Claudia Poggi, Marina Santini, Luciana Tavernini und Laura Minguzzi (Hg.), Libere di esistere. Costruzioni femminile di civiltà nel Medioevo europeo, Turin 1996, 49–154; Heike Willeke, Ordo und Ethos im Hortus Deliciarum. Das Bild-Text-Programm des Hohenburger Codex zwischen kontemplativ-spekulativer Weltschau und konkret-pragmatischer Handlungsorientierung, Diss., Universität Hamburg 2004, >http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2006/2963/< (letzter Zugriff: 26.01.2018); Fiona J. Griffiths, Garden of Delights: Reform and Renaissance for Women in the Twelfth Century, Philadelphia 2007; Danielle B. Joyner, Painting the Hortus deliciarum: Medieval Women, Wisdom, and Time, University Park, Pennsylvania 2016. 46 Poggi und Santini 1996 (wie Anm. 45), 57–61, 109–112; vgl. zur Autorschaft Griffiths 2007 (wie Anm. 45), 82–133. 47 Poggi und Santini 1996 (wie Anm. 45), 64–65. Auch Joyner 2016 (wie Anm. 45) spricht von einem »salvation narrative« (ebenda, 108), das sich in der Zeit entfalte – während die Ewigkeit zeitlos sei (ebenda, 9). 48 Zu diesen Aspekten ausführlich Griffiths 2007 (wie Anm. 45). 49 Rosalie Green, Michael Evans, Christine Bischoff und Michael Curschmann (Hg.), Herrad of Hohenburg, Hortus deliciarum (Studies of the Warburg Institute, Bd. 36), London/Leiden 1979. 50 Vgl. Willeke 2004 (wie Anm. 45), 54 und 360. Ausführlichstes Exemplum ist die sich von fol. 199v bis fol. 204v erstreckende Psychomachie (ebenda, 371–422, Abb. 16–25).

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wurde in drei Miniaturen, auf der Vorder- und Rückseite von Folium 221, zur Darstellung gebracht.51 Die Nachzeichnung der beiden Miniaturen auf Folium 221r (Abb. 5) zeigt Motive, die bereits in der Einleitung dieses Beitrags angesprochen wurden: Sirenen, die mit unspezifischen Schiffern interagieren, ohne dass ein direkter Bezug zu Odysseus gegeben wäre. Das obere Bild zeigte drei Sirenen auf ihrer Insel, bei der Darbietung ihres verführerischen Gesangs: Die linke Sirene singt, die anderen beiden begleiten sie mit Flöten- beziehungsweise Harfenspiel. Ihre Dreizahl ist die traditionelle und schon aus den spätantiken Darstellungen (Farbabb. 21; Abb. 2) bekannt. Hierin unterscheiden sie sich von der karolingischen Sirene aus Corvey (Farbabb. 22). Ein weiterer Unterschied – jetzt sowohl zur Sirene aus Corvey als auch zu den spätantiken Vorläufern – ist der Grad ihrer Bekleidung. Die Sirenen des Hortus deliciarum sind vollständig und entsprechend den zeitgenössischen Normen bekleidet, mit einem von einem Band gehaltenen Schleier auf dem Kopf und einem bis zu den Füßen reichenden Gewand mit elegant weiten Ärmeln. Wäre die originale Farbigkeit erhalten, würde ihre Aufmachung zweifellos noch prächtiger und luxuriöser erscheinen.52 Dass es sich bei ihnen nicht um vornehme junge Frauen des 12. Jahrhunderts handelt, sondern um mythische Ungeheuer, wird nur anhand ihrer Flügel und ihrer Krallenfüße angedeutet. Die seit der Antike übliche Strategie, ›Verführung‹ anhand eines nackten Frauenkörpers zu visualisieren, wurde von der Illustratorin nicht angewandt. Die Opfer der Verführung sind unterhalb der Sirenen zu sehen: In einem durch Spiralornamente angedeuteten Meer treibt führerlos ein Schiff, dessen Besatzung in tiefen Schlaf gefallen ist, eingelullt vom Sirenengesang. Was mit diesen Unseligen geschehen wird, verdeutlicht das untere Bild. Die Sirenen stürzen sich auf das Schiff und seine arglose Besatzung, packen die Männer und werfen sie ins Meer. Einer treibt bereits ertrunken, mit geschlossenen Augen, in den Wellen. Was hier dargestellt wurde, ist ein Motiv, das der bildenden Kunst der Antike und Spätantike unbekannt war: siegreiche Sirenen. Nach den Worten der homerischen Kirke war der Erfolg der Sirenen zwar die Regel und das Entkommen des Odysseus die große, Kirkes Rat verdankte Ausnahme53 – bildlich dargestellt wurde das vor dem Mittelalter jedoch nicht.54 Bildwürdig war allein das Erlebnis des homerischen Helden. Das änderte sich in dem Augenblick, in dem die Sirenengeschichte vor allem christlich-allegorisch verstanden wurde, als Verführung zur Sünde. Jetzt, im Mittelalter, konnten Bilder von siegreichen Sirenen als Warnung vor den

51 Poggi und Santini 1996 (wie Anm. 45), 103–108; Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 5), 94, 107, 121– 125; Griffiths 2007 (wie Anm. 45), 220; Joyner 2016 (wie Anm. 45), 108–109. 52 Einen ungefähren Eindruck von der originalen Farbigkeit und Pracht der Frauengewänder vermitteln diejenigen Miniaturen, die in Farbe kopiert/abgezeichnet wurden, z. B. in der Darstellung der Tugendleiter, fol. 215v: in Farbe abgebildet bei Willeke 2004 (wie Anm. 45), Abb. 28 und Joyner 2016 (wie Anm. 45), Abb. 25; in Schwarzweiß bei Griffiths 2007 (wie Anm. 45), Tf. 5. 53 Vgl. Anm. 14. 54 Die Ausschmückung des Sirenensieges war nur in der literarischen Rezeption möglich, so etwa Claudian, In Sirenas (John B. Hall [Hg.], Claudii Claudiani Carmina, Leipzig 1985).

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5 Nachzeichnung von Folium 221r des Hortus deliciarum, späteres 12. Jh., ehem. Straßburg, Bibliotheken des Protestantischen Seminars und der Stadt Straßburg

Gefahren der Sünde dienen – und wurden in diesem Sinne auch gelegentlich eingesetzt, wie der kurze Abriss zu Beginn dieses Beitrags deutlich machte.55 Im Hortus deliciarum thematisierte erst die dritte Miniatur, auf der Rückseite von Folium 221, die eigentliche homerische Episode (Abb. 6). Entsprechend der ikonographischen Tradition (Farbabb. 21; Abb. 2) steht Odysseus gefesselt am Mastbaum seines Schiffes, um der Versuchung des Sirenengesangs nicht nachgeben zu können. Dieses Grundschema hatte zum Zeitpunkt der Anfertigung der Miniatur bereits knapp zwei Jahrtausende Gültigkeit und wurde auch von der Hohenburger Illustratorin übernommen.56 Bei allem Weiteren wich sie jedoch deutlich von diesem Schema ab. Wie die bereits diskutierten Sirenen, so tragen auch Odysseus und seine Männer zeitgenössische Tracht. Odysseus und einer der Gefährten, wohl eine Art Unteroffizier, sind als Ritter charakterisiert, mit voller Rüstung und Schild; der Steuermann trägt einen langen Kapuzenmantel; die restlichen Gefährten sind ungerüstet, gekleidet in langärmelige bortenverzierte Gewänder, und mit langen Lanzen bewaffnet. Noch entscheidender ist die inhaltliche Veränderung, die vorgenommen wurde. Die homerischen Sirenen gingen nicht aktiv gegen die 55 Das gilt v. a. für Illustrationen in Ausgaben des mit christlicher Allegorese arbeitenden Physiologus (s. o. Anm. 8 und 9). 56 Moraw 2015 (wie Anm. 15), 92–95.

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6 Nachzeichnung von Folium 221v des Hortus deliciarum, späteres 12. Jh., ehem. Straßburg, Bibliotheken des Protestantischen Seminars und der Stadt Straßburg

Seeleute vor, sondern lockten sie mit Gesang auf ihre Insel, um sie dort in ihrem gebannten Zustand langsam zugrunde gehen zu lassen. Da das Schiff des Odysseus an der Insel nur vorbeifuhr, entfiel jeder physische Kontakt zwischen Griechen und Sirenen. Ganz anders im Hortus deliciarum: Entsprechend ihrer auf der vorangegangenen Miniatur (Abb. 5 unten) gezeigten Gewohnheit greifen die Sirenen das Schiff des Odysseus an. Da die Gefährten jedoch aufgrund des Wachses in ihren Ohren den Gesang nicht gehört hatten, sind sie zur Gegenwehr imstande. Einer der Männer packt die erste, auf der Bugzier stehende Sirene brutal an den Haaren, sodass sich ihr Körper zusammenkrümmt. Im nächsten Moment wird er sie kopfüber ins Meer werfen, wie das ein anderer Gefährte gerade mit der zweiten Sirene vollführt; nur ihr rechtes Bein befindet sich noch an Bord. Die dritte Sirene treibt bereits im Wasser, von einer Lanze durchbohrt; ihre geschlossenen Augen machen klar, dass sie nicht mehr lebt. Anders als bei Homer endet diese Begegnung nicht mit einem Vorübersegeln, sondern mit einem Blutbad. Auf Befehl des Odysseus – visualisiert durch eine Geste seiner rechten Hand – schlachten seine Männer die Sirenen ab. Noch weitaus deutlicher als auf den karolingischen Fresken von Corvey (Farbabb. 22) wurde der narrative Kern des Odyssee-Mythos aufgegeben zugunsten einer Visualisierung

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seiner allegorischen Interpretation. Der Sieg über die Versuchung zur Sünde ist hier ins Bild gesetzt durch den gewaltsamen Tod der Versucherinnen. Für Corvey musste eine derartige christlich-allegorische Deutung anhand annähernd zeitgleicher literarischer Parallelen als implizit vorhanden postuliert werden. Hier hingegen, im Hortus deliciarum, machte dessen Verfasserin sie explizit: Sie kombinierte die Miniaturen mit einem Auszug aus dem Speculum ecclesiae des um 1151 verstorbenen Honorius von Autun.57 Honorius referiert zunächst den paganen Sirenen-Mythos, lässt ihn aber mit der unhomerischen Pointe enden, dass Odysseus mit dem Entkommen aus der Gefahr die Sirenen »in den Fluten versenkt habe«.58 Honorius – und Herrad – rekurrieren hier auf jene oben angesprochenen Versionen des Mythos, die den odysseischen Ungeheuern ein tödliches Ende bereiteten.59 Dann erfolgt die eigentliche allegorische Deutung des Mythos, der zufolge die Sirenen Allegorien für die drei Laster avaritia (Habgier oder Geiz), luxuria (Genusssucht und Ausschweifung) und vanitas (Eitelkeit) seien. Odysseus hingegen sei eine Allegorie des populus Christianus, der Christenheit, die das gefahrvolle ›Meer der Welt‹ im sicheren ›Schiff der Kirche‹ durchsegeln solle. Während die nackte Sirene und die nackte Skylla von Corvey (Farbabb. 22) von den Mönchen des karolingischen Klosters wohl eher als Allegorien für die Sünde der voluptas, der fleischlichen Lust, verstanden wurden, geht es hier um andere Sünden: um Habgier – die für Herrad und die kirchlichen Reformbestrebungen des 12. Jahrhunderts als die größte aller Sünden galt60 –, um Genusssucht und um Eitelkeit. Davor sollten diese drei Miniaturen und der Text des Honorius die jungen Novizinnen im Kloster Hohenburg warnen. Diese Sünden führten Herrad zufolge direkt in die Hölle.61 Die Sirenen, die zu diesen Sünden verführen, sind damit Agentinnen des Teufels und des Bösen. Organum Satanae, ein Werkzeug des Satan, nannte schon Leander von Sevilla im späten 6. Jahrhundert die Sirene.62 Entsprechend gnadenlos werden sie in der Miniatur des Hortus deliciarum von den Agenten des Guten, den milites Christiani, vernichtet. Eine ikonographische und inhaltliche Parallele zur Vernichtung der Sirenen bietet die Miniatur zum Sturz Luzifers auf Folium 3v (Abb. 7). Michael, in der Mitte, und zwei weitere Engel stoßen Luzifer, gleichfalls in der Mitte, und zwei seiner Dämonen mit Dreizacklanzen hinab in die Hölle. In den Beischriften wird Luzifer draco genannt; das ist ein Verweis auf die auch in anderen Werken des 11. und 12. Jahrhunderts zu beobachtende inhaltliche Verqui57 Die lateinische Passage aus dem Speculum ecclesiae ist abgedruckt in Poggi und Santini 1996 (wie Anm. 45), 153–154; eine italienische Übersetzung findet sich ebenda 103–104. Zu Herrads methodischem Vorgehen vgl. Joyner 2016 (wie Anm. 45), 108: »when Herrad quoted passages, she excerpted them from their original liturgical context and recast them in the historical context of her salvation narrative«. 58 »periculum illesus [= Odysseus] evasit et eas [= Sirenas] fluctibus submersit.« 59 Vgl. Anm. 37. 60 Griffiths 2007 (wie Anm. 45), v. a. 197–201. 61 Von der bereits genannten (Anm. 52), zum Himmel führenden Tugendleiter stürzen sowohl ein Kleriker als auch ein Mönch hinab, weil sie zu sehr an irdischen Gütern hängen: Griffiths 2007 (wie Anm. 45), 206–207 und Tf. 5. 62 Leander von Sevilla, De institutione virginum et de contemptu mundi (Regula sancti Leandri), cap. 1 (Biblioteca de autores cristianos 321, 21). Der Kontext ist hier gleichfalls ein monastischer: Leander widmete die genannte Schrift zu gottgeweihten Jungfrauen seiner Schwester Florentina, vermutlich bei deren Eintritt ins Kloster. Sirenen sind hier eine Allegorie für weltliche Frauen.

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7 Nachzeichnung von Folium 3v des Hortus deliciarum, späteres 12. Jh., ehem. Straßburg, Bibliotheken des Protestantischen Seminars und der Stadt Straßburg

ckung von Engelssturz am Anfang der Weltgeschichte und apokalyptischem Drachenkampf an deren Ende.63 Wie auf dem Sirenenbild kämpfen drei Agenten des Guten gegen drei Agenten des Bösen, ist die Stoßrichtung von oben nach unten. Auch die Klauenfüße der Dämonen erinnern wohl nicht von ungefähr an die Klauenfüße der Sirenen. Der Erzengel Michael und seine Begleiter entsprechen Odysseus und den milites Christiani, so wie Luzifer und seine Anhänger ihr Pendant in den Sirenen haben. Erinnert sei hier an das karolingische Elfenbeinrelief mit Michael und dem Drachen (Abb. 4), das in Ikonographie und Inhalt dem ungefähr zeitgleichen Kampf des Odysseus gegen Skylla (Farbabb. 22) entsprach. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Odyssee-Szenen liegt darin, dass das spätere Bild deutlich brutaler angelegt ist, die Vernichtung des Gegners weitaus drastischer vor Augen geführt wird. Diese neue Art der Umsetzung des Themas ist wohl einzuordnen in ein Phänomen, das zuletzt Andrea Schaller folgendermaßen beschrieb: […] entwickelte sich nicht nur das Ideal des miles christianus aus dem Geist der Klosterreformen des zehnten und elften Jahrhunderts; die in den Klöstern zunehmend konkreter verstandene Aufforderung 63 Schaller 2006 (wie Anm. 41), 258.

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des Epheserbriefes (6,1–12), sich täglich neu zum Gefecht mit Satan zu rüsten, war einer der wesentlichen Faktoren, die schließlich die bewaffneten Fahrten ins Heilige Land auslösten. Im zwölften Jahrhundert führte die Entwicklung zu zwei eng miteinander zusammenhängenden geistigen Phänomenen: Der Spiritualisierung des gerade erst im Entstehen begriffenen Rittertums einerseits und der Militarisierung des Klosterlebens andererseits.64

Einer der Hauptprotagonisten dieser »Militarisierung des Klosterlebens« war Honorius von Autun,65 von dem Herrad nicht nur die Allegorese des Sirenen-Abenteuers übernahm, sondern auch viele andere Passagen. Es ist anzunehmen, dass diese militante, mit dem Kreuzzugsgedanken verknüpfte Grundhaltung auch in die Gestaltung der Odyssee-Miniatur einfloss. Die Rezipientinnen der Bilder im Hortus deliciarum sollten mit den Erzengeln sympathisieren (Abb. 7) und sich bei ihrem eigenen Kampf gegen das Böse mit den milites Christiani (Abb. 6) identifizieren. Dass die milites – Odysseus und seine Gefährten – männlich gegendert waren, das zu vernichtende Böse hingegen weiblich, scheint weder Herrad noch ihre Nonnen gestört zu haben. Wie die Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, bemühten sich Herrad und ihre Illustratorinnen zwar in hohem Maße, weibliche Protagonisten in positiven, für die Novizinnen vorbildhaften Rollen zu präsentieren: So ist etwa der Mensch, der als Einziger die Tugendleiter bis zur Spitze erklimmt und die corona vitae empfängt, als eine junge Frau dargestellt.66 In anderen Fällen, auch das hat die Forschung klargemacht, kapitulierten sie jedoch vor der misogynen Tradition beziehungsweise machten sich diese vielleicht gar nicht bewusst.67 Die Allegorese und die Darstellung der Sirenen-Geschichte sind in diese zweite Gruppe einzuordnen. Ein letzter Punkt gilt der Frage, die in ähnlicher Weise schon in Bezug auf die Fresken von Corvey (Farbabb. 22) formuliert wurde: Interessierten sich die Betrachterinnen des Hortus deliciarum tatsächlich nur für die allegorische Ebene des dargestellten Mythos? Und erfreuten sie sich nicht auch an der (im Original vorhandenen) Buntheit und Kostbarkeit der Gewänder der Sirenen, an der Attraktivität und Tatkraft der Sirenenbekämpfer?68

64 Ebenda, 226; mit Rekurs auf Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935. 65 Schaller 2006 (wie Anm. 41), 226 und Andreas Wang, Der „miles christianus“ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit, Bern 1975, 24–35. 66 Griffiths 2007 (wie Anm. 45), 207 (vgl. ebenda, 215–221 zu anderen weiblichen Identifikationsfiguren); ausführlich zu positiven Frauendarstellungen im Hortus deliciarum: Poggi und Santini (wie Anm. 45), 116–143; zur Tugendleiter vgl. oben Anm. 52. 67 Griffiths 2007 (wie Anm. 45), 220–221. 68 Männliche Attraktivität wird noch deutlicher inszeniert auf der Darstellung der Tugendleiter (vgl. Anm. 52): Der miles, der ganz unten auf der Leiter neben seiner Dame sitzt, trägt ein langes rotes Gewand, das bis zu den Oberschenkeln auseinanderklafft und den Blick auf die grünbestrumpften Beine freigibt.

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Fazit und Ausblick Die wesentliche Veränderung in der bildlichen Rezeption des odysseischen Sirenen- und Skylla-Abenteuers, der eigentliche Paradigmenwechsel, findet nicht innerhalb des Mittelalters statt, sondern am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter. Im Rückgriff auf Tendenzen, die bereits in der spätantiken Literatur zu fassen sind – die Ergänzung der homerischen Erzählung um weitere Varianten sowie eine christlich-allegorische Lesart des Erzählten –, wird der Mythos im mittelalterlichen Bild gleichsam umerzählt. Die mittelalterlichen Künstler und Künstlerinnen finden für die Umsetzung der christlichen Allegorese neue Bilder, welche den allegorischen Sinn über den narrativen Gehalt des Mythos setzen. Die in der gesamten Antike gewahrte ›Autonomie des Mythenbildes‹, die deutliche Dominanz der wörtlichen Ebene über eine eventuelle allegorische, geht damit verloren. Eine zeitliche Differenzierung der Rezeption im Mittelalter selbst erscheint bei nur zwei Denkmälern gewagt. Mit aller gebotenen Vorsicht lässt sich sagen, dass das karolingische Beispiel näher an seinen spätantiken Vorläufern ist als das Beispiel aus dem 12. Jahrhundert. Das gilt zum einen für ikonographische Details wie die Gestaltung der weiblichen Mischwesen, zum anderen für die Eindeutigkeit der neuen Bildaussage: Während in Corvey der Ausgang des Kampfes zwischen Odysseus und Skylla noch halbwegs offen erscheint (wenngleich weniger als in dem spätantiken Beispiel), so ist er im Fall der Sirenen im Hortus deliciarum klar – die Sirenen haben keine Chance. Die hier ins Bild gesetzte gnadenlose Vernichtung des Gegners ist vermutlich zu erklären durch den zeitgenössischen Diskurs eines erbitterten und ubiquitären Kampfes der Christenmenschen gegen den Satan (als dessen Allegorie die Sirenen letztendlich fungieren): im eigenen Haus, im Kloster oder im Heiligen Land. Ob sich diese anhand der Odyssee-Bilder gewonnenen Beobachtungen zu einem zeitbedingten Wandel in der Ikonographie verallgemeinern lassen, müssen Forschungen an anderen, zahlreich vertretenen Mythenmotiven zeigen. Was die anderen hier beobachteten Differenzen anbelangt, so scheinen sie mir in erster Linie auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den Rezipienten zurückzuführen zu sein. Die Nacktheit der Sirene und der Skylla von Corvey hängt (auch) damit zusammen, dass hier für männliche Betrachter die Versuchung zur Sünde der voluptas visualisiert werden sollte. Die bekleideten Sirenen des Hortus deliciarum hingegen sollten für ihre Betrachterinnen andere Laster, vor allem Habgier, zum Ausdruck bringen.69 Eine inhaltliche Verbindung zum misogynen Themenkomplex Weiblichkeit – Sexualität – Sünde war von Herrad naturgemäß nicht intendiert.70 Auch hier sind wohl weitere Untersuchungen sinnvoll. Nach Ausweis der Denkmäler wurde der Odysseus-Mythos im Mittelalter in erster Linie christlich-allegorisch verstanden, als Allegorie für den Kampf gegen Versuchungen unter69 Dabei hat die Bekleidung der Sirenen nichts mit einem eventuellen Schamgefühl der Illustratorin zu tun. Wenn es inhaltlich notwendig war, z. B. bei der Darstellung des Sündenfalls oder der Höllenstrafen, konnten Männer und Frauen durchaus auch nackt dargestellt werden: Willeke 2004 (wie Anm. 45), Abb. 8, 10, 42 u. v. a. 70 Vgl. Griffiths 2007 (wie Anm. 45), 211: »As many have observed, the sexual language of reform tended to demonize women, depicting them as temptresses who brought men to ruin. By avoiding this rethoric, Herrad excluded from the manuscript the strains of reform that have been seen to vilify women.«

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schiedlicher Art, und entsprechend vor allem im monastischen Kontext zur Darstellung gebracht. Dieses Verständnis knüpfte möglicherweise auch partiell an jene spätantike Form der Rezeption an, die mit billig produzierter Massenware und einer Stilisierung des Odysseus als Identifikationsfigur des ›kleinen Mannes‹ in Verbindung gebracht wurde. Eventuell verstanden sich die mittelalterlichen Mönche und Nonnen auch als solche ganz normalen Menschen, die wie einst Odysseus mit Mut, Ausdauer und Schlauheit einen übermächtig erscheinenden Gegner – in ihrem Fall die Versuchung – in langem Kampf zu bezwingen vermochten. Die problematischen Züge dieser Odysseus-Figur, der Mangel an Skrupeln oder decorum, wurden schon in den spätantiken Darstellungen zurückgenommen und wären bei den mittelalterlichen Darstellungen überhaupt nicht mehr zu erkennen gewesen. Als letzter Punkt sei die ikonographische Nähe der Odyssee-Bilder zu den zeitgleichen Darstellungen des Erzengels Michael genannt. Michael ist ein Streiter Gottes gegen das Böse – seien es die gefallenen Engel um Luzifer oder der Drachen der Apokalypse – und gleicht damit in gewisser Weise Christus.71 Ein weiterer mittelalterlicher Deutungsstrang verknüpfte die militärischen Kämpfe des Erzengels mit den spirituellen Kämpfen der zeitgenössischen Menschen, vor allem der Mönche und Nonnen.72 Die Vergleichbarkeit der Bildformeln unterstreicht also die Vergleichbarkeit der allegorischen Aussagen: Der diese Bilder rezipierende Mönch, die diese rezipierende Nonne sollen in ihrem Kampf gegen das Böse genauso entschlossen und unerbittlich vorgehen wie der Erzengel und wie der homerische Held. Auch sie sind, wenngleich vielleicht etwas weniger heroisch, in ihrem alltäglichen Kampf gegen die Versuchung milites Christiani.

71 Zu Michael als Typus Christi s. Schaller 2006 (wie Anm. 41), 229–243. 72 Ebenda, 214–229. So trägt der drachentötende Michael in einem um 1330 verfertigten Graduale aus dem Zisterzienserinnenkloster Wonnetal anstelle einer Rüstung ein Ordensgewand (ebenda, 222–223, Abb. 76).

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva Mythenparallelismus in der monumentalen Theologie, 5. bis 15. Jahrhundert

Stefan Trinks

I. Mythenparallelismus statt christlicher Eindeutigkeit Kaum etwas Eintönigeres scheint es zu geben als die Ikonographie der Stammeltern Adam und Eva. Das vertraute und weit überwiegende Bildformular ist dasjenige des Sündenfalls, in dem beide als willige Vollstrecker des Heilsplans die verbotene Frucht essen und dafür mit der Vertreibung aus dem Paradies bestraft werden. Dass die Jahrhunderte zwischen den ersten Bildern von Adam und Eva in der Spätantike und der Reformation eine wesentlich vielfältigere Ikonographie der Stammeltern hervorbrachten, ist kaum bekannt. Dieser Umstand kann umso mehr interessieren, als jene facettenreichere Ikonographie von griechisch-römischer Mythologie induziert scheint. Im anschließenden Absatz (II) sollen daher drei nahezu unbekannte Seiten Adams gezeigt werden: der Stammvater als Heros. Zwar duldet er wie Sisyphos die harte Arbeit, zu der er lebenslang verurteilt ist. Man kann ihn sich allerdings auch als halbglücklichen Menschen vorstellen, der sich in seine Bestimmung – nun als Souverän und nicht als willfähriges Kind Gottes – gefügt hat.1 Nach dem Vorbild des griechischen Heros Orestes weigert er sich in spanischen Beispielen sogar, kampflos gegen die Sündenschlange aufzugeben. Schließlich agiert er häufig als Kreuzesträger Christi, bevor dieser als »neuer Adam« (1 Kor 15,22) ihn und alle seine Nachfahren durch den Tod am Kreuz erlöst; diese ›Stammhalterschaft‹ vollbringt er, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in der antiken Figura des Atlas.2 1 Obwohl er auf spätantiken Darstellungen auf einem Felsen sitzend oft wie Dürers grübelnde Melancholia über das Geschehene zu sinnieren scheint, zeigt selbst das Brüten seine neu erworbene Souveränität eigenständigen Denkens außerhalb des Paradieses, in dem er nicht denken musste. Vgl. z. B. Aleida Assmann, Die Weisheit Adams, in: Dies. (Hg.), Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III, München 1991, 305–324, hier v. a. 307. 2 Zum Terminus der Figura vgl. auch die Begriffsschärfung auf der Konferenz »Figura. Ästhetische und mediale Aspekte einer Denkform in der Vormoderne«, veranstaltet von Klaus Krüger und Tanja Michalsky, Rom 18.–19.05.2017.

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Analog wird im darauffolgenden Absatz (III) die These von der Stammmutter Eva als Spiegelfigur zur mythischen Weberin Arachne aus Lydien vorgestellt. Im abschließenden Absatz (IV) wird diese provokative Behauptung untermauert, indem die Ikonographie der Muttergottes Maria mit Spinnrocken, die vertraut, aber bislang nicht hinreichend erklärt ist, aus eben dieser Arachne-Mythologie der Antike abgeleitet wird. Selbstverständlich bleibt die christliche Mythenrezeption über die lange Dauer des sogenannten Mittelalters nicht gleich. Eine Binnendifferenzierung der unterschiedlichen Phasen ist notwendig. Als Hypothese seien entlang von Paradigmenwechseln hier drei zeitliche Großräume vorgeschlagen: Erste Phase, 4. bis 6. Jahrhundert: In dieser Zeit ist die Christianisierung trotz Kaiser Konstantins Religionstoleranz-Edikt von Mailand 313 und der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion durch Kaiser Theodosius I. im Jahr 380 und 392 noch lange nicht abgeschlossen. Große Teile der Bevölkerung des Römischen Reichs und seiner Nachfolger sind Nicht-Christen und leben parallel zu den Christen, die selbst integraler Teil des antiken Oikos sind. Die ursprüngliche Bildlosigkeit des Christentums ist in diesen Jahrhunderten längst aufgegeben,3 weil sich Bilder als überzeugendste „Missionierungsinstrumente“ erwiesen haben.4 Um die in einer hellenistischen Welt Sozialisierten zu missionieren, werden ihre Mythen zur ›Missionierung‹ adaptiert, was bislang von der Forschung als verschmelzender ›Synkretismus‹ bezeichnet wurde. Dieser Begriff trifft allerdings auf eine Vielzahl von Bildern, die in christlichen Komplexen entstehen, nicht zu – die Taufanlagen des 4. bis 6. Jahrhunderts beispielsweise zeigen oft derart wenig oder keinerlei christliche Ikonographie, das sie ohne den Kontext einer benachbarten Kirche bisweilen nicht einmal sicher als christliche Baptisterien zu identifizieren sind. Offensichtlich sollten die zu Missionierenden nicht abgeschreckt werden; vielmehr bot die Kirche ihnen niedrigschwellig vertraute Ikonographien (in einigen Baptisterien wird der pagane Heros Bellerophon gezeigt, der die Chimeira besiegt),5 um zu verdeutlichen, dass ihr bisheriges Leben nicht etwa ›falsch‹ war, sondern hinter den 3 Bekanntlich sind in den ersten beiden Jahrhunderten nach keine christlichen Bilder in Katakomben oder andernorts sicher zu identifizieren oder zu datieren. Um 200 hingegen ist die Redaktion der Bibel in ihrem heutigen Inhalt und dem typologischen Verweissystem größtenteils abgeschlossen, so dass die Bildinventionen auf Basis dieses Textes beginnen. Vgl. Lieselotte Kötzsche-Breitenbruch, Die neue Katakombe an der Via Latina. Untersuchungen zur Ikonographie der alttestamentlichen Wandmalereien, Münster 1976 (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 4.1976), 13–15, Liselotte Thelen, Christliche Malerei aus christlichen Katakomben, Berlin 1965, 6 sowie Arne Effenberger und Hans Georg Severin, Das Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst, Mainz 1992, 14–15. 4 Unter vielen hat der Alttestamentler David Carr wiederholt betont, dass viele der so vertrauten und als selbstverständlich empfundenen christlichen Bilder wie der Apfel als verbotene Frucht oder die Sündenfall-Schlange als Satan der Versuchung keinerlei Textgrundlage in der Bibel haben, sondern reine Erfindungen und Vorgriffe der Kunst mit oft antiker Bildtradition sind, die auch deshalb rasch zu Erfolgsmodellen werden. Vgl. David M. Carr, Einführung in das Alte Testament. Biblische Texte – imperiale Kontexte, Stuttgart 2012, hier v. a. 37–38. 5 Für den Fall des paganen Heros Bellerophon, der im Baptisterium I von Mértola aus dem 6. Jh. die Chimeira tötet, vgl. Stefanie Lenk, Iberian Christians and the Classical Past. The Baptistery of Milreu/ Estói (Algarve) at the End of Late Antiquity, in: Transformatio et Continuatio. Forms of Change and Constancy of Antiquity in the Iberian Peninsula 500–1500, hg. v. Horst Bredekamp und Stefan Trinks, Berlin/ Boston 2017, 63–91, hier v. a. 82–83.

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vertrauten Mythenbildern ›nur‹ eine andere, größere Wahrheit steht.6 Weil in dieser langen Missionierungsphase entsprechend zwei Mythologien – die Bibel könnte zu den religionsmythologischen Texten gezählt werden – parallel laufen, soll für diesen bemerkenswerten Vorgang der genauere Begriff des ›Mythenparallelismus‹ vorgeschlagen werden. Dieser ›Mythenparallelismus‹ ist dabei nicht zu verwechseln mit Warburgs Mnemosyne-Figurae in seinem Atlas, in dem die Mythen keinen inhaltlichen Einfluss auf die Bilder haben; bei Warburg bleibt eine Mänade nur der Form nach eine Mänade, wenn sie in einem christlichen Kontext aufgegriffen wird, während Arachne nicht notwendigerweise in ihrer Form durch die christliche Eva-Figur aufgenommen wird, sondern gerade in ihrem mythologischen Gehalt. Zweite Phase, 6. bis 12. Jahrhundert: Ohne dass Missionierungen in größerem Umfang noch nötig wären, setzen sich antike Mythen parallel fort. In bestimmten Regionen wie dem zu weiten Teilen arabisch besetzten Spanien mit Legitimationsproblemen einer Antike-Kontinuität oder am Pilgerweg nach Santiago de Compostela findet sich das ›heroische‹ Element vieler Mythen sogar gesteigert. In der sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts kommt es zu einer Art Dignifizierung des Mythenparallelismus, der als Ausweis einer unverfälschten Antike angesehen wird. Dritte Phase, 13. bis 15. Jahrhundert: In dieser Hochphase der Allegorese allgemein und der aufwendig illuminierten Ovide-moralisé-Ausgaben im Besonderen erscheinen überraschend wieder Mythenbilder aus der ersten Phase, ohne dass von einer kontinuierlichen Vermittlung ausgegangen werden kann. Einige Vertreter der Volkskunde und Kulturanthropologie, die sich in besonderem Maße möglichen Überlieferungswegen von Wissen und Gebräuchen – auch aus der Antike – widmen, haben wiederholt die Frage gestellt, wie diese spätmittelalterlichen Spiegelphänomene antiker und christlicher Mythologie aus gleichsam heiterem Himmel und noch ohne Renaissance-Anspruch zu erklären wären. Sie haben weitsichtig erkannt, dass die unausgesetzte Tradierung und Lektüre der Wissensbestände des Altertums vor allem durch die Kirche selbst gewährleistet wurde.7 Exakt diese Institution, die ihrerseits aus der Antike stammt, bewahrte treuhänderisch nicht etwa nur die Quellen aus ihrer eigenen Entstehungszeit auf, sondern auch das gesamte Substrat, aus dem diese entsprangen. Der Anspruch des ›Allumfassenden‹ schloss offenbar die Konservierung des gesamten antiken Rahmens der Christuszeit wie auch der verehrten Kirchenväter mit ein. 6 Überraschenderweise besteht in dieser ›Eingemeindungsphase‹ selbst bei den rigideren Kirchenvätern, von denen die Texttheologie dieser Zeit stammt, meist eine Grundsympathie für allgemeingültige Deutungsmuster menschlicher Inferiorität, die ebenfalls mit in die neu entstehenden Ikonographien genommen werden. 7 Stellvertretend zitiert sei, weil er sah, dass allein mit dem Begriff des Synkretismus oder der Absorption das plötzliche Auftauchen unveränderter antiker Phänomen nach Jahrhunderten nicht erklärt werden kann: Walter Hartinger, Religion und Brauch, Darmstadt 1992, 20: »[…] daß mit einem Weiterwirken religiös motivierten Wissens der Antike in die christliche Zeit hinein gerechnet werden muß, ohne daß es dabei in jedem Fall zu einer völligen Absorption durch die herrschende Religion gekommen wäre. Als entscheidend sehe ich an, daß dieses Wissen schon in der Antike eingemündet war in die Schriftlichkeit [21] und damit konserviert wurde. Es konnte dadurch immer wieder Wirksamkeit und Leben entzünden, auch wenn es einmal über Generationen hinweg nicht im vitalen Kult und im Volksbrauch präsent gewesen ist.«

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In allen Phasen soll dabei nicht auf theologische Texte, sondern auf Bilder und größere Denkmälergruppen unter Aspekten der Funktion, der Gattung und der Kulturregion fokussiert werden, da vorzugsweise Bilder zur ›Missionierung‹ eingesetzt wurden, Theologen sich aber nur selten schriftlich zu ihren Missionierungsstrategien äußern. Ausgehend von Ferdinand Pipers treffendem Begriff der »monumentalen Theologie«,8 der nicht im Sinne von Maßstäblichkeit gemeint ist, vielmehr alle memorierenden Bilder und Objekt-Monumente (von Lateinisch monere, erinnern) bezeichnet, die im Christentum zur Überzeugungsarbeit eingesetzt wurden, sollen die Mythen in ihrer Inanspruchnahme durch eine derartige monumentbasierte Bild-Theologie verfolgt werden. Antike und christliche Mythen konnten im ›Mittelalter‹ demnach parallel laufen, ohne sich zu überschneiden. Dennoch gab es häufig einen gewissermaßen osmotischen Austausch. Dieser Mythenparallelismus wird im Folgenden am Beispiel der Stammeltern und ihrer möglichen Parallelbilder aus der griechisch-römischen Mythologie gezeigt.

II. Der heroische statt des apathischen Adam Ein im 11. Jahrhundert im Klosterkreuzgang von Santa María de Husillos im Königreich Palencia oberirdisch aufgestellter Sarkophag des 2. Jahrhunderts n. Chr. mit Orestie-Darstellung kann emblematisch für den hier vorgeschlagenen Mythenparallelismus stehen (Farbabb. 23).9 Wie mit einer Zeitmaschine scheint der römische Sarkophag in den romanischen Kreuzgang versetzt, wo er seit dem 10. Jahrhundert als Grablege diente und bei einem Kirchenkonzil 1088 von allen spanischen Entscheidungsträgern gesehen, bewundert und offenbar zu kopieren befohlen wurde.10 Der spanische Kunsthistoriker Serafín Moralejo Álvarez entdeckte 1973, dass in der nahe gelegenen Kirche San Martín de Frómista ein Kapitell den Sarkophag ungewöhnlich direkt zitiert.11 Bis heute wurden an die 50 weitere Zitate nach Vorlage des antiken Sarkophags am Pilgerweg nach Santiago de Compostela gefunden.12 Auf dem gut sichtbaren Kapitell am Chorbogen von San Martín de Frómista (Farbabb. 24) kann das zentrale Paar als Adam und Eva gelesen werden, da beide nackt sowie aufeinander bezogen sind und sich gegen eine Schlange wenden.13 Furios wirkt dabei, wie der romanische 8 Vgl. Ferdinand Piper, Einleitung in die monumentale Theologie. Eine Geschichte der christlichen Kunstarchäologie und Epigraphik. Mit einer Einleitung von Horst Bredekamp, Mittenwald 1978 (Neudruck von Gotha 1867). 9 Stadtrömischer Sarkophag mit Darstellung der Orestie, ca. 160/170 n. Chr., Madrid, Museo Arqueológico Nacional, Inv. 2839, weißer Marmor, Höhe 58 cm, Länge 2,02 m, Tiefe 65 cm. 10 Die Geschichte des Sarkophages als Grablege findet sich in Walter Trillmich u. a. (Hg.): Hispania antiqua. Denkmäler der Römerzeit, Mainz 1993, 404–405. 11 Vgl. Serafín Moralejo Álvarez, Sobre la formación del estilo escultórico de Frómista y Jaca, in: Actas del XXIII Congreso Internacional de Historia del Arte (Granada 1973), Bd. I, Granada 1976, 427–434, hier 428–429. 12 Vgl. Stefan Trinks, Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago (actus et imago IV), Berlin 2012. 13 Das Original des bei der Restaurierungskampagne von 1894 bis 1904 durch eine Kopie ersetzten Kapitells wird heute im Museo Arqueológico Provincial in Palencia aufbewahrt. Die Vorderseite des Origi-

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 131

1 Meister des Nordportals von San Isidoro de León, Kapitell, Opfer Kains und Abels sowie Bestrafung Kains durch eine Schlange, ca. 1090, Stein, Bryn Athyn, Glencairn Collection

Bildhauer für die am Boden Kauernde eine Figur des römischen Orestes-Sarkophags im Geiste dreht und durch ihre gewendete Positur auch ihre Aussage verändert.14 Ein besonderes Anliegen scheint dem Skulpteur das Sichtbarmachen von Sünde zu sein, denn neben der Schlange der Versuchung zeigt er weitere Figuren, die dem Paar von unten eine Schlange entgegenhalten oder durch ihr im Vergleich zu Adam und Eva wilder gegebenes Haar und ihr Verbergen hinter aufgespannten Tüchern suspekt und übelwollend wirken; obwohl die Bibel keine anderen Beteiligten am Sündenfall außer Adam und Eva nennt, erscheinen in legendarischen Ausschmückungen der Szene weitere Dämonen. Wie sehr dieser Kampf Adams und seiner Nachkommen gegen Schlangen am Pilgerweg ausgeweitet wurde, zeigt ein stilistisch und ikonographisch wohl aus der Nordportal-Werkstatt von San Isidoro in León stammendes Kapitell der Glencairn Collection in Bryn Athyn (Abb. 1). Auf der Kapitellstirnseite bringen Adams Söhne Kain und Abel Gott ihre Opfergaben dar. Während jedoch Abel auf der linken Kapitellschmalseite friedvoll von drei Schafen seiner Herde begleitet nals wurde offenbar bei den Bau- und Versetzungsarbeiten in San Martín de Frómista beschädigt. Vgl. Horst Bredekamp, Romanische Skulptur als Experimentierfeld, in: Spanische Kunstgeschichte. Eine Einführung, Bd. 1: Von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit, hg. v. Sylvaine Hänsel und Henrik Karge, Berlin 1992, 101–112, v. a. 105. 14 Vgl. ebenda, 105.

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wird, aus der er im Begriff ist zu opfern, wird Kain auf der rechten Kapitellseite von einer Schlange angegriffen und in den Hinterkopf gebissen, die sich aus dem Maul einer Raubkatze windet. Weil Kain im Moment des Opferns die Todsünde des Neids auf seinen Bruder begeht, dessen Opfergabe von Gott angenommen wird, greift ihn wie schon seinen Vater Adam auf dem Frómista-Kapitell die Sündenschlange direkt an. Das spanische Kapitell der nordamerikanischen Sammlung reagiert damit auf den Orestes-Sarkophag oder auf das Kapitell in San Martín de Frómista. Mit dem Mord an seinem Bruder Abel kommt der Totschlag in die Welt; die Rache Gottes erfolgt hier nicht in Form des in der Bibel unspezifiziert gebliebenen Kainsmals, sondern in Gestalt der Schlange, die Kain wie Orestes auf dem Sarkophag verfolgt. Auf dem Kain-und-Abel-Kapitell der Glencairn Collection sind damit ebenso mehrere Ereignisse simultan dargestellt wie auf dem Adam-und-Eva-Kapitell in San Martín de Frómista. Wichtig scheint es, dabei festzuhalten: Frómista, gelegen in Palencia etwa auf der Hälfte des Pilgerwegs im räumlich kleinen, christlich verbliebenen Zentral-Nordspanien, pflegte gute Handels- und Geschenkbeziehungen zu den muslimischen Taifa-Teilreichen und ihren Übersetzerschulen sowie Klassiker-Bibliotheken mit Antikebeständen, aus denen man Wissen über römische Mythologie schöpfen konnte. Die Orestie des Aischylos war nach heutigem Kenntnisstand jedoch nicht darunter. Eine weitere erstrangige Quelle für antike Mythologie ist für die Iberische Halbinsel Isidor von Sevilla. Der spätantike Bischof führt Orestes in seinen 20 Bänden der Etymologiae, der umfassendsten Antiken-Enzyklopädie des gesamten Mittelalters, immerhin zwei Mal auf. Aus einer Nennung wie »Corinthum in Achaia condidit Corinthus Orestis filius« im 15. Buch der Etymologiae (XV,1,45) allerdings konnte nicht auf die Ikonographie der Orestie geschlossen werden. Und obwohl auch der nordafrikanische Autor Dracontius im 5. Jahrhundert Teile von Aischylos für das Mittelalter modifiziert hatte, war mit den Fragmenten die komplexe Erzählung des Sarkophags nicht zu entschlüsseln.15 Erst Goethe gelang im Jahr 15 Euripides war dem Mittelalter nicht geläufig, doch finden sich bei Chalcidius im Timaioskommentar einige Referenzen aus den Tragödien, deren Echo im 12. Jh. von der Forschung bislang nahezu nie gewürdigt wurde. Therese Martin hingegen geht von einem festen Wissen um Euripides’ Orestie aus, leider ohne eine konkrete Text-Überlieferung über Klosterskriptorien nachweisen zu können wie beispielsweise die Orestis tragoedia des Dracontius von Karthago vom Ende des 5. Jhs. n. Chr., vgl. Therese Martin, Escultura románica para un público laico. El „Maestro de las Orestiada“ de Frómista y sus contemporáneos, in: San Martín de Frómista, ¿paradigma o historicismo? (Actas de las Jornadas celebradas en Frómista los días 17 y 18 de septiembre de 2004), hg. v. José Manuel Rodríguez Montañés, Valladolid 2005, 71–83, hier 77. Währenddessen betonte Lutz Walther: »Im westlichen Mittelalter taucht die Figur des Orest hauptsächlich in mythologischen Handbüchern auf, in Byzanz gehört der Orestes des Euripides zum Schullektürekanon.« Vgl. Lutz Walther (Hg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Leipzig 2004, 174, leider ohne Nachweise möglicher Rezeptionswege. Obwohl Isidor von Sevilla als der für Spanien wesentliche Vermittler antiken Wissens in das Mittelalter Orestes zweifach nennt, konnte aus diesen Stellen ohne weitere Kenntnisse unmöglich die Ikonographie des Sarkophages erschlossen werden. Die toponomastisch-geographischen Erläuterungen finden sich in Isidors zwanzigbändigem Hauptwerk, den Etymologiae (im Folgenden abgekürzt als: Etym.), in Buch XIV und XV: »Epirus a Pyrrho Achillis filio cognominata cuius pars Chaonia, quae antea Molosia dicta est, a Moloso filio Pyrrhi quem de Andromachi habuit. Sed postquam occisus est Pyrrhus Orestis insidiis« (Etym. XIV,4,9), sowie »Corinthum in Achaia condidit Corinthus Orestis filius« (Etym. XV,1,45).

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 133

1786 unter dem Einfluss Winckelmanns anhand des Vatikanischen Orestes-Sarkophags, der bis dahin noch falsch gedeutet worden war, die korrekte Identifizierung.16 Die Orestes-Mythologie wurde im Frómista des 11. Jahrhunderts also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erkannt. Der fast identisch wie der zentrale Sarkophagschwertkämpfer aussehende Pylades wurde offenbar als vermeintliche Simultandarstellung unterschlagen, die sich entsetzt abwendende Frau hingegen ernster genommen als auf den Sarkophag, auf dem sie ›nur‹ die Amme und Ziehmutter Orests ist, die sich von dessen Mord an seiner leiblichen Mutter Klytaimnestra mit Grausen abwendet. Der Bildhauer in Frómista kannte offensichtlich ältere, vielleicht frühchristliche Eva-Darstellungen, auf denen sich Eva mit der antiken Geste der Magd Nodriza vom Grauen des Sündenfallgeschehens abwendet.17 Auf dem Kapitell wurden Mann und Frau des Sarkophags zu den Protagonisten, in der hier vorgeschlagenen Deutung zu Adam und Eva. Als Hoffnung auf Gottes Beistand gegen äußerste Bedrängnis konnte bei diesem allegorischen Kapitell mit den Zeichen Schwert und Schlange stets auch an den biblischen Kernsatz bei Jesaja in dem dort beschriebenen »Gericht über die Feinde« am Ende der Tage gedacht werden, das den Leviathan, der mit dem Schwert zu bekämpfen sei, als Erzübel gleich zweifach in seiner Eigenschaft als Schlange – blitzschnell und sich windend – betont: »An jenem Tag bestraft der Herr mit seinem harten, großen, starken Schwert den Leviatan, die schnelle Schlange, den Leviatan, die gewundene Schlange.«18 Die auf dem Kapitell wohl vollzogene interpretatio christiana des Sarkophags hatte durchaus einen Nutzen: Die nichtsdestotrotz enge Orientierung an der Antike hat in der Rezeption dieser frühesten romanischen Frómista-Skulpturen von etwa 1080 in verschiedenen Kirchen des südwestfranzösisch-spanischen Jakobswegs eine deutlich heroischere Adams-Ikonographie bewirkt. Zugleich wurde durch diesen Dammbruch des Tabus eines aktiv-kämpferischen Stammvaters statt eines apathisch über die Vertreibung Trauernden die narrative Variationsbreite immer stärker ausgeweitet. Wie zu sehen sein wird, bedienten sich die Künstler hier bei ›Mustern‹ antiker Mythographie. Die gigantische Pilgerkirche von Saint-Sernin im südwestfranzösischen Toulouse (Abb. 2) ist extra muros in den alten Circus des römischen Tolosa hineingebaut. In der Erbauungszeit 16 Die verspätete Identifizierung der numerisch kleinen Gruppe stadtrömischer Sarkophage mit OrestesDarstellungen sollte ihre Fortsetzung finden: Noch Winckelmann hatte die zentrale Szene eines OrestesSarkophages in der Galleria dei Candelabri als Mord an Agamemnon und Kassandra gedeutet, vgl. Johann Joachim Winckelmann, Monumenti Antichi Inediti, Rom 1767, 193. Erst im Jahr 1786 gelang es dem Historiker und Archäologen Arnold Heeren anhand des Orestes-Sarkophages des Museo Pio Clementino, das Sujet richtig als Aischylos’ Oresteia zu deuten, vgl. Arnold Heeren, Commentatio in Opus caelatum antiquum Musei Pii Clementini, Rom 1786. Diese Deutung nahm Goethe für seine Iphigenie umgehend auf und sorgte damit für ihre weite Verbreitung. Zur Rezeptionsgeschichte des OrestesSarkophages aus der sogenannten Tomba della Medusa in Rom und der Orestie insgesamt vgl. Ruth Bielfeldt, Orest im Medusengrab. Ein Versuch zum Betrachter, in: Mitteilungen des DAI-RA 110 (2003), 117–150, hier v. a. 123. 17 Ebenfalls im 11. Jh. erscheint dieser Gestus des Grauens und des Schutzsuchens vor der Vertreibung auf den berühmten Salerno-Elfenbeinen, vgl. Adolph Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen. Aus der romanischen Zeit XI.–XIII. Jahrhundert (Bd. 4), Berlin 1926, Tafel XLII und Francesca Dell’Acqua, Anthony Cutler, Herbert L. Kessler u. a. (Hg.), The Salerno Ivories. Objects, Histories, Contexts, Berlin 2016, 259. 18 Jes 27,1.

