Historisches Lernen: Grundlagen und Paradigmen 9783412326807, 3412133930, 9783412133931

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Historisches Lernen: Grundlagen und Paradigmen
 9783412326807, 3412133930, 9783412133931

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Jörn Rüsen Historisches Lernen

Jörn Rüsen

Historisches Lernen Grundlagen und Paradigmen

1994 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Die Deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e

Rüscn, Jörn: Historisches Lernen : Grundlagen und Paradigmen / Jörn Rüsen. - Köln ; W e i m a r ; Wien : Böhlau, 1994 ISBN 3-412-13393-0 © 1994 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Druck und buchbinderische Verarbeitung: K M - D r u c k , Groß-Umstadt Printed in Germany ISBN 3-412-13393-0

Inhaltsverzeichnis Vorwort

1

I. Grundlagen Aufklärung und Historismus - historische Prämissen und Optionen der Geschichtsdidaktik

7

Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historie 1. Fragestellung 2. Was heißt narrative Struktur der historischen Erkenntnis? 3. Geschichtswissenschaft als Erzählveranstaltung 4. Funktionstypologische Differenzierung des historiographischen Erzählens 5. Geschichtsdidaktische Konsequenz I: Historisches Lernen als Bildung von Geschichtsbewußtsein durch Erzählen 6. Geschichtsdidaktische Konsequenz II: Lernziel narrative Kompetenz 7. Geschichtsdidaktische Konsequenz III: Hypothesen zur Entwicklung des Geschichtsbewußtseins 8. Geschichtsdidaktische Konsequenz IV: Multiperspektivität und Erzählstruktur im Geschichtsunterricht

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Erfahrung, Deutung, Orientierung - drei Dimensionen des historischen Lernens

64

Historisches Lernen - Grundriß einer Theorie 1. Zur Aufgabe der Geschichtsdidaktik 2. Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß 3. Lernformen a) Die Lernform traditionaler Sinnbildung über Zeiterfahrung b) Die Lernform exemplarischer Sinnbildung über Zeiterfahrung c) Die Lernform kritischer Sinnbildung über Zeiterfahrung d) Die Lernform genetischer Sinnbildung über Zeiterfahrung 4. Faktoren der Entwicklungsdynamik 5. Stufen des Lernprozesses

25 25 29 33 37 41 45 53

74 74 78 85 86 87 88 89 91 95

6. Probleme und Möglichkeiten empirischer Forschung 101 7. Zur normativen Orientierung historischer Lernprozesse 110 8. Ausblick auf eine Pragmatik des historischen Lernens 118 Geschichtsdidaktik heute - Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)?

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II. Paradigmen "Das Gute bleibt - wie schön!" Historische Deutungsmuster im Anfangsunterricht (von Ingetraud Rüsen) 1. Das traditionale Deutungsmuster 2. Das kritische Deutungsmuster 3. Das exemplarische Deutungsmuster 4. Das genetische Deutungsmuster Das ideale Schulbuch. Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts 1. Defizite der Schulbuchanalyse 2. Drei Ziele des historischen Lernens 3. Gesichtspunkte der unterrichtspraktischen Brauchbarkeit 4. Brauchbarkeit zur historischen Wahrnehmung 5. Brauchbarkeit zur historischen Deutung 6. Brauchbarkeit zur historischen Orientierung

161 164 167 169

Für eine Didaktik historischer Museen - gegen eine Verengung im Streit um die Geschichtskultur

171

Fortschritt. Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Fragwürdigkeit einer historischen Kategorie

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Menschen- und Bürgerrechte als historische Orientierung Vorschläge zur Interpretation und didaktischen Analyse

204

1. Die hehren Ideale und die schnöde Wirklichkeit 2. Funken aus der Tradition schlagen: Die historische Frage 3. Geltungskraft aus historischer Erinnerung 4. Historische Perspektive I: Europa 5. Historische Perspektive II: Sozialistische Ergänzung oder kommunistische Alternative?

VI

141 150 152 152 153 156 156 158

204 207 210 213 217

6. Historische Perspektive III: Die anderen Kulturen 7. Das Prinzip Anerkennung: Universalität in der Relativität 8. Historische Perspektive IV: Der Umgang mit der Natur 9. Menschenrechte didaktisch I: In der Genese normativer Kompetenzen 10.Menschenrechte didaktisch II: Historische Lernformen 11. Historisches Lernen als Lebenselixier der Menschenrechte

221 224 226 229 231 235

Drucknachweise

236

Namensregister

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VII

Vorwort Dieses Buch besteht aus einer Sammlung überarbeiteter und ergänzter Aufsätze, deren Zusammenstellung das Profil der Geschichtsdidaktik als traditionsstarker, theoriefähiger, forschungsorientierter und zugleich praxisbezogener Fachdisziplin skizziert. Es geht mir darum, die Geschichtsdidaktik als ein relativ eigenständiges Lehrund Forschungsgebiet historisch und theoretisch zu begründen, d.h. die für sie konstitutive Fragestellung nach historischem Lernen zu beschreiben und Wege zu ihrer Beantwortung aufzuzeigen. Ferner möchte ich darlegen, wie historische Themen im inneren Zusammenhang mit ihrer fachwissenschaftlichen Erörterung didaktisch so reflektiert werden können, daß es um mehr und anderes geht als bloße 'Anwendung' und 'Vermittlung', nämlich um eine Dimension der Sache selbst im Lebenszusammenhang derjenigen, die sie etwas angeht. Schließlich möchte ich auch deutlich machen, daß und wie das entworfene Konzept von Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom historischen Lernen auf Praxisfelder der historischen Bildung hin konkretisiert und in ihnen zur Geltung gebracht werden kann. Es ist mir eine angenehme Pflicht, mich bei den Kolleginnen und Kollegen zu bedanken, die mir geholfen haben, das komplexe Feld der Geschichtsdidaktik zu erkunden: Klaus Bergmann, Bodo von Borries, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Hans-Jürgen Pandel, Rolf Schörken, Gerd Schneider. Rotraud Burchhardt-Kamplade, Jürgen Jahnke und Hildegard Vörös-Rademacher möchte ich für ihre intellektuell inspirierenden Zugänge zur Schulpraxis danken. Mein ganz besonderer Dank gilt Ursula A.J. Becher für unsere langjährige Zusammenarbeit in der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Schließlich möchte ich den nicht wenigen Studentinnen und Studenten danken, die sich von der verbreiteten Geringschätzung der Geschichtsdidaktik in der Geschichtswissenschaft nicht davon abhalten ließen, ihrer unbefangenen Neugier und ihrem Interesse an konstitutiven Praxiszusammenhängen des historischen Denkens zu folgen und sich für geschichtsdidaktische Probleme zu interessieren. Sie haben mich durch ihr Engagement, ihr kritisches Fragen und eigenes Forschen gefördert. Bochum, im Frühjahr 1994

"Wohin? Zurück? Zu den Tagen der Steinen und den Fellen Zurück? Zu den ungebildeten Tagen wo die Frauen Beeren sammeln und die Männer jagen musten Zurück? Zu den alten Steinhöhlen in denen eine ganze Horde schlafen muss Oder vorwärts! Wohin? In den Lehm- und Strohhütten wo alles dunkel ist Vorwärts! Wohin? Auf den Acker wo man säen muß in einer einzigen endlosen Reihe?"1

1

Schülerin, 6. Klasse, zum Thema: Kulturbegegnung zwischen Altsteinzeitmenschen und Jungsteinzeitmenschen, 80er Jahre. - Dieses Gedicht ist stark beeinflußt von dem Gedicht "Wohin?" von Michael Francis Dei-Anang (in: Stockheim, K.H.: Afrika: Schrei der Hoffnung. Bischöfliches Hilfswerk Misereor. Materialien für die Schule 10). Aalen 1981, S.47 (freundlicher Hinweis von S.Thiele).

3

Aufklärung und Historismus - historische Prämissen und Optionen der Geschichtsdidaktik Die Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft ist ein Medium der Selbstvergewisserung der Geschichtsdidaktik. Wissenschaftshistorische Selbstvergewisserung einer Disziplin ist nichts Ungewöhnliches. Die Historiographiegeschichte h a t - neben der Historik als systematischer Reflexion - in der Geschichte der Geschichtswissenschaft immer die Funktion einer Klärung von Standpunkten gehabt. 2 Was soll in den Blick kommen, wenn sich die Geschichtsdidaktik im Medium der Geschichte der Geschichtswissenschaft mit sich selbst beschäftigt? Wonach fragt sie? Wenn sie nur nach sich selbst als einer Vermittlungsinstanz historischen Wissens fragt und ihr Verhältnis zur Geschichtswissenschaft mit dem Begriff des "Außenbezuges" charakterisiert, was k a n n dann von ihr selbst, von ihren eigenen und inneren Prinzipien in den Blick kommen? Man könnte argumentieren, daß eine Veränderung der Geschichtswissenschaft zu neuen Vermittlungsproblemen und entsprechenden didaktischen Anforderungen f ü h r t und daß eine Rekonstruktion solcher Veränderungen zur Aufgabenbestimmung der Geschichtsdidaktik dienen kann. Ich möchte nicht bestreiten, daß damit ein Aspekt der Geschichtsdidaktik in den Blick kommt, aber in einer solchen Betrachtungsweise stehen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik nur in einem äußerlichen Verhältnis. Die Geschichtsdidaktik erscheint als eine abhängige Variable vom historischen Entwicklungsprozeß der Geschichtswissenschaft; sie setzt sich, wenn sie sich auf diese Weise historiographiegeschichtlich mit sich selbst beschäftigt, a priori als sekundär. Die Geschichtsdidaktik wird aber ihrer selbst ganz anders ansichtig, wenn sie nach geschichtsdidaktischen Faktoren im Erkenntnisprozeß der Geschichtswissenschaft selber fragt und deren Rolle wissenschaftsgeschichtlich zu ermitteln versucht. Dann steht sie in einem inneren Verhältnis zur Geschichtswissenschaft, und dann gibt die Geschichte der Geschichtswissenschaft - zumindest implizit - immer auch Auskunft über das, was die Geschichtsdidaktik als eigene Disziplin in und für sich selber ist. 3 2 3

Vgl. dazu Blanke, Horst Walter: Historiographiegeschichte als Historik (Fundamenta Histórica, Bd.3), Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. Dazu vor allem Pandel, Hans-Jürgen: Historik und Didaktik. Das Problem historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765-1830). (Fundamenta Histórica, Bd.2). Stuttgart-Bad Cannstatt 1990.

7

Die Geschichtsdidaktik setzt sich in ein solches inneres Verhältnis zur Geschichtswissenschaft, wenn sie sich selbst als Wissenschaft vom historischen Lernen und nicht als Wissenschaft von der Vermittlung geschichtswissenschaftlich produzierten historischen Wissens versteht. "Historisches Lernen" möchte ich im folgenden umfassend als Prozeß der Bildung von historischer Identität durch die Operationen des Geschichtbewußtseins verstehen. 4 Wo ist ein innerer Zusammenhang von Geschichte als Wissenschaft mit der Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom historischen Lernen auszumachen? Diese Frage läßt sich am besten dadurch beantworten, daß man die disziplinare Matrix als Strukturmodell von Geschichte als Fachwissenschaft in den Blick bringt. 5 Es handelt sich bei dieser Matrix um die wesentlichen kognitiven Faktoren, die die Geschichte als Fachwissenschaft definieren, also darüber bestimmen, worin eigentlich die Wissenschaftlichkeit der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisarbeit besteht. Von den fünf Faktoren, die sich als wesentliche Bestimmungsgrößen der disziplinaren Matrix der Geschichtswissenschaft im einzelnen ausmachen und in ihrem systematischen Zusammenhang beschreiben lassen, betreffen nicht weniger als drei genuin didaktische Sachverhalte: der Faktor der Orientierungsbedürfnisse und Erkenntnisinteressen, der Faktor der historiographischen Darstellungsformen, in denen der Adressatenbezug der historischen Erkenntnis seine Gestalt gewinnt, und schließlich der Faktor der Funktionen der Daseinsorientierung, die historisches Wissen in der menschlichen Lebenspraxis wahrnimmt. Die wichtigste Funktion ist diejenige der Bildung historischer Identität. Im Blickwinkel dieser drei Fundamentalfaktoren der fachwissenschaftlichen historischen Erkenntnis (angesichts derer es ziemlich sinnlos ist, von einem Außenverhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik zu reden und die es auch problematisch erscheinen lassen, der Geschichtsdidaktik lediglich eine Aufgabe im Vermittlungsprozeß historischen Wissens zuzubilligen), möchte ich im folgenden die Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft im epochalen Schritt von der Aufklärung zum Historismus betrachten. 6 Diese Epoche läßt sich zusammenfassend als Modernisierung des historischen Denkens charakterisieren. "Modernisierung" meint 4 5 6

8

Siehe dazu unten S.74ff. Dieses Konzept der disziplinaren Matrix wird ausführlicher dargelegt in: Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, S.21ff. Das Konzept, das meiner Interpretation dieses epochalen wissenschaftsgeschichtlichen Schrittes zugrunde liegt, habe ich ausführlicher dargestellt in: Rüsen, Jörn: Von der Aufklärung zum Historismus. Idealtypische Perspektiven eines Strukturwandels, in: ders: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt/Main 1993, S.29-94.

zweierlei: einmal eine Dynamisierung des Geschichtsbewußtseins. Die exemplarischen Sinnbildungsmuster des historischen Denkens werden durch genetisch-dynamische abgelöst. Reinhart Koselleck hat diesen Vorgang als Auflösung des Topos "historia magistra vitae" im "Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte" beschrieben.7 Modernisierung bedeutet zugleich mit der Dynamisierung auch eine Verwissenschaftlichung des historischen Denkens, die von Aufklärung und Historismus auf unterschiedliche Weise vollzogen werden. Die Aufklärung führt in das historische Denken das wissenschaftskonstitutive Prinzip methodischer Rationalität ein, und der Historismus ergänzt dieses von ihm vorausgesetzte Prinzip der methodischen Rationalität durch das wissenschaftskonstitutive Prinzip disziplinarer Fachlichkeit. Was bedeutet diese Modernisierung für den historischen Lernprozeß, in dem sich historische Identität bildet? Was bedeutet die Modernisierung des historischen Denkens für die Geschichtsdidaktik als denjenigen Ort im historischen Denken, wo historisches Lernen thematisiert und reflektiert wird? Ich möchte diese Frage so beantworten, daß ich zunächst die geschichtsdidaktischen Implikationen und Folgen der Dynamisierung des historischen Denkens behandle und dann diejenigen seiner Verwissenschaftlichung. Durch die Dynamisierung des historischen Denkens verändern sich die identitätsbildenden Deutungsmuster des Geschichtsbewußtseins: Die Geschichte lehrt keine allgemeinen Handlungsregeln und deren Anwendung auf konkrete Handlungssituationen mehr. Die Geschichtsschreibung ist nicht mehr vitae magistra. Die historische Erfahrung wird nicht mehr zur Steigerung der Regelkompetenz klugen Verhaltens verwendet, sondern an die Stelle exemplarischer Sinnbildung tritt die genetische. Das, worauf es in der lernenden Umsetzung von historischer Erfahrung in Deutungskompetenz zur Orientierung der eigenen Lebenspraxis ankommt, ist nicht mehr die überzeitliche Geltung von Handlungsregeln und die Fähigkeit der Urteilskraft, diese abstrakten und allgemeinen Regeln auf konkrete einzelne Fälle menschlicher Lebenssituationen anzuwenden. Stattdessen bekommt die zeitliche Veränderung selber einen hohen Stellenwert in der Formierung historischer Identität: Die Fähigkeit zur Veränderung wird zur notwendigen Bedingung für die Selbstbehauptung und Dauer menschlicher Subjektivität. Modernisierung des historischen Denkens heißt geschichtsdidaktisch Verzeitlichung der historischen Identität in der deutenden Aneignung der geschichtlichen Erfahrung. Die entsprechenden historischen Ka7

Koselleck, Reinhart: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/Main 1979, S. 38-66.

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tegorien zur Deutung der historischen Erfahrung sind: Fortschritt und Entwicklung. Diesen Kategorien entsprechen didaktische Kategorien, mit denen die gedeutete historische Erfahrung auf das menschliche Selbstverständnis bezogen wird, in denen also historische Erkenntnis ihre didaktische Valenz bekommt. Sie lauten: Vervollkommnung und Bildung. In beiden Fällen handelt es sich um formale Bestimmungen historischer Identität. Inhaltlich entspricht diesen Kategorien in der Aufklärung die Menschheit als Bezugsgröße der Identitätsbildung. Sie wird universalgeschichtlich präsentiert, und dadurch bekommt das Menschsein der Rezipienten eine historische Dimension, einen zeitlichen Horizont. Was die Menschenrechte in der Form allgemeiner normativer Prinzipien der politischen Vergesellschaftung formulieren, wird durch die Universalgeschichte der Aufklärung historisch gewendet: Menschheit wird als universelles Normensystem auf die Vielheit verschiedener Kulturen so bezogen, daß die Einheit der Menschheit in dieser Vielheit sichtbar wird - und zwar als umgreifender historischer Prozeß. August Ludwig Schlözer hat diesen Prozeß als wachsende Kommunikationsgemeinschaft zwischen verschiedenen Kulturen angesprochen.8 Der Historismus greift diese inhaltliche Ausprägung historischer Identität als Menschheit auf. Droysens Definition der Geschichte als "Erkenne Dich selbst" der Menschheit bringt dies programmatisch zum Ausdruck.9 Der Historismus verkehrt die Menschheitsperspektive gegenüber der Aufklärung: Die Aufklärung generalisierte die Besonderheit ständischer Differenzen der Identitätsbildung zur Allgemeinheit des Menschseins. Der Historismus individualisierte demgegenüber die Allgemeinheit des Menschseins, der Menschheit, in die Besonderheit der jeweiligen Bezugsgruppe der historischen Identität, die nicht mehr ständisch ist, sondern - fast über das ganze 19. Jahrhundert hinweg - die Nation darstellt. Die Dynamisierung des Geschichtsbewußtseins, die mit dem historischen Denken der Spätaufklärung beginnt, hat also einen fundamentalen didaktischen Aspekt: Sie betrifft das historische Lernen in seinen kategorialen Dimensionen. Das Geschichtsbewußtsein folgt in seiner Arbeit an der Bildung historischer Identität neuen Deutungsmustern, einer neuen Logik der historischen Sinnbildung. Die historische Identität gewinnt neue Formen und Inhalte. Formal wird Identität zur zeitlichen Größe, zum Prozeß, zu einem Werden; sie verliert ihren statischen Charakter. Inhaltlich wird historische Identität mit 8 9

10

Schlözer, August Ludwig: Vorstellung seiner Universal-Historie. Göttingen 1772 (Neudruck ed., eingel. u. kommentiert v. Horst Walter Blanke. Hagen 1990), Vorrede zur zweiten Auflage. Droysen, Johann Gustav: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Ed. Peter Leyh, Bd.l. Stuttgart 1977, S.28 und öfter.

dem Kriterium der Menschheit gebildet. Menschheit bedeutet: moralische Intention und empirische Extension der historischen Erfahrung. Nation bedeutet dann Individuierung von generellen Menschheitsqualifikationen. Der kategorische Imperativ als Ausdruck moderner Subjektivität hat seine historische Dimension: Moralisch läßt er sich als Regel fassen, die gebietet, das eigene Handeln durch Absichten zu bestimmen, die eine Menschheitsqualität haben, d. h. jedem Menschen angesonnen werden können, verallgemeinerbar sind. Historisch wird diese Regel, wenn sie das Handeln als Teil eines zeitlichen Prozesses vorstellbar und nachvollziehbar macht, in dem sich eine allgemeine moralische Menschennatur unter verschiedenen Handlungsbedingungen zeitlich als Kultur ausprägt. "Nation" war für den klassischen Historismus eine solche besondere Ausprägung der allgemeinen Menschheitsnatur im zeitlichen Prozeß. Ranke hat dies so formuliert: "In der Herbeiziehung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur ist der Fortschritt ein unbedingter."10 Der Verwissenschaftlichungsprozeß des historischen Denkens läuft auf verschiedenen Ebenen, der institutionellen der Universitäten und Akademien, wo neue Formen der historischen Forschung und des Lehrens und Lernens von Geschichte zur Professionalisierung von Historikern entwickelt werden, und auf der Ebene der kognitiven Struktur des historischen Denkens, der Ebene der disziplinaren Matrix. Da es mir um Prinzipien des geschichtsdidaktischen Denkens im historischen Prozeß der Geschichtswissenschaft geht, beschränke ich mich auf die zuletzt genannte Ebene. Dort also, wo historisches Denken durch die fünf fundamentalen Faktoren der Orientierungsbedürfnisse, der leitenden Hinsichten auf die Vergangenheit, der Regeln, nach denen die historische Erfahrung erschlossen wird, der Formen der Darstellung und der Funktionen der Daseinsorientierung durch historisches Wissen, kognitiv organisiert wird, bedeutet Verwissenschaftlichung folgendes: Orientierungsbedürfnisse werden zu Erkenntnisinteressen; leitende Hinsichten werden zu theorieförmigen Bezugsrahmen der historischen Interpretation; Regeln des Aufschlusses der historischen Erfahrung werden zu Methoden der historischen Forschung; rhetorische Figuren der historiographischen Belehrung werden zu diskursiven und ästhetischen Präsentationsformen des forschend gewonnenen historischen Wissens; und die historische Vergewisserung der eigenen Identität wird dadurch wissenschaftsspezifisch, daß sie formal in die Diskursform einer rationalen Argumentation eingebunden und inhaltlich durch die Bezugsgröße Menschheit 10

Ranke, Leopold von: Über die Epochen der neueren Geschichte, Eds Theodor Schieder u. Helmut Berding (Aus Werk und Nachlaß, Bd.2). München 1971, S.80.

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und Nation bestimmt wird. 11 Entscheidend für das komplexe Wechselverhältnis dieser fünf Tendenzen der Verwissenschaftlichung des historischen Denkens ist diejenige, in der es durch die Erkenntnisform der Forschung eine innere Dynamik bekommt: Das historische Denken wird regelhaft in den permanenten Prozeß des Erkenntnisfortschritts durch Forschung gebracht. Wo liegt nun die spezifisch didaktische Dimension dieses Verwissenschaftlichungsprozesses? Sie ist dort auszumachen, wo es um Lernbedürfnisse, Lernfähigkeit und Lernformen des Geschichtsbewußtseins geht, wo also historische Erkenntnisse wesentlich von Zusammenhängen zwischen Geschichtsbewußtsein und menschlicher Lebenswelt bestimmt werden, und nicht dort, wo es speziell um den Erfahrungsbezug der historischen Forschung, um den methodisch geregelten Umgang mit den Quellen geht. Wird aber nicht durch die Verwissenschaftlichung genau dieser Zusammenhang sukzessive aufgelöst? Bedeutet Modernisierung des historischen Denkens durch Verwissenschaftlichung nicht eine zunehmende Ausschaltung von Subjektivität und eine entsprechende Externalisierung der Geschichtsdidaktik? In der Tat gibt es eindeutige wissenschaftsgeschichtliche Befunde, die dafür sprechen, die Verwissenschaftlichung des historischen Denkens von der Aufklärung bis zum Späthistorismus als einen Prozeß zu interpretieren, in dem Geschichtsdidaktik als fachlich anerkannte Reflexionsdimension des historischen Wissens zunehmend verdrängt worden ist. 12 Vor der Verwissenschaftlichung wurde die Geschichtsschreibung von den Gebildeten reflektiert als eine rhetorisch-literarische Veranstaltung. Diese Reflexion war im Kern didaktisch, da sie die Geschichtsschreibung unter dem obersten Gesichtspunkt des Adressatenbezuges thematisierte. Die Geschichtsschreibung hatte also im Selbstverständnis der Historiker einen wesentlichen inneren didaktischen Bezug auf ihre potentiellen Rezipienten. Kurz und bündig gesagt: Im historischen Denken war die Didaktik vor der Wissenschaft da. Das ist in der Aufklärung zunächst noch der Fall. Wenn z.B. Johann Christoph Gatterer 1767 "Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung" handelt und die Methode des Planes erörtert, dem der Geschichtsschreiber als theoretischem Erzählkonstrukt und als expliziter Hinsicht auf die menschliche Vergangenheit folgt, dann ist Methode für ihn etwas, was das 11 12

12

Dazu Rüsen (wie Anm.6). Siehe dazu auch: Pandel, Hans-Jürgen: Historiker als Didaktiker, in: Bergmann, Klaus/Schneider, Gerhard (Eds): Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500-1980. Düsseldorf 1982, S.104-131.

Lernen der dargestellten Geschichte betrifft. 13 Methode als wissenschaftskonstitutives Prinzip des Denkens ist hier noch im Kern didaktisch verstanden. Allerdings geht Gatterer einen entscheidenden Schritt über diese traditionelle vorwissenschaftlich-didaktische Methodenauffassung insofern hinaus, als der Plan der Geschichtsschreibung sich zugleich auch an sachlichen Gesichtspunkten bemißt, also eine mehr oder weniger theorieförmige Strukturierung der historischen Erfahrung betrifft. Gatterer ist in der Theoretisierung der historischen Erkenntnis noch unentschieden zwischen didaktischem Adressatenbezug und forschendem Erfahrungsbezug. Der Fortschritt der Verwissenschaftlichung verschiebt nun den Akzent ganz auf den Erfahrungsbezug. Didaktische Gesichtspunkte verschwinden aus dem Prinzipiengefüge fachwissenschaftlich organisierter historischer Erkenntnis; die Geschichtsdidaktik wird zur bloßen Exekution des forschend gewonnenen Wissens in außerfachlichen Verwendungszusammenhängen. Natürlich gibt es solche Verwendungen, und natürlich hat die Unterscheidung zwischen innerfachlichen Forschungsprozessen und außerfachlicher Verwendung des forschend gewonnenen historischen Wissens ihren Sinn. Wenn allerdings diese Unterscheidung zum entscheidenden Kriterium dafür wird, wie sich Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik zueinander verhalten, dann gehen wesentliche Aspekte im Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft verloren. Es empfiehlt sich also, den historischen Prozeß der Verwissenschaftlichung genauer anzusehen, und zwar aus zwei Gründen: einmal müßte deutlich gemacht werden, daß die Geschichtsdidaktik mitnichten aus dem Horizont fachlicher Selbstverständigung der Historiker verschwunden, sondern daß sie in neue und andere Problemkonstellationen dieser Selbstverständigung eingegangen ist; und zweitens müßte sich die Verwissenschaftlichungsgeschichte der Geschichtswissenschaft als Verlustgeschichte deutlich machen lassen. Sie müßte als Geschichte einer zunehmenden Verengung der Perspektive erscheinen, in der das historische Denken sich selbst durchsichtig ist. Diese Verengung betrifft die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft selber. Verwissenschaftlichung müßte also erkennbar werden als ein historischer Vorgang, in dem nicht nur methodische Prinzipien der historischen Forschung errungen und durchgesetzt werden, sondern in dem gegenüber diesem Fortschritt an methodischer Rationalität auch ein Rückschritt zu verzeichnen ist, weil dabei zugleich we13

Gatterer, Johann Christoph: Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung, in: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), S. 15-89; wd. in: Blanke, Horst Walter; Fleischer, Dirk (Eds): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Band 2: Elemente der Aufklärungshistorik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S.621-662.

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sentliche Dimensionen historischen Denkens aus dem fachlichen Selbstverständnis verdrängt wurden und ihre Wissenschaftsfahigkeit verloren haben. Verwissenschaftlichung als Fortschritt an methodischer Rationalisierung müßte zugleich als "Fortschritt" von Irrationalisierung in den kognitiven Prinzipien der historischen Erkenntnis sichtbar gemacht werden. Diese Dialektik des Verwissenschaftlichungsprozesses läßt sich dort wissenschaftsgeschichtlich ausmachen, wo in der systematischen Hinsicht auf die disziplinare Matrix der Fachwissenschaft die spezifisch didaktische Dimension des fachlichen Erkenntnisprozesses in den Blick gerät, dort also, wo historische Erkenntnis vom Faktor der Orientierungsbedürfnisse bestimmt wird, die wissenschaftsspezifisch zu Erkenntnisinteressen werden. Diese Überführung von Orientierungsbedürfnissen in Erkenntnisinteressen bedeutet, daß die orientierungsbedürftige menschliche Subjektivität in die Zucht methodischer Objektivitätssicherungen durch Forschung genommen wird. Wenn man will, dann kann man diese Disziplinierung eine Entdidaktisierung der historischen Erkenntnis nennen. Zugleich aber, und das sollte nicht übersehen werden, setzt die Dynamisierung des historischen Denkens, in der sich exemplarische Deutungsmuster der historischen Erfahrung in genetische transformieren, neue Dimensionen von Subjektivität im deutenden Umgang mit der historischen Erfahrung gerade frei. Faktisch erwachsen neue Lernbedürfnisse aus der Erfahrung des beschleunigten und strukturellen Wandels, den die modernisierende Dynamisierung des historischen Denkens kulturgeschichtlich hervorruft. Neue Lernfähigkeiten werden genau in dem Maße gewonnen, wie diese Veränderungserfahrung in spezifisch moderne Deutungsmuster des Geschichtsbewußtseins verarbeitet werden. "Vervollkommnung" und "Bildung" indizieren als didaktische Kategorien der historischen Erkenntnis diesen Lernfahigkeitszuwachs des Geschichtsbewußtseins, der untrennbar an den Prozeß der Modernisierung des historischen Denkens gebunden ist. Es handelt sich hier um neue Dimensionen von Subjektivität, und zwar um spezifisch didaktische: Sie betreffen historisches Lernen als Medium historischer Identitätsbildung. Was geht hier vor? Im Geschichtsbewußtsein verlagert sich der Stellenwert von Subjektivität im Umgang mit der historischen Erfahrung, und damit verändert sich zugleich die Art und Weise, wie sich Subjektivität durch Deutung historischer Erfahrung als historische Identität konstituiert. Subjektivität verliert die Form einer Kompetenz für überzeitlich geltende Handlungsregeln. Sie verliert ihren Status als abstraktes Gegenüber der historischen Erfahrung, oder besser ihr Darüberstehen; sie rückt

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in die Prozesse zeitlicher Veränderungen selber ein, derer sie in vormodernen Formen des Geschichtsbewußtseins regelkompetent gerade Herr war. Sie entdeckt ihre innere zeitliche Bewegtheit, und zwar als Wachstumschance. Sie erarbeitet sich aus der historischen Erfahrung nicht mehr die Regeln klugen Handelns, mit denen sie die Vergangenheit richten und die Mitwelt zum Nutzen künftiger Jahre belehren kann (um Rankes bekannte Formulierung zu zitieren), sondern sie entdeckt in der historischen Erfahrung sich selbst als zeitlich eingebunden und zugleich als zeitlich freigesetzt in neue Zukunftsperspektiven. Indikator dieser neuen Rolle von Subjektivität im Prozeß der Verwissenschaftlichung des historischen Denkens ist die Diskussion der Historiker über die Standortabhängigkeit und Parteilichkeit der historischen Erkenntnis. Symptomatisch dafür ist bereits die erkenntnistheoretische Programmschrift von Johann Martin Chladenius "Allgemeine Geschichtswissenschaft" (Leipzig 1752), die die Wissenschaftsfahigkeit des historischen Denkens zu erweisen versucht. Sie entwickelt nicht nur eine Argumentation, in deren Lichte historisches Denken als wissenschaftsfähig erscheinen soll, sondern sie formuliert zugleich zum erstenmal die Einsicht von der Standpunktabhängigkeit (vom "Sehepunct") der historischen Erkenntnis. Ein anderes bekanntes Beispiel für den inneren Zusammenhang zwischen der methodischen Disziplinierung erkennender Subjektivität und der Freisetzung neuer Subjektivitätsdimensionen und -qualitäten des sich verwissenschaftlichenden historischen Denkens ist Gatterers "Abhandlung vom Standort und Gesichtspunkt des Geschichtsschreibers" (1768). 14 Der Göttinger Historiker, der intensiv daran arbeitete, die hilfswissenschaftlichen Forschungsoperationen der Quellenkritik zu systematisieren und der dadurch den Tatsachenbestand des historischen Wissens sichern wollte, gesteht zugleich eine fundamentale Abhängigkeit der historischen Erkenntnis vom Standpunkt ihres Subjekts in seiner Zeit ein. Verwissenschaftlichung des historischen Denkens ist ein doppelter Prozeß: Objektivitätssicherung durch Forschung auf der einen Seite und Subjektivitätsgewinn durch Standortbezug auf der anderen. Zwischen beiden Seiten besteht ein ausgesprochenes Spannungsverhältnis. Aufklärung und Historismus lassen sich idealtypisch unterscheiden durch die Art und Weise, wie sie dieses Spannungsverhältnis austragen, und die heutige Einschätzung dieser beiden epochalen Ausprägungen der Geschichtswissenschaft bemißt sich nicht zuletzt 14

Gatterer, Johann Christoph: Abhandlung vom Standort und Gesichtspunkt des Geschichtsschreibers oder der Teutsche Livius, in: Allgemeine historische Bibliothek 5 (1768), S. 3-29; wd. in: Blanke/Fleischer (Eds): Theoretiker (Anm. 13), S.452-466.

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daran, welche Funken geschichtsdidaktischer Einsicht sich aus ihrer Lösung dieser Spannung schlagen lassen. Ich meine die didaktische Einsicht, daß Wissenschaft nicht Ausklammerung, sondern Entfaltung von Subjektivität bedeutet, daß methodisches Denken als Disziplinierung von Subjektivität nicht Verlust, sondern Gewinn von Subjektivität, von Lernchancen und Entfaltungsmöglichkeiten in der Bildung historischer Identität bedeuten kann. Die Aufklärung wird auf doppelte Weise der neuen Einsicht in die Standpunktabhängigkeit der Geschichtsschreibung gerecht. Einmal steigert sie den Objektivitätsgrad des historischen Wissens durch eine systematische quellenkritische Sicherung historischer Tatsachen, und zugleich thematisiert sie den die Historiographie prägenden Standpunkt des Historikers explizit, macht ihn also zum Gegenstand einer diskursiven Erörterung. Typisch dafür sind August Ludwig von Schlözers "Vorstellung seiner Universalhistorie"15 oder Gatterers Aufsätze "Vom historischen Plan" und "Vom Standort und Gesichtspunkt des Geschichtsschreibers".16 Noch spielen didaktische Erwägungen explizit eine Rolle in der Formierung der (standpunktabhängigen) historischen Perspektive, aber schon werden diese Erwägungen ergänzt durch gegenstandstheoretische Überlegungen, durch den Versuch, ein "System" der Geschichtsschreibung zu finden, das den objektiven Gegebenheiten der historischen Erfahrung entspricht, zumindest aber nicht mehr hinreichend aus der standpunktgeprägten Subjektivität des Historikers abgeleitet werden kann. Der Historismus geht in dieser Hinsicht einen entscheidenden Schritt weiter: Er negiert die von der Aufklärung gewonnene Einsicht in die Standpunktabhängigkeit der historischen Erkenntnis nicht, sondern verhält sich ihr gegenüber anders: Standpunktbezug wird im Historismus zum Vorgang einer objektivierenden Ausrichtung am inneren Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung; er nimmt eine objektivistische Wende weg vom subjektiven Diskurs der Historiker über ihren Platz in der Gesellschaft hin zu ihrer Vertiefung in die objektiven Vorgaben der historischen Erfahrung. Humboldt hat in seiner bekannten Programmschrift "Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers" die Prämissen für diese Wendung als "vorhergängige ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt" angesprochen17: Der erkennende Historiker ist in seiner Subjektivität Geist vom Geiste der geschichtsbewegenden Ideen. Historische Er15 16 17

16

Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie (Anm.8). S. Anm. 13. Humboldt, Wilhelm von: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821), in: Werke in fünf Bänden, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Eds Andreas Flitner/Klaus Giel, Darmstadt 1960, S.596f. (Akademieausgabe IV, 48).

kenntnis, die auf den inneren, ideellen Zusammenhang zeitlicher Entwicklungen des Menschen und seiner Welt in der Vergangenheit geht, die also Geschichte als ideenbewegte Zeit empirisch zur Anschauung bringt, richtet die erkennende Subjektivität mit ihrer Standpunktabhängigkeit an den objektiven Zeitrichtungen des geschichtlichen Wandels aus. Sie läßt ihn genau die Position im zeitlich bewegten Leben seiner Gegenwart über die Erkenntnis der (mit dieser Gegenwart genetisch vermittelten) Vergangenheit einnehmen, von der aus eine übergreifende Zeitrichtung der gegenwärtigen Lebensverhältnisse sichtbar wird. Gervinus hat diesen objektivierenden Standpunktbezug mit dem Schlagwort vom Historiker als "Parteimann des Schicksals" bezeichnet.18 Rankes bekanntes Diktum: "Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen"19, meinte im Prinzip das gleiche, obwohl Ranke selbst sich scharf im Namen der wissenschaftlichen Objektivität von Gervinus' bewußter politischer Parteinahme abgrenzte.20 Beide stimmten nämlich darin überein, daß die historische Erkenntnis die Möglichkeit eröffnet, partikulare Standpunkte im politischen Leben der Gegenwart wegzuarbeiten in eine umgreifende, verschiedene Parteiungen in eine zeitliche Veränderungsrichtung einbindende Sicht auf Geschichte als Entwicklungsprozeß. Die historische Erkenntnis lieferte ein Wissen über die objektive Richtung der zeitlichen Bewegung der Gegenwart als Resultante divergierender Parteilichkeiten, und mit diesem Anspruch bot sie sich als Basis für eine parteiübergreifende Konsensbildung (auf der Ebene historischer Identität) an. Es entsprach daher auch durchaus dem Selbstverständnis der Historiker als Fachwissenschaftler, wenn sie in der Öffentlichkeit als Anwälte des Allgemeinen, als Verkünder objektiver, den Parteienstreit der Gegenwart umgreifender historischer Entwicklungstendenzen auftraten. Droysen hat diese objektivierende Disziplinierung der Historikersubjektivität zur Sprachrohrfunktion übergreifender Entwicklungstendenzen als Erweiterung des Ich bzw. Wir handelnder Subjekte in eine historische Tiefendimension hinein beschrieben: Die Historiographie schließe ihren Adressaten einen inneren zeitlichen Bildungsprozeß der Menschheit auf, in den sie sich selbst als Zeitgenossen einbringen und über den sie ihre historische Identität und die mit ihr möglichen zeitlichen Orientierungen ihrer Lebenspraxis gewinnen könnten. 21 18 19 20 21

Gervinus, Georg Gottfried: Grundzüge der Historik (1837), § 39, in: ders.: Schriften zur Literatur, Ed. Gotthard Erler. Berlin (DDR) 1962, S.102. Ranke, Leopold von: Englische Geschichte vornehmlich im 17. Jahrhundert (Sämtliche Werke, Bd.15). Leipzig 1877, S.103. Vgl. dazu Rüsen: Konfigurationen des Historismus (Anm.6), S.165. Droysen: Historik, Ed. Leyh (Anm.9), S.251f.

17

Der Schritt von der Aufklärung zum Historismus läßt sich zusammenfassend so charakterisieren: Die Diskursivität des Plans der Geschichtsschreibung, in die hinein die Standpunkte der Geschichtsschreiber sich gleichsam verflüssigen, wird in eine (implizite) Theorie des objektiven Geschichtsverlaufs zurückgenommen. Standpunkte werden nicht mehr auseinandergelegt und kritisch aneinander abgearbeitet, sondern sie werden an historischen Prozessen ausgerichtet. Zugespitzt formuliert, geht es der Aufklärung um subjektive Absichten, die historische Verlaufsvorstellungen konstituieren, während der Historismus objektive Verlaufsvorstellungen entwickelt, die die Plausibilität subjektiver Absichten erweisen sollen. Im Späthistorismus wird diese historisierende Ausrichtung standpunktfahiger Subjektivität zum Anpassungszwang an nationalstaatliche Geschichtsverlaufsvorstellungen. Jacob Burckhardt hat diesen Zwang mit seinem Spott über die historiographischen Folgen der Reichsgründung bezeichnet: Nun werde "die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870 bis 1871 orientiert sein."22 Aus dieser wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation von Aufklärung und Historismus lassen sich für die Geschichtsdidaktik systematische Konsequenzen ziehen: Die Diskursivität des Standpunktbezuges muß mit der Objektivierungsfunktion der historischen Erkenntnis verbunden werden; die Aufklärung müßte auf den Historismus dort durchschlagen, wo er über sie hinausgegangen ist, nämlich in seiner Konzeption eines inneren geschichtlichen Zusammenhangs zeitlicher Veränderungen, der als Kriterium des Standpunktbezuges fungieren kann. Dies ist nur dann möglich, wenn die Objektivität dieses inneren Zusammenhangs im Unterschied zum Historismus, der sie mit einer lediglich implizit vorausgesetzten Geschichtstheorie begründete, posthistoristisch zur Angelegenheit einer diskursiven Theoriebildung im historischen Erkenntnisprozeß wird. Der Historismus konnte seine Strategie der Objektivierung des subjektiven Standpunktbezuges nur um den Preis eines hohen Diskursivitätsverlustes plausibel machen: sei es mit der vermeintlichen Selbstauslöschung im Sinne des Rankeschen Objektivismus, sei es mit der vorschnellen Identifikation eines bewußt eingenommenen politischen Standpunktes als Schnittstelle zwischen allgemeiner historischer Tendenz und politischem Meinungsstreit der Gegenwart. Das methodische Prinzip expliziter Theoretisierung macht diesen Verlust wieder wett und eröffnet neue Chancen einer begründungsfähigen Perspektivierung der historischen Erkenntnis durch Reflexion perspektivierender Standpunkte.

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18

Brief an Friedrich von Preen, Silvester 1872, in: Burckhardt, Jacob: Briefe, Ed. Max Burckhardt, Bd. V. Basel/Stuttgart 1963, S.181-184.

Aus der wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation von Aufklärung und Historismus läßt sich also systematisch eine Option ableiten: Standpunktreflexion und Theoriegebrauch in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Wenn diese Option ergriffen wird, dann wächst der Geschichtswissenschaft ein wichtiger Aufgabenbereich zu, der sich als Konstitutionsanalyse historischer Perspektiven, als Artikulation von Orientierungsbedürfnissen und deren Adressierung an eine theoriegeleitete historische Forschung bezeichnen läßt. Wenn die Geschichtsdidaktik sich dieser Aufgabe annähme, dann rückte sie in ein inneres Verhältnis zur historischen Forschung. Sie folgte ihr nicht mehr nur nach, indem sie den Reichtum der Forschungsergebnisse in die dürren Felder außerwissenschaftlichen historischen Nichtwissens streut ("umsetzt"), sondern sie geht ihr in gewisser Weise voraus, indem sie historische Orientierungsbedürfnisse artikuliert, die sich aus Standpunktverschiebungen im Leben der Gegenwart ergeben. Sie übernimmt zu der ihr üblicherweise zugesprochenen - und meist als fachextern angesehenen - Vermittlungsfunktion eine heuristische Funktion, indem sie eben nicht nur historische Wissensbestände an Orientierungsbedürfnisse adressiert, sondern Orientierungsbedürfnisse an Wissensbestände. Ich habe bisher nur die didaktische Dimension des Verwissenschaftlichungsprozesses der Geschichtswissenschaft angesprochen, die im disziplinaren Faktor der Erkenntnisinteressen liegt. Eine zweite didaktische Dimension wird im Verwissenschaftlichungsprozeß sichtbar, wenn die Formen der historischen Darstellung als konstitutiver Faktor fachspezifischer Erkenntnisarbeit betrachtet werden. Die Aufklärung h a t die historiographische Formung als "Methode" diskutiert und war dabei noch stark von der rhetorischen Tradition bestimmt, in der das Schreiben von Geschichte als literarische und didaktische Angelegenheit erörtert wurde. So betont Gatterer in seinen Überlegungen "Vom historischen Plan", "daß Dinge, die gut erzählet werden, leichter ins Herz dringen, und große Wirkungen in dem Willen der Menschen erzeugen." 2 3 Didaktischer kann man eigentlich die Aufgabe des Historikers nicht bestimmen. Es verdient im historischen Selbstbewußtsein der Geschichtsdidaktik festgehalten zu werden, daß am Beginn der Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft ein genuin geschichtsdidaktischer Methodenbegriff steht, daß das wissenschaftskonstitutive Moment der "Methode" also ursprünglich didaktisch definiert war. Was versteht Gatterer unter dem "guten Erzählen"? Zunächst einmal bekunden seine Ausführungen über die narrative Realisation des 23

Gatterer (Anm.13), S.27.

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"historischen Plans", daß die narrative Darstellungsform in der Geschichtsschreibung dominant wird. Was aber heißt es, "gut" zu erzählen? Die Aufklärung hat für die Qualität der narrativen Darstellungsformen drei Kriterien entwickelt: (a) dasjenige ihrer diskursiven Offenheit, also das Potential diskursiver Begründungen für historische Behauptungen und Interpretationen, das in den narrativen Fluß der historischen Darlegung eingegangen ist; (b) inhaltlich bedeutet gutes Erzählen, daß eine Geschichte die menschheitliche Dimension der historischen Erfahrung an den jeweils thematisierten Inhalten sichtbar macht; (c) formal schließlich bedeutet gutes Erzählen, daß die Geschichte auf die Rezeptionsfähigkeit des Adressaten hin konzipiert, kurz: gut lesbar im Sinne von lernbar sein soll. Im Historismus bleibt die Dominanz der narrativen Darstellungsform erhalten. Diese Form selber verändert sich jedoch qualitativ. Die Kategorisierung des inneren Zusammenhangs zeitlicher Entwicklungen als "Geschichte" schlägt auf die äußere Form durch: Die Historiker wollen so schreiben, als erzähle sich die Geschichte von selbst. Man könnte den Schritt von der Aufklärung zum Historismus erzähltypologisch (nach den Typen von Stanzel 24 ) als Schritt von der Ich-Erzählung zur auktorialen Erzählung charakterisieren. Der Historiograph setzt sich nicht mehr diskursiv mit seinen Lesern ins Benehmen, sondern löscht darstellend sein Selbst in der Präsentation des Ganges der Dinge (wie Ranke sagen würde) aus. Damit wird zunächst ein didaktischer Adressatenbezug nicht preisgegeben. Er wird transformiert, er ändert sich qualitativ. Die didaktischen Prinzipien des Adressatenbezuges in der historischen Darstellung ändern sich vom Konzept des Erwerbs von Regelkompetenz zum Konzept der Bildung. Bildung heißt, wie schon dargelegt, nicht mehr Erwerb von Regeln, sondern Erwerb der Kompetenz, handlungsleitende Regeln in zeitlich gerichtete Vorstellungen von Weltveränderung und kultureller Selbsthervorbringung zu transformieren. Ranke hat diese fundamentale Zeitrichtung historischer Prozesse als "Herbeiziehung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur" qualifiziert, und er hat diesen Humanisierungsprozeß als "unbedingten Fortschritt" kategorisiert.25 Kein Geringerer als Droysen hat die Geschichtsschreibung, die diesen allgemeinen inneren Zusammenhang zeitlicher Veränderungen präsentiert, "didaktisch" genannt und in ihr die höchste Form der Historiographie überhaupt gesehen. 26

24 25 26

20

Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979. Siehe Anm.9. Droysen (wie Anm.9), S.249ff.

Die didaktische Intention, die die Aufklärung mit der historiographischen Formung verbindet, bleibt also im klassischen Historismus erhalten; er gibt ihr lediglich eine geschichtsphilosophische Wende, indem er die Geschichte selber als universellen Lernprozeß interpretiert. Droysen spricht von der "didaktischen Macht der Geschichte"27, die - durch Historiographie freigesetzt in die Subjektivität der Adressaten - Handlungskompetenz generiert. Was ist damit gemeint? Nach Droysen leben die Menschen unter objektiven Vorgaben ihrer gegebenen Lebenswelt, ohne daß ihnen diese Vorgaben als historisch gewordene, als Resultate sinnbestimmten Handelns in der Vergangenheit bewußt wären. In ihrer Lebenswelt hat sich für sie noch nicht bewußt menschlicher Geist handlungsbestimmend objektiviert. Wenn sie nun durch die Arbeit ihres Geschichtsbewußtseins die historische Genese dieser ihrer eigenen Welt erkennend vollziehen, dann ist das, was ihnen von außen handlungsbestimmend entgegentritt, sie als äußeren Zwang determiniert, durchschaubar geworden auf den in ihm wirksam gewesenen Geist, und dieser Geist wird von den Subjekten als in ihnen selber wirksam wiedererkannt. Sie gewinnen so historische Identität, und zugleich verändern sich ihre Lebensverhältnisse von zwanghaften Handlungsdeterminanten zu Chancen der Selbstgewinnung und Selbststeigerung. Sie eignen sich die objektiven Bedingungen ihres Handelns durch historische Rekonstruktion so an, daß sie als Entwicklungsprozeß und als Vorgabe für weitere Entwicklungen autonomer Subjektivität erscheinen. Die historische Erkenntnis legt so eine innere ideelle Ich-Qualität von Genesen gegenwärtiger Lebensverhältnisse frei. Diese historistische Verankerung didaktischer Reflexionen im Sachgehalt der historischen Erkenntnis ist aber nicht unproblematisch. Mit ihr kann nämlich das didaktische Denken unversehens in der historischen Interpretation als Forschungsoperation aufgehen, und d.h.: Es kann als spezifisch didaktisches Reflexionspotential der historischen Erkenntnis untergehen. Wenn die forschend aus den Quellen zu erhebende Geschichte selber schon Bildung ist, dann droht der (didaktische) Adressatenbezug der Geschichtsschreibung zur bloßen Funktion des Erfahrungsbezuges der Forschung herabgesetzt zu werden. Die Forschung als die für den fachwissenschaftlichen Charakter der Geschichtswissenschaft maßgebliche Erkenntnisoperation verschlingt gleichsam die didaktische Operation, in der die Forschungsergebnisse rezeptionsfähig, adressierbar gemacht werden. Von dieser Argumentation her läßt sich die Krise des Historismus seit der Jahrhundertwende als Eingeständnis interpretieren, daß das didaktische Potential der historistisch konzipierten Forschung aufge27

Ebd., S.255.

21

zehrt ist. Die Funktionalisierung der Geschichtsschreibung auf die Forschung hin gefährdet deren Auswirkung auf die historische Orientierung; sie verdunkelt den Blick auf ihre praktische Akzeptanz. Eine Forschungslücke ist eben nicht eo ipso schon eine Bildungschance. Mit dieser Funktionalisierung der Geschichtsschreibung auf die historische Forschung hin wird aber nicht nur eine wesentliche didaktische Dimension aus der produktiven Erkenntnisleistung der Geschichtswissenschaft verdrängt, die in der historiographischen Formung besteht, sondern zugleich wird die Didaktik aus dem Fach ausgetrieben, externalisiert. Didaktik wird zur Übersetzungs- oder "Umsetzungs"-Leistung von wissenschaftlicher Historiographie in Schulbücher oder in populäre Historiographie oder ähnliches. Das hält aus dem fachlichen Selbstverständnis der Historiker und Historikerinnen die Vorstellung fern, daß die Geschichtsschreibung, ihre eigene Praxis also, selber grundsätzlich eine didaktische Dimension hat. Überdies verdunkelt diese Externalisierung der Didaktik zugleich den professionellen Blick auf die Grundlagen der Geschichtswissenschaft: Die Geschichtsschreibung wird immer weniger als relativ eigenständiger produktiver Akt der historischen Erkenntnisarbeit wahrgenommen. Heute wird diese Ausblendung umgekehrt.28 Unter dem Signum der Post-Moderne nimmt die Geschichtstheorie den modernen Blick auf die wissenschaftliche Rationalität der historischen Forschung zurück und wendet ihn auf die literarische Seite des historischen Geschäfts, auf die komplexen Sprachhandlungen der Historiographie. Jetzt verkehren sich die Fronten: Die Forschung erscheint plötzlich als bloße Funktionalisierung poetischer Sinngebung historiographischer Textformungen. Die Fachlichkeit der Geschichtswissenschaft wird in ein vor-historistisches Forschungskonzept zurückgenommen und als bloße quellenkritische Faktizitätssicherung angesehen. Dort, wo der Historismus noch in der Interpretation die eigentliche historische Erkenntnisoperation sah, wird nunmehr nur noch ein poetischer Sinnbildungsprozeß wahrgenommen, der durch prä-rationale Sinnkriterien sprachlicher Art gesteuert wird. So schrecklich diese Wende der Geschichtstheorie von der methodischen Rationalität der Forschung zur literarischen Poetik der Geschichtsschreibung auch für die disziplinierte Subjektivität der professionellen Historiker sich ausnehmen mag -, für die Geschichtsdidaktik wird mit dieser Wende das Terrain wieder freigelegt, in dem didaktische Prinzipien konstitutiv sind für 28

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Vgl. dazu Rüsen, Jörn: Postmoderne Geschichtstheorie, in: Jarausch, Konrad; Rüsen, Jörn; Schleier, Hans (Eds): Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Geschichtstheorie, Historiographiegeschichte und Sozialgeschichte. Festschrift für Georg Iggers zum 65. Geburtstag. (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 5). Hagen 1991, S.27-48.

historische Erkenntnisarbeit. Freilich sollte sie den Anti-Rationalismus der Post-Moderne nicht mitmachen, sondern sich von der Aufklärung darüber belehrt sein lassen, daß didaktische Prinzipien der Historiographie zum Vernunftpotential der historischen Sinnbildung gehören, und sie sollte sich vom Historismus darüber belehrt sein lassen, daß sich die historische Erfahrung interpretierend in das Sinngebilde einer Geschichte einholen läßt, die als Lernprozeß eingesehen und so wirken kann, daß objektive Zwänge in subjektive Kompetenzen übersetzt werden. Die dritte und wichtigste geschichtsdidaktische Dimension des Verwissenschaftlichungsprozesses erschließt sich dort, wo im Blick auf die Grundlagen der Geschichtswissenschaft deren Funktion der Daseinsorientierung wahrgenommen wird. Diese Funktion läßt sich nicht bloß als externe Angelegenheit des fachlichen Erkenntnisprozesses auslegen; denn der fachwissenschaftliche Erkenntnisprozeß ist immer (wenn auch oft nur sehr vermittelt) ein Formungsprozeß historischer Identität. Die methodische Rationalität, die Geschichte als Wissenschaft konstituiert, ist ja selber nichts anderes als ein Medium der Identitätsbildung. Wissenschaftlichkeit bedeutet im kulturellen Prozeß historischer Identitätsbildung eine wichtige formale Komponente, einen ganz bestimmten Modus der Konsensbildung über historisch vermittelte Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Wissenschaft ist die Chance der Konsensbildung durch rationale Argumentation in den konfliktreichen Kommunikationen, in denen Individuen und Gruppen um ihr Selbstsein in Auseinandersetzung mit anderen ringen. Aufklärung und Historismus lassen sich wissenschaftsgeschichtlich überhaupt nicht begreifen, wenn man nicht diese innere Funktionalität der historischen Erkenntnis im Prozeß historischer Identitätsbildung berücksichtigt. Die Aufklärung fügt zum formalen Element der Wissenschaftlichkeit des historischen Denkens die inhaltliche Bestimmung "Menschheit" als Bezugsgröße der historischen Identitätsbildung hinzu: Das sich verwissenschaftlichende historische Denken dient der Entpartikularisierung historischer Identität. Diese Funktionsbestimmung ist gegen die ständische Ungleichheit gerichtet und etabliert bürgerliche Gleichheitskriterien im Geschichtsbewußtsein der Gebildeten. Der Historismus hält nicht nur grundsätzlich an der formalen Einbindung historischer Identitätsbildung in das Medium wissenschaftsspezifischer Kommunikation fest, sondern auch an der inhaltlichen Bezugsgröße Menschheit. Nur kritisiert er die abstrakte Fassung, die das Menschheitskriterium historischer Identität durch die Aufklärung erfahren hat, und versucht statt dessen eine Repartikularisierung der Menschheit zum konkreten Kulturgebilde der Nation. Nation steht ursprünglich nicht gegen Menschheit, son-

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dem wird als Vielheit der Kultur in der Einheit des Menschengeschlechtes kategorial historisch konzipiert. Das meinte Ranke mit seiner Formulierung von der "Herbeiziehung der verschiedenen Individuen und Nationen zur Idee der Menschheit und der Kultur". Freilich geht dieser Menschheitsbezug in der nationalen Ausrichtung historischer Identität durch den Historismus allmählich verloren. Aus den wissenschaftsgeschichtlichen Befunden, die Aufklärung und Historismus hinsichtlich einer fachinternen didaktischen Funktionsbestimmung der historischen Erkenntnis liefern, lassen sich mehrere Konsequenzen für die aktuelle geschichtsdidaktische Diskussion ziehen. Einmal müßte der innere didaktische Sinn wissenschaftsspezifischer methodischer Rationalität als Medium historischer Identitätsbildung herausgearbeitet und im Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft sehr viel stärker zur Geltung gebracht werden, als dies bisher geschehen ist. Ferner müßte die Geschichtsdidaktik sich an die Arbeit machen, über bloß formale Beschreibungen historischer Identität hinaus inhaltliche Bezugsgrößen der historischen Identitätsbildung zu beschreiben, die sowohl dem Universalismus der Menschheitsvorstellung der Aufklärung entsprechen wie aber auch die Absicht des Historismus einlösen, die Einheit der Menschheit in die Vielheit der Kulturen hinein zu konkretisieren. Es wäre verhängnisvoll, wenn der gegenwärtige Trend der Geschichtswissenschaft zur Mikrohistorie diese Dimensionen historischer Identitätsbildung, die im Entstehungsprozeß von Geschichtswissenschaft durch Aufklärung und Historismus eröffnet worden sind, unausgefüllt ließe.