134  Stefan Trinks

2 Basilika Saint-Sernin de Toulouse im ehemaligen römischen Hippodrom von Tolosa aus der Vogelperspektive, ab 1077, Ziegel- und Haustein,

der dem spätantiken Märtyrer Saturninus geweihten Basilika, dem 11. Jahrhundert, ging der Pilger durch das nördliche Stadttor hinaus durch die noch nicht völlig überbauten Ränge der ehemaligen Arena hindurch auf das ›mittlere Stadt-Portal‹ der Kirche, die sogenannte Porte Miègeville von um 1080, zu (Farbabb. 25).19 Dort sieht der Besucher der Basilika im rechten Gewände zuerst die Vertreibung der Stammeltern durch den Engel mit dem wie auf dem Orestes-Sarkophag erhobenen Schwert. Sodann entdeckt er den horizontal in dichten Ranken gelagerten Adam (Abb. 3), der sich vor dem Engel zu verbergen sucht. Die Darstellung Adams in Ranken nach dem Sündenfall ist im europäischen Maßstab selten, kommt aber im Kontext des Pilgerwegs und im 11. Jahrhundert gehäuft vor, wie eine Illumination im ebenfalls aus diesem Jahrhundert stammenden englischen Hexateuch Cotton Ms. Claudius B.IV mit der Szene des Verbergens der Stammeltern vor Gottvater erweist (Farbabb. 26).20 Möglicherweise konnten die sich schlangenartig windenden Ranken ebenso als unmittelbar eingängiges Bild für die Verstrickung in Sünde 19 Zu Saint-Sernin und insbesondere der Porte Miègeville umfassend ist Daniel und Quitterie Cazes, Saint-Sernin de Toulouse. De Saturnin au chef-d’œuvre de l’art roman, Graulhet 2008. 20 Für die Handschrift vgl. Benjamin C. Withers, The Illustrated Old English Hexateuch, Cotton Ms. Claudius B.iv. The Frontier of Seeing and Reading in Anglo-Saxon England (Studies in Book and Print Culture), Toronto 2007.

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 135

3 Gelduinus-Werkstatt, Porte MiègevilleKapitell, Vertreibung der Stammeltern aus dem Paradies und liegender Adam mit Tuch, Ende 11. Jh., Stein, Toulouse, Saint-Sernin

stehen, wie sie für den Pilger als tapferer Homo viator in der Nachfolge Adams die real zu durchkämpfenden, weil im Mittelalter noch urwaldartig dichten Waldgebiete auf seiner Wallfahrt spiegelten. Das Tuch in der Hand des wie stürzenden Adams blieb bis heute rätselhaft, erklärt sich aber ebenfalls über den Orestes-Sarkophag, auf dem dessen Gefährte Pylades, für den mittelalterlichen Betrachter vermutlich Adam in kontinuierender Darstellung, den Gewandstoff vom Körper des getöteten Aigisthos abzieht (Abb. 4). Es handelt sich um den wie bereits auf dem Frómista-Kapitell um seine Achse gedrehten heroischen Kämpfer, der die Hand seines angewinkelten linken Arms auf dem Sarkophag ebenso zur Faust ballt wie der ToulouseAdam mit einer Fausthand verbissen in das Tuch mit seinen in beiden Fällen langen Zugfalten greift; der linke Arm hingegen, der auf dem Heroensarkophag erneut das Schwert halten kann, weil das Tuch über die Stuhllehne des Aigisthos gestülpt ist, spannt im romanischen Zitat aktiv das prekäre Heilstuch als Zeichen der durch den Sündenfall verlorenen Unschuld auf. Anders aber als in der Jakobswegskirche San Martín de Frómista, in der die Pilger plakativ mit drei weiteren Sündenfallkapitellen konfrontiert wurden,21 existiert auf Augenhöhe in 21 Für Abbildungen und Besprechungen der auffälligen vierfachen Repetition des Sündenfall-Mythos vgl. Stefan Trinks, Der außergewöhnliche Adam. Ikonographische Sonderfälle aus dem adamitischen Leben

136  Stefan Trinks

4 Stadtrömischer Meister, Orestes-Sarkophag, Pylades-Adam zieht Heilstuch von Totem (seitenverkehrt), ca. 160/170 n. Chr., weißer Marmor, Madrid, Museo Arqueológico Nacional

Saint-Sernin de Toulouse kein weiteres Kapitell mit Stammeltern-Ikonographie. Wohl aber findet sich auf der ausladenden, im Mittelalter zugänglichen und für den Pilgerverkehr genutzten Empore des südlichen Seitenschiffs eine Ausweitung der Sündenfall-Kampfzone versteckt und wie an der Porte Miègeville in vegetabilem Ornament. Blickt man nach Betreten des südlichen Querhausarmes von Saint-Sernin durch die sogenannte Porte des Comtes auf die Stirnseite des Emporenkapitells, sind nur zwei Adler zu erkennen, deren Köpfe mit den hakenförmigen Schnäbeln sich unter den Helices selbst wie Voluten einzuschnecken scheinen. Ihr Gefieder ist ringsum mit einem Wulst abgesetzt und wie Dachschindeln geschuppt, was charakteristisch für die sogenannte Gelduinus-Werkstatt in Toulouse ist, die den auf kurz vor 1096 datierbaren Marmoraltar der Pilgerwegsbasilika geschaffen hat. Die kräftigen Schwingen des Adlers der Kapitellschmalseite (Abb. 5) indes verbergen einen am Rand der Kapitellsüdseite stehenden Nackten mit unverhülltem Geschlecht, dessen Zehen sich energisch in den Kapitellring wie in Erdreich graben. Der Nackte ist ausschließlich vom Emporengang aus sichtbar – aus der Richtung, in die er mit weit geöffneten Augen und aufam spanischen Pilgerweg, in: Grenzen überwindend. Festschrift für Adam Labuda zum 60. Geburtstag, Teil II, hg. v. Katja Bernhard und Piotr Pietrowski, Berlin 2006, 1–27.

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 137

5 Gelduinus-Werkstatt, Emporenkapitell-Südseite, Adam im Kampf gegen wilde Tiere, Ende 11. Jh., Stein, Toulouse, Saint-Sernin

einandergepressten Lippen blickt. Die scheinbar unbewegte Miene und die auf dem Flügel des Adlers locker aufliegende Hand verwundert umso mehr, als nicht nur ein weiterer, den Mann an Größe deutlich überragender Adler an der Kapitellecke diesem sein Haupt zuwendet, sondern dabei auch mit seinem spitzen Schnabel dem Gesicht des Nackten gefährlich nahe kommt. Der Doyen der französischen Romanik-Forschung, Marcel Durliat, dachte hier an Ganymed mit dem Jupiter-Adler.22 In den ausgestreckten rechten Arm des ausgewachsenen Mannes jedoch – es ist kein jugendlicher Ganymed – hat sich eine Raubkatze mit aller Kraft verbissen, deren strähnig in alle Richtungen abstehende Mähne und weit aufgerissene Augen von der Wucht des Angriffs künden. Das Bild wiederholt sich auf der Nordseite des Kapitells (Abb. 6) mit dem Unterschied, dass die durch langes Haar und stärker betonte Brust als weiblich Gekennzeichnete nicht die Hand auf dem Adlerflügel ruhen hat, sondern damit ihre Scham bedeckt.23 Obwohl das Raubtier ihren Arm bereits bis zum Schulteransatz 22 Vermutlich aufgrund des Adlers sah Durliat hier fälschlicherweise eine Anspielung auf den Raub des Ganymed, vgl. Marcel Durliat, Spanische Romanik, Würzburg 1990, 113. 23 Bei dieser charakteristischen Geste spricht Durliat von einer »idée d’impureté« und kann folglich in der sich vor Scham bedeckenden Frau keine Eva identifizieren, vgl. ebenda.

138  Stefan Trinks

6 Gelduinus-Werkstatt, Emporenkapitell-Nordseite, Eva im Kampf gegen wilde Tiere, Ende 11. Jh., Stein, Toulouse, Saint-Sernin

verschlungen hat, ist der Mund der Frau auch hier nicht zum Schrei geöffnet und die Augen fixieren starr den Betrachter. In der Pilgerwegskirche Saint-Sernin lässt ein nacktes Paar, bei dem sich der weibliche Part schamhaft bedeckt, an Adam und Eva denken. Seit dem Sündenfall standen die Geschöpfe der Welt, die Adam zuvor noch in Gottes Auftrag benannt hatte, wie auch die Natur selbst den Stammeltern feindselig gegenüber und drohten diese jederzeit zu verschlingen.24 Dies wird in dem im 11. und 12. Jahrhundert viel rezipierten, apokryphen Leben Adams und Evas plastisch geschildert.25 Als Adams dritter Sohn Seth zusammen mit seiner Mutter Eva für den kranken Vater aus dem Paradies heilendes Öl holen will, fällt ihn ein 24 Zu diesen Implikationen des Sündenfalls hat Kurt Flasch eine ebenso kompakte wie komplexe Studie vorgelegt, vgl. Kurt Flasch, Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, München 2004, v. a. 85. 25 Die zahlreichen, teils wörtlichen Übernahmen aus der Vita Adae et Evae in das auch in Spanien populäre, liturgische Schauspiel Ordo representacionis Ade, dem sogenannten Jeu de Adam oder Adams-Spiel, dessen ältestes erhaltenes anglo-normannisches Exemplar von Mitte des 12. Jhs. sich wahrscheinlich auf ältere Fassungen des 11. Jhs. zurückführen lässt, erweisen dies. Vgl. zuletzt: Robert L. A. Clark, Eve and Her Audience in the Anglo-Norman Adam, in: Sally McKee (Hg.), Crossing Boundaries. Issues of Cultural and Individual Identity in the Middle Ages and the Renaissance, Turnhout 2003, 27–39, hier 31.

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wildes Tier an und verbeißt sich in ihn. Eva klagt weinend das Tier an, worauf sie die entwaffnende Erwiderung erhält: »Eva, nicht gegen uns [richte sich] deine Anmaßung und dein Weinen, sondern gegen dich [selbst]; ist doch die Herrschaft der Tiere erst durch dich entstanden.«26 Das vielschichtige, unter völligem Verzicht auf Akanthuslaub oder Voluten allein aus Tier- und Menschenleibern aufgebaute Kapitell schlägt insbesondere deswegen in seinen Bann, weil es das bisher fehlende Glied in einer Kapitell-Kette der Ursünde bildet: von Toulouse auf französischer Seite nach Jaca in Spanien, weiter über Frómista bis Santiago de Compostela zeigt sich dem Pilger das selbstbewusste Ertragen äußerer Bedrohung an nacktem Leib und Leben durch wild gewordene Tiere und die nach dem Sündenfall insgesamt feindlich gewordene Umwelt beispielsweise in Form von menschenwürgenden SchlangenRanken. In stets neuen Inventionen wird in der Skulptur der Pilgerstraße durchgespielt, worauf der Blick der erlösungssüchtigen Pilger geradezu manisch gerichtet war: die existenzielle Neu-Orientierung der sündig gewordenen ersten Menschen in einer Interimszeit nach dem Sündenfall bis zur erhofften Auferstehung. Das Fehlen vorgeprägter Bilder für dieses Interim stachelte die Künstler der Pilgerstraße nicht allein zu Höchstleistungen der BildErfindung an, sondern es trieb sie auf der Suche nach allgemein formulierten und verständlichen Urbildern auch zu deren Quellen und damit fast notwendigerweise zu einer antiken Körperlichkeit und Nacktheit zurück: zu dem zugänglichen und gut sichtbaren Sarkophag mit einem nackten Paar und Schlangen im Klosterkreuzgang von Husillos. Dass diese außerbiblischen Darstellungen der ersten Menschen heute kaum überliefert sind, liegt wohl im Wesentlichen daran, dass die Kirche im Zuge der Eindämmung der apokryphen Schriften auch die meisten der auf diesen fußenden Darstellungen verbannt hat. Insbesondere in der gotischen Stilphase setzte auch in Spanien eine Flurbereinigung und Kanonisierung der Stammeltern-Ikonographie auf fast ausschließlich das Sündenfall-Thema ein, das durch die Betonung der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen den Absolutionsanspruch der Amtskirche zu unterstreichen vermochte. Das antike Formmuster des Sarkophags und seine christliche Deutung mit einem neoantiken Heros Adam liefen parallel und haben einander beeinflusst. Aber selbst ohne einen römischen Mythologiesarkophag als Vorbild werden viele mittelalterliche Adamsdarstellungen parallel zu anderen mythologischen Gestalten geformt, wie beispielsweise Atlas. Ein fester Ort Adams in der Ikonographie ist der Fuß des Kreuzes Christi. Als Schädel oder ganzfigurig in seinem Grab harrt er dort der Erlösung durch das Blut des Opfertodes Christi. Ein Holzkruzifix des 12. Jahrhunderts (Abb. 7) zeigt ihn muskulös und bärtig unter dem Kreuz als menschliches Suppedaneum.27 Obwohl sein gesamter Körper von der Last des Kruzifixes gestaucht wird, das wesentlich größer als er ist, stemmt er es als Atlant und ermöglicht so erst das Gelingen des Heilsplans der Erlösung. 26 Vgl. Emil Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudoepigraphien des Alten Testaments, Tübingen 1900, Bd. 2, 517. 27 Das um 1160 zu datierende Kruzifix aus Seckau wird heute im Ferdinandeum in Innsbruck aufbewahrt. Vgl. Ursula Düriegl, Die Fabelwesen von St. Jakob in Kastelaz bei Tramin, Wien/Köln/Weimar 2003, Abb. 6.

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7 Anon., Kruzifix aus Seckau mit Adam als Atlas, ca. 1160, Holz mit Fassungsresten, Innsbruck, Ferdinandeum

Eine weitere mythologische Parallele wurde bislang nicht in Betracht gezogen: Auch Gottes Bestrafung Adams mit lebenslangem Frondienst, der meist durch das Bearbeiten eines steinigen Ackers versinnbildlicht wird, könnte nach antik-mythologischem Vorbild gestaltet sein. Mit ›sinnloser‹ Arbeit – es gäbe ja ausreichend fruchtbare Äcker auf Erden – und ›steinigmühseliger‹ Fron sind jedenfalls die beiden zentralen Motive des Mythos von Sisyphos aufgerufen. Dieser wollte gleich Adam wie Gott sein und wurde für diese Hybris von Zeus mit der Pflicht bestraft, endlos einen Stein einen Berg hinaufzuschaffen, der stets wieder hinabrollt.28 Mit dem auf den steinernen Berg zurollenden Fels wird ein ähnliches Paradox gezeichnet wie mit dem in endloser Sisyphosarbeit zu bearbeitenden ewig steinigen Acker der Welt. Adam und Eva erscheinen im Mittelalter nahezu durchgängig als Paar, um die Bedeutung der Stammeltern für die Genealogie und Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit zu verdeutlichen. Die Stammmutter spielt eine ebenso wesentliche Rolle wie Adam auf der Pilger28 Allerdings merkt Berthold Hinz mit Recht an, dass in den antiken Sisyphosmythen wie demjenigen von Homer nicht genannt wird, wofür dieser bestraft wird. Betont wird hingegen, dass er als Vater von Odysseus ebenso listenreich wie die Götter ist und sie damit möglicherweise herausfordert. Zumindest maßt er sich deren maßlose Amoralie an, wenn er Odysseus zeugt, indem er Antiklea, die Enkelin des Gottes Hermes, vor deren Hochzeit mit Laertes vergewaltigt. Vgl. Berthold Hinz, Sisyphos, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (Der Neue Pauly, Bd. V), Stuttgart u. a. 2008, 662–664, hier 662.

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straße, die von Beginn an auch stark von Frauen frequentiert wurde. In Eva – so die These – wird wie in Adam gleichermaßen ein antiker Mythos eingewoben, der bislang keine Beachtung gefunden hat.

III. Eva als neue Arachne Evas Anmaßung lag darin, durch das Kosten vom Baum der Erkenntnis sein zu wollen wie Gott, das heißt diesen auf Augenhöhe zu ›durchschauen‹.29 Im griechischen Mythos begeht diese Hybris Arachne, welche die Göttin Athena zu einem Web-Duell herausfordert,30 wie es eine illuminierte Ovide-moralisé-Ausgabe aus der Werkstatt des Boucicaut-Meisters zeigt, in der Arachne am Webstuhl arbeitet und die bekrönte Göttin Athena ihr das Weberschiffchen an den Kopf schlägt (Abb. 8).31 Die zwei Gründungsmythen frei agieren wollender Menschen kulminieren tatsächlich beide in einer Art von ›Sündenfall‹ durch Hybris; beide Mythen sind etwa zur selben Zeit um die Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. entstanden und laufen wie der spanische Adam mit Orestes ebenfalls parallel.32 Im griechischen Mythos in der Fassung von Ovids Metamorphosen (Metam. VII, 115ff.) fordert die lydische Weberin Arachne,33 überzeugt von ihrer erworbenen Kunstfertigkeit, eine alte Frau zu einem Webwettbewerb heraus, die sich als die verkleidete Göttin Athena Minerva entpuppt (Farbabb. 27).34 Athena verewigt auf dem Bildteppich die Kämpfe der untereinander feindseligen Götter, insbesondere ihren Wettstreit 29 Der Alttestamentler Carr betont, dass es beim Sündenfall nicht um sexuelles Begehren oder Rebellieren ging, sondern allein um das Verlangen nach einer hypertrophen Weisheit, so intelligent sein zu wollen wie Gott. Vgl. Carr (wie Anm. 4), v. a. 37–38, 54 und 110. 30 Vgl. Christoph Schmälzle, Athena, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (Der Neue Pauly, Bd. V), Stuttgart u. a. 2008, 172–179. 31 Für die Handschrift vgl. Millard Meiss, French Painting in the Time of Jean de Berry. The Late Fourteenth Century and the Patronage of the Duke, Bd. II, London 1969, Abb. 370, Gabriele Bartz, Der BoucicautMeister. Ein unbekanntes Stundenbuch (Antiquariat Heribert Tenschert: Katalog. Nr. 42 = Illuminationen. Studien und Monographien. Bd. 1), Rotthalmünster 1999; Albert Châtelet, Les heures du Maréchal de Boucicaut, in: Monuments et mémoires, Bd. 74, 1995, 45–76 sowie Inès Villela-Petit, Le bréviaire de Chateauroux, Paris 2003. Für Hinweise zu dieser Miniatur sei Joris C. Heyder herzlich gedankt. 32 Entgegen der Erwartung, dass die Genesis als heute den Beginn der Bibel bildende Schöpfungsgeschichte der älteste Teil des Alten Testaments ist, wurde sie wohl erst in der israelitischen Krisenzeit der babylonischen Gefangenschaft des 6. Jhs. als gleichsam mythologischer Erklärungsversuch für den ›Sündenfall‹ des Exils verfasst. Vgl. Carr (wie Anm. 4), v. a. 37–38, 54 und 110. 33 Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/deutsch, hg. und übers. von Gerhard Fink, Mannheim 2010, 268–270 In Michael von Albrechts Deutung führt Arachnes nahezu übermenschlich perfektionierte technische Meisterschaft zum Verlust der Menschennatur, vgl. Michael von Albrecht (Hg.), Ovids „Metamorphosen“. Texte, Themen, Illustrationen (Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft), Heidelberg 2014, 113–115. 34 Die Entstehung und Rezeption des Arachne-Mythos ist meisterlich aufgearbeitet von Sylvie BallestraPuech, Métamorphoses d’Arachné. L’artiste en araignée dans la littérature occidentale (Histoire des idées et critique littéraire, 426), Genf 2006, v. a. 70–75.

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8 Werkstatt des Boucicaut-Meisters, Des cleres et nobles femmes, Ms L.A. 143, fol. 31v, Arachne und Athene im Wettstreit, ca. 1410, Deckfarben auf Pergament. Lissabon, Fundação Calouste Gulbenkian, Zustand vor 1967

mit Poseidon um Attika. Ebenso zeigt sie die bestrafende Verwandlung von Menschen in Tiere, von Menschen, die so frei und mächtig sein wollten wie die Götter und sich gegen diese erhoben haben. Im Zentrum des ›Weltentuches‹ prangt ihr Geschenk des ›Ölbaums der Erkenntnis‹ an die ihr Anempfohlenen als ›monumentales‹ Erinnerungszeichen daran, dass sie es gut mit den Menschen meine.35 Arachne hingegen webt in ihr Tuch als Anklägerin stellvertretend für die Menschheit nicht weniger als 17 Übergriffe der Götter auf Menschen und Nymphen insbesondere durch Athenas Vater Zeus, weshalb Arachne gleichsam als Kronzeugin in Ovids Metamorphosen eine große Rolle spielt. U. a. erscheint der Göttervater Zeus als Goldregen bei Danae, in Tiergestalt bei Europa, Leda, Proserpina und Asterie sowie als Feuer bei Ägina wie auch in Form von Wasser. Die Göttin, der von einem Menschen ihre eigene unrühmliche Geschichte und halb menschliche Abstammung ihrer Familie widergespiegelt wird, zerreißt das Wirktuch in rasendem Zorn,36 wie der christliche Gottvater den Tempelvorhang bei der Tötung 35 Vgl. Ovid (wie Anm. 33), 268. 36 »Über diesen Gegenstand entrüstet und neidisch zugleich wegen der Vortrefflichkeit der Ausführung, zerreißt die Göttin das Gewebe ihrer Nebenbuhlerin […].« Vgl. Wilhelm Heinrich Roscher (Hg.), Aus-

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seines Sohnes durch die Menschen entzweireißt, des Sohnes, der wie Athena einer Parthenogenese entsprungen war. Sie brandmarkt das Bildtuch als Hybris gegenüber den Göttern und bezichtigt Arachne der Anmaßung als Prätendentin gottgleichen Wissens um Gut und Böse, Gerechtigkeit und Tugend auftreten zu wollen. Arachne tötet sich selbst, die Göttin allerdings verdammt sie weiterzuleben und auf ewig an einem Fadenseil hängen zu müssen.37 Durch einen Zaubertrank der Unterweltsgöttin Hekate entmenscht sie Arachne auf ewig zur Spinne,38 die sich wie die Versucherschlange der Bibel auf dem Bauch fortbewegen muss, aus dem der Webfaden dringt: »[…] zur Seite hängen dünne Finger statt der Beine herab. Alles Übrige ist Bauch; aus diesem zieht sie den Faden und übt ihre alte Webkunst als Spinne.«39 Parallelen zur Eva der Bibel sind das Motiv der Versuchung, das eigene Können selbst als gut einzuschätzen, vor allem aber zu erkennen, dass die Götter es nicht gut mit den Menschen meinen und sie in künstlicher Abhängigkeit halten wollen. Selbst die Konsequenz ist ähnlich. Wie Eva durch das Kosten vom Baum der Erkenntnis sterblich wird, stirbt auch Arachne; beide wandeln anschließend ihre Gestalt,40 indem Gott der Eva ein Pelzgewand gibt, nach Gen 3,21 »fecit dominus deus Adae et mulieri eius tunicas pelliceas et induit eos«, »Gott der Herr machte dem Adam und seiner Frau Gewänder aus Pelz« (Abb. 9),41 während die Göttin Arachne mit dem ebenfalls pelzigen Körper einer Spinne straft (Farbabb. 27).42 Arachne muss als Spinne fortan ebenso unentwegt weben wie Eva, die ab dem Sündenfall führliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. 1. Aba – Hysminos, Leipzig 1884–1886, 470. 37 Die lebenslängliche Bestrafung erscheint schon deshalb unverhältnismäßig hart, weil die andere große Webfaden-Mythologie der Antike, Ariadne, von den Göttern befördert wird und für die Menschen positiv ausgeht. Vgl. Jas Elsner, Viewing Ariadne. From Ekphrasis to Wall Painting in the Roman World, in: Classical Philology 102, 2007, 20–44. 38 Katarzyna und Sergiusz Michalski bringen es mit Verweis auf die Etymologie des griechischen Wortes für Spinne auf die bündige Formel: »Ovid’s famous narrative in the Metamorphoses proposed – through the reference to the Lydian weaver Arachne – a personalized etymology of its Greek name, connecting the activity of the spider with the concept of weaving and artistic craft.« Vgl. Katarzyna und Sergiusz Michalski, Spider, London 2010, 10. 39 Vgl. Ovid (wie Anm. 33), 272. Zur Webkunst der Arachnea bis zu Velázquez’ Hilanderas und der Rezeption in der Moderne vgl. Sergiusz Michalski, The Spider and Its Web in the European Intellectual Tradition from Antiquity to Modern Times, in: Agents of Modernity, hg. v. Shai-Shu Tzeng, Taipei 2011, 1–31. 40 Zu dem zentralen Thema der Transgression vgl. Henriette Harich-Schwarzbauer, Over the Rainbow. Arachne und Araneola – Figuren der Transgression, in: Weben und Gewebe in der Antike/Texts and Textiles in the Ancient World: Materialität – Repräsentation – Episteme – Metapoetik/Materiality – Representation – Episteme – Metapoetics, hg. v. Henriette Harich-Schwarzbauer, Oxford 2015, 147–164 sowie grundlegend zur postovidischen Rezeption seiner Metamorphosen: Dies. und Alexander Honold, Carmen perpetuum. Ovids Metamorphosen in der Weltliteratur, Basel 2013. 41 Parallel hierzu findet sich die Einkleidung der Menschen durch eine Gottheit in eine zweite ›Pelle‹ auch in anderen Mythen des Altertums, so z. B. im Gilgamesch-Epos. Vgl. Carr (wie Anm. 4), 113. 42 Nachdem die Schlange als dezidiertes Heilssymbol in der griechisch-östlichen Welt nicht zur Umformung bereitstand, wurde im Arachne-Mythos die aversionsauslösende Spinne als ekelerregendes Hassobjekt eingesetzt. Vgl. Ballestra-Puech (wie Anm. 34), 374.

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9 Anon., Detail des Refektorium-Deckengewölbes, Die von Gott zwangseingekleidete Eva in Pelz mit Spinnroggen, ca. 1220, Fresko, Sigena, Nonnenkloster

nicht mehr unbekleidet sein darf und für den Rest ihres Lebens Kleidung zu weben hat. 43 Tatsächlich werden beide in Darstellungen nach dem Fall häufig als Webende gezeigt. So ist beispielsweise auf dem in seinen Dimensionen einzigartigen Zittauer Hungertuch von 1474 (Farbabb. 28), das während der Ostertage den gesamten Chorraum der Hauptkirche der Stadt verdeckte, das zur Karzeit verordnete ›Fasten der Augen‹ durch die bereits zur Entstehungszeit im Leinengewebe versickerten, also intentional gewollt blassen Leimfarben umgesetzt.44 Adam in kühlem Blau bearbeitet in einer kargen Hügellandschaft den steinigen 43 Hier zeigt sich die Permanenz der ›zweiten Haut‹ Kleidung, die wie eine Art präfiguriertes vestimentäres Kainsmal auftritt. Auch Evas Existenzform wird mit der stetigen Gewanderneuerung durch einen Perfomativ markiert. Typologisch wird einerseits das schuldhafte Tragen der selbstgewobenen Kleidung durch Eva, andererseits das Tragen des selbstverschuldeten Males bei Kain gegenübergestellt. Schließlich ist auch Kains Nicht-Akzeptieren-Wollen des göttlichen Urteils über das erbrachte Opfer ein Akt der Anmaßung und mündet in die Überkompensation durch die Ermordung des eigenen Bruders (das falsche Opfer). Das Verleihen des Kainsmals wäre demzufolge als ein Akt des Einkleidens in die externe sichtbare Zeichenhaftigkeit der Schuld zu begreifen; der Körper wird zum Bildträger von Schuld. Für diesen Hinweis und eine Diskussion der These bin ich Matthias Schulz zu großem Dank verpflichtet. 44 Das Tuch, das aufgrund seines monumentalen Formates unübersehbar im Chorraum prangte und durch die intendierte Leinensichtigkeit den Stolz von Arachnes Erben in der Weberstadt Zittau repräsentierte, wird heute im Städtischen Museum dortselbst aufbewahrt. Vgl. Friedhelm Mennekes (Hg.), Die Zittauer Bibel. Bilder und Texte zum großen Fastentuch von 1474, Stuttgart 1998.

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Boden mit einer Hacke und versucht ihn so von Unkraut zu befreien; Eva in einem leuchtend warmroten Gewand sitzt am Flachspflock mit einem Spinnrocken in ihrer nach unten genommenen rechten Hand. Auf dem stoffsichtig belassenen unteren Rahmenstreifen findet sich die Inschrift: »Hier adam ro[de]t und eva spinnt«. Diese Aussage auf dem Tuch konnte in ihrer Entstehungszeit des 15. Jahrhunderts während der Hussitenkriege und dann erneut im Bauernkrieg der 1520er Jahre erhebliche Sprengkraft besitzen. Ausgeweitet auf »Als Adam pflugt und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« zog es eine scharfe Grenze zwischen arbeitender Bevölkerung und von deren Erarbeitetem schmarotzenden Adel.45 Aufbauend auf dem Mythos der im Schweiße ihres Angesichts hart arbeitenden Stammeltern grenzte es sich gleichsam von den wie antike Götter in ewigem Müßiggang lebenden Adeligen ab. Vielleicht ist der vollständige Sieg der Feudalherrschaft mit der blutigen Verfolgung der Gegner und ihrer Bildzeugnisse der Grund für die relativ seltene Darstellung der arbeitstätigen Stammeltern im 15. und 16. Jahrhundert. Abgesehen von derart eingewoben-integrierten und damit bis zu einem gewissen Grad geschützten Darstellungen wie dem Hungertuch der Zittauer Kirche haben sie sich kaum erhalten. In einer wohlhabenden Stadt wie Zittau mit starkem humanistischem Substrat war Ovids zugrunde liegender Mythos der unentwegt arbeitenden Arachne bekannt. In den Stundenbüchern und Manuskripten dieser Zeit, die vom Adel oder diesem assimilierten Bürgern in Auftrag gegeben wurden, ist das Motiv der arbeitenden Stammeltern hingegen relativ selten zu sehen. Eine verbreitete Ikonographie in der Kunst aber ist, dass Maria als neue Eva die Hybris der Stammmutter aufheben muss und kann.46

IV. Eva–Maria als neue Athena–Minerva Auf den ikonischen Mosaiken von Santa Maria Maggiore in Rom (Farbabb. 29) aus der Mitte des 5. Jahrhunderts ist die Kirchenpatronin Maria so präsent wie nirgendwo sonst in 45 Vgl. Klaus Schreiner, „Si homo non pecasset ...“. Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen, in: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner und Norbert Schnitzler, München 1992, 41–84, hier v. a. 44–46. 46 Vgl. v. a. Ernst Guldan, Eva und Maria. Eine Antithese als Bildmotiv, Graz/Köln 1966 sowie Robert Suckale, Maria: Jungfrau – Mutter – Königin, in: Schöne Madonnen am Rhein (Ausst.-Kat. Bonn, Rheinisches Landesmuseum), hg. v. Robert Suckale, Leipzig 2009, 24–37, hier v. a. 28. Grundlage hierfür bildete bereits das Vaterunser, das Christus den Menschen in seiner Eigenschaft als Menschensohn stiftete: Zentral ist das »et ne nos inducas in temptationem«, »und führe uns nicht in Versuchung« nach der Inkarnation in Maria als neuer Eva. Aber auch auf die Männer als Nachfolger von Adam wird angespielt. In der lateinischen Version ist der Parallelismus zwischen dem Auftakt »Pater noster« und dem Beginn des zweiten Teils »Panem nostrum« stark betont. Das »täglich Brot« fällt nicht wie Manna vom Himmel, sondern wird vielmehr selbst erarbeitet; nur der Rest wie gutes Erntewetter muss von Gott gegeben sein. Eine ähnliche Selbstermächtigung und Umwertung gibt es auch mit der Schuldfrage. Es heißt zwar »et dimitte nobis debita nostra«, »Und vergib uns unsere Schuld«, aber auch wiederum parallelisiert »sicut et nos dimittimus debitoribus nostris«, »wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, das Vergeben durch die Menschen selbst wird ebenso wichtig.

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dieser Zeit.47 Das gesamte Mittelalter hindurch fungierte die Kirche in der vielbesuchten Heiligen Stadt Rom als Bildverteiler und inspirierte europaweit zahlreiche Rezeptionen.48 In der Szene der Verkündigung ist Maria in imperialer, edelsteinbesetzter Gewandung mit Diadem thronend bei der Verkündigung inmitten von Engeln gezeigt.49 Hinter ihrem Rücken ist der salomonische Bundestempel mit dem von ihr gewebten Tempelvorhang zu sehen. Aus einem Korb zu ihrer Rechten zieht sie lange purpurrote Stoffgirlanden hervor, während sie in die rechte Ellenbeuge den Spinnrocken geklemmt hat. Maria gegenüber steht ein Engel mit goldglänzendem Nimbusring und gerafftem Gewand, der mit einem Grußgestus der Rechten auf sie zuschreitet. Von oben aus einer Wolkenzone drängen ein weiterer Engel sowie eine weiße Taube auf sie herab. Durch die Konstellation aus der Taube des Heiligen Geistes und einem hervorgehobenen Engel wird klar, dass es sich um die Verkündigung an Maria handeln muss. Durch die prächtige Gewandung und den Kronreif ist sie als Regina coeli, als Himmelskönigin, ausgezeichnet, die zugleich parallel zu ihrer textilen Arbeit dem Gottessohn in der Incarnatio menschliches Gewebe verleiht, das metaphorisch als zweite Haut des ›nahtlosen Rocks‹ gefasst wird, um den die Soldaten bei der Kreuzigung würfeln.50 Typologisch sind das von Maria Christus verliehene Gewebe und der von ihr gefertigte Tempelvorhang derart eng verwoben, dass der Behang in genau dem Moment in der Mitte zerreißt, als ihr Sohn in menschlicher Hülle am Kreuz stirbt.51 Dies wurde erstaunlicherweise nur sehr selten in dieser Direktheit dargestellt. Die Parallelisierung zwischen dem am Kreuz absterbenden Gewebe des Christuskörpers und dem Gewebe des Tempelvorhangs vor der Bundeslade erscheint auf einem byzantinischen Kreuzigungsrelief des 11. Jahrhunderts aus Elfenbein, dem laut Hohelied (5,14b) idealen Stoff des Christusleibs: »Sein Leib ist aus Elfenbein.« Bei dem Relief hängt der Vorhang in einer Tempelabbreviatur zur Linken des Gekreuzigten und wird, sobald der gezeigte Lanzenstich des Longinus dessen Tod bestätigt hat, im nächs-

47 Vgl. Joseph Wilpert und Walter Schumacher, Die römischen Mosaiken der kirchlichen Bauten vom IV.– XIII. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1976, 51. 48 Vgl. z. B. Jas Elsner, Imperial Rome and Christian Triumph. The Art of the Roman Empire A.D. 100–450, Oxford 1998. 49 Wolfgang Kemp hat betont, dass die Maria am Triumphbogen von Santa Maria Maggiore im edelsteinbesetzten Gewand der römischen Konsuln erscheint. Damit ist sie zugleich in den ›Mantel der Geschichte‹ gehüllt, denn in den Gewändern der Konsuln fanden sich meist Bilder der kaiserlichen Ikonographie eingestickt, wie auf den elfenbeinernen Konsulardiptychen zu studieren ist. Vgl. Wolfgang Kemp, Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen, München 1994, 196. 50 Vgl. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München/Wien 1994, v. a. 189–191 sowie Stefanie Rinke, Das „Genießen Gottes“, Medialität und Geschlechterkodierungen bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen, Freiburg i. Br./Berlin 2006, hier vor allem das Kapitel zur »Medialität von Spiegel und Gewand« im Kontext der Inkarnationstheologie und dort der Unterpunkt »Das schöne Gewand«, 187–198 und 234. 51 In vielen Sprachen ist nicht zufällig der Begriff für textiles wie körperliches Gewebe derselbe, was sich vermutlich durch die gemeinsame Abkunft aus der archaischen Verquickung von erster und zweiter Haut des Menschen erklärt, vgl. zur Herkunft des biologischen Gewebes aus dem altgriechischen Stoffgewebe John Scheid und Jasper Svenbro, The Craft of Zeus. Myths of Weaving and Fabric, Cambridge/ Mass. u. a. 2001, 157–160.

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10 Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, fol. 150, Kreuzigung mit rahmenden Tempelvorhängen, 1175– 1191, Deckfarben auf Pergament, ehem. Straßburg, Stadtbibliothek

ten Moment wütend von Gottvater zerrissen werden, wie Athena zornig das Gewebe der Arachne zerriss.52 Auf der figurenreichen Kreuzigungsdarstellung des 1175 bis 1191 entstandenen Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg (Abb. 10) flankieren zwei Vorhänge den soeben verstorbenen Gekreuzigten, aus dessen Seitenwunde die auf dem Tetramorph reitende Ecclesia das Blut im Kelch auffängt.53 Beide Vorhänge sind markant geschlitzt, so dass sie die Verwundung Christi stofflich spiegeln. Da nicht zu entscheiden ist, ob die heute überlieferte Farbigkeit der ursprünglichen des verlorenen Manuskripts entspricht, können die Vorhänge ebenfalls fleischfarben oder rot gedacht werden. In jedem Fall handelt es sich um den Tempelvorhang, den Christi Mutter Maria als aus dem Wettbewerb siegreich hervorgegangene Jungfrau gewebt hat, wie sich auch an dem Detail der in der biblischen Beschreibung des Stoffes vor der Bundeslade ausdrücklich erwähnten Ringe zeigt, mit denen der Stoff auf der

52 Verf. hat hierzu seine Habilitationsschrift vorgelegt: Stefan Trinks, Glaubensstoffe und Geschichtsgewebe. Belebte Tücher in mittelalterlicher Skulptur und Buchmalerei, Berlin/Boston (erscheint vorauss. 2018), 95. 53 Aus der umfangreichen Literatur zu dem 1871 im Deutsch-Französischen Krieg verbrannten Manuskript sei herausgegriffen Rosalie Green (Hg.), Herrad of Hohenbourg. Hortus Deliciarum (Studies of the Warburg Institute, 36), London u. a. 1979, 267.

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Vorhangstange rechts aufgefädelt ist,54 sowie an der Beischrift, die auf manchen der Nachzeichnungen des Hortus über den Vorhängen zu lesen ist: »Velu[m] templi scissum est medii« (Mt 27,51), »Da riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei«. Dieselbe Tätigkeit des Verfertigens des Tempelvorhangs vollführt eine jünger wirkende und mit einem einfachen, unter der Brust gegürteten Chiton deutlich bescheidener gekleidete Maria auf der Elfenbeinpyxis mit Marienszenen vom Ende des 5. Jahrhunderts (Abb. 11), aufbewahrt im Berliner Bodemuseum.55 Während der Verkündigungsengel im antiken Philosophentypus sie mit der Rechten segnet und sein spindeldünnes, partiell ausgebrochenes Zepter geschultert hat, ragt parallel dazu der von Maria auseinandergezogene, die gesamte Höhe der Pyxis einnehmende Spinnpflock aus einem Flachshaufen am Boden auf. In ihrem Rücken, chrono-narrativ also bereits in der Vergangenheit geschaffen, schmückt ein in seiner Mitte geknoteter Vorhang die heute fehlende, ehemals wohl edelmetallene Pyxisschließe über dem Heilszeichen Chrismon, die solcherart subtil den Heiligen Tempel und die Ecclesia symbolisieren, aus der ihr Sohn Christus zugleich hervorging wie er ihn auch erneuerte.56 Die Himmelskönigin von Santa Maria Maggiore, die allegorisch gut verständlich blutrote Stoffwülste zu Gewebe verarbeitet, wie auch die Muttergottes der Berliner Pyxis mit dem mächtigen Spinnrocken entstammen beide dem 5. Jahrhundert.57 Dieses stellt eine ausgesprochene Übergangszeit dar, in der das Christentum die diversen Kulte des Altertums und ihre Mythen keinesfalls vollständig ausgelöscht oder ersetzt hat.58 Vielmehr laufen die antiken Mythologien entweder parallel zum Christentum oder werden teils in die christliche Ikonographie integriert und dabei noch einmal ungemein lebendig.59 Selbst der Spinnrocken in Marias Hand ist eine direkte Übernahme aus der Antike, fand er sich doch auf vielen 54 2 Mos. 26,31–33: »Mach einen Vorhang aus violettem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirntem Byssus; wie Kunstweberarbeit [sic!] soll er gemacht werden, mit Cherubim. [...] Hänge den Vorhang an Ringe und bring dorthin, hinter den Vorhang, die Lade der Bundesurkunde« (»Acies et velum de hyacintho et purpura coccoque bis tincto et bysso retorta opere plumario et pulchra varietate contextum. [...] Inseretur autem velum per circulos intra quod pones arcam testimonii«). 55 Für die Maße und Datierungsbesprechung der Pyxis vgl. Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters, Mainz 1952, Nr. 172 sowie Effenberger und Severin (wie Anm. 3), 136–137. 56 Hierzu unverändert wichtig ist Reiner Haussherr, Templum Salomonis und Ecclesia Christi. Zu einem Bildvergleich der Bible moralisée, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 31,2, 1968, 101–121. 57 Wichtig erscheint hier, dass sich in dieser Zeit des 5. Jhs. die Legende der aus dem purpurblutroten Porphyrstein – beide Worte weisen dieselbe Etymologie auf – geborenen Porphyrogennetos-Kaiser von Byzanz herausbildet, die mythenparallel auf den ebenfalls steingeborenen Mithras aufbaut, der wie Christus in der byzantinischen Kunst in einer Felsgrotte geboren wird und zusätzlich im (Stern-)Zeichen der Jungfrau verkündet wird. Vgl. Friederike Wappenschmidt, Metamorphosen. Antike Götter im Wandel von Glaube und Kunst, Mainz 2004, 31. 58 Mit Fokus auf die Iberische Halbinsel vgl. v. a. Javier Arce, The Enigmatic Fifth Century in Hispania. Some Historical Problems, in: Regna and gentes: The Relationship Between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World (The Transformation of the Roman World, 13), hg. v. Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut und Walter Pohl, Leiden u. a. 2003, 135–159. 59 Für die frappierenden Parallelen in der ikonographischen Genese von Gottesbildern wie Christus, Jupiter, Serapis oder Mithras siehe den Ausstellungskatalog des Oxforder Ashmolean Museums Imagining

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11 Anon., Pyxis, Maria der Verkündigung mit Spinnroggen, Ende 5. Jh., Elfenbein, Berlin, Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst

Athena-Bildern der griechischen und römischen Welt wie beispielsweise dem sogenannten Palladion von Troja des Öfteren in der Rechten der Göttin als Hinweis auf den Wettstreit mit Arachne. Das Bild der gottesmütterlich-perfekt, eben athenahaft textil arbeitenden Maria wurde in allen Medien in das Mittelalter transformiert. Ohne historische Zäsur bis zum Ende des sogenannten Mittelalters sollte Maria als neue Eva, die den Gottessohn als neuen Adam und zugleich als ihren Sponsus einhüllt, als quasi-göttlich wie Minerva, aber auch als Teil einer erweiterten Göttertrias angesehen werden und so das dominierende Bildformular geben. Das Lexikon der Mythenrezeption kann daher zu Recht für das gesamte Mittelalter konstatieren: »Die Annäherung von Minerva an Maria ist gut belegt.«60 the Divine. Art in the Rise of Religions (Ausst.-Kat. Oxford, Ashmolean Museum), hg. v. Jas Elsner, Oxford 2017. 60 Vgl. Schmälzle (wie Anm. 30), 175.

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Der Mythenparallelismus von Arachne und Eva–Maria beginnt früh. Bereits die ersten Schriften der Kirchenväter erwähnen sie fast durchgängig.61 Ausgehend von der Nennung der Aranea im Buch Hiob mit ähnlichen Worten wie Ovid in den Metamorphosen: sic viae omnium qui obliviscuntur Deum et spes hypocritae peribit non ei placebit vecordia sua et sicut tela aranearum fiducia eius innitetur super domum suam e non stabit fulciet eam et non consurget62

sowie der Stelle in Jesaja Ova aspidum ruperunt et telas aranaeae texuerunt qui comederit de ovis eorum morietur63

räsonieren Augustinus, Hieronymus in seinem Septuaginta-Kommentar, Diogenes Laertes, Origines, Ambrosius und Gregor von Nyssa64 über die Hybris der Arachne und ihre strukturelle Ähnlichkeit mit der Stammmutter Eva, die zudem von den Theologen häufig als ›närrisch‹ und ›verrückt‹ bezeichnet und damit der ›göttlichen Weisheit‹ kontrastiert werden.65 Auch werden beide zu lebenslanger Web-Arbeit als Strafe verurteilt. Der spätantike Bischof Isidor von Sevilla konstatiert, die Spinne »hört niemals auf, stets angespannt in den Spinnweben zu arbeiten, indem sie [Isidor leitet den Namen der an ihrem nahezu unsichtbaren Faden scheinbar in der Luft schwebenden Spinne-»Aranea« von »A[e]r« ab und benennt sie als »Luftinsekt«, »aeris vermis«; Verf.] mit seiner Kunst ständiges Aufgehängtsein auf sich nimmt«, »et telae semper intenta numquam desinit laborare, perpetuum sustinens in sua arte suspendium« (Etym. XII,5,2). In genau dieser Zeit der Spätantike, aus der die genannten Autoren stammen, entstehen aber auch die Bildbeispiele, die Maria als Webende oder Spinnende bei der Verkündigung zeigen. Ein frühes Beispiel aus der byzantinischen Elfenbeinkunst,66 die damit sowohl den direkten Zugang zur griechischen Mythologie einer Athena besaß wie auch als leichter Bild61 Vgl. Jane Chance, Medieval Mythography, 1. From Roman North Africa to the School of Chartres, A.D. 433–1177, Gainesville 1994, ND 2001. 62 Iob 8,13–15. 63 Jes 59,5–6. 64 Bei Gregor von Nyssa findet sich Inkarnation und Gewebe direkt verbunden: »Gregor vergleicht das Heilswerk Christi mit der Reinigung eines beschmutzen Gewebes, das man selbstverständlich auch nicht nur teilweise, sondern ganz und gar von den Flecken reinigt, um den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.« Die Stelle Gregors im Original zitiert in: Reinhard Jakob Kees, Die Lehre von der Oikonomia Gottes in der Oratio Catechetica Gregors von Nyssa, Leiden/New York/Köln 1995, 152. 65 Ballestra-Puech (wie Anm. 34), 72–75 sowie für die antagonistische Gegenüberstellung von göttlicher Weisheit und menschlichem Wahnwitz beispielsweise in Fulgentius’ Mythologiae oder dem Ovide moralisé: 95. Für die in der Theologie meist als Superbia bezeichnete Verfehlung Evas vgl. Suckale (wie Anm. 46), 29. 66 Unverändert grundlegend für die Transferprozesse von griechischer Mythologie in die byzantinische und damit auch in die westliche Kunst v. a. über Manuskripte wie den Pseudo-Apollodorus ist Kurt Weitzmann, Greek Mythology in Byzantine Art (Studies in Manuscript Illumination 4), Princeton 1951 sowie Ders., Studies in Classical and Byzantine Manuscript Illumination, Chicago 1971, v. a. 185–187. Siehe auch Alan Cameron, Greek Mythography in the Roman World, New York/Oxford 2004, hier v. a. 218– 220.

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 151

12 Anon., Relief des sog. Grado-Thrones, Maria der Verkündigung mit Spinnroggen, Elfenbein, Anfang 7. Jh., Elfenbein, Mailand, Castello Sforzesco

datenträger einfach zu transportieren und hoch mobil war, bildet das Verkündigungsrelief des sogenannten Grado-Thrones (Abb. 12), heute aufbewahrt im Castello Sforzesco in Mailand.67 Alle geometrischen Linien auf dem hochrechteckigen Relief, insbesondere die Maria überhöhende Tempelarchitektur mit reich ornamentierten Säulen und Dreiecksgiebel sowie ihr Echo in dem ebenfalls dreieckig eingekerbten Reliefgrund, fluchten in ihr und weisen damit wie Pfeile auf die Empfängerin der Frohen Botschaft. Obwohl der inschriftlich bezeichnete Erzengel Gabriel mit Redegestus als durchaus muskulöser Athlet an sie herantritt, ist die jugendliche Muttergottes nahezu einen Kopf größer und neigt diesen huldvoll zum Boten herab.68 Mit mehreren fast vertikal nach oben ziehenden Falten ihres Kleides, die von dem ebenfalls kerzengerade nach oben genommenen Arm und denkerisch an den Kopf 67 Der ehemalige Bischofsthron der Kathedrale von Grado ist sehr wahrscheinlich in Konstantinopel gefertigt worden, was die Nähe zu der griechischen Arachne-Athena-Mythologie noch vergrößert. Für die Kontextualisierung und Datierung des Elfenbeinthrones siehe Francesca Tasso, The Grado Chair: a Review of the Historical and Documentary Sources, in: Francesca Dell’Acqua, Anthony Cutler, Herbert L. Kessler u. a. (Hg.), The Salerno Ivories. Objects, Histories, Contexts, Berlin 2016, 43–52, hier 47. 68 Wie erfolgreich derartige in einen christlichen Kontext eingesetzte römische Ikonographien wie »Sprechende Symbolarchitektur« oder »Athlet als Bote« gelesen werden konnten, zeigt überzeugend Jas Elsner, Art and the Roman Viewer: The Transformation of Art from the Pagan World to Christianity, Cambridge/New York/Melbourne 1995.