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Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik. 1. Fragestellung Die Geschichtsdidaktik wird heute auf zwei Weisen mit dem Erzählproblem konfrontiert: Einmal handelt es sich um eine tiefgehende Kritik an der Dominanz der Lehrererzählung im Geschichtsunterricht 29 und um den Versuch, an die Stelle dieses Erzählens andere Formen der Kommunikation zu setzen, und das andere Mal handelt es sich um die Narrativitätsthese der Geschichtstheorie30, die genau in dem Maße danach verlangt, geschichtsdidaktisch verarbeitet zu werden, wie die Geschichtsdidaktik auf die Historik angewiesen ist. 31 In beiden Fällen ist die Situation ambivalent. Zwar gibt es keine ernsthaften Argumente mehr, die die traditionelle erzählende Gestaltung des Geschichtsunterrichts verteidigen und seine Modernisierung durch andere Unterrichtsformen zurückweisen, aber es sind gewichtige Gründe namhaft gemacht worden, die dafür sprechen, der Geschichtserzählung einen neuen Rang im Geschichtsunterricht einzuräumen: Wenn man nicht darauf verzichten wolle, die Schüler und Schülerinnen im Geschichtsunterricht auch emotional anzusprechen, wenn man sie durch geschichtliche Erfahrung betroffen machen, ihre Emotionalität ansprechen, also Geschichte in der Unmittelbarkeit prä-rationaler Anschauung präsentieren will, dann müsse man sich der Darstellungsweise des Erzählens bedienen. 32 Erzählen heißt dann soviel wie anschauliche Schilderung konkreter zeitlicher Ereignisfolgen mit unmittelbar eingängigem inneren Sinnzusammenhang. 29 30

31

32

Vgl. hierzu Schneider, Gerd: Geschichtserzählung, in: Bergmann, Klaus; Kuhn, Annette; Rüsen, Jörn; Schneider, Gerd (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 4. A. Seelze-Velber 1992, S.493-496. Vgl. hierzu Baumgartner, Hans Michael: Narrativität, in: Bergmann u.a. (Eds): Handbuch (Anm.29), S.226-228; White, Hayden: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt/Main 1990, S.40-77. Dazu Rüsen, Jörn: Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976, bes. S.15f. u. S.165ff.; ders.: Historik und Didaktik. Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung, in: Erich Kosthorst (Ed.): Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung - Theorie. Göttingen 1977, S.48-64; ders: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S.76-120. So z.B. Tocha, Michael: Die Tränen des Prinzen oder Versuch, die Geschichtserzählung auf die Füße zu stellen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27 (1976), S.619-624; ders.: Zur Theorie und Praxis narrativer Darstellungsformen mit besonderer Berücksichtigung der Geschichtserzählung, in: Geschichtsdidaktik 4 (1979), S.209-222.

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'Erzählen' wird hier als Gegenbegriff zu allen diskursiven Unterrichtsformen verstanden; Emotionalität steht gegen Rationalität, Unmittelbarkeit gegen Distanz, Konkretheit gegen Abstraktion, lebendige Erinnerung gegen blasses Raisonnement. Man kann gegen die geschichtsdidaktischen Wiederbelebungsversuche des unterrichtsmethodischen Prinzips der Lehrererzählung nachdrücklich auf die Notwendigkeit des diskursiven Argumentierens im Geschichtsunterricht hinweisen (wer wollte hier widersprechen?), und man kann mit diesem Hinweis das Erzählen im Geschichtsunterricht als widervernünftig diskreditieren. 33 Die Frage ist jedoch, ob diese Frontstellung zwischen vernunftlosem Erzählen und nicht erzählender Vernunft nicht eher den Blick darauf verstellt, was es mit Erzählen und historischer Vernunft geschichtsdidaktisch auf sich hat, als daß mit ihr ein geschichtsdidaktisches Problem treffend umschrieben wäre. Die Geschichtsdidaktik wird diese Frage nicht befriedigend beantworten können, wenn sie sich nicht auf die einschlägigen Argumentationen im Bereich der Geschichtstheorie bezieht. Hier aber scheint das Problem lediglich wiederzukehren: Auch hier werden erzählende Formen der Geschichtsschreibung von anderen unterschieden. 34 Die Präsentation zeitlicher Ereignisfolgen in einem unmittelbar einleuchtenden Sinnzusammenhang, das reine historiographische Erzählen also, wird als eine höchst begrenzte Weise der Geschichtsdarstellung angesehen, und ihr gegenüber werden Analysen struktureller Bedingungszusammenhänge und erklärende Erörterungen mit Hilfe theorieförmigen Wissens als ganz andere Formen des historischen Denkens und der Geschichtsdarstellung hervorgehoben. 35 Also auch dort, wo die für die Geschichte als Wissenschaft maßgeblichen geistigen Operationen reflektiert und beurteilt werden, findet sich eine Dichotomie zwischen narrativen und diskursiven Elementen der Geschichtsdarstellung. Diese Dichotomie tritt in unterschiedlicher Ausprägung auf, z.B. als Entgegensetzung von Ereignis- und Strukturgeschichte, von Theorielosigkeit oder Theoriegeleitetheit der historischen Erkenntnis. Ähnlich wie in der Geschichtsdidaktik deutet sich in dieser Dichotomie inzwischen auch eine Umkehr in der Bewertung der beiden Al33 34 35

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So z.B. Jung, Michael: Geschichtserzählung heute. Die Wiedergeburt einer untauglichen Methode, in: Geschichtsdidaktik 5 (1980), S.383-391. Die Erwiderung von Tocha: Auf die Inhalte kommt es an, ebd. S.393-397. So bekanntlich schon bei Droysen: Historik, Ed. Leyh (Anm.9), S.217 ff. Vgl. dazu Rüsen: Konfigurationen des Historismus (Anm.6), S.267-275. Vgl. dazu: Kocka, Jürgen; Nipperdey, Thomas (Eds): Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 3). München 1979; Kocka, Jürgen: Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation, in: ders.: Geschichte und Aufklärung. Aufsätze. Göttingen 1989, S.8-20.

ternativen an. 36 Konnte es lange Zeit so scheinen, als sei die rein erzählende Geschichtsschreibung obsolet geworden, als sei sie mit den von der Geschichte als Wissenschaft inzwischen errungenen Standards der methodischen Rationalität unvereinbar; so findet mittlerweile das Erzählen seine Befürworter, die es gegen die Auffassung in Schutz nehmen, es sei in der Geschichtsschreibung nicht mehr zeitgemäß. Man beginnt den erzählenden Charakter historischer Darstellungen zu preisen, und es ist unübersehbar, daß das Theoretisieren in der Geschichtswissenschaft in den Verdacht geraten ist, den Historiker von seinem eigentlichen Geschäft, der erinnernden Verlebendigung der Vergangenheit, abzuhalten. 37 Ja, sogar in der theoretischen Reflexion auf die Grundlagen des historischen Denkens selbst wird die Poesie des Erzählens als genau der Vorgang ausgemacht, in dem sich die Vergangenheit zum erkennbaren Gebilde einer Geschichte formt: Das Erzählen wird als Vorgang einer Sinnstiftung wieder zu Ehren gebracht, die allen Bemühungen des menschlichen Verstandes schon voraus- und zugrundeliegt; diese Sinnstiftung durch Erzählen sei es, die Geschichte als etwas, womit man sich analysierend und erklärend im Medium der methodischen Rationalität beschäftigen kann, allererst hervorbringe. 38 Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß dieses Lob des Erzählens, zu dem manche Reflexionen auf die Aufgabe des Geschichtsschreibers geführt haben, sich fortsetzt oder umschlägt in einen Tadel genau der geistigen Operationen, die gegen das einfache Erzählen als Fortschritt des historischen Denkens gekehrt worden sind. Ich halte diese dichotomische Art, vom Erzählen in der Geschichtsdidaktik und in der Geschichtstheorie zu sprechen, aus einem historischen und einem systematischen Grund für verhängnisvoll: In historischer Hinsicht wiederholt sich mit ihr eine Entgegensetzung zwischen einfühlendem Verstehen und berechnendem Verstand, mit der sich die Geschichtswissenschaft - vor allem in Deutschland - vor produktiven Herausforderungen im Kontext mit anderen Wissenschaften und mit den Orientierungsproblemen ihrer Gegenwart verschlossen und isoliert hatte. Friedrich Meinecke hatte den Historismus als "Auflehnung der irrationalen Seelenkräfte, des Vollmenschen gegen die auskältende Aufklärung und mechanisierende Zivilisation" gefei-

36 37 38

Vgl. dazu: Stone, Lawrence: The Revival of Narrative: Reflections on a New Old History, in: Past and Present 85 (1979), S.3-24. Z.B. bei Mann, Golo: Plädoyer für die historische Erzählung, in: Kocka/Nipperdey (Eds): Theorie und Erzählung (Anm.35), S.40-56. White, Hayden: Meta-History. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore/London 1973 (dt.: Meta-History. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/Main 1992).

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ert 39 , und dies zu einer Zeit, als die verhängnisvolle Auswirkung einer solchen Dichotomie auf die deutsche politische Kultur augenfällig war. Eine Erneuerung dieser Tradition des Historismus kostete einen zu hohen Preis an methodischem Fortschritt in der historischen Forschung und an politischer Kultur in der Orientierungsleistung der Geschichtswissenschaft. In systematischer Hinsicht verstellt diese Dichotomie die Einsicht darin, daß Erzählen und diskursive Vernunfttätigkeit in den geistigen Operationen des Geschichtsbewußtseins keine Alternativen darstellen, sondern zwei Seiten ein und derselben Sache sind. Diese innere Einheit von beidem, von Erzählen und diskursiver Vernunfttätigkeit, von Imagination und Verstand, von narrativer Sinnbildung und diskursiver Argumentation in den Grundlagen der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik möchte ich im folgenden herausarbeiten. Dabei möchte ich zweierlei zeigen: Einmal, daß man einen umfassenderen Erzählbegriff braucht als den landläufigen, einen Erzählbegriff also, der prinzipiell auch die Elemente und Faktoren des historischen Denkens umgreift, die als Gegensatz zum Erzählen aufgefaßt werden; denn ohne einen erweiterten Erzählbegriff kann man nicht hinreichend verstehen, was es heißt, Geschichte als Wissenschaft zu betreiben. Zweitens möchte ich zeigen, daß die Geschichtsdidaktik diesen geschichtstheoretisch erweiterten und präzisierten Erzählbegriff braucht, um die Lernprozesse zu thematisieren, die spezifisch für die historische Bildung sind. Dies möchte ich in folgenden Argumentationsschritten darlegen: Ich möchte von der These der narrativen Struktur der historischen Erkenntnis ausgehen (2.) und das historiographische Erzählen als den für das menschliche Geschichtsbewußtsein maßgeblichen geistigen Vorgang (kurz) charakterisieren. Dann (3.) möchte ich zeigen, daß die Geschichte als Wissenschaft eine besondere Ausformung dieser allgemeinen und elementaren geistigen Operationen des Geschichtsbewußtseins darstellt. Um dann von der Abstraktheit der allgemeinen Struktur des historiographischen Erzählens zu seiner konkreten empirischen Mannigfaltigkeit vorzustoßen, möchte ich (4.) eine Typologie des historischen Erzählens skizzieren, mit der sich die Einheit des Geschichtsbewußtseins gleichsam in die Vielfalt seiner historiographischen Manifestationen auseinanderlegen und diese Vielfalt begreifen läßt.

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Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus (Werke, Bd.3). München 1959, S.387. Vgl. dazu: Rüsen, Jörn: Friedrich Meineckes 'Entstehung des Historismus'. Eine kritische Betrachtung, in: ders.: Konfigurationen des Historismus (Anm.6), S.331-356.

Bis dahin hat sich die Argumentation im Rahmen einer erzähltheoretisch entworfenen Historik bewegt. Im daran anschließenden Teil möchte ich die wichtigsten geschichtsdidaktischen Konsequenzen angeben, die sich aus dieser geschichtstheoretischen Argumentation ziehen lassen. Diese Konsequenzen sehe ich in folgenden vier Punkten: (5.) in einer Präzisierung von Geschichtsbewußtsein als Gegenstand der Geschichtsdidaktik, (6.) in der Identifikation des obersten Ziels des historischen Lernens als narrative Kompetenz, dann (7.) in einer Hypothese zur Entwicklungslogik des Geschichtsbewußtseins und schließlich (8.) in einer Charakterisierung von Multiperspektivität als Prinzip des historischen Erzählens im Geschichtsunterricht. 2. Was heißt narrative Struktur der historischen Erkenntnis? Seitdem Arthur Danto die Eigenart einer historischen Erklärung als narrative Erklärung entdeckt und dargelegt hat, daß Erzählen selber eine Form des Erklärens ist, und zwar genau diejenige, die für die historische Erkenntnis spezifisch ist 40 , seitdem hat der Erzählbegriff in der Geschichtstheorie eine irritierende Bedeutungserweiterung erfahren. Er bezeichnet nicht mehr nur eine Weise der Geschichtsschreibung neben anderen, sondern die Form, die eine Erkenntnis hat, wenn sie als historische angesprochen werden kann. Hans Michael Baumgartner hat in einer transzendentalphilosophischen Argumentation dargelegt, daß es sich immer dann, wenn man von 'Geschichte' spricht, formal um das Resultat einer Konstitutionsleistung des menschlichen Bewußtseins handelt, um ein Sinngebilde ganz besonderer Art. Diese besondere Art besteht in der formalen Struktur einer Geschichte.41 Erzählen ist nun nichts anders, als der Vollzug dieser konstitutiven Leistung des menschlichen Bewußtseins. 42 Die Geschichtstheorie operiert also mit dem Begriff der Erzählung und bezeichnet damit die formale Struktur der historischen Erkenntnis, und sie nennt 'Erzählen' den Vorgang im menschlichen Bewußtsein, in dem sich diese Struktur bildet. Was ist mit diesem formalen und abstrakten Erzählbegriff eigentlich gewonnen? Besagt er noch etwas, oder führt er nur in eine Nacht, in der alle Kühe des historischen Denkens, alle unterschiedlichen Wei40 41

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Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt/Main 1974. Baumgartner, Hans Michael: Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: ders.; Rüsen, Jörn (Eds): Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. Frankfurt/Main 1976, S.274-302; ders., Narrativität, in: Bergmann u.a. (Eds): Handbuch (Anm.29), S.226-228. Vgl. Röttgers, Kurt: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten. Freiburg 1982; Ferner Lübbe, Hermann: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie. Basel 1977.

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sen der historischen Interpretation und der Geschichtsdarstellung, schwarz sind? Er besagt etwas sehr Entscheidendes: Mit ihm läßt sich genau bezeichnen, worin die Eigenart des historischen Denkens neben anderen Denkformen besteht. Er bezeichnet also genau das, was man immer schon voraussetzen muß und immer schon vorausgesetzt hat, wenn man über Vorteile und Nachteile bestimmter Arten des historischen Denkens und der Geschichtsschreibung streitet. Er bedeutet den Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht. Wie kommt man nun von diesem Erzählbegriff zu den konkreten Problemstellungen, in denen die Geschichtsdidaktik das historische Denken diskutiert? Dies ist dadurch möglich, daß die Leistung, die das menschliche Bewußtsein vollzieht, wenn es etwas als Geschichte in der Form einer Erzählung an- und ausspricht, genauer in den Blick genommen wird: Es handelt sich um den Vorgang, in dem sich das menschliche Bewußtsein als Geschichtsbewußtsein und zugleich 'Geschichte' als Inhalt dieses Bewußtseins konstituieren. Es handelt sich hier um das lebensweltliche Phänomen der Orientierung handelnder und leidender Menschen in der Zeit. Menschen können nur handeln, wenn sie über Orientierungen ihres Handelns verfügen, die ihre handlungsleitenden Absichten und die ihr Handeln bedingenden Erfahrungen so aufeinander abstimmen, daß die Handelnden jeweils wissen können, was sie tun. In dieser Orientierungsleistung gewinnt Zeit als Erfahrung der Veränderung des Menschen und seiner Welt Sinn, insofern diese Erfahrung auf die handlungsleitenden Absichten bezogen werden, die diese zeitliche Veränderung betreffen. Zeit als Handlungsabsicht und Zeit als Handlungsbedingung werden in den inneren Zusammenhang einer Orientierung der menschlichen Lebenspraxis gebracht. In dieser Orientierung sind Zeit als Erfahrung der Veränderung des Menschen und seiner Welt und Zeit als Erwartung und Hoffnung solcher Veränderung so aufeinander bezogen, daß sich der Mensch gleichsam im Fluß der Zeit einrichten kann, daß er in ihm nicht untergehen muß, sondern auf ihm schwimmen kann. Diese Deutungsleistung des menschlichen Bewußtseins, durch die Zeiterfahrungen auf Zeiterwartungen (und -hoffnungen) bezogen werden, in denen also Sinn über Zeiterfahrung gebildet wird, wird durch die Sprachhandlung des Erzählens vollbracht. In dieser Sprachhandlung bildet sich 'Geschichte' als Sinngebilde einer gedeuteten Zeiterfahrung. Worum es im Erzählen als lebensweltlichem Prozeß der Sinnbildung über Zeiterfahrung geht, hat Shakespeare in folgendem Dialog zugleich anschaulich und präzise dargelegt:

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King Henry: O God! that one might read the book of fate, And see the revolution of the times... ... how chances mock And changes fill the cup of alteration With divers liquors! O, if this were seen, The happiest youth, viewing his progress through, What peril past, what crosses to ensure, Would shut the book, and sit him down and die... Warwick: There is a history in all men's lives, Figuring the nature of the times deceased;... King Henry: Are these things then necessities? Then let us meet them like necessities... 43 Zusammenfassend läßt sich also sagen: Erzählen ist eine lebensnotwendige kulturelle Leistung, es ist eine elementare und allgemeine Sprachhandlung, durch die Zeiterfahrungen gedeutet, d.h. auf oberste Gesichtspunkte der bewußten Organisation der menschlichen Lebenspraxis bezogen werden. 44 Das Resultat einer solchen Deutung ist das Sinngebilde einer 'Geschichte'. Erzählen ist Sinnbildung über Zeiterfahrung und gehört damit zu dem elementaren und allgemeinen Phänomen kultureller Daseinsbewältigung, die die Menschen als Gattung definieren. Die bisherige Beschreibung dessen, was Erzählen als Sprachhandlung und 'Geschichte' als Resultat dieser Handlung darstellt, ist noch zu allgemein, als daß damit schon die für das historische Denken konstitutiven Operationen hinreichend ausgemacht worden wären. Die Besonderheit des historischen Erzählens im Unterschied zum Erzählen überhaupt und damit auch die Besonderheit von 'Geschichte' als Gegenstandsbereich des historischen Denkens bestehen in folgenden drei Eigenschaften einer Sinnbildung über Zeiterfahrung: (1.) Das Erzählen ist gebunden an das Medium der Erinnerung; die Erinnerung präsentiert ihm die Erfahrung zeitlicher Veränderung des Menschen und seiner Welt in der Vergangenheit (die im Hinblick auf eine gegenwärtige Zeiterfahrung gedeutet werden muß). Erzählend 43 44

Shakespeare: King Henry IV., 2. Teil, 3. Akt. 1. Szene. Dieser Erzählbegriff wird in seiner grundsätzlichen, auch und gerade geschichtsdidaktischen Bedeutung dargelegt und verwendet von Becher, Ursula A. J.: Didaktische Prinzipien der Geschichtsdarstellung, in: Jeismann, KarlErnst; Quandt, Siegfried (Eds): Geschichtsdarstellung. Göttingen 1982. Ich kann mit diesem Verweis nur sehr unvollkommen ausdrücken, wieviel ich Ursula Becher verdanke. Wir haben die im Folgenden angesprochenen Grundprobleme der Geschichtsdidaktik oft und lange (und auch kontrovers) diskutiert, und dabei habe ich sehr viel von ihr gelernt. - Vgl. auch die knappen, aber instruktiven Bemerkungen von Gumbrecht, Hans Ulrich: Erzählen in der Literatur - Erzählen im Alltag, in: Ehlich, Konrad (Ed.): Erzählen im Alltag, Frankfurt/Main 1980. S.403419.

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wird diese Zeiterfahrung der Vergangenheit so gedeutet, daß die gegenwärtig erfahrene zeitliche Veränderung verstanden und Zukunft in Form einer Handlungsperspektive erwartet werden kann. Auf diese Einbindung des Erzählens ins Medium der Erinnerung beruht letztlich der immer wieder als Spezifikum des historischen Denkens angesehene Tatsachenbezug des historischen Erzählens, mit dem es von der Fiktionalität der für die Literatur als Kunst spezifischen Weise des Erzählens unterschieden wird. (2.) Eigentümlich für den historischen Charakter des Erzählens und für 'Geschichte' als inhaltliche Bestimmung des Erzählten ist es ferner, daß im Erzählen die Sinndeutung über Zeiterfahrung in der Form einer 'Kontinuitäts'-Vorstellung45 erfolgt, die Zeiterfahrung und Zeitabsicht in einen inneren Zusammenhang bringt. 'Kontinuität' meint eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifende Zeitverlaufsvorstellung, in die die Sachverhalte der Vergangenheit eingehen und durch die sie zu 'Geschichte' werden. Eine solche Zeitverlaufsvorstellung leistet eine fundamentale Sinnbestimmung von Geschichte; mit ihr wird Zeiterfahrung durch historisches Erzählen gedeutet; sie schließt die drei Zeitdimensionen zusammen in die Einheit einer handlungsleitenden Zeitorientierung. (3.) Schließlich beruht die Eigentümlichkeit des historischen Erzählens auch darin, welcher Gesichtspunkt den Ausschlag gibt für die Bildung der Zeitverlaufsvorstellung, mit der die Zeiterfahrung der Erinnerung zum Sinngebilde einer Geschichte geordnet wird. Ausschlaggebend dafür, welche Kontinuitätsvorstellungen gebildet werden, ist die Absicht der Erzählenden und ihrer Zuhörer, durch die erzählten Geschichten ihre eigene Identität 46 in den zeitlichen Veränderungen ihrer selbst und ihrer Welt zu sichern: Die Kontinuitätsvorstellungen müssen die Funktion einer Vergewisserung menschlicher Identität im Wandel der Zeit erfüllen können. Geschichten werden (historisch) erzählt, weil die Erzählenden und ihre Zuhörer nur sie selbst sein und bleiben können, wenn sie sich in den zeitlichen Veränderungen ihrer selbst und ihrer Welt als sie selbst behaupten, wenn sie also im Wandel der Zeit ihre Identität zur Geltung bringen können.

45 46

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Baumgartner, Hans Michael: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt/Main 1972. Zum Verhältnis von Identität und Geschichtsbewußtsein vgl. Bergmann, Klaus: Identität, in: ders. u.a. (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Anm.29), S.2936; Lübbe, Hermann: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse (Anm.42); Becher, Ursula A. J.: Personale und historische Identität, in: Bergmann, Klaus; Rüsen, Jörn: (Eds): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis. Düsseldorf 1978, S.57-67. Vgl. auch: Marquard, Odo; Stierle, Karlheinz (Eds): Identität. München 1979.

Diese so skizzierte lebensweltliche, d.h. allgemeine und elementare Bewußtseinsoperation des historischen Erzählens liegt allen Artikulationen von Geschichtsbewußtsein konstitutiv zugrunde. Ohne sie kann also auch das Geschichtsbewußtsein nicht verstanden werden, das für die Geschichte als Wissenschaft spezifisch ist, und auch dasjenige nicht, das als Lernprozeß von der Geschichtsdidaktik thematisiert wird. 3. Geschichtswissenschaft als Erzählveranstaltung Wenn die Sprachhandlung des Erzählens in der skizzierten Spezifikation des historischen Erzählens konstitutiv ist für das Geschichtsbewußtsein, dann muß die Geschichtswissenschaft als eine besondere Veranstaltung des historischen Erzählens begriffen werden. Worin besteht diese Besonderheit? Wodurch unterscheidet sich Geschichte als Wissenschaft von den vielen anderen Weisen des historischen Erzählens? Ich möchte behaupten, daß die Geschichte als Wissenschaft nicht dadurch definiert ist, daß in ihr Geschichte(n) anders erzählt werden als sonst, sondern daß sie etwas, das in jedem historischen Erzählen erfolgt, auf eine ganz besondere Weise vollzieht: Es handelt sich darum, daß in allem historischen Erzählen mindestens tendenziell die Wahrheitsansprüche der erzählten Geschichten durch Begründungen gegen möglichen Zweifel gesichert werden. 47 Zweifel sind Geschichten deshalb immer ausgesetzt, weil das historische Erzählen in sozialen Kontexten erfolgt, in denen nichts Geringeres auf dem Spiele steht als die Identität der miteinander Zusammenlebenden. Da dieser Lebenszusammenhang immer auch durch das Element der Herrschaft bestimmt ist, stehen die zum Zwecke der Zeitorientierung erzählten Geschichten dort, wo es in ihnen um die Identität ihrer Adressaten geht (und dieser Bezug ist konstitutiv für den Sinn der Geschichten) unter besonderem Rechtfertigungsdruck. Im historischen Erzählen spielen also grundsätzlich Gesichtspunkte der Geltungssicherung eine wichtige Rolle. Geschichte als Wissenschaft kann nun verstanden werden als die Weise des historischen Erzählens, in der diese Gesichtspunkte ganz besondere Beachtung finden: Geschichte als Wissenschaft unterscheidet sich von allen anderer Arten des historischen Erzählens dadurch, daß sie die in allem historischen Erzählen zumindest angelegten Begründungen für die 47

Vgl. hierzu und zum Folgenden: Rüsen, Jörn: Geschichte und Norm, Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis, in: ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt 1990, S.77-105; ders., Historische Vernunft (Anm.5).