152  Stefan Trinks

gelegten Finger optisch noch verlängert werden, sowie dem Sockel, auf dem sie thront, wirkt sie hieratisch-majestätisch. Umso mehr fällt auf der dem Engel abgewandten Seite ein stark bewegter Stoffüberschuss in Kaskaden in das Auge. In insgesamt fünf Lagen ist das Tuch übereinandergeschichtet und endet jeweils in mehreren Stofftrotteln. Wie schon die symbolische Perspektive der Architektur auf Maria als eigentlichem Templum Domini hindeuteten, verweisen auch die Geste ihrer Rechten sowie die Stoffkaskaden und -trotteln auf einen Korb mit Spinnrocken und Nähutensilien zu ihren Füßen. Mit diesen fertigte die Muttergottes im Moment der Verkündigung den Tempelvorhang, zugleich aber auch symbolisch die stoffliche Hülle für den Menschensohn. Entgegen der Erwartung aber, dass die Ikonographie der demütigen Magd und juvenilfiligranen Jungfrau die Gottesgebärerin Maria durchgängig zu einer Sympathieträgerin machte, existiert zwei Jahrhunderte später in karolingischer Zeit parallel ein Marienbild, das sie weniger zugänglich und einnehmend erscheinen lässt, nämlich dasjenige einer hochgerüsteten Ecclesia militans in massiver Wehr der Zeit. Dass Maria zugleich die gesamte Kirche repräsentieren kann und diese den Kirchenvätern zufolge wehrhaft sein soll,69 wurde insbesondere in Krisenzeiten wiederholt in martialische Form gegossen. Auf einem karolingischen Elfenbeinrelief des New Yorker Metropolitan Museum (Farbabb. 30) thront die verschleierte Maria mit Kreuzzepter unter einer Arkade. Ihre dickledernen Schulterklappen, den griechischen pteryges der Athena-Ikonographie, die ebenfalls ledernen Ärmel sowie die wohl metallisch zu denkenden, leicht auskragenden Manschetten an den Armen70 entstammen der Ikonographie kriegerischer Montur. Darüber trägt sie zusätzlich zwei Gewänder und ein Tuch, das sie wie eine Chlamys, den antiken Soldatenmantel, über ihre linke Schulter geworfen hat. Maria Muttergottes erscheint hier demnach in allen Details als gerüstete Athena–Miner71 va. Den überlangen Kreuzesstab in der rechten Armbeuge hält sie wie die Göttin ihre Lanze, die gekreuzten Spindeln in der linken Hand präsentiert sie wie keulenartige Waffen. 69 Dies gilt vor allem, wenn man bedenkt, dass sich in die Weisheit der mütterlichen Fürsorge und Hingabe Gottes an die gefallene Schöpfung geradezu ein wehrhafter Zug mischen muss, um in der Welt und ihren Anfechtungen überleben und Bestand erlangen zu können. Das Wort aus Epheser 6,11 »Zieht die Rüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels widerstehen könnt« gilt hier auch für Maria als Patronin eines wehrhaften Glaubens, denn sie verkörpert die Kirche, um deren Heil es im Epheserbrief besonders stark geht. Damit wird Maria im wehrhaften Kleid der Minerva aber auch zur visuellen Bestätigung und Argumentationsfigur der christlichen Rezeption antiker Weisheitslehren. Ganz im Sinne des Mythenparallelismus kann – augustinisch gesprochen – die antike Weisheit als inspirierende Präfiguration christlicher Wahrheit gelesen werden. Anderseits folgt daraus, dass die partielle Überblendung bzw. Parallelmontage von Minerva und Maria nichts Geringeres aussagt als dass antike Bildkraft (als Analogon zu antiker Weisheit, Philosophie) den christlichen (Glaubens-)Körper gegen Bedrohungen imprägniert. 70 Für die sehr präzise Beschreibung des Reliefs aus Gründen des Fälschungsnachweises vgl. Rainer Kahsnitz, „Die Elfenbeinskulpturen der Adagruppe“. Hundert Jahre nach Adolph Goldschmidt. Versuch einer Bilanz der Forschung zu den Elfenbeinen Goldschmidt I, 1–39, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 64, 2010, 9–172, hier 158. 71 Suckale zitiert für die das gesamte Mittelalter hindurch gültige Gleichsetzung u. a. französische Verse des 15. Jhs., in denen Maria expressis verbis mit Minerva verglichen wird. Vgl. Suckale (wie Anm. 46), 27.

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 153

Der abweisende Panzer kann auch wie bei der durch ihre Parthenogenese jungfräulich geborene und gebliebene Athena als Symbol für die keusche Jungfräulichkeit gelesen werden,72 ähnlich wie die Castitas–Keuschheit und die Virtus–Tugend im wohl etwa gleichzeitigen karolingischen Berner Prudentius gegen jede moralische Anfechtung gerüstet sind.73 Dem martialischen Aufzug fehlte im Grunde nur noch die Aegis, um die Analogie mit Athena zu vervollständigen, allerdings blieb die Schlange das Attribut der Eva und findet sich bei Maria in karolingischer Zeit nicht. Was Rainer Kahsnitz zur Annahme einer Fälschung aus dem späten 19. Jahrhundert veranlasste, das »desorganisierte« Gewand mit seinen »fahrige[n], im Grunde formlose[n]« Faltenstil, die »Merkwürdigkeiten des gestängehaft dünnen Thrones«,74 vor allem aber die scheinbaren Unstimmigkeiten in der Ikonographie,75 könnten ebenso Argumente für eine karolingische Kopie einer spätantiken Vorlage des 5. oder 6. Jahrhunderts aus Byzanz sein. Gerade die geschuppten, dadurch palmenartigen Säulen, die Palmetten des Arkadenbogens sowie die Pfauen in den Zwickeln erinnern an spätantike, also in der mutmaßlichen Entstehungszeit des 9. Jahrhunderts nicht mehr präsent-lebendig vor Augen stehende Ornamente als Inspirationsquelle. Der Kahsnitz besonders suspekte,76 der Architektur wild entwachsende Akanthus findet sich sowohl bei dem bereits mit der Marienverkündigung gesehenen Grado-Thron auf dem Relief mit dem predigenden Markus des 7. Jahrhunderts wie auch in einem Elfenbeinrelief des heiligen Menas mit zwei Kamelen aus demselben Jahrhundert, ebenfalls aus dem Castello Sforzesco in Mailand.77 Mit den leichten, vielleicht aber in der Umformung zu einer wehrhaften Ecclesia gewollten Missverständnissen gegenüber einer wohl ungewappneten antiken Originalvorlage wie der Maria des Grado-Thrones (Abb. 12) wäre die zweite Stufe des transformierenden Mythenparallelismus erreicht. In dieser Phase wird die Gewichtung deutlich weg von Maria als neuer Eva hin zu einer triumphal als ›rüstige‹ Gottesmutter erscheinenden Minerva–Maria verschoben. Dass auch noch in der dritten und letzten Rezeptionsstufe, dem späten Mittelalter von der Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ohne jede Missionierungsnotwendigkeit die Mythenparallelität von Arachne und Eva–Maria vertraut war, zeigt sich deutlich bei Dante Alighieri.78 In seinem Purgatorio räsoniert er bekanntlich stark über menschliche Superbia in der Geschichte und die Modi ihrer künstlerischen Darstellung.79 Als einziges neu72 Für Athena–Minerva als virgo, als Symbol für die Keuschheit, vgl. Schmälzle (wie Anm. 30), 172. 73 Bern, Burgerbibliothek, Codex Bongarsianus 264: Prudentius’ Psychomachia, 9. Jh., v. a. fol. 72. Vgl. Florentine Mütherich und Joachim E. Gaehde, Karolingische Buchmalerei, München 1979, 29. 74 Alle Zitate finden sich in Kahsnitz (wie Anm. 70), 158. 75 Ebenda, 157–158. 76 »Auch die Blätter, die aus den Kapitellen akroterartig ins Innere des Bildfeldes wachsen, entbehren jedes Sinnes wie jeder bildlichen Tradition.«, ebenda, 158. 77 Beide Reliefs werden mit weiteren spätantik-byzantinischen besprochen in Tasso (wie Anm. 67), 44 und 46. 78 Parallel zu Dante verfügt auch Petrarca über ein Exemplar einer bedeutenden antik-mittelalterlichen Mythologie-Sammlung, den Codex Paris lat. 8500, und arbeitet den Mythos von Athena–Arachne in seine Dichtung ein. Vgl. Schmälzle (wie Anm. 30), 175. 79 Vgl. Andreas Kablitz, Jenseitige Kunst oder Gott als Bildhauer: Die Reliefs in Dantes Purgatorio (Purg.

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testamentliches Beispiel nennt Dante Maria, die sich bei ihm demütig als die das Inkarnationsgewebe für Christus bereitstellende Magd Gottes bezeichnet.80 Durch diese Demut hebt sie den Sündenfall Evas auf.81 Als antikes Exemplum von Hybris steht im 10. Gesang von Dantes Purgatorio Maria gegenüber: Arachne.82 Noch in die Marien-Ikonographie der Spätgotik schleicht sich überraschend, gleichsam osmotisch im Sinne des Mythenparallelismus,83 ein Teil des Arachne-Mythos durch die Hintertüre ein. Bekannt ist, dass Maria Legenden zufolge als Siebenjährige den Tempelvorhang webte.84 Es wird jedoch selten gefragt, mit welcher Logik es ein junges Mädchen schafft, statt der um viele Jahre älteren Tempeljungfrauen mit dieser so wichtigen Aufgabe bedacht zu werden. Maria setzt sich, wie es die Apokryphen ausführlich beschreiben und wie es beispielsweise ein Bild von 1501 zeigt (Farbabb. 31), ausdrücklich in einem Web-Wettstreit gegen ihre Konkurrenz durch und erhält den Auftrag.85 Wie Athena–Minerva besiegt sie als künftige Gottesmutter in diesem Paragone ihre Konkurrenz,86 diesmal mit positivem Ausgang X–XII), in: Mimesis und Simulation, hg. v. Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg i. Br. 1998, 309–356. 80 Zu Dante, Purg. 10, 31–73, siehe auch Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermeneutische Erkundungen in Dantes „Commedia“, München 2007, 188–190, dort auch zu dem Ausdruck visibile parlare (Purg. 10,95). 81 Bemerkenswerterweise wurde der Figura Evas, die sich gegenüber der Gottheit nur einen, allerdings fatalen, Fehltritt geleistet hatte, seitens der Künstler häufig Empathie entgegengebracht. In dem Stundenbuch MS M. 144 des 15. Jhs. aus der New Yorker Pierpont Morgan Library ist auf fol. 23 die Verkündigung an Maria in spätgotischer Architektur zu sehen, miniaturisiert in einem Sockelgeschoss darunter links der Sündenfall, rechts Maria an einem großen Webstuhl; die keinesfalls unglücklich wirkende Eva ist mit ihrem langen Blondhaar und im Gesichtstypus der webenden Maria gegenüber derart ähnlich, dass beide wie gespiegelt wirken. Diese Eva-Empathie beginnt bereits in der römischen Spätantike, die von starken Frauenfiguren wie Kaiserin Helena, Santa Prassede/Praxiteles, der Nonne Egeria oder der hl. Radegundis mit geprägt wird. Die Ausgleichsbewegung zu der teils misogynen Theologie der Zeit lässt sich selbst an der Ikonographie von Christi Abstieg in den Limbo ersehen. Diese Bildtradition wird insbesondere im 5. und 6. Jh. ausgeprägt. Christus persönlich errettet Eva, die in seiner menschlichen Natur auch seine Stammmutter war, wie zuvor Sem seinen Vater Adam, und wie im griechischen Mythos Orpheus die Euridyke. Tatsächlich vergleicht der Kirchenlehrer Clemens von Alexandrien Christus mit Orpheus, da beide als mythische Sänger und Verkünder zu allen Kreaturen sprechen, Religionsstifter sind und Christus als Wanderer zwischen den Welten Eva in der Unterwelt ebenso besucht wie Orpheus Eurydike; vgl. Wappenschmidt (wie Anm. 57), 30. 82 Vgl. Teodolinda Bartolini, Representing What God Presented: The Arachnean Art of Dante’s Terrace of Pride, in: Dante Studies 105, 1987, 43–62. 83 Der osmos besteht dabei in der bilddramaturgischen und narratologischen Schubkraft von Motiv- und Ereignisgenealogien in biblischen und antiken Traditionen. Das Osmotische zeigt sich zugleich darin, dass Mythologeme nicht blockhaft wandern oder verschoben werden, sondern eher fließen bzw. als Referenz im jeweiligen Darstellungssystem im Fluss gehalten werden. 84 Diese Legende und die Bekräftigung der adeligen Autorin und Kanonissin Hrotsvith von Gandersheim, dass die Jerusalemer Tempeljungfrauen durchgängig noblen Priester- und Königsfamilien entstammten, ist zugleich der Grund, warum selbst hochadelige Stifterinnen sich beispielsweise in Stundenbüchern mariengleich beim Weben und bei Handarbeiten zeigen ließen. Vgl. Suckale (wie Anm. 46), 33. 85 Vgl. Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. v. Jutta Frings (Ausst.-Kat. Bonn, Bundeskunsthalle und Essen, Ruhrlandmuseum), München 2005, 38. 86 Vgl. Robert L. Wyss, Die Handarbeiten der Maria. Eine ikonographische Studie unter Berücksichtigung

Adam–Orestes, Eva–Arachne, Maria–Minerva 155

der Geschichte. Sie webt am Mantel der Heilsgeschichte, indem sie den Tempelvorhang fertigt und später die Hüllen für den Menschensohn bereitstellt. Am Ende der dritten Phase wird demnach auch noch das letzte fehlende Detail in der Parallelität der beiden Figura-Paare hinzugefügt: der Wettstreit der Webkünstlerinnen, nicht ohne die künftige Muttergottes dabei radikal zu verjüngen.

V. Zusammenführung Am spanischen Pilgerweg half die vorbildhafte Autorität eines Orestes-Sarkophags, obschon nicht als antike Mythologie erkannt, die üblicherweise auf das eintönige Bildformular des Sündenfalls beschränkte Adam-und-Eva-Ikonographie beträchtlich zu erweitern. Ein heroisch kämpfender Adam, der sich nicht kampflos fügte, konnte den Pilgern, die seit jeher mit dem Mythos der aus dem Paradies vertriebenen Stammeltern parallelisiert wurden, ihren Aufbruch ins Ungewisse auf dieser strapaziösen Wallfahrt zur Sündentilgung positiv spiegeln. Durch die Verquickung des atmosphärisch-gefühlten Heros-Adam-Narrativs mit dem apokryphen Adamsmythos wurde so gerade im Kontext des hoch frequentierten Jakobswegs als primärer Bußwallfahrt eine Stammeltern-Mythographie parallel zu dem in Spanien noch sehr vertrauten antiken Heroenkult erfunden, welche die Pilger auf mehreren Ebenen direkt ansprach. Diese konnte in der Reconquista auch in politischen Anspruch genommen werden, wie ein Jahrhundert später der Fall des Pseudo-Heros El Cid zeigt. Strukturell vergleichbar wurde seit der Spätantike die Eva–Maria mit der Arachne– Athena parallelisiert, um die existenzielle techné des Webens und des Gewebes wie ein Weberschiffchen am Webstuhl in eine hochkomplexe Pendelbewegung zu versetzen, die den der gesamten antiken Oikos vertrauten Arachne-Mythos in Eva und Maria weiterführen konnte. Adam und Orestes, Arachne und Eva, Maria und Minerva: Antike und christliche Mythen bildeten keine starren Gegensätze und sie haben einander auch nicht vollständig abgelöst. Vielmehr laufen sie teils parallel, teils überlagern sie sich und spiegeln in der hermeneutischen Doppelbelichtung des hier vorgeschlagenen Mythenparallelismus antike Denkfiguren und christliche Dogmatik, Religion und Ästhetik gleichermaßen.

der textilen Techniken, in: Artes Minores. Dank an Werner Abegg, hg. v. Michael Stettler und Mechthild Lemberg, Bern 1973, 113–188.

Metamorphosen des Ovid zum höfischen Erzählen Philomena von Chrétien de Troyes

Stephanie Wodianka

I. Translatio: Windeswort und Herzensanker Chrétien formuliert den für das wissenskulturelle Selbstverständnis des Mittelalters zum Signum gewordenen translatio-Gedanken in der berühmt gewordenen Stelle zu Anfang seines höfischen Romans Cligès, der wahrscheinlich um 1176 entstanden ist: Durch die Bücher, die wir besitzen, haben wir das Wissen der Alten, und der früheren Zeiten. Unsere Bücher haben uns gelehrt, dass Griechenland zuerst den Ruf der Ritterlichkeit und des Wissens hatte. Dann kam die Ritterlichkeit und die Fülle des Wissens nach Rom, die jetzt nach Frankreich gekommen ist. (V. 27–35)1

Seltenere Zitation erfährt der folgende Satz, in dem Chrétien die Sorge äußert, das antike Wissen könne aus Frankreich auch wieder wegziehen: Gott gebe, dass sie [die Ritterlichkeit und die Fülle des Wissens] dort gehalten werde, und dass der Ort ihr gefalle, so sehr, dass die Ehre niemals von dort abziehe, wo sie sich niedergelassen hat. Gott hatte sie den anderen nur geliehen, aber von den Griechen und Römern spricht man mittlerweile nicht mehr. Die Worte über sie sind verstummt, und die heiße Glut erloschen. (V. 40–44)2

Eine gewisse Ironie ist hier unüberhörbar – ganz so still war es um die Römer und Griechen im Mittelalter ja nun nicht geworden. Dennoch ist der Gedanke des Bewahrens durch erzählende Weitergabe bei Chrétien hier ganz deutlich gebunden an die Sorge des Vergessens, des 1 »Par les livres que nos avons / Les fez des anciens savons / Et del siegle qui fu jadis. / Ce nos ont nostre livre apris / Qu’an Grece ot de chevalerie / Le premier los et de clergie: / Puis vint chevalerie a Rome / Et de la clergie la some, / Qui or est an France venue.« (Chrétien de Troyes, Cligès, in: Œuvres complètes, hg. v. Daniel Poiron, Paris 1994, 171–336, hier 174. Übersetzung ins Deutsche S.W.). 2 »Dex doint qu’ele i soit maintenue / Et que li leus li abelisse / Tant que ja mes de France n’isse / L’enors qui s’i est arestee. / Dex l’avoit as altres prestee, / Car des Grezois ne des Romains / Ne dit an mes ne plus ne mains, / Et estainte la vive brese.« (ebenda, 174).

158  Stephanie Wodianka

Weiterziehens im Zuge der translatio, an die Sorge, dass Frankreich nur eine translatorische Durchgangsstation sein könnte. Seine Zeilen sind getragen vom Bewusstsein möglicher Vergänglichkeit von Wissen und wissenskulturellem Status, von der Angst des Vergessens oder des Vergessenwerdens. Diese Bedrohung durch das Vergessen ist in Chrétiens Werk immer wieder präsent. Man denke an seinen Conte del Graal, in dem Perceval die höfisch-ritterliche Balance zwischen aventiure und fin’amors verloren und seine geliebte Blancheflor vergessen hatte. Die Blutspuren einer Gans im weißen Schnee werden von Perceval im Sinne einer mémoire involontaire als Erinnerungszeichen an die rosigen Wangen auf dem zarten Teint der Blanchefleur gelesen. Als Perceval den Schnee zertreten / sah, auf dem die Gans gelegen hatte, / und das Blut, das ringsum sichtbar war, / stützte er sich auf seine Lanze, / um diese Erscheinung zu betrachten; / denn das Blut mit dem Schnee zusammen / scheint ihm der frischen Farbe / im Gesicht seiner Freundin zu gleichen, / da verfällt er so sehr ins Sinnen, dass er sich vergißt. (Perceval, V. 4194–4202)3

Die dadurch ausgelöste Erkenntnis des Vergessen-Habens lässt ihn wie in einem Schlaf erstarren, und er gerät in Selbstvergessenheit im Sinne einer personalen Tabula rasa: »da verfällt er so sehr ins Sinnen, dass er sich vergisst […] Da glaubten sie, dass er schliefe« (V. 4202, 4215).4 – Vergessen ist im höfischen Sinne identitätsbedrohlich und führt zu einem Erstarren in Schweigen, das auch das höfische Erzählen bedroht. In Yvain thematisiert Chrétien ebenfalls das Verhältnis zwischen Vergessen und Erinnern in ihrer Bedeutung für das Erzählen. Hier wird vor Beginn der von allen erwarteten intradiegetischen Erzählung von Calogrenant diskutiert, ob angesichts des Streites mit Ritter Keu, der die Erzählung unterbrochen hatte, überhaupt weitererzählt werden kann. Während Keu (der bekanntlich nicht zu den Gewährsmännern höfischer Werte zählt) einfach für das Vergessen des Streites im Sinne einer Tabula rasa plädiert und Calogrenant zum Weitererzählen drängt, verweigert dieser das Fortsetzen seiner Erzählung und möchte diesen Konflikt nicht vom Tisch gewischt sehen. Die Königin schließlich interveniert und bringt die Entscheidung: Sie fordert Calogrenant auf, seinen Zorn zu vergessen (nicht mehr im Herzen zu tragen) und – nicht einfach weiterzuerzählen, sondern die Erzählung von vorn zu beginnen: Das Setzen eines neuen Anfangs setzt Erinnerung und Vergessen in ein rechtes Verhältnis. Calogrenant folgt der Bitte der Königin und rahmt seine neu beginnende Erzählung mit einem grundlegenden Appell, der bereits jene Sorge formuliert, die auch einige Jahre später am Anfang des Cligès den translatio-Gedanken trübt: Wenn es Euch gefällt [dass ich erzähle], so hört zu! Schenkt mir Gehör und Euer Herz, denn das Wort ist ganz verloren, wenn das Herz es nicht hört. Es gibt Leute, die etwas für sie Unverständliches hören und die ihm zustimmen; letztlich behalten sie davon nichts als das Geräusch, denn das Herz hat es nicht verstanden. Das Wort kommt zum Ohr wie der fliegende Wind, aber es hält dort nicht an und bleibt 3 »Quant Percevaux vit defolee / La noif sor qui la jante jut / Et le sanc qui antor parut, / Si s’apoia desor sa lance / Por esgarder cele sanblance; / Que li sans et la nois ansanble / La fresche color li resanble / Qui ert an la face s’amie / Si panse tant que il s’oblie. « (Chrétien de Troyes, Der Percevalroman [Le conte du Graal]. Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1991, 282-283). 4 »Si panse tant que il s’oblie […] Si cuidierent qu’il someillast« (ebenda, 282).

Metamorphosen des Ovid zum höfischen Erzählen 159

dort nicht; es zieht nach kurzer Zeit weiter, wenn das Herz nicht aufgeweckt ist, dass es zum Aufnehmen bereit ist. (V. 149–162)5

Ganz deutlich ist hier die Trennung von Wort-Geräusch und Wort-Sinn. Das Geräusch verfliegt, nur wenn das Herz zur Aufnahme des Sinns bereitet ist, sind Worte mehr als ein streifender Windhauch. Chrétien de Troyes macht hier in Yvain wie in der berühmten translatioStelle des Cligès darauf aufmerksam, dass kulturelles Wissen der Verankerung bedarf, um mehr als ein vorbeiziehendes Geräusch zu sein. Damit sein Erzählen nicht zur Durchgangsstation des weiterziehenden Wissens wird, bedarf es kultureller, literarischer Strategien, die dem überlieferten Wissen einen dauerhaften Ort geben. Ich möchte in meinem Vortrag zeigen, dass Chrétien de Troyes schon in einem seiner frühesten Werke diese Strategien reflektiert und anwendet: Philomena.

II. Philomena: Ovid, Chrétien, Anonymus Die eben erläuterte translatio-Stelle im Cligès steht im Kontext eines programmatischen Rückblicks auf sein Gesamtwerk, Chrétien zählt seine Werke auf – und zwar diejenigen, mit denen er die antiken Mythen des Ovid nach Frankreich gebracht habe. Der, der Erec und Enide machte, der Die Anweisungen des Ovid und Die Kunst zu lieben ins Französische brachte, der Der Schulterbiss machte, [der erzählte] vom König Marc und Iseut la Blonde, und von der Verwandlung des Wiedehopf, der Schwalbe und der Nachtigall, beginnt aufs Neue eine Erzählung von einem jungen Mann, der in Griechenland aus der Linie Artus’ stammte. (V. 1–10)6

Nicht alle diese von Chrétien genannten Übersetzungen von Ovid-Texten sind uns erhalten, aber die erwähnte Erzählung von der Verwandlung („muance“) schon, und diese soll Gegenstand meines heutigen Vortrages sein: Philomena, eine höfische Nacherzählung aus dem 6. Buch der Metamorphosen des Ovid, V. 412–674.7 Überliefert ist die altfranzösische Philomena als Teil des an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert anonym verfassten Ovide moralisé 8 – explizit verweist der anonyme Autor darauf, dass der folgende Teil nicht von ihm selbst, sondern aus der Feder Chrétiens stamme: »Aber ich werde die Erzählung nicht anders 5 »Des qu’il vos plest, or escotez! / Cuers et oroilles m’aportez, / Car parole est tote perdue / S’ele n’est de cuer etandue. / De cez i a qui la chose öent / Qu’il n’entandent, et si la löent; / Et cil n’en ont ne mes l’oïe, / Des que li cuers n’i entant mie. / As oroilles vient la parole, / Aussi come li vanz qui vole, / Mes n’i areste ne demore, / Einz s’an part en mout petit d’ore, / Se li cuers n’est si esveilliez / Qu’au prendre soit apareillez.« (Chrétien de Troyes: Yvain ou le Chevalier au Lion, in: Œuvres complètes, hg. v. Daniel Poiron, Paris 1994, 337–503, hier 342–343, Übersetzung ins Deutsche S.W.). 6 »Cil qui fist d’Erec et d’Enide, / Et les comandemanz d’Ovide / Et l’art d’amors an romans mist, / Et le Mors de l’espaule fist, / Del roi Marc et d’Ysalt la blonde, / Et de la hupe et de l’aronde / Et del rossignol la muance, / Un novel conte rancomance / D’un vaslet qui an Grece fu / Del linage le roi Artu.« (Chrétien, Cligès [wie Anm. 1], 173). 7 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, Lateinisch-deutsch, hg. v. Michael v. Albrecht, Stuttgart 1997. 8 Ovide moralisé en prose (texte du quinzième siècle), édition critique avec introduction par Cornelis de Boer, Amsterdam 1954. Zur Rezeptionsgeschichte des ›moralisierten Ovid‹ s. Marc-René Jung, Aspects

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beschreiben, als sie Chrétien erzählt hat, der sie übersetzt hat.« (Philomena, V. 11–13). 9 »Seine ganze Geschichte werde ich erzählen« (Ovide moralisé, V. 2215),10 verspricht er, »es ist Chrétien de Troyes der diese Geschichte erzählt«, heißt es in der Erzählungsmitte, kurz vor der Schilderung der Vergewaltigungs-Szene (V. 734),11 und auch am Ende der Erzählung verweist der anonyme Autor darauf, dass nicht er, sondern Chrétien Urheber des Textes sei: »Das war die Erzählung von Philomena, wie sie Chrétien erzählt hat.« (Philomena, V. 1469– 1470).12 Nicht ein mittelalterliches Copyright-Bewusstsein denn ein ausgeprägtes Gespür dafür, dass der mittlerweile durch sein umfangreiches Werk bekannte Autor das Interesse der Rezipienten an der Erzählung steigern würde, hat ihn vermutlich zu dieser wiederholten Nennung der eigentlichen Autorschaft gebracht. Denkbar ist auch, dass sich hinter dieser wiederholten Distanzierung von der Autorschaft eine Distanzierung vom Erzählgegenstand verbirgt. Das wäre insofern interessant, als damit die diachrone Beobachtung verbunden werden könnte, dass dem anonymen Verfasser des Ovide moralisé die Philomena fremder war als Chrétien, der sie 200 Jahre zuvor – vermutlich um 1160 – verfasste und noch 1176 im Vorwort seines Cligès mit Stolz auf dieses Frühwerk13 zurückblicken konnte. In jedem Falle verweisen die Distanzierungen des anonymen Autors darauf, dass Chrétiens Erzählung als eigenständiges Werk betrachtet wurde, dessen unmarkierte und stillschweigende Aneignung dem anonymen Autor des Ovide moralisé unangemessen erschien. Die unter dem Namen Philomena geführte Erzählung wurde im Jahr 1994 in die Pléiade-Gesamtausgabe der Werke Chrétiens aufgenommen (was nicht heißt, dass damit die Forschungsdiskussionen darüber, ob mit dem genannten Chrestien de Gouaix tatsächlich Chrétien de Troyes gemeint ist, beendet wären)14 und liegt mittlerweile in vier verschiedenen Editionen mit neufranzösischer Übersetzung vor, eine publizierte Übersetzung ins Deutsche gibt es bislang nicht, deshalb wurden die Übertragungen ins Deutsche für diesen Beitrag selbst vorgenommen. Der Blick

de l’Ovide moralisé, in: Ovidius redivivus. Von Ovid zu Dante, hg. v. Michelangelo Picone und Berhard Zimmermann, Stuttgart 1994, 149–172. 9 »Mes je ne descrirai le conte / Fors si com Chrestiens le conte, / qui bien en translata la letre […]« (Dieses Zitat aus der Einleitung des anonymen Autors ist in der Pléide-Ausgabe Chrétiens nicht enthalten; s. daher hierzu die Ausgabe von Emmanuèle Baumgartner, Pyrame et Thisbé suivi de Narcisse et de Philoména. Trois contes di XIIe siècle français imités d’Ovide, présentés, édités et traduits par Emmanuèle Baumgartner, Paris 2000, 156) 10 »Tout son dit vous raconterai« (Auch dieser rahmende Kommentar des anonymen Autors des Ovide moralisé ist nicht in der Pléiade-Ausgabe der Philomena enthalten, deshalb hier zitiert nach Ovide moralisé. Poème du commencement du quatorzième siècle publié d’après tous les manuscrits connus par Cornelis de Boer, Tome II, Amsterdam 1920, 336). 11 »[…] c’est Chrétien de Gouaix qui conte cette histoire« (Chrétien de Troyes, Philomena, in: Œuvres completes, hg. v. Daniel Poiron, Paris 1994, 915–952, hier 935. Übersetzung ins Deutsche S.W.). 12 »De Philomena faut le conte / Si com Chrestiens le raconte« (Baumgartner, Pyrame et Thisbé [wie Anm. 9], 254). 13 Zu den Argumenten für die Verortung der Philomena in Chrétiens Frühwerk s. ebenda, u. a. 274. 14 S. dazu Roberta L. Krüger, Bruta Transitions and Courtly Transformations in Chrétien’s Old French Translation, in: A Companion to Chrétien de Troyes, hg. v. Norris J. Lacy und Joan Tasker Grimbert, Cambridge 2005, 87–102, insbes. 88-89.

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auf das Altfranzösische ist immer geboten, hier aber in besonderer Weise, denn ohne den altfranzösischen Ton – das wird sich zeigen – verliert die Erzählung ihre Pointe. Ovids Philomela-Mythos kennt gar keine Nachtigall – sie gehört zu den Modifikationen, die Chrétien vornimmt, um sich den ihm offensichtlich fremden antiken Mythos im Sinne höfischen Erzählens anzueignen und dafür zu sorgen, dass Frankreich nicht zur Durchgangs-, sondern zur Verweilstation des Wissens wird. Ovids Philomela-Erzählung beginnt mit der unter Vorzeichen des Unheils gestellten Vermählung des Thrakerkönigs Tereus mit Prokne, Tochter des Pandion, Herrscher von Athen. Prokne vermisst ihre Schwester Philomela und drängt auf ein Wiedersehen. Tereus bricht mit dem Schiff auf, um die Schwester zu holen – beim Anblick der überaus schönen Philomela entbrennt sein Begehren, und sein vorgetragenes Ansinnen, Vater Pandion möge den Besuch der Schwester gestatten, bekommt nunmehr eine doppelte, höchst eigennützige Motivation. Nach Ankunft in seinem Reich verschleppt er sie in einen tief im Wald gelegenen Stall und vergewaltigt sie. Da Philomela mit dem Verrat seiner Schandtat droht, schneidet er ihr die Zunge ab und lässt sie gefangen halten. Der bereits auf die Schwester wartendenden Prokne verkündet er, Philomela sei leider verstorben. Während Prokne trauert, nutzt Philomela ihre Webkünste und webt in der Gefangenschaft ein Tuch, in das sie purpurne Zeichen der Greueltat einwirkt und das sie ihrer Schwester als Geschenk überbringen lässt. Diese versteht die Botschaft und befreit Philomela aus ihrem Gefängnis. Die beiden Frauen zerstückeln als Rache Tereus’ und Proknes gemeinsamen Sohn Itys und kochen dessen Glieder. Prokne setzt ihrem Gatten Tereus diese zum Mahle vor; der König erkennt erst, was er gegessen hat, als Philomela erscheint und ihm das Haupt seines Sohnes zuwirft. Mit gezücktem Schwert verfolgt er die Schwestern. Ovids Erzählung endet mit der Metamorphose der drei zu Vögeln, die ein weiteres Töten verhindert. Tereus verwandelt sich in einen Wiedehopf, dem ein Busch auf dem Scheitel emporsteht, mit unverhältnismäßig langem und spitzem Schnabel. Ornithologisch unklarer ist das Schicksal der Schwestern: Die eine flieht in die Wälder; die andere schwingt sich unter das Dach, so heißt es bei Ovid, der es im Unterschied zu Sophokles offenlässt, welche der beiden Schwestern in eine unter das Dach fliehende Schwalbe und welche in eine Nachtigall verwandelt wird. Zum einen vermutlich deshalb, weil er die Kenntnis des ihm von Sophokles überlieferten TereusMythos voraussetzt und dies deshalb nicht für erläuterungsbedürftig hält (Sophokles hatte Prokne die Nachtigall, Philomela die Schwalbe zugeordnet), zum anderen deshalb, weil für Ovid diese Zuordnung nicht semantisiert ist: In seinen Fasti (Abschnitt 2, V. 853f ) macht er im Unterschied zu Sophokles Prokne zur Schwalbe und Philomela zur Nachtigall. Dass Chrétiens entschiedene Festlegung auf die Metamorphose der Philomena zur Nachtigall bedeutungstragend für die altfranzösische Aneignung des antiken Mythos ist, wird sich im Folgenden zeigen. Ich möchte in meinem Beitrag der Frage nachgehen, was Chrétien dazu bewogen haben könnte, just diese Episode der Metamorphosen Ovids zum Gegenstand seines Erzählens zu machen und sie auch stolz als eines seiner Werke im Cligès zu nennen. Ich möchte zeigen, inwiefern seine Philomena paradigmatisch für mittelalterliche Mythenrezeption ist und paradigmatischen Status beanspruchen kann für mittelalterliches höfisches Erzählen im Sinne seines berühmtesten Vertreters, Chrétien de Troyes. Aufschlussreich ist hier eine Profilierung

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der Modifikationen und Akzentuierungen, die Chrétien im Vergleich zu seiner antiken Vorlage vornimmt.15

III. Paragone: zum Defizitären des Bildes Grundsätzlich fällt auf, dass Chrétien diejenigen Stellen deutlich reduziert, die Anlass zur Darstellung von Grausamkeit und Brutalität geben – und die Ovid genutzt hatte: Vergewaltigung der Philomena, Herausschneiden ihrer Zunge, das Zucken der abgetrennten Zunge auf dem Boden, Tötung des fünfjährigen Ytys und die Zubereitung seiner Körperteile zur Speise bis hin zum Schleuderwurf des Kindskopfes ins Gesicht des Vaters. Die Reduktion dieser Ausführungen haben vor mir schon andere Autoren bemerkt, weswegen ich bei diesem Punkt nicht allzu lang verweilen möchte. Die in den Fasti häufig vertretene Auffassung, dass die Grausamkeiten nicht mit dem höfischen Erzählen vereinbar gewesen seien,16 teile ich nicht – Chrétien ist in dieser Hinsicht sonst nicht zimperlich, ausführlich beschreibt er z. B. im Roman du Gral, wie das Blut nach dem erfolgreichen Pfeiltreffer Percevals auf den roten Ritter aus dessen Kopf spritzt. Diesbezügliche Skrupel scheint allenfalls – 100 Jahre später – der anonyme Verfasser des Ovide moralisé gehabt zu haben, der just vor der Vergewaltigungsszene entschuldigend einschiebt: »das erzählt Chrétien de Troyes« (V. 734).17 Vielmehr ist bei Chrétien davon auszugehen, dass er auf die Darstellung oder gar Amplificatio dieser möglichen ›Attraktionen‹ der Erzählung verzichtet, weil sie Aufmerksamkeitsanteile seiner Rezipienten gekostet hätten – und ihm war anderes hier wichtiger, wie ich zeigen möchte: eine Verortung des höfischen Erzählens im Paragone mit Schrift und Bild. Eigentlich legt Ovids mythische Erzählung eine Deutung als Plädoyer für das Bild in seiner Überlegenheit gegenüber Sprache und Rhetorik nahe.18 Philomena gelingt es schließlich mithilfe des von ihr bestickten Gewebes, trotz des Verlusts der Sprache19 ihrer Schwester 15 Grundlegende Orientierung für meine Ausführungen bieten die Untersuchungen von Emmanuèle Baumgartner, Pyrame et Thisbé suivi de Narcisse et de Philoména, Folio, 2000; Dies. und Laurence Harf-Lancner (Hg.), Lectures et usages d’Ovide (XIIIe–XVe siècles), Paris 2002; Michel Rousse, Chrétien de Troyes, Cligès, Philomena, Chansons, Édition bilingue 2007; Lena Behmenburg, Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2009 und Sylvia Roustant, Philomena de Chrétien de Troyes. Métamorphose d’une métamorphose au temps du roman, in: Carnets V, Métamorphoses littéraires, Mai 2013, 63–76. 16 Z. B. Jean-Michel Caluwé, Traduire l’ineffable: l’art de la prétérition dans le Philomena de Chrétien de Troyes, in: Traduire-écrire. Cultures, poétiques, anthropologie, hg. v. Arnaud Bernadet und Philippe Payen, Lyon 2014, 279-292. und Krüger 2005 (wie Anm. 14). 17 »ce conte Chrétien li gois.« (Baumgartner, Pyrame et Thisbé [wie Anm. 9], 208. 18 S. Doerte Bischoff und Julie Freytag, Art. Philomela und Prokne, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption – Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2008, 590–595, 591 und Lina M. Clemente, Literary objets d’art: Ekphrasis in Medieval French Romance 1150–1210, New York u. a. 1992. 19 Roustant sieht im Verstummen Philomenas einen Verweis auf die Stille, die sich Chrétien zufolge (Prolog zu Cligès) über die Antike gelegt habe: »Cette parole antique évanouie, disparue – car tel est bien le sens de ›remese‹ – n’est-ce pas le silence de Philomena? Des temps anciens à l’époque de Chrétien, il y a

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anschaulich zu machen, was ihr widerfahren ist – und sie löst damit den entscheidenden Wendepunkt und das grausame dénouement der Erzählung aus. Chrétien nutzt das von ihm in höfisches Erzählen verwandelte Ovid’sche Epos tatsächlich für eine Positionsnahme im Paragone-Diskurs: aber im gegenteiligen Sinne. Chrétien zeigt – so soll mein Beitrag plausibel machen –, dass nicht dem Bild, sondern dem höfischen Erzählen, der Oralität und Performanz höfischer Rede der Vorzug zu geben ist. Das höfische Erzählen gewährleistet, dass das antike Wissen nicht über Frankreich hinwegzieht, sondern nach Frankreich zieht und dort Fuß fasst. Zunächst scheint es so, als wolle Chrétien die ekphrastische Qualität seiner Erzählung unterstreichen. Während bei Ovid das Erscheinen der schönen Philomela vor den Augen des Tereus mit vier Versen recht knapp im Vergleich mit Naiaden und Dryaden beschrieben wird, investiert Chrétien ganze 47 Verse, die die Schönheit Philomenes detailreich anschaulich machen und sie ins Bild setzen.20 Er leitet seine Ekphrase ein mit dem Verweis auf Platon, Homer und Cato, jene »Männer von großem Wissen«, denn selbst deren Geist und Feder würden nicht ausreichen, um Philomenas Schönheit zu beschreiben: Dann kam Philomena aus einem Zimmer heraus, mit offenem Haar. Sie ähnelte keineswegs einer verschleierten Nonne, denn es wäre ein großes Wunder, ihren schönen Körper und ihr klares Antlitz zu beschreiben, denn selbst die Klugheit und die Sprache Platons wären nicht hinreichend, um ihre große Schönheit in allen Dingen zu beschreiben, auch nicht die von Homer und nicht von Cato, die Männer von großem Wissen waren. Ich muss mich also nicht schämen, wenn ich nach jenen ebenfalls versage, und ich werde all meine Mühe daran setzen, wenn ich es nun begonnen habe, so möchte ich nicht zurückziehen. (V. 124–137)21

Nach diesem retardierenden Moment der Erzählung, das die Spannung steigert, die Aufmerksamkeit der Rezipienten aber auch auf das Gelingen bzw. mögliche Misslingen der Ekphrasis richtet, folgt Chrétien der Systematik einer Bildbeschreibung von oben nach unten. Vor den Augen des Rezipienten entsteht ein visueller Eindruck der Philomena in ihrer eigentlich unsagbaren Schönheit:

à la fois continuité et rupture: continuité par la reprise d’un thème, d’un récit mais rupture de la voix, terriblement matérialisé dans Philomena par cette langue coupée.« (Roustant, Philomena [siehe Anm. 15], 65, > http://ler.letras.up.pt/uploads/ficheiros/12075.pdf < (Zugriff am 05.02.2018). Roustant sieht in der Stille eines der Hauptmotive von Chrétiens Philomena [72]). 20 Zur Ekphrasis in Antike und Mittelalter s. Christiane Reitz und Christiane Egelhaaf, Art. Ekphrasis, in: Der Neue Pauly, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1997, 942–950 und Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2003. Anne Berthelot bezeichnet das von Chrétien ekphrastisch gebotene Porträt der Philomena als eines der ausführlichsten seiner Zeit (Anne Berthelot, Philomena, Notice, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. v. Daniel Poiron, Paris 1994, 1391–1394, hier 1393. 21 »Atant est d’une chambre issue / Philomena deschevelee. / Ne sambloit pas nonain velee, / Quar grant merveille ert a retraire / Son gent cors et son cler viaire, / Que ne peüst, ce croi, souffire / A toutes ses grans biautez dire / Li sens ne la langue Platon, / Ne la Homer ne la Caton, / Qui moult furent de grant savoir. / Dont ne doi je pas honte avoir, / Se je emprez ces trois i fail, / Et g’i metrai tout mon travail. / Desqu’empris l’ai n’en quier retraire […].« (Chrétien, Philomena [wie Anm. 11], 920–921).

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Ich werde mehr erzählen als man sich denken kann, beginnend beim Kopf, und dann zum Körper. Heller als feines Gold war ihr Haar: Gott hatte sie so gemacht, dass meiner Ansicht nach die Natur nichts hätte schöner machen können, wenn sie sie hätte noch einmal schaffen wollen. Sie hatte eine weiße und flache Stirn, Augen heller als Hyazinthen, schön auseinanderstehend, mit gerade gezogenen Augenbrauen, die weder nachgemalt noch gefärbt waren; ihre Nase war hoch, lang, und gerade, wie eine Schönheit es haben muss, ihr Gesicht war von frischer Farbe, wie Rosen und Lilienblüten; ein lachender Mund, volle Lippen, ganz wunderbar, mehr als Samt scharlachrot; und ihr Atem war sanfter als Piment, Balsam und Weihrauch; sie hatte kleine, dicht geschlossene weiße Zähne; Kinn und Hals, Brust und Bauch waren bei ihr weißer als jeder Hermelin; ihre Brüste waren wie zwei kleine Äpfel; ihre Hände waren fein, lang und weiß; zart die Taille, tief die Hüfte. Alles andere war ebenfalls so schön gestaltet, dass man nie etwas schöneres sah, denn die Natur hatte sich mehr als bei jeder anderen gedacht und hatte alles Können in sie hineingelegt. (V. 124–171)22

Bemerkenswert ist, dass Chrétien zwar selbstbewusst die anschauliche Beschreibung der schönen Philomena wagt, seiner Ekphrase aber unmittelbar und unvermittelt eine zweite Beschreibung der Philomena folgen lässt, die in 32 Versen das erfasst, was sich der bildlichen Beschreibung entzieht:23 die inneren Qualitäten der Philomena, ihre geistige und körperliche Bildung sowie ihr Geschick für Handarbeiten und Musik sowie ihre Redegewandtheit.24 Die Parallelführung und Ebenbürtigkeit beider Begabungsanteile wird deutlich betont: »Neben der großen Schönheit, die sie besaß, wusste sie auch zu tun, was eine Jungfrau wissen sollte: Sie war nicht weniger klug als schön, um die Wahrheit zu sagen.« (V. 170–173).25 Es folgt eine Aufzählung ihrer Tugenden, die deutlich werden lassen, dass Philomena nicht im Bild zu erfassen wäre – das Visuelle reicht nicht aus, um sie zu beschreiben: Zehnmal mehr als Apoll und Tristan versteht sie von Spielen und Zeitvertreib. Brettspiele und Schach weiß sie zu spielen, das alte Spiel ›Sechs und As‹, ›Lügner‹ und ›Schlacht‹. Aufgrund ihrer Begabungen wurde sie geliebt und begehrt von hohen Baronen. Mit Sperbern und Falken kannte sie sich aus, zahm

22 »Plus dirai qu’on ne porroit traire, / Primes dou chief, et puis dou cors. / Plus estoit luisans que fins ors / Trestoute sa cheveleüre : / Tel l’ot Dieu fete que Nature, / Mien ensient, il fausist bien, / S’elle i vausist amander rien. / Le front ot blanc et plain sans fronce, / Les iex plus clers c’une jagonce; / Large entr’ueil, sorcis alignez, / Nes ot ne fardez ne guignez; / Le nez ot hault et lonc et droit, / Tel com biautez avoir le doit; / Freche coulour ot en son vis, / De roses et de flours de lis; Bouche riant, levres grossetes, / Et un petitet vermeilletes, / Plus que samit vermeil en graine; / Et plus souef oloit s’alaine / Que pilment ne baume n’encens; / Dens ot petis, serres et blenc; / Menton et col, gorge et poitrine / Ot plus blanc que n’est nulle hermine; / Autresi comme deus pometes / Estoient ses deus memeletes; / Mains ot grelles, longues et blanches, / Grelles les flans, basses les hanche. / Tant par fu bien fait li sorplus / Que tant bele riens ne vit nulz, / Quar Nature s’en fu pensee / Plus que de nulle autre riens nee, / S’i ot tout mis quanqu’ele pot.« (Chrétien, Philomena [wie Anm. 11], 921–922). 23 S. Gottfried Böhm, Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike zur Gegenwart, hg. v. Gottfried Böhm und Helmut Pfotenhauer, München 1995, 23–40. 24 S. dazu auch Lena Behmenburg, Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2009, 99–102. 25 »Avuec la grant biauté qu’ele ot, / Sot quanque doit savoir pucele: / Ne fu pas mains sage que bele, / se je la verité recort.« (Baumgartner, Pyrame et Thisbé [wie Anm. 9], 168).

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oder wild; sie verstand es gut, mit Falken umzugehen, und mit Habichten, und sie war nie der Hetzjagd oder Vogeljagd überdrüssig. Außerdem war sie geschickt in Handarbeiten, mit wunderbarem Purpur, dass es ihr niemand gleichtun konnte. Sie hätte Muster und Arabesken, sogar die ›mesnies Hellequin‹ auf einem Stoff darstellen können, sie war in Literatur und Grammatik bewandert, und konnte gut dichten und schreiben, und wenn es ihr gefiel, spielte sie Psalterion oder Lyra. Mehr als man sagen kann verstand sie vom Geigen und Rota-Spielen, unter dem Himmel gibt es kein Lied, keinen Ton, keine Note, die sie nicht gut hätte spielen können, und sie wusste so weise zu reden, dass sie eine Rednerschule hätte halten können. (V. 172–204)26

Chrétien zeigt schon mit dieser Spiegelung der Ekphrasis auf einer dem Bildlichen entzogenen Ebene den Vorzug höfischen Erzählens gegenüber dem auf das Äußerliche reduzierte Bild: Höfisches Erzählen ›kann‹ Ekphrasis, aber es kann auch noch mehr. Und selbst das Wort scheint hier an seine Grenzen zu kommen: »mehr als man sagen kann« ist Philomena begabt, und die Erzählung weckt gezielt das Verlangen, auch den Klang ihrer Musik und ihre Reden zu hören. Betrachten wir nun die Stelle der Erzählung, in der von der sprach-losen Darstellung Philomenas die Rede ist: Ihre Stickerei, die sie in ihrer Gefangenschaft auf einem gewebten Stoff anfertigt, um trotz ihrer gewaltsam herbeigeführten Sprachlosigkeit eine Botschaft an ihre ferne Schwester Prokné zu senden. Ihre Bewacherin stellt ihr bereitwillig das notwendige Material zur Verfügung, denn sie ahnt nichts von Philomenas Plan, und Thérée hat ihr schließlich nicht verboten, Philomena Handarbeiten zu ermöglichen. Dass Philomena über die Maßen talentiert ist, wissen Chrétiens Rezipienten bereits aus der ausführlichen Beschreibung ihrer Kompetenzen und Qualitäten. Die Beschreibung der von Philomena bestickten »cortine« – zu übersetzen als Tuch oder Stoff – präsentiert das Schlüsselbild des Epos auf denkbar unattraktive Weise. Zwar werden die schönen, violett, gelb und grün gefärbten Fäden und auch die Bewunderung der sie bewachenden Alten erwähnt (V. 114–115), allerdings nicht wirklich in ihrer Attraktivität für die Erzählung genutzt. Die Beschreibung der Stickerei an sich wird lediglich durch eine percursio realisiert, die so sehr auf das ›Was‹ des Schicksals reduziert ist, dass allen Rezipienten bewusst werden muss, um wie viel ästhetisch attraktiver die gerade gehörte Erzählung von Philomenas Schicksalsstationen war. Hier bedient sich Chrétien zudem eines Kunstgriffes: Der Verzicht auf das ›Wie‹ des Erzählens tritt umso deutlicher gegenüber dem nackten ›Was‹ hervor, als es klanglich in den ›Was‹-orientierten Versen dominiert. ›Comment/wie‹ wird drei Mal wiederholt, 26 »lus sot de joie et de deport / Qu’Apolloines ne que Tristrans, / Plus en sot voire voir dis tans. / Des tables sot et des eschas / Dou viel jeu et dou sis et as, / De la buffe et de la hamee. / Par son deduit estoit amee / Et requise de haulz barons. / D’espreviers sot et des faucons, / Et dou jentil et dou lasnier; / Bien sot faire un faucon manier, / Et un ostoit et un tercueil, / Ne ja ne fust elle, son vueil, / S’en gibier non ou en riviere. / Aveuc ce iert si bone ouvriere / D’ouvrer une pourpre vermeille / Qu’en tout le mont n’ot sa pareille. / Un diapre ou un baudequin / Nis la mesnie Hellequin / Seüst elle en un drap pourtraire. / Des auctours sot et de gramaire, / Et sot bien faire vers et letre, / Et quant li plot lui entremetre / Et dou psaltere et de la lire. / Plus en sot qu’on ne porroit dire, / Et de la gigue et de la rote; / Sous ciel n’a lai, ne son, ne note / Qu’el ne seüst bien vïeler, / Et tant sot sagement parler / Que seulement de sa parole / Seüst elle tenir escole.« (ebenda, 921–922).

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und mit dreimaligem ›quant/als‹ weist Chrétien auf das Vermögen seiner Erzählung hin, die Handlung im Unterschied zum Bild auch zeitlich zu dimensionieren. Dann sah man dort das Schiff dargestellt, auf dem Thereus das Meer überquerte, als er fuhr um sie aus Athen zu holen, dann wie er sich verhielt, als er in Athen angekommen war, und wie er sie mitgenommen hat, und dann wie er sie vergewaltigt hat, und wie er sie zurückgelassen hat, nachdem er ihr die Zunge abgeschnitten hatte. (V. 1122–1130)27

Und noch ein weiteres Defizit des Bildes zeigt sich in unmittelbarer Nähe dieser Ekphrasis, die keine ist. Gerahmt wird die ›Bildbeschreibung‹ durch das Verhalten der Alten, die Philomena bereitwillig ihre Stick-Utensilien zur Verfügung stellt: »Aber sie wusste nichts und verstand nichts von dem, was diese stickte; aber das Werk gefiel ihr.« (V. 1122–1124).28 Wie schön auch immer das von Philomena gestickte Kunstwerk ist, und auch wenn es große Bewunderung seiner Betrachter auslöst, es hat einen Nachteil: Sinn und Form stehen unvereinbar nebeneinander. Die Alte sieht die Form, versteht aber nicht den Sinn. Die Bilder stehen in keinem Sinnzusammenhang, wie auch das penetrant wiederholte, parataktische ›und dann … und dann‹ unterstreicht. Auch an späterer Stelle der Erzählung verweist Chrétien auf die Unvereinbarkeit von Sinn und Form im Bild: Denn Prokné, die das Werk über eine unwissende Botin erhalten hat, versteht wiederum im Unterschied zur Alten zwar den Sinn der Bilder, hat aber keinen Blick für die Form des ihr vorgelegten Bildwerkes.29 Chrétien betont Proknés auf Handlung (›Was‹) gerichteten Pragmatismus, der alles ›Wie‹ vergessen lässt: Und die Königin hat es [das Tuch] geöffnet, hat es angesehen und das Werk verstanden. Aber sie legt ihre Gedanken nicht offen, denn sie will weder Geschrei noch Krach verursachen, und so befiehlt sie ihr zu gehen. (V. 1236–1240)30

Sinn und Form, Ästhetik und Bedeutung vermag das Bild nicht zu vereinen. Doch genau das vermag das höfische Erzählen, wie Chrétien mit seiner höfisch-altfranzösischen Verwandlung der Philomena zeigt: Hier fallen Äußeres und Inneres zusammen. Während er das Ekphrastische ›wegerzählt‹, lässt er eine andere Qualität vor den Augen – oder besser: vor den Ohren seiner Rezipienten entstehen.

27 »Empres i fu la nef pourtraite, / Ou Thereus la mer passa, / Quant querre a Athenes l’ala, / Et puis comment il se contint / En Athienes quant il i vint, / Et comment il l’en amena, / Et puis comment il l’enforca, / Et comment il l’avoit leissie, / Quant la langue li ot trenchiee.« (ebenda, 944, Hervorhebungen S.W.). 28 »Mes el ne connut ne ne sot / Riens de quanque cele tissoit; Mes l’œuvre li abelissoit.« (ebenda, hier 944). 29 Vgl. dazu Roustant, die die Bildlichkeit der Sprache Chrétiens betont, die durch die Philomena-Erzählung in ihrem Wert hervorgehoben werde (Roustant, Philomena [wie Anm. 15], 68). 30 »Et la roïne l’a ouverte [la cortine] / Si la regarde et connut l’œuvre, / Mes son penser pas ne descuevre, / Que ne veut faire cri ne noise / Ains commande qu’ele s’en voise.« (Chrétien, Philomena [wie Anm. 11], hier 947).

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IV. Dramatisierung und Oralität So lässt sich feststellen, dass Chrétiens Philomena im Vergleich zur Ovid’schen Fassung den Anteil wörtlicher Rede drastisch erhöht. Hierbei sind zwei narrative Verfahren zu unterscheiden: a) der Dialog zwischen hereterodiegetischem Erzähler und fiktivem Leser und b) die Erhöhung des Redeanteils der Figuren bzw. die Dramatisierung der erzählten Handlung. Den Dialog zwischen heterodiegetischem Erzähler und fiktivem Leser kennt die Ovid’sche Erzählung nicht, bei Chrétien hingegen ist die Narration durchzogen von einem Frage-Antwort-Verhältnis zwischen Erzähler und Rezipienten, das von Beginn an eine orale Rezeptionssituation fingiert und das andere Werke Chrétiens nicht oder nur vereinzelt aufweisen. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Pandion war König von Athen, mächtig, großzügig und höfisch. Er hatte zwei Töchter, die er sehr liebte; die eine hieß Philomena, die andere Prokne; das war die ältere. Jene wurde verheiratet, ein König von Thrakien hielt um ihre Hand an, was Pandion sehr freute. – Er freute sich darüber? – so war es. – Warum? – Weil er sie einem König zur Frau gab. – Einem König? Nein, an einen treuebrüchigen Tyrannen. (V. 1–17)31

Der fiktive Zuhörer scheint immer wieder die Erzählung zu unterbrechen, um nachzufragen, so z. B. in der Szene, die von der Gefangenschaft Philomenas berichtet, die das Haus im Wald nicht verlassen darf: »– Wie? Warum? Wer hindert sie daran? – Wer? Die Bäuerin, die auf sie aufpasst, die, der Thérée sie anvertraut hatte.« (V. 1083–1085)32 Starke dialogische Ausweitung erfährt die Szene, in der Thérée Pandion bittet, seiner Tochter Philomena die Mitreise zu gestatten. Die Erzählung präsentiert im quasi-dramatischen Modus seine heuchlerische, an Vater Pandion gerichtete Rede dar. Ebenso wird die kurze Vergewaltigungsszene – statt erzählerischer Darstellung der Gräueltat – von einem langen Dialog zwischen Täter und Opfer eingeleitet und dominiert deutlich das Vergewaltigungsgeschehen. Dieser Dialog zwischen Thérée und Philomena lässt die unhöfischen Überzeugungen Thérées an die diskursive Oberfläche treten, und umso tugendhafter und höfisch ›idealer‹ erscheint Philomena in ihrer Verteidigungs- und Anklagerede.33 Zu wörtlicher Rede werden auch jene Teile der Ovid’schen Erzählung modifiziert, in denen Prokné beschließt, aus Rache den gemeinsamen Sohn zu töten und dem Vater als Mahl vorzusetzen: Die Dramatik des Geschehens wird im dramatischen Modus erzählerisch gestaltet. Die vermittelnde Erzählinstanz schaltet sich nach diesem streckenweisen Verzicht umso stärker immer wieder

31 »Pandion fu d’Athaines rois / Poissans et larges et cortois. / Deus Filles ot, que moult ama: / L’une avoit non Philomena, / L’autre Progne, ce fut l’ainsnee. / Celle fut a mari donnee. / Un roi de Trace la requist, / Dont Pandions moult liez se fist. / Moult liez s’en fist ? – Voire. – Pourquoi ? / – Pour ce qu’il la dona a roi. / – A roi? Mes a tirant felon.« (ebenda, hier 917). 32 » – Comment? Porquoi? Qui la retarde? / – Qui? La vilaine qui la garde, / Cui Thereus l’ot commandee.« (ebenda, hier 943). 33 S. dazu Rostant: »Face à Thérée, Philomena est la dame courtoise par excellence. […] il [Thérée] ne veut pas être éduqué à la courtoisie et son geste est extrême: il lui ôte la parole.« (Roustant, Philomena [wie Anm. 15], 70–71).

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ein: ein kommentierender, wertender, allwissender und vorausschauender Erzähler erinnert heutige Rezipienten an den antiken Chor. Man ist verleitet, nach diesen Beobachtungen im Falle Philomenas von einem höfischen Drama statt von einer höfischen Erzählung zu sprechen, sogar eine im aristotelischen Sinne tragödienhafte Heldenkonzeption und Schicksalsbetonung ließe sich zeigen. Chrétien auf dieser Grundlage das Ansinnen eines Genrewechsels zu unterstellen, wäre jedoch ahistorisch, weil die Schriften des Aristoteles erst im Spätmittelalter rezipiert wurden und das Mittelalter insgesamt als ›untragisches Zeitalter‹ gelten kann. Dennoch sind die Befunde nicht von der Hand zu weisen, und es gibt für sie meines Erachtens eine weit plausiblere Erklärung: Chrétien macht seinen Erzähltext zum mündlichen Erzählen, er betont mit seinem Text programmatisch die Bedeutung der Oralität für die antike Mythenrezeption im höfischen Erzählen. Nimmt man diesen Befund mit seiner im Cligès formulierten Sorge des Vergessens zusammen, so lässt sich daraus ein Plädoyer für eine Mythenaneignung lesen, die auf die Nähe zum kommunikativen Gedächtnis setzt: Mündlichkeit im Medium der Schriftlichkeit soll dazu beitragen, das ›Schweigen‹ um das überlieferte Wissen und das Weiterziehen des Wissens aus Frankreich weg zu verhindern. Um nicht zur translatorischen Durchgangsstation zu werden, darf Frankreich nicht auf das Medium Buch allein vertrauen. Die Performativität mündlicher Erzählkultur (Nachfrage/Antwort; Unterbrechung) wird von Chrétien in den Text eingewoben. Durch diese Amalgamierung präsentiert Chrétien Oralität nicht als Gegensatz der Schriftkultur, sondern als ein reflektiertes und mit Selbstbewusstsein profiliertes Charakteristikum höfischer Mythenaneignung. Die extreme beschreibende Ausweitung und Überbetonung des Trauerritus der Prokne, die in der Forschung stets als rätselhaft gilt, gewinnt vor diesem Hintergrund neue Plausibilität: Ihr Trauerritus zeigt kontrastiv eine andere, verfehlte Erinnerungspraktik. Verfehlt schon grundsätzlich deshalb, weil Philomena ja gar nicht wirklich tot ist. Vor allem aber auch deshalb, weil sie im Unterschied zu Chrétiens Erzählung allein auf schriftliche, bildliche und materielle Bewahrung setzt: Nach einem rituellen Akt der Tabula rasa (Ausbluten eines Stiers und dessen Verbrennen) füllt sie die Asche in eine weiße Schale, die unter einer Marmorplatte mit einem schrecklichen Bildnis und einer an Pluton gerichteten Inschrift vergraben wird. Chrétien mag die Philomena-Episode auch deshalb zur Übersetzung und als Erzählgegenstand ausgewählt haben, weil in ihr die Thematisierung jener medialen Flexibilität zentral angelegt ist, und weil sich die Gewebe-Metaphorik für die metafiktionale und poetologische Rede über die (intertextuelle und mythenrezeptive) Machart geradezu aufzwängt.34 Über diesen topischen Zusammenhang hinaus eignet sich Ovids 6. Buch in besonderer Weise, um nicht nur höfisch zu erzählen, sondern über das ›richtige‹, weil das höfische ›verankernde‹ Erzählen zu erzählen: Philomena ist nach dem gewaltsamen Verlust ihrer Zunge gezwungen, auf andere Medien der Kommunikation auszuweichen. Der Erzähler weicht auffällig vom 34 S. Erika Greber, Textile Texte: poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln/Weimar/Wien 2002, und Ottmar Ette, Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen, in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 9, 1985, H. ¾, 497–522.

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dramatischen Modus ab, wenn er Philomenas Gefangenschaft im Wald beschreibt, er solidarisiert sich mit ihrer Stummheit in dem Moment, als Philomena ihren Plan durchführt, ihr Schicksal mit purpurner Farbe einzuweben. Auch akzentuiert er das Vermögen der Bäuerin, die Gesten Philomenas zu deuten und zu verstehen, als sie diese um Überbringung ihres Werkes an Prokné bittet. Dass Deutung eine Herausforderung ist und dass es darum geht, richtig zu interpretieren, macht Chrétien auch durch eine erhebliche Ausweitung und Dialogisierung der Szene deutlich, in der Philomena und Thérée über die Deutung der Reaktion Pandions diskutieren. Während Thérée sein Schweigen als Zustimmung deutet, sieht Philomena in dieser Reaktion Ablehnung. Sie fragt: Was hat er Euch geantwortet? – Nichts. – Also, da gibt es nichts hinzuzufügen. Da er nicht antworten wollte, wird meine Schwester lange warten müssen, denn sie wird mich nicht so bald sehen. Ich weiß sehr wohl, das mein Herr der König nicht vorhat, mir seine Zustimmung zu geben; diese Geschichte gefällt ihm nicht. – Sie gefällt ihm nicht? – Nein, meiner Ansicht nach nicht. – Und woher wisst Ihr das? – Woher? Daher, dass er nicht antworten wollte. – Ihr könnt es anders auslegen, und es auf andere Weise verstehen: er hat meine Bitte von Anfang bis Ende gehört, und sehr wohlwollend, denn er hat mich mit keinem Wort unterbrochen, und daraus schließe ich, dass sie ihm gefällt, denn wer schweigt, ist einverstanden. – Dieses Sprichwort ist nicht wahr, und wir sind weiterhin bezüglich seiner Ablehnung oder Zustimmung im Zweifel. (V. 299–319)35

Mediale Gestaltung und gelingendes Verstehen bedingen sich gegenseitig, so unterstreicht Chrétien mit seiner Philomena-Erzählung. Wer richtig gedeutet und verstanden werden will, muss medial flexibel sein und das richtige Medium wählen – eines, das den eigenen Kompetenzen entspricht (so Philomena, deren besondere Begabung als Weberin von Beginn an hervorgehoben wird), und auch entsprechend dem intendierten Rezipienten (Thérée als Rezipient des Pandion’schen Schweigens; Prokné als Rezipientin des Gewebes; das mittelalterlich-höfische Publikum Chrétiens). Pandion hat seine eigentliche Ablehnung nicht in Worte zu fassen gewusst und verpasst damit die Chance einer Unheil vermeidenden Positionsnahme; Philomena weicht erfolgreich von der ihr genommenen Sprache auf die Weberei aus, und Chrétien führt mit seiner Erzählung das Performanzpotential36 der Schrift durch die Mündlichkeit vor.

35 »– Que vous respondi? – Nulle chose. / – Dont n’i convient il point de glose: / Desque respons ne vous vault rendre, / Assez me puet ma suer atendre, / Quar el ne me verra des mois. / Bien sai que mes sires li rois / N’a talent que congié me doigne: / Ne li plaist pas ceste besoigne. / – Ne li plaist mie ? – Non, ce croi. / – A quoi le savez vous ? – A quoi ? / A ce qu’il ne vous volt respondre. / – Autrement le poez espondre / Et entendre en autre manière: / Il oÿ toute ma priere / Et escouta moult volentiers, / Que mot ne dist endementiers, / Et pource quit je qu’il li plaist, / Qu’assez otroie qui se taist. / – N’est pas voire ceste sentence, / Qu’encor sommes nous en doutence / De l’escondit ou de l’otroi.« (Chrétien, Philomena [wie Anm. 11], hier 924–925). 36 Zur Performativität des höfischen Erzählens (über Philomena hinaus) s. Douglas Kelly, Narrative Poetics. Rhetoric, Orality, and Performance, in: A Companion to Chrétien de Troyes, hg. v. Norris J. Lacy und Joan Tasker Grimbert, Cambridge 2005, 52–63.

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V. Kulturelle Sesshaftigkeit gegen den Wind: unübersetzbar, unverwehbar Dass Chrétien in seiner Philomena programmatisch auf die Oralität höfischen Erzählens setzt, das ihre schriftliche Erscheinungsform konstitutiv trägt, zeigt sich auch im bemerkenswerten Schluss seiner Erzählung: Wie bereits erwähnt, ist seine Beschreibung der Verwandlung im Vergleich zu Ovid ornithologisch (re)konkretisiert. Er legt Wert darauf, dass für die zeitgenössischen Rezipienten seiner höfischen Erzählung – die möglicherweise in der antiken Mythologie nicht so firm sind wie die vorgängigen Rezipienten Ovids – klar ist, dass Philomena nicht in irgendeinen Vogel verwandelt wird, sondern in eine Nachtigall: Er [Thérée] ist ein Wiedehopf geworden, so wird erzählt, um seiner Sünde willen und um der Schande, die er der Jungfrau angetan hat. Procné wurde eine Schwalbe, und Philomena eine Nachtigall. Noch heute, folgte man ihrem Ruf, wären alle Untreuen einem schändlichen Tod und Ende anheimgegeben, und die Verräter und Eidbrecher, und alle die, die nicht an ihr Seelenheil denken, und alle die, die Schlechtes tun oder Eidverletzung oder Verrat begehen an einem jungen klugen und höfischen Mädchen, denn sie straft sie so und liegt ihnen so sehr in den Ohren, indem sie, wenn der Sommer beginnt und wir den Winter hinter uns gebracht haben, für die Schandtäter, die sie so sehr hasst, so lieblich sie kann in den Wäldern singt: ›Oci! Oci! [d.h. afrz. Töte! Töte!]‹ (V. 1448–1488)37

Somit ist der Schluss seiner altfranzösischen, höfischen Philomena eigentlich unübersetzbar: Nur das altfranzösische »Oci! Oci!« [o’tʧi, o’tʧi] bringt den Klang des Vogelrufes38 und den ›Sinn‹ zusammen, ist zugleich onomatopoetische Umschreibung und Neudeutung. Die Nachtigall steht eigentlich symbolisch für Liebe und Treue,39 ihr Ruf ist jetzt aber für immer umgeprägt: Chrétien deutet den Ruf der Nachtigall durch seine Erzählung um, gibt ihrem Gesang eine andere, zusätzliche Bedeutung im Klange ›seiner‹ altfranzösischen Sprache. Er wird zum immerwährenden, jahreszeitlich-zyklischen Appell zur Sanktionierung derer, die sich in die Folge des Thérée stellen. Dabei erfährt dessen Tat eine semantische Erweiterung, die deutlich über den Akt der Verstümmelung und Vergewaltigung hinausgeht: Alles, was dem höfischen Wertesystem im Kern widerspricht (Untreue, Verrat, Eidverletzung, Missachtung des Seelenheils, das heißt letztlich des Jüngsten Gerichts),40 muss sich vor dem Tötungs37 »Et il devint hupe coupee, / Si com la fable le raconte, / Pour le pechié et pour la honte / Qu’il avoit fet de la pucele. / Progné devint une arondele / Et Philomena rousseignos. / Encore, qui creroit son los, / Seroient a honte trestuit / Les desloial mort et destruit, / Et li felon et li parjure, / et cil qui de joie n’ont cure, / et tiut cil qui font mesprison / Et felonnie et traïson / Vers pucele sage et courtoise, / Quar tant lor grieve et tant lor poise / Que quant il vient au prin d’esté, / Que tout l’iver avons passé, / Pour les mauvés qu’ele tant het, / Chante au plus doucement qu’el set / Par le boschaige: Oci! Oci! De Philomena lairai ci.« (Chrétien, Philomena [wie Anm. 11], hier 952). 38 Zum akustischen Vergleich s. >https://www.youtube.com/watch?v=76GjTE3zpU0< (abgerufen am 04.02.2017). 39 Zum Symbolpotential der Nachtigall s. Véronique Gély, Jean-Louis Haquette und Anne Tomiche (Hg.): Philomèle. Figures du rossignol dans la tradition littéraire et artistique, Clermont-Ferrand 2006 sowie Wendy Pfeffer, The Change of Philomel: the Nightingale in Medieval Literature, New York/Bern 1985 und Adam Lengiewicz, Nachtigall, in : Günter Butzer und Joachim Jacob, Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2008, 246-247. 40 Zur christlich-moralisierenden Dimension der Philomena s. auch Marylène Possamai-Perez, Chrétien de

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appell der Nachtigall hüten. Das ist erfolgreiche, nachhaltige translatio des antiken Mythos: Dasselbe klingt nun anders in den Ohren, und wir können uns wie die zeitgenössischen Rezipienten Chrétiens diesem neuen Hören kaum entziehen: Der Ruf der Nachtigall erfährt durch die Erzählung Chrétiens eine für seine Rezipienten kaum auslöschbare Konnotation. Das höfische Publikum hört fortan im Rufen der Nachtigall Philomenas altfranzösischen Aufruf zum Töten jener, die die im antiken Mythos beschriebene moralische Devianz in der Gegenwart fortsetzen, der antike Mythos ist in das höfische Wertesystem integriert.41 Er kann damit gar nicht aus dem altfranzösischen, höfischen Kontext weg- und weiterziehen und entfaltet hier eine kulturspezifische, normgebende Bedeutung. So kann Chrétien schließen mit den Worten: »De Philomena lairai ci.« – »Ich werde jetzt aufhören, von Philomena zu sprechen.«. Er kann jetzt schweigen, denn die Nachtigall wird in ihrem Gesang – um mit Roland Barthes zu sprechen – die antike Erzählung über das höfische Erzählen »in Natur überführen«, als Mythos lebendig halten. Im verklingenden »lairai ci« wird das »Oci, Oci« immer klanglich mitschwingen und Echo halten. Und im »Oci! Oci!« hören wir durch Chrétien Philomenas anklagenden Appell – das Hören im zyklischen Lauf der Jahreszeiten gewährt die Sesshaftigkeit des antiken, dem Höfischen angeeigneten Mythos in Frankreich.

Troyes au début du XIVe siècle: Philomena moralisé, in: L’œuvre de Chrétien de Troyes dans la littérature française. Réminiscences, résurgences, et réécritures. Textes rassemblés par Claude Lanchet, Lyon 1997, 169– 185. 41 »Au-delà de la ›translation‹, du passage d’une langue à une autre, l’auteur doit aussi adapter le texte aux préoccupations et aux goûts de son époque. Il convient alors de repérer et d’interpréter la métamorphose culturelle que Chrétien fait subir aux histoires antiques.« Roustant, Philomena [wie Anm. 15], 64, >http://ler.letras.up.pt/uploads/ficheiros/12075.pdf < (Zugriff am 05.02.2018). In diesem Sinne ›moralisiert‹ Chrétien den antiken Mythos von Tereus, Philomela und Prokne, und das mag den anonymen Autor des Ovide moralisé dazu bewogen haben, Chrétiens Erzählung in sein Werk zu integrieren.

The Paradigm of spolia

Dale Kinney The gods of classical mythology were kept alive by medieval artists who drew and painted them, and they also survived in their original form as spolia. This paper considers an instance of spolia in twelfth-century Rome, a set of third-century Ionic capitals bearing images of Isis and Serapis that was reused in the church of Santa Maria in Trastevere. The incorporation of these pagan capitals in the colonnades of a Christian church was enabled by a paradigm change in the twelfth century – the so-called ‘renaissance’ of that era – but the interpretation of their reuse depends on paradigms articulated eight hundred years later. Those interpretive paradigms are the subject of the first two sections of this paper.

Disjunction For much of the twentieth century, the paradigm governing the study of myth reception in medieval art was the well-known article by Erwin Panofsky and Fritz Saxl published in 1933.1 Their work was itself governed by larger paradigms, including Jacob Burckhardt’s conception of the Renaissance as “the discovery both of the world and of man”, Ernst Cassirer’s view of man as a producer of symbolic meanings, and Aby Warburg’s ideas of “pathos formulas” and the Nachleben of classical antiquity.2 As these larger paradigms would predict, Saxl and Panofsky found that the classical “idea” was “reintegrated” in the Renaissance following its disintegration in the middle ages, when a different view of the individual prevailed. In their words, “the mediaeval mind [was] incapable of realizing […] the unity of classical form and classical subject matter”, to the extent that the image of “a classical Thisbe sitting by a classical mausoleum” would have been incomprehensible to mediaeval artists and viewers.3 The Renaissance 1 Erwin Panofsky and Fritz Saxl, Classical Mythology in Mediaeval Art, in: Metropolitan Museum Studies IV, 1933, 228–280. 2 Burckhardt as quoted by Michael Ann Holly, Panofsky and the Foundations of Art History, Ithaca NY/ London 1984, 33. 3 Panofsky and Saxl (as in n. 1), 268.

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reintegration of classical form and content was “a symptom of the general evolution which led to the rediscovery of man as a natural being stripped of his protecting cover of symbolism and conventionality”.4 The authors derived from their observations a “general formula” for medieval representations of classical myth, which was a corollary of Saxl’s theory of reintegration.5 Wherever a mythological subject was connected with antiquity by a representational tradition, its types either sank into oblivion or, through assimilation to Romanesque and Gothic forms, became unrecognizable.6

Panofsky later gave this formula a memorable name, the “principle of disjunction”, and in 1960 he offered a more elegant statement of its operation: Wherever in the high and later Middle Ages a work of art borrows its form from a classical model, this form is almost invariably invested with a non-classical, normally Christian, significance; wherever in the high and later Middle Ages a work of art borrows its theme from classical poetry, legend, history or mythology, this theme is quite invariably presented in a non-classical, normally contemporary, form.7

Panofsky identified a few exceptions to the principle or “law” of disjunction, including “the special domain of glyptography” and medieval depictions of pagan idols. With regard to glyptics, he acknowledged that medieval lapidaries (treatises on the properties of stones) describe the mythological iconographies found on ancient gems as constituents of the stones’ beneficent powers, but he insisted that “mediaeval patrons and artists were still inclined, unknowingly or on purpose, to misinterpret the subject” of these carvings in a Christian sense. He called such misinterpretations interpretatio christiana.8 Depictions of idols were exemplified by the statue now called Spinario (Thorn-puller), a bronze version of which was displayed in the middle ages outside the cathedral of St. John in the Lateran in Rome (fig. 1).9 Panofsky took the many medieval images of thorn-pullers to be derivatives from this statue and expansions of its negative connotations.10 Resistance to Panofsky’s work emerged in the 1960s and intensified in the 1970s and 1980s in the wake of the ‘new’ art history – political, anti-institutional, and receptive to lit4 Ibid. 5 Katia Mazzucco, Fritz Saxl. Transformation and Reconfiguration of Pagan Gods in Medieval Art, in: The Routledge Companion to Medieval Iconography, ed. Colum Hourihane, London/New York 2017, 89–104 (96). 6 Panofsky and Saxl (as in n. 1), 263. 7 Erwin Panofsky, Renaissance and Renascences in Western Art. Text, Stockholm 1960, 84. According to Warnke the Disjunktionsprinzip was first presented orally in 1927: Martin Warnke, L’histoire de l’art en tant qu’art, in: Roland Recht, Martin Warnke et al., Relire Panofsky, Paris 2008, 37–65, esp. 51–52. 8 Panofsky (as in n. 7), 88; cf. Dale Kinney, Interpretatio christiana, in: Maxima debetur magistro reverentia. Essays on Rome and the Roman Tradition in Honor of Russell T. Scott, ed. Paul B. Harvey Jr. and Catherine Conybeare, Como 2009, 117–125. 9 Richard Krautheimer, Rome. Profile of a City, 312–1308 (Princeton 1980), Princeton 2000, 189, 192– 197; Ingo Herklotz, Der Campus Lateranensis im Mittelalter, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte XXII, 1985, 1–43 (33). The statue is now in the Capitoline Museums. 10 Panofsky (as in n. 7), 89.

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1 Thorn-Puller (Spinario), 1st c. CE(?), Rome, Palazzo dei Conservatori

erary, psychoanalytic, feminist, Marxist, and other extrinsic bodies of theory – and the ensuing emergence of the framework of ‘visual culture’.11 Critics disliked the elite humanist (masculine) context of Panofsky’s interpretations, the bracketing of material and aesthetic considerations in the effort to separate form from content, and the rigorous systematization of his methods.12 To some scholars the relatively unsystematic approach of Aby Warburg now seems a more relevant paradigm.13 Georges Didi-Huberman called Warburg the dybbuk of Panofsky’s art history, the ghost that had to be exorcised in order to transform the study of art into a rational system.14 He specified that it was not the person of Warburg that Panofsky

11 Jonathan Harris, The New Art History. A critical introduction, London/New York 2001. 12 Warnke 2008 (as in n. 7), 48–59. 13 Keith Moxey, Visual Studies and the Iconic Turn, in: Journal of Visual Culture VII, 2008, 131–146 (135); Colleen Becker, Aby Warburg’s Pathosformel as methodological paradigm, in: Journal of Art Historiography IX, 2013, 1–25. For a recent application of Warburg’s method see Francisco Prado-Vilar, Tragedy’s Forgotten Beauty: the Medieval Return of Orestes, in: Life, Death and Representation. Some New Work on Roman Sarcophagi, ed. Jas Elsner and Janet Huskinson, Berlin/New York 2011, 83–118, discussed below. 14 Georges Didi-Huberman, L’Exorciste, in: Roland Recht, Martin Warnke et al., Relire Panofsky, Paris 2008, 67–87. This is an expanded version of the preface to the English edition of the author’s Devant

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had to exorcise but the essence of his conception of Nachleben: the power of art to haunt, to adhere to another form. A surviving image is an image that, having lost its original use value and meaning, nonetheless comes back, like a ghost, at a particular historical moment: a moment of ‘crisis’, a moment when it demonstrates its latency, its tenacity, its vivacity, and its ‘anthropological adhesion‘, so to speak.15

Thus, according to Didi-Huberman, the seminal article of 1933 opposed “survival” to “renaissance” in a hierarchical relationship: the basse catégorie, survival, belonged to the middle ages; the haute catégorie was renaissance, equated with the Renaissance, the time of reintegration. Survival entailed an “unredeemed ghost” while the Renaissance brought about a resurrection. Didi-Huberman noted that this opposition was in reality the statement of an aesthetic preference, elevated to the status of a scientific principle.16 The medievalist Michael Camille also objected that the rationalist mode of interpretation championed by Panofsky and – for the high middle ages – by Émile Mâle is inadequate to explain the potency of images and ignores the ideological frame within which all images are produced and received. In The Gothic Idol, published in 1989, he proposed a new paradigm for interpreting images of mythological figures in medieval (Gothic) art based on the premise that visual representations, ranging from signs like the Sacraments to statues, have power that had to be authorized or constrained, depending on their conformity or not to prevailing mores. Pictorial representation could … be a forceful weapon against the idols of the Other because, by re-presenting the representation of those alien cultures within its own visual value-system, the Christian Church could control and ultimately negate them by means of distortion, incompletion, and effacement.17

Camille’s paradigm subtly shifts the agency at work in the persistence of images of the gods of classical mythology. It was not (just) a matter of the gods’ survival, but of Christians’ need to keep them alive in order to define their own images against them: “[idols] were necessary, and therefore represented, in order to assert the dominance of another set of images – those of the Christian Church.”18 Idols were thus “anti-images”, “provid[ing] self-definition for a culture in which the visible was still tied to the supernatural…”.19 The Others in Camille’s account are Pagans, Saracens, and Jews. In a section called “The Gothic Anti-image” he devoted a chapter to the idols of each. After tracing the long history of the Judeo-Christian belief that “all the gods of the Gentiles are devils” (Ps. 95.5) and the medieval conviction that demons inhabited their images (Isidore of Seville: “demons substituted themselves [in images of humans] to be worshipped”), Camille argued that medieval

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l’image: Confronting Images. Questioning the Ends of a Certain History of Art, trans. John Goodman, University Park PA 2005, xv–xxvi. Didi-Huberman 2005 (as in n. 14), xxii; cf. Didi-Huberman 2008 (as in n. 14), 76. Didi-Huberman 2008 (as in n. 14), 78–81. Michael Camille, The Gothic Idol. Ideology and Image-making in Medieval Art, Cambridge/New York etc. 1989, xxvi. Ibid., 71–72. Ibid., 72.

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artists and viewers “neutralized” the power of antique images by two strategies: “allegorical reclassification” and “aesthetic appropriation”.20 Nudity posed a special problem. The Genesis myth equates the sight of nakedness with sin (Gen. 3.7: “And the eyes of them both were opened: and […] they perceived themselves to be naked”).21 The sight of a nude statue could activate “yet another level of power – [the] capacity to arouse […] physical feelings”.22 Medieval depictions of naked statues evoked this power in order to combat it, but confrontation with the statues themselves could be unsettling. The Spinario, a naked boy described by one medieval author as having “genitals of extraordinary size”, took on “a whole culture’s perception of genital sexuality”.23 It was for this reason, according to Camille, that it became ‘a standard sign of infamy’ and was so frequently represented in medieval art. Camille’s paradigm affirms the “principle of disjunction” but re-values it. A disjunction of classical form from its content did occur, but viewed from the perspective of medieval rather than Renaissance ideology, the “deformation” of the pagan gods was “one of their most radical reformations”. Medieval artists “re-creat[ed] the gods in their own terms”, showing a capacity “constantly to reinvent rather than refer to meaning”. When medieval disjunctions are understood in relation to the purposes for which each separate image was produced, “form and content were very much united”. The deployment of mythological subject matter in high medieval art must be understood as effecting a “transfer of power”.24

Spolia A third paradigm for understanding the reception of mythological imagery in the middle ages was put forth in 1969 by the German historian Arnold Esch.25 It has been largely ignored in iconographic scholarship because it pertains to spolia – antique objects physically, rather than mimetically, reused. The most common form of spolia was architectural, such as the Roman columns and capitals famously transported to Aachen to be reused in Charle20 Psalm 95.5 (“quoniam omnes dii gentium daemonia at vero Dominus caelos fecit”); quoted in the Douay-Rheims translation (>http://www.drbo.org/index.htmhttp://www. thelatinlibrary.com/isidore.htmlhttps://books.google.com/< (accessed 9 March 2017). Quoted in a German translation by Erika Zwierlein-Diehl, Antike Gemmen und ihr Nachleben, Berlin/New York 2007, 252.

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pretatio christiana.46 For his part, Michael Camille adduced the fascinating example of a late antique cameo bearing the image of an emperor in military dress holding a lance and a statuette of Victory (Farbabb. 33) to show how “an image that […] could have been seen as an idol was […] redefined as a miracle-working object” and thereby appropriated and controlled.47 Known in the middle ages as the Kaadman, the cameo was used to aid women in childbirth: placed between the birthing mother’s breasts and moved slowly toward her nether parts, it caused the child to flee beneath it. This extraordinary practice cannot be said to have entailed interpretatio christiana because Matthew Paris, who recorded it, did not claim any Christian content for the carving. He failed to identify the figure at all, describing it only as an “image”: “a certain tattered imago, holding in its right hand a spear on which a serpent creeps upward, and in the left hand a clothed boy holding some kind of shield on his shoulder and extending his other hand toward the imago.”48 Suzanne Lewis attributed Matthew’s non-identification to a “loss of iconographical literacy”, but un-naming was a common medieval strategy for depriving pagan images of their original power.49 Their subject matter was simply denied, allowing medieval users to focus on other qualities of the object, such as its precious material, and/or to permit an image to acquire new, more helpful powers like the Kaadman’s.50 A reconciliation of the principle of disjunction with spolia was achieved by Salvatore Settis in a brilliant essay published in 1986.51 Departing from a letter of Wibald, abbot of Stavelot and Corvey (d. 1158), in which the aged abbot defended his reading of pagan authors as an attempt to reconcile authorities (auctoritates) and as a hunt for spolia (“I do not enter their camps as a deserter, but as a scout eager to take spoils”), Settis proposed that the antique sarcophagi reused and displayed throughout Italy in the eleventh and twelfth centuries were similarly a “repository of potential citations” for artists.52 He identified three ways in which such artistic citations could be related to their sources: (1) pagan form and content could remain united; (2) a pagan form could be reproduced with a Christian meaning (interpretatio christiana); (3) a pagan form could be “reproposed”, “transmitted, without any inter-

46 Panofsky 1960 (as in n. 7), 88. 47 Camille 1989 (as in n. 17), 107. 48 Matthaei Parisiensis, Monachi Sancti Albani, Chronica Majora, ed. Henry Richards Luard, 7 vols., VI, London 1882, 387–88 (“Insculpitur autem eidem lapidi imago quaedam pannosa, tenens in dextra hastam, quam serpens rependo ascendit, et in sinistra puerum vestitum, tenentem ad humerum quoddam ancile et aliam manum versus ipsam imaginem extendentem, prout in antecedenti pagina figuratur”). 49 Suzanne Lewis, The Art of Matthew Paris in the Chronica Majora, Berkeley/Los Angeles, etc. 1987, 48. 50 Dale Kinney, Ancient Gems in the Middle Ages: Riches and Ready-mades, in: Reuse Value. Spolia and Appropriation in Art and Architecture from Constantine to Sherrie Levine, ed. Richard Brilliant and Dale Kinney, Farnham UK 2011, 97–120 (111). 51 Salvatore Settis, Continuità, distanza, conoscenza. Tre usi dell’antico, in: Memoria dell’antico nell’arte italiana, ed. Salvatore Settis, 3 vols., Turin 1986, III, 373–486. 52 Wibald of Stavelot, Ep. CXLVII, ed. J.-P. Migne, Patrologia Latina, CLXXXIX, 1249–57 (1252) (“scias, quod ego haec castra ingredior non tanquam desertor et transfuga, sed sicut explorator et spoliorum cupidus”); Settis 1986 (as in n. 51), 383–384, 401.

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2 Winged boy with downturned torch by Wiligelmo, ca. 1099, Modena Cathedral, west façade

pretation”.53 Two of these three alternatives contradict the principle of disjunction. The first, in which form and content remain united, is exemplified by types that are only loosely mythological, such as the winged boys (cupids) imitated by Wiligelmo on the façade of Modena Cathedral (fig. 2). The more substantial third category is analogous to Matthew Paris’s treatment of the Kaadman. It is represented by Nicola Pisano’s adaptation of Phaedra on the second-century sarcophagus in Pisa that was reused for the burial of Beatrice of Lorraine in 1076. The sculptor reversed the seated figure to serve as the Virgin Mary in the relief of the Adoration of the Magi that he made for the pulpit of the Baptistery of Pisa around 1260 (fig. 3; Farbabb. 34).54 Under Panofsky’s paradigm Nicola’s imitation exemplified the principle of disjunction. Settis argued against this, maintaining that the thirteenth-century sculptor saw the antique relief not as a collection of forms to be reinterpreted but as forms with no content at all: Leaving aside any interpretation of the ancient relief, Nicola recognized in it a nobility of form and of style that was itself conducive to reuse, and therefore could be … reproposed in a new context, with a

53 Settis 1986 (as in n. 51), 408–409. 54 Paul Zanker and Björn Christian Ewald, Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage, Munich 2004, 16–17.

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3 Sarcophagus with scenes of Phaedra and Hippolytus (detail), 2nd c. CE, Pisa, Camposanto

shift of meaning that cannot be labeled interpretatio christiana, but is a conscious filling with new content of a form (an iconographic scheme) handed down only as such.55

Extrapolating from such analyses, Settis offered a compelling generalization: Losing, through the passage of time and the profound break in culture, every precise reference to the myths and themes that once were generally known, the sarcophagus reliefs could have spoken the generic and indistinct language of a past era populated by remarkable, unnamed figures of gods and heroes, of broad dramatic gestures, of loose and flowing garments. Thus we might say that every sarcophagus wound up telling the story of Orestes or of Phaedra, since no one knew the stories anymore; but perhaps for this very reason the sarcophagus came to condense, in its moving and crowded figures, something more than those stories … It tended to become, by virtue of its rarity, the indeterminacy of its meaning, and the difficulty of deciphering it, an exemplum capable of representing the very face of antiquity … That empty center, the absent meaning does not impede or block the auctoritas of the model but, tending to shift it to the side of form, transports almost the entire figural patrimony handed down by the Ancients to the familiar field of ornament, renders it more available to study and to copying, and invites [one] to give a new meaning to the ancient figures without names.56 55 Translated from Settis 1986 (as in n. 51), 409. 56 Ibid., 409–410; cf. Janet Huskinson, Habent sua fata: Writing life histories of Roman Sarcophagi, in:

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Although they do not address Settis’s argument explicitly, two recent contributions may be said to amplify or modify his posited alternatives to the principle of disjunction. Rita Amedick’s comprehensive study of thorn-pullers in antiquity and the middle ages demonstrated a previously unrecognized continuity of form and meaning from Roman times through the fourteenth century.57 She showed that medieval thorn-pullers were not all descended from the bronze statue at the Lateran but from a variety of ancient compositions on the same theme, which belonged to the “dionysiac-bucolic” genre and represented shepherds and other low-status people as rude rustics, “laughable and indecent”.58 The several compositional types of thorn-pullers passed directly from late antique into Christian art as images of the seasons, eventually condensing into the emblem of the month of March. Most important for the present discussion, Amedick demonstrated that the modern perception of the Lateran Spinario as “the idol par excellence” in the middle ages is a category mistake; it was not an idol at all. She explained the thirteenth-century description of it as a figure of Priapus with enormous genitals as a reflection of the author’s familiarity with the medieval tradition of the theme and his textual knowledge of Dionysiac mythology, not of his view of it as an idol.59 Amedick’s argument provides a substantive demonstration that unity of ancient form and content not only persisted in medieval art but was perfectly comprehensible to medieval artists and viewers. It also tends to return the problematic of the Spinario to the realm of iconography, acknowledging its sexuality as indecent but ignoring Camille’s point about the dangerous power of such imagery to provoke emotional and physical responses. In a study of eleventh- and twelfth-century imitations of a second-century Orestes sarcophagus then in the church of Santa María de Husillos (Palencia), Francisco Prado-Vilar advanced a neo-Warburgian paradigm for understanding such imitation that differs significantly from Settis’s concept of ‘reproposal’.60 Prado-Vilar rejects the premise that the content of ancient mythological forms was vacated by time and changing culture. Marrying Warburg’s Pathosformeln with Pierre Nora’s lieux de mémoire, he argued that the impetus for the initial imitation of figures on the sarcophagus – by the sculptor of a figured capital made for the Benedictine church of San Martín de Frómista (fig. 4) – was the sculptor’s recognition of the emotional content of the relief ’s emphatic gestures (“gesture as psychic movement”).61 As other sculptors continued the “reactivation” of these Pathosformeln, the sarcophagus became a lieu de mémoire “where the artistic memory of Spanish Romanesque sculpture ‘crystallizes and secretes itself ’”.62 The capital in question showed two naked males on its front side, one a close copy of Orestes killing Aegisthus on the sarcophagus and the other adapted from the Life, Death and Representation. Some New Work on Roman Sarcophagi, ed. Jas Elsner and Janet Huskinson, Berlin/New York 2011, 55–82 (esp. 56–57). 57 Rita Amedick, Dornauszieher: Bukolische und dionysische Gestalten zwischen Antike und Mittelalter, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft XXXII, 2005, 17–51. 58 Ibid., 38. 59 Ibid. 60 Prado-Vilar 2011 (as in n. 13). 61 Ibid., 92. 62 Ibid., 88 quoting Pierre Nora, Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire, in: Representations, XXVI, 1989, 7–25, esp. 7.

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4 Capital in San Martín de Frómista, late 11th c. (Modern reconstruction)

fleeing nurse.63 Prado-Vilar identified the new subject as Cain killing Abel, and the female figures on the sides of the capital as “the Furies of the sarcophagus […] with function and meaning unchanged, as if their persecuting rage had carried them directly from mythical to biblical times”.64 Although he implied that accurate identification of the original subject was a possibility for medieval viewers, Prado-Vilar emphasised that nearly any viewer could have grasped the “core” of the mythological story from the gestures alone, as is proven by their medieval reception: It is no coincidence that themes of genealogy, crime and sacrifice are at the core of the iconography of the … Romanesque works more intensely indebted to the imagery of the sarcophagus … It is as if style and iconography, mimicking the Erinyes, were relentlessly following the trail of family blood.65

Despite its art historical importance, the seminal capital in San Martín de Frómista was mutilated “in what seems to have been a deliberate act of censorship” while the church was 63 Settis 1986 (as in n. 51), 402–403, 409. Prado-Vilar 2011 (as in n. 13), 95 sees the action as Orestes agonising over whether to kill his mother, who is shown already dead (see the much better photos in Settis 1986, figs. 369–373). 64 Prado-Vilar 2011 (as in n. 13), 101. 65 Ibid., 99.

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being restored in the early twentieth century.66 The nude male figures were crudely hacked off. The damaged capital is now in the Museo Arqueológico Provincial in Palencia, and a copy based on its original state is in San Martín. The paradigms enunciated by Camille, Esch, Settis, and Prado-Vilar are complementary in some respects and incompatible in others. Today’s scholars are free to choose one, to amalgamate two or more, or to create a new one with which to interpret any particular instance of mythological re-presentation. In the final section of this paper I will explore some of the possibilities of this fluid situation for the interpretation of a group of spolia that I first studied many years ago, before most of the revisionist publications had appeared.

A Case Study Like all medieval churches in Rome, the twelfth-century basilica of Santa Maria in Trastevere (Farbabb. 35) was built entirely of spolia: reused bricks, reused column shafts and capitals, even reused mosaic tesserae. The colonnades are unusual, however, in that eight of the twenty-two capitals in the colonnades bear heads of the Egyptian deities Isis and Serapis on the abaci, and six show busts of Harpocrates in the volutes.67 The capitals were salvaged from the outer precinct of the Baths of Caracalla, where they originally decorated the colonnades fronting the libraries. The third-century planner of the ornament probably intended that the heads of Serapis and his consort would remind viewers of the Temple of Serapis (Serapeum) in Alexandria and by metonymy of the great library there. Like the cult statue in the Serapeum, the heads of Serapis on the capitals wear the modius, or grain measure (fig. 5). The heads of Isis are also Hellenistic in iconography, but less consistent; some have her long ‘corkscrew’ tresses (fig. 6), at least one had a kind of headdress, and another wore a veil. Isis’s son Harpocrates makes his signature gesture of pressing the right index finger to his lips, calling for silence. My original study of these capitals focused on their provenance, the juridical status of Roman spolia in the middle ages, and the decipherability of the capitals’ iconography.68 I have recently returned to the last problem in another venue and will not revisit it here.69 Instead I will test the utility of the new paradigms, emphasising power, vacated content, aesthetic appeal, ornament, gesture, reproposal, and ghosts. The power of the pagan images can be gauged by their physical reception. As Esch observed, statues were usually destroyed. At Santa Maria in Trastevere three of the heads of deities have been obliterated and three more are damaged (fig. 7). As at San Martín de Frómista, this vandalism occurred in the early modern period and was the work of masons 66 Ibid. 67 Patrizio Pensabene, Roma su Roma: reimpiego architettonico, recupero dell’antico e trasformazioni urbane tra il III e il XIII secolo, Vatican City 2015, 879–880, cat. 101–108. 68 Dale Kinney, Spolia from the Baths of Caracalla in S. Maria in Trastevere, in: Art Bulletin LXVIII, 1986, 379–397. 69 Dale Kinney, Afterlife and Improvisation at Santa Maria in Trastevere, in: The Lives and Afterlives of Medieval Iconography, ed. Pamela A. Patton, College Park PA, forthcoming.

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5 Santa Maria in Trastevere, Rome, third capital in the north colonnade with head of Serapis, 212–17 CE

6 Santa Maria in Trastevere, Rome, fifth capital in the south colonnade with head of Isis, 212–17 CE

charged to clean the capitals during a restoration in the 1860s.70 It is unlikely that these pious craftsmen thought that the images contained demons. It was not fear of pagan idols that motivated their attack but a sense of decorum; ‘idols of the Other’ seemed blasphemous inside a Christian church. This nineteenth-century sense of propriety is part of our own heritage as interpreters. At some level it must be an obstacle to fully understanding the medi70 Karl Baedeker, Italie. Manuel du voyageur, Pt. 2, Italie centrale et Rome, Leipzig 1877, 327.