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Geltung der erzählten Geschichten systematisch aufarbeitet und zu einem Gefüge regelhafter Prozesse institutionalisiert. Dieses institutionelle Gefüge kann hier im einzelnen nicht dargelegt werden. Andeutungsweise sei lediglich darauf verwiesen, daß Geschichten Begründungen für den Geltungsanspruch, den sie hinsichtlich der Zeitorientierung der aktuellen Lebenspraxis ihrer Adressaten erheben, auf verschiedene Weise geben können, je nachdem, was an ihnen bezweifelt wird: Sie können durch Hinweis auf Erfahrungen ihren Tatsachengehalt begründen, durch Hinweis auf Normen ihren Bedeutungsgehalt und durch Hinweis auf Prinzipien der Handlungsorientierung ihren Sinngehalt. Geschichte beruht als Wissenschaft darauf, daß dem historischen Erzählen grundsätzlich - also schon auf der Ebene ihrer lebensweltlichen Allgemeinheit und Elementarität - Begründungsmöglichkeiten zukommen. Diese Begründungsmöglichkeiten können als Vernunftoder Rationalitätschancen des historischen Erzählens bezeichnet werden. Es ist also nicht so, daß diskursives Argumentieren dem historischen Erzählen äußerlich wäre, daß also das 'eigentliche' historische Erzählen jenseits der menschlichen Verstandestätigkeit angesiedelt wäre, etwa im Bereich prä- oder gar irrationaler poetischer Sinnstiftungen, so daß alles argumentierende Umgehen mit der geschichtlichen Erfahrung etwas Sekundäres, etwas Hinzukommendes wäre, über dem man die eigentlichen Vorgänge der historischen Sinnbildung leicht übersieht. Das historische Erzählen ist vielmehr grundsätzlich und immer schon diskursiv, weil es als Sprachhandlung im Interaktionszusammenhang der menschlichen Lebenspraxis steht, und weil diese Interaktion nicht so gedacht werden kann, daß die miteinander Interagierenden immer dort von vornherein schon ihren Verstand verloren haben, wo es ihnen darum geht, ihre Identität im Umgang mit anderen zur Geltung zu bringen. Dort also, wo in der Interaktion durch historisches Erzählen die miteinander umgehenden Menschen ihren Verstand gebrauchen, um sich in der Zeitorientierung ihrer Lebenspraxis zur Geltung zu bringen, ist Wissenschaft lebensweltlich begründet. Geschichte ist als Wissenschaft die Ausschöpfung der Rationalitätschancen des historischen Erzählens in der Form methodischer Regeln. Wissenschaftsspezifisch wird das historische Erzählen dann, wenn es an methodische Regeln gebunden wird, die es darauf verpflichten, seine Geltungsansprüche systematisch überprüfbar zu machen, zu sichern und zu steigern. Dies geschieht in durchaus verschiedenen Hinsichten, in denen Geschichten bezweifelt und Zweifel durch Begründungen ausgeräumt werden. Man kann diese Hinsichten als diejenigen der empirischen, der normativen und der narrativen Triftig-

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keit von Geschichten systematisieren und zeigen, wie jeweils in ihnen das historische Erzählen wissenschaftsspezifisch erfolgt. Hinsichtlich ihrer empirischen Triftigkeit werden Geschichten wissenschaftlich, wenn ihre Erzählung den methodischen Regeln der historischen Forschung folgt. Diese Regeln unterwerfen das historische Denken dem Gebot, den Tatsachengehalt von Geschichten an der Erfahrung überprüfbar zu machen und mit der Erfahrung zu steigern und zu sichern. Folgt das historische Erzählen diesem Gebot, dann gewinnt es eine für die Geschichte als Wissenschaft charakteristische Eigenart: Es gerät in die Bewegung eines dauernden Erkenntnisfortschritts. Hinsichtlich ihrer normativen Triftigkeit, also hinsichtlich ihres Anspruchs, wichtig für die Zeitorientierung der aktuellen Lebenspraxis zu sein, werden Geschichten wissenschaftlich, wenn ihre Erzählung den Regeln der historischen Standpunktreflexion folgt. Diese Regeln unterwerfen das historische Denken dem Gebot, den Bedeutungsgehalt von Geschichten an den bedeutungsverleihenden Normen überprüfbar zu machen und durch die Normen zu steigern und zu sichern, die unterschiedliche Standpunkte in der Lebenspraxis des Erzählers und seiner Zuhörer umgreifen und die die wechselseitige Anerkennung dieser Standpunkte regeln. Folgt das historische Erzählen diesem Gebot, dann gewinnt es ebenfalls eine für die Geschichte als Wissenschaft charakteristische Eigenschaft: Es gerät in die Bewegung einer dauernden Perspektivenerweiterung. Mit dem Begründungskriterium der narrativen Triftigkeit wird das angesprochen, was man den 'Sinn' einer Geschichte nennt; er besteht in einer gelungenen Synthese von Erfahrungs- und Bedeutungsgehalten, und diese Synthese wird im Prozeß des Erzählens realisiert. Maßgebend für das Gelingen dieser Synthese sind die leitenden Gesichtspunkte, nach denen die Zeiterfahrung der Vergangenheit so gedeutet wird, daß mit ihr die zeitlichen Veränderungen der Gegenwart verstanden und Zukunft erwartet werden kann. Die Plausibilität dieser Gesichtspunkte hängt davon ab, ob und inwieweit sie mit dem common sense der aktuellen Lebenspraxis übereinstimmen und als Explikation und Spezifikation dieses common sense gelten können. Hinsichtlich dieser narrativen Triftigkeit werden Geschichten nun wissenschaftlich, wenn ihre Erzählung den Regeln der konstruktiven Theoriebildung folgt. Diese Regeln unterwerfen das historische Denken dem Gebot, den Sinngehalt von Geschichten durch Theorien (explizite Bezugssysteme der historischen Interpretation) überprüfbar zu machen, zu steigern und zu sichern. Folgt das historische Erzählen diesem Gebot, dann realisiert es genau dort, wo handlungsbestimmende Zeiterfahrungen und handlungsleitende (normative) Zeiterwartungen zur Einheit einer Geschichte synthetisiert werden, eine Bewegung, in der diejenige des Erkenntnisfortschritts und diejenige

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der Perspektivenerweiterung konvergieren. Da das für das historische Erzählen maßgebliche Sinnkriterium letztlich aus der Absicht des Erzählers und seiner Zuhörer entspringt, ihre Identität im Wandel der Zeit zur Geltung zu bringen, kann diese Bewegung, in die die wissenschaftsspezifische Theoretisierung des Sinngehalts von Geschichten das historische Erzählen bringt, als Bewegung der Identitätssteigerung (durch Erkenntnisfortschritt und Perspektivenerweiterung) charakterisiert werden. Geschichte als Wissenschaft bringt also in den Sinnbildungsprozeß des historischen Erzählens nichts qualitativ anderes ein, sondern sie läßt diese Sinnbildung gleichsam aus sich selbst eine neue Qualität gewinnen, indem sie die in ihm selbst beschlossenen Begründungsleistungen systematisiert und steigert. Die Geschichte bringt als Wissenschaft die innere Diskursivität des historischen Erzählens zur Geltung und treibt sie auf die Spitze, indem sie das historische Erzählen in ein Gefüge komplexer methodischer Regeln einbindet, mit dem sich die Diskursivität des historischen Erzählens gleichsam institutionalisiert. Diese Sichtweise auf die Geschichtswissenschaft ist für die Geschichtsdidaktik deshalb bedeutsam, weil in ihr die Wissenschaft von vornherein und grundsätzlich eine lebenspraktische Bedeutung erhält. Sie erhält diese Bedeutung gerade dort, wo sie sich durch ihre spezifische Art des argumentierenden Denkens, seiner methodischen Regelung und Institutionalisierung zu einem Fach für Professionelle von vielen anderen Weisen des historischen Denkens und seiner Verlautbarung in der menschlichen Lebenspraxis fundamental unterscheidet. Diese Unterscheidung kann nicht als Verfremdung des historischen Erzählens im Sinne einer zunehmenden Lebensferne aufgefaßt und kritisiert werden, sondern sie muß als Annäherung an das 'Leben' genau in dem Maße anerkannt werden, in dem die Orientierung der menschlichen Lebenspraxis in der Zeit auf das Medium der diskursiven Argumentation angewiesen ist. (Es versteht sich fast von selbst, daß in dieser Betrachtungsweise die Geschichtswissenschaft nicht gegen eine Kritik ihrer Lebensdienlichkeit immunisiert wird. Eine solche Kritik wird nur insofern sachgerechter, als sie im Rahmen eines erzähltheoretischen Verständnisses von Geschichtswissenschaft dort ansetzen kann, wo die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft im 'Leben' selber entspringt.)

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4. Funktionstypologische Differenzierungen des historiographischen Erzählens Die bisherigen Ausführungen zur Eigenart und Funktion des historischen Erzählens und zu seiner Verwissenschaftlichung haben von der bunten Vielfalt abgesehen, in der sich das Geschichtsbewußtsein konkret artikuliert. Wie kommt man von der abstrakt-allgemeinen Bestimmung des historischen Erzählens als lebensweltliches Phänomen zur konkret-besonderen Bestimmung und kritischen Sichtung dieser Vielfalt, ohne sich hier zu verlieren, d.h. vor lauter Unterschieden in Art, Inhalt, Form und Funktion des historischen Denkens und der Geschichtsdarstellung die zugrundeliegende Gemeinsamkeit des historischen Erzählens zu übersehen? Wie läßt sich das Allgemeine und Elementare des historischen Erzählens im Besonderen und Komplexen jeweils konkret gegebener Manifestationen von Geschichtsbewußtsein ausmachen, ohne daß hier die Vielfalt zugunsten eines abstrakten Einerlei übersehen würde? Dieser Schritt vom Abstrakten zum Konkreten läßt sich in der Form einer Typologie des historischen Erzählens gehen. 48 Eine solche Typologie knüpft an die oben dargelegte Grundfunktion des historischen Erzählens an. Was nun jeweils als Kontinuitätsvorstellung über welche Erfahrungen der Vergangenheit gebildet wird und identitätsbildend in aktuelle Handlungsorientierungen eingeht, das hängt von den Umständen, Verhältnissen und Absichten (Interessen) derjenigen ab, an die die erzählten Geschichten adressiert sind. Deren Formenvielfalt und unterschiedliche inhaltliche Ausprägungen dessen, was als Sinngebilde 'Geschichte' präsentiert wird, muß deshalb aber nicht als eine regellose Menge unterschiedlicher Reaktionen auf unterschiedliche Handlungssituationen angesehen werden, sondern sie läßt sich auf eine begrenzte Anzahl von Funktionen und funktionsspezifischen Sinnkriterien des historischen Erzählens und auf deren Kombinationsmöglichkeiten hin durchsichtig machen und strukturieren. Diese Gesichtspunkte ergeben sich aus den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit menschliche Subjekte ihr Handeln und Leiden absichtsvoll durch Erinnerungen im erfahrenen Zeitfluß so situieren können, daß sie sich in ihm nicht verlieren, sondern zur Geltung bringen können. Als solche Bedingungen lassen sich ausmachen: die Anknüpfung an Tradition als Orientierungsvorgabe; der Bezug auf allgemeine Regeln der Lebenspraxis; die Möglichkeit, von Traditionsvorgaben und allgemeinen Regelungen in der Daseinsorientierung abweichen zu können; die Orientierung der Lebenspraxis an Richtungen von Veränderungen. Diesen vier Orientierungsmöglichkeiten ent48

Dazu ausführlicher Rüsen, Jörn: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders.: Zeit und Sinn (Anm.47), S.153-230.

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sprechen vier Funktionstypen des historischen Erzählens: das traditionale, das exemplarische, das kritische und das genetische historische Erzählen. Das traditionale Erzählen erinnert an die Ursprünge, die gegenwärtige Lebensverhältnisse begründen, stellt Kontinuität als Dauer vor, die die ursprünglich gestifteten Lebensordnungen erneuert, und bringt Identität durch Affirmation vorgegebener Identitätsdefinitionen zur Geltung. Diese Orientierungsfunktion des traditionalen Erzählens wird durch Geschichten erfüllt, die den Ursprung von Lebensumständen und -Verhältnissen so erinnern, daß die von diesen Umständen und Verhältnissen Betroffenen aktuelle Zeiterfahrungen als Impulse zur Erneuerung dieses Ursprungs verarbeiten und demgemäß Zukunft als dessen Wiederkehr erwarten und absichtsvoll intendieren können. 'Kontinuität' wird als Dauer dieses Ursprungs vorgestellt. Mit solchen Geschichten wird die Identität ihrer Adressaten als sich im Zeitfluß gleichbleibende, als zeitlich unbewegte perpetuiert. Identität bedeutet hier eine (lebensnotwendige) Veränderungsresistenz im Selbstverhältnis von handelnden und leidenden Menschen. Vergangenheit und Zukunft sind zu einer Dauer gegenwärtig wirksamer Lebensordnungen verschmolzen, die vom Fluß der Zeit getragen und der Vergänglichkeit enthoben sind. Durch traditionales Erzählen wird Zeit als Sinn verewigt. Beispiele für Geschichten, in denen dieser Typ des historischen Erzählens dominiert, sind: Ursprungsmythen; Geschichten, die den Zweck traditionaler Herrschaftslegitimation verfolgen; Geschichten, in denen Religionsgemeinschaften ihre Stiftung gegenwärtig halten; Geschichten, die aus Anlaß von Jubiläen erzählt oder geschrieben werden. Das exemplarische Erzählen erinnert an Beispiele, die Regeln gegenwärtiger Lebensverhältnisse konkretisieren, stellt 'Kontinuität' als Geltung dieser Regeln vor, die zeitlich verschiedene Lebensordnungen umgreifen, und bringt Identität durch Generalisierung von Zeiterfahrungen zu Handlungsregeln (also als Regelkompetenz) zur Geltung. Dieses Erzählen stellt Veränderungen nicht in der Dauer dessen still, was in ihnen als handlungsorientierender Faktor gleich bleibt, sondern es erschließt Veränderungen als Spielraum unterschiedlicher Anwendungen gleicher Handlungsregeln. Dieses Erzählen befähigt seine Adressaten dazu, sich im Bewußtsein einer zeitenthobenen Geltung von Handlungsregeln in die Vielfalt von äußeren Handlungsbedingungen hineinzubegeben und sich in ihr zur Geltung zu bringen. Durch exemplarisches Erzählen wird Zeit als Sinn verräumlicht (zu einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender Normen und zur Variationsbreite ihrer Geltung).

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Dieser Typ des exemplarischen Erzählens dominiert in all den Geschichten, die der Devise "historia magistra vitae" folgen. Er formt sich also in den Geschichten aus, die positive oder negative Vorbilder formulieren, in Geschichten, die aus Erfahrungen der Vergangenheit, wie klug bzw. wie unklug man damals war, allgemeine Erfahrungsregeln erheben, die Handlungssubjekte klug für immer machen. Das kritische Erzählen erinnert an Abweichungen, die gegenwärtige Lebensverhältnisse in Frage stellen, stellt 'Kontinuität' als Alterierung vorgegebener Zeitverlaufsvorstellungen vor und bringt Identität durch Negation identitätsbildender Deutungsmuster der Zeiterfahrung, also als Kraft, nein sagen zu können, zur Geltung. Dieser Erzähltyp dominiert in Gegengeschichten, die bislang unangefochtene Zeitverlaufsvorstellungen aufbrechen, indem sie ihnen widersprechende Zeiterfahrungen der Vergangenheit ins Gedächtnis rufen. Sie ermöglichen die Bildung neuer Zeitverlaufsvorstellungen, indem sie die alten wegarbeiten. Das kritische Erzählen ist eine Waffe im Kampf um die Erinnerung als eines der Symbole, das Herrschaft über Identitätszuweisungen regelt. Indem es Handlungsorientierungen der Gegenwart durch Erinnerung daran in Frage stellt, daß Handeln auch anders sinnvoll orientiert werden kann, bringt es die Identität seiner Adressaten als deren Kompetenz zur Normveränderung zur Geltung. Durch kritisches Erzählen wehren Handlungssubjekte Definitionen ihrer Identität durch ihnen vorgegebene Zeitverlaufsvorstellungen ab. Sie bringen das, was sie sind, dadurch zum Ausdruck, daß sie das nicht sein wollen, was sie gewesen sein müssen, wenn sie bestimmten Deutungsmustern ihrer Zeiterfahrung folgen. Durch kritisches Erzählen wird Zeit als Sinn beurteilbar. Dieser Typ des historischen Erzählens dominiert in Geschichten die der Direktive von Voltaire folgen: "Wenn ein gesunder Kopf die Historie liest, ist es fast sein einziges Geschäft, sie zu widerlegen." 49 Kritisch erzählt wird in Geschichten, die von der Frage geleitet werden, ob es wirklich so war, wie bisher behauptet wurde, oder auch von der Frage, ob man bestimmte Tatsachen der Vergangenheit wirklich so deuten kann, wie es bisher versucht wurde. Solche Geschichten sind immer dann notwendig, wenn Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart gegen Deutungsmuster der historischen Erfahrung gekehrt werden sollen, die ihnen nicht mehr entsprechen, damit neue Muster an ihre Stelle treten können.

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Voltaire: Essai sur les moeurs et l'esprit des nations, Kap. 51, in: Oeuvres complètes de Voltaire, Ed. Moland. Paris 1877ff., Bd.11, S.427 (dt.: Farr, Wolfgang: Voltaire und die Frage nach der Geschichte, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 32 (1980), S.104-124, zit. S.105.).

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Das genetische Erzählen erinnert an Transformationen, die andere Lebensverhältnisse in gegenwärtige münden lassen, es stellt 'Kontinuität' als Entwicklung vor, in der sich Lebensordnungen verändern, um sich (dynamisch) auf Dauer zu stellen, und bringt Identität durch Vermittlung von Dauer und Wandel zu einem (Bildungs)Prozeß zur Geltung. Dieses Erzählen erinnert an Strukturveränderungen eines Systems als notwendige Bedingung dafür, daß es sich im Zeitfluß auf Dauer stellen kann. Zeitliche Veränderungen werden als Modi der Kontinuierung selber interpretiert; der Schrecken, anders zu werden, wird als Chance sichtbar gemacht, derjenige zu werden, der man immer schon gewesen sein wollte. Im Lichte dieses Erzähltyps erscheinen erfahrene Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse als Prozesse, in denen sie sich selbst transzendieren und eben dadurch auf Dauer stellen. Herkunft und Zukunft werden in der Form einer qualitativen Differenz auseinandergehalten, zugleich aber auch mit der Vorstellung eines Übergangs von der einen Qualität zur andern zusammengeschlossen. Dieser Funktionstyp bringt ein dynamisches Moment in die Deutungsmuster der Erinnerung: Die Kräfte der Veränderung werden als Faktoren der Kontinuierung gedeutet; die Unruhe der Zeit wird als Motor ihrer Stetigkeit vorgestellt. Geschichten, die diesen Funktionstyp realisieren, dienen der Identitätsbildung, indem sie die zeitliche Bewegtheit menschlicher Subjektivität nicht als Drohung des Selbstverlustes, sondern als Chance des Selbstgewinns zur Geltung bringen. Durch genetisches Erzählen wird Identität als Selbstverhältnis des Menschen nicht wie im traditionalen Erzählen in der Zeit, nicht wie im exemplarischen Erzählen über der Zeit und auch nicht wie im kritischen Erzählen gegen die Zeit, sondern - wie man entsprechend sagen müßte - mit der Zeit mitgehend zur Sprache gebracht, also durch eine innere zeitliche Dynamisierung im menschlichen Selbstverhältnis gebildet. Durch genetisches Erzählen wird Zeit als Sinn verzeitlicht. Dieser Typ des genetischen Erzählens dominiert in all den Geschichten, in denen zeitliche Veränderungen als gerichtete Prozesse gedeutet werden, also als Fortschritt, Entwicklung usw. Mit dieser typologischen Differenzierung des historischen Erzählens läßt sich nun die Vielfalt aller Manifestationen von Geschichtsbewußtsein erschließen. Da die vier Typen niemals je für sich rein vorkommen, sondern in einem komplexen inneren systematischen Zusammenhang stehen, der sich im einzelnen als wechselseitige Implikation und als Tendenz, ineinander überzugehen, beschreiben läßt, bilden sie ein Netz von begrifflichen Bestimmungen, mit denen sich trefflich im Meer der empirischen Vielfalt des historischen Erzählens fischen läßt. Konkrete Manifestationen von Geschichtsbewußtsein lassen sich mit Hilfe dieser typologischen Unterscheidungen und des

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inneren Zusammenhangs der einzelnen Typen in ihrer Eigenart charakterisieren, und zwar sowohl in synchroner wie auch in diachroner Hinsicht. Berücksichtigt man nun, daß die Vernunfts- oder Rationalitätschancen des historischen Erzählens, die oben als Grundlage der Verwissenschaftlichung des historischen Erzählens charakterisiert wurden, je typenspezifisch auftreten, dann ergibt sich ein komplexes Instrumentarium zur Analyse und Interpretation des ganzen Reichtums der empirischen Erscheinungen des historischen Erzählens unter dem Gesichtspunkt, ob und wie vernünftig erzählt wird, und das heißt auch: ob und wie unter je verschiedenen Bedingungen (in je verschiedenen Erzählsituationen) vernünftig erzählt werden kann. Mit diesem (typologischen) Instrumentarium können historische Prozesse in der Veränderung des historischen Denkens und entsprechende Veränderungen in der historischen Darstellung ausgemacht und charakterisiert werden, genauso aber auch die Eigenart einzelner konkreter Manifestationen von Geschichtsbewußtsein. Die Historik bietet damit Bestimmungsmöglichkeiten des historischen Denkens an, die den ganzen Bereich seiner konkreten Manifestation in der Vielfalt höchst unterschiedlicher Geschichten abdecken. Was bedeutet dies für die Geschichtsdidaktik? 5. Geschichtsdidaktische Konsequenz I: Historisches Lernen als Bildung von Geschichtsbewußtsein durch Erzählen Die Geschichtsdidaktik beschäftigt sich mit dem Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß. Diese Gegenstandsbestimmung der Geschichtsdidaktik ist nicht neu, und sie ist auch nicht an die erzähltheoretische Wendung in der Historik gebunden. Mit Hilfe der erzähltheoretischen Historik lassen sich jedoch Probleme lösen, die die Thematisierung des Geschichtsbewußtseins in der Geschichtsdidaktik aufgeworfen hat und die bisher offen geblieben sind. Es handelt sich zunächst einmal um das Problem, worin die Einheit des Geschichtsbewußtseins gesehen werden muß. Man kann dieses Problem auch so formulieren: Worin liegt der eigentlich historische Charakter der einzelnen Lernvorgänge, die die Geschichtsdidaktik untersucht? Diese Problemstellung sei an zwei Beispielen aus der neueren geschichtsdidaktischen Diskussion illustriert.

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Karl Ernst Jeismann 50 hat als die für das Lernen von Geschichte maßgeblichen geistigen Operationen diejenigen der Analyse, des Sachurteils und der Wertung hervorgehoben, und er hat vorgeschlagen, die Schulung dieser Operationen als wichtigste Aufgabe des Geschichtsunterrichts anzusehen und zu behandeln. Dieser Vorschlag hat große Beachtung und Zustimmung (bis in Richtlinien des Geschichtsunterrichts hinein) gefunden. Läßt man sich auf ihn ein, d.h. analysiert man nun im Hinblick auf diese drei Operationen konkrete Manifestationen von Geschichtsbewußtsein und organisiert man in der gleichen Hinsicht den Geschichtsunterricht, dann ist dies nur möglich, wenn klar ist, worin die Einheit dieser drei Operationen und worin ihr spezifisch historischer Charakter besteht. Je für sich betrachtet, sind Analyse, Sachurteil und Wertung Operationen des menschlichen Bewußtseins, die überhaupt nicht spezifisch für das historische Denken sind. Um sie als Operationen im Bereich des Geschichtsbewußtseins ansehen und sich auf sie einlassen zu können, müssen sie als Faktoren des Geschichtsbewußtseins immer schon im Blick stehen: Jeismann geht von der Einheit des Geschichtsbewußtseins im systematischen Zusammenhang dieser drei Operationen und von einer spezifisch historischen Ausprägung dieser Operationen aus. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann gewinnen die genannten Operationen ihren historischen Charakter und ihre innere Einheit einfach dadurch, daß sie sich auf den Gegenstandsbereich 'Geschichte' beziehen - als läge dieser gleichsam fix und fertig vor allen Operationen des Geschichtsbewußtseins da. Der Konstitutionszusammenhang zwischen 'Geschichte' als Sachverhalt und Geschichtsbewußtsein als Tätigkeit des menschlichen Subjekts wird ausgeblendet, obwohl es dieser Zusammenhang ist, in dem die Einheit des Geschichtsbewußtseins und die spezifisch historische Ausprägung des denkenden Umgangs des menschlichen Bewußtseins mit Zeiterfahrungen beschlossen liegt. Ähnlich ist es in der (ebenfalls höchst folgenreichen) geschichtsdidaktischen Argumentation von Rolf Schörken.51 Er hat mit Nachdruck

50

51

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Jeismann, Karl-Ernst: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts, in: Behrmann, Günter C.; Jeismann, Karl-Ernst; Süssmuth, Hans (Eds): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978; ders.: 'Geschichtsbewußtsein'. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik, in: Süssmuth, Hans (Ed.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn 1980, S. 179-222. Schörken, Rolf: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23 (1972), S.81-89; ders., Kriterien für einen lernzielorientierten Geschichtsunterricht, in: Jäckel, Eberhard; Weymar, Ernst (Eds): Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Stuttgart 1975, S.280-293; ders.: Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt. Prolegomena zu einer Didak-

darauf hingewiesen, "daß die Prägung eines bestimmten historischpolitischen Weltverständnisses im Schüler nicht allein durch bestimmte Inhalte, sondern durch bewußtseinsstrukturierende Denkund Einstellungsprozesse vollzogen wird, die durchweg 'hinter' den Inhalten liegen und dem aufnehmenden Subjekt in aller Regel verborgen bleiben. Die didaktische Konsequenz kann hier nur lauten, Wege zu finden, das Unbemerkte zum Bemerkten zu machen und damit Gesc/»c/iisbewußtsein zu Geschichtsbewußtsein werden zu lassen." 52 Schörken spricht von "verhaltensbestimmenden geistigen Akten, die aller Beschäftigung mit Geschichte unterliegen." 53 Er charakterisiert sie näher als: "Herstellung von Identität, Loyalität, Sympathie...". 54 Auch abgesehen von der Frage, ob Identität sich als etwas bestimmen läßt, was man 'herstellen' kann (so daß es zum Umgang mit ihr einer technischen Handlungskompetenz bedürfte), stellen sich zwingend folgende Fragen: Welche Akte sind es, in denen und durch die sich Identität, Loyalität und Sympathie bilden? Fallen diese Akte alle in den Bereich des Geschichtsbewußtseins oder nicht? Sind mit solchen Akten schon die für das menschliche Geschichtsbewußtsein wesentlichen Operationen erfaßt oder nicht? Wie läßt sich angesichts verschiedener für das menschliche Geschichtsbewußtsein wesentlicher Operationen die Einheit des Geschichtsbewußtseins bestimmen, so daß die Geschichtsdidaktik das, was sie als ihren Gegenstandsbereich reklamiert, von den Bereichen anderer auf das menschliche Bewußtsein bezogener Wissenschaften (wie z.B. der Psychologie) sinnvoll abgrenzen (und damit auch ihr Verhältnis zu diesen anderen Wissenschaften genau regeln) kann? Auch Schörken scheint der Meinung zu sein, daß sich diese Fragen durch den Bezug des Geschichtsbewußtseins auf das "Sachfeld Geschichte" 55 schon hinreichend beantworten lassen. Es ist kein Zweifel, daß bei ihm der Begriff 'Rezeption' verwendet wird, um den Bezug dieses Bewußtseins auf seinen Inhalt, auf das, was in ihm 'Geschichte' ist, zu charakterisieren. Auch hier wird der Konstitutionszusammenhang zwischen 'Geschichte' und subjektiver Tätigkeit des auf ihn bezogenen Subjekts ausgeblendet, zumindest diejenige Seite dieses Konstitutionszusammenhangs, in dem die Produktivität des menschlichen Subjekts im Umgang mit der 'Geschichte' genannten Erfahrung von Zeit sichtbar wird. Eine erzähltheoretisch orientierte Historik liefert nun die Mittel, die man braucht, um diese Probleme der Geschichtsdidaktik zu lösen.

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tik des Fremdverstehens, in: Süssmuth: Geschichtsdidaktische Positionen (Anm.50), S.315-335. Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein (Anm.51), S.88. Ebd., S.84. Ebd. Ebd., S.82.

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Denn der von der Historik entwickelte Erzählbegriff stellt die Antwort dar auf die Frage nach der Einheit des Geschichtsbewußtseins und der spezifisch historischen Ausprägung einzelner Bewußtseinsoperationen, die nicht nur für das Geschichtsbewußtsein, sondern auch für andere Bereiche des menschlichen Bewußtseins wichtig sind. Die infragestehende Einheit und Geschichtsspezifik der einzelnen Operationen des Geschichtsbewußtseins läßt sich mit Hilfe genau desjenigen Erzählbegriffs bestimmen, der in der Historik seine auf den ersten Blick so befremdliche Abstraktheit und vom Alltagsgebrauch so bemerkenswert abweichende Bedeutung gewonnen hat. Genau in dieser abstrakten Form ist der Begriff des historischen Erzählens geeignet, die von der Geschichtsdidaktik nicht umgehbare Frage nach der Einheit des Geschichtsbewußtseins zu beantworten. Analyse, Sachurteil und Wertung können nur dann - wie Jeismann vorschlägt - als die geschichtsdidaktisch zentralen Operationen des Geschichtsbewußtseins angesprochen werden, wenn sie als Faktoren des Sinnbildungsprozesses des historischen Erzählens in den Blick kommen. Eben dieser Sinnbildungsprozeß ist es auch, in dem die "verhaltensbestimmenden geistigen Akte" liegen, die Schörken anspricht; und was genau das Geschichtsbewußtsein mit dem Identitätsproblem und (im Zusammenhang damit) mit der Bildung von Loyalität und Sympathie zu tun hat, dies wird erst deutlich, wenn diese Akte als diejenigen des historischen Erzählens genauer bestimmt werden. Eine erzähltheoretische Fundierung der Geschichtsdidaktik vermag nicht nur genauen Aufschluß über die Einheit des Geschichtsbewußtseins zu geben, sondern sie läßt das Geschichtsbewußtsein auch als einen Prozeß erkennen. Es wäre mißverständlich, wenn die Geschichtsdidaktik ihre Aufgabe pauschal in einer Thematisierung von Geschichtsbewußtsein sähe. Damit würde nur die erste Hälfte des Wortes 'Geschichtsdidaktik' verdeutlicht, nicht jedoch die zweite. Maßgeblich für die Art und Weise, wie die Geschichtsdidaktik das Phänomen 'Geschichtsbewußtsein' thematisiert, ist ja ihre Absicht, das Geschichtsbewußtsein im Prozeß des historischen Lernens zu thematisieren. In dieser Frageperspektive erscheint das Geschichtsbewußtsein dann so, daß es als umgreifendes Thema all der speziellen Themen der Geschichtsdidaktik plausibel gemacht wird, der Themen also, die das Lehren der Geschichte, den Geschichtsunterricht und alle damit verbundenen Fragen und Probleme betrifft. Eine erzähltheoretisch orientierte Historik kann zunächst darlegen, daß und inwiefern Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß thematisiert werden kann (und muß). Darüber hinaus aber macht die erzähltheoretisch konzipierte Historik auf eine Dimension des Lernprozesses aufmerksam, der in der bisherigen geschichtsdidaktischen Diskussion

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vernachlässigt wurde: Sie kann zeigen, daß und wie das historische Lernen auf Tätigkeiten des lernenden Subjekts beruht, auf die sich alles Lehren von Geschichte grundsätzlich beziehen muß. Gemeint ist die Handlung des Erzählens. Bisher wurde historisches Lernen in der Geschichtsdidaktik zumeist als Imprägnierung der lernenden Subjekte durch die Sachstruktur des Gegenstandsbereichs 'Geschichte' gedeutet. Nicht zufallig dominierte zur Kennzeichnung des historischen Lernens der Begriff 'Rezeption' (von Geschichte).56 Als die für die Geschichtsdidaktik entscheidende Tätigkeit des lernenden Subjekts wird diejenige des Aufnehmens thematisiert. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, was das Subjekt denn eigentlich lernt, wenn es Geschichte lernt, nämlich die Fähigkeit, durch historisches Erzählen auf eine bestimmte Weise Sinn über Zeiterfahrungen zu bilden, mit dem es sein Dasein im Fluß der Zeit orientieren kann, erst dann wird deutlich, daß und wie das lernende Subjekt nicht nur rezeptiv, sondern immer auch produktiv handelt. Die Geschichtsdidaktik muß die in der Geschichtstheorie explizierte Konstitutionsleistung des Erzählens im historischen Bewußtsein als produktive Lernhandlung thematisieren und auf die konkreten Lernsituationen im Bereich der Sozialisation, der Erziehung und Bildung hin beziehen. Diese produktive Leistung besteht in der Kontinuierung von individueller und kollektiver Identität im Wandel der Zeit; sie besteht in einem Vorgang dynamischer Gewinnung, Sicherung und Steigerung von Identität im Sozialisationsprozeß der Lernsubjekte. 6. Geschichtsdidaktische Konsequenz II: Lernziel narrative Kompetenz Ähnlichen Aufschluß wie den über die Einheit und die innere Dynamik des Geschichtsbewußtseins kann eine erzähltheoretisch konzipierte Historik der Geschichtsdidaktik auch dort geben, wo sie sich mit dem Lernzielproblem herumschlägt. Die geschichtsdidaktische Diskussion57 hat zwar eine fast unübersehbare Fülle von Lernzielbestimmungen, von Lernzielfindungsstrategien, von Verfahren der Lernzielkonkretisierung auf Lerninhalte hin erbracht, aber dennoch kann nicht gesagt werden, das angesprochene Problem, auf welches Ziel hin das historische Lernen organisiert und institutionalisiert werden soll, sei bereits im wesentlichen gelöst. Daß die Lernzieldiskussion inzwischen nicht mehr sehr energisch geführt wird, sondern 56 57

So z.B. bei Jeismann: Die Didaktik der Geschichte "hat es zu tun mit dem komplexen Prozeß der Rezeption von Geschichte in der Gesellschaft" (Didaktik der Geschichte (Anm.50), S.52. Einen Uberblick gibt Rohlfes, Joachim: Lernziele, Qualifikationen, in: Bergmann u.a. (Eds): Handbuch (Anm.29), S.379-384.