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7 Santa Maria in Trastevere, Rome, fifth capital in the north colonnade, destroyed head of Isis

eval – specifically twelfth-century – appreciation of classical sculpture, especially when its subject matter contains early modern taboos. The power of the little heads in Santa Maria in Trastevere was arguably greater in the nineteenth century than it was in the twelfth. The eight pagan heads and sixteen reliefs on the capitals are not statues and could not have been regarded as idols. They are more comparable to the figures on the ancient cameos and intaglios that adorned reliquaries, book covers, antependia, liturgical implements, and the robes and fingers of bishops in the twelfth century. The images of gods and heroes carved into these stones were sometimes subjected to interpretatio christiana, but pace Erika Zwierlein-Diehl, who adheres strictly to Panofsky’s principle of disjunction and insists that the figures were always reinterpreted, this was not necessarily so.71 Many, like the imago on the Kaadman, were emptied of their original content by time, as in Settis’s paradigm, or by deliberate acts of un-naming that brought their craftsmanship – the noble forms – and their precious and potent materials to the fore. The capitals too were valued primarily for their material. Marble, especially marble from the city of Rome, had a powerful aura of quality and history.72 The builders of Santa Maria in Trastevere glorified their construction by adorning it with as much ancient marble as possible, the more elaborately carved the better. In this context the pagan heads added to the décor as one more component of the ornament, enhancing the variety of the carved surfaces. The principal motive for reusing the capitals probably was aesthetic, and they are good examples of Esch’s “reuse at any price”. Quite apart from any unsuitability of the figures, they are overscaled with respect to their new location

71 Zwierlein-Diehl 2007 (as in n. 45), 250–264. 72 Esch 1969 (as in n. 25), 29–30; Settis 1986 (as in n. 51), 388–389.

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8 Santa Maria in Trastevere, Rome, fifth capital in the south colonnade, from below

and several are significantly larger in diameter than the column shafts that support them (fig. 8). They were considered too good not to reuse. Even if the small heads and busts were empty imagines, however, the gesture of the figures in the volutes demanded attention. Though hardly a Pathosformel, the gesture of putting a finger to the lips is meaningful and easy to construe. It is directed at viewers looking up at the capitals from the nave, including the canons seated in the schola cantorum (Farbabb. 36). Even the simplest viewer would have understood the admonition to be silent. The builders may have intended this reaction, didactically or as a kind of joke. Readers of the classics, however, would have known that the command to silence – favete linguis – was associated with pagan religion. Probably only a few would have been able to connect the gesture specifically with Harpocrates, but most clerics with a classical education would have recognized the busts and heads as generically pagan.73 As such they were less “the face of antiquity” (Settis) than the face of history, a providential history in which the center of pagan religion was destined to be transformed into the center of Christianity. In my view this is one of the themes of the mid-twelfth-century text known as the Mirabilia urbis Romae, which systematically notes the locations of Rome’s ancient temples and their ruin or replacement by churches.74 According to the Mirabilia, the Pantheon, rededicated to Mary, had been a temple of Cybele, and the same was true of Santa Maria Maggiore.75 The pagan capitals in Santa 73 Kinney, Afterlife and Improvisation (as in n. 69). 74 Dale Kinney, Spolia as Signifiers in Twelfth-Century Rome, in: Hortus artium medievalium XVII, 2011, 151–166, esp. 156–157. 75 Mirabilia urbis Romae 16, 28, ed. Roberto Valentini and Giuseppe Zucchetti, in: Codice topografico della città di Roma, 4 vols., III, Rome 1946, 34–35, 60.

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9 San Lorenzo fuori le mura, Rome, capital in porch, 1216–27

Maria in Trastevere would have implied a similar providential origin for that church and thereby enhanced its prestige. Because of their small size and location, the little heads in Santa Maria in Trastevere could not have served as formal exemplars for medieval sculptors. The Ionic capitals to which they belong, however, might be seen as a form of reproposal, in the sense that every spolium is reproposed by the craftsman who re-presents it in a new work of art. Like the figure of Phaedra in Settis’s paradigm, the capitals had lost their original meaning as the signifier of a distinctive ‘Order’ of architectural decoration defined as graceful and feminine.76 They were re-presented simply as capitals, mixed in with Corinthian and other Ionic specimens of different types (Farbabb. 37). Nevertheless, as the most ornate and possibly the largest Ionic capitals on display in Rome at the time, they must have attracted the interest of medieval marble carvers (marmorarii) attempting to recreate the type on their own. Ionic capitals with disproportionately large volutes filled with foliage, like the Isis and Serapis capitals, appeared around 1180 in the porch of Santi Giovanni e Paolo and later in the porch of San Lorenzo fuori le mura (1216–27) (fig. 9).77 76 Vitruvius, De architectura IV.i.7–8. 77 Peter Cornelius Claussen, Magistri doctissimi romani. Die römischen Marmorkünstler des Mittelalters, Stuttgart 1987, 32, 138–139; figs. 36, 190.

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10 San Lorenzo fuori le mura, Rome, capital in south colonnade, 1216–27

The same family of sculptors who created the porch of San Lorenzo fuori le mura also made an exceptional capital in the south nave colonnade, which contains a frog in the center of one volute and a lizard in the other (fig. 10). Winckelmann mistook it for the work of the ancient Greek architects Sauras and Batrachus, who, according to Pliny, signed column bases in the Portico of Octavia with these same animals (σαύρα, lizard; βάτραχος, frog).78 Peter Cornelius Claussen pointed out that the thirteenth-century author of the capital must have known Pliny’s text as well, and like Winckelmann he misinterpreted columnarum spiris (“in the bases”) as “in the volutes”. Claussen considered the capital an attempt to “approximate an ancient model on the basis of a literary report”.79 The sculptor must have looked at real capitals as guides to his reconstruction, but Irmgard Voss denied that there was any attempt to imitate the spolia in Santa Maria in Trastevere or anywhere else. She argued that the thirteenth-century sculptors worked in a contemporary idiom in which antique style played “no decisive role”.80 Perhaps, then, the Isis and Serapis capitals posed a challenge rather than a formal exemplar, setting a high bar for ostentatious ornament that some medieval sculptors strove to meet on their own terms. The spolia in Santa Maria in Trastevere, as in all medieval Roman churches, are tangible, material connections to Rome’s great imperial past, but they also contain Rome’s ghost. Rome haunted Rome throughout the middle ages. The spirit of ancient architecture resided in the column shafts and capitals that were hoisted from the ruins of one Rome and re-erected in the churches of the other. This was recognized by Giorgio Vasari, who wrote admiringly of 78 Pliny, Naturalis historia XXXVI.iv.42 (“nec Sauram atque Batrachum obliterare convenit […] sunt certe nunc in columnarum spiris inscalptae nominum eorum argumento lacerta atque rana”). 79 Claussen 1987 (as in n. 77), 143. 80 Irmgard Voss, Studien zu den ionischen Kapitellen von S. Lorenzo fuori le mura, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana XXVI, 1990, 31–86, esp. 66–68.

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the spolia in the buildings of Constantine, especially the “columns, bases, capitals, architraves, cornices, doors and other revetments and ornaments” in St. Peter’s.81 He opined that because of spolia, architecture in Rome did not decline as badly in the middle ages as did sculpture and painting; “since they made the grand buildings almost entirely of spolia, it was easy for architects making new [buildings] to imitate in large part the old ones that they had always before their eyes”.82 Spolia kept Roman architecture from becoming truly medieval; the Romanesque and Gothic styles passed it by. At the same time they testified to the ruin and abandonment of the classical past. The ghost of that past never was “redeemed”; it persists to this day.

81 Translated from Giorgio Vasari. Le Vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, ed. Rosanna Bettarini and Paola Barocchi, II, pt. 1, Florence 1967, 15. 82 Ibid.

Mixanthropoi Die mittelalterliche Rezeption antiker hybrider Kreaturen

Irene Berti/Filippo Carlà-Uhink

Mixanthropoi in der Antike Die Mixanthropoi sind in der griechisch-römischen Kultur mythische und kultische Wesen, die keine rein anthropomorphe Ikonographie haben, wie es ansonsten für die übernatürlichen Wesen der Antike üblich ist. Sie sind Mischwesen, deren Körper teils menschlich, teils tierisch sind.1 Diese Kategorie ist gewissermaßen künstlich: Weder die Griechen noch die Römer haben je die Mixanthropoi als solche – und separat von den anderen, rein anthropomorphen mythischen Kreaturen und Göttern – definiert. Die ›Mixanthropie‹ ist vielmehr eine transversale Eigenschaft, ein Merkmal, unter dem wir verschiedene übernatürliche Wesen gruppieren, die teilweise eine sehr unterschiedliche Semantik entwickeln. Dennoch gibt es gemeinsame Charakteristika, die eine solche Gruppierung hermeneutisch sinnvoll machen.2 Der Mythos bietet viele Geschichten von übernatürlichen Wesen an, die eine gemischte Gestalt haben. In den lokalen Sagen Griechenlands kamen häufig Mischwesen vor, die gelegentlich wichtig und sogar Protagonisten eines bedeutenden Kultes werden konnten. Das ist z. B. der Fall bei Kekrops, der als erster mythischer König von Athen auf der Akropolis verehrt wurde; er erhielt heroische Opfer – war also Adressat eines Kultes – und wurde als 1 Über Mixanthropoi in der Antike s. vor allem Emma Aston, Mixanthrôpoi: Animal-Human Hybrid Deities in Greek Religion, Lüttich 2011. 2 Anders als die Ägypter oder die Babylonier hatten die Griechen und die Römer keine rein tierischen Gottheiten. Die berühmtesten mixanthropischen griechischen Götter sind vielleicht Pan, Satyroi und Silenoi. Einige göttliche Figuren wurden als shapeshifter empfunden, die sich teilweise in menschlicher, teilweise in tierischer Form den Menschen zeigen, wie etwa Proteus, Thetis und Acheloos (Aston 2011 [wie Anm. 1], 277–278). Gottheiten, die nur mit einem tierischen Attribut, wie Flügel oder Hörner, in ihrer traditionellen sonst anthropomorphen Ikonographie dargestellt werden, wie Eros oder die späte Nemesis, werden in diesem Beitrag ausgeklammert: Diese Attribute sind so verbreitet, dass sie nicht ausreichen, um ein göttliches Wesen zu einem Mixanthropos zu machen.

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Schlangenmensch dargestellt.3 Obwohl die Mixanthropoi nicht unbedingt und nicht überall Objekt eines Kultes waren, waren sie sehr lebendige Protagonisten der mythischen Erzählungen – so lebendig, dass sie noch heute bekannt sind, wie etwa der Minotaurus oder die Sirenen. Ihre Ikonographie mag sich in den Merkmalen oder in den Erscheinungsformen im Laufe der Zeit geändert haben, die Darstellung als Mischwesen jedoch blieb erhalten. Obwohl die antiken Mixanthropoi potentiell gefährlich sind, haben die meisten auch positive Eigenschaften. Gerade die Mixanthropie selbst ist eine Eigenschaft, die mit übermenschlichen Qualitäten verbunden ist: Trotz des halbtierischen Wesens verfügen diese Kreaturen (seien sie Götter, Heroen oder Dämonen) über magische Kräfte, die kein Mensch besitzen darf. So können z. B. die Sirenen besser als jeder Mensch singen; Chiron und Kekrops sind Verfechter der paideia; Letzterer ist auch der Erfinder von zivilisatorischen Institutionen wie der Ehe, der Erstere begleitet den Übergang von der Wildheit der Kindheit in die Rationalität des Erwachsenenalters. In diesem Sinne stellen sie wichtige Prinzipien der Zivilisation dar, die als Gegenwelt zum tierischen Dasein anzusehen sind. Nicht selten stellen Mixanthropoi, wie im Fall der Kentauren, auch ein überholtes Stadium der Zivilisation dar: Sie können nicht selbst Teil der zivilisierten Welt sein, verkörpern aber die Liminalität und den Übergang zu dieser, was ihre doppelte Natur erklärt. Gleichzeitig symbolisieren die Mixanthropoi in vielen Fällen eine geographische und kulturelle Distanz (wie im Fall der Sirenen), oft in Form einer Gegenwelt, insbesondere wenn sie als Wesen, die in weit entfernten Regionen – buchstäblich am Rand der Welt – existieren,4 aufgefasst werden. Die Beziehung zu dieser Form der Alterität ist deshalb in der klassischen Antike ambivalent: Die Mixanthropoi provozieren Schrecken und Furcht, aber auch Faszination, Wünsche, Ideale. Sie stellen eine Gegenwelt dar, aber gleichzeitig auch die Ursprünge der jetzigen menschlichen Welt; sie sind häufig gleichzeitig das Symbol von Feindes- und Glückswelten. Sirenen, Kentauren und andere mythische Mischwesen symbolisieren kulturelle Räume, deren Verhaltensmuster und Wertvorstellungen im eigenen kulturellen Raum nicht zugelassen oder nicht realisierbar sind, mit denen man aber durchaus im Dialog steht und deren Möglichkeiten man für das Ausbalancieren der eigenen kulturellen Praxis anwenden kann (etwa in Initiationsritualen).5 Nicht zufälligerweise geht es, wenn die Mischwesen als ›Volk‹ am Rand der Welt dargestellt werden, in den Mythen prinzipiell nicht darum, sie zu vernichten, sondern sie auf Distanz zu halten und in die eigenen Grenzen zu weisen. Anders verhält es sich mit einzigartigen Mischwesen wie dem Minotaurus, die es zu töten gilt. Aber auch in diesem Fall liegt die Bedeutung des Wesens (und seine Gefahr) in der 3 Für Kekrops s. Johannes Scherf, Kekrops, in: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte) (Hg.), Der Neue Pauly, >http://dx.doi.org. ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/10.1163/1574-9347_dnp_e611670< (abgerufen am 22.05.2017) und Irmgard Kasper-Butz, Ingrid Krauskopf und Brigitte Knittlmayer, Kekrops, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) VI, Zürich/München 1992, 1084–1091. 4 S. Sara Sebenico, I mostri dell’Occidente medievale: fonti e diffusione di razze umane mostruose, ibridi ed animali fantastici, Triest 2005, 69–71. 5 Tonio Hölscher, Einführung, in: Ders. (Hg.), Gegenwelten: zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike, München/Leipzig 2000, 9–17, besonders 17.

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Liminalität – als Vorform des Menschseins, die überwunden werden muss, oder als Symbol einer degenerierten und deshalb ›ver-tierten‹ Menschheit, die zu entfernen ist.

Mixanthropoi in der christlichen Kultur Die Liminalität zwischen Menschlichem und Tierischem und somit zwischen Menschlichem und Un-, Vor- oder Übermenschlichem, die die Mixanthropoi in der antiken und insbesondere in der griechischen Kultur darstellen, wurde nicht in derselben Form vom christlichen Denken aufgenommen. Im christlichen Gedankengut dürfen solche Wesen selbstverständlich keine göttliche Natur haben; ihre ›Existenz‹ muss außerdem mit der Narration der Schöpfung kompatibel gemacht werden. Tiere und Menschen wurden laut Genesis beide am 6. Tag der Schöpfung realisiert; sie sind aber stark differenziert, weil der Mensch nach Gottes Bild erschaffen wurde – in der mittelalterlichen Theologie wird stark betont, dass die menschliche und die tierische Seele sehr unterschiedlich sind.6 Aus diesem Grund wurden die Mixanthropoi schon in der Spätantike als Monster konzipiert und thematisiert. Die monstra sind in der Tat Wesen, die von Gott als eine Art Mahnung oder Warnung an die Menschen kreiert worden sind – das Wort kommt, schreibt etwa Augustin, von monstrare, zeigen.7 In diesem Sinne, so Augustin, sind sie nicht ›gegen die Natur‹, sondern stehen außerhalb der bekannten Natur. Isidor von Sevilla, dessen Etymologien eine zentrale Quelle für das gesamte westliche Mittelalter darstellten, entwickelte dazu eine Klassifizierung, die jahrhundertelang normativ bleiben sollte: Im Buch 11 der Etymologien berichtet er über die Menschen und über die Wunder/Monster (De homine et portentis). Nachdem er über den menschlichen Körper (11.1) und die Altersstufen der Menschen (11.2) referiert hat, widmet sich Isidor in 11.3 den Portentis anders als Varro nicht im Sinne dessen, was wider die Natur ist, denn auch sie wurden von Gott erschaffen, sondern, nach Augustin, wider die bekannte Natur.8 Isidor ist wie Augustin der festen Überzeugung, dass solche Wesen die Funktion erfüllen, göttliche Mitteilungen an die Menschen zu senden. Unter diese Kategorie fallen die verschiedensten Wesen: Riesen, Kinder mit sechs Fingern, aber auch die Mixanthropoi (11.3.9) – unabhängig davon, ob sie nach der Meinung des Autors existieren oder nicht. In diesem Sinne sind sie sogar den Metamorphosen äquivalent, die auch in diesem Buch behandelt werden (11.4). Die Mixanthropoi sind deshalb portenta, Monster, Wunder, und nicht Tiere, denen das Buch 12 der Etymologien gewidmet ist.9 Die Tradition der Beschreibung von monströsen Menschenrassen ist antik: Plinius erwähnt z. B. menschenfressende Skythen, die Kyklopen, die Lestrigonen

6 Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, dt. Übers., Stuttgart 1986, 194–195. 7 Aug., CD 21.8. 8 John B. Friedman, The Monstrous Races in Medieval Art and Thought, Cambridge MA 1981, 112; s. auch Sebenico 2005 (wie Anm. 4), 13–15. 9 Robert M. Grant, Early Christians and Animals, London/New York 1999, 113–114.

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und die Völker jenseits der Alpen, die bekannterweise Menschenopfer praktizieren10 – hier waren aber keine Mixanthropoi zu finden. Offen bleibt aber das Problem ihrer Herkunft – oder besser ihrer Genealogie. Der Mensch wurde nach dem Bildnis Gottes geschaffen, die Tiere sind für den Menschen da, damit er sie essen oder nutzen kann, oder – wie im Fall von gefährlichen Tieren – als Erinnerung an seine Fragilität. Die Mischwesen bleiben problematisch.11 Schon Augustin hatte die Frage gestellt, ob die monstrosa genera hominum von Noah stammen – unter dieser Kategorie versteht er Pygmäen, Zyklopen, aber auch die Mixanthropoi.12 Während Augustin noch mehrere Möglichkeiten offen lässt, wird im Mittelalter nur eine der von ihm formulierten Möglichkeiten akzeptiert und ihm zugeschrieben, und zwar die Idee, dass die »monstrous races«, und darunter auch die Mixanthropoi, Menschen sind, und zwar von Kain abstammend – und deshalb keine Christen.13 Im Liber Monstrorum (Ende 7. – Anfang 8. Jahrhundert) sind alle Mixanthropoi im 1. Buch, das den menschlichen monstra gewidmet ist, zu finden, während sich das 2. Buch mit wilden Tieren beschäftigt und das dritte mit Schlangen.14 Die Rückseite des Diptychons von Areobindus, die im karolingischen Zeitalter gestaltet wurde, zeigt Kentauren, Sirenen und Kynokephaloi als Nachfahren von Adam und Eva.15 Es ist – wie Friedman geschrieben hat – hervorzuheben, [that] too often the fabulous races of men are lumped together with a great body of creatures clearly animal in conception, in books that concentrate on the influence of the bestiary upon medieval art. But precisely because the medieval men were so unsure about what constituted the human state, unusual yet clearly human figures meant something very different than did a two-headed lion or an ass playing the lyre.16

In diesem Sinne muss man auch die Mixanthropoi im Mittelalter verstehen. Ein gutes Beispiel, das ausführlich untersucht worden ist, sind die erwähnten Kynokephaloi: Diese Rasse von Menschen mit Hundekopf markierten in der Antike die Grenzen der Ökumene und wurden insbesondere in Indien verortet. Sie galten nicht als mythische Wesen (und deswegen sind sie keine Mixanthropoi im engeren Sinne), vielmehr sind sie in ethnographischen Beschreibungen zu finden. Von ihrer Existenz war man noch in der Spätantike fest überzeugt: Laut Paulus Diaconus haben die Langobarden das Gerücht verbreitet, Kynokephaloi 10 Plin., NH 7.2. Interessant ist hier vor allem die Mischung aus mythischen und pseudowissenschaftlichen Kenntnissen; dieselbe Mischung, die dann in dem Physiologus (2. Jh. n. Chr. auf Griechisch und bald darauf ins Lateinische übersetzt) zu finden ist. Zum Physiologus s. Sebenico 2005 (wie Anm. 4), 44–48. 11 Karl Steel, Centaurs, Satyrs and Cynocephali: Medieval scholarly Teratology and the Question of the Human, in: Asa S. Mittman und Peter J. Dendle (Hg.), The Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous, Farnham 2012, 257–274, hier 265–266. 12 Aug., CD 16.8. 13 Friedman 1981 (wie Anm. 8), 87–107. 14 Über die Monsterrassen im Mittelalter s. auch Sebenico 2005 (wie Anm. 4); Steel 2012 (wie Anm. 11). 15 Paris, Louvre, inv. Nr. OA 9064. Jacqueline Leclercq-Marx, Du monstre androcéphale au monstre humanisé. À propos des sirènes et des centaures, et de leur famille, dans le haut Moyen Äge et à l’époque romane, in: Cahiers de Civilisation médiéval 45, 2002, 56–57. 16 Friedman 1981 (wie Anm. 8), 2.

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hätten mit ihnen gekämpft, um damit ihre Feinde zu verängstigen.17 Im Mittelalter spricht man noch intensiv über sie18 und sie entwickeln sich zu einer Verkörperung der »fears about the fragility of Christian identity in the face of the Saracen threat«.19 Hayden White schreibt: Wenn wir nicht wissen, was ›Zivilisation‹ unserer Ansicht nach ist, können wir immer ein Beispiel dafür anführen, was sie nicht ist. Wenn wir unsicher sind, was Vernünftigkeit ist, können wir doch zumindest dort, wo wir Wahnsinn sehen, ihn als solchen erkennen. Ähnlich beriefen sich in der Vergangenheit die Menschen, wenn sie sich hinsichtlich der genauen Beschaffenheit ihres eigenen empfundenen Menschseins unsicher waren, auf den Begriff der Wildheit, um einen Bereich von untermenschlicher Natur zu bezeichnen, die durch all das, was sie nicht zu sein hofften, gekennzeichnet war.20

Dies gilt auch für die mittelalterlichen Mixanthropoi, wenn sie als reale oder allegorische Symbole des Untermenschlichen, des Wilden, des Sündhaften, des Dämonischen gelten – ein Gegensymbol.21 Dies ist aber, wie wir im Folgenden zeigen werden, nicht die einzige Lesart. Von den antiken Mixanthropoi haben wir drei zu Fallstudien ausgewählt: den Minotaurus, die Sirenen und die Kentauren. Ein Grund für die Wahl dieser drei ist ihre große Bekanntheit und Popularität durch die Jahrhunderte, die sie noch heute leicht erkennen lässt. Dazu werden wir nur die Präsenz dieser Wesen in der mittelalterlichen Kultur Zentralund Norditaliens thematisieren – die Region zeigt in den Jahrhunderten, die wir betrachten, eine ziemlich homogene Kultur, weshalb sie sich als Fallstudie gut eignet. Eine Erweiterung der Studie etwa nach Süditalien würde stärkere Bezüge zur byzantinischen Welt erweisen und somit die Sache erheblich verkomplizieren. Die ausgewählte Region bietet nichtsdestoweniger nicht nur zahlreiche interessante Beispiele; sie ist durch ihre geographische Lage am Kreuzpunkt paneuropäischer Kommunikationswege verortet – und deshalb kann sie musterhaft für die Erklärung ähnlicher Phänomene in anderen Regionen herangezogen werden.

Minotaurus Der Minotaurus scheint für die meisten Autoren schon seit der Spätantike nicht existiert zu haben.22 Diese Meinung, die vielleicht für ein Wesen einfacher zu vertreten ist, das es nur 17 Paul. Diac., HL 1.11 – es ist hier unwichtig, woher diese Information kommt, und ob Paulus die antike germanische Mythologie missverstanden hat. Viel wichtiger ist, dass er diese Geschichte mit den antiken Quellen mischt und an die Kynokephaloi denkt. 18 Lib. Monstr. 1.16. 19 Jeffrey J. Cohen, Of Giants. Sex, Monsters, and the Middle Ages, Minneapolis/London 1999, 120, generell 119–141; zu den Kynokephaloi s. auch Sebenico 2005 (wie Anm. 4), 148–151. 20 White 1986 (wie Anm. 6), 179. 21 Zu antiken Göttern oder mythologischen Wesen, die im Mittelalter als Dämonen – fast Gegengötter – verstanden werden, s. allgemein Max Wehrli, Antike Mythologie im christlichen Mittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57, 1983, 18–32, hier 21–22. 22 Isoliert bleibt die euhemeristische Interpretation, die Hieronymus bei Philochoros gefunden hatte, laut

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einmal gegeben haben soll, und zwar in einer weit entfernten Vergangenheit (was prinzipiell auch die Debatte über seine Existenz viel weniger relevant macht), wird z. B. von Augustin und Isidor von Sevilla geäußert (Letzterer zählt ihn trotzdem zu den portenta).23 Hieronymus bietet eine rationalistische Erklärung, die der Kirchenvater bei Philochoros gefunden hatte: Pasiphaë habe sich in einen Höfling des Minos, namens Taurus (Stier), verliebt, und der Minotaurus sei aus dieser Verbindung hervorgegangen.24 Die Quellen zur Geschichte des Minotaurus sind für Isidor und für das ganze westliche Mittelalter Ovid und Servius. Die Erzählung aus den Metamorphosen, stark moralisierend im Ton, war in der Tat besonders geeignet für solche Rezeptionsformen, denn sie bietet einen guten Minos zusammen mit einer perversen Frau und der Frucht ihrer Sünde.25 Im Fall des Minotaurus findet man dementsprechend zumeist eine allegorische Lektüre. Dieser wird aber nicht (oder nicht nur) als Zeichen eines halbtierischen oder ›ver-tierten‹ Menschen, sondern viel mehr als Produkt der Perversion der Pasiphaë interpretiert. Beispielsweise symbolisiert der Minotaurus laut Boccaccio das vitium bestialitatis.26 In einem weiteren Schritt wird der Minotaurus, das Kind der Vereinigung einer Frau mit einem Tier, zum negativen Gegenstück der Fleischwerdung Christi. Schon seit der Spätantike ist der Minotaurus eine Allegorie des Satans, auch weil parallel dazu Theseus, der ihn tötet, für Christus steht,27 der Satan direkt vor der Auferstehung niederschlägt.28 Diese Äquivalenz findet man in verschiedenen mittelalterlichen Schriften29 und auch in den sehr verbreiteten allegorischchristlichen Interpretationen der Metamorphosen Ovids (wie im sogenannten Ovidius Moralizatus des Petrus Berchorius, ca. 1340).30 In dem Ovide moralisé stellt das Labyrinth die Welt der Sünde und des Irrtums dar, wo die Menschheit nach der Ursünde weilen muss; und der

der der Minotaurus ein Richter von Minos, namens Tauros, der besonders stark und grausam war, gewesen sei (Hier. Chron. 58b). 23 Aug., CD 18.13; Isid. Hisp., Etym. 11.3.9; 11.3.38. 24 Hier., Chron. 58b. 25 Ov., Met. 8.155–176. 26 Boccaccio, Gen. Deorum 4.10. 27 Im Mittelalter wird auch die Etymologie des Namens mit theos suus erklärt. Zur allegorischen Bedeutung von Theseus s. Giorgio Padoan, Il mito di Teseo e il Cristianesimo di Stazio, in: Lettere Italiane 11, 1959, 432–457, hier 439–440. 28 Explizit, selbst ohne den Namen des Theseus oder des Minotaurus zu nennen, schon in Greg. Nyss., Cath. Mag. 35.3–4; s. Craig Wright, The Maze and the Warrior. Symbols in Architecture, Theology, and Music, Cambridge MA/London 2001, 73–78. Guido da Pisa folgt in den Expositiones et glose super Comediam Dantis Hieronymus in der rationalistischen Interpretation der ›historischen Lesart‹ des Minotaurus. In der allegorischen Lesart vergleicht er explizit Theseus mit Christus und den Minotaurus mit Satan: Vincenzo Cioffari (Hg.), Guido da Pisa’s Expositiones et Glose super Comediam Dantis or Commentary on Dante’s Inferno, New York 1974, 222–223. 29 S. Wolfgang Haubrichs, Error inextricabilis. Form und Funktion der Labyrinthabbildung in mittelalterlichen Handschriften, in: Christel Meier und Uwe Ruberg (Hg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, 63–174, hier 70–71. 30 Petrus Berchorius, Ovidius Moralizatus, liber VIII, Fol. LXII a–b (s. Petrus Berchorius, De formis figurisque deorum. Reductorium morale, liber XV, Ovidius moralizatus, Textus e codice Brux., Bibl. Reg. 863–9 critice editus [hg. v. J. Engels], Bd. 1–2, Utrecht 1962–1966, 125–126).

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Minotaurus ist der Teufel.31 Theseus/Christus wird so zum Instrument der Güte Gottes, der durch ihn die Menschheit rettet (darüber hinaus verkörpern Ariadne das Judentum und Phaedra das Heidentum, wodurch die ganze Geschichte für die Gründung der Kirche steht).32 Auch das Labyrinth, der Ort des Kampfes zwischen Theseus und dem Minotaurus, übernahm eine wichtige symbolische Bedeutung, die schon mehrfach untersucht worden ist.33 Hier reicht es zu betonen, dass u. a. mittelalterliche Riten um das Labyrinth am Ostersonntag den Sieg Christi über den Tod feierten. Das Labyrinth ist in der Tat im Mittelalter ein religiöses Symbol, man findet es jenseits der Buchmalerei ausschließlich in Kultgebäuden – und mit ihm ist auch der Minotaurus eine religiöse Allegorie.34 Das Labyrinth gilt als Symbol der Gefahr und der Herausforderung, des Kampfes und des Sieges (selbstverständlich der Guten – die Bösen verlören sich darin, oder sie warten in der Mitte auf den Helden). Im Labyrinth, wie in der Welt, kann man sich verirren, und man wird häufig auf den falschen Weg gebracht – nur wenige besondere Menschen (Theseus = Christus) können unbeschädigt daraus entkommen.35 Das Labyrinth kann deshalb die materielle Welt mit ihren Gefahren darstellen, oder auch die Hölle, in der der Minotaurus (= Satan) thront. Das Motiv vom Minotaurus im Zentrum des Labyrinths, alleinstehend, sterbend, oder noch im Kampf mit Theseus war schon in der Römerzeit sehr populär und ist häufig auf Mosaiken zu finden. Auch in der mittelalterlichen Kunst wurde es vielfach rezipiert. Die Labyrinthe treten in christlichen Gebäuden häufig, wie es auch schon in antiken Gebäuden der Fall war, am Eingang auf.36 Es ist aber wichtig hervorzuheben, dass die Labyrinthe etwa 31 Ovide Moralisé 8.1444–1452: »Lors fu la sentence jugiee pour quoi toute humaine nature fu livree à desconfiture, et tuit pour cele mesprison durent en l’infernal prison rendre le mortel treüage pour pestre la beste sauvage, la beste orgueilleuse et cornue qui demore en l’infernal mue.« 32 z. B. William H. Matthews, Mazes and Labyrinths. A General Account of their History and Developments, London 1922; Padoan 1959 (wie Anm. 27), 443–444; Haubrichs 1980 (wie Anm. 29), 134–137; Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds, München 1982. 33 S. Haubrichs 1980 (wie Anm. 29); Kern 1982 (wie Anm. 32); Wright 2001 (wie Anm. 28). 34 Da sich dieser Aufsatz mit Darstellungen der mythologischen Mischwesen im Mittelalter beschäftigt, werden hier keine Ikonographien betrachtet, in denen ein Labyrinth als rein geometrisches Symbol, ohne Darstellungen des Minotaurus oder des Kampfes mit Theseus, abgebildet ist. 35 S. Kern 1982 (wie Anm. 32), 212–213. Dies ist z. B. explizit bei Guido da Pisa zu lesen: »iste enim laberintus mundum significat, quia plenus est omni fallacia et errore. Nam mundum intrantes nesciunt exire de illo, sicut nec de laberinto tributarii pueri Athenarum. Dicitur autem laberintus a laborris et intus quia homo, intrando illum, labitur intus, ut dicetur infra; sic mundum intrantes per diversa peccata labuntur«; Cioffari 1974 (wie Anm. 28), 222. 36 Im antiken Rom fand man diese Ikonographie insbesondere am Eingang der Villen oder auch von Gräbern mit einer magisch-apotropäischen Funktion, böse Menschen und Geister fernzuhalten: Simon Tidworth, The Roman and Medieval Theseus, in: Ann G. Ward (Hg.), The Quest for Theseus, London 1970, 175–194, hier 184–185; Kern 1982 (wie Anm. 32), 114 (und generell 113–137). Eine ziemlich ausführliche Liste von Beispielen mit Abbildungen ist bei Matthews 1922 (wie Anm. 32), 45–51, zu finden. Die Tötung des Minotaurus und der Ausgang aus dem Labyrinth hatten auch schon in der Römerzeit eine symbolische Bedeutung als Sieg über den Tod – und wurden deshalb auch auf Sarkophagen dargestellt, wie z. B. auf einem Sarkophag aus dem MET Museum, New York: >http://www.metmu-

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zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert aus dem architektonischen Dekor verschwinden; in dieser Zeit bleiben sie jedoch in der Buchmalerei in Zeichnungen präsent, die häufig den Minotaurus im Zentrum der labyrinthischen Struktur zeigen, wie im Fall eines Manuskripts aus St. Germain de Prés aus dem 9.–11. Jahrhundert.37 Interessanterweise taucht das Motiv des Labyrinths in der mittelalterlichen Buchmalerei fast nur in Italien und Frankreich auf, mit wenigen weiteren Beispielen in Deutschland.38 Im architektonischen Dekor ist die Ausbreitung des Motivs noch geringer: Labyrinthe sind überall bekannt, aber nicht diejenigen mit dem Minotaurus in der Mitte. Mit sehr wenigen Ausnahmen, wie z. B. dem großen Labyrinth der Kathedrale von Chartres, in dessen Mitte sich bis zur Französischen Revolution ein Bronzerelief befand, auf dem der Kampf des Theseus mit dem Minotaurus dargestellt war,39 sind in der Tat fast alle bekannten Darstellungen des Minotaurus im architektonischen Dekor in Italien entstanden. Dies könnte Zufall sein, weil viele der bekannten Labyrinthe nur aus Zeichnungen bekannt und manche nicht mehr gut zu erkennen sind; man muss aber auch die Möglichkeit einräumen, dass in Italien eine stärkere antike Tradition vorhanden war als in anderen Regionen. Man muss ferner hervorheben, dass auch auf der literarischen Ebene der Minotaurus in Italien an prominenter Stelle zu finden ist – nicht nur bei dem schon erwähnten Boccaccio, sondern auch durch seine Präsenz in Dantes Divina Commedia. Dante führt im 5. Canto des Infernos Minos ein;40 dieser ist hier, wie auch bei Ovid, ein gerechter Charakter. In der Tat ist Minos schon in der Aeneis, die Dante als Modell dient, ein Richter im Jenseits;41 in der Divina Commedia ist er ein Dämon, weil Dante ihn nur so zum Richter der Hölle machen kann, selbst wenn die Gerechtigkeit sein wichtigstes Merkmal bleibt. Um ihn als Dämon zu charakterisieren, macht Dante ihn auch zu einem Mixanthropos – er hat einen langen Schwanz, der um seinen Körper gedreht werden kann, um den Seelen die Zahl der Höllenkreise zu verdeutlichen. Zudem knurrt er. Ein tierischer Körperteil galt in der mittelalterlichen Tradition als Hinweis, dass eine Figur als dämonisch zu interpretieren war. Dante, der Theseus als Symbol Christi nutzt, stellt den Minotaurus am Anfang des 12. Canto dar – und liefert damit eine Deutung dieses Wesens als Dämon.42 Er besitzt einen tierischen Unterleib und einen menschlichen Oberkörper; er wacht über einen Erdrutsch und generell über die Seelen der Gewalttätigen. Der Minotaurus ist für Dante ein Symbol des Zorns, der den Menschen zum Tier macht,43 und am Ende damit nur sich selbst schaseum.org/art/collection/search/245585< (abgerufen am 12.12.2016). S. Haubrichs 1980 (wie Anm. 29), 119–120; Kern 1982 (wie Anm. 32), 26–28. 37 S. Matthews 1922 (wie Anm. 32), 59; Haubrichs 1980 (wie Anm. 29); Kern 1982 (wie Anm. 32), 139–205. Hier sind auch Abbildungen zu finden. 38 Liste in Haubrichs 1980 (wie Anm. 29), 102–108. 39 Wright 2001 (wie Anm. 28), 41. 40 Dante, Inf. 5.6–24. 41 Verg., Aen. 6.432–433. 42 Dante, Inf. 12.11–25. S. Achille Tartaro, Il Minotauro e i Centauri, in: I monstra nell’inferno dantesco: tradizione e simbologie, Spoleto 1997, 161–176, hier 167. 43 Christopher Becker, Justice Among Centaurs, in: Forum Italicum 18, 1984, 217–229, hier 221.

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det: Er beißt sich selbst und geht weg, wenn Theseus ins Spiel gebracht und dessen Unterschied zur Figur Dantes thematisiert wird (der – genau wie Theseus und Christus – ins Jenseits gegangen und danach zurückgekommen ist). Eine Untersuchung der Darstellungstypen des Minotaurus führt zu interessanten Ergebnissen. Im Bodenmosaik der Kirche von San Michele Maggiore in Pavia aus dem frühen 12. Jahrhundert war ein großes Labyrinth dargestellt, in dessen Mitte Theseus den Minotaurus tötete, wie eine Nachzeichnung des späten 16. Jahrhunderts eindeutig zeigt.44 Dass Theseus hier als Symbol Christi zu verstehen ist, wird durch die Darstellung auf der linken Seite – David und Goliath, eine typologische ›Parallelgeschichte‹ zu Christus und Satan – verdeutlicht.45 Die Darstellung rechts ist unbekannt, die Präsenz des Fisches kann aber auf eine Darstellung Christi hindeuten.46 Man beachte, dass der Minotaurus in San Michele Maggiore mit menschlichem Kopf und dem Unterleib eines Stiers dargestellt wird.47 Das ist kein Einzelfall und solche Darstellungen des Mixanthropos sind auch aus der Buchmalerei bekannt, wie z. B. aus einem Manuskript des Codex Theodosianus aus dem 9. Jahrhundert.48 Umgekehrt – mit Tierkopf und Menschenleib – ist der Minotaurus in der Handschrift von St. Germain de Prés dargestellt. Die antiken bzw. spätantiken Autoren sind in der Tat in diesem Punkt sehr undeutlich, selbst wenn damals ›unsere‹ Version, mit tierischem Kopf, stärker verbreitet war.49 Die Version von San Michele Maggiore, die einem Kentauren ähnelt, wird ab dem 11./12. Jahrhundert dominant,50 insbesondere in Italien und Frankreich.51 Selbst wenn man annehmen könnte, dass die größere Verbreitung des Motivs in Italien mit einer größe44 Abbildung: >http://www.italicon.it/museo/I229-079.htm< (abgerufen am 12.12.2016). 45 Calvin Kendall, The Allegory of the Church: Romanesque Portals and their Verse Inscriptions, Toronto 1998, 104. 46 Nicht weit entfernt war ein weiterer Minotaurus im Labyrinth in San Savino in Piacenza zu sehen – wir haben eine Beschreibung aus dem 17. Jh. (Pietro Maria Campi, Dell’historia ecclesiastica di Piacenza). Eine Inschrift (»Hunc mundum tipice laberinthus denotat iste: intranti largus, redeunti sit nimis artus. Sic mundo captus, viciorum molle gravatus vix valet ad vite doctrinam quisque redire«) hatte hier die Funktion zu erklären, dass das Labyrinth ein Symbol der Welt vor der Erlösung war, breit am Eingang, aber dann enger am Ende, im Verweis auf Mt 7,14, s. Kendall 1998 (wie Anm. 45), 104. 47 In diesem Sinne ist Dantes Darstellung des Minotaurus nicht »verwunderlich«, wie Tartaro 1997 (wie Anm. 42), 163–166 meint. Laut Tartaro kann Dante sich nicht entscheiden, wie er den Minotaurus beschreiben sollte, und er baut deshalb absichtlich eine Zweideutigkeit in die Beschreibung des Minotaurus ein. 48 Bibliothèque nationale de France, Département des Manuscrits, Latin 4416. Die Abbildung ist auf fol. 35r. Das ganze Manuskript kann in digitaler Version hier gesehen werden: >http://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/btv1b85287653?rk=64378;0< (abgerufen am 12.12.2016). 49 Ov., Ars am. 2.24; Met. 8.169. Auch Vergil sagt nichts dazu, noch sind weitere Informationen in Servius vorhanden (ad Aen. 3.74; 6.14). Isidor (wie Anm. 23) erlaubt beide Möglichkeiten. In der antiken Kunst sind beide Ikonographien belegt: s. Susan Woodford, Minotauros, in: LIMC VI, Zürich/München 1992, 574–581. 50 Haubrichs 1980 (wie Anm. 29), 113. 51 Eine Handschrift aus der Morgan Library in New York, die im frühen 11. Jh. höchstwahrscheinlich in Piacenza entstand, zeigt z. B. den Minotaurus mit menschlichem Oberkörper (MS M.925, fol. 12r): >http://ica.themorgan.org/manuscript/160011< (abgerufen am 19.12.2016).

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1 Liber Floridus, Frankreich, um 1120, Ghent, Universiteitsbibliotheek, Ms. 92 fol. 20r

ren Vertrautheit mit antiken Themen zu tun hat, müsste man daher die Idee ablehnen, dass diese stärkere Anbindung an die klassische Tradition auch motivisch respektiert worden sei. Die Anbindung scheint hier eher narrativ und diskursiv gewesen zu sein. Auch nördlich der Alpen breitet sich die ›neue‹ Ikonographie aus und existiert neben der anderen, die etwa noch in Handschriften aus Mouzon52 und St. Emmeram, Regensburg (beide aus dem 12. Jahrhundert) zu finden ist.53 Der Liber Floridus bietet ein interessantes Beispiel: Der Autograph, der heute in Gent aufbewahrt wird (University Library MS 92) und ca. 1120 von Lambert de St. Omer (damals Flandern) verfasst wurde,54 zeigt einen Minotaurus mit tierischen Kopf, aber auch mit tierischem Unterleib; menschlich ist hier nur der Oberkörper: Anscheinend hatte sich die ›neue‹ Ikonographie noch nicht vollständig etabliert (Abb. 1);55 die Kopie, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angefertigt wurde 52 Wright 2001 (wie Anm. 28), 125–126. 53 Clm 14721, 82v. Digitalisat: >http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0004/bsb00045109/images/< (abgerufen am 19.12.2016). 54 Zum Genter Manuskript s. jetzt Albert Derolez, The Making and Meaning of the Liber Floridus. A Study of the Original Manuscript Ghent, University Library MS 92, London/Turnhout 2015. 55 Digitalisat des Manuskripts: >http://lib.ugent.be/viewer/archive.ugent.be%3A018970A2-B1E8-11DFA2E0-A70579F64438#?c=0&m=0&s=0&cv=0&r=0&z=-2141.9439%2C-515.5556%2C16283.8878 %2C10311.1111< (abgerufen am 12.12.2016). Die Abbildung befindet sich auf fol. 20r.

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2 Kopie des 15. Jahrhunderts von dem Wolfenbüttler Liber Floridus, Cod. Guelf. 1 Gud. lat. fol. 19v

und sich heute in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel befindet, enthält eine ›gedrehte‹ Version (Abb. 2). 56 Aber warum findet diese Umkehrung statt? Wie schon erwähnt, wurden die Mixanthropoi, und der Minotaurus mit ihnen, entsprechend der mittelalterlichen Notwendigkeit, die Schöpfung durch erkennbare Kategorien einzuordnen, als Menschen aufgefasst. Auch im Liber Monstrorum wird der Minotaurus im 1. Buch, De monstris, zusammen mit Riesen und Pygmäen behandelt, selbst wenn der Autor nicht an seine Existenz glaubt und er hier noch nach der ›traditionellen‹ Ikonographie dargestellt wurde.57 Im selben Zeitrahmen hat der Minotaurus in den Aenigmata des Aldhelm (teilweise als Autor des Liber vermutet),58 wo seine Hörner erwähnt werden, noch eindeutig einen tierischen Kopf.59 Im 12. Jahrhundert 56 Digitalisat des Manuskripts: >http://diglib.hab.de/mss/1-gud-lat/start.htm< (abgerufen am 12.12.2016). Die Abbildung ist auf fol. 19v. 57 Lib. Monstr. 1.50: »Minotaurum autem illud deforme monstrum, in iisdem fabulosis Graecorum fictionibus depingam, qui taurinum caput habuit et inclusus laberinto tam clamore quam mugitu ingemuisse describitur, quia domum illam Cretae egredi non potuit, quae mille parietibus intextum errorem habuit.« 58 Andy Orchard, The Sources and Meaning of the Liber Monstrorum, in: I monstra nell’inferno dantesco: tradizione e simbologie, Spoleto 1997, 73–100, hier 75–76. 59 Aldhelm, Aenigmata 28.

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3 Labyrinth am Eingang der Kathedrale von San Martino in Lucca, Ende 12. bis Anfang 13. Jh.

setzte sich das Prinzip durch, dass der Kopf definiert, ob ein Wesen der menschlichen oder der tierischen Sphäre angehört – so z. B. in der Summa Theologica des Alexander von Hales.60 Die Umkehrung des Minotaurus, in Angleichung an die Kentauren, scheint in diesem Sinne von einer Anpassung an Darstellungen Satans und von Dämonen motiviert zu sein: Dieser Darstellungstypus macht den Minotaurus zu einem monströsen, verdorbenen Menschen und lässt seine damalige symbolische und allegorische Bedeutung besonders klar hervortreten. Am Eingang der Kathedrale von San Martino in Lucca befand sich ein Labyrinth aus dem ausgehenden 12. oder beginnenden 13. Jahrhundert, in dem früher der Kampf von Theseus und dem Minotaurus dargestellt war – das Motiv ist aber nicht mehr zu erkennen, weil, wie Julien Durand schon 1857 schrieb,61 die Gewohnheit, die Darstellung zu berühren, sie gelöscht hat (Abb. 3). Die Inschrift betont, dass nur Theseus den Weg aus dem Labyrinth finden konnte. Theseus, als Symbol Christi, ist folglich der einzige, der aus dem Jenseits 60 Friedman 1981 (wie Anm. 8), 178–196. 61 Zitiert in Wright 2001 (wie Anm. 28), 35.

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zurückgekommen ist.62 Es ist daher nicht überraschend, wenn ein Labyrinth aus Pontremoli (heute in der Kirche von S. Pietro) in der Mitte nicht Theseus oder den Minotaurus zeigt, sondern die Buchstaben JHS.63 In S. Francesco in Alatri befindet sich das einzige bekannte Labyrinth mit einer Darstellung Christi in der Mitte (13.–14. Jahrhundert).64

Sirenen Auch die Sirenen ändern, wie der Minotaurus, im Laufe der Zeit ihr Erscheinungsbild und verwandeln sich von Vogelfrauen in Fischfrauen, bleiben dabei aber Mischwesen. Das Motiv der Sirenen ist schon in der archaischen Zeit auf geometrischen und orientalisierenden Vasen belegt. Sie werden als Vögel mit menschlichem Kopf dargestellt, den Harpyien sehr ähnlich.65 Ursprünglich mehr tierisch, werden sie allmählich vermenschlicht und ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. immer häufiger mit weiblichem Oberkörper und Musikinstrumenten wie dem aulos oder der kithara dargestellt. Sie verlieren dadurch sukzessiv ihr schreckliches Aussehen und werden ab der spätklassischen Zeit des Öfteren als schöne nackte Frauen dargestellt, an deren tierische Seite nur noch Flügel und Krallen erinnern.66 Vor allem in Süditalien verwandelt sich die Ikonographie der Sirene im Laufe der Antike in die Darstellung einer sinnlichen Kreatur, oft von den Hüften nach oben geschmückt und frisiert wie eine elegante Frau.67 Dieses Fabelwesen existiert dann weiter neben der ›Trauersirene‹, die zwar ebenfalls zunehmend menschlicher und weiblicher wird, aber nie kokett wirkt, und die auf Vasen, Stelen und pinakes schon seit archaischer Zeit belegt ist.68 Zwei Merkmale waren bei der antiken Sirene wesentlich: ihre Verbindung mit dem Tod und ihre Fähigkeit zu singen. Der Mythos erklärte verschiedentlich die Verbindung zum Tod. Die homerischen Sirenen hatten außerordentliche Qualitäten: Sie waren allwissend, sie hatten Macht über Wetter und Meer und vor allem verlockten sie mit ihren Liedern die Menschen und töteten sie.69 In der hellenistischen Tradition begingen die Sirenen Selbstmord, nachdem Odysseus sie getäuscht hatte.70 In anderen Varianten des Mythos wird die 62 Kendall 1998 (wie Anm. 45), 104. 63 Abbildung: >http://tramedilunigiana.it/it/articolo/50-oggetti-il-labirinto-di-san-pietro< (abgerufen am 12.12.2016). 64 Abbildung: >https://it.wikipedia.org/wiki/Cristo_nel_labirinto#/media/File:Cristo_nel_labirinto.jpg< (abgerufen am 12.12.2016). Über dieses Fresko ist in Bezug auf eine mögliche Präsenz vom Templerorden in dem Kloster stark diskutiert worden. Dieses Thema ist jedoch für diesen Beitrag irrelevant. 65 Archaische Sirenen: Eva Hofstetter, Seirenes, in: LIMC VIII, Zürich/München 1997, 1094–1102, Nr. 1–17, 24, 33, 35, 37, 44, 47, 48–52, 54, 61–65, 69–71, 81–87, 117. 66 Zu den antiken Sirenen s. vor allem Loredana Mancini, Il rovinoso incanto. Storie di sirene antiche, Bologna 2005; Hofstetter 1997 (wie Anm. 65), 1094–1101, Nr. 37, 45, 58–59, 73, 75, 99, 100, 102–105. 67 Ebenda, 106–108. 68 S. z. B. Jacqueline Leclercq-Marx, La Sirène dans la pensée et dans l’art de l’Antiquité et du Moyen Âge. Du mythe païen au symbole chrétien, Brüssel 1997, 17–19 und Hofstetter 1997 (wie Anm. 65), 1101–1102 für weitere Beispiele. 69 Hom., Od. 12.39–54; 12.166–200. 70 Lycoph., Alex. 714.