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fast schon den Charakter des Beiläufigen bekommen hat, kann weniger als Indiz für einen sich abzeichnenden Konsens angesehen werden, sondern es zeigt eher eine Ermattung, ein Fehlen weiterführender Argumente und den Unwillen der Beteiligten an, weiter auf der Stelle zu treten. Der Eindruck drängt sich auf, daß es wenig opportun ist, in den ausgefahrenen Gleisen der bisherigen Argumentation weiter zu fahren, sondern daß neue Perspektiven eröffnet werden müssen, die das Lernzielproblem in neuem Lichte erscheinen lassen. Ein Grundproblem der Lernzielbestimmung besteht im Verhältnis zwischen Geschichtsspezifik und Praxisbezug des historischen Lernens. Niemand konnte (und kann) sich dem Argument entziehen, daß die Angabe historischer Wissensbestände keine befriedigende Antwort auf die Frage darstellt, was historisch gelernt werden soll; denn die Auswahl und Zusammenstellung solcher Wissensbestände ist von normativen Kriterien abhängig, also selbst nur durch Zielbestimmungen plausibel zu machen, die sich nicht in der Angabe von Lerninhalten erschöpfen können. Es lag (und liegt) daher nahe, diese Ziele aus pädagogisch antizipierten Anforderungen der Lebenspraxis an die Lernenden zu ermitteln. Das historische Wissen wurde damit grundsätzlich der Zumutung einer praktischen Brauchbarkeit unterworfen, und damit geriet die Geschichtsdidaktik unvermeidlich in die Schwierigkeit, ein Kriterium der Lebensdienlichkeit des historischen Wissens finden zu müssen, mit dem Orientierungsbedürfnisse der (für die Lernenden: zukünftigen) Lebenspraxis an das historische Denken adressiert und umgekehrt historisches Wissen als praktisch bedeutsam auf die Lebenspraxis hin bezogen werden kann. Der Streit um die Ziele des historischen Lernens ist deshalb so unbefriedigend verlaufen, weil er sich über diese Kriterienfrage zu oft hinweggesetzt hatte, so daß die Argumente, mit denen das historische Lernen auf fachlich verantwortbare Wissensziele ausgerichtet wurde, heftig auf die Argumente prallte, mit denen das historische Lernen auf Orientierungsbedürfnisse der aktuellen Lebenspraxis bezogen wurde. Diese Argumente standen solange im Widerstreit zueinander, als die Fachspezifik oder die Eigenart des historischen Denkens nicht mit seiner Funktion in der Lebenspraxis begründet werden konnte. Solange dies nicht gelang, kam die Geschichtsdidaktik aus folgendem Dilemma nicht heraus: Entwarf sie die Lernziele in engem Bezug auf eine Vorstellung von zu lernender Geschichte, dann gerieten sie nur allzu leicht zu aufgesetzten Glanzlichtern traditionell vorgegebener historischer Wissensbestände, deren Rolle in der Lebenspraxis der Lernenden unklar wurde und zweifelhaft blieb. Ging sie stattdessen von normativen Bestimmungen dieser Lebenspraxis aus, dann gerieten die Lernziele nur allzu leicht zu aufgesetzten Glanzlichtern von

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Zukunftsentwürfen, deren Fähigkeit zur Aufarbeitung der historischen Erfahrung unklar wurde und zweifelhaft blieb. Erst die Wendung der Geschichtsdidaktik zur Thematisierung des Geschichtsbewußtseins eröffnete einen Ausweg aus diesem Dilemma. Denn Geschichtsbewußtsein ist der Ort, wo historisches Wissen immer schon eine praktische Funktion hat, so daß ihm weder eine solche Funktion von der Geschichtsdidaktik in der Form fachexterner Lernziele aufgenötigt zu werden braucht, noch die Bewältigung von Orientierungsproblemen in der Lebenspraxis außerhalb des Bereichs des historischen Denkens angesiedelt wird. Die geschichtsdidaktische Thematisierung des Geschichtsbewußtseins hat die Lernzieldiskussion insofern einen entscheidenden Schritt weitergebracht, als nunmehr ein (lern-)zielgerichteter didaktischer Bezug des historischen Wissens und der zu seinem Erwerb notwendigen methodischen und pragmatischen Fähigkeiten auf Orientierungsprobleme der aktuellen Lebenspraxis nicht mehr bloß als 'Umsetzungs'-, 'Anwendungs'- oder 'Vermittlungs'-problem angesehen wird. Die Geschichtsdidaktik verortet nämlich mit dem Geschichtsbewußtsein das historische Wissen (grundsätzlich, also auch in seiner wissenschaftsspezifischen Ausprägung) in der menschlichen Lebenspraxis, sie nimmt also das historische Wissen im Namen seiner eigenen Geschichtsspezifik als lebensdienlich an und rückt dann auch den Prozeß des historischen Lernens unter Zielbestimmungen, die diese Lebensdienlichkeit, diese praktische Funktion des historischen Denkens, normativ zur Geltung bringen. Soweit ich sehe, ist es jedoch bisher noch nicht gelungen, die Ziele des historischen Lernens von einem obersten Gesichtspunkt her zu entwickeln, der genau dieser Konvergenz von Geschichtsspezifik und praktischer Funktion des historischen Lernens entspricht. Welche Ziele müssen dem Prozeß des historischen Lernens grundsätzlich zugeordnet werden, damit dieser als gelungen angesehen werden kann? Meine These ist, daß man diese Frage ohne eine geschichtsdidaktische Thematisierung des Geschichtsbewußtseins nicht beantworten kann, und daß man sie im Rahmen einer solchen Thematisierung nur dann genau beantworten kann, wenn man sich der Einsicht einer erzähltheoretisch konzipierten Historik bedient. Auch dies sei in kritischer Anknüpfung an die Argumente von Jeismann und Schörken konkretisiert. Jeismann wirft die Frage nach obersten Zielen des historischen Lernens nicht auf derjenigen Ebene der geschichtstheoretischen Argumentation auf, wo er das Geschichtsbewußtsein im allgemeinen anspricht, sondern erst dort, wo es um die Ziele des Geschichtsunterrichts geht. Aber auch dort nimmt er Abstand von der "Formulierung genereller und löblicher Oberbe47

griffe als Ziele des Geschichtsunterrichts",58 weil ihm solche allgemeine Zielbestimmungen zu leer und nicht geschichtsspezifisch genug erscheinen (zumindest diejenigen, die bislang vorgeschlagen worden sind, wie z.B. das Lernziel 'Emanzipation'). Er sieht die große Gefahr allgemeiner Lernzielbestimmungen darin, daß mit ihnen das historische Lernen ideologisch in die Irre geführt werden kann. Nun beruhen nichtsdestoweniger Jeismanns Vorschläge zur Lernzielfindung in der didaktischen Strukturierung von Geschichtsunterricht auf einer Vorstellung davon, was das Geschichtsbewußtsein leisten muß, wenn es die ihm zukommende Funktion der Vergangenheitsdeutung, des Gegenwartsverständnisses und der Zukunftserwartung erfüllt. Er bringt diese Vorstellung zur Sprache, indem er von einer "Orientierungsfunktion des Geschichtsbewußtseins" spricht, die er "mit dem alten Begriff 'historische Bildung'" bezeichnet.59 Diese Orientierungsfunktion ist nicht identisch mit der Funktion von Geschichtsbewußtsein überhaupt, sondern muß in dieser durch einen zielgerichteten Lernprozeß zur Geltung gebracht werden. Jeismann sieht das Ziel dieses Lernens in der Fähigkeit, die "entweder naive oder manipulierte Enge persönlicher oder kollektiver Ich-Fixierung zu durchbrechen".60 Ähnlich argumentiert Schörken: Für ihn besteht die maßgebliche Zielbestimmung eines in der Form des Geschichtsunterrichts organisierten historischen Lernens darin, daß die Lernenden "die Befähigung zur Rollenflexibilität und Identitätsbalance erwerben".61 In beiden Fällen soll ein Selbstverhältnis des Menschen gelernt werden, in dem er sich von zwanghaften Zuweisungen von Rollen und Zugehörigkeiten befreit hat und fähig geworden ist, sich selbst dadurch zur Geltung zu bringen, daß er das Anderssein von andern anerkennen kann. Das Geschichtsbewußtsein wird also als Lernprozeß auf das Ziel einer diskursiven Identitätsbildung hin orientiert.62 Man wird dieser Lernzielbestimmung wohl kaum seine Zustimmung versagen können. Die Frage aber ist, ob eine solche Identitätsvorstellung schon die Zielbestimmung eines spezifisch historischen Lernprozesses darstellt. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil das Geschichtsbewußtsein gar nicht exklusiv zuständig ist für die Bildung menschlicher Identität. Im übrigen ist eine Vorstellung von individueller und kollektiver Identität nicht schon ein Lernziel, mit dem sich 58 59 60 61 62

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Didaktik der Geschichte (Anm.50), S.79. Ebd., S.63. Ebd. Kriterien für einen lernzielorientierten Geschichtsunterricht (Anm.51), S.292. So auch bei Kuhn, Annette: Einführung in die Didaktik der Geschichte. München 1974, S.72 f., und bei Bergmann, Klaus: Geschichtsunterricht und Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39, 1975, S. 19-25.

Lernprozesse organisieren und institutionalisieren lassen. Dazu ist es notwendig, Roß und Reiter zu nennen, d.h. genau anzugeben, was denn nun gelernt werden muß, damit das Geschichtsbewußtsein seine Orientierungsfunktion im Sinne der gewünschten Form menschlicher Identität ausübt. Jeismann und Schörken haben auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben: Der eine hebt ab auf die Fähigkeit kritischen und methodischen Denkens in der Orientierungsleistung des Geschichtsbewußtseins; maßgebend für eine zielgerichtete Organisation des historischen Lernens ist ihm der Gesichtspunkt, daß in der Bildung von Geschichtsbewußtsein die Grundsätze einer methodischen Rationalität zur Geltung gebracht werden. 63 Schörken hebt im Unterschied dazu auf die Fähigkeit zum imaginären Rollentausch ab, der durch die Aufarbeitung der historischen Erfahrung als Erfahrung des Andersseins eingeübt werden kann. 64 Beide Lernzielbestimmungen decken wichtige Aspekte des historischen Lernens ab, erschließen aber nicht den für das menschliche Geschichtsbewußtsein spezifischen Bereich von Fähigkeiten, die lernend erworben und im Prozeß menschlicher Identitätsbildung zur Geltung gebracht werden können. Welche Fähigkeit ist es, die mit der Entwicklung des Geschichtsbewußtseins gelernt werden muß, damit dessen Orientierungsfunktion erfüllt werden kann? Es ist die Fähigkeit, Sinn über Zeiterfahrungen zum Zweck der Orientierung des eigenen Handelns und Leidens in der Zeit zu bilden, kurz: die Fähigkeit, historisch zu erzählen. Welche Fähigkeit müssen Menschen erwerben, wenn sie sich selbst im Wandel der Zeit, also in der erfahrenen Veränderung ihrer selbst und ihrer Welt nicht verlieren, sondern gewinnen wollen? Es ist die Fähigkeit der narrativen Kompetenz, die Fähigkeit also, sich durch historisches Erzählen in der Zeit zu orientieren. Damit ist eine allgemeine Zielbestimmung jedes historischen Lernens bezeichnet, aber noch nicht angegeben, welche besondere Zielbestimmung ins Spiel gebracht werden soll, wenn auf den Lernprozeß des Geschichtsbewußtseins absichtsvoll Einfluß genommen werden soll. Wenn die Zielbestimmung 'narrative Kompetenz' wirklich das Lernpotential des Geschichtsbewußtseins abdecken soll, dann muß ihr auch ein normatives Kriterium entnommen werden können, nach dem im Spielraum von Lernmöglichkeiten des Geschichtsbewußtseins didaktische Optionen begründet werden können. Auf die Argumentation von Jeismann und Schörken angewendet, in denen es bei allen Unterschieden im Grunde um die gleiche Sache geht, nämlich um die Ausrichtung des historischen Lernens an der Vorstellung einer dis63 64

Jeismann: Didaktik der Geschichte (Anm.55), S.78f. Kriterien (Anm.51), S.292f.

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kursiv verfaßten Identität, heißt dies: Läßt sich diese Identitätsvorstellung aus dem Lernziel 'narrative Kompetenz' auf eine nicht willkürliche Weise entwickeln? Diese normative Konkretisierung des Lernziels 'narrative Kompetenz' ergibt sich dann, wenn man die Fähigkeit des historischen Erzählens auf dessen innere Vernunft- oder Rationalitätschancen bezieht. Dann geht es in den Prozessen des historischen Lernens nicht mehr darum, überhaupt historisches Erzählen zu lernen, sondern darum, vernünftig historisch erzählen zu lernen. Die Geschichtsdidaktik kann also bei der Lernzielbestimmung die Einsicht der Historik in die durch die Geschichte als Wissenschaft repräsentierten Vernunftchancen des historischen Erzählens aufgreifen, ohne sich in eine falsche Abhängigkeit von der Geschichtswissenschaft zu begeben. Diese normative Konkretisierung der allgemeinen Zweckbestimmung des historischen Lernens bringt die Geschichtswissenschaft als Bezugsgröße der Geschichtsdidaktik in den Blick, - aber eben nicht als Lieferantin von historischem Wissen, das auf irgendetwas außerhalb der Wissenschaft hin 'vermittelt', in etwas außerhalb der Wissenschaft hinein 'umgesetzt' oder 'angewendet' wird, sondern die Wissenschaft erscheint nun als eine Institution des historischen Erzählens, der man gleichsam dessen Vernunftchancen ablesen kann: Die Wissenschaft wird als Lebensform thematisch, als eine Lebensform des historischen Erzählens, die durch die Absicht bestimmt ist, dessen Vernunftchancen optimal zu realisieren. Die Geschichtsdidaktik thematisiert also (über die Historik) die Geschichtswissenschaft als Antwort auf die Frage, was es heißt, vernünftig historisch erzählen zu lernen. Lernzieltheoretisch legt sie dar, daß es im historischen Lernen immer auch um die Aktualisierung des Vernunftpotentials des historischen Erzählens geht. Dieses Vernunftpotential entfaltet sich dann, wenn das historische Lernen systematisch in das Medium des diskursiven Argumentierens eingebunden wird. Eine Lernzielbestimmung, die diese Einbindung meint, muß von einer Vorstellung davon ausgehen, was diskursives Argumentieren im Lernprozeß des Geschichtsbewußtseins ist. Diese Vorstellung kann in Anknüpfung an die Historik erfolgen, die die Geschichtswissenschaft als Institutionalisierung der Vernunftchancen des historischen Erzählens interpretiert. Worum es bei der Konkretisierung des Lernziels 'narrative Kompetenz' auf die Vernunftchancen des historischen Erzählens hin geht, läßt sich mit dem Terminus "engagierte Besonnenheit" ausdrücken (Jeismann hat ihn gewählt65, um ein Geschichtsbewußtsein zu charakterisieren, das als Ergebnis eines ge65

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Didaktik der Geschichte, S.63.

lungenen Lernprozesses angesehen werden kann). Historisches Lernen muß zu einem engagierten Geschichtsbewußtsein führen, da dieses eine Orientierungsfunktion wahrnehmen muß, in der die eigene Identität der Lernenden auf dem Spiel der Interaktion mit andern steht. Geschichte lernen heißt, sie so erzählen zu lernen, daß man in und mit ihr die Anerkennung findet, ohne die man nicht man selber sein will oder kann. Nun kann ein solches Engagement des Geschichtsbewußtseins auf ganz verschiedene Weise ausgeprägt werden, je nachdem, wie sich in ihm die jeweils auf dem Spiel stehende Identität zur Sprache bringt. Besonnenheit meint eine Orientierung, die auf der Fähigkeit beruht, sich im historischen Erzählen auf diskursive Weise ins Spiel zu bringen. Hier ist das Geschichtsbewußtsein nicht auf eine zwanghafte oder gewaltsame Selbstbehauptung mit allen schmerzhaften Folgen für die Beteiligten reduziert, sondern es ist aufgrund eines Lernprozesses in Bewegung geraten: Es hat sich geöffnet auf einen dauernden Zuwachs an Zeiterfahrungen, die in einer ständigen Bewegung zwischen der Erfahrung des Andersseins der andern und der Behauptung des Eigenen verarbeitet werden. Diese Offenheit des Geschichtsbewußtseins kann nicht dadurch gelernt werden, daß den Lernenden unterschiedliche Deutungsmuster der historischen Erfahrung angeboten werden, so daß sie ihre innere Selbständigkeit durch einen Akt der Auswahl erlangen. Bei einem solchen Verfahren stünden die Lernenden gleichsam außerhalb der ihnen lehrend angebotenen Deutungsmuster, obwohl sie faktisch (als immer schon sozialisierte) solche Deutungsmuster in sich haben. Es kommt vielmehr darauf an, diese in den Sozialisationsprozessen immer schon vorgegebenen Deutungsmuster und die in ihnen sedimentierte Geschichte selbst bewußt (reflektiert) deutend aufzuarbeiten. Dabei muß sich das lernende Subjekt einerseits soweit aus dieser in ihm immer schon gedeuteten Geschichte herausbewegen, um sie sich vor Augen zu führen, und zugleich muß es sich andererseits in sie hineinbewegen, damit es sich selbst in dem Maße gewinnt, in dem sie es vorgängig immer schon bestimmt hat. Das menschliche Ich ist durch historische Vorgaben bestimmt. 66 Es erfahrt im Prozeß seiner Sozialisation Ausprägungen, in die hinein sich Geschichte über Traditionen immer schon sedimentiert hat. Dies stellt den Anfang allen historischen Lernens dar: Die Geschichte hat gleichsam immer schon das Ich des Lernenden bestimmt, bevor dieser sie in eigenen Deutungsanstrengungen bestimmt. Eben diese Geschichte, die im Lernenden als Vorgabe seiner selbst, als immer schon durch Sozialisation (über Traditionen oder andere Instanzen) erfolgte Identitätsbildung 66

Luckmann, Thomas: Persönliche Identität als evolutionäres und historisches Problem, in: ders.: Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen. Paderborn 1980, S. 123-141.

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wirksam ist, muß im Prozeß des historischen Lernens deutend aufgearbeitet und angeeignet werden. Dabei werden die historischen Sedimente des Ich gleichsam verflüssigt - das verflüssigende Element ist das Medium der diskursiven Argumentation und genau damit gewinnt sich das Ich aus der Geschichte, durch die es bestimmt ist, als Bestimmendes im deutenden Umgang mit ihr. Genau darin besteht der produktive Charakter des historischen Lernens (der durch die Kategorie 'Rezeption' nicht verdunkelt werden darf). Diese Charakterisierung des historischen Lernens als eines Prozesses, in dem sich das Ziel 'narrative Kompetenz' als Fähigkeit zu vernünftigem historischen Erzählen realisiert, kann als erzähltheoretische Präzision dessen verstanden werden, was man geschichtsdidaktisch unter dem Lernziel 'Emanzipation' verstehen kann. 67 Eine solche Präzision ist immer dann angebracht, wenn man nicht angesichts des Meinungsstreites um dieses Leitwort der europäischen Aufklärung auf seinen Gebrauch zu einem präzisen geschichtsdidaktischen Zweck verzichten will. Allerdings würde ein solcher Verzicht die Folgelast mit sich bringen, nun eine plausiblere, und das heißt immer auch: mit historischer Erfahrung angereicherte Bezeichnung für die Richtung des historischen Lernens zu finden, die geschichtsdidaktisch als Ziel absichtsvoll organisierter und institutionalisierter Lernprozesse präzisiert und begründet werden muß. Die bisher vorgeschlagene erzähltheoretische Präzisierung der Lernzielproblematik in der Geschichtsdidaktik ist natürlich so abstrakt geblieben, wie die herangezogene Argumentation der Historik. Zur Konkretisierung und Ausdifferenzierung der Zieldimension des historischen Lernens läßt sich nun die vorgeschlagene Typologie verwenden. Diese Konkretisierung und Ausdifferenzierung hätte den Vorteil, verschiedene Lernarten so auf den Bereich des Geschichtsbewußtseins als Ort des historischen Lernens hin zu spezifizieren, daß sie als spezifisch historische Lernvorgänge erkennbar werden. So ließe sich z.B. das Lernen durch Identifikation als Lernen durch traditionales Erzählen, das exemplarische Lernen als Lernen durch exemplarisches Erzählen konkretisieren usw. Auch die von Schörken betonte Rollendistanz durch Geschichtsbewußtsein läßt sich erzähltypologisch identifizieren: als kritisches Erzählen. Den Schritt, den die Historik mit der Typologie des historischen Erzählens von der abstrakten Struktur und Funktion der Sinnbildung über Zeiterfahrung zur konkreten Mannigfaltigkeit historischer 67

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Dazu: Kuhn: Einführung (Anm.62), S.70ff.; Bergmann, Klaus: Emanzipation, in: ders. u.a. (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Anm.29), S.236-239; Rüsen, Jörn: Geschichte als Aufklärung? Oder: Das Dilemma des historischen Denkens zwischen Herrschaft und Emanzipation, in: ders.: Zeit und Sinn (Anm.47), S.2149.

Denkformen und Darstellungsarten geht, kann die Geschichtsdidaktik in ihrem Felde ebenfalls gehen: von abstrakten und allgemeinen Bestimmungen des historischen Lernens als Prozeß der Bildung von Geschichtsbewußtsein über die Bestimmung allgemeiner Ziele des historischen Lernens bis hin zu den konkreten Ausprägungen dieser Ziele und der auf sie hinführenden Lernprozesse. Dabei bildet natürlich die Geschichtsdidaktik nicht einfach die Argumentationsstrukturen der Historik ab, sondern sie bedient sich der von der Historik entwickelten Bestimmungen des historischen Erzählens als eines Erkenntnismittels, als eines Organons zur Klärung ihrer eigenen, von der Historik nicht vorgegebenen Probleme.

7. Geschichtsdidaktische Konsequenz III: Hypothesen zur Entwicklung des Geschichtsbewußtseins Eines der wichtigsten Probleme der Geschichtsdidaktik stellt die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins in der individuellen Sozialisation dar. Jeder Versuch, auf diese Entwicklung Einfluß zu nehmen, hängt solange in der Luft, solange er nicht auf einem Wissen darüber beruht, wie sich Geschichtsbewußtsein im Prozeß der menschlichen Sozialisation ausbildet. Es dürfte zu den unbestrittenen Einsichten der neueren Geschichtsdidaktik gehören, daß der Erfolg alles Lehrens von Geschichte davon abhängt, ob und inwieweit es gelingt, an das Geschichtsbewußtsein, das die Lernenden immer schon haben, anzuknüpfen. Soll Geschichte nicht als etwas gelernt werden, das wie ein Fremdkörper im geistigen Haushalt eines Individuums auftritt, dann muß sie - dem Lernziel der Kompetenz zu vernünftigem historischen Erzählen gemäß - als eine Geschichte gelernt werden, die die Lernenden als ihre eigene sich bewußt machen. Das zu lernende historische Wissen muß so in den Lernprozeß lehrend eingebracht werden, daß es von den Lernenden wirklich angeeignet wird, und dies heißt: Es muß in einer Form auftreten, die dem jeweils erreichten Entwicklungsstand der narrativen Kompetenz entspricht. Was aber Entwicklung der narrativen Kompetenz als Vorgang der menschlichen Sozialisation ist, darüber herrscht in der Geschichtsdidaktik die größte Unsicherheit und Unklarheit. Die älteren entwicklungspsychologischen Theorien des historischen Lernens von Heinrich Roth und Waltraud Küppers 68 sind mit gewichtigen Argumenten der neueren Lerntheorie und Sozialisationsforschung kritisiert worden 69 , 68 69

Roth, Heinrich: Kind und Geschichte. 5.A. München 1968; Küppers, Waltraud: Zur Psychologie des Geschichtsunterrichts. Bern 1961. So z.B. bei Bergmann, Klaus: Personalisierung im Geschichtsunterricht - Erziehung zur Demokratie? 2.A. Stuttgart 1977, S.48fT.

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und eine Zeitlang herrschte in der Geschichtsdidaktik die Meinung vor, eine spezielle lern- oder entwicklungspsychologische Theorie der Ontogenese von Geschichtsbewußtsein sei nicht notwendig, da es grundsätzlich auf allen verschiedenen Entwicklungsstufen und Lernniveaus um die gleiche narrative Kompetenz gehe. Die Kritik an der älteren Entwicklungspsychologie des Geschichtsbewußtseins war insofern berechtigt, als dort mit Annahmen über eine quasi-natürliche Bedingtheit des historischen Lernens gearbeitet wurde und die sozio-kulturellen Determinanten des historischen Lernens ungebührlich in den Hintergrund getreten waren. Die Berücksichtigung dieser Determinanten enthebt jedoch die Geschichtsdidaktik nicht der Pflicht, historisches Lernen als einen Prozeß in der Sozialisation und Individuation der einzelnen Personen zu denken. Dieser Prozeß ist kein ungeordneter Ablauf von Veränderungen, der durch eine didaktische Strukturierung erst seine innere Ordnung findet, sondern eine solche Strukturierung muß ihrerseits immer schon auf einer Vorstellung darüber beruhen, wie der Entwicklungsprozeß des Geschichtsbewußtseins in der Sozialisation der Individuen geregelt ist. 70 Wie ist die Vorstellung einer solchen Regelung zu gewinnen? Sie ergäbe sich dann, wenn sich das von verschiedenen Wissenschaften erarbeitete Wissen über die menschliche Ontogenese unter dem speziellen Gesichtspunkt 'Geschichtsbewußtsein' organisieren ließe. Die Geschichtsdidaktik müßte Hypothesen über die Entwicklung der narrativen Kompetenz im Prozeß der Sozialisation entwickeln, in diese Hypothesen das verfügbare Wissen über die Determinanten dieser Entwicklung einarbeiten und von den so empirisch konkretisierten (und modifizierten) Hypothesen aus weitere Forschungen in den einschlägigen Wissenschaften (vor allem der Psychologie und der Soziologie) anregen. Solche Hypothesen können nun mit Hilfe der erzähltypologischen Argumentation der Historik entwickelt werden: Sie ergeben sich dann, wenn die Typologie des historischen Erzählens als Ausdifferenzierung dessen verstanden wird, was 'narrative Kompetenz' als Lernziel bedeutet. Da diese Typologie die empirische Vielfalt erschließen soll, in der die Grundfunktion des historischen Erzählens realisiert wird, ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß sich mit ihr auch der empirische Vorgang (hypothetisch) charakterisieren läßt, in dem historisches Erzählen gelernt wird. Die vier Typen stehen in einem 70

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Vgl. hierzu die Ausführungen von Günther-Arndt, Hilke: Psychologische Voraussetzungen historischen Lernens in der Primarstufe, in: Hantsche, Irmgard; Schmid, Hans-Dieter (Eds): Historisches Lernen in der Grundschule. Stuttgart 1981.

inneren dynamischen Zusammenhang, und damit bietet sich die Typologie der Geschichtsdidaktik für den Versuch geradezu an, mit ihrer Hilfe die Strukturen zu ermitteln, in denen historisches Lernen als Entwicklung von Geschichtsbewußtsein mit dem Ziel der narrativen Kompetenz geordnet ist. In der Tat gibt die Erzähltypologie der Geschichtsdidaktik die Möglichkeit in die Hand, den Erwerb narrativer Kompetenz als einen geregelten Entwicklungsprozeß zu denken. Eine spezifisch geschichtsdidaktische Hypothese über die innere Regelung des historischen Lernens als Erwerb narrativer Kompetenz läßt sich folgendermaßen entwickeln: Ausgangspunkt ist die Vorstellung von narrativer Kompetenz als Resultat eines gelungenen Entwicklungsprozesses von Geschichtsbewußtsein. Diese narrative Kompetenz läßt sich nun erzähltypologisch aufschlüsseln als komplexes Verhältnis unterschiedlicher Erzählkompetenzen, derjenigen nämlich, mit denen jeweils die Funktion des traditionalen, des exemplarischen, des kritischen und des genetischen Erzählens erfüllt werden. Wie immer die zu lernende narrative Kompetenz gemäß den jeweilig zu lösenden Problemen der Zeitorientierung in der Lebenspraxis aussehen mag - stets besteht sie in einem systematisch geordneten Verhältnis von traditionaler, exemplarischer, kritischer und genetischer Erzählkompetenz. Schon auf dieser abstrakt-allgemeinen Ebene der erzähltypologischen Aufschlüsselung von normativer Kompetenz ergibt sich die Möglichkeit, eine (entsprechend) abstrakt-allgemeine Hypothese über die Entwicklung von narrativer Kompetenz zu formulieren. Denn die vier Typen des historischen Erzählens sind so voneinander unterschieden und aufeinander bezogen, daß sie sich entwicklungslogisch ordnen lassen: Betrachtet man den typologischen Zusammenhang der vier Erzählweisen unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Folge, dann lassen sich die vier Typen so denken, daß sie in einer nicht beliebigen, sondern systematisch geordneten Weise auseinander hervorgehen. Diese entwicklungslogische Ordnung der vier Typen ergibt sich dann, wenn festgestellt wird, welche Erzählweise welche anderen notwendig voraussetzt: Die genetische Erzählweise setzt die drei andern voraus, die kritische die exemplarische und die traditionale, die exemplarische die traditionale; diese selbst steht als Voraussetzung aller anderen am Anfang. Damit ist ein allgemeines Schema der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein als zeitlich geordnete Abfolge typologisch unterscheidbarer narrativer Kompetenzen gegeben. Dieses Schema macht Phasen und Richtungen in der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein sichtbar. Es reicht natürlich in seiner Abstraktheit und Allgemeinheit nicht aus, konkrete Entwicklungen von Geschichtsbewußtsein als

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Lernprozesse didaktisch zu entwerfen und methodisch zu organisieren. Es stellt aber eine notwendige Voraussetzung dafür dar, daß Grundstrukturen des historischen Lernens identifiziert und schematisiert werden können. (Es liefert sozusagen eine 'Prozeßorientierung' der Geschichtsdidaktik dort, wo historisches Lernen in den allgemeinen und elementaren Sinnbildungsleistungen des Geschichtsbewußtseins ausgemacht werden kann.) Die vorgeschlagene Hypothese zur ontogenetischen Entwicklung des Geschichtsbewußtseins läßt sich dazu verwenden, allgemeine Lernund Entwicklungstheorien geschichtsdidaktisch zu rezipieren. Sie gibt gleichsam ein Raster ab, auf das hin das von verschiedenen Wissenschaften erarbeitete Wissen über Lernen, Entwicklung und Sozialisation bezogen werden kann, damit es Aufschluß über die Entwicklung von Geschichtsbewußtsein gibt. So lassen sich z.B. die Erkenntnisse der kognitiven Entwicklungspsychologie geschichtsdidaktisch erst dann fruchtbar zur Geltung bringen, wenn ihre Befunde als Befunde der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein interpretierbar werden, als die sie gar nicht erhoben und interpretiert worden sind. Immerhin ist schon auf dieser Ebene die Fruchtbarkeit der vorgeschlagenen Hypothese überprüfbar: Sie liegt in dem Ausmaß, in dem es gelingt, mit ihr das theoretische Wissen über Lernen, Entwicklung und Sozialisation auf die Entwicklung von Geschichtsbewußtsein zu beziehen und als Wissen über diese Entwicklung zur Geltung zu bringen. Damit ist natürlich noch nicht die Ebene der geschichtsdidaktischen Argumentation erreicht, auf der es um konkrete inhaltlich bestimmte Prozesse des historischen Lernens (z.B. um den Geschichtsunterricht hier und jetzt) geht. Aber auch zu dieser Ebene der Geschichtsdidaktik läßt sich ein Weg mit Hilfe der Typologie des historischen Erzählens bahnen. Denn mit ihr sollen ja konkrete Erscheinungsformen des historischen Erzählens begrifflich scharf identifiziert und charakterisiert werden. Das gleiche muß dann auch für eine konkrete Bestimmung des Lernziels 'narrative Kompetenz' gelten: Inhaltlich konkret stellt sich diese Kompetenz als Zusammenhang der Fähigkeiten zum traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Erzählen dar - ein Zusammenhang, der je nach dem Orientierungsbedürfnis der Lebenspraxis unterschiedlich strukturiert ist. Auf diesen konkreten Zusammenhang der Deutungsmodi von Zeiterfahrung hin läßt sich nun auch das Schema der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein konkretisieren: In ihm wird dann z.B. nicht überhaupt die Fähigkeit zur historischen Sinnbildung durch traditionales Erzählen erworben, sondern die Fähigkeit zu einer bestimmten Weise des traditionalen Erzählens, zu derjenigen nämlich, die ihre Eigenart

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im systematischen Zusammenhang mit den anderen Erzählweisen gewinnt, wie er am Ende des Entwicklungsprozesses als dessen Resultat angenommen wird. Das gleiche gilt für die Entwicklung der anderen Teilkompetenzen. Durch eine solche Spezifikation läßt sich ein Schema entwickeln, das durchaus nicht eine starre, gleichsam mechanistische Gliederung des konkreten Entwicklungsprozesses von Geschichtsbewußtsein darstellt, sondern flexibel und offen ist für die Berücksichtigung all der Umstände und Bedingungen der Lebenspraxis, unter denen und auf die hin Geschichtsbewußtsein sich entwickelt. Eine zusätzliche Konkretisierung und Differenzierung erfährt das erzähltypologisch strukturierte Schema der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein noch dadurch, daß in ihm ja auch mit dem Erwerb der (entwicklungslogisch aufeinander zugeordneten) Teilkompetenzen des traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Erzählens die für sie spezifische Art und Weise der diskursiven Argumentation (in den drei Geltungshinsichten von Geschichte) gelernt werden soll. Eine Ausarbeitung solcher Entwicklungsschemata des historischen Lernens steht noch aus. An ihrer geschichtsdidaktischen Notwendigkeit besteht kein Zweifel, ebensowenig aber auch daran, daß hier ein großes Defizit in der aktuellen geschichtsdidaktischen Diskussion liegt. Schon dies allein wäre Grund genug, eine geschichtsdidaktische Probe aufs Exempel der erzähltheoretisch konzipierten Historik zu machen. Es wäre einen Versuch wert, das begriffliche Instrumentarium der Typologie des historischen Erzählens zu verwenden, um die Entwicklung von Geschichtsbewußtsein so aufzuschlüsseln, daß es als ein lernzielorientierter Prozeß begriffen und beeinflußt werden kann, in dem sich narrative Kompetenz bildet. 8. Geschichtsdidaktische Konsequenz IV: Multiperspektivität und Erzählstruktur im Geschichtsunterricht Die geschichtsdidaktische Analyse und Strukturierung des Geschichtsunterrichts steht unter der leitenden Frage, wie in der Interaktion zwischen Lehrer und Schülern und der Schüler untereinander das Lernziel 'narrative Kompetenz' erreicht wird. Aus der bisherigen Argumentation ergibt sich zunächst einmal eine negative Bestimmung dieser Organisation des Geschichtsunterrichts: Er muß so angelegt und vollzogen werden, daß die historische Deutung als Faktor der Identitätsbildung der Schüler diesen nicht einfach vorgegeben und von ihnen als vorgegebene nachvollzogen wird. Dann würde nämlich Geschichte immer nur vom andern (dem Lehrer) erzählt, und die narrative Kompetenz der Schüler würde auf die einer anpassungsstrategisch funktionierenden bloßen Wiederholungskompe57

tenz eingeschränkt. Ohne Selbsttätigkeit der Schüler in der Erarbeitung historischer Deutungen ist es ausgeschlossen, daß sie ihre Identität in der beabsichtigten diskursiv-argumentativen Weise ins Spiel der Zeitorientierung einbringen. Hinsichtlich der für die Schüler lebensnotwendigen Strukturierung ihrer eigenen Biographie wäre eine ihnen in fertigen Deutungen vorgesetzte, von ihnen bloß zu übernehmende Geschichte eine fremde, eine 'offizielle', die sich zu ihren eigenen Orientierungsbedürfnissen dysfunktional verhielte. Geschichtsunterricht als Nachvollzug eines vorgesetzten historischen Wissens ließe die Chancen der Identitätssteigerung ungenutzt, die durch die geschichtswissenschaftliche Erarbeitung des historischen Wissens gerade eröffnet werden. (Hier ließe sich deutlich machen, welche verheerenden didaktischen Folgen ein falsches Objektivitätsverständnis in der Geschichtswissenschaft hat - ein Verständnis, in dem 'Objektivität' identisch ist mit der Eliminierung des subjektiven Faktors aus den Prozessen der historischen Erkenntnisgewinnung.) Positiv gewendet: Wenn der Lernprozeß des Unterrichts dem Lernziel 'narrative Kompetenz' entsprechen und auch dem (noch stark hypothetischen) Wissen um den Prozeß der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein in der individuellen Sozialisation der Schüler genügen soll, dann muß er so organisiert werden, daß die Deutungsleistung des historischen Erzählens, also die Erarbeitung empirisch gehaltvollen Wissens über die menschliche Vergangenheit (stets im Hinblick auf Orientierungsprobleme der gegenwärtigen Lebenspraxis) grundsätzlich an die Selbsttätigkeit der Schüler gebunden wird. Eine solche Rückbindung macht natürlich das Lehren sehr viel riskanter (und auch anstrengender), als wenn ihm vornehmlich die Funktion der 'Umsetzung' wissenschaftlich vorgegebener Deutungen in das Begriffsvermögen von Schülern zugesprochen würde. Aber erst dann, wenn das Lehren dieses Risiko auf sich nimmt, koppelt es sich in den Lernprozeß der Schüler ein, so daß die narrative Kompetenz des Lehrers durch die (immer wieder neuen) historischen Orientierungsbedürfnisse der Schüler ständig herausgefordert, das Lehren selber also prinzipiell auch ein Lernprozeß wird (oder bleibt). Man kann diese geschichtsdidaktische Prämisse für die Organisation des Geschichtsunterrichts, daß die in ihm zu lernenden historischen Deutungen an die Selbsttätigkeit der Schüler gebunden werden, mit dem Argument zurückweisen, ein solcher Lernprozeß sei deshalb nicht mehr verantwortbar, weil in ihm Vernunftchancen des historischen Erzählens der subjektiven Beliebigkeit von Schülerinteressen geopfert würden. In der Tat würde die Vernunft des historischen Erzählens zur bloßen Willkür, wenn die im Unterricht zu erbringenden Deutungsleistungen primär oder gar ausschließlich von höchst zufäl-

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lig artikulierten Interessenlagen der Schüler ausgingen und an sie gebunden blieben. Will man diese Willkür vermeiden, dann bietet sich der Ausweg an, 'subjektive' von 'objektiven' Schülerinteressen zu unterscheiden, und den Unterricht nach dem vom Lehrer pädagogisch antizipierten objektiven Schülerinteresse zu organisieren. Dieser Ausweg führt in die große Schwierigkeit, daß eine solche Ausrichtung des Geschichtsunterrichts kaum oder nur sehr schwer der Gefahr der Indoktrination entgehen kann: Die objektiv unterstellten Interessen der Schüler können deren Subjektivität geradezu erschlagen, zumindest aber engen sie den Spielraum eines diskursiven Hin und Her der historischen Interpretation ein, in dem die einzelnen Schüler die Chance haben, sich selbst in die deutende Aufarbeitung einer sie alle (und den Lehrer) betreffenden gemeinsamen Geschichte einzubringen. Wie ist das möglich? Dadurch, daß die Schüler sich durch Betroffenheit und Parteinahme in die Bewegung des begründenden Argumentierens bringen. Genau dort also, wo mit den Regeln einer diskursiven Begründung die historische Objektivität konstituiert wird, soll der Raum für die Entfaltung der Subjektivität der Schüler liegen. Objektivität meint hier nicht mehr Eliminierung von Subjektivität, sondern eine Form des historischen Denkens, in der die Subjektivität als Fähigkeit zur Geltung gebracht wird, ins historische Erzählen Orientierungsbedürfnisse über den selbständigen argumentativen Gebrauch des eigenen Verstandes in der Auseinandersetzung mit andern einzubringen. (Es ist der Schritt von der Willkür zur Freiheit des historischen Denkens.) 71 Was heißt dies konkret für die Gestaltung des Geschichtsunterrichts? Es heißt nichts anderes, als daß er dem unterrichtsmethodischen Prinzip der Multiperspektivität folgen soll. 72 Die zu deutenden historischen Erfahrungen müssen so präsentiert werden, daß sie über Identifikationen bei den Schülern Betroffenheit hervorrufen, und zwar eine Betroffenheit, die in der Divergenz unterschiedlicher Standpunkte erfolgt. Dann wird die Abarbeitung der verschiedenen Standpunkte und Betroffenheiten im Medium einer diskursiven Argumentation zu einem wesentlichen Bestandteil der unterrichtsbestimmenden Kommunikation. In einer solchen diskursiven Abarbeitung von Standpunkten öffnet sich der Horizont der je unterschiedlich betroffenen Schüler, und die in ihrer Interaktion sich vollziehende historische Deutung gerät in die Bewegung der Identitätssteigerung. Mit diesem unterrichtsmethodischen Prinzip würde auch dem von 71 72

Zum Thema vgl. Rohlfes, Joachim: Objektivität und Parteilichkeit im Geschichtsunterricht, in: Süssmuth (Ed.): Positionen (Anm.50). Dazu vor allem Bergmann: Personalisierung (Anm.69).

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Schörken betonten Lernziel der Rollenflexibilität entsprochen, allerdings so, daß dabei der für die Entwicklung von Geschichtsbewußtsein eigentümliche Prozeß der Bildung personaler Identität berücksichtigt würde. Die Fähigkeit zum imaginativen Rollentausch setzt bereits ein starkes Ich voraus; diese Voraussetzung aber soll erst (natürlich in den engen Grenzen seiner Möglichkeiten) durch den Geschichtsunterricht erreicht werden: Dem Ich der Schüler muß durch eine bestimmte Art von Identifikation zu der Stärke verholfen werden, sich selbst dadurch zur Geltung zu bringen, daß es das Anderssein des anderen anerkennt. (Eine Selbstbehauptung im Modus der bloßen Negation des anderen verrät immer Ich-Schwäche.) Wie ist diese ichstärkende Identifikationsleistung unterrichtspraktisch zu denken, wenn mit ihr zugleich die Vernunftchancen des historischen Erzählens eröffnet, also das diskursive Argumentieren in der deutenden Aufarbeitung einer historischen Erfahrung eingeübt werden soll, die bei den Schülern Betroffenheit auslösen kann? Unterrichtspraktisch läßt sich die Subjektivität der Schüler in der Aufarbeitung sie betreffender (und das heißt eben auch: objektiver) Erfahrung auf zweierlei Weise ins Spiel bringen: (a) einmal indirekt durch eine Identifikation mit denjenigen, die von der jeweils thematisierten geschichtlichen Entwicklung betroffen waren, und dann (b) direkt durch Reflexion des eigenen Standpunktes in der Rekonstruktion geschichtlicher Entwicklungen. (a) Uber Identifikation mit Betroffenen stellt sich bei den Schülern ebenfalls Betroffenheit her, die als sekundäre Betroffenheit charakterisiert werden kann. Um diese Betroffenheit zu erzeugen, ist das Mittel der verlebendigenden Vergegenwärtigung der Vergangenheit im anschaulichen Erzählen unverzichtbar: Das in vergangenen Zeiten Gewesene muß so gut erzählt werden, als ob es in der eigenen Welt wäre 73 , sonst kommt es erst gar nicht zu der Betroffenheit, ohne die die Geschichte gar kein Medium wäre, in dem die eigene Identität artikuliert werden könnte. Nur darf dieses anschauliche Erzählen nicht so erfolgen, daß mit ihm der Eindruck entsteht: So und nicht anders war es, daß also eine historische Deutung entsteht, die keinen Spielraum mehr für die Subjektivität der Schüler läßt. Wie läßt sich dieser falsche Eindruck verhindern? Wo immer die Betroffenheit der Schüler in der prärationalen Anschaulichkeit erzählender Vergegenwärtigung der Vergangenheit erzeugt wird, muß multiperspektivisch erzählt 73

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Vgl. hierzu die auch geschichtsdidaktisch wichtigen literaturtheoretischen Ausführungen von Gumbrecht, Hans Ulrich: "Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre." Versuch zur Anthropologie der Geschichtsschreibung, in: Koselleck, Reinhart; Lutz, Heinrich; Rüsen, Jörn (Eds): Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd.4). München 1982, S.480-513.

werden. Der gleiche Inhalt der historischen Erfahrung wird dann im Lichte unterschiedlicher Deutungen sichtbar, und diese Unterschiedlichkeit ist festgemacht an der unterschiedlichen Situation von Betroffenen in der Vergangenheit.74 Die so angelegte lebendige, Betroffenheit auslösende anschauliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist zwar prärational, nicht aber antirational, weil sie mit der Verschiedenheit der zum Ausdruck gebrachten Standpunkte von Betroffenen die Schüler auf eine bestimmte Art und Weise in den Bann schlägt, so nämlich, daß sie sich dazu aufgerufen fühlen, die Verschiedenheit der Standpunkte diskursiv aufzuarbeiten. Multiperspektivisch angelegt, dient die Betroffenheit auslösende Verlebendigung der Vergangenheit durch anschauliches Erzählen als Anstoß zum selbständigen Gebrauch des Verstandes. Mit dieser Strukturierung ist die eingangs erwähnte Dichotomie zwischen anschaulichem Erzählen und Verstandesgebrauch überwunden. (b) Mit der bisher beschriebenen Form des Anstoßes zur diskursiven Erörterung historischer Deutungen ist die Subjektivität der Schüler nur indirekt im Spiel: Dort nämlich, wo sie sich mit Betroffenen in der Vergangenheit identifizieren (oder zumindest Anteil nehmend mit ihnen umgehen) und dabei imaginativ deren (verschiedene) Standpunkte einnehmen. Etwas anderes ist es, wenn im Geschichtsunterricht die unterschiedlichen Standpunkte der Lernenden selbst in ihrer Betroffenheit durch die geschichtliche Entwicklung thematisiert werden. Dies setzt ein Bewußtsein über verschiedene Standpunkte in der historischen Interpretation und über die Standpunktabhängigkeit der historischen Interpretation voraus. Würde man den Geschichtsunterricht so organisieren, daß diese Voraussetzung thematisch am Anfang stünde, dann würde er sich über die naive Objektivität des Geschichtsbewußtseins hinwegsetzen, mit der die Schüler ganz unreflektiert ihren eigenen Standpunkt als den einzig maßgeblichen ansehen. Sie würden genau dort, wo ihr Ich oder Wir im deutenden Umgang mit der geschichtlichen Erfahrung auf dem Spiele steht, verunsichert. Eine solche Unsicherheit ist geschichtsdidaktisch unerwünscht, da der Geschichtsunterricht ja dadurch, daß er das historische Erzählen diskursiv gestaltet, die Vernunftchancen des historischen Erzählens nutzen will, um die Identität der Schüler zu steigern und nicht zu verunsichern. Eine Standpunktrelativierung durch direkten Bezug 74

So läßt sich z.B. die Erstürmung der Bastille - ein Symbol auch unserer gegenwärtigen politischen Kultur - in ganz unterschiedlicher Perspektive erzählen. Auf der Ebene des Schulbuches läßt sich das mit Heinz Dieter Schmids Unterrichtswerk "Fragen an die Geschichte" illustrieren (Bd.3, Frankfurt 1980, S.134), wo mit den Quellenstücken 17 und 18 entsprechend Perspektiven angeboten werden.

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auf die Subjektivität der Schüler wäre in den Anfangsphasen des historischen Lernens unvermeidlich mit der Gefahr einer Identitätsschwächung verbunden, die durchaus durch aggressive Selbstbehauptung der Betroffenen kompensiert werden könnte. Denn ihnen würde der Boden der naiven Selbstgewißheit unter den Füßen weggezogen, in der sie die historische Erfahrung aufarbeiten, ohne daß sie schon die Fähigkeit erworben hätten, in der Pluralität unterschiedlicher Standpunkte eine neue, eine höhere Selbstgewißheit zu entwickeln (diejenige nämlich, die von bewußten Anerkennungsleistungen durch den anderen und im Hinblick auf das Anderssein des andern lebt). Diese höhere Selbstgewißheit aber soll durch den Erwerb narrativer Kompetenz mit Hilfe des Geschichtsunterrichts errungen werden. Der Geschichtsunterricht kann und darf also diese primäre Betroffenheit nicht vermeiden, mit der die Schüler ihren eigenen Standpunkt bei der Perspektivierung der historischen Interpretation zur Geltung bringen; nur muß diese Betroffenheit so erzeugt werden, daß sie ihn mit derjenigen Sicherheit in der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten zur Geltung bringen können, die nur die Fähigkeit zum historischen Argumentieren verleiht. Um dies zu erreichen, sollte die primäre Betroffenheit erst in der Bewegung einer Diskursivität entstehen, in die das historische Erzählen durch die sekundäre Betroffenheit gebracht worden ist. Am Anfang sollte also die indirekte Artikulation der Subjektivität der Schüler stehen, und erst in späteren Lernphasen sollte sie als Faktor der historischen Interpretation im Zusammenhang mit deren Standpunktabhängigkeit erörtert werden. Legt man den Geschichtsunterricht so an, daß sich die primäre Betroffenheit aus der sekundären entwickelt, dann entsteht die primäre Betroffenheit als Standpunkt der Schüler in der Bewegung einer Diskursivität, derjenigen nämlich, in die das historische Erzählen durch die sekundäre Betroffenheit gebracht worden war. Damit könnten Gefahren einer Dogmatisierung im Standpunktbezug durch die Schüler (und natürlich auch durch die Lehrer) vermieden werden. Diese Dogmatisierung tritt unvermeidlich immer dann ein, wenn Standpunkte absichtlich eingenommen werden, ohne daß schon die Fähigkeit ihrer diskursiven Verflüssigung eingeübt worden wäre. Eine solche Einübung könnte über die sekundäre Betroffenheit erfolgen; dann bildet sich allmählich das Bewußtsein des eigenen Standpunktes so aus, daß dieser von vornherein nicht als starr und fest (wie er gleichsam natürlich eingenommen wird), sondern als flüssig, als diskursiv bewegt bewußt wird. Diese Bewegung von der sekundären zur primären Betroffenheit in der Gestaltung des historischen Erzählens im Lernprozeß des Ge62

schichtsunterrichts müßte so organisiert werden, daß dabei schrittweise die für die narrative Kompetenz wesentlichen Fähigkeiten der typologisch unterschiedenen Weisen der Sinnbildung über Zeiterfahrung gelernt werden: Die vier Erzählweisen müssen so eingeübt werden, daß sie sich zwanglos auseinander ergeben. Der Geschichtsunterricht würde dann in seiner Anlage dem Prozeß entsprechen, den die Geschichtsdidaktik als Entwicklungsprozeß von Geschichtsbewußtsein glaubt annehmen zu können. Wie die Organisation des historischen Erzählens in der Bewegung der diskursiven Argumentation zwischen Schülern und Lehrern und zwischen den Schülern selber im einzelnen zu erfolgen hat, ist eine Frage der Praxis und der praktischen Erfahrung. Diese Frage kann natürlich nicht durch geschichtsdidaktische Grundsätze allein gelöst werden. Wohl aber können geschichtsdidaktische Grundsätze, wie die hier andeutungsweise entwickelten, solche Fragen überhaupt erst als Fragen der Praxis entstehen lassen.