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Beziehung der Sirenen zum Tod noch deutlicher zum Ausdruck gebracht: Bei Ovid waren sie die Spielkameradinnen von Proserpina, die von den Göttern in Vögel verwandelt wurden, damit sie die von Pluto entführte Freundin wiederfinden konnten.71 Laut Hyginus war ihre Verwandlung in Vögel die von Ceres verhängte Strafe dafür, dass sie ihre Tochter Proserpina nicht beschützt hatten.72 Ihre Beziehung zum Tod war aber in der Antike vor allem ritueller Natur und mit dem Gesang verbunden: Die Sirenen sangen den threnos bei der Trauerfeier, und sie wurden mit aulos und lyra – oder sich die Haare zerraufend oder die Brust schlagend – auch häufig auf Grabmonumenten dargestellt.73 Symbolisch begleiteten sie als Grenzgängerinnen die Verstorbenen in den Hades. Anders als die im Erscheinungsbild eng verwandten Harpyien wurden sie im Sepulkralkontext nicht als blutrünstig oder bedrohlich dargestellt, sondern eher tröstend und trauernd. Ihre gesanglichen Fähigkeiten verbanden sie mit den Musen. In der Antike war das Singen der Sirene nicht unbedingt negativ konnotiert und nicht in jedem Fall gefährlich. Alkman z. B. unterscheidet sie nicht von den Musen74 und auch Euripides scheint das Singen positiv zu interpretieren, wenn er in einem Fragment der verlorenen Antiope die ekstatische Erfahrung der Musik durch den Vergleich mit dem Flug der Sirenen beschreibt.75 Schon in der spätklassischen Literatur des 4. Jahrhunderts v. Chr. wird der Sirenengesang allerdings als eine Versuchung, die umschmeichelt und verwirrt, geschildert. Es handelte sich dabei nicht unbedingt um eine sexuelle Versuchung: Am Anfang bewegt sich die Versuchung sogar eher auf der verbalen und somit intellektuellen Ebene. So vergleicht z. B. Demosthenes die Eloquenz von Aischines mit dem mörderischen Gesang einer Sirene.76 Die lateinischen Autoren werden die Negativität von deren Versuchung oft weiter betonen und vertiefen: Das Singen der Sirenen wird mit falschen und vulgären Wörtern verglichen und dem Singen der Musen kontrastiert.77 Die rationalistische Interpretation des Mythos, der ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. immer häufiger mit einer ausdrücklich sexuellen Komponente gelesen wird, machte aus den Sirenen Kurtisanen, so z. B. bei Palaiphaton, dem hellenistischen Autor der Unglaublichen Geschichten.78 Aber schon Anaxilas verglich im 4. Jahrhundert v. Chr. in seiner Neottis die gemeine Rasse der Hetären mit den Monstern des Mythos und bezeichnete die Hetäre Theano als »gerupfte Sirene« (apotetilmene).79 Schon vor der euhemeristischen Interpretation der Sire71 Ov., Met. 5.552–563. 72 Hyg., Fab. 141. 73 S. z. B. Hofstetter 1997 (wie Anm. 65), 1101–1102, Nr. 99, 103–104. 74 Alcm., Frag. 1.95–100. 75 Frg. 911 TGF 655. Der musikalische Vergleich wiederholt sich, mit pejorativem Sinn, bei Pausanias (Paus. 9.34.3), der erzählt, dass die Sirenen die Musen zum Singwettbewerb herausgefordert hätten. Nach dem Sieg hätten die Musen allerdings den besiegten Sirenen ihre Federn ausgerissen, um sich daraus Kränze zu machen. 76 Aisch., 3.228. 77 S. z. B. Apul., Met. 5.12; Sen., Ep. 123.12 (vgl. auch Sen., Ep. 31.2). 78 Hier., Chron. 62b, 24. 79 Ath., Deipn. 13.6 (558 a–b). Auch Epicharmos, Nikophron und Theopompos verwendeten in einigen ihrer Komödien die Bezeichnung Sirenen, scheinbar in Bezug auf die Hetären, die Protagonistinnen des

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nen als Kurtisanen hatte also die parodistische Entmythisierung, die die Sirenen als alltägliche Frauen dargestellt hatte, sie mit der weiblichen Verführung verbunden. Ovid erwähnt die Sirene in der Ars amatoria wegen der Schönheit ihres Gesanges und empfiehlt Frauen, die verführerisch sein wollen, das Singen zu lernen:80 Hiermit sind die Sirenen ein Beispiel der erotischen Künste geworden. Unter den heidnischen Autoren der mittleren und späteren Kaiserzeit vertreten u. a. Achilles Tatius und Libanius eine ›negative‹ Interpretation der Sirenen als verführerische Frauen bzw. Kurtisanen.81 Diese Lesart der Mischwesen war besonders erfolgreich unter den christlichen Autoren, die die Sirenen gleichzeitig rationalistisch als Kurtisanen und allegorisch als personifizierte Lüste interpretieren durften. So werden sie z. B. von Origenes, Eusebius von Cäsarea, Basilius Magnus und in den Lexika von Hesychius und Photius dargestellt.82 Die Kirchenväter sahen in den Sirenen vor allem die Versuchung, insbesondere in ihrer allegorischen Lektüre des Mythos von Odysseus. Die Sirenen stellen ihres Erachtens die Welt und das irdische Leben, das Fleisch, den Teufel oder falsche Wahrheiten dar. In diesem Kontext wird der Mast, an den Odysseus gebunden wird, zum Symbol des Kreuzes, und Odysseus selbst zum guten Christen, der der Versuchung widersteht. Odysseus wird der Inbegriff des kühnen Menschen, der sich dank seiner Vorkenntnisse – weil er im Mythos von Kirke und in der Metapher von der christlichen Lehre belehrt wurde – den Versuchungen nähert, ohne ihnen zu verfallen. Für Clemens von Alexandria symbolisiert so die Reise des Odysseus die Reise des Christen zu Gott, einen Weg, der voller Fallen ist. Die Sirene ist eine porné, eine Prostituierte, die durch die Wollust zum Abweichen vom rechten Weg führt.83 Hippolyt von Rom verwendete den Mythos der Sirenen, um die Versuchung der Häresie zu symbolisieren.84 Der gute Christ, schreibt er, hat zwei Möglichkeiten, der Versuchung zu widerstehen: Er kann wie die Gefährten von Odysseus handeln, um den ›Gesang‹ nicht zu hören, oder er kann aktiv Widerstand leisten, indem er sich an den Mast bzw. an das Kreuz bindet. Bei Ambrosius ist die Metapher noch breiter gefasst, basiert aber auf demselben Konzept vom verwirrenden Genuss der schönen Stimme: Die Sirene symbolisiert jede Theorie, die von der Wahrheit ablenkt, sei es die Häresie, das Heidentum oder die heidnische Philosophie.85 Stückes waren (s. Kaibel, CGF, I, 113, frg. 123 und Kock, CAF, 777, Frg. 12; 746, Frg. 50). Vgl. auch Maurizio Bettini und Luigi Spina, Il mito delle Sirene: immagini e racconti dalla Grecia a oggi, Turin 2007, 170; Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 33. 80 Ov., Ars am. 3.311–318. 81 Ach. Tat., De Leucipp. et Clit. 1.8, 2; Lib., Or. I.22. 82 Allgemein über die rationalistische Interpretation der Sirenen als Prostituierte s. Pierre Courcelle, L’interprétation évhéméristique des Sirènes-courtisanes jusqu’au XIIe siècle, in: Karl Bosl (Hg.), Gesellschaft – Kultur – Literatur. Rezeption u. Originalität im Wachsen einer europäischen Literatur und Geistigkeit; Beitr. Luitpold Wallach gewidmet, Stuttgart 1975, 33–48. 83 Clem., Protrept. 12.118. 84 Hipp., Elenchos 7, 13.2,3. 85 Ambr., ep. 51,3; Exp. Ev. Luc. 4.2–3. Ambr., Expl. Ps. 43.75 interpretiert sie jedoch wieder mit der Versuchung: »earum autem interpretatio haec est: voluptas vocis et quaedam adulatio. Ita ergo saeculi voluptas nos quadam carnali adulatione delectat, ut decipiat.« S. dazu Spina 2007 (wie Anm. 79), 167– 169.

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Augustin verwendet im Bericht von seiner Bekehrung die Metapher der Sirene, um seinen früheren Beruf als Rhetor zu charakterisieren.86 Im Mittelalter verwandeln sich die Sirenen in ihrer bildlichen Erscheinung wesentlich: Sie verlieren ihre Vogelattribute und werden zu Fischfrauen, teilweise mit zwei Fischschwänzen, teilweise mit einem (Letzteres scheint die spätere Variante zu sein). Der Typ der Vogelsirene blieb allerdings erhalten und kommt vor allem in der romanischen Kunst, manchmal neben der Fischsirene, manchmal anstelle der Fischsirene vor.87 Mischformen – Fischfrauen mit Vogelkrallen oder Flügeln – sind auch belegt.88 Diese schwankende Ikonographie, die zwischen Fisch und Vogel variiert, ist schon in dem Physiologus von Bern belegt, der sie noch als Vogelwesen beschreibt, aber als Fischwesen darstellt (Farbabb. 38).89 Woher der ikonographische Wandel kam, ist schwer zu sagen. Der erste sichere Beleg des neuen Sirenentyps findet sich im Liber Monstrorum, wo die Sirene zum ersten Mal als »corpore virginali […] piscium caudas habent« beschrieben wird.90 Es ist vermutet worden, dass der Fischkörper von den anderen Meereswesen der Antike inspiriert wurde (vor allem von Skylla, aber auch den Tritonen), die ebenfalls im Liber Monstrorum behandelt werden.91 Der Mythos von Odysseus, der auf seiner Seefahrt sowohl die Sirenen als auch Skylla besiegen muss, und vor allem die allegorische Interpretation des Mythos als Hinweis auf die Gefahren, die – in erster Linie durch die weibliche Versuchung – verhindern sollen, das Leben eines guten Christen zu führen, könnte zu einer Identifikation der Sirenen mit Skylla beigetragen haben, die nunmehr beide als Seewesen konzipiert werden. Auch die schon antike Kontextualisierung der Sirenen am Meer – sie leben auf einer Insel, sie gefährden die Seefahrer – mag zu der Transformation von Vogelfrauen in Fischfrauen beigetragen haben.92

86 Aug., De vita beata 1.4 (vgl. Spina 2007 [wie Anm. 79], 166–167). 87 Besondere Vorsicht ist allerdings bei der Identifikation der Vogelsirene geboten, vor allem, wenn sie allein auftritt, denn sie ist oft nur sehr schwer von den Harpyien zu unterscheiden. 88 Z. B. in dem Bestiarium von Worksop (England, ca. 1170, Pierpont Morgan Library, New York, M. 81, fol. 17r) und in dem Bestiarium von Cambridge (England, ca. 1200, Cambridge, Univ. Lib., II.4.26, fol. 39r); s. dazu Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 121–127. 89 Physiologus von Bern (ca. 830, Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318); vgl. Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 71, Abb. 38; Jacqueline Leclercq-Marx, Du demon ambivalent à l’héroine compatissante, in: Ollodagos: actes de la Société Belge d’Etudes Celtiques 11, 1998, 59–72, hier 65. 90 Lib. Monstr. 1, 6; Leclercq-Marx 1998 (wie Anm. 89), 62–63; Spina 2007 (wie Anm. 79), 136–137. 91 S. z. B. Edmond Faral, La queue de poisson de Sirénes, in: Romania 74, 1953, 433–506, hier 478; s. auch Sebenico 2005 (wie Anm. 4), 194. Zwei antike Darstellungen wurden als mögliche ›Prototypen‹ der mittelalterlichen Fischsirene vorgeschlagen. Auf einem Fragment aus einem gallo-römischen Relief aus Autun scheint eine Meerjungfrau mit Fischschwanz dargestellt zu sein. Ob es sich aber um eine Sirene, eine Nereis oder (wahrscheinlicher) einen Triton handelt, ist sehr schwer zu sagen. Auch auf einem Relief aus Herakleiopolis Magna/Ahnas in Ägypten (4.–5. Jh. n. Chr.) erscheinen zwei Frauen mit Fischschwanz: Sie haben zwar die Ikonographie der mittelalterlichen Sirene, die Attribute jedoch (Obst [?], Pflanze) stimmen mit denen der antiken Sirenen nicht überein. Es bleibt darüber hinaus unklar, durch welche Einflüsse und Kontakte diese vereinzelten Belege die Ikonographie der mittelalterlichen Sirene beeinflusst haben könnten. Dazu Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 65–67 (und 69–75 allgemein über die Verwandlung in Fischfrau) und Spina 2007 (wie Anm. 79), 139–140. 92 Alixe Bovey, Monsters and Grotesques in Medieval Manuscripts, London 2002, 25.

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Leclercq-Marx suggeriert, dass die Ikonographie der Fischsirene aus Synkretismen mit lokalen vorchristlichen Wassergottheiten entstanden sei, möglicherweise in Großbritannien oder Irland, wo wir die ersten sicheren Belege des neuen Typus finden, und wo der Liber Monstrorum entstanden ist. In den germanischen und angelsächsischen Heldensagen scheinen in der Tat einige verwandte Wesen zu existieren: So wird z. B. im Beowulf die monströse Mutter von Grendel, die unter Wasser lebt und von Wasserbestien umgeben ist, als Merewif, Meerweib, bezeichnet.93 Die Fischsirene wäre somit das Ergebnis einer synkretistischen Verschmelzung der klassischen antiken Sirene mit einer der vielen ›Wasserjungfrauen‹ der nordischen Tradition, die man mermaids, maighdean mare oder merrow nannte. Diese Kreaturen wurden als zumindest potentiell existent verstanden (wenn auch nicht einfach anzutreffen!) und wurden im 12. Jahrhundert, anders als die meisten Monsterrassen, sogar häufig in bekannten und nahe gelegenen, aber gefährlichen Gebieten lokalisiert, wie am Ärmelkanal,94 an der Meerenge von Gibraltar95 oder allgemein »in den westlichen Meeren«.96 Dass die rationalistische Interpretation (mit ihren moralischen Konsequenzen) auch mit der neuen Ikonographie weiterhin Gültigkeit besitzt, wird u. a. bei Giovanni Boccaccio deutlich. Dieser schreibt in seiner Genealogia Deorum, dass die Sirenen vom Bauchnabel bis zu den Füßen Fische seien: Der obere Teil des Körpers stelle die jungfräulichen Qualitäten der tugendhaften Frauen dar, während der Unterleib die Instabilität ihrer Natur zeige. Die Sirenen schwämmen hin und her, so wie die Prostituierten Männern nachliefen.97 Es ist aber wichtig zu betonen, dass, anders als bei dem Minotaurus, die mittelalterlichen Sirenen auch auf der biblischen Tradition beruhen. In der Septuaginta wurden hebräische Begriffe für Tiere aus der Wüste, die im Kontext einer Lamentation als Embleme des Todes erscheinen (Is. 13.21–22 und 34.13–14), als Sirenen interpretiert und hellenisiert. Das Modell, das die jüdisch-griechischen Gelehrten bei dieser Übersetzung inspiriert hat, ist wahrscheinlich die Sirene der Grabmonumente und des Trauer-threnos, eine Sirene, die sicherlich in Alexandria im 2. Jahrhundert v. Chr. sowohl in der Literatur als auch in der Ikonographie der Bestattungsmonumente sehr präsent war. Interessant ist auch die Erwähnung der Sirene in einer Passage der Apokalypse von Baruch, die an Jesaja erinnert. Hier wird sie zusammen mit Lilith gerufen, mit dieser gleichgestellt und endgültig dämonisiert:98 Die Sirenen werden hier als Kreaturen Satans interpretiert, die mit ihrer Faszination die Seelen der Menschen verführen. Die weibliche Natur der Sirene macht sie als Objekt der Interpretation als Dämon besonders geeignet und beliebt, indem sie auch die misogyne Komponente des mittelalterlichen, religiösen Diskurses bestärkt. Die rationalistische Interpretation der Sirenen als Prostituierte und die allegorische Interpretation der Sirenen als Lüste und Versuchungen werden durch den biblischen Hintergrund deshalb noch verstärkt. 93 94 95 96 97 98

Beowulf 1519. Dazu Leclercq-Marx 1998 (wie Anm. 89), 62–63. Gervais de Tilbury, Otia imperialia 3,64: »in mare britannico«. Geoffroy de Monmouth, Hist. reg. Brit. 1, 17: Columnas Herculis. Leclercq-Marx 2002 (wie Anm. 15), 59–60. Giovanni Boccaccio, Genealogia Deorum 7, 20. Hieronymus übernimmt die Identifikation in seiner Vulgata (Jes 13.22): »et respondebunt ibi ululae in aedibus eius et sirenae in delubris voluptatis.« Für die Interpretation der biblischen Quellen s. vor allem Faral 1953 (wie Anm. 91), 434–435.

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Die mittelalterliche Rezeption der Sirenen scheint sich also auf drei Quellen zu stützen: 1. auf den homerischen Mythos, den man nicht im Original kennt, sondern aus den vielen spätantiken Fabulae, Etymologien und Commentarii sowie aus Darstellungen in der römischen Kunst (vor allem auf Mosaiken, Öllampen und Sarkophagen);99 2. auf die Septuaginta und ihre Kommentare: Diese Sirene ist den jüdischen Dämonen gleichgesetzt und gleicht abscheulichen Tieren, sie kommt von Satan; 3. vielleicht, wo es um die Fischsirene geht, auf die nordische Sagenwelt. In jedem Fall war die Vorstellung von der dämonischen Sirene im Mittelalter sehr verbreitet, insbesondere auf der Ebene der ›Populärkultur‹.100 Sirenen erscheinen häufig auf romanischen Kapitellen und Portalreliefs von Kirchenbauten, zusammen mit anderen Wesen, die aus einer Mischung von Frau und Tier bestehen, wie z. B. Sphingen oder – von den Sirenen schwer zu unterscheiden – Nereiden und Harpyien.101 Die Sirene wird zu einem Standardmotiv in der Dekoration romanischer Kirchen, vor allem in Norditalien, von wo sie sich in ganz Europa nördlich der Alpen verbreitet.102 Vor allem in der romanischen Kunst der Lombardei scheinen die Sirenen ein sehr beliebtes Motiv gewesen zu sein und gerade die emilianisch-lombardischen Ateliers könnten eine entscheidende Rolle in der Verbreitung der neuen Ikonographie der Fischsirene (vor allem der doppelschwänzigen) in Italien und in Nordeuropa gehabt haben.103 Eine große Zahl Sirenen bietet das ikonographische Programm der Kirche von S. Michele in Pavia.104 Es handelt sich um rund 15 Fischsirenen – mehr als alle anderen Wesen, die dort dargestellt sind. Diese fast obsessive Präsenz muss, laut Leclercq-Marx, in direktem Bezug zur 99 Hofstetter 1997 (wie Anm. 65), Nr. 29–30, 41–43, 60, 114–116, 119a–b. 100 Zur Anwesenheit der Sirenen sowohl im kulturellen Diskurs als auch im populären Denken s. Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 229–238. 101 S. dazu auch Udo Reinhardt, Zur Bedeutung der Sirenen in der späteren europäischen Kulturtradition, in: Max Kunze (Hg.), Vorsicht Lebensgefahr! Sirenen, Nixen, Meerjungfrauen in der Kunst seit der Antike (Ausst.-Kat. Winckelmann-Museum Stendal 2013–2014), Wiesbaden 2013, 18–26, hier 19. 102 Jacqueline Leclercq-Marx, Da Pavie à Zagósc. La sirène comme motif de prédilection de sculpteurs „lombardes“ au XIIe siècle, in: Arte Lombarda 140, 2004, 24–32, hier 25–26, 29–30. 103 In Norditalien identifiziert Leclercq-Marx Einflüsse der lombardischen Ateliers in Bolvedro di Tremezzo, Capodimonte, Como, Lodi vecchio, Maderno, Milano, Olgiate comasco, Pavia, Rivolta d’Adda, Vaprio d’Adda; darüber hinaus in Cividale in Friaul, in Codiponte in Ligurien, in Castel Tirolo in Trentin, in Collecchio, Modena, Parma, Rubbiano und Vicofertile in Emilia sowie in Cortazzone, Dronero, Montiglio d’Asti und Sacra di San Michele in Piemont. S. Leclercq-Marx 2004 (wie Anm. 102), 27–28 für weitere Beispiele im Rheintal, England, Spanien und Polen. 104 Für die Details s. vor allem Leclercq-Marx 2004 (wie Anm. 102). Die Anwesenheit von so vielen Sirenen (und von anderen hybriden Kreaturen) in der Baudekoration von Kirchen in der Lombardei wurde in Bezug auf das Vorhandensein in Mailand einer Kopie des Physiologus erklärt (z. B. so F. M. Scevola Nidasio, L’apparato scultoreo interno del San Michele Maggiore di Pavia: ipotesi per un piano iconografico, in: Arte Lombarda 125, 1999/1, 46–54, insb. 51). Mariaserena Cella, Le fonti letterarie della simbologia medievale: i bestiari, in: Piero Sanpaolesi (Hg.), Il Romanico, Atti del Seminario di Studi diretto da Piero Sanpaolesi. Villa Monastero di Varenna 8–16 settembre 1973, Mailand 1975, 181– 190, hier 190 betrachtet eine langobardische Sirene aus Cividale als Prototyp der Verbreitung der Sirenenikonographie in der Lombardei und schlägt vor, die Sirenen mit der Häresie – vor allem mit dem Arianismus – zu identifizieren.

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Figur des heiligen Michael stehen, dem die Kirche gewidmet ist. Michael ist der Erzengel, der die göttliche Armee gegen das Böse führt, und er ist deswegen oft mit einer Sirene zusammen dargestellt, die die von ihm besiegten teuflischen Kräfte symbolisiert.105 Gelegentlich erscheinen in diesem typischen Motiv der romanischen Kirchendekoration auch die Onokentauren gemeinsam mit dem Erzengel und den Sirenen als bildliche Referenz auf die Passage aus dem Buch Jesaja, in der Sirenen und Onokentauren als Dämonen verstanden werden;106 schon laut Basilius von Cäsarea ist unter dem Begriff der Onokentauren »irgendeine Sorte von Dämonen« zu verstehen.107 Die breite Masse, meint Leclerq-Marx, fürchtete sich vor den Sirenen und den anderen Mischwesen, die schon seit der Spätantike im Volksglauben oft mit den Mittagsdämonen und ihrer Versuchung verwechselt worden seien.108 Die bildlichen Programme auf den Portalen der romanischen Kirchen, die den Eingang zum Gebäude betonen, waren dafür gedacht, den Kirchgänger zu beeindrucken und mit ihrer bildlichen Botschaft ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Die Reaktionen der Zuschauer – Erstaunen, Angst, Hoffnung, Reue – waren sicherlich sehr differenziert: Je nach kultureller und gesellschaftlicher Prägung nahmen die Menschen die Darstellungen, denen sie auf Kirchenportalen begegneten, mitunter sehr unterschiedlich wahr und schrieben ihnen verschiedene Bedeutungen zu. So ist es teilweise sehr schwer, eine Sirene einer bestimmten Semantik zuzuordnen, vor allem, wenn sie isoliert vorkommt. Die dämonische Qualität dieser Mischwesen kommt in einer Darstellung auf einem Kapitell aus San Giovanni in Borgo (Pavia) deutlich zum Ausdruck, wo eine Sirene mit gorgonenhaftem Gesicht und Schlangen, die ihr in die Brüste beißen, abgebildet ist.109 In diesem Darstellungstypus mit Schlangen personifiziert die Sirene allerdings auch die Laster schlechthin. In dieser allegorischen Bedeutung kommt die Sirene sowohl als Begleitfigur einer Frau mit Schlangen110 als auch in Form einer von Schlangen gefolterten Sirene – ohne Frau – vor.111 Sie personifiziert die Laster, die in sich ihre eigene Bestrafung tragen, analog zur selbstzerstörerischen Qualität der luxuria carnalis. Vielleicht in 105 So z. B. auch auf dem Tympanon von S. Michele in Foro in Lucca (Ende des 12. Jh.: Leclercq-Marx 1997 [wie Anm. 68], 218–219, Abb. 174) und auf dem westlichen Portal von S. Colombano in Vaprio d’Adda in der Lombardei (Anfang des 12. Jh., ebenda, 194–195, Abb. 145). Die Sirene kommt auch sonst in Begleitung von Engeln auf einem Kapitell am nördlichen Portal der Kirche von S. Vitale e Agricola in Bologna (wo die Sirene zwischen den Symbolen der Evangelisten Matthäus und Johannes dargestellt wird, ebenda, 262, Abb. 93) und auf dem Tympanon der Kirche von Notre-Dame in Nonette vor (ebenda, 196, Abb. 147). S. dazu auch Leclercq-Marx 2004 (wie Anm. 102), 25. 106 So z. B. auf dem Tympanon von S. Michele in Foro in Lucca (s. oben). S. für weitere Beispiele auch Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 256–257. 107 Bas. M., Comm. Is. 13.274. S. auch Leclercq-Marx 2002 (wie Anm. 15), 57–58. 108 S. dazu Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 232. 109 Früher in Pavia, jetzt in den Musei Civici del Castello Visconteo (Leclercq-Marx 2004 [wie Anm. 102], 28–29, Abb. 17). 110 Die Frau mit Schlangen wurde in ganz Europa häufig als Symbol der Lust dargestellt. S. Jean Adhémar, Influences antiques dans l’art du Moyen Age français. Recherches sur les sources et les thèmes d’inspiration, London 1976 (Nachdruck der Ausg. 1939), 198–200. 111 So z. B. in La Seu d’Urgell (Katalonien) in der Kirche von Lestiac (Gironde) und in San Nicola di Bari (Apulien). S. dazu Lelcercq-Marx 1997 (wie Anm 68), 141–142.

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dieselbe Richtung müssen die Sirenen interpretiert werden, die sich die Haare kämmen oder sich im Spiegel betrachten, wie vor allem in Handschriften zu sehen ist.112 Eine sicherlich allegorische – und spätere – Interpretation der Sirene als Lüsternheit findet sich auch in einem Fresko der Unteren Basilica von S. Francesco in Assisi, wo eine Vogelsirene in Form einer schönen Frau mit verbundenen Augen und Hühnerbeinen als Allegorie des amor carnalis dargestellt wird (ca. 1320, Farbabb. 39). Neben der allegorischen Interpretation der Sirene als Versuchung und Lust, existiert auch eine weitere ›realistische‹ Lektüre dieser Wesen: Demnach sind die Sirenen ein real existierendes Volk am Rand der Welt, das potentiell zu bekehren ist, zusammen mit den Kynokephaloi und den anderen oben genannten Rassen dieser Art. Diese Lektüre ist wahrscheinlich durch die kulturelle und geographische Distanz, die schon der antike Mythos den Sirenen zuschrieb, begründet. Bei der Ikonographie der Sirene mit Doppelschwanz, die durch ihre Körperhaltung das Geschlecht betont, ist die sexuelle Anspielung mehr als evident: Es geht um die Versuchungen durch die Frauen – ein Motiv, das wir auch in der allegorischen und in der dämonischen Interpretation gefunden haben. In den Metopen von Modena wird die menschliche Seite der Versuchung dadurch hervorgehoben, dass die Sirene neben dem Schwanzende eine Art Fuß hat (Abb. 4). Die Menschlichkeit dieser Sirene hebt die Kohärenz des Metopenzyklus hervor, der wahrscheinlich diejenigen monströsen Rassen, die zu evangelisieren sind, darstellt, so wie man sie aus dem Liber Monstrorum und aus mittelalterlichen mappae mundi kennt.113 Die antiken Sirenen deckten drei semantischen Felder ab: den Tod als Übergang, die Sinnlichkeit bzw. die Verführung (zunächst allgemein, dann sexuell) und die Liminalität (sie kennzeichnen die Grenze zwischen der griechischen Kultur und dem Unbekannten, sie leben an der Grenze der Welt). Ihre Marginalität ist jedoch auch symbolisch: Sie sind Grenzgängerinnen, sie üben eine initiatorische Funktion aus. Diese Ambiguität geht im Mittelalter zum Teil verloren: Die Liminalität wird vor allem geographisch und kulturell verstanden, sie sind – wenn sie nicht allegorisch oder als Dämonen interpretiert werden – entfernte und monströse Menschen. Gerade aber ihre Zugehörigkeit zur Menschheit mehr als zur Tierwelt lässt die Sirenen bekehrbar und potentiell gutartig erscheinen. Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts verbreitet sich die Vorstellung einer anderen Sirene, die man sich als an der Grenze des bekanntes Universums real existierende Kreatur vorstellt, die aber nicht mehr selbst eine Gefahr darstellt, sondern im Gegenteil Seemännern in Gefahr hilft: Sie rettet sie vor dem Ertrinken und wird oft als stillende Mutter dargestellt. Laut Leclercq-Marx ist das nordische Modell der Fischsirene das Vorbild dieser weiteren Variante der Sirene: Sie wird vom bösen Dämon zur mütterlichen, stillenden und helfenden Wasserkreatur, wahrscheinlich unter dem Einfluss der Naturwesen der nordischen Mythologie, die oft eine Art ›gute Geister‹ oder 112 So z. B. auf zwei Physiologoi (Oxford, Bodl. Lib., ms. Ashmole 1511, Ende des 12. Jhs.) und auf einem englischen Bestiarium (Bestiarium von Worksop, ca. 1170, Pierpont Morgan Library, New York). Diese Sirenen-›Coquette‹ ist in der Kunst der Romanik im Gegensatz dazu wenig verbreitet (Leclercq-Marx 1997 [wie Anm. 68], 142–143 mit Abb. 62 und 175). 113 Chiara Frugoni, Wiligelmo e le sculture del Duomo di Modena, Modena 1996, 48–54. Für die Sirenen in der Hereford-Karte s. auch Scott D. Westrem, The Hereford Map, Turnhout 2001, Nr. 972.

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Feen gewesen zu sein scheinen.114 Paradoxerweise bringt diese Transformation die Sirene dazu, auch die kourotrophische Rolle wiederzugewinnen, die sie auch als Vogelfrau – vor allem als Trauersirene in ihrer psychagogischen Funktion – in der Antike gehabt hatte. Auch ikonographisch wird die Sirene jetzt zu einer wohlwollenden, fantastischen Kreatur. An gotischen Kathedralen erscheinen die Sirenen weniger häufig als an romanischen, und sie haben oft eine rein dekorative Funktion.115

Kentauren Wie die Sirenen und im Gegensatz zum Minotaurus sind die Kentauren ein ganzes Volk von Mischwesen. Ihre Existenz war schon in der Antike umstritten – Palaiphaton meinte, sie existierten nicht und erklärte sie euhemeristisch bzw. rationalistisch als einen Stamm reitender Bögenschützen, eine Interpretation, die auch von Isidor von Sevilla vorschlagen wird;116 Galen stellt fest, dass sie nicht existieren können, Aelian hingegen ist sich da weniger sicher.117 Dieselbe Unsicherheit herrscht auch unter den christlichen Autoren – für Clemens von Alexandria, wie auch für Minucius Felix, Augustin und Orosius, gibt es keine Kentauren,118 während der Physiologus ihre Existenz bestätigt – sowie Hieronymus, der einen Kentauren als wichtiges Element im Leben des heiligen Antonius einführt. Als Antonius in die Wüste geht, auf der Suche nach dem heiligen Paulus, findet er einen Kentauren und einen Satyr,119 die ihm den Weg weisen.120 Hier liegt das Tor dieser Sorte von Mixanthropoi in die christliche Welt. Die Kentauren spielten in der Antike keine rein positive oder negative Rolle, sondern vielmehr eine zweideutige:121 Als liminale Figuren galten sie zugleich als übersexualisierte Wesen, die im direkten Kontrast zu Rationalität und Zivilisierung stehen (und deshalb seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. als feste Mitglieder des Gefolges des Dionysos angesehen

114 Leclercq-Marx 1998 (wie Anm. 89), 65–72. Zu möglichen Einflüssen der Legende von Melusine s. Leclercq-Marx 2002 (wie Anm. 15); Sebenico 2005 (wie Anm. 4), 144–145. 115 Leclercq-Marx 1997 (wie Anm. 68), 230–232. Über Sirenen und Kentauroi als ›gute‹ Monster s. Leclercq-Marx 2002 (wie Anm. 15). 116 Palaiph. 1; Isid., Etym. 11.3.37. Alessandro Ardigò, Centauri e dannati nel canto XII dell’Inferno, in: Acme 65, 2012, 139–155, hier 143–144. Bei Guido da Pisa findet man eine andere rationalistische Interpretation: Sie seien die ersten Menschen gewesen, die Pferde domestiziert hätten, und ihr Name komme entweder aus ihrer Zahl (hundert, centum) oder daher, dass sie schneller als die Winde (aurae) waren. Cioffari 1974 (wie Anm. 28), 225. 117 Gal., Therapeutika 2.144K; Ael. HV 13, 1. 118 Clem. Alex., Strom. 4.9.4; Min. Fel. 20.3–4; Aug., CD 18.13; Oros. 1.13.4. 119 Zum Satyr: Patricia Cox Miller, Jerome’s Centaur: a Hyper-Icon of the Desert, in: Journal of Early Christian Studies 4.2, 1996, 221–224. 120 Hier., Vita Pauli 8. 121 Page duBois, Centaurs and Amazons. Women and the Pre-History of the Great Chain of Being, Ann Arbor 1982, insb. 27–32.

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werden),122 wie die Erzählungen und die Darstellungen der Kentauromachie bezeugen.123 Andererseits war Chiron der Kentaur Repräsentant einer ›natürlichen‹ (und trotzdem prähistorischen, naturgebundenen) Weisheit.124 Hieronymus scheint dies zu wissen, denn er schreibt, dass der Kentaur vielleicht der Teufel war, oder dass er von der Wüste als Monster generiert wurde125 – aber er gibt dem Kentauren auch eine positive Bedeutung. Nicht nur hilft er Antonius, er ist explizit als Diener Gottes definiert und steht für einen vor-zivilisierten Zustand, für den auch seine nicht verbale Kommunikationsart spricht.126 Damit konnte Hieronymus die Zweideutigkeit der Wüste zeigen, wo die menschliche Wildheit entfesselt wird und durch die Askese kontrolliert werden muss.127 Diese Wildnis ist der Ort der Flucht, aber auch der Versuchung, wo Engel und Dämonen beisammenwohnen.128 Die antike Zweideutigkeit wird entsprechend in dieser Wildnis, die die kulturelle, imaginäre Landschaft des christlichen Asketismus darstellt, fortgeschrieben. Jedoch verliert sich im Mittelalter auch diese Komplexität, und die Kentauren werden einfach böse. Die Episode aus der Vita wird zu einer der Versuchungen des Antonius und der Kentaur zur Verkörperung des Teufels. Die allegorische Interpretation der Kentauren lebt weiter neben der Idee der Existenz eines menschlichen Volkes am Rand der Welt. In dem Liber Monstrorum sind die Kentauren in zwei Kategorien unterteilt: Hippokentauren (halb Mensch, halb Pferd) und Onokentauren (halb Mensch, halb Esel). Die Onokentauren, die, wie schon oben erwähnt, im Buch Jesaja zusammen mit den Sirenen erwähnt werden, werden wichtiger als sie in der Antike je waren, wenn es um die dämonische Funktion geht, die Kentauren von Hieronymus zugeschrieben wird. In einer Handschrift aus Montecassino (1022–1023)129 sind die Kentauren eindeutig als eine »monstrous race« dargestellt, zusammen mit den Pygmäen, den Skiapoden usw.130 Die Identifizierung ist nicht umstritten – nicht nur weil ihre Anerkennung als menschliche Rasse 122 Georg Morawietz, Der gezähmte Kentaur. Bedeutungsveränderungen der Kentaurenbilder in der Antike, München 2000. Laut duBois gibt es im 4. Jh. eine Verschiebung in der Bedeutung der Kentauren, die von der Geburt des philosophischen abstrakten Denkens verursacht wird – das ›Anderssein‹ wird jetzt »rationalized« und braucht weniger solche Bilder (vgl. duBois 1982 [wie Anm. 121]). 123 Peter H. von Blanckenhagen, Easy Monsters, in: Ann. E. Farkas, Prudence O. Harper und Evelyn B. Harrison (Hg.), Monsters and Demons in the Ancient and Medieval Worlds. Papers Presented in Honor of Edith Porada, Mainz 1987, 85–94, hier 86–90. 124 S. Turato, La crisi della città e l’ideologia del selvaggio nell’Atene del V secolo a.C., Rom 1979, 97–99; Roger Bartra, Wild Men in the Looking Glass. The Mythic Origins of European Otherness, Ann Arbor 1994, 14–19. 125 Leclercq-Marx 2002 (wie Anm. 15), 57. 126 Cox Miller 1996 (wie Anm. 119), 227–228. 127 Ebenda, 218–220. Über die Wüste, auch in der biblischen Tradition, Bartra 1994 (wie Anm. 124), 43–62. 128 Cox Miller 1996 (wie Anm. 119), 210–213. 129 Hrabanus Maurus, De rerum naturis, Codex 132, Montecassino, Bibliothek der Benediktinerabtei. Faksimile mit Kommentar: Guglielmo Cavallo und Pavone Canavese, L’universo Medievale. Il manoscritto cassinese del „De rerum naturis“ di Rabano Mauro, Ivrea 1996; Giulia Orofino, I codici decorati dell’archivio di Montecassino, Bd. 2.2, I codici preteobaldiani e teobaldiani, Rom 2000. 130 Friedman 1981 (wie Anm. 8), 132–133.

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ihnen einen menschlichen Kopf zuschreibt, sondern auch weil schon die antike Ikonographie eindeutig war.131 Nur der Liber monstrorum kennt eine abweichende Tradition und geht davon aus, dass sie den Kopf eines Pferdes und den Unterleib eines Menschen haben – so definiert der Autor aber die Hippokentauren.132 Erwähnt sind hier auch die Onokentauren – beide sind auch bei Isidor von Sevilla benannt –, die andersherum konstruiert sind: mit dem Kopf eines Menschen und dem Körper eines Esels.133 Getreu den antiken Traditionen sind die Kentauren Bogenschützen – und deshalb ist, wie schon im Hellenismus, ein Kentaur das Symbol des Sternzeichens Schütze.134 Als Bogenschützen stellt sie Dante dar, wenn sie, direkt nach dem Minotaurus, im 12. Canto des Inferno auftauchen.135 Ihre Funktion ist es, gegen die Seelen zu schießen, die versuchen, aus dem blutigen Fluss zu entkommen – damit wird die Funktion übernommen, die schon Vergil ihnen zugeschrieben hatte: Wächter des Hades.136 Drei treten vor und bedrohen Dante und Vergil. Es handelt sich dabei um die drei berühmtesten Kentauren: Nessos, Chiron und Pholos, die Dante zusammen erwähnt, wie sie bei Lucan zu finden sind.137 Chiron merkt sofort, der Tradition seiner Weisheit entsprechend, dass Dante gar nicht tot ist, und er nimmt sofort seine Pfeile – dies macht klar, dass auch Chiron in seiner Intelligenz, die keine Weisheit ist, nicht gerade ein positives Beispiel gibt.138 Vergil erklärt ihm, was er und Dante in der Unterwelt machen und bittet um Begleitung; Chiron beauftragt Nessos, der die beiden Dichter auf seinem Rücken über den Fluss trägt. Dante scheint hier fast parodistisch zu agieren, denn Nessos hat schon einmal jemanden über den Fluss gebracht, nämlich Deianeira, und genau diese Flussüberquerung führte zum Tod des Hercules. Letztendlich ist bei Dante die Charakterisierung als blindlings gewalttätige Wesen das wichtigste Merkmal der Kentauren: Sie sind nicht in der Lage durch Vernunft, die sie sehr wohl besitzen, ihre Instinkte und Lüste zu kontrollieren.139 Darüber hinaus sind die Kentau131 Maria Leventopoulou u. a., Kentauroi, in: LIMC VIII, 1 Suppl., Zürich/München 1997, 671–721. S. Guido da Pisa in Cioffari 1974 (wie Anm. 28), 228: »nam ab umbilico supra habet naturam hominis, ab umbilico vero deorsum in quatuor pedibus estat equus; et ideo quilibet centaurus habet duo pectora, scilicet pectus humanum et pectus equinum.« 132 Lib. Monstr. 1.7: »Hippocentauri equorum et hominum commixtam naturam habent et more ferarum sunt capite setoso, sed ex parte aliqua humanae normae simillimo quo possunt incipere loqui: sed insueta labia humanae locutioni nullam vocem in verba distinguunt.« 133 Ebenda, 1.10: »Onocentauri corpora hominum rationabilia habere videntur usque ad umbilicum et inferior pars corporis in onagrorum setosa turpitudine describitur: quos sic diversorum generum varia naturaliter coniungit natura.« 134 Ardigò 2012 (wie Anm. 116), 147. 135 Inf. 12.55–102. 136 Verg., Aen. 6.285–286. 137 Ardigò 2012 (wie Anm. 116), 152–153. S. auch Becker 1984 (wie Anm. 43), 218. 138 Tartaro 1997 (wie Anm. 42), 175–176. Anders bei Becker 1984 (wie Anm. 43), 223–225, der meinte, Chiron sei hier als Verkörperung der Gerechtigkeit zu verstehen. Diese früher verbreitete Interpretation, und generell die ›traditionelle‹ Lesart der Kentauren in diesem Canto als positive Figuren, gilt jetzt als überholt. 139 Antonio Rossini, Sui centauri di Dante, in: Rivista di Cultura Classica e Medievale 49, 2007, 145–161. S. auch Becker 1984 (wie Anm. 43), 221–222; Tartaro 1997 (wie Anm. 42), 171–174.

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ren bei Dante im selben Höllenkreis mit den bestraften Seelen der Tyrannen, Menschen, die Gewalt gegen ihre Mitbürger angewandt haben. In diesem Sinne sind die Kentauren gleichzeitig hier, weil sie dieselbe Sünde begangen haben und auch bei der Bestrafung helfen.140 Während der Minotaurus als Verkörperung der Wut einfach beseitigt werden muss und man mit ihm nicht sprechen kann, symbolisieren die Kentauren eher eine Mischung aus unreifer menschlicher Rationalität und tierischen Instinkten. In diesem Sinne werden sie bestraft und sind zugleich ein Instrument göttlicher Bestrafung. Aber warum treten bei Dante die Kentauren direkt nach dem Minotaurus in Erscheinung? Die Verbindung ist wiederum Theseus.141 Auch in Purgatorio 24.123 werden die Kentauren erwähnt – wie sie, satt aufgrund ihrer Gier, von Theseus besiegt wurden. Die Quelle ist, teilweise wortwörtlich, Ovid, der in den Metamorphosen ein negatives Bild der Kentauren liefert: Im 12. Buch wird die Episode der Hochzeit von Peirithoos und Hippodamia geschildert, wobei die Teilnahme des Theseus besonders hervorgehoben wird.142 In Ovids Text fehlt Chiron; wo er auftaucht, ist er in der Tat ein gehorsames und nicht gewalttätiges Wesen – er ist aber geminus, »zweideutig«.143 Man muss allerdings auch betonen, dass Chiron bei Ovid gar keiner der Kentauren ist, weil er Sohn des Saturnus ist und nicht von Ixion oder dessen Sohn Kentauros, wie alle Kentauren.144 In diesem Sinne kann er auch anders verstanden werden, ohne das Bild der Kentauren zu ändern. Wenn Dante hier Ovid nicht folgt und Chiron zu einem ›normalen‹ und deshalb nicht positiven Kentauren macht, so ist dies beispielsweise bei Boccaccio nicht der Fall. Dieser listet alle Namen der Kentauren, der Kinder des Ixion, auf, die später von Theseus bei der Hochzeit von Peirithoos besiegt werden;145 sie werden als Sinnbilder für gewalttätige Söldner interpretiert. Chiron ist an ganz anderer Stelle als Sohn des Saturnus präsentiert, und dort wird auch sein Katasterismos erklärt.146 Auch im Ovide moralisé wird die Abstammung Chirons von Saturnus hervorgehoben. Ganz positiv bleibt er jedoch nicht, denn seine tierische Seite, von Saturn vererbt, symbolisiert Lust und Feigheit, und nur seine Weisheit kann ihn zum Teil ›verbessern‹: Chiron, qui nasqui en putage / vault resambler a sa nature, / si ot chevaline figure, / qu’il fu luxurieus et vis, / mes ses grans sens, ce m’est avis / et la clergie qu’il savoit / passa la vilté qu’il avoit, / et pour ce la fable le nome / demi cheval et demi home.147

Im Ovide moralisé symbolisieren aber die echten Kentauren – wieder diejenigen von der Hochzeit von Peirithoos – die Sünden, die die Braut (die Seele) entführen und damit dem 140 Ardigò 2012 (wie Anm. 116), 144–146. 141 S. Rossini 2007 (wie Anm. 139), 152–153. 142 Ov., Met. 12.210–535. 143 Ebenda, 2.630–634. 144 Ebenda, 6.126. Im Mittelalter sind aber die Kentauren immer Kinder des Ixion, und die Figur des Chiron wird gerne weggelassen: s. Ardigò 2012 (wie Anm. 116), 141–142. 145 Gen. Deorum 9.26. 146 Ebenda, 8.8. 147 Ovide moralisé 2.3092–3100.

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4 Sirene, Metope des Doms von Modena, 1100–1150, Il Museo Lapidario

Bräutigam (Christus) entreißen wollen;148 im Ovidius moralizatus von Bersuire ist Nessos sogar der Teufel.149 Noch schlimmer wird es, wenn die Kentaurin dargestellt wird, die normalerweise ein Symbol für exzessive Sexualität oder exzessive Neugier ist – vielleicht auch in Anknüpfung an die Tochter des Chiron Okyrhoe, die bei Ovid zu viel prophezeien wollte und deshalb vollständig in ein Pferd transformiert wurde.150 Im Physiologus werden die Kentaurinnen nicht zufälligerweise zusammen mit den Sirenen behandelt.151

148 Ebenda, 12.2881–3034. 149 Petrus Berchorius, Ovidius Moralizatus liber IX, Fol. LXVIIb (Engels 1962–1966 [wie Anm. 30], 136): Hercules wird hier als die Seele interpretiert, Deianeira als der Körper mitsamt seinen Versuchungen, das vergiftete Hemd ist die Lust und Nessos der Teufel. 150 Ov., Met. 2.633–675. 151 Positiv konnotierte Kentaurinnen, die ihre Kleinen stillen, sind laut Leclercq-Marx zwar selten, aber dennoch existent und können zumindest zum Teil von antiken Modellen stammen. In Italien sind jedoch keine zu finden, vgl. Leclercq-Marx 2002 (wie Anm. 15), 66.

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5 Jagdszene mit Kentaur, Relief am Portal des Doms von Fidenza, Ende des 12. bis Anfang des 13. Jh.

All dies spiegelt sich auch in Bildprogrammen. Die Kentauren – da, wo sie mit Sicherheit nicht als Sternzeichen zu interpretieren sind – sind auch insgesamt Darstellungen böser Wesen –, so beispielsweise in Giottos Allegorie des Gehorsams in Assisi (Farbabb. 40). Deswegen jagen sie häufig Hirsche oder Tauben, Symbole der Seele, wie am Dom von Fidenza (Ende des 12. bis Anfang des 13. Jahrhunderts, Abb. 5) und taugen auch als Symbole für Häretiker (halb vernünftig, das heißt christlich, halb nicht). In einem ähnlichen Sinne waren sie schon bei Isidor von Sevilla Symbol der ›falschen‹ christlichen Priester – derjenigen, die keinem Bischof folgen, institutionell nicht angebunden sind, überall herumlaufen und sich aus Isidors Perspektive auch der Sünde widmen – »habentes signum religionis, non religionis officium« sind sie halb-halb, wie die Hippokentauren.152 Ein Kentaur ist auch von manchen Forschern in der Cappella degli Scrovegni, und zwar im Jüngsten Gericht von Giotto, gesehen worden. Unter dem Thron Christi sind vier Figuren zu erkennen, die traditionell mit den Symbolen der vier Evangelisten identifiziert wurden. Es wurde aber mehrmals angemerkt, dass der Stier eher wie ein Kentaur aussieht, jedoch mit einem Rinder- und sicher keinem Pferdehuf. Eine eindeutige Interpretation ist unmöglich und die Identifizierung der anderen Figuren lässt die Lesart Chiara Frugonis als die wahrscheinlichste scheinen: Das Symbol von Lukas ist hier in einer mixanthropischen Form 152 Isid., Off. Eccl. 2.3.

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dargestellt.153 Eine Interpretation des Kentauren als Symbol Christi oder, besser gesagt, dessen doppelter Natur, die in Zusammenhang mit diesem Fresko vorgeschlagen wurde,154 findet keine Belege und Parallelen in den spätantiken und mittelalterlichen Quellen und ist deshalb kaum plausibel – Pierre Bersuire kennt in Bezug auf Chiron nur die Interpretation des Kentauren als Figur des Menschen, der durch den Dualismus Körper–Seele charakterisiert ist.155

Schlusswort Die (eventuelle) Existenz von Monsterrassen und Mischwesen wurde insgesamt im Mittelalter als problematisch empfunden und stand vor einem schwierigen Interpretationsproblem: Warum waren all diese Kreaturen überhaupt kreiert worden? Waren sie rationale Wesen oder Bestien? Und vor allem: Waren sie christianisierbar? Gerade ihre ›skandalöse‹ Position in der Schöpfung verlangte nach einer Antwort. Grundlegend für die mittelalterliche Auffassung der Mixanthropoi war deren Einordnung durch den Kirchenvater Augustin als Menschen und nicht als Tiere. Dies bedeutet, dass sie fähig sind, das Wort Gottes zu verstehen und zu empfangen.156 Indem sie existieren, aber noch nicht von der Gnade Gottes erreicht worden sind, beweisen und bestätigen sie darüber hinaus die Funktion der Kirche. Ihre Existenz wird wohl als Teil eines hierarchisierten Universums empfunden und sie stellen deshalb ›niedrigere‹ Lebensformen dar, die aber perspektivisch im Moment des Jüngsten Gerichts aufgehoben werden.157 Ihre niedrigere Position ist Resultat einer Verderbnis – das einzige Erklärungsmodell der Verschiedenheit in einer theonomen Welt, wie White hervorhebt;158 diese Verderbnis, die von dem verfluchten Vorfahren Kain stammt, gilt deshalb für die ›höheren‹ Menschen auch als Warnung vor den Konsequenzen einer Rebellion gegen Gott.159 Die Vermischung der Arten ist eine starke Visualisierung der Entfernung von der göttlichen Ordnung; und diese Distanz ist zugleich eine geographische. Durch diese Position im christlichen Heilschema und seine ›Verwendung‹ als Beweis der Zweckmäßigkeit des Universums wird der ›christliche Mixanthropos‹ erklärt und funktionalisiert.160 153 Chiara Frugoni, Gli affreschi della Cappella Scrovegni a Padova, Turin 2005, 96: »Luca, ma rappresentato nell’ibrido aspetto di una specie di centauro.« 154 Giuliano Pisani, I volti segreti di Giotto, Mailand 2008, 240–242. Pisani sieht auch in den anderen drei Figuren ganz andere Wesen. Die Idee, dass die Kentauren als Symbol der doppelten Natur Christi gelten könnten, wurde von Charbonneau-Lassay vorgeschlagen, allerdings ohne jeglichen Verweis auf Quellen und ist deshalb dezidiert abzulehnen. Vgl. Louis Charbonneau-Lassay, Le bestiaire du Christ, Bruges 1940, 352–353. 155 Petrus Berchorius, Ovidius Moralizatus, liber II, Fo. XXVIIIb (Engels 1962–1966 [wie Anm. 30], 58). 156 White 1986 (wie Anm. 6), 192–194. 157 Ebenda, 183–185. 158 Ebenda, 183. 159 Paul Freedman, The Medieval Other: The Middle Ages as Other, in: Timothy S. Jones und David A. Sprunger (Hg.), Marvels, Monsters and Miracles. Studies in the Medieval and Early Modern Imaginations, Kalamazoo 2002, 2–3; s. auch White 1986 (wie Anm. 6), 189–190. 160 Freedman 2002 (wie Anm. 159), 1.