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Erfahrung, Deutung, Orientierung - drei Dimensionen des historischen Lernens

Lehrer: Ich meine die Erlernung der Geschichte. Schüler: Die Geschichte? Wie kann diese den Endzweck haben, einen Menschen weiser und tugendhafter zu machen? Lehrer: Geduldet Euch. Ich muß Euch dies nach und nach entwickeln; damit Ihr immer mehr die Vorteile, die man von diesem Zweige der Gelehrsamkeit erlangen kann, einsehen und vollkommen verstehen lernet, zu wieviel schätzbaren Endzwecken sie dienet. Johann Matthias Schröckh^

Was ist historisches Lernen? Es ist ein Vorgang des menschlichen Bewußtseins, in dem bestimmte Zeiterfahrungen deutend angeeignet werden und dabei zugleich die Kompetenz zu dieser Deutung entsteht und sich weiterentwickelt. Diese Definition ist sehr allgemein; sie deckt den weiten Bereich des für die Tätigkeit des Geschichtsbewußtseins maßgeblichen Umgangs mit der Zeit ab. Alle drei Zeitdimensionen werden vom Geschichtsbewußtsein thematisiert: Die Vergangenheit wird erinnernd so vergegenwärtigt, daß gegenwärtige Lebensverhältnisse verstanden und Zukunftsperspektiven der Lebenspraxis entworfen werfen können. Natürlich dominiert der Bezug auf die Vergangenheit - Geschichtsbewußtsein ist Erinnerungsarbeit -, aber er wird maßgeblich dadurch bestimmt, daß die Erinnerung untrennbar mit Zukunftserwartungen zusammenhängt. In diesem Zusammenhang von Erinnerung der Vergangenheit und Erwartung der Zukunft wird die eigene Gegenwart als zeitlicher Prozeß wahrgenommen, interpretiert und handelnd bewältigt. Zusammenfassend kann man die Erinnerungsarbeit des Geschichtsbewußtseins als Sinnbildung über Zeiterfahrung charakterisieren. Sie erfolgt im Medium der Erinnerung, bringt die drei Zeitdimensionen in einen inneren Sinnzusammenhang und erfüllt eine praktische Orientierungsfunktion. Geschichtsbewußtsein vollzieht sich im Erzählen von Geschichten, und das geschieht in einem Kommunikationszusammenhang, in dem es um das Selbstverständnis der Beteiligten in zeitlicher Hinsicht, um ihre historische Identität, geht. Geschichten 75

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Schröckh, Johann Matthias: Der Lehrmeister oder allgemeines System der Erziehung. 2.A. Leipzig 1765, S.642f. (zit. nach Pandel: Historik und Didaktik (Anm.3), S. 50).

sind geistige Gebilde, mit deren Hilfe sich Subjekte im Zeitverlauf einordnen, in ihm sich selbst behaupten können. Die Erinnerungsarbeit des Geschichtsbewußtseins ist also bestimmt vom Selbstbehauptungs- und Selbstdurchsetzungswillen seines Subjekts, das sich die Vergangenheit aneignet, um Gegenwart und Zukunft zu bestehen. Dabei muß die jeweilige Deutung der Vergangenheit für diejenigen akzeptabel sein, die von ihr betroffen sind, die direkt oder indirekt in den erzählten Geschichten vorkommen. Ohne ein Element von Wahrheit (im Sinne von Zustimmungsfahigkeit) können daher Geschichten die Orientierungsfunktion nicht erfüllen, um derentwillen sie erzählt werden. Diese Wahrheit geht über das bloße Interesse an Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung hinaus: Sie macht das jeweils eingebrachte Interesse kommunikationsfahig im Widerstreit mit anderen Interessen; sie bindet es in Begründungspflichten ein und führt damit (im Prinzip) zu konsensfahigen Deutungen der Vergangenheit, mit denen Verständigungen in der Auffassung gegenwärtiger Lebensverhältnisse und in der Erschließung von Zukunftsperspektiven erzielt oder zumindest versucht werden können. Was läßt sich an Einsicht gewinnen, wenn man die Vorgänge des menschlichen Geschichtsbewußtseins, diese Operationen der Sinnbildung über Zeiterfahrung im Medium der Erinnerung, als Lernvorgänge betrachtet? Es müßte eine besondere Qualität der Bewußtseinsoperationen, in denen es um Geschichte(n) geht, ausgemacht werden, wenn nicht jede historische Erinnerung, nicht jede Erfahrung, Deutung und orientierende Verwendung der menschlichen Vergangenheit schon als historisches Lernen gelten soll. Um klarzumachen, um was für eine Unterscheidung es gehen soll, möchte ich ein (vielleicht allzu) simples Beispiel wählen: Schwimmen lernen und Schwimmen selber lassen sich als zwei unterschiedliche Vorgänge klar auseinanderhalten, obwohl beim Schwimmenlernen geschwommen werden muß und beim Schwimmen, das nicht aus Lernzwecken unternommen wird, durchaus etwas gelernt werden kann. Nun ist es mit der Geschichte etwas komplizierter als mit dem Schwimmen; es ist gar nicht so einfach, die Fähigkeiten genau anzugeben, die man gelernt hat, wenn Geschichte gelernt worden ist. (An welchem Verhalten kann man eigentlich ablesen, daß jemand ein entwickeltes Geschichtsbewußtsein hat?) Gibt es im historischen Lernen ein Gefühl von der Art: 'Jetzt kann ich es', - wie es sich einstellt, wenn man sich zum erstenmal eine längere Zeit schwimmend über Wasser gehalten hat? Welche Beschäftigung mit der Vergangenheit ist kein Lernprozeß? Lernen kann auch Erwerb neuen Wissens bedeuten, daher läßt sich eine passive Fernsehunterhaltung, die etwas mit historischen Stoffen zu tun hat und neue (sachlich zutreffende) In-

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formationen enthält, als Lernen ansprechen, während eine bloße Wiederholung dessen, was man eh schon weiß, kein Lernvorgang ist. Man kann Operationen des Geschichtsbewußtseins oder verschiedene Arten, sich mit Geschichte zu beschäftigen, nach Graden von Lernintensität unterscheiden, gewichten und ordnen. Welches Kriterium für die Lernqualität liegt einer solchen Unterscheidung, Gewichtung und Ordnung zugrunde? Diese Frage ist eine geschichtsdidaktische Schlüsselfrage. Was in den mentalen Vorgängen des Geschichtsbewußtseins ist lernspezifisch, und nach welchen Gesichtspunkten läßt sich ihre Lernqualität beurteilen? Ich möchte diese Fragen dadurch beantworten, daß ich zwei Bezugspunkte, zwischen denen, und drei Ebenen oder Dimensionen, auf bzw. in denen historisches Lernen erfolgt, unterscheide. Lernen ist ein dynamischer Prozeß, in dem sich das lernende Subjekt verändert; es gewinnt etwas, es eignet sich etwas an, - eine Einsicht, eine Fähigkeit oder ein Bündel von beiden. Im historischen Lernen wird 'Geschichte' angeeignet: Eine objektive Gegebenheit, ein zeitliches Geschehen, wird zu einer Bewußtseinsangelegenheit, wird subjektiv. Es beginnt eine Rolle im geistigen Haushalt eines Subjektes zu spielen. Historisches Lernen ist also ein Bewußtseinsprozeß, der zwischen den beiden Bezugspunkten spielt: objektive Vorgabe zeitlicher Veränderungen des Menschen und seiner Welt in der Vergangenheit auf der einen Seite und subjektives Selbstsein, Selbstverständnis und Lebensorientierung in der Zeit auf der anderen. Dieser Prozeß läßt sich als doppelte Bewegung charakterisieren: als Aneignung eines Erfahrungsinhaltes zeitlicher Vorgänge (abstrakt formuliert: als Subjektivwerden von etwas Objektivem) und als Abarbeiten eines Subjektes an der Erfahrung (als Objektivwerden des Subjektes). Damit ist nicht gemeint, daß die zu lernende Geschichte als fix und fertiger Sachverhalt empirisch vorgegeben und nur bewußtseinsmäßig reproduziert (objektivistisch gespiegelt), das Subjekt also lernend nur an der zu lernenden Geschichte ausgerichtet werden muß. In dieser Auffassung des Lernprozesses wird die produktive Rolle des Subjekts unterbelichtet und 'Geschichte' als Lerninhalt auf falsche Weise verdinglicht. 'Objektiv' vorgegeben ist Geschichte auf doppelte Weise: einmal als Sediment zeitlicher Entwicklungen in den Lebensverhältnissen der Gegenwart (so wird jeder Mensch in Geschichte hineingeboren, in diejenige Vergangenheit hinein, die in der Gegenwart aufgehoben ist); und dann natürlich in Dokumenten, die davon Kunde geben, was wann, wo, wie und warum der Fall war. Der Erfahrungsdruck der ersten Vorgabe von 'Geschichte' ist qualitativ stärker als derjenige der zweiten. Zur historischen Aneignung der eigenen Gegenwart muß jedoch der Schritt von der einen zur anderen Erfahrung getan werden.

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Dies ist in den realen Lebensverhältnissen immer schon der Fall: Geschichte hat sich vor allen bewußten Anstrengungen des Lernens selber schon vor-geschrieben, und zwar nicht bloß dadurch, daß die gegenwärtigen Lebensverhältnisse so geworden sind, wie sie sind (wenn es bloß auf die Gegebenheit dieser Verhältnisse ankäme, dann könnte man ihr zeitliches Werden vergessen), sondern dadurch, daß Geschichten (im Sinne von bewußter Erinnerung und gedeuteter Vergangenheit) selber Teil der realen Lebensverhältnisse sind (z.B. der politischen Kultur oder höchst wirksamer Konstellationen historischer Identität wie etwa als Elemente nationaler oder geschlechtlicher Identität). Die in die menschliche Lebenswelt als eigene Realität (also: auch 'objektiv') eingelagerten Geschichten schlagen eine Brücke von den geschichtlichen Vorgaben in den eigenen Lebensverhältnissen zur dokumentarischen Vorgabe historischer Erfahrungen, von der Geschichte, die vor aller Erinnerung als Ensemble zeitlicher Bedingungen der Lebenspraxis wirkt, zur Geschichte, die als Bewußtseinsinhalt durch Lernen entsteht. Aneignung 'objektiver' Geschichte durch historisches Lernen ist also eine (narrative) Verflüssigung der zeitlichen Bedingungen aktueller Lebensverhältnisse. Sie knüpft an die Geschichten an, die als kultureller Teil zur sozialen Wirklichkeit dieser Verhältnisse selber gehören. Das Subjekt richtet sich nicht an objektiver Geschichte aus; das braucht es nämlich gar nicht, weil es in ihr vorrangig immer schon ausgerichtet ist (konkret: in sie hineingeboren wird). Es muß sich vielmehr in ihr oder besser: aus ihr selbst gewinnen, seine Subjektivität durch ihre mehr oder weniger bewußte Aneignung aufbauen (zur Form historischer Identität). Dabei bringt es sich selbst nicht einfach so zur Geltung, daß es sich die geschichtlichen Vorgaben seiner Existenz nach Maßgabe eigener Interessen, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste zurechtlegt. Solche Absichten sind natürlich wirksam, aber sie tragen zur wirklichen Aneignung der objektiven Geschichte, zur orientierungsstarken Ausarbeitung historischen Selbstverständnisses, nicht weit genug. Vielmehr müssen die Interessen, Erwartungen und Ansprüche auf den Erfahrungsbestand der objektiven Geschichte gerichtet, an ihm abgearbeitet, durch ihn modifiziert und empirisch konkretisiert und dadurch tragfähig - werden. Dieser doppelte Lernprozeß der historischen Erfahrungsaneignung und Selbstgewinnung wird im wesentlichen durch drei Operationen vollzogen, die sich als Erfahrung, Deutung und Orientierung (künstlich) unterscheiden und entsprechend auch als unterschiedliche Ebenen oder Dimensionen des historischen Lernens analysieren lassen. Als historisches Lernen kann die Tätigkeit des Geschichtsbe-

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wußtseins dann angesprochen werden, wenn sie einen Zuwachs an Erfahrung der menschlichen Vergangenheit, an Kompetenz zur historischen Deutung dieser Erfahrung und an der Fähigkeit, historische Deutungen in den Orientierungsrahmen der eigenen Lebenspraxis einzufügen und wirksam werden zu lassen, erbringt. 76 Die Unterscheidung dieser drei Ebenen oder Dimensionen hat den Vorteil, daß sie Tätigkeitsbereiche des Geschichtsbewußtseins sichtbar macht, die oft übersehen werden. Vor allem aber macht sie deutlich, worauf es im historischen Lernen ankommt: eben nicht nur auf eine einzige Fähigkeit, sondern auf mehrere und auf ein harmonisches, ausgeglichenes Verhältnis zwischen ihnen. Der analytisch differenzierte Blick auf historisches Lernen verhindert strukturelle Defizite in seiner didaktischen Erörterung: Zu oft wird die Deutungs- und Orientierungskompetenz gegenüber der Komponente des empirischen Wissens vernachlässigt, und zu oft kommt es auch zu Ungleichgewichtigkeiten im Verhältnis der drei Komponenten. Was nützt z.B. ein breites historisches Wissen, wenn es als bloße Gedächtnisleistung erlernt worden ist und keine Orientierungskraft hat? Und auf der anderen Seite: Was nützt die Fähigkeit zur historischen Reflexion und Kritik von Praxisentwürfen, wenn sie erfahrungsarm macht? Ich möchte im folgenden die drei erwähnten Komponenten des historischen Lernens einzeln skizzieren und dann einige wesentliche Zusammenhänge zwischen ihnen charakterisieren. (a) Historisches Lernen ist Zuwachs an Erfahrung und Erfahrungskompetenz von der menschlichen Vergangenheit. Die (narrativen) Operationen des Geschichtsbewußtseins lassen sich als Lernprozesse ansprechen, wenn es in ihnen darum geht, den Bestand an Wissen darüber, was in der Vergangenheit der Fall war, zu vermehren. Dazu ist es nötig, daß sich das Bewußtsein auf neue Erfahrungen hin öffnet. Historisches Lernen hängt von der Bereitschaft ab, sich Erfahrungen auszusetzen, die einen spezifisch historischen Charakter haben. Was für Erfahrungen sind das, und welcher Anstöße bedarf es, um sie aufnehmen zu können? Es geht nicht einfach um die Wahrnehmung, daß irgendetwas in der Vergangenheit der Fall war. Nicht dadurch, daß etwas vergangen ist, ist es schon historisch. Sein historischer Charakter besteht in einer bestimmten Zeitqualität: Die Erfahrung, um die es geht, ist die eines qualitativen Unterschiedes zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Daß die Vergangenheit etwas qualitativ anderes, eine andere Zeit ist als die Gegenwart - darum 76

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Diese Unterscheidung entspricht der bekannten Gliederung der Operation des Geschichtsbewußtseins, die K.-E. Jeismann vorgeschlagen hat: Analyse, Sachurteil, Wertung. Ich glaube allerdings, daß 'Erfahrung, Deutung und Orientierung' umfassender und fundamentaler sind, also auch nicht nur engere kognitive Bereiche des Geschichtsbewußtseins ansprechen.

geht es. Historische Erfahrung ist Zeitdifferenzerfahrung. Diese qualitative Zeitdifferenz (eine alte Kirche neben einem modernen Bankgebäude, ein Fachwerkhaus neben einem Bungalow) hat ihren besonderen Reiz - eine Faszination, die zu den wichtigsten Anstößen des historischen Lernens gehört. Eine bewußte und aktive Zuwendung zu dieser Erfahrung, die Absicht, sie sich durch eine eigene Deutungsleistung anzueignen, wird allerdings durch eine solche vom Erfahrungsobjekt ausgehende Faszination allein nur selten entstehen. Dazu bedarf es eines weiteren, aus Orientierungsproblemen der eigenen Gegenwart erfolgenden Anstoßes: So richten z.B. Divergenzen zwischen Zukunftserwartungen und Gegenwartserfahrungen, die handelnd bewältigt werden müssen, den Blick auf die Vergangenheit, damit mit dieser Erfahrung eine realistische Vorstellung davon entwickelt wird, wie sie überbrückt werden können. Die erfahrene Alterität der Vergangenheit eröffnet das Zukunftspotential der eigenen Gegenwart. Dazu freilich muß sie deutend auf die Gegenwart bezogen, also geistig in den Orientierungsrahmen der eigenen Lebenspraxis eingearbeitet werden. (b) Historisches Lernen ist Zuwachs an Deutung und Deutungskompetenz. In dieser Dimension des historischen Lernens schlägt der Erfahrungs- und Wissenszuwachs in eine produktive Veränderung der Deutungsmuster um, in die hinein er verarbeitet wird. Solche Deutungsmuster integrieren verschiedene Wissensbestände und Erfahrungsinhalte, die die menschliche Vergangenheit betreffen, in einen umgreifenden Zusammenhang, in ein sogenanntes 'Geschichtsbild'. Sie geben den Beständen einen historischen 'Sinn'. Sie legen Bedeutungen fest und ermöglichen Unterscheidungen nach Wichtigskeitsgesichtspunkten. Sie geben dem, was empirisch gewußt wird, einen Stellenwert in historischen Verlaufsvorstellungen. Sie treten als Sichtweisen, als Perspektiven auf und haben im Geschichtsbewußtsein einen theorieähnlichen Status. Das heißt nicht, daß sie stets und notwendig als Theorien, also in expliziter, von den empirischen Elementen des historischen Wissens unterschiedenen Formen vorkommen müssen. Meist wirken sie eher als unbewußte Wahrnehmungsmuster und implizite Ordnungsschemata, die aus Erfahrung erst Wissen (d.h. komplexe Erfahrungszusammenhänge) machen. Letztlich entscheiden solche Deutungsmuster darüber, was an historisch Erfahrenem und historisch Gewußtem spezifisch 'historisch' ist, worin sein eigentümlicher Zeitstatus besteht, mit dem es Inhalt von Geschichten wird. Zuwachs an Deutungskompetenz im historischen Lernprozeß heißt: Die jeweils bei der Erfahrungsverarbeitung und Wissensorganisation wirksamen Deutungsmuster geraten in Bewegung; sie werden flexibel, erweitern und differenzieren sich und werden schließlich reflexiv bewußt und argumentativ verwendbar. In dieser Bewegung zu einer

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höheren Komplexität verändern sie sich qualitativ: Traditionale Deutungsmuster werden exemplarisch, exemplarische kritisch und kritische genetisch. 77 Aber auch innerhalb dieser Grundformen historischer Sinnbildung sind qualitative Zuwächse an Deutungsmöglichkeiten aufweisbar. So hat etwa H.-G. Schmidt drei Stufen des Exemplarischen unterschieden. 78 Es sind vor allem kognitive und affektive Dissonanzen zwischen Zeiterfahrungen und historischen Deutungsmustern, die Lernen als Deutungskompetenzzuwachs ermöglichen und zu neuen Formen und Inhalten des historischen Wissens führen können. Der Lernvorgang selber läßt sich beschreiben als Schritt vom quasi-natürlichen Dogmatismus historischer Einstellungen (meine Geschichte - oder vielleicht auch: die Geschichte des Lehrers - ist die einzig mögliche und wahre) zur Perspektivierung historischen Wissens, in der die Perspektive selber argumentativ verändert werden kann. (c) Historisches Lernen ist Zuwachs an Orientierung und Orientierungskompetenz. Diese Kompetenz betrifft die praktische Funktion gedeuteter historischer Erfahrung, den Gebrauch historischen Wissens, das in umgreifenden Deutungsmustern geordnet ist, zur sinnhaften Ausrichtung der eigenen Lebenspraxis in den zeitlichen Prozessen, in denen sich Mensch und Welt verändern. Menschliche Weltdeutung und Selbstverständnis haben immer spezifisch historische Elemente. Diese Elemente beziehen sich auf die diachrone Innen- und Außenseite der Lebenspraxis. Ihre Außenseite meint eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifende Sinnbestimmung zeitlicher Veränderungen in den Umständen, Bedingungen und Verhältnissen des menschlichen Lebens: Sie geht als wesentliche Komponente in die Absichtlichkeit, in die intentionale Steuerung des Handelns ein, als erfahrungsgestützte Zukunftsperspektive. Ihre Innenseite meint ein zeitliches Selbstverhältnis von Subjekten, mit dem sie sich im Wandel der Zeit selber behaupten, ihr Selbst auf Dauer stellen oder in den Veränderungen ihrer Welt zur Anerkennung bringen können. 'Historische Identität' ist die übliche Bezeichnung dieser diachronen Konsistenz von Subjekten im Wandel der Zeit. Spezifisch historisch ist diese Identität dann, wenn die für sie maßgebliche Zeitdimension die Grenzen der eigenen Lebenszeit übersteigt, also in Erinnerung und Erwartung die Endlichkeit einzelner Individuen in eine überdauernde Subjektivität transzendiert. 77 78

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Siehe dazu oben S.37ff. Schmidt, Hans-Günter: "Eine Geschichte zum Nachdenken". Erzähltypologie, narrative Kompetenz und Geschichtsbewußtsein: Bericht über einen Versuch der empirischen Erforschung des Geschichtsbewußtseins von Schülern der Sekundarstufe 1 (Unter- und Mittelstufe), in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S.28-35.

Die Art und Weise innerer und äußerer Zeitorientierung des eigenen Daseins muß gelernt werden. Sie ist bereits im Erwerb von Deutungskompetenz angelegt, denn die jeweils lernend zu erarbeitenden Deutungsmuster enthalten kategoriale (Sinn-)Bestimmungen von Zeitverläufen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifen. Historische Orientierungskompetenz ist die Fähigkeit, die mit Wissen und Erfahrung gefüllten Deutungsmuster (anknüpfend an ihren eigenen Gegenwartsbezug) auf die eigene Lebenssituation zu beziehen, sie anzuwenden, um den eigenen Standpunkt im Lebenszusammenhang der Gegenwart auszumachen und bewußt zu reflektieren. Der natürlich immer 'objektiv' (durch Geschlecht, Alter, soziale Lage usw.) vorhandene Standpunkt enthält dadurch eine subjektive temporale Richtung. Er wird zeitlich gerichtet, und mit seiner subjektiven Qualität wird er auch veränderbar: Er fällt (zumindest partiell) in die Handlungskompetenz der Betroffenen. Quasi-natürliche Vorgaben der Lebenssituation und der eigenen Identität werden mit der Kraft empirisch gehaltvoller historischer Deutungen aufgeladen. Sie verflüssigen sich zu Standpunkten, die im Medium historischer Argumentation zur Geltung gebracht und dabei auch verändert werden können. Durch historisches Lernen verändern sich die maßgebenden Orientierungsrahmen der Lebenspraxis: Sie werden historisiert und dadurch mit 'Sinn für die Wirklichkeit' (Wilhelm von Humboldt) angereichert. Dieser Sinn läßt sich näher bestimmen als Fähigkeit, die Historizität der eigenen Welt und des eigenen Selbst wahrzunehmen und als Handlungs- und (Selbst-) Bildungschancen zu erkennen. Auch diese Veränderung hat eine qualitative Signatur: Sie führt vom Zwang autoritärer Standpunktvorgaben und Lebensperspektivierungen zur Freiheit der historisch begründenden Standpunktreflexion und Perspektivenwahl. (d) Die drei skizzierten Operationen des Geschichtsbewußtseins und Dimensionen des historischen Lernens sind natürlich aufs engste ineinander verschränkt. Es gibt keine deutungsfreie historische Erfahrung und keine erfahrungsfreie historische Orientierung, und jedes Deutungsmuster ist zugleich erfahrungs- und orientierungsbezogen. Mit ihrem inneren Zusammenhang repräsentieren sie die Komplexität des historischen Lernens, seine Doppelpoligkeit zwischen Erfahrungsaneignung und Selbstgewinnung in den mentalen Bewegungen des Geschichtsbewußtseins. Es wäre verfehlt, die Einheit des historischen Lernens, das also, was es bei aller Vielschichtigkeit von anderen Lernvorgängen klar unterscheidbar macht, von der Objektseite her zu definieren, von der Geschichte also, die als kulturell wirksamer Erfahrungsbestand lernend angeeignet und über Deutungsvorgänge zu Orientierungszwecken zur

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Verfügung gestellt wird. Eine solche Auffassung würde zu einer Geschichtsdidaktik führen, in der es vor allem auf eine Ausrichtung der lernenden Subjekte an einem vorgegebenen Kanon historischer Gegenstände ankäme. Die Dynamik der Subjektivität versteinerte im historischen Wissensbestand. Ein weitgehend nur rezeptiv angeeignetes historisches Wissen würde eher die Fähigkeit zur Deutung und zum orientierenden Gebrauch historischer Erfahrungen verhindern als fördern. Die in ihm eingelagerten Deutungen würden als solche weder wahrgenommen, also in ihrer fundamentalen Funktion der Wissensorganisation übersehen, noch könnten sie die lernende Subjektivität als Quelle neuen Fragens und als Bereitschaft zu neuer historischer Erfahrung anregen. Noch weniger ließe sich das (an-) gelernte historische Wissen produktiv auf Orientierungsprobleme der Lebenspraxis beziehen. Im Sinne einer vermeintlichen Sachlichkeit verlöre das historische Wissen seine kulturelle Orientierungsfunktion, um deren Erfüllung willen es letztlich produziert wird. Umgekehrt ist es aber genauso verfehlt, den historischen Lernvorgang didaktisch ganz vom subjektiven Interesse der Lernenden her zu konzipieren, so daß das Erfahrungs- und Wissensmoment des Geschichtsbewußtseins zur bloßen Folie würde, auf der sich die Subjektivität der Lernenden einschriebe. Die historische Erfahrung und das erfahrungsgesättigte historische Wissen verlören ihre Widerständigkeit gegen die projektive Kraft des Meinens, Wünschens, Hoffens und Fürchtens, und damit würde den Lernenden die Chance genommen, ihre Subjektivität so an der Erfahrung abzuarbeiten, daß sie sie aus der Entäußerung an die 'Sache' gestärkt zurückgewinnen. Subjektive Orientierungsbedürfnisse oder -gesichtspunkte können didaktisch so ins Spiel gebracht (und Lernen entsprechend organisiert) werden, daß das Geschichtsbewußtsein resistent gegen irritierende Erfahrungen und Wissensinhalte wird. In einem solchen Lernprozeß führte das subjektive Interesse nur zur ideologischen Fixierung von Orientierungen mit entsprechend dogmatischen Formen historischer Identität; die Lernenden würden um den "Sinn für die Wirklichkeit" betrogen, den ihnen die Arbeit an der Deutung historischer Erfahrung erschließt. Ihre Deutungen und Orientierungen würden erfahrungsarm. Beide Vereinseitigungen lassen sich dadurch vermeiden, daß das historische Lernen als ein Vorgang betrachtet wird, in dem die Lernenden die Fähigkeit zu einer argumentativen Balance zwischen Erfahrungs- und Subjektbezug erwerben. Im Medium des Argumentierens kann die historische Erfahrung nur schlecht zu deutungs- und orientierungsschwachen Wissensbeständen gerinnen, und das Medium des Argumentierens hält zugleich die Deutungmuster und Orientierungsrahmen erfahrungsoffen und flexibel. Die Operationen des Geschichtsbewußtseins sollten also primär unter dem Gesichtspunkt als

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historisches Lernen angesehen, organisiert und beeinflußt werden, daß es um den Erwerb einer solchen Argumentationskompetenz geht, in der alle drei Dimensionen: Erfahrung oder Wissen, Deutung und Orientierung in ihrer Verschränkung berücksichtigt werden. Es geht darum, die beiden Bezugsgrößen: Geschichte als objektive Vorgabe in den Lebensverhältnissen der Gegenwart und Geschichte als subjektives Konstrukt interessegeleiteter praktischer Orientierung in Balance zu bringen und zu halten.

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Historisches Lernen - Grundriß einer Theorie

Lehrer: Wo dran hat man denn gemerkt, daß da einmal Geschichte vorkam? Also im Stundenplan hab ich eben geguckt, im Lehrerzimmer, steht Gesellschaftslehre, steht nix von Geschichte. Ja? Schüler: Ja, also da reden wir da und so und da haben wir auch so Geschichten und so Blätter über die gekriegt, über die Neandertaler, und da hatten wir über die geredet. Lehrer: Ah so. Hm. Schüler: Da waren so einige Geschichten dabei und deswegen kann man sich ja denken, daß das was mit Geschichte zu tun hat dann. Lehrer: Hm. Ja. Du wolltest noch was sagen. Schüler: N ä . 7 9

1. Zur Aufgabe der Geschichtsdidaktik Die Geschichtsdidaktik ist als Fachdisziplin von pragmatischen und von akademischen Gesichtspunkten geprägt, die in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Pragmatisch wird sie allenthalben dafür in Anspruch genommen, professionellen Historikerinnen und Historikern die Kompetenzen zum Geschichtslehrer in Schulen zu vermitteln. Ohne den Bedarf an Lehrertraining für den Geschichtsunterricht gäbe es die Geschichtsdidaktik als etablierte Fachdisziplin der Geschichtswissenschaft vermutlich nicht. Akademisch hat sich die Geschichtsdidaktik jedoch nicht auf die Rolle einer Kunstlehre des Geschichtsunterrichts festlegen lassen, sondern ist mit ihren Fragestellungen über die Unterrichtsmethodik und Vermittlungstechnologie historischen Wissens zu grundsätzlicheren Dimensionen des praktischen Umgangs mit historischem Wissen vorgestoßen. 80 Sie hat die curriculumtheoretische Wende der Erziehungswissenschaften aufgegriffen, das Lehren von Geschichte in den umfassenden Zusammenhang eines planbaren Lernprozesses gestellt und wesentliche Faktoren dieses Prozesses, die weit über die Schule hinaus weisen, analysiert81; sie hat die Subjektivität der Lernenden, die Vor79 80 81

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Gespräch über Geschichtsbewußtsein, Stundenprotokoll, 5. Klasse Gesamtschule Bochum (unveröffentlicht). Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft, in: Süssmuth: Positionen (Anm.50), S. 17-48. Kuhn, Annette: Geschichtsdidaktik und Curriculum-Entwicklung, in: Bergmann u.a. (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Anm.29), S.339-348.

gänge der Rezeption von Geschichte und das Schülerinteresse als wesentliches Thema didaktischer Reflexionen hervorgehoben; und sie hat schließlich als ihren eigentlichen Gegenstand das Geschichtsbewußtsein und seine Rolle in der menschlichen Lebenspraxis bestimmt. 82 Mit dieser Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs vom Lehren der Geschichte bis zur umfassenden Analyse aller Erscheinungsformen und Funktionen des Geschichtsbewußtseins entwickelte die Geschichtsdidaktik ein Selbstverständnis, in dem sie sich als relativ autonome Subdisziplin der Geschichtswissenschaft mit eigenen Forschungs- und Lehrgebieten, mit eigenen Methoden und mit einer eigenen Funktion ausnahm. 8 3 Sie tritt mit dem Anspruch auf, die Orientierungsfunktion, die historischem Wissen in der menschlichen Lebenspraxis zukommt, zu untersuchen und durch ihre Untersuchungen zur Steuerung dieser Funktionen beizutragen. Unbestritten ist dieser Anspruch, wenn es um die praktische Funktion geht, die dem historischen Wissen im Erziehungs und Bildungssystem, insbesondere im schulischen Geschichtsunterricht, zukommt; solange die pädagogische Kompetenz eines Lehrers zugleich mit der fachlichen Kompetenz eines Historikers verlangt wird, muß es einen Ort der Professionalisierung geben, der beides miteinander vermittelt. Anders ist es mit der Plausibilität des Zuständigkeitsanspruchs, den die Geschichtsdidaktik erhebt, und mit ihrer disziplinaren Struktur, wenn sie sich auf das weite und diffuse Feld des Geschichtsbewußtseins (oder, wie man auch vorgeschlagen hat zu sagen: der historischen Selbstverständigung) erstreckt. Es läßt sich zwar phänomenal als Einheit beschreiben: als Inbegriff all der Tätigkeiten des menschlichen Bewußtseins, in denen Vergangenheit gedeutet wird, um Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu erwarten, aber dieser Einheit entspricht keine spezielle Funktion, die eine Subdisziplin der Geschichtswissenschaft von anderen unterscheiden und arbeitsteilig im Verbund mit ihnen organisieren könnte. Geschichtsbewußtsein gibt als Untersuchungsobjekt der Geschichtsdidaktik keine Gesichtspunkte ab, mit der sich die Geschichtsdidaktik in die sektorale und chronologische Aufgliederung der Geschichtswissenschaft einordnen ließe. So sind Selbstverständnis, subdisziplinäre Struktur und praktische Funktion der Geschichtsdidaktik noch nicht hinreichend klar und anerkannt; zumindest ihr Verhältnis zueinander ist nicht konsistent. Es scheint so, als habe die Geschichtsdidaktik ihren Zuständigkeitsbereich nur auf Kosten eines klaren Stellenwerts im Wissen82 83

Beispielhaft sei auf die Arbeiten von Jeismann: 'Geschichtsbewußtsein' (Anm.51) und Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein (Anm.51) hingewiesen. Vgl. dazu Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsdidaktik und Forschungskommunikation, in: Behre, Göran; Norborg, Lars Arne (Eds): Geschichtsdidaktik, Geschichtswissenschaft, Gesellschaft. Stockholm 1985, S.35-62.

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schafts- und Bildungssystem erweitert; ihrem gewachsenen disziplinaren Prestige als Wissenschaft vom Geschichtsbewußtsein entspricht keine Definition ihres Objektbereichs, der ihren disziplinären Sonderstatus im Geflecht der historischen Spezialdisziplinen und im Interdependenzbereich der Geschichtswissenschaft mit den Sozialwissenschaften, der Pädagogik und der Psychologie begründen könnte. Dieser Mangel läßt sich beheben, wenn man danach fragt, was denn so unterschiedliche Ausprägungen der Geschichtsdidaktik wie diejenige einer Kunstlehre des Unterrichtens von Geschichte, einer (Erziehungs-)wissenschaft vom Curriculum organisierten Lehrens und Lernens von Geschichte und einer Wissenschaft vom Geschichtsbewußtsein als wesentliche Zielrichtungen des jeweiligen Erkenntnisinteresses gemeinsam haben: Im ersten Falle geht es um das Lehren und im zweiten um Lehren und Lernen von Geschichte; im dritten Falle ist die Zielrichtung nicht so klar: Geschichtsbewußtsein kann in ganz unterschiedlichen Hinsichten in den Blick kommen und reicht, wie gesagt, als definierbarer Objektbereich nicht aus, eine ihm speziell gewidmete Fachdisziplin zu begründen. Nun ist Geschichtsbewußtsein ja nicht willkürlich als "zentrale Kategorie" der Geschichtsdidaktik (Jeismann) gewählt worden; sondern ihr disziplinarer Zuschnitt auf diesen Objektbereich erfolgt ganz konsequent von der Frage her, wie Geschichte gelehrt und gelernt wird, werden kann und werden soll. Mit dem Thema 'Geschichtsbewußtsein' werden genau die Faktoren des organisierten Lehrens und Lernens angesprochen, die ihr Spezifikum des 'Historischen' ausmachen, und zwar in zwei Hinsichten: Einmal geht es darum, die subjektive Seite in den Blick zu bringen, die alles Lehren und Lernen von Geschichte hat, insofern in ihm ja nicht einfach objektive Wissensinhalte transportiert oder 'vermittelt' werden, sondern immer zugleich ganz bestimmte Prozesse der Individuation und Sozialisation erfolgen, in denen sich historisches Selbstverständnis der betroffenen Subjekte, ihre historische Identität, durch selektive, normativ gesteuerte Aneignung geschichtlicher Erfahrungen, ausbildet. Zugleich geht es darum, organisiertes (zumeist: schulisches) Lehren und Lernen von Geschichte auf der Folie der menschlichen Lebenspraxis erscheinen zu lassen, d.h. seine Bedingtheit durch und Angewiesenheit und Zielgerichtetheit auf die nicht-organisierte historische Erinnerung zu erkennen, die im kulturellen oder mentalen Haushalt eines Individuums oder einer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt, Geschichtsbewußtsein wird zum Objekt einer Geschichtsdidaktik, die das Lehren und Lernen von Geschichte nicht aus dem Blick verlieren, sondern den didaktischen Blick gerade schärfen will: Geschichtsbewußtsein meint in dieser Blickrichtung letztlich historisches Lernen auf der Ebene fundamen-

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taler und elementarer, lebenspraktisch notwendiger Erinnerungsarbeit. Auf dieser Ebene läßt sich dann all das situieren, was im Rahmen einer eher unterrichtspragmatisch ('methodisch') oder einer eher curriculum-theoretisch konzipierten Geschichtsdidaktik als Phänomenbereich angesprochen wird. Da alles Lehren letztlich um des Lernens willen geschieht und da dessen organisierte Formen stets von nichtorganisierten Entwicklungen umgeben und beeinflußt sind ('Organisation' als Unterricht also nur einen Spezialfall darstellt, der für sich allein gar nicht hinreichend untersucht werden kann) 84 , dürfte Geschichtsbewußtsein, wenn es als Lernprozeß angesehen wird, das entscheidende spezifische Thema der Geschichtsdidaktik sein. Man braucht also nur den Namen Geschichtsdidaktik ernst zu nehmen, um sie so zu definieren: Geschichtsdidaktik ist die Wissenschaft vom historischen Lernen. Im Thema 'Historisches Lernen' konvergieren also die unterschiedlichen (sub-)disziplinären Konzeptionen der Geschichtsdidaktik, und von ihm her läßt sich auch eine kohärente und konsistente Untergliederung der Geschichtsdidaktik vornehmen, in der man unschwer und zwanglos die unter differierenden Zielsetzungen erfolgte und erfolgende geschichtsdidaktische Arbeit einordnen und produktiv aufeinander beziehen kann: Historisches Lernen wird empirisch, normativ und pragmatisch untersucht. Empirisch stellt die Geschichtsdidaktik die Frage, was historisches Lernen ist; sie untersucht die realen Vorgänge, in denen es sich manifestiert, seine mannigfaltigen Bedingungen, Formen und Resultate, seine Rolle in den Prozessen der menschlichen Individuation und Sozialisation. Dabei verfolgt sie die Absicht, historisches Lernen in seiner konkreten Mannigfaltigkeit zu beschreiben, seine bestimmenden Faktoren zu identifizieren und ihren systematischen Zusammenhang zu ermitteln. Die hier anstehenden Aufgaben konkreter empirischer Forschungsarbeit sind nur zu einem (erschreckend) kleinen Teil erfüllt. Normativ stellt die Geschichtsdidaktik die Frage, was historisches Lernen sein soll, und untersucht die Gesichtspunkte, nach denen es absichtsvoll (durch Lehren) beeinflußt, geplant, geformt, gelenkt und kontrolliert werden soll. Dabei verfolgt sie die Absicht, solche Gesichtspunkte als konsensfahige Zielbestimmungen organisierten historischen Lernens und Lehrens zu ermitteln und zu begründen. Hier gibt es eine reiche und recht kontroverse Lernzieldiskussion; ein dringendes Desiderat stellen Untersuchungen zur Geschichtsspezifik und zur Konsensfähigkeit normativer Bestimmungsgrößen des historischen Lernens dar. - Pragmatisch 84

Vgl. dazu Schörken, Rolf: Organisiertes und nicht organisiertes Lernen von Geschichte, in: Geschichtsdidaktik 9 (1984), S.337-342.

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schließlich stellt die Geschichtsdidaktik die Frage, wie historisches Lernen planmäßig und zielbestimmt organisiert werden kann, und untersucht Strategien des historischen Lehrens. Hierhin gehört vor allem die reichhaltige unterrichtspraktische Literatur, die Lehrerfahrung und systematische Unterrichtsanalyse in die Form praktischer Regeln bringt. 2. Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß Die Geschichtsdidaktik braucht also einen klaren und umfassenden Begriff des historischen Lernens, um sich als Fachdisziplin zu explizieren und von klaren und prüfbaren theoretischen Grundlagen aus ihre empirischen Forschungen, normativen Reflexionen und pragmatischen Strategien zu entwickeln und zu koordinieren. Die folgenden Überlegungen wollen zu dieser grundlegenden theoretischen Konzeption des Objektbereichs der Geschichtsdidaktik beitragen. Ich möchte zunächst versuchen, 'historisches Lernen' als fundamentalen und elementaren Prozeß der menschlichen Lebenspraxis zu beschreiben. Ich verstehe diesen Versuch als Weiterführung und Synthese der bislang in der westdeutschen Geschichtsdidaktik vorherrschenden Ansätze. Ich möchte die curriculum- und lerntheoretisch orientierte Geschichtsdidaktik gleichsam beim Wort nehmen und eine Argumentation vorschlagen, mit der man die immer schon unterstellte Spezifik des historischen Lernens so explizieren kann, daß es als kohärenter Prozeß mentaler und kognitiver Operationen und Entwicklungen sichtbar - und dann auch curricular bestimmbar - wird. Kein Curriculum ohne Lerntheorie - diese Trivialität ist keine, wenn es darum geht, dasjenige Lernen curricular zu organisieren, in dem es speziell um Geschichte geht. Andererseits möchte ich die geschichtsdidaktischen Ansätze beim Geschichtsbewußtsein stringent an die Ausgangsfrage nach wesentlichen Faktoren organisierten Lehrens und Lernens von Geschichte zurückbinden. Ich möchte eine Argumentation vorschlagen, die die Einheit und Prozessualität des Geschichtsbewußtseins auf derjenigen lebensweltlichen Ebene anspricht, zu der die Subjektivierung und Fundamentalisierung des historischen Lernens als Objekt der Geschichtsdidaktik führt und die zugleich die spezifisch didaktische Dimension dieser Ebene im Blick behält. Kein Geschichtsbewußtsein ohne Lernprozeß - diese Trivialität ist keine, wenn es darum geht, diesen Lernprozeß dort auszumachen, wo Geschichtsbewußtsein in elementaren Orientierungsvorgängen der menschlichen Lebenspraxis konstituiert ist. Was also ist historisches Lernen? Diese Frage sollte so beantwortet werden, daß nicht nur die für ein organisiertes (schulisch-unterrichtliches, aber auch außerschulisches) Lernen wesentlichen Aspekte in

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den Blick kommen, sondern ein elementarer und fundamentaler Lernvorgang, der allem organisierten Lernen zugrunde liegt und dessen Eigenart, Möglichkeiten und Grenzen definiert. Zu solchen Überlegungen hat die Wendung der Geschichtsdidaktik zum Geschichtsbewußtsein als Basis allen historischen Lehrens und Lernens geführt. An diese Wende läßt sich anknüpfen und Geschichtsbewußtsein lerntheoretisch explizieren. Dazu ist es notwendig, Geschichtsbewußtsein als einen mentalen Prozeß ins Auge zu fassen, als ein Ensemble von Bewußtseinsoperationen (emotionaler, kognitiver und pragmatischer Art), das sich von anderen Ensembles begrifflich trennscharf als spezifisch geschichtsbezogen unterscheiden und in seiner Spezifik auch explizieren läßt. Eine solche Unterscheidung und Explikation möchte ich im Rahmen einer erzähltheoretischen Rekonstruktion historischer Bewußtseinsleistungen versuchen. Es ist hier nicht der Ort, eine solche Rekonstruktion in ihren Grundzügen zu entwickeln - dies ist andernorts auf verschiedene Weise geschehen 85 ; es genügt, historisches Erzählen als das Ensemble von Bewußtseinsoperationen zu beschreiben, das Geschichtsbewußtsein als eine elementare und allgemeine (lebensweltliche) Orientierungsleistung konstituiert. Mit 'historischem Erzählen' ist keine Darstellungsform von historischem Wissen gemeint, sondern etwas viel Grundsätzlicheres: So wie historisches Wissen in seiner formalen (logischen) Struktur im Unterschied zu anderen Wissensformen narrativ verfaßt ist, so wie es eine (geschichts-) spezifische narrative Form des Erklärens gibt, 86 so gibt es auch auf der Ebene menschlichen Bewußtseins- oder Sprachhandelns eine spezifische Sprachhandlung, diejenige nämlich, in der im Medium der Erinnerung an die Vergangenheit aktuelle Zeiterfahrungen verarbeitet, Zukunftsperspektiven eröffnet und menschliche Identität zeitlich (diachron) formiert wird. 'Historisches Erzählen' meint diese Sprachhandlung. Historisches Erzählen ist ein kommunikativer Akt 87 von Sinnbildung über Zeiterfahrung. Seine Notwendigkeit ergibt sich daraus, daß die menschliche Lebenspraxis dauernd dem Erfahrungsdruck eines zeitlichen Wandels ausgesetzt ist, der von den Betroffenen, kommunikativ so weit aufgearbeitet werden muß, daß sie in diesem Wandel ihr Handeln sinnhaft orientieren können, und zwar auch und gerade 85 86 87

Rüsen: Historische Vernunft (Anm.5); ders.: Die vier Typen des historischen Erzählens (Anm.48); vgl. vor allem oben S.25-63. Dazu als Überblick Rüsen, Jörn: Erklärung und Theorie in der Geschichtswissenschaft, in: Storia della Storiografia H. 4 (1983), S.3-29. Die kommunikative Seite des historischen Erzählens betont vor allem Röttgers, Kurt: Geschichtserzählung als kommunikativer Text, in: Quandt, Siegfried; Süssmuth, Hans (Eds): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S.29-48; vgl. ders.: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten (Anm.42).

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dort, wo es sich in sozialer Interaktion vollzieht. Am Ursprung des menschlichen Geschichtsbewußtseins steht also eine Gegenwartserfahrung, diejenige nämlich, daß sich die Bedingungen, unter denen jeweils gehandelt werden muß und kann, in einer von den Handelnden nicht direkt beabsichtigten Weise ändern. Diese Gegenwartserfahrung muß nun von den Betroffenen gedeutet werden; sie müssen sie in den Orientierungsrahmen ihrer Lebenspraxis sinnhaft so einarbeiten, daß sie handlungsleitenden Sinnkriterien genügt. Dies leisten sie dadurch, daß sie ihre Erinnerung an die Vergangenheit mobilisieren. Denn weil sie ja unmittelbar in den zu deutenden zeitlichen Wandel ihrer eigenen Welt und ihrer selbst verstrickt sind, können sie ihn nicht direkt zum Objekt deutender Aneignung in den Orientierungsrahmen ihrer Lebenspraxis machen. Stattdessen bietet ihnen ihre Erinnerung ein Erfahrungsmaterial an, mit dem sie diese Deutung gemeinsam erarbeiten können. Die Vergangenheit wird thematisch, um Gegenwart verstehen und Zukunft erwarten zu können. Mit Recht hat Jeismann betont, daß Geschichtsbewußtsein ein innerer "Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive" ist. 88 Historisches Erzählen ist nun nichts anderes als derjenige kommunikativ vollzogene mentale Vorgang, in dem dieser Zusammenhang operativ erstellt wird, in dem also die Erfahrung der Vergangenheit zur Deutung der Gegenwart und Erwartung der Zukunft erinnernd vergegenwärtigt wird. Historisches Erzählen macht aus der Zeit, die Lebenspraxis irritiert und problematisiert, Sinn, der Lebenspraxis orientiert; es macht aktuelle Erfahrungen vom zeitlichen Wandel menschlicher Lebensumstände verständlich, indem es diese Erfahrungen durch Rekurs auf die in der Erinnerung aufbewahrte erfahrene Zeit so deutet, daß der menschliche Lebensvollzug in diesem aktuellen zeitlichen Wandel handlungsermöglichend und -leitend orientiert werden kann. Damit eröffnet das historische Erzählen dem durch Zeiterfahrung irritierten Handeln des Menschen eine durch Zeiterfahrung gesicherte Zukunftsperspektive. Es synthetisiert also die drei Dimensionen der Zeit in die Vorstellung eines übergreifenden Sinns, der in der Form einer Richtungsbestimmung, einer zeitspezifischen Orientierungsgröße (intentionaler) Bestandteil der menschlichen Lebenspraxis wird. 'Kontinuität' ist die kategoriale Bestimmung dieser durchgehenden fundamentalen Sinnbestimmung (weniger mißverständlich ließe sich auch von 'Zeitverlaufsvorstellung' sprechen).89 88 89

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Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtsein, in: Bergmann u.a. (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Anm.29), S.42-45, hier S.42. Zu dieser Kategorie vgl. Rüsen: Der Teil des Ganzen. Über historische Kategorien, in: ders.: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln 1993.

Diese Kontinuitäts- oder Zeitverlaufsvorstellung, die im Prozeß der historischen Sinnbildung über Zeiterfahrung die drei Zeitdimensionen zur Einheit eines durchgängigen Sinnzusammenhangs vereinigt, erfüllt in der sozialen Kommunikation und im menschlichen Selbstverständnis eine wichtige Sozialisations- und Individuierungsfunktion: Sie dient zur Bildung historischer Identität; mit ihr können (individuelle und kollektive) Subjekte die Grenzen ihrer Lebenszeit überschreiten, sich gleichsam einfügen in den Wandel der Zeit, dem sie unterworfen sind, und dabei zugleich eine zeitüberdauernde Subjektivität gewinnen (z.B. als Angehörige einer Nation oder als Vorkämpfer einer erwarteten Zukunft usw.). Maßgebend für den Erfolg der Deutungsarbeit des Geschichtsbewußtseins an der Zeiterfahrung ist die Funktion, die das Ergebnis dieser Deutungsarbeit, die mit der Erfahrung der Vergangenheit und der Erwartung der Zukunft erfüllte und konkretisierte Kontinuitätsvorstellung, für die historische Identität derjenigen hat, die sie sich bilden oder an die sie adressiert wird. Historische Identität heißt nichts anderes als die Fähigkeit von Menschen, die Erfahrung, daß und wie sie sich im Laufe der Zeit verändern, in ein diachron konsistentes Selbstverhältnis, in eine ihren Lebensvollzug tragende Vorstellung zeitüberdauernder Subjektivität, einzuarbeiten.90 Das geschilderte Ensemble von Bewußtseinsoperationen, das die Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins vollzieht, läßt sich auch als Lernprozeß ansprechen und explizieren. 'Lernen' läßt sich als ebenso elementarer und fundamentaler Vorgang der Lebenspraxis thematisieren wie 'historisches Erzählen'. Dies ist bei den gebräuchlichen Lerndefinitionen zumeist der Fall. Unter 'Lernen' versteht man gewöhnlich einen (nicht nur) für den Menschen lebensnotwendigen Prozeß oder Vorgang, in dem durch eine nicht instinkt-gesteuerte, also produktive, aktiv zu leistende Erfahrungsverarbeitung Handlungsdispositionen oder Fähigkeiten erworben werden. Lernen ist Kompetenzerwerb durch selbsttätige Aneignung (Deutung) von Erfahrung. Beim Menschen ist sie durch dessen einzigartige Fähigkeit zur objektivierenden Distanznahme zur Umwelt und zur Selbstreflexion und -objektivation im Lebensvollzug gekennzeichnet. Legt man diesen Lernbegriff zugrunde, dann ist grundsätzlich jeder Prozeß des historischen Erzählens, jede Sinnbildung über Zeiterfahrung, ein Lernprozeß, und zwar dann, wenn er nicht bloß bereits erworbene Kompetenzen der Sinnbildung aktiviert, sondern sie erweitert oder qualitativ verändert (entwickelt). Historisches Erzählen selber läßt sich also als Lernprozeß beschreiben: 90

Dazu Rüsen, Jörn: Geschichtsbewußtsein und menschliche Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41 (1984), S.3-10.

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Dieser Prozeß kann auf doppelte Weise angestoßen oder generiert werden. Einmal durch den Orientierungsbedarf der menschlichen Lebenspraxis, der aus (dauernden) Diskrepanzen zwischen Zeiterfahrungen und zeitbezogenen Absichten entsteht. Schießen Erwartungen von zeitlichen Entwicklungen über Erfahrungen von zeitlichen Entwicklungen hinaus oder gibt es einen Erfahrungsdruck von zeitlichen Veränderungen, die den bisherigen Deutungsmustern von Zeiterfahrung nicht entsprechen, dann wird ein Lernprozeß in Gang gesetzt, in dem diese Diskrepanzen zwischen innerer und äußerer Zeit, zwischen Erwartung und Erfahrung in neue Deutungsmuster hinein abgearbeitet werden. Es schlägt die Stunde eines historischen Erzählens, das über routinisierte Zeiterfahrungsverarbeitungen hinausführt. (Historisches Lernen ist ohne konstitutiven Gegenwartsbezug unmöglich.) Es gibt aber auch eine andere Initiation des historisches Lernens: durch die Faszination der Alterität der Vergangenheit. Ein Stück der eigenen Lebenswelt (z.B. eine alte Hausfassade, ein mittelalterlicher Dom im Stadtzentrum) fällt durch sein Anderssein auf, mit der es eine andere Zeit, andere Lebensverhältnisse indiziert. Diese Alterität erzeugt eine Art Dissonanz der Orientierung, eine Unstimmigkeit, die in historische Einordnungen des Wahrgenommenen hinein weggearbeitet werden kann. Schematisch läßt sich hier Lernprozeß des Geschichtsbewußtseins, in dem irritierende Zeiterfahrungen in neue Zeitdeutungskompetenzen abgearbeitet werden, folgendermaßen beschreiben: Aus der Konfrontation der neuen Zeiterfahrung mit den zeitspezifischen Sinnkriterien, die Handlungsintentionen emotional, mental und kognitiv organisieren, werden Hinsichten auf das Erfahrungspotential der Erinnerung mit der Absicht gebildet, die aktuellen Erfahrungen zu deuten, sie verstehbar, 'behandelbar' zu machen. Im Rahmen dieser Hinsichten werden dann die einschlägigen ('relevanten') Erfahrungen der Vergangenheit aufgearbeitet und angeeignet. Diese angeeigneten, wissensmäßig erworbenen Erfahrungen werden dann geformt, so daß sie intersubjektiv verhandelbar werden, ins Medium der kulturellen Kommunikation eingehen können, in denen Subjekte ihre Lebenspraxis im Prozeß zeitlicher Veränderungen intentional-absichtsvoll organisieren. Die Vergangenheit wird so zum "dauernden Besitz" der Gegenwart (Thukydides); sie erfährt in der Form von Geschichten ihre spezifisch historische 'Vergegenwärtigung' und dient in dieser Form einer geistig gedeuteten Zeiterfahrung als Orientierungsfaktor aktueller Lebenspraxis. Der Zeiterfahrungsdruck der Gegenwart ist über die deutende Vergegenwärtigung der Vergangenheit weggearbeitet: Die betroffenen Subjekte haben die Fähigkeit erworben, ihre Gegenwartserfahrung so zu deuten, daß sie in ihr leben und sich zur Geltung bringen können.

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Damit dürfte angedeutet sein, was Geschichtsbewußtsein lerntheoretisch bedeuten könnte. Geschichtsbewußtsein läßt sich in eine geordnete Folge von Lernoperationen zerlegen, die zusammen einen einheitlichen Prozeß bilden; dieser Prozeß kann von anderen Lernprozessen klar abgegrenzt und im einzelnen beschrieben und analysiert werden. Historisches Lernen läßt sich auf der (erzähltheoretischen) Ebene fundamentaler und allgemeiner Operationen des Geschichtsbewußtseins als geregelte Sequenz folgender Lernoperationen in einem inneren dynamischen Zusammenhang beschreiben: Aus Zeiterfahrungsdruck und Zeiterwartungsüberschüssen und aus der Faszination gegenwärtig erfahrener Vergangenheit werden Orientierungsbedürfnisse generiert. Diese Orientierungsbedürfnisse werden nach Maßgabe leitender Sinnkriterien der Lebenspraxis in der Form von Sinnvermutungen auf das Erfahrungspotential der Erinnerung an die Vergangenheit gerichtet. In diese Sinnvermutungen wird die Erfahrung der Vergangenheit eingearbeitet und dadurch als bedeutungsvoll qualifiziert. Die als bedeutungsvoll erschlossene Vergangenheit wird zu kommunikationsfähigen Geschichten gestaltet. Diese Geschichten geben in der kulturellen Steuerung der menschlichen Lebenspraxis notwendige Zeitorientierungen. Geschichtsdidaktisch ist diese Beschreibung unbefriedigend. Sie sagt ja eigentlich nur aus, daß jeder historische Erkenntnisprozeß immer auch ein Lernprozeß ist; sie sagt noch zu wenig darüber, worauf es denn eigentlich bei diesem fundamentalen und allgemeinen historischen Lernen ankommt, wenn es als Lernen besonders angesprochen und organisiert werden soll. Wenn historisches Lernen Angelegenheit eines ganz besonderen, eigens als Lernen organisierten Hanlungszusammenhangs gemacht werden soll, dann kommt mehr in den Blick als der bloße Vollzug produktiver Zeiterfahrungsverarbeitung in Zeitdeutungskompetenz, dann geht es nicht um das historische Erzählen als Lernprozeß, sondern darum, daß und wie dieses Lernen selber gelernt wird, gelernt werden kann und gelernt werden soll. Der Lernprozeß des Geschichtsbewußtseins erscheint dann als ein Prozeß, in dem die Fähigkeit zur narrativen Sinnbildung über Zeiterfahrung selber erst gelernt werden soll, er erscheint als Lernen des Lernens, als ein selbstreflexiver Prozeß. 'Selbstreflexiv' heißt, daß hier nicht ein ganz anderes Lernen, etwa ein 'didaktisches' neben einem 'normalen' oder 'fachlich-wissenschaftlichen' angesprochen wird, sondern daß es um eine innere didaktische Dynamik des historischen Lernens selber geht, darum, daß es sich in seinem Vollzug entwickelt. Der Lernprozeß des Geschichtsbewußtseins rückt hier in eine genetische Perspektive; er wird als Entwicklung eines Subjekts thematisiert, in der es die Kompetenz zur narra-

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tiven Sinnbildung über Zeiterfahrung erwirbt, in der es also das historische Lernen erlernt. Historisches Lernen ist in dieser reflexiven, in dieser zugespitzt didaktischen Form ein Prozeß, in dem sich die Prozessualität des historischen Lernens sukzessive entfaltet. Es geht jetzt darum, den Lernprozeß des Geschichtsbewußtseins daraufhin zu betrachten, daß und wie er auf sich selbst bezogen ist, sich im Vollzug gleichsam selber konstituiert und herausbildet, daß und wie also die für ihn maßgeblichen Lernoperationen als Kompetenzen erworben werden. Um es noch einmal zu betonen: Es handelt sich hier nicht um zwei verschiedene Lernprozesse, sondern um die lernende Entfaltung des Lernpotentials des Geschichtsbewußtseins, um den Erwerb der Fähigkeiten, von denen ein Subjekt Gebrauch macht, wenn es in den Sinnbildungsleistungen seines Geschichtsbewußtseins historisch lernt. Dieses Lernen des Lernens ist ebenfalls eine produktive Erfahrungsverarbeitung in den Erwerb einer Kompetenz hinein: Das Geschichtsbewußtsein verarbeitet die Erfahrung mit sich selbst in einen Zuwachs an Lernfähigkeit. Es ist lernend auf sich selbst als zu verarbeitende Erfahrung bezogen und gewinnt sich durch die Verarbeitung dieser seiner (Selbst-)Erfahrung mit erhöhter Kompetenz in der Form eines erweiterten Lernpotentials. Historisches Lernen heißt in dieser didaktischen Zuspitzung zu einem selbstreflexiven Prozeß, daß in den Operationen des Bewußtseins, in denen es um die produktive Verarbeitung von Zeiterfahrung in Zeitdeutung geht, neue Kompetenzen dieser Verarbeitung erworben werden. Der Prozeß des historischen Lernens erscheint in der Perspektive der Entwicklung des Lernsubjekts, einer Entwicklung, in der es durch Lernen seine Fähigkeiten zum Lernen steigert. Damit ist einmal der Entwicklungsvorgang als Lernvorgang angesprochen, in dem sich überhaupt so etwas wie ein Geschichtsbewußtsein ausbildet. Außerdem kommen die qualitativen Veränderungen des Geschichtsbewußtseins in den Blick, zu denen es im Vollzug seiner spezifischen Lernleistungen fähig ist (von primitiven zu hochentwickelten Formen des Geschichtsbewußtseins). Zwischen diesen beiden Entwicklungssträngen läßt sich keine feste Grenze ziehen; sie sind Abschnitte eines einzigen Vorgangs menschlicher Sozialisation und Individuation. Ohne hier auf die besonders schwierigen Probleme im einzelnen eingehen zu wollen, wie eigentlich Geschichtsbewußtsein lernend entsteht, möchte ich den Blick lediglich auf die Strukturierung des historischen Lernens lenken, in der es als Lernen gelernt werden kann: Sein Entwicklungsprozeß soll als Strukturierungsprozeß lerntheoretisch explizierbar und damit auch im einzelnen erforschbar werden. Es geht darum, Entwicklungsprozesse von Geschichtsbewußtsein als

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Lernprozesse zu beschreiben und zu analysieren. Damit würde die abstrakte Allgemeinheit, zu der eine lerntheoretische Formulierung der fundamentalen und allgemeinen Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins führt, überwunden und 'historisches Lernen' in verschiedene Formen und Entwicklungsfaktoren ausdifferenziert. 3. Lernformen Wie gelangt man von abstrakten Annahmen über die Eigenart des historischen Lernens als Prozeß des Geschichtsbewußtseins zu Einsichten in seinen konkreten Vollzug? Als Weg vom Abstrakten zum Konkreten empfiehlt sich eine Auflistung unterschiedlicher Formen des historischen Lernens. Mit ihrer Hilfe kann die Vielfalt realer Lernprozesse im Bereich des Geschichtsbewußtseins geordnet und auf typische Vorgänge hin durchsichtig gemacht werden. Wenn es sich in der bisherigen Argumentation als plausibel erwiesen haben sollte, historisches Lernen