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Neben der rationalistischen Interpretation der Mixanthropoi als Menschen, die von Kain abstammen und potentiell zu bekehren sind, behaupten sich zwei weitere Vorstellungen im westlichen Mittelalter: einerseits die allegorische Interpretation der Mixanthropoi als Symbole von menschlichen Lastern, von Sinnlichkeit und Versuchung, andererseits als Manifestation der Versuchung selbst und als deren dämonische Quellen in der Realität. So interpretiert, werden sie zu Satans Kreaturen, Mittagsdämonen und Höllenbewohnern. Ersteres basiert auf der schon hellenistischen und vor allem alexandrinischen Tendenz, die Mythen und deren Hauptdarsteller zu aktualisieren, indem ihnen z. B. eine symbolische Bedeutung zugeschrieben wurde, und findet schon in der kultivierten spätantiken christlichen Elite große Resonanz.161 Die zweite Interpretation hat ihren Ursprung in der Bibelexegese und entstammt, vor allem im griechischsprachigen Raum, dem Versuch, die biblischen Dämonen mit den aus der klassischen Antike bekannten mythologischen Wesen gleichzusetzen.162 Während die antiken Kulturen die Mixanthropoi um den Begriff der Liminalität und um die Grenzen des Menschlichen konzipiert und interpretiert haben, sind die Mixanthropoi in der italienischen mittelalterlichen Kultur, wie auch die anderen monstra, eher im Sinne der Distanz zu lesen. Diese Distanz kann chronologisch (wie im Fall des Minotaurus) oder geographisch (wie im Fall der Sirenen und zumindest teilweise der Kentauren) sein, und sie ist aber als Vorwarnung, wie tief der sündhafte Mensch fallen kann, und als Gradmesser der Entfernung von Gott, die sich dadurch ergibt, zu verstehen. Wie von Cohen formuliert (selbst wenn er dies in Bezug auf die Kynokephaloi geschrieben hat), ist solch ein Wesen monstrous because of its hybridity. […] Miscegenation made corporeal, he has no secure place in a Christian identity structure generated around a technology of exclusion. A category violator, the monster must be marginalized to keep the system pure.163

Wie unsere Fallbeispiele demonstriert haben, erfüllen die Mixanthropoi im Mittelalter verschiedene Funktionen und gehören jeweils, abhängig vom Kontext, zu verschiedenen konzeptuellen Kategorien, die zu drei Lesearten führen: 1. Die Interpretation der Mixanthropoi als Dämonen, die existieren und eine Gefahr für die Seelen darstellen. 2. Die allegorische Leseart, die die Frage der möglichen Existenz dieser Wesen gar nicht stellt, und sie als Symbole der Sünde bzw. der Häresie interpretiert. 3. Die Interpretation als Menschen, die am Rand der Zivilisation leben – als Menschen jedoch haben sie auch eine Seele und sind potentiell christianisierbar.164 So gehören sie auch zu Gottes ›Plan‹ und erhalten somit ihre raison d’être. Ein Mixanthropos ist letztendlich im westlichen Mittelalter nicht viel anders als ein wild man – eine Kategorie, die in der Wissenschaft ausführlich untersucht wurde. Diese waren 161 Z. B. Peter Brown, Through the Eyes of a Needle: Wealth, the Fall of Rome and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD, Princeton 2012, 204–207; s. auch Wehrli 1983 (wie Anm. 21). 162 S. Wehrli 1983 (wie Anm. 21), 21–23. 163 Cohen 1999 (wie Anm. 19), 134. 164 Friedman 1981 (wie Anm. 8), 59–86; s. auch Sebenico 2005 (wie Anm. 4), 131–134.

Mixanthropoi 221

sehr haarige Menschen, die am Rand der Welt gelebt (Menschenrasse) und die wilden Instinkte der Menschheit symbolisiert haben sollen (allegorische Leseart).165 Wenn sie im antiken Rom als Symbol des goldenen Zeitalters galten,166 verlieren sie diese Konnotation im Früh- und Hochmittelalter, um aber später (wie die Sirenen) wieder positiv konnotiert zu werden, und mit den Fauni der klassischen Tradition identifiziert zu werden, z. B. von Bartholomeus Anglicus, nach einer Lesart, die auch auf Isidor von Sevilla basiert.167 Die Mixanthropoi stellen eine wichtige Komponente der mittelalterlichen Kultur dar, in der sie auf verschiedenen Ebenen funktionalisiert sind. Nachdem ihre Herkunft und ihre Ikonographie den Notwendigkeiten der christlichen Theologie und der biblischen Schrift angepasst worden sind, gewinnen die Mixanthropoi im Mittelalter an Vielfalt der Interpretation und an allegorischen Bedeutungen. Dies konnte einem Kenner des westlichen Mittelalters wie Umberto Eco nicht entgehen. In seinem Roman Il nome della rosa beschreibt er in der Tat zwei fiktive Portale, die von Adson bewundert werden und die in diesem sehr unterschiedliche Emotionen hervorrufen. Das Portal der jüngeren Kirche war mit sämtlichen Tieren aus Satans Bestiarium [dekoriert,] versammelt zum Konsistorium und postiert als Wache und Garde des Sitzenden auf dem Thron, seinen Ruhm zu singen durch ihre Unterwerfung: Faune, Hermaphroditen, Bestien mit sechsfingerigen Händen, Sirenen, Zentauren, Gorgonen, Medusen, Incubi (usw.).

Auf dem Tympanon des älteren Portals jedoch, das im Kapitelsaal erhalten war, über dem Haupt des Erlösers, angeordnet in einem Bogen, der sich in zwölf Paneele teilte, sowie unter seinen Füßen in einer ununterbrochenen Prozession von Figuren, waren die Völker der Welt dargestellt, denen die frohe Botschaft gebracht werden sollte […]. Doch vermischt mit ihnen sah ich, aufscheinend in dreißig Rundbildern, die sich über dem Bogen der zwölf Paneele zu einem zweiten Bogen fügten, die Bewohner der unbekannten Welten […]. Viele von ihnen waren mir gänzlich unbekannt, andere erkannte ich: […] die schuppengeschwänzten Sirenen […], die Aithiopen, deren Leiber ganz schwarz sind und die sich zum Schutz vor dem Sonnenglut Höhlen unter der Erde graben, die Onozentauren, die bis zum Nabel Menschen und darunter Esel sind …168

Die Mixanthropoi bildeten einen wichtigen Bestandteil des mittelalterlichen Universums – furchterregend oder sündhaft, fern oder nah, gefallener Mensch oder Dämon, war der Mixanthropos Teil der Schöpfung und als solcher immer Träger wichtiger Botschaften für die Christen.

165 Richard Bernheimer, Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment and Demonology, Cambridge MA 1952, insb. 3–4; White 1986 (wie Anm. 6), 177–267; Bartra 1994 (wie Anm. 124). 166 Bartra 1994 (wie Anm. 124), 34–36. 167 Bernheimer 1952 (wie Anm. 165), 97–98; s. auch White 1986 (wie Anm. 6), 199–200. 168 Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1986, 61, 430–431.

Modifikation und Neuschöpfung des Mythos in der deutschsprachigen Literatur an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert

Ronny F. Schulz

I. Einleitung Die Rezeption antiker Texte und damit auch der Umgang mit dem antiken Mythos ist, wie in der Kunst, so auch in der Literatur eine Konstante. Nur die Vorzeichen, unter welchen dies geschieht, unterliegen einem Wandel. Deutlich wird dies an problematischen Periodisierungen, welche Mittelalter und Neuzeit durch eine gewandelte Antikenrezeption abzugrenzen versuchen und somit in anderen Themen sowie in neuartigen Herangehensweisen an Stoffe im Bereich der Künste und Literaturen Epochensignaturen sehen möchten, die es zu definieren gilt. In erster Linie stellt sich somit die Frage nach der Innovation in den Künsten, die kontrovers diskutiert wird und sich zwischen den zwei Polen bewegt, die schon Erwin Panofsky in Die Renaissancen der europäischen Kunst pointiert definiert: Dabei glauben die einen, daß ›die menschliche Natur zu allen Zeiten im wesentlichen dieselbe bleibt‹, so dass die Suche nach grundlegenden und bestimmbaren Unterschieden zwischen aufeinanderfolgenden Generationen oder Generationengruppen von vornherein nutzlos wäre. Die anderen hingegen glauben, dass die menschliche Natur so unablässig und zugleich so individuell sich wandelt, dass kein Versuch unternommen werden könne und solle, derartige Unterschiede auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.1

Die extremen Positionen, welche den problematischen Begriff des Glaubens in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen, sind immer noch aktuell. Gerade wenn es um die Frage geht, ob wissenschaftliche, technische oder künstlerische Neuerungen nun Zäsuren darstellen oder nur die Modifikation einer Tradition sind, das heißt, eine Weiterentwicklung des Bekannten. 1 Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, übersetzt von Horst Günther, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1996, 17.

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Zugegebenermaßen ist der Begriff der Epoche ein Konstrukt, das der historischen Periodisierung dient. Die Grobgliederung z. B. in ›Renaissance‹ oder ›Humanismus‹ erweist sich mittlerweile als Fiktion, da sie weder Vorzeitigkeit noch Nachzeitigkeit berücksichtigt, was letztendlich an Begriffen wie ›Renaissancen‹ für die Kunstgeschichte oder ›Humanismus des 12. Jahrhunderts‹ in der Philologie deutlich wird.2 Deshalb erscheint es angebrachter, auf Kuhns Terminus des Paradigmenwechsels oder Foucaults davon abhängigen EpistemeBegriff zu rekurrieren, worauf am Schluss noch zurückzukommen ist.3 Im Folgenden möchte ich drei Werke diskutieren, um ein gewandeltes Verhältnis zur Mythenrezeption an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert aufzuzeigen. Im günstigsten Fall sind diese drei Texte aus Minnesang, Novellistik und Roman relativ zeitnah um 1300 entstanden. Es handelt sich um ein Gedicht des 1318 verstorbenen Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, den Apolloniusroman des Heinrich von Neustadt, eines Arztes, der urkundlich 1312 in der Wiener Neustadt bezeugt ist, und eine anonyme Versnovelle von Pyramus und Thisbe, die in zwei Handschriften von 1393 und 1456 überliefert wird, wohl aber noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden ist. In allen drei Fällen wird der antike Mythos überlagert oder mit anderen Erzählstoffen verknüpft, in den ausgewählten Stellen mit dem Artus- oder Tristanroman, sodass hier schon ein Bewusstsein für Neuschöpfung und/oder Modifikation vorliegt.

2 Vgl. zur Diskussion des Humanismusbegriffes in Bezug auf das Mittelalter: Nicola McLelland, HansJochen Schiewer und Stefanie Schmitt (Hg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, Tübingen 2008. 3 Kuhns Ansatz zielt auf neue Erkenntnisse und Entdeckungen in der Wissenschaft, welche Krisen auslösen und schließlich die jeweiligen wissenschaftlichen Diskurse revolutionieren und zu neuen Theorien führen: »Da das Auftauchen neuer Theorien eine umfassende Paradigmazerstörung und größere Verschiebungen in den Problemen und Verfahren der normalen Wissenschaft erfordert, geht ihm im allgemeinen eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit voraus. Wie zu erwarten, wird diese Unsicherheit durch das dauernde Unvermögen erzeugt, für die Rätsel der normalen Wissenschaft die erwartete Auflösung zu finden. Das Versagen der vorhandenen Regeln leitet die Suche nach neuen ein«, Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, übersetzt von Hermann Vetter, 23. Aufl., Frankfurt a. M. 2008, 80. Diese Theorie des Paradigmenwechsels ist dezidiert wissenschaftshistorisch, es lassen sich aber ähnliche Mechanismen sowohl für die Geisteswissenschaften, wie es Foucault bekanntlich aufgezeigt hat, als auch für die Künste und die Literatur konstatieren. Für die Mythenrezeption würde dies bedeuten, dass das Paradigma, z. B. pagane Mythen einer christlichen Exegese zu unterziehen, wie es z. B. die Kirchenväter vorgeben, partiell abgelöst wird durch neuere Interpretationsansätze, welche das Rezeptionsfeld des Mythos erweitern. Besonders wichtig ist hierbei, das Nebeneinander von altem und neuem Paradigma zu berücksichtigen, was schon im Fall von Augustinus und Boethius deutlich wird, die ihre neuen hermeneutischen Ansätze für den griechisch-römischen Mythos zu dem Zeitpunkt schaffen, als er auch noch zu den aktuellen Glaubensinhalten zählen kann.

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II. Mythenrezeption in der Literatur Für die Rezeption antiker Mythen seit dem Mittelalter liegen für die europäische Literaturwissenschaft schon Klassifikationen vor, besonders hervorzuheben sind hierbei Max Wehrlis und Hans-Robert Jauß’ Ansätze für die romanistische und germanistische Mediävistik.4 Max Wehrli versucht das komplexe Rezeptionsverhältnis zu klassifizieren, dabei sieht er die Mythenrezeption in Abhängigkeit zum Christentum als »Ablösung einer religiös-kulturellen Vorstellungswelt durch eine andere, die doch mit jener mannigfach verbunden bleibt«.5 Er postuliert drei Phänomene, (1) die »Dämonisierung der heidnischen Götter«, (2) der »religionsgeschichtliche[] Erklärungsversuch« und (3) die christliche Allegorese der antiken Mythologie.6 Die Dämonisierung ist hierbei vor dem Hintergrund der euhemeristischen Tradition zu sehen, welche den Mythos auf verklärte historische Ereignisse zurückführen möchte. Die religionshistorische Deutung liegt vor, wenn mythische Gestalten wie z. B. der Fährmann der Unterwelt, Charon, als eine Erscheinungsform des Teufels rezipiert werden. Eine christliche Deutung ist das aus der mittelalterlichen Hermeneutik vertraute Prozedere, die antiken Mythen als Vorausdeutungen des Christentums zu sehen, was gerade für die Ovid-Allegorese des 13. und 14. Jahrhunderts umfangreich untersucht worden ist.7 Ein wichtiges Phänomen ist damit aber noch nicht erfasst, die Neuschöpfung des Mythos, die Hans Robert Jauß für die romanische Literatur des Mittelalters postuliert und die Peter Godman für die lateinischsprachige Literatur anhand von Bernardus Silvestris aufzeigt. 8 4 In erster Linie fokussiert diese Arbeit auf die Frage nach dem Wandel in der Mythenrezeption vom 13. zum 14. Jh., weshalb nur schlaglichtartig die Theorien von Wehrli, Jauß, Godman und Lévi-Strauss thematisiert werden können, eine detailliertere Einführung in die Theorien, welche für die germanistische Mediävistik relevant sind, bieten Udo Friedrich und Bruno Quast, Mediävistische Mythosforschung, in: Udo Friedrich und Bruno Quast (Hg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit (Trends in Medieval Philology, Bd. 2), Berlin/New York 2004, IX– XXXVII. 5 Max Wehrli, Antike Mythologie im christlichen Mittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57, 1983, 18–32, hier 19. 6 Vgl. ebenda, 21–28, Zitate 24. 7 Unter den neueren Arbeiten ist Christel Meier, Ovidius christianus und Antiovidianus. Pagan-christliche Hybridformen der Metamorphosen-Kommentierung im Spätmittelalter, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 137, 3, 2015, 461–493 zu nennen. Meier hebt besonders die »neue Gleichstellung von figurativer Rede der Heiligen Schrift und [paganer – Anm. R. F. S.] Dichtung« (ebenda, 470) im 14. Jh. für Boccaccio und Berchorius hervor. Gerade durch den Wandel in der theologischen Hermeneutik kommt es hier zu neuen Hybridformen, die im frühen 13. Jh. noch nicht denkbar waren. 8 Vgl. Hans Robert Jauß, Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik, Bd. IV), München 1971, 187–209 und Peter Godman, The Search for Urania. Cosmological Myth in Bernardus Silvestris and Pontano, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.), Innovation und Originalität. Beiträge zum 7. Gespräch über Probleme der kuturgeschichtlich-literarischen Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit, 7.–9. Juni 1991 auf der Reisensburg (Fortuna vitrea, Bd. 9), Tübingen 1993, 70–97.

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Die bei Jauß und Godman angeführten Beispiele sprechen aber eher für eine Modifikation beziehungsweise Erweiterung des antiken Mythos, der wiederum christlich ausgedeutet oder dämonisiert werden kann und der Allegorese verhaftet bleibt. Es empfiehlt sich allerdings eine wesentlich weiter gefasste Klassifikation, die über die literarische Aufnahme des antiken Mythos hinausgeht, da Philosophie genauso wie Bildkünste und Kulturkontakte die literarische Produktion beeinflussen. Jean-Jacques Wunenburger legt ein solches Modell vor, wenn er die Rezeptionsphänomene in »la réanimation herméneutique«, »le bricolage mythique« und »la transfiguration baroque« unterteilt.9 Unter hermeneutischer Wiederbelebung versteht Wunenburger die Integration antiker Mythen in einen neuen, meist wissenschaftlichen Kontext, eine christliche Nutzbarmachung des paganen Mythos. »Bricolage mythique« bezeichnet den durch medialen Wandel hervorgerufenen Rezeptionsprozess, den auch schon Lévi-Strauss andeutet.10 Vom gesprochenen Wort zur Kodifizierung ergeben sich erhebliche Veränderungen, die teils für die Antike nicht mehr nachzuweisen sind. Da die Überformungsprozesse bei der Verschriftlichung ebenfalls mehreren Einflüssen unterliegen, entsteht ein bricolage, ein artifizielles Gebilde. Der Begriff ›barocke Transfiguration‹ ist etwas unpassend für das hier zu behandelnde Thema gewählt. Er bezeichnet eine Synthese aus den ersten zwei Rezeptionsmodellen. Für Wunenburger ist Literatur eine freie Neuschöpfung aus dem antiken Mythos und sie stammt aus einem primär fremden Kontext.11 Das, worauf Jauß und Wehrli fokussieren, ist in erster Linie die Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, wobei Jauß schon darüber hinausgeht. Wunenburger dagegen hat die Frühe Neuzeit und die Neuzeit im Blick, was der Terminus ›barocke Transfiguration‹ andeutet. Somit entsteht eine Forschungslücke zwischen dem späten 13. und dem frühen 16. Jahrhundert, die höchst interessant ist und dies auch in besonderem Maße für den Paradigmenwechsel in der Mythenrezeption. Ich begreife unter Mythos in der Rezeption ein Zeichensystem, das sich in Schrift, aber auch in den visuellen und vielleicht sogar akustischen Künsten äußert. Das Zeicheninventar, 9 Jean-Jacques Wunenburger, Mytho-phorie: Formes et transformations du mythe, in: Religiologiques 10, 1994, 49–70, Zitate 61, 63 u. 64. Wunenburgers Konzept lässt sich (modifiziert) sinnvoll auf die Mythenrezeption der Renaissance anwenden, vgl. Ronny F. Schulz, Myths of the Inventor: Inventing Myths in the Literary Concept of the Artistic Ingenium in Germany and Italy (1500–1550), in: Elisabeth Wåghäll Nivre, Anna Carlstedt, Anders Cullhed, Carin Franzén, Peter Gillgreen, Kerstin Lundström und Erland Sellberg (Hg.), Allusions and Reflections. Greek and Roman Mythology in Renaissance Europe, Cambridge 2015, 453–463. 10 Lévi-Strauss ist sich sehr wohl der (literarischen) Rezeption bewusst, die er auch als Teil des Mythos hinzuzieht, dennoch, mit dem Bild einer durcheinandergeratenen Orchesterpartitur, welche wieder geordnet werden muss, verhehlt er nicht, dass seine Intention auch zu einem Gutteil in der Rekonstruktion des Mythos besteht, was den Aspekt der Rezeption wieder negiert, vgl. Claude Lévi-Strauss, The Structural Study of Myth, in: The Journal of American Folklore 68, 270, 1955, 432. 11 »Sa [i. e. le mythe – Anm. R. F. S.] pérennité ne se laisse donc pas mesurer seulement à une survivance passive autochtone mais aussi à sa capacité à se prêter à de nouveaux réinvestissements de signification dans un contexte culturel étranger, distant dans l’espace ou dans le temps«, Wunenburger 1994 (wie Anm. 9), 63. Mythos lässt sich, und dies ist eine essentielle Aussage, wie die Rezeption eines fremden Erzählstoffes auffassen, dabei spielen dann auch Adaptation und Inkulturation eine wichtige Rolle.

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das man mit Claude Lévi-Strauss gut strukturalistisch auch als Mytheme auffassen kann, die in Bündeln Mythen bilden,12 ist gerade für die Hermeneutik und für Modifikation und Neuschöpfung relevant, allerdings nicht für die Dämonisierung, da antike Götter, als Blendwerke des Teufels verstanden, wieder mit den aktuellen Glaubensinhalten korrelieren. Erst dieses Bewusstsein für den Zeichencharakter des Mythos ermöglicht einen freieren Umgang mit den Stoffen. Die Zeichenhaftigkeit des Mythos kommt vom 13. zum 14. Jahrhundert zum Tragen, dies wohl nicht zuletzt durch die Aristoteles-Rezeption in der gelehrten Dichtung und der Suche nach neuen Räumen, die dichterische Autonomie gewährleisten könnten. Vor dem Hintergrund scholastischer Schöpfungstheologie zeigt sich, dass sowohl Utopie als auch Allegorie keine Neuschöpfungen sind. Thomas Cramer bestätigt dies, indem er die Allegorie als Zeichen auffasst: [W]enn der Begriff des Schöpferischen in der Kunst die Autonomie des schöpferischen Subjekts ebenso voraussetzt wie die Autonomie des Geschaffenen, so kann ein allegorischer Raum niemals im thomistischen Sinne Schöpfung sein, denn er ist per definitionem ›uneigentlich‹: das Zeichen impliziert immer den Rückbezug auf das Bezeichnete.13

Cramer sieht so die Sprache selbst als Ort, in dem Neues hervorgebracht werden kann.14 Nun kann man aber den Mythos, als Zeichensystem aufgefasst, der keiner christlichen Hermeneutik mehr unterliegt, ebenfalls als Grundlage dichterischer Autonomie sehen. Der Ablösungsprozess, der damit einhergeht, zeichnet sich jedoch zuerst durch hybride Formen aus, die sowohl allegorische Versatzstücke als auch schon entallegorisierte Elemente des Mythos miteinbezieht.15 Die Antikenromane des 12. und 13. Jahrhunderts lassen sich noch gut mit dem Modell von Wehrli erfassen, obwohl es auch hier Fälle gibt, in denen antike Mythologie als bloßer rhetorischer Schmuck oder unhinterfragte Tradition, so z. B. im altfranzösischen Roman 12 Mythos als (weiteres) Zeichensystem neben der Sprache aufgefasst, deutet sich bei Lévi-Strauss an, der konstatiert, dass Mythen zur gleichen Kategorie wie Sprache gehören und deren Elemente ein eigenes System bilden: »Those properties are only to be found above the ordinary linguistic level; that is, they exhibit more complex features beside those which are to be found in any kind of linguistic expression«, vgl. Lévi-Strauss 1955 (wie Anm. 10), 431, Zitat ebenda. 13 Thomas Cramer, Solus creator est deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum, in: Daphnis 15, 1986, 266. 14 Vgl. ebenda, 268–269. Cramer denkt hier zunächst an den Minnesang, der mit seiner spezifischen Terminologie eine eigenständige Vorstellungswelt schafft. 15 Dies zeigt sich auch schon im 4. und 5. Jh., als die christliche Allegorese paganer Mythen profiliert wird, Augustinus zieht Pyramus und Thisbe noch heran, um eine aus christlicher Sicht unreine Liebe zu demonstrieren, vgl. Franz Schmitt-von Mühlenfels, Pyramus und Thisbe. Rezeptionstypen eines Ovidischen Stoffes in Literatur, Kunst und Musik (Studien zum Fortwirken der Antike, Bd. 6), Heidelberg 1972, 26–28. Boethius legt Orpheus und Eurydike moralisch aus – »wer aufwärts strebt, darf sich nicht umblicken« – und lehnt sich dabei wohl noch an älteren Mustern an, vgl. Boethius, Trost der Philosophie, lateinisch und deutsch, hg. und übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon, 2. Aufl., Zürich/ Stuttgart 1969, 162 u. 295. Beide Autoren kennen das christliche hermeneutische Verfahren, dennoch setzen sie bewusst auch ältere oder alternative Formen ein.

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d’Énéas, erscheint. Auch die exempla der Minnelyrik oder die darin auftretende frouwe Minne, die mit Venus, der personifizierten Liebe, gleichgesetzt wird, können unter den Aspekten Personifikation und rhetorisches decorum betrachtet werden. Allerdings gibt es hier schon einige Vorreiter, wie Heinrich von Morungen, der recht innovativ mit dem ovidischen Mythos verfährt.

III. Heinrich von Meißen (Frauenlob): Das kreative Potential des mythischen Zeichensystems Heinrichs von Meißen Ouwe, herzelicher leide (Lied 2) ist ein Vorwurf an die personifizierte Minne,16 welche Liebe mit Leid verbunden habe. Er führt Exempelfiguren aus dem Artusroman an, indem er auf Iwein und Lunete in – vielleicht durch die Überlieferung – schwer verständlichem Zusammenhang rekurriert.17 In der letzten Strophe äußert das lyrische Ich einen Wunsch, der eine Drohung an die personifizierte Minne darstellt: Ach, solt ich den apfel teilen, / den Paris der Minne gab, / Zwar, du müstest jamer seilen, / solte ich dadurch in min grab. / Pallas oder Juno müsten halden ir: / So reche ich min leide an dir, / die du hast geerbet mir.18

Der Irrealis drückt bereits aus, dass das Ich nicht die Position des Paris einnehmen möchte, es wünscht sich nur an dessen Stelle, um den Apfel nicht der Venus zu überreichen. Die Gleichsetzung von Frau Minne und Venus ist für die mittelhochdeutsche Dichtung nichts Ungewöhnliches, auch nicht die Anspielung auf das Urteil des Paris, so bei Heinrich von Morungen (um 1200): Ascholoie / diu vil guote heizet wol. / erst von Troie / Paris, der si minnen sol. / obe er kiesen solde under den schœnesten, die nu leben / sô wurde ir der apfel, wær er unvergeben.19

Hier ist es Paris, dem gemäß des Mythos die Zuteilung des Apfels zukommt. Wahrscheinlich soll »Ascholoie« in diesem Kontext ein Beiname der Helena sein, den Heinrich von Morungen durch die Fehlinterpretation einer Stelle in Ovids Epistulae Heroidum kannte und der 16 Frauenlob (Heinrich von Meißen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, Teil 1: Einleitungen, Lieder, hg. v. Karl Stackmann und Karl Bertau, Göttingen 1981, 563–564. 17 Susanne Köbele, Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung, Tübingen/ Basel 2003, 63, konjiziert, dass in dieser Strophe offenbar »das Minneleid des Iwein durch das bei weitem hoffnungslosere und ungerechtfertigtere des Sprecher-Ichs überboten werden soll«. 18 Frauenlob 1981 (wie Anm. 16), 564, XIV, 10. Übertragung: »Ach, könnte ich [doch] den Apfel vergeben, den Paris der Minne überreichte, wahrlich, du [Venus] solltest ein Jammerseil binden, [auch] wenn mich das ins Grab führt. Pallas oder Juno sollten ihre [Gabe] erhalten: So würde ich mein Leid an dir rächen, das du mir übereignet hast.« Übertragungen, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser. 19 Deutsche Lyrik des Frühen und hohen Mittelalters (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd. 6), Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 2005, 270. Übertragung: »Ascholoie, heißt richtig die Hochgeschätzte, von Troja stammt Paris, der sie lieben muss. Wenn er unter den Schönsten, die jetzt leben, wählen müsste, würde sie den Apfel erhalten, wenn er noch nicht vergeben worden wäre.«

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ihm hier wohl als Versteckname für eine Dame – analog zum altokzitanischen senhal – dient.20 Dennoch tritt hier kein Ich auf. Ein Faktum, das auch Susanne Köbele in ihrer fundierten Studie zu Frauenlob hervorhebt.21 Bei Heinrich von Meißen zeichnet sich somit ein Wandel ab, der verschiedene Hintergründe haben kann. Zum einen lässt sich Frauenlob als äußert selbstbewusster Dichter charakterisieren, was sich wahrscheinlich auch in einer nicht ihm zuzuschreibenden Selbstrühmung äußert, bei der er mit den gut 100 Jahre vor ihm wirkenden Minnesängern in einen Wettstreit tritt.22 Somit könnte auch seine Einschreibung des Ichs in den Paris-Mythos als Überbietung des Morung’schen Gedichts gelesen werden. Köbele formuliert, nachdem sie intrikat die Anspielungen an Gottfried von Neifen in Lied 2 herausgearbeitet hat, dass »[s]pezifisch ›Frauenlobisches‹« in der Arbeitstechnik des Gedichts evident wird und zwar dort, wo Heterogenes (gleichwertige Räume: höfisch/antik, proprie/translate), Diskontinuierliches (abrupte Perspektivenwechsel), syntaktisch oder semantisch Undurchsichtiges (jamer seilen) und Gelehrtes (literarisches Wissen, mythologische Anspielungen) das bekannte Material transformieren. Dieses wird (re-) metaphorisiert, neukombiniert, grammatisch variiert, in neue Kontexte eingebettet.23

Zum anderen ist es gerade diese anspielungsreiche Dichtung, die verschiedene Wissensdiskurse aufgreift, welche für die Mythenrezeption wesentlich interessanter ist. Obwohl wir nichts über Frauenlobs Ausbildung wissen, lassen sich doch in seiner Lyrik intime Kenntnisse der scholastischen Aristoteles-Rezeption ausmachen. Er ist sich der Zeichenhaftigkeit von Sprache bewusst und thematisiert dies auch wiederholt. Hierbei geht der Dichter sogar soweit, dass er in seinem Werk die aristotelische Terminologie ins Mittelhochdeutsche überträgt, wie in seinem Marienleich, wo er auf die Prädikamentenlehre und die Prädikabilien eingeht.24 20 Vgl. ebenda, 786. 21 Vgl. Köbele 2003 (wie Anm. 17), 64. Manfred Kern, Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 135), Amsterdam/Atlanta, 1998, 109–114, führt noch Heinrichs von dem Türlin Diu Crône zum »revidierte[n] Parisurteil« an und behauptet, der »Erzähler […] [würde] sich selbst als guten, objektiven Paris in Szene … setzen« (ebenda, 111), wenn er Amurfina, der zukünftigen Frau Gaweins, den goldenen Apfel durch einen »rechten Richter« (ebenda) zuwiese; hier ist allerdings festzuhalten, dass sich bei Heinrich von dem Türlin kein Ich direkt artikuliert. Möglich, dass in diesem Fall eher die lateinische Dichtung auf die Konzeption bei Frauenlob gewirkt hat, wie es Köbele 2003 (wie Anm. 17), 63–64, Anm. 152 andeutet. 22 Vgl. Johannes Rettelbach, Abgefeimte Kunst: Frauenlobs „Selbstrühmung“, in: Cyril Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott (Hg.), Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch, Chiemsee-Colloquium 1991, Tübingen, 1996, 177–193. Rettelbach hat plausibel dargestellt, dass Frauenlob als Verfasser der betreffenden Strophen eher nicht in Frage kommt, dennoch reflektiert der paragone mit den historischen Minnesängern, die unter dem Namen Heinrichs von Meißen in einem Sängerwettstreit integriert sind, die Positionen des Dichters, wenn auch überspitzt. 23 Köbele 2003 (wie Anm. 17), 67. 24 Vgl. dazu Deutsche Lyrik des späten Mittelalters (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd. 43), hg. v. Burghart Wachinger, Berlin 2010, 855.

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In seiner Minnelyrik wird aber deutlich, dass er auch hier Minne als ein Zeichensystem verstanden wissen will. Die Gründe hierfür resultieren wohl aus einem Defizit, das besonders die (gelehrte) Poetik an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert betrifft: In der AristotelesRezeption des Thomas von Aquin, die im Laufe des 13. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt, sieht der wichtige Scholastiker keinen Raum für »[d]en schöpferischen Charakter der Sprache«,25 wie es Eugenio Coseriu konzis formuliert. Außerhalb der Scholastik, im Bereich der volkssprachlichen weltlichen Dichtung, artikuliert sich aber ein Vorverständnis dessen, was das kreative Potential der Sprache bedeuten kann, wie Thomas Cramer darstellt.26 Boten bisher weltlicher Roman, Novellistik und Lyrik Anlass dazu, Modifikationen vorzunehmen, gegenüber der geistlichen Dichtung, die konstant auf christliche Glaubensinhalte rekurriert, bei der Modifikationen wenn überhaupt sehr starken Restriktionen unterlagen, so tut sich mit der Mythenrezeption ein dritter Bereich auf. In der lateinischen Literatur findet sich schon ein freier Umgang mit dem Mythos im 12. Jahrhundert und natürlich lassen sich auch um 1200 einige Vorläufer finden, wie für die Minnelyrik Heinrich von Morungen oder für den Roman Gottfried von Straßburg,27 ein derartig gewandelter Umgang allerdings wie bei Frauenlob, der sein Ich in den antiken Mythos einschreibt, darf als Innovation bezeichnet werden. Dies hängt in erster Linie auch damit zusammen, dass antiker Mythos hier nicht als schwer adaptierbar in einen höfischen Kontext oder als bloße Rezeption der Schullektüre zu betrachten ist, sondern als ein künstliches Zeichensystem, wie poetische Sprache, das neue Äußerungsformen hervorbringen kann, also über ein kreatives Potential verfügt.28 Zumal der antike Mythos einen Vorzug aufweisen kann: Gegenüber der Heilsgeschichte, die als dogmatisch zu betrachten ist, oder den Inhalten des höfischen Romans, die als längst vergangen situiert werden, ist der Mythos zeitlos und kann immer wieder reaktiviert werden. Er ist seinem historischen Glaubenskontext entzogen, er kann in die Heilsgeschichte, außer durch Dämonisierung oder Allegorese, nicht mehr integriert werden. Und so, wie er bei Heinrich von Meißen zitiert wird, steht er auch nicht mehr im Zusammenhang mit dem Krieg um 25 Eugenio Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie. Von den Anfängen bis Rousseau, neu bearbeitet und erweitert von Jörn Albrecht. Mit einer Vor-Bemerkung von Jürgen Trabant, Tübingen/Basel 2003, 155. 26 Vgl. Anm. 13. 27 Michael Rupp betrachtet antike Exempelfiguren im Minnesang des 12. und 13. Jhs. ebenfalls als »schwer integrierbar«, begründet dies aber mit einer möglichen Unkenntnis dieser Thematik beim höfischen Publikum der Zeit, vgl. Michael Rupp, Narziß und Venus, Der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander, in: Christiane Ackermann und Ulrich Barton (Hg.), „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler, Tübingen 2009, 35–48, Zitat 35. 28 Wie detailliert sich Frauenlob mit der Zeichentheorie auseinandergesetzt hat und dass er nicht nur auf sprachliche Zeichen rekurriert, stellt Huber in seiner fundierten Untersuchung dar, vgl. Christoph Huber, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 64), München 1977, bes. 127–186. Huber erkennt, dass Frauenlob »auf eine eindeutige Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, wie in der Sprache, so auch bei den übrigen Verweiszusammenhängen [drängt]«, ebenda, 157, weshalb seinem Eingriff in den tradierten Mythos ebenfalls Signifikanz zukommt, diese besteht wohl weniger in einer bloßen Korrektur als in einem kreativen Umgang mit dem artifiziellen Zeichensystem Mythos.

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Troja. Der Schönheitspreis soll nicht mehr an die Venus gehen, sondern an Minerva oder Juno. Wenn man diese Anspielung auf der Metaebene fortführt, lässt sich die Aussage als ein Optionieren für das Wissen, nicht für die Minne, die sich als undankbar erweist, interpretieren; die Idee, den Apfel der Liebe zu überreichen, wird somit zumindest im Gedankenspiel negiert.

IV. Pyramus und Thisbe: Modifikationen des Mythos Der Ovid-Stoff von Pyramus und Thisbe findet im mittelalterlichen Europa weite Verbreitung.29 Auf den ersten Blick ist die mittelhochdeutsche Versnovelle Von Pyramo und Thisbe, den zwein lieben geschah vil wê (vor 1350) eine christianisierte und rhetorisch aufgearbeitete Fassung des Textes aus den Metamorphosen auf der Grundlage einer verlorenen altfranzösischen Zwischenstufe, die nur in späteren Fassungen, darunter in Überarbeitung im Ovide moralisé (Anfang des 14. Jahrhunderts), erhalten ist.30 Dennoch ist eine Kenntnis des lateinischen Textes bei dem deutschsprachigen Bearbeiter vorauszusetzen, da Ovid als Schulautor das ganze Mittelalter hindurch diente und somit dem Abweichen von der ursprünglichen Fassung – und dem Heranziehen einer französischen Bearbeitung – eine besondere Bedeutung zukommen könnte.31 Mehrmals wenden sich die Figuren an Gott, Pyramus apostrophiert ihn gar mit »süezer herr Crist, / wan dû unser schepfer bist, / unser herr und unser got«,32 sodass kein Zweifel 29 Einen ersten Überblick über die Rezeptionszeugnisse bietet Marion Oswald, Pyramos und Thisbe, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (Der neue Pauly, Supplemente, Bd. 5), Stuttgart/Weimar 2008, 641–646. Die bis heute umfangreichste deutschsprachige Monographie zu Pyramus und Thisbe hat Schmitt-von Mühlenfels 1972 (wie Anm. 15) vorgelegt. 30 Der mittelhochdeutsche Text wird nach der maßgeblichen Edition in Novellistik des Mittelalters (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd. 47), hg. v. Klaus Grubmüller, Berlin 2010, 337–363 u. 1144–1153 (Kommentar), zitiert. Dass sich die Fassung maßgeblich an der altfranzösischen Versfassung (Handschrift B) orientiert, ist in der Forschung schon bestätigt worden, vgl. Fritz Peter Knapp, Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters, Heidelberg 1979, 150. Das Fablel von Piramus et Tisbé liegt mit der Ausgabe von Penny Eley in einer modernen kritischen Edition zusammen mit den Transkriptionen der Handschriften A, B, C und R vor, vgl. Piramus et Tisbé (Liverpool Online Series, Critical Editions of French Texts, Bd. 5), hg. v. Penny Eley, Liverpool 2001 (>www.liverpool. ac.uk/media/livacuk/modern-languages-and-cultures/liverpoolonline/piramus.pdf< [abgerufen am 27.01.2017]). 31 Als prominenter Fall ist hier Heinrich von Veldeke zu nennen, der sich in seinem Eneasroman (zwischen 1170–1190), obwohl er nachweislich Vergil kennt, in erster Linie auf die altfranzösische Version in seiner Bearbeitung stützt. Dies hängt wohl auch zu einem Gutteil mit der stärkeren Akzentuierung der Liebesthematik in dem französischen Text zusammen und der Tendenz, sich an höfischer, zeitgenössischer Literatur aus Frankreich zu orientieren. Gerade in rezenter Forschung ist ein erneutes Interesse an ›Texten dritter Stufe‹ zu beobachten, vgl. Marie-Sophie Masse und Stephanie Seidel (Hg.), Texte dritter Stufe. Deutschsprachige Antikenromane in ihrem lateinisch-romanischen Kontext (Kultur und Technik, Bd. 31), Berlin 2016, ein Aspekt, der unter Umständen ebenfalls in der vorliegenden mittelhochdeutschen Pyramus-und-Thisbe-Novelle eine Rolle spielen könnte. 32 Pyramus und Thisbe 2011 (wie Anm. 30), 350, V. 283–285. Übertragung: »Lieber Herr Jesus Christus, /

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besteht, dass hier der christliche Gott gemeint ist. Es gibt allerdings weitere signifikante Unterschiede zu Ovids Fassung des Stoffes und zur altfranzösischen Version, weshalb die Versnovelle dann doch eine besondere Form der Mythenrezeption darstellt. Zwar lehnt sich der anonyme Verfasser an die christliche Fassung des Stoffes an,33 wenn Pyramus den Löwen (nicht die Löwin) herausfordert, von dem er denkt, dieser habe seine Thisbe getötet, und ersticht ihn im Zweikampf; auch spielt, wie im altfranzösischen Piramus et Tisbé,34 Frau Venus eine Rolle, die eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen Personifikation und Göttin hat. So hofft Pyramus: »Frou Vênus, der minne meisterîn, / diu tuot uns lîcht ir hilfe schîn«.35 Die Funktion der Göttin wird hier deutlich, analog zu Maria als auxilium christianorum erscheint Venus als Beistand der Liebenden, als auxilium amantorum. Schließlich sorgt sich Thisbe um das göttliche Heil wegen ihres Suizids und erbittet, kurz vor ihrem Tod, ein Zeichen. Dies ereignet sich in der Umfärbung der Früchte des Maulbeerbaums: ein boum stuont dâ, der hiez môrus, / dô daz zeichen geschach alsus: / man seit uns für die wârheit, / daz der boum sît immer treit / rôt obez, daz ê was swarz, / und het einen balsamsmac.36

Der anonyme Ovid-Rezipient wandelt auch hier den aitiologischen Mythos um, er folgt weder dem altfranzösischen Fablel noch den Metamorphosen. Die Maulbeeren waren bei Ovid ursprünglich weiß, durch das Blut des Pyramus, das wie aus einem gebrochenen Wasserrohr empor spritzte, färbten sie sich rot.37 Schließlich wünscht Thisbe, dass die Früchte für immer dunkel werden, als Zeichen der Trauer um das vergossene Blut der beiden, als »gemini monimenta cruoris«.38 Die rote Farbe am Ende in der mittelhochdeutschen Fassung, die als Farbe der Liebe aufzufassen ist,39 deutet auf die Intention der Versnovelle hin, »von der da du unser Schöpfer bist, / unser Herr und Gott«. 33 Vgl. Knapp 1979 (wie Anm. 30), 153. 34 Vgl. Piramus et Tisbé 2001 (wie Anm. 30), 54, V. 487–489. 35 Novellistik des Mittelalters 2010 (wie Anm. 30), 342, V. 137–138. Übertragung: »Frau Venus, die Herrin der Minne, wird uns wahrscheinlich ihre Hilfe erweisen«. Als Frau Minne begegnet Venus ebenfalls, z. B. ebenda, 338, V. 67. 36 Ebenda, 358, V. 423–428. Übertragung: »Ein Baum stand dort, als das Wunder sich ereignete, der hieß Maulbeere. Es ist verbürgt, dass seitdem der Baum immer rote Früchte trägt, die vormals schwarz waren, und diese rochen nach Balsam«. 37 Vgl. P. Ovidius Naso, Metamorphoses, hg. v. Richard J. Tarrant, Oxford 2004, 97–98, V. 121–127. 38 Ebenda, 99, V. 161. Auch die altfranzösische Version folgt dem Ovid-Text, unter Auslassung der zwischenzeitlichen Rotfärbung: »Sor les branches raie li sans, / Nercist li fruis qui estoit blans: / Tous temps avoit esté la more / Blanche jusques a icele hore; / Adont si ot noire coulour / En tesmoignage de dolour«, Piramus et Tisbé 2001 (wie Anm. 30), 66, V. 774–779. Übertragung: »Auf die Zweige spritzte [= wörtl. strömte, strahlte] das Blut, schwärzte die Frucht, die weiß war. Immer war die Maulbeere weiß bis zu dieser Zeit gewesen. Nunmehr erhielt sie eine schwarze Farbe, als Zeugnis der Trauer«, diese Stelle findet sich fast genau so formuliert im Ovide moralisé, vgl. Ovide moralisé. Poème du commencement du quatorzième siècle, Bd. II, Bücher IV–VI, hg. v. Cornelis de Boer, Amsterdam 1920, 34, V. 1017–1022. Interessanterweise ist es in der altfranzösischen Fassung Pyramus, der die Götter anruft, sie mögen die Früchte des Baumes schwarz färben, als »Signe de mort, de destorbier, De plour«, ebenda, 64, V. 760– 761. Übertragung: »Zeichen des Todes, der Verwirrung [und] der Trauer«. 39 Dorothea Klein, Metamorphosen eines Dichters. Zur Ovid-Rezeption im deutschen Mittelalter, in: Dorothea Klein und Lutz Käppel (Hg.), Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikenrezeption (Kul-

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minne meisterschaft«,40 der Macht der Minne, zu erzählen und findet sich ebenfalls weder bei Ovid noch in der altfranzösischen Version des Stoffes. Aus dem durch die Götter gesetzten Zeichen der Trauer wird ein christliches Wunder, worauf nicht zuletzt der Balsamduft hinweist und welches zugleich – in Anlehnung an Ovids Formulierung – ein monumentum amoris darstellt. Höfische Liebe wird nobilitiert und, interessanterweise, auch der Liebestod, welcher gänzlich nicht zu einem christlichen Konzept passt.41 Dabei ist zu bedenken, dass Pyramus über den vermeintlichen Tod der Geliebten in einen besonderen Trauergestus verfällt: ûz dem houbt brach er daz hâr / mit den henden, daz ist wâr, / daz gewant ab dem lîbe. / ez wart nâch einem wîbe / nie sô grôz ungehabe. / mit den nageln zart er abe / daz fleisch mit der hiute.42

Diese Selbstzerfleischung geht über den gewöhnlichen Trauergestus hinaus, in Kombination mit der Selbstentleibung deutet das Ganze auf die Ikonographie der Ira, der Todsünde des Zorns, hin.43 Damit schreibt sich wieder die christliche Sündenperspektive in den Text ein, die schon mit der Nennung der Stadt Babylon für einen zeitgenössischen Leser anklingt. Dennoch wird die Handlung durch ein weiteres Wunder legitimiert: Nach ihrem Tod wächst eine Weinrebe von einem Grab zum anderen. Für den Augenscheinsbeweis werden die Gräber geöffnet und es zeigt sich, dass die Rebe durch beide hindurchwächst, »ein vil grôzez zeichen«, wie der Erzähler bemerkt.44 Wie schon in der Forschung zu der Erzählung konstatiert, wird hier auf den Schluss des Tristanstoffes, z. B. in der Fassung des Eilhart von Oberg, angespielt.45 Dies scheint schon in der Bearbeitung des Tristan durch Gottfried von Straßburg angelegt, der seinen Protagonisten wohl nicht zufällig »einen senelîchen leich als ê / de la cûrtoise Tispê / von der alten Bâbilône«46 auf der Harfe spielen lässt. Für den Tristan bietet turgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit, Bd. 2), Frankfurt a. M. 2008, 173, weist ebenfalls auf Rot als Farbe der Liebe hin, hebt aber diese Neuakzentuierung nicht besonders hervor, sondern fasst sie als ein »Zeichen […] [der] Gnade vor Gott«, ebenda. 40 Novellistik des Mittelalters 2010 (wie Anm. 30), 336, V. 7. 41 Vielleicht sollte man mit Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München 1985, 275 von einem »einmaligen, ›besonderen Fall‹ (Kasus) zweier Personen, eines Paares« sprechen. Dies scheint eine plausible Erklärung, warum der Suizid im christlichen Kontext nicht kritisiert wird. 42 Novellistik des Mittelalters 2010 (wie Anm. 30), 348, V. 223–229. Übertragung: »Vom Kopf riss er sich mit den Händen die Haare, das ist wahr, [und riss sich] die Kleider vom Leib. Durch eine Frau geschah nie [zuvor] so großes Leid. Mit den Nägeln riss er sich das Fleisch mitsamt der Haut herunter.« 43 In Piramus et Tisbé 2001 (wie Anm. 30), 62, V. 699–701, wird der Zorn des Protagonisten direkt angesprochen, eine Selbstzerfleischung wird nicht geschildert. 44 Novellistik des Mittelalters 2010 (wie Anm. 30), 362, V. 483. Übertragung: »Ein sehr großes Wunder [wörtl.: Zeichen]«. 45 Vgl. Knapp 1979 (wie Anm. 30), 153, allerdings muss angemerkt werden, dass es im Tristanstoff Weinrebe und Rosenstock sind (was Knapp auch erwähnt) und hier erneut modifiziert wird, wenn es nur noch eine Weinrebe ist, welche die beiden im Grab verbindet. 46 Gottfried von Straßburg, Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1: Text, Verse 1–9982, 12. Aufl., Stuttgart 2007, 224, V. 3615–3617. Übertragung: »Eine Melodie [=Leich] wie einst / von der höfischen Thisbe / aus dem alten Babylon«.

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der Stoff ein wichtiges Grundkonzept, das sowohl die Handlung antizipiert als auch auf die berühmte Baumgartenszene eingewirkt haben könnte.47 Somit wird die Erzählung in den Kontext der höfischen Liebespaare und ihrer Schicksale integriert.48 Die Versnovelle christianisiert den Stoff, es bleiben aber Reminiszenzen an den paganen Mythos zurück, dies wird noch deutlicher durch das wiederholte In-Szene-Setzen der Göttin Venus/Minne, die in dem betreffenden Ovid-Abschnitt überhaupt keine Rolle spielt. Bewusst wird also die antike Herkunft des Stoffes akzentuiert, die neben der christlichen Vorstellung koexistiert. Der Liebessuizid wird in dieses hybride Gebilde nicht nur kritiklos aufgenommen, sondern durch ein Motiv des höfischen Romans zusätzlich legitimiert. Dass es dabei zu Brüchen kommen könnte, interessiert den Verfasser nicht, der den antiken Mythos primär für seine Argumentation benötigt. In der Bearbeitung wird deutlich, dass sich der Verfasser der verschiedenen, sowohl pagan-antiken als auch christlichen Bearbeitungen des Stoffes bewusst ist. Dieses Bewusstsein, dass sowohl die Metamorphose der Maulbeeren in einigen Versionen intendiert ist (Ovid) als auch das völlige Weglassen des aitiologischen Mythos und seines Motivs zugunsten einer christlichen Allegorese (wie z. B. in den Gesta Romanorum)49 oder einer höfisierten Fassung wie im altfranzösischen Fablel, lassen Spielraum für die Bearbeitung. Die Vielschichtigkeit der Bearbeitungen zeigt somit auf, dass es nur wenige Konstanten in dem Mythos von Pyramus und Thisbe gibt. Fest stehen lediglich die Trennung der beiden Liebenden von Kindheit an, der Treffpunkt und seine Gestaltung als locus amœnus, der Löwe oder die Löwin, schließlich der gemeinsame Suizid und unter Umständen die Färbung der Maulbeeren. Die Zwischenräume lassen sich beliebig füllen und gerade die Dialoge bieten Raum für tiefgreifende Modifikationen. Schließlich zeigt sich in dem Zitieren des Tristanstoffes, dass sich der Verfasser der mittelhochdeutschen Versnovelle sehr wohl gewahr ist, welche Funktion der Ovid-Text für den mittelalterlichen Minneroman hat. 47 Vgl. Knut Usener, Verhinderte Liebschaft. Zur Ovidrezeption bei Gottfried von Straßburg, in: Xenja von Ertzdorff (Hg.), Tristan und Isolt im Spätmittelalter. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 3. bis 8. Juni 1996 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Amsterdam 1999, 228–231. Die Verknüpfung der beiden Stoffe begegnet dann auch noch in weiteren Texten um 1300, so auch in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland: »Wie mort ir [= Frau Minne] nicht Tristranden / Und Ysotten von Ir landen! / Pyramus und Tyswe, / Den geschach von ewren raten we«, Heinrich von Neustadt, »Apollonius von Tyrland« nach der Gothaer Handschrift, »Gottes Zukunft« und »Visio Philiberti« nach der Heidelberger Handschrift (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 7), hg. v. Samuel Singer, Berlin 1906, 5, V. 175–178. Übertragung: »Wie tötetet ihr [Frau Minne] doch Tristan und Isolde von Irland! Pyramus und Thisbe geschah durch euren Rat [großes] Leid«. 48 Allerdings ist auch eine negative Wertung der Handlung möglich, wenn Pyramus als Minnesklave parallel gesetzt wird mit Aristoteles in der Aristoteles-und-Phyllis-Geschichte wie z. B. auf den sieben in der ersten Hälfte des 14. Jhs. entstandenen französischen Elfenbeinkästchen, vgl. Schmitt-von Mühlenfels 1972 (wie Anm. 15), 40–41 u. Tf. IV, Abb. 5 (Elfenbeinkästchen, heute in Krakow, The Wawel Cathedral Treasury). 49 Vgl. Gesta Romanorum, hg. v. Hermann Oesterley, Berlin 1872, 633–634. Hier wird der Mythos lediglich auf das Wesentliche für eine christliche Deutung, welche in Pyramus Christus, Thisbe die menschliche Seele und in dem Löwen den Teufel sieht, reduziert, der Maulbeerbaum findet keine Erwähnung.

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Und der Stoff bietet noch mehr Potential, Ziegeler hat explizit auf die Multiperspektivität des Textes mit der »perspektivische[n] Anlage der Erzählung, durch die Verteilung von Information und Nichtinformation im Bezugskreis von fiktiven Figuren und Rezipienten hervorgerufen«,50 hingewiesen. Vor diesem Hintergrund kann die Vielschichtigkeit der Tradition, welche der anonyme Verfasser aufgreift, als auf der Metaebene des Stoffes angelegte Strategie gelesen werden. Ebenfalls lassen sich formale Strukturen im altfranzösischen Fablel nachweisen, Ricarda Liver geht davon aus, dass der Autor »sein Gedicht durch die genau hälftige Teilung in narrative und lyrische Partien bewußt strukturiert hat«.51 Hier sollte man noch einen Schritt weitergehen und die Ursache in der Konstellation, der Dualität der Liebenden, bedingt durch ihre Trennung, sehen, dann könnte man vorsichtig äußern, dass unterschiedliche Formen der Rezeption des Stoffes wie Gottfrieds Tristan, das altfranzösische Fablel, aber auch die anonyme mittelhochdeutsche Versnovelle jeweils eine spezielle Grundkonstellation aus ihm übernehmen und für ihre literarische Intention nutzen. Mithin reflektiert der Stoff Pyramus und Thisbe in seiner Konzeption das Einbeziehen unterschiedlicher Texttraditionen in dieser intrikaten Lektüre des anonymen mittelhochdeutschen Verfassers und soll wohl den Anschein erwecken, dass die Modifikation des Stoffes aus sich selbst heraus legitimiert ist, da dieser ebenfalls mit mehreren Perspektiven spielt.

V. Heinrichs von Neustadt Apolloniusroman: Invertierung des Musters Das letzte Beispiel stammt aus Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, die Umarbeitung eines spätantiken kurzen Romans, den Heinrich auf über 20.600 Verse erweitert hat. Es geht um eine Familie, die getrennt wird und nach Irrfahrten über das Mittelmeer wieder vereint wird. Der Akzent soll hierbei auf den Schlusspassagen liegen, in denen Apollonius Landesherrscher wird und eine Tafelrunde gründet, die zum paganen Vorbild der arthurischen Tafelrunde wird, wie der Erzähler behauptet.52 Neben den permanenten Ortswechseln auf der Irrfahrt des Helden zeigt sich ein äußerst freier Umgang mit Zeit, geschichtliche Ereignisse werden neu kombiniert, dabei kommt die Heilsgeschichte genauso vor wie auch die antike Wissenschaftsgeschichte, wenn Apollonius der Vater von Ptolomaeus wird und sein Begleiter der Vater des Hippokrates.53 Religion ist im Roman ein hybrides Gebilde aus antik griechisch-römischen Göttern, aber auch Mohammed als Gottheit, der dem zeitgenössischen Publikum aus der Chanson de geste geläufig ist, wird integriert.

50 Ziegeler 1985 (wie Anm. 41), 275. 51 Ricarda Liver, Mittelalterliche Gestaltung von antiken Erzählstoffen am Beispiel von Pyramus und Thisbe im lateinischen und romanischen Mittelalter, in: Willi Erzgräber (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, 321. 52 Vgl. Heinrich von Neustadt 1906 (wie Anm. 47), 299, V. 18777–18790. Gut 200 Jahre vor Artus soll Apollonius die Tafelrunden gegründet haben, was allerdings Reichtum und Ansehen betrifft, steht die arthurische Tafelrunde laut Erzählerkommentar hinter Apollonius’ Projekt. 53 Vgl. Heinrich von Neustadt 1906 (wie Anm. 47), 215, V. 13491–13492 u. 13499–13500.

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Der in diesem hybriden Werk erzählte Mythos ist aitiologisch. Die Tafelrunde selbst ist ein runder Tisch, auf dem ein scharlachfarbenes Gewand liegt. An dem Tisch hängt eine goldene Schale, daneben steht ein Baum mit Schild und Keule. Wer die Tafelrunder herausfordern möchte, muss mit der goldenen Schale das Gewand begießen und mit Keule und Schild Alarm schlagen.54 Hier wird gleich auf mehrere Motive aus Artusromanen alludiert, besonders der Iwein/Yvain Hartmanns von Aue bzw. Chrétiens de Troyes, bei dem das Ausgießen der Schale ein Unwetter hervorruft, das den Landesherren alarmiert, der daraufhin mit den Herausforderern kämpft, mag als Motivgeber dieser Beschreibung Pate gestanden haben.55 Bei einem der Turniere erscheint das Freundespaar Archilan von Falcidron und Patrochel von Mirmidon: Patrochel von Mirmidon / Und Archilon von Falcidron / Di hetten pruderschaft geschwaren: / Es wurde gewunnen oder verloren, / Das daylten(n) sy geleyche, / Sy wurden arm oder reiche. / Es waren helde küen und starck. / Si wolten umb tausent marck / Und nicht umb mynner stechen sa, / Wer den anderen valte da. / Archilon der hett ain pfard, / Das was dreyer hundert marck wert. / Seyt er das roß erkoß, / So enward er nie sigeloß / In Araby noch in Asia. / Es ward im gesant von India: / Das det der priester Johan: / Pesser roß nie ritter gewan. / Es was schwartz als ain kol, / Es lieff auch unmassen wol. / Archylon auff das wal rayt. / Er was mit harnasch an gelayt. / Sein schilt was weyß als ain schne. / Was welt ir das ich sage me? / Er was ain helt do man sein gert. / In seinem schilte was ain schwert / Gemalet rot als ain plüt.56

Der junge Archilan entführt nach einem Turniersieg eine Jungfrau, die zu den TafelrundenKöniginnen gehört. Erneut zum Zweikampf herausgefordert, verliert er und bricht sich den Hals. Sein Freund Patrochel gerät daraufhin in Zorn, doch auch dieser wird besiegt und gefangen genommen: »Clarantz in under den helm stach, / Das im der hals dar inne prach / Un nymer mer ain wort gesprach. / Patrochel ward von zorne rott / Umb seins gesellen dot«.57

54 Vgl. ebenda, 298–299, V. 18729 –18762. 55 Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4. Aufl., Berlin/New York 2001, 13, V. 586–594. 56 Heinrich von Neustadt 1906 (wie Anm. 47), 302–303, V. 18973–18999. Übertragung: »Patrochel von Mirmidon und Archilon von Falcidron hatten einander Bruderschaft geschworen. [Ob sie nun] gewannen oder veloren, alles teilten sie miteinander, [ob es] sie nun arm oder reich machte. Es waren tapfere und starke Helden, die ins Stechen für tausend Mark und nicht weniger ritten, um zu entscheiden, wer fallen sollte. Archilon hatte ein Pferd, welches dreihundert Mark wert war, seit er sich dieses Ross wählte, war er nie ohne Sieg geblieben, weder in Arabien noch in Asien. Es wurde ihm aus Indien von dem Priester Johannes geschickt, ein besseres Pferd erhielt nie ein Ritter. Es war kohlschwarz und lief außerordentlich gut. Archilon ritt auf den Kampfplatz, er hatte seinen Harnisch angelegt, sein Schild war weiß wie der Schnee. Was soll ich euch mehr sagen? Er war ein Held, wie man ihn damals schätzte. Auf seinem Schild war ein blutrotes Schwert gemalt«. 57 Heinrich von Neustadt 1906 (wie Anm. 47), 303, V. 19059–19063. Übertragung: »Clarantz stach ihn unter den Helm, sodass ihm das Genick brach und er nie wieder ein Wort sprach. Patrochel war zornesrot wegen des Todes seines Kampfgefährten.«

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Die aufmerksam Lesenden erkennen die Anspielung schon aus einem Vergleich in einer früheren Szene des Romans, in welcher der Erzähler den Ruhm des Apollonius und seiner Begleiter sogar über jenen von Paris, Achilles und Hektor gestellt hat. 58 Die einzelnen Mythenelemente in der Archilan-und-Patrochel-Episode basieren auf der Achilles-und-Patroklos-Erzählung.59 Die mythischen Elemente werden geschickt invertiert, Archilan wird nicht an der Ferse getroffen, sondern bricht sich das Genick, er stirbt vor seinem Freund Patrochel, der daraufhin in Zorn gerät wie Achilles in dem Ilias-Stoff. Patrochel stammt aus Mirmidon, Patroklos ist der Anführer der Myrmidonen im Troja-Epos. Einzelne Elemente werden durch christliche Motive und Reiseliteratur durchbrochen, die Besonderheit des Pferdes Archilans wird durch seine Herkunft aus dem Reich des Priesterkönigs Johannes in Indien erklärt, was auf Balios und Xanthos, die unsterbliche Rosse des Peliaden Achilles, ursprünglich ein Geschenk des Zeus, zurückverweist.60 Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Figuren des trojanischen Krieges aufgegriffen werden. Neuere Studien akzentuieren besonders die Frage der Identität im Apolloniusroman, entweder vor dem Hintergrund der (proto-)rassistischen Abgrenzung des Protagonisten wie bei Monika Schausten oder in Almut Schneiders Studie zu Wilhelm von Österreich und Apollonius von Tyrland, in der die Identität und der Identitätsverlust des Helden vor der Folie der Herrschaft gelesen werden.61 Mit der Frage der Identität rückt auch der Schluss des Versromans in das Zentrum, als Apollonius Herrscher wird und die Tafelrunde inauguriert, wenn nicht sogar das Rittertum selbst. Troja zumindest kann, wenn auch nur in einem Text, dem Mauricius von Craûn, explizit als Ursprung des Rittertums aufgefasst werden, wie Manfred Kern plausibel feststellt.62 Das Freundespaar Achilles und Patroklos, wenn auch invertiert, zu zitieren, kann bei Heinrich von Neustadt somit auch auf die Ursprünge des Rittertums 58 Vgl. ebenda, 199, V. 12497–12500. 59 Fast zeitgleich äußert Hugo von Trimberg in seinem didaktischen Großwerk Der Renner, dass man von aufrichtiger Freundschaft eher – als bei Christen – bei Juden und Andersgläubigen aus (alten) Schriften liest, um dann einige Freundespaare aufzuzählen, darunter auch Patroklos und Achilles, und kommt zu dem Schluss: »Der triuwe alsô gelœtet was / Zesamen, daz ie einer sîn leben / Vür den andern ê wölte geben / Denne er in vor im tôten sêhe«, Hugo von Trimberg, Der Renner, hg. v. Gustav Ehrisman, Bd. 1 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 247), Tübingen 1908, 265, V. 6366–6369. Übertragung: »Ihre brüderliche Liebe war derartig eng, dass je einer sein Leben für den anderen geben wollte, als ihn vor sich selbst sterben zu sehen«. Diese freundschaftliche Nähe reflektiert auch Heinrich von Neustadt mit seinen beiden Helden und er verortet sie ebenfalls nicht in einen christlichen Kontext. 60 Heinrich von Neustadt kann die Information über Achilles’ besondere Pferde aus Vergils Georgica, der allerdings weder die Namen nennt noch etwas über die Herkunft der Pferde verrät, entnommen haben, vgl. Vergilius Maro, Opera, hg. v. Roger A. B. Mynors, Oxford 1969, 67, Georgicon III, 89–91; zum Priesterkönig Johannes, der in erster Linie mit Reiseliteratur verknüpft ist, vgl. Ulrich Knefelkamp, Die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs Johannes. Dargestellt anhand von Reiseberichten und anderen ethnographischen Quellen des 12. bis 17. Jahrhunderts, Gelsenkirchen 1986. 61 Vgl. Monika Schausten, Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2006, bes. 87–109 und Almut Schneider, Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg „Wilhelm von Österreich“ und in Heinrichs von Neustadt „Apollonius von Tyrland“ (Palaestra, Bd. 321), Göttingen 2004, bes. 197–249. 62 Vgl. Kern 1998 (wie Anm. 21), 337–350, bes. 339–343.

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anspielen. Folglich wird Mythos als Herkunftserzählung im Apollonius von Tyrland auf mehreren Ebenen reflektiert. Letzten Endes verweist die Inversion des antiken Mythos, der mit anderen Erzähltraditionen neu kombiniert wird, auf die Arbeitstechnik Heinrichs von Neustadt. So wie auf der Makroebene der Apollonius-Stoff erheblich durch unterschiedliche Erzähltraditionen erweitert und neugeschrieben wird,63 werden auch auf der Mikroebene mythologische Muster herangezogen, variiert, neu zusammengestellt und in einen größeren Erzählrahmen integriert. Die Zeichenhaftigkeit des Mythos wird deutlich, der Mythos liefert hier ein Inventar an Motiven und Themen, die zur freien dichterischen Verfügung stehen und somit eine neue Quelle für Erzählungen bieten.

VI. Schluss Die hier angeführten Beispiele sind verschiedenen Gattungen entnommen. Es ist davon auszugehen, dass in jeder Gattung ein anderer Umgang mit dem Mythos und seiner Rezeption vorliegt. Generell gilt, was Dorothea Klein zur Ovid-Zitation festhält: »Ovid-Zitate sind […] als Elemente mit unterschiedlicher Funktion in verschiedenen Texttypen integrierbar.«64 Dennoch zeigen sich zwischen der Minnelyrik, dem Roman und bedingt auch der Versnovelle Berührungspunkte. Der antike Mythos erscheint neben den weltlichen höfischen Erzählstoffen und erlaubt einen freien und kreativen Umgang mit ihm. Für Heinrich von Meißen ist ein Bewusstsein für die Zeichenhaftigkeit des Mythos vorauszusetzen, sodass hier die Einschreibung des Ichs in den Mythos vor dem Hintergrund der neuen Sprachreflexionen zu lesen ist. Bei Heinrich von Neustadt sind ebenfalls gelehrte Diskurse anzunehmen, er geht souverän mit dem Mythen-Material um, Dämonisierung und Allegorisierung spielen keine bedeutende Rolle mehr, die Stoffe werden als kreatives Potential genutzt, das neue Erzählungen generieren kann. In Pyramus und Thisbe zeigt sich ebenfalls ein gewandeltes Verständnis, Mythos dient hier primär dazu, Argumentationen zu stützen, und ihre ursprüngliche pagane Provenienz, das Fremde, rückt in den Hintergrund. Der große Rahmen wurde mit der Intention gezogen, anhand verschiedener Textgattungen neue Herangehensweisen in der Mythenrezeption aufzuzeigen, die bisher nicht im Zentrum mediävistischer Mythenforschung stehen. In der Zusammenschau zeigen die Texte Konstanten auf, wie sie so in der volkssprachlichen deutschen Literatur um 1200 noch nicht begegnen. Mythos als Freiraum, der trotz eines christlichen Weltbildes koexistieren kann und als Quelle für neue Erzählstoffe nutzbar 63 Wachinger spricht gar von »Phantasien, genährt von mittelalterlicher Romanliteratur und enzyklopädischem Wissen«, um schließlich »kein Konzept, das alle Einzelglieder einzubinden und zu durchdringen vermöchte [zu sehen]«, Burghart Wachinger, Heinrich von Neustadt, „Apollonius von Tyrland“, in: Walter Haug und Burghard Wachinger (Hg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter, Tübingen 1991, 98 u. 115. Dass es sich doch nicht um ein derart oberflächliches Werk handelt, belegt nicht nur die rezente Forschung, sondern auch die hier angestellte Analyse der Mythenrezeption in dem Versroman. 64 Klein 2008 (wie Anm. 39), 178.

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gemacht wird, erweist sich als ein zukunftsträchtiges Modell. Von der schwierigen Rezeption, die im 12. und frühen 13. Jahrhundert noch versuchte, sich die fremden, mit den eigenen Vorstellungswelten noch unvereinbaren Erzählungen anzueignen, sie zu kommensurabilisieren, führt der Weg zu einer gelehrten Aufnahme der Stoffe, die einzelne Elemente isoliert und sie wie eine Metasprache ausschöpft. Den Mythos aufzugreifen bedeutet nun, ein erfolgreiches Erzählmuster einzuführen, das für Neuerungen offen ist. Abschließend stellt sich die Frage, inwiefern hier ein Paradigmenwechsel vorliegt. Kursorisch sollen zwei Handschriftenillustrationen herangezogen werden, um dieses Problem vor dem Hintergrund der drei Textausschnitte zu diskutieren. Zuerst soll hier die Darstellung von Achilles’ Ermordung in Jans’ von Wien Weltchronik (Farbabb. 41 und 42) betrachtet werden: Entgegen der textlichen Überlieferung wird die Tötung Achilles’ durch Paris mit einem Schuss in die obere Wade, der wieder aus dem Knie austritt, dargestellt.65 Auch wenn das vorliegende Beispiel erst aus der Zeit um 1420 stammt und in der Weltchronik steht »do schoß paris einen stral gut also / im in die versen do«,66 so finden sich ähnliche Umwandlungen der Tötung des Achilles sowohl in Handschriftenillustrationen um 1300 als auch in früheren mittelhochdeutschen Fassungen des Trojastoffes, z. B. bei Herbort von Fritzlar.67 Der Schuss in die mythische Ferse spielt in der mittelalterlichen Überlieferung nicht unbedingt eine wichtige Rolle, weshalb diese Umwandlung vielleicht einer Historisierung zugunsten der Zurückdrängung des Mythischen geschuldet ist. Als zweites Beispiel soll hier eine Illustration aus Convenevole da Pratos Regia Carmina, das um 1335 entstanden ist, dienen.68 Das Urteil des Paris wird hier wiederum allegorisch gelesen, es wird auf die Erziehung und Entscheidung des jungen Fürsten oder Prinzen gedeu65 Vgl. Jansen Enikel (= Jans von Wien), Weltchronik, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 336, Bl. 106r, (Volltext: >digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg336< [abgerufen am 27.01.2017]). 66 Leicht normalisiert nach der Handschrift Cpg 336 (wie Anm. 65), Bl. 105r. Übertragung: »Da schoss Paris ihm dort in die Ferse derart gut einen Pfeil«. 67 Achilles wird in einer Illustration zur Histoire ancienne jusqu’à César mit Pfeilen in Hals, Rumpf und Oberschenkel tödlich getroffen, vgl. London, British Library, Add MS 19669 (2. Hälfte 13. Jh.), Bl. 84r. Bei Herborts von Fritzlar Liet von Troye (ca. 1190–1210), aber auch im 13. Jh., in der Fortsetzung zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, wird der Held in einem Tempel Apollons erstochen, vgl. Manfred Kern, Alfred Ebenbauer und Silvia Krämer-Seifert, Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin 2003, 4–5. 68 Vgl. London, British Library, Royal MS 6 E IX, Bl. 22r (Volltext: >www.bl.uk/manuscripts/Viewer. aspx?ref= royal_ms_6_e_ix_fs001ary< [abgerufen am 27.01.2017]). Die Zuschreibung des Textes an Convenevole da Prato, eines Lehrers Francesco Petrarcas, ist nicht eindeutig, vgl. neuerdings auch Caroline Smout, Allegorie und Topik als Modelle der ästhetischen und epistemologischen Aufwertung von Malerei und Dichtung in den »Regia Carmina« des Convenevole da Prato, in: Frühmittelalterliche Studien 49, 1, 2016, 165, Anm. 2. Smout hebt dezidiert die epistemologische Wende anhand des neuartigen Umgangs mit Topik und Allegorie hervor, die sich in dem Bild-Text-Programm der Handschrift manifestiert. Dieser innovative Umgang mit Bildtraditionen in Kombination mit den vorangegangenen literarischen Diskursen (in diesem Fall der Rekurs auf Dante), führen dazu, dass »[t]radiertes Wissen aufgebrochen [wird], und die fragmentierten Wissensbestände in einer Neuordnung neues Wissen [erzeugen]«, ebenda, 166. Obwohl es hier nicht um die Mythenrezeption geht, zeigt sich doch auch im Feld von Topik und Allegorie am Schnittpunkt von Bild und Schrift, dass ein Paradigmenwechsel im ersten Drittel des 14. Jhs. greifbar wird.

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tet, der sich zugleich in dem prächtig gekleideten Jüngling, der Paris darstellen soll, spiegeln kann: Der Betrachter sieht sich den drei Göttinnen gegenüber und nimmt die Perspektive desjenigen ein, der den Apfel vergeben darf. Minerva mit der Lorbeerkrone, links vom Betrachter, tadelt gar die Entscheidung des Paris, der »venerem laudat que semp(er) eum male fraudat«,69 wie der Text auf ihrem Kleid offenbart. Der Mythos wird reaktiviert und in einen aktuellen didaktischen Kontext gesetzt. Beide Darstellungen zeigen, dass sich die Herangehensweise an den Mythos seit dem 12. Jahrhundert geändert hat, obwohl sie mit den hermeneutischen Prozessen dieser Zeit zusammenhängt. Gerade die Allegorisierung ermöglicht es erst, Mythos als Zeichensystem zu verstehen, da Allegorie ebenfalls metasprachlich aufzufassen ist. Die Historisierung wiederum entzieht dem Mythos seine pagane Glaubensrealität, sodass ein Erzählstoff entsteht, der sich auch in ein christliches Weltbild integrieren lässt. Da Mythos in verschiedenen Versionen überliefert wird, ist er um einiges freier als z. B. ein höfischer Erzählstoff wie Tristan und Isolde, der einen fixierten Ablauf erwarten lässt, wobei Varianten primär auf der Mikroebene zulässig zu sein scheinen. Mithin bieten die fremden Erzählstoffe der Antike, die erst im 13. Jahrhundert ihr volles Potential entfalten können, größere Flexibilität in der Bearbeitung, wie an Pyramus und Thisbe zu sehen ist. Den Kuhn’schen Begriff des Paradigmenwechsels kann man nur bedingt auf die hier vorgestellten Diskurse anwenden, in erster Linie noch auf Heinrich von Meißen. Hier käme der Begriff der Krise ins Spiel, wenn die scholastische Sprachtheorie, die kein kreatives Potential zulässt, als defizitär für weltliche Dichtung aufgefasst wird. Dies ist natürlich die Position eines Dichters, der für scholastische Positionen sensibilisiert ist. Durch metaphorische Sprache, die sich bei Frauenlob findet, und die Mythenrezeption wird neues kreatives Potential in Metasprachen ausgemacht, um den Bruch mit der scholastischen Sprachtheorie zu überwinden, folglich kommt ein neues Paradigma auf. Allerdings ist auch der Gleichzeitigkeit verschiedener, alter und neuer Paradigmen Rechnung zu tragen: Es ist vielmehr der Neuaufbau des Gebietes auf neuen Grundlagen, ein Neuaufbau, der einige der elementarsten theoretischen Verallgemeinerungen des Gebiets wie auch viele seiner Paradigmamethoden und -anwendungen verändert. Während der Übergangsperiode gibt es viele Probleme – aber nie sind es alle –, die sowohl durch das alte wie durch das neue Paradigma gelöst werden können.70

Ob dieses Bewusstsein allerdings für Heinrich von Neustadt so zu begründen ist, bleibt fraglich. Doch auch bei ihm findet sich die Vorstellung vom Mythos als Inventar, das Innovation birgt. Im praktischen Umgang mit dem Mythos, der Produktion von Texten, wird dieses gewandelte Verständnis zuerst greifbar. Insofern kommt das Ganze wieder der Theorie Kuhns nahe, der wissenschaftlichen Fortschritt eng gekoppelt an die Praxis sieht, die durch Theorie begleitet wird. Da wir für das 13. und 14. Jahrhundert in der deutschsprachigen Literatur keine literaturtheoretischen Werke haben, sind wir einzig und allein auf ihre Produkte angewiesen, in denen sich ein Wandel abzeichnen lässt.

69 Royal MS 6 E IX (wie Anm. 68), Bl. 22r. Übertragung: »die Venus lobt, die ihn immer übel hintergeht«. 70 Kuhn 2008 (wie Anm. 3), 98.

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Farbabb. 1 Venus und Mars-Intaglio, 1. Jh. vor Chr., auf der Trapezplatte des Dreikönigenschreins (Anbringung bezeugt ab dem 17. Jh.), Köln, Hohe Domkirche. Farbabb. 2 Venus, Buchmalerei, um 1390, Ovide moralisé, Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 1480, fol. 218v

Farbabb. 3 Wandbild mit »schlafender Ariadne«, 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Apodyterium

242  Bildteil

Bildteil 243

Farbabb. 4 Wandbild mit drei Badenden und einem Kleinkind, 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Tepidarium, Südwand Farbabb. 5 Wandbild mit Bad des Kleinkindes, 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Tepidarium, Ostwand Farbabb. 6 Deckengemälde, Ausschnitt mit weiblicher Büste (oben) und Büste eines alten Mannes (unten), 2. Viertel 8. Jh., Qusayr Amra, Apodyterium Farbabb. 7 Wandbehang, 5.–7. Jh., New York, Metropolitan Museum, Acc. N. 31.9.3, Gift of Edward S. Harkness, 1931. Die Silensbüste ist die zweite von rechts in der untersten Reihe

244  Bildteil

Farbabb. 8 Gregory of Tours, De cursu stellarum: constellations of Sigma, Omega, and Crux Maior, Southern Italy (Montecassino?), end of the 8th c., Bamberg, Staatsbibliothek, ms. Patr. 61, f. 79v

Farbabb. 9 De signis caeli: constellation of Andromeda, Fleury, first half of the 10th c., Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. Latin 5543, fol. 163v Farbabb. 10 Fresco from cubiculum 19 of the Roman villa at Boscotrecase (Naples): Andromeda chained to the crag, end of the 1st c. B.C. New York, Metropolitan Museum of Art, inv. 20.192.16 Farbabb. 11 Germanicus, Aratea: general layout and text-image relation (constellations of Virgo and Gemini), Fulda, ca. 820–830, Basel, Universitätsbibliothek, ms. AN IV 18, ff. 18v–19r

Bildteil 245

246  Bildteil

Farbabb. 12 Germanicus, Aratea: general layout and text-image relation (circumpolar constellations), Aachen, 816, Leiden, Universiteitsbibliotheek, ms. VLQ 79, ff. 3v–4r

Farbabb. 13 Cicero, Aratea: general layout and text-image relation (constellations of Pisces and Perseus), Aachen, ca. 830–840, London, British Library, ms. Harley 647, ff. 3v–4r

Bildteil 247

Farbabb. 14 Cathedra Petri, um 870, Rom, St. Peter

248  Bildteil

Farbabb. 15 Flabellum, um 870/75, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

Bildteil 249

Farbabb. 16 Flabellum, Schmalseite des Etuis mit Akanthusranken, um 870/75, Florenz, Museo Nazionale del Bargello Farbabb. 17 Flabellum, Schmalseite des Etuis mit Weinranken, um 870/75, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

250  Bildteil

Farbabb. 18 Flabellum, klappbare Breitseite des Etuis mit Szenen aus den Bucolica, um 870/75, Florenz, Museo Nazionale del Bargello Farbabb. 19 Flabellum, Breitseite des Etuis mit Szenen aus den Bucolica, um 870/75, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

Bildteil 251

Farbabb. 20 Vergilius Romanus, Szene zur 1. Ekloge, Ende 5. Jh., Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Vat. lat. 3867, fol. 1r

252  Bildteil

Farbabb. 21 Nordafrikanisches Brunnenmosaik, Odysseus und die Sirenen, 250–270, Tunis, Musée de Bardo Farbabb. 22 Westwerk der Klosterkirche von Corvey, Fresken oberhalb der Kämpferzone, Detail, Kampf des Odysseus gegen Skylla, rechts eine Sirene, 873–885

Bildteil 253

Farbabb. 23 Stadtrömischer Meister, Sarkophag mit Orestie, ca. 160/170 n. Chr., weißer Marmor, Madrid, Museo Arqueológico Nacional Farbabb. 24 Meister von Frómista, Chorbogenkapitell (Kopie), Adam und Eva im Kampf gegen Schlangen, ca. 1080, Stein, Frómista, San Martín

254  Bildteil

Farbabb. 25 Gelduinus-Werkstatt, Porte Miègeville, Ende 11. Jh., Ziegel- und Haustein, Toulouse, Saint-Sernin

Farbabb. 26 Anon., Hexateuch Cotton Ms. Claudius B.IV fol. 7v, Verbergen der Stammeltern vor Gottvater in Ranken, ca. 1050, Deckfarben auf Pergament, London, British Library

Farbabb. 27 Miniaturist des Stundenbuchs Royal 17 E IV, fol. 87v, Arachne trifft auf Athene und Arachne als Spinne, 15. Jh., Deckfarben auf Pergament, London, British Library Farbabb. 28 Anon., Zittauer Hungertuch, Adam und Eva bei der Arbeit, 1474, Leimfarben auf Leinengewebe, Zittau, Städtisches Museum

Farbabb. 30 Anon., Relief, Muttergottes in Rüstung mit Spinnroggen, Elfenbein, Anfang 9. Jh., New York, Metropolitan Museum of Art Farbabb. 29 Anon. Mosaizist, Muttergottes im Kaiserornat mit Gewebe, 5. Jh., Mosaik, Rom, Santa Maria Maggiore

Farbabb. 31 Anon., Tafelmalerei, Maria im Webwettstreit mit Tempeljungfrauen, 1501, Öl auf Holz, Riggisberg, Abegg-Stiftung

Bildteil 257

Farbabb. 32 Palatine Chapel, Aachen, ca. 795

258  Bildteil

Bildteil 259

Farbabb. 33 Matthew Paris, The Kaadman, drawing, Liber Additamentorum, 1250s, London, British Library, MS Cotton Nero D.I, f. 146v Farbabb. 34 Nicola Pisano, Adoration of the Magi, ca. 1260, Pisa, Baptistery

260  Bildteil

Farbabb. 35 Santa Maria in Trastevere, Rome, view of nave looking west, 1139–43 Farbabb. 36 Santa Maria in Trastevere, Rome, plan showing locations of Isis and Serapis capitals

Bildteil 261

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Bildteil 263

Farbabb. 37 Santa Maria in Trastevere, Rome, partial view of north colonnade Farbabb. 38 Phyiologus Bernensis, Reims, um 830, Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318, fol. 13v Farbabb. 39 Giotto, Detail der sog. Allegorie der Keuscheit, amor carnalis, um 1320, Fresko des Vierungsgewölbes, Assisi, Chiesa inferiore Farbabb. 40 Giotto, sog. Allegorie des Gehorsams, um 1320, Fresko des Vierungsgewölbes, Assisi, Chiesa inferiore

264  Bildteil

Farbabb. 41 Jans von Wien/Jans Enikel, Achilles’ Ermordung, Weltchronik, um 1420, Passau, Cod. Pal. Germ. 336 fol. 105v, Heidelberg, Universitätsbibliothek Farbabb. 42 Jans von Wien/Jans Enikel, Achilles’ Ermordung, Weltchronik, um 1420, Passau, Cod. Pal. Germ. 336 fol. 106r, Heidelberg, Universitätsbibliothek

Abbildungsnachweis

Rehm Abb. 1 Rolf Lauer, Der Schrein der Heiligen Drei Könige, Köln 2006, S. 80, Abb. 98. © Wien, Kunsthistorisches Museum Abb. 2a: Wolfgang Wolters, Die Skulpturen von San Marco in Venedig, Berlin 1979, Abb. Kat. 69. © Foto: Umberto Rossi, Venedig; b: ders., Abb. Kat. 74. © Foto: Umberto Rossi, Venedig Abb. 3 Joachim Poeschke (Hg.), Die Skulptur des Mittelalters in Italien (Romanik, Bd. 1), München 1998, Tf. 20. © Albert Hirmer und Irmgard Ernstmeier-Hirmer (F); Hirmer-Verlag (V) Abb. 4 Claudia Fabian und Christian Lange (Hg.), Pracht auf Pergament. Schätze der Buchmalerei von 780 bis 1180 (Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München 2012–2013), München 2012, S. 209, Kat. Nr. 42. © München, Bayerische Staatsbibliothek Abb. 5 Antonio Paolucci (Hg.): Il Tempio Malatestiano a Rimini (Mirabilia Italiae, 16), Modena 2010, S. 159, Abb. 144. © Casalboni & Delucca Fotografi Meinecke Abb. 1, 3, 4 Foto: Katharina Meinecke Abb. 2 Foto: Deutsches Archäologisches Institut Rom, Negativ-Nr. 1954.0194 (R. Sansaini) Abb. 5 Almut von Gladiss, Die antike Welt im Kulturwandel – Der Beginn der Islamisierung, in: Beate Salje, Nadine Riedl und Günther Schauerte (Hg.), Gesichter des Orients. 10 000 Jahre Kunst und Kultur aus Jordanien (Ausst.-Kat. Bonn und Berlin 2004–2005), Bonn und Berlin 2004, S. 245, Abb. 11.12. © Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum (Olaf M. Teßmer) Guidetti Fig. 1 © Fabio Guidetti 2016 Fig. 2 Bildausschnitt aus: Http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b105419933/f448. imageW%C3%A4re. © Bibliothèque Nationale de France Fig. 3 Https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Vatican_Vergil?uselang=it#/media/File:Vatica nVergilFolio04vBullsFighting.jpg. © Biblioteca Apostolica Vaticana Fig. 4 Detail von Farbabb. 11a Müller Abb. 1 Lawrence Nees, A Tainted Mantle. Hercules and the Classical Tradition at the Carolingian Court, Philadelphia 1991, S. 326, Abb. 20 Abb. 2 Marco Bona Castellotti und Antonio Giuliano (Hg.), Ercole il fondatore dall’antichità al Rinascimento (Ausst.-Kat. Brescia, Museo di Santa Giulia 2011), Mailand 2011, S. 75, fig. 5 Abb. 3 Dario Rezza (Hg.), La cattedra lignea di San Pietro, Vatikanstadt 2010, S. 6, Abb. 10

266  Abbildungsnachweis

Moraw Abb. 1 Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett, R. Saczewski, Http://ww2.smb.museum/ ikmk/object.php?id=18206978&lang=de&size=0&content=0&side=1 Abb. 2 Rom, Deutsches Archäologisches Institut, D-DAI-Rom-76.923 Abb. 3 Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Referat Restaurierung und Dokumentation, Foto: Nieland. Zur Verdeutlichung von Großheim zeichnerisch nachgearbeitet Abb. 4 Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff (Hg.), 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Bd. 2 (Ausst.-Kat. Paderborn 1999), Mainz 1999, S. 748, Kat. X.30. © Leipzig, Grassi Museum für Angewandte Kunst, Foto: Matthias Hildebrand Abb. 5 Rosalie Green (Hg.), Herrad of Hohenbourg. Hortus Deliciarum. Reconstruction (Studies of the Warburg Institute, 36), London/Leiden 1979, S. 365, Pl. 125 © Warburg Institute Abb. 6 Dies., S. 366, Pl. 126, Abb. 299 Abb. 7 A. Straub und G. Keller, Herrade de Landsberg, Hortus deliciarum: publ. aux frais de la Soc. Pour la conversation des monuments hist. d’Alsace; réprod. héliogr. d’une série de miniatures, calquées sur l’original de ce ms. du XII siècle, Straßburg 1879–1899, Taf. 2 Trinks Abb. 1, 3–6 Foto: Verf. Abb. 2 Daniel und Quitterie Cazes, Saint-Sernin de Toulouse. De Saturnin au chef-d’oeuvre de l’art roman, Graulhet 2008, S. 307, Abb. 369, Foto: Éric Soulé de Lafont, Aéro Photos Pyrénées Abb. 7 Jutta Seibert, Atlas, Atlant, in: Engelbert Kirschbaum (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, 1968, Sp. 195, Foto: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck Abb. 8 Kristina Domanski, Lesarten des Ruhms. Johann Zainers Holzschnittillustrationen zu Giovanni Boccaccios „De mulieribus claris“ (Atlas. Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte; Neue Folge Bd. 2), Köln u. a. 2007, S. 197, Abb. 91 Abb. 9 Otto Demus, Romanische Wandmalerei, München 1968, Abb. 183. Foto: Max Hirmer Abb. 10 Rosalie Green (Hg.), Herrad of Hohenbourg. Hortus deliciarum. Reconstruction (Studies of the Warburg Institute, 36), London/Leiden 1979, S. 267, Pl. 93. © Warburg Institute Abb. 11 Arne Effenberger und Hans Georg Severin, Das Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst, Mainz 1992, S. XX, Abb. XX, Foto Abb. 12 Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters, 2. Aufl., Mainz 1952, Taf. 68, Nr. 251 Kinney Fig. 1 Https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spinario_Musei_Capitolini_MC1186_n4.jpg Fig. 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9 Foto: Verf. Fig. 4 Foto: Stefan Trinks Fig. 10 Foto: Dt. Arch. Institut, Rom Berti/Carlà-Uhink Abb. 1 Http://lib.ugent.be/viewer/archive.ugent.be%3A018970A2-B1E8-11DF-A2E0-A70579F64 438#?c=0&m=0&s=0&cv=21&r=0&xywh=5008%2C2536%2C3157%2C6404, Universiteitsbibliotheek Ghent Abb. 2 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Abb. 3 Https://heraldik-wiki.de/wiki/Datei:Fingerlabyrinth_Lucca.JPG Abb. 4 Https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maestro_delle_metope_di_modena,_sirena_bicaudata,_1100-1150_ca.JPG

Abbildungsnachweis 267

Abb. 5 Https://it.wikipedia.org/wiki/File:Fidenza_Duomo_Pellegrini_Poveri.JPG Farbabbildungen Farbabb. 1 Rolf Lauer, Der Schrein der Heiligen Drei Könige, Köln 2006, S. 50, Abb. 54. © Köln, Dombauarchiv, Matz und Schenk Farbabb. 2 Marco Buonocore (Hg.), Vedere i Classici. L’illustrazione dei testi antichi dall’età romana al tardo medioevo (Ausst.-Kat. Vatikanstadt, Vatikanische Museen 1996–1997), Rom 1996, S. 292, Abb. 230 Farbabb. 3 Foto: Viktoria Räuchle Farbabb. 4, 5, 6 Foto: Katharina Meinecke Farbabb. 7 Foto: http://images.metmuseum.org/CRDImages/is/original/DT11588.jpg [abgerufen am 07.04.2017] Farbabb. 8 Http://bsbsbb.bsb.lrz.de/~db/0000/sbb00000157/images/index.html?id=00000157& fip=134.147.187.169&no=7&seite=162&signatur=Msc.Patr.61. Staatsbibliothek Bamberg – Kaiser-Heinrich-Bibliothek, Münchener DigitalisierungsZentrum Farbabb. 9 Http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10502052p/f332.image. © Bibliothèque Nationale de France Farbabb. 10 Bildausschnitt aus: Http://www.metmuseum.org/art/collection/search/250945?sortBy= Relevance&ft=boscotrecase&offset=0&rpp=20&pos=4 Farbabb. 11 © e-codices – Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz, Universitätsbibliothek Basel, a: Http://www.e-codices.unifr.ch/de/ubb/AN-IV-0018/18v; b: Http://www.e-codices.unifr. ch/de/ubb/AN-IV-0018/19r Farbabb. 12 Https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Leiden_Aratea?uselang=it#/media/ File:Aratea_3v_and_4r.jpg. © Universiteitsbibliotheek Leiden Farbabb. 13a: Http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=harley_ms_647_f003v, b: Http:// www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=harley_ms_647_f004r. © British Library Farbabb. 14 Dario Rezza (Hg.), La cattedra lignea di San Pietro, Vatikanstadt 2010, Titelblatt Farbabb. 15 Mit freundlicher Erlaubnis des Gabinetto fotografico delle Gallerie degli Uffizi Farbabb. 16 Danielle Gaborit-Chopin, Flabellum di Tournus, Florenz 1988, S. 10, Abb. IV, 1 Farbabb. 17 Dies., S. 11, Abb. IV, 2 Farbabb. 18 Dies., S. 13, Abb. V, 1 Farbabb. 19 Dies., S. 13, Abb. V, 2 Farbabb. 20 David Wright, Der Vergilius Romanus und die Ursprünge des mittelalterlichen Buches, Stuttgart 2001, S. 15 Farbabb. 21 Http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mosa%C3%AFque_d%27Ulysse_et_les_ sir%C3%A8nes.jpg?uselang=de Farbabb. 22 Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Referat Restaurierung und Dokumentation. Foto: AfDW Renvert Farbabb. 23–25 Foto: Stefan Trinks Farbabb. 26 Benjamin C. Withers, The Illustrated Old English Hexateuch, Cotton Ms. Claudius B.iv. The Frontier of Seeing and Reading in Anglo-Saxon England (Studies in Book and Print Culture), Toronto 2007, 31, Foto: London, British Library Farbabb. 27 London, British Library, Public Domain Farbabb. 28 Friedhelm Mennekes (Hg.), Die Zittauer Bibel. Bilder und Texte zum großen Fastentuch von 1474, Stuttgart 1998, 41, Foto: Abegg Stiftung, Riggisberg (Christoph Viràg). © Städtische Museen Zittau Farbabb. 29 Joseph Wilpert und Walter Schumacher, Die römischen Mosaiken der kirchlichen Bauten vom IV.–XIII. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1976, Tafel 51–53, Foto: Herder Verlag

268  Abbildungsnachweis

Farbabb. 30 Rainer Kahsnitz: Die Elfenbeinskulpturen der Adagruppe: Hundert Jahre nach Adolph Goldschmidt, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 64, 2010, 9-172, hier 159, Abb. 64. Riggisberg, Abegg Stiftung, Nachlass Dietrich Kötzsche Farbabb. 31 Jutta Frings (Hg.), Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern (Ausst.Kat. Bonn, Bundeskunsthalle, und Essen, Ruhrlandmuseum), München 2005, S. 38, Abb. 16, Foto: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Staatsarchiv Farbabb. 32 Matthias Untermann, „opere mirabili constructa”. Die Aachener „Residenz“ Karls des Großen, in: Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff (Hg.), 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, Mainz 1999, S. 152-164, Abb. 5, S. 156. Foto: Ann Münchow Farbabb. 33 Http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=cotton_ms_nero_d_i_fs001r, © The British Museum Board Farbabb. 34 Joachim Poeschke, Die Skulptur des Mittelalters in Italien (Gotik, Bd. 2), München 2000, Tf. 5. © Albert Hirmer und Irmgard Ernstmeier-Hirmer (F); Hirmer-Verlag (V) Farbabb. 35, 37 Foto: D Kinney Farbabb. 36 D. Kinney Farbabb. 38 Http://www.e-codices.unifr.ch/de/bbb/0318/13v/0/Sequence-34, Burgerbibliothek Bern Farbabb. 39 Anne Mueller von der Haegen, Giotto di Bondone – um 1267–1337, Köln 1998, S. 113, Abb. 135 Farbabb. 40 Https://it.wikipedia.org/wiki/File:Giotto,_Lower_Church_Assisi,_Franciscan_Allegories-Obedience_01.jpg Farbabb. 41 Http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg336/0222. © Universitätsbibliothek Heidelberg Farbabb. 42 Http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg336/0223. © Universitätsbibliothek Heidelberg

RAHMENDE SEITENGESTALTUNG UND DAS BUCH ALS GANZES

Kristin Böse Von den Rändern gedacht Visuelle Rahmungsstrategien in Handschriften der Iberischen Halbinsel 2016. 504 Seiten, 194. s/w. und 26 farb. Abb., gebunden. € 67,– A € 65,– D ISBN 978-3-412-50602-5 Senus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 8

Wurden Rahmengestaltungen in der Forschung zur mittelalterlichen Buchkunst bisher vor allem in Bezug auf das Seitenlayout diskutiert, widmet sich Kristin Böse dem Verhältnis von rahmender Seitengestaltung und dem Buch als Ganzem. Am Beispiel von Manuskripten, die zwischen dem späten 9. und frühen 12. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel entstanden, erkundet sie die struktur- und raumbildenden Strategien von Eröffnungs- und Schlussseiten. Diese besonders durch Ornamente geprägten ganzseitigen Darstellungen bereiten visuell auf die Lektüre vor und eröffnen Denkmöglichkeiten einer Einordnung des Codex in übergreifende Zusammenhänge.

IM WAHRSTEN SINNE DES WORTES EIN VIELSCHICHTIGES OBJEKT

Rostislav Tumanov Das Kopenhagener Stundenbuch Bildprogramm und Layout im Kontext spätmittelalterlicher Lektüre- und Andachtspraktiken 2017. 295 Seiten, 77 farb. Abb., gebunden. € 62,– A € 60,– D ISBN 978-3-412-50744-2 Senus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 9

Das sogenannte „Kopenhagener Stundenbuch“ verfügt über ein höchst außergewöhnliches Gestaltungsmerkmal. Ein Großteil seiner Seiten ist durchlöchert und gibt den Blick auf darunterliegende Illuminationen frei. Die durchbrochenen Folia, die über den Miniaturen liegen, bilden dabei eine Art Sehschacht. Sie machen den Betrachter darauf aufmerksam, dass das vor ihm liegende Buch ein dreidimensionales, im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtiges Objekt ist. Rostislav Tumanov untersucht, auf welche Art und Weise das Bildprogramm des Codex und diese besondere Gestaltung aufeinander abgestimmt wurden. Er fragt auch nach den Auswirkungen auf die tägliche Gebetspraxis, für die das Stundenbuch bestimmt war.

DIE BEDEUTUNG DER VISUELLEN ORGANISATION

Hanna Wimmer Illustrierte Aristotelescodices Die medialen Konsequenzen universitärer Lehr- und Lernpraxis in Oxford und Paris 2016. 464 Seiten, 105. s/w. und 100 farb. Abb., gebunden. € 67,– A € 65,– D ISBN 978-3-412-50315-4 Senus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 7

Seit dem späten 12. Jahrhundert entstand an den sich formierenden europäischen Universitäten eine neue intellektuelle Schriftkultur. Die neuen Lehr- und Lernstrukturen machten das Buch zum zentralen Medium von Erwerb und Übermittlung von Wissen. Anhand zahlreicher illustrierter Handschriften, die Traktate des Aristoteles und Aristoteleskommentare in lateinischer Übersetzung enthalten, untersucht die Autorin die Bedeutung der visuellen Organisation dieser Codices mit ihrer charakteristischen ordinatio und Seitendisposition für die Transmissions- und Rezeptionsprozesse. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Rolle der in der Forschung bisher kaum beachteten Bilder in den Handschriften, die keineswegs nur Statussymbole, sondern hoch effiziente Arbeitsinstrumente für Gelehrte waren.

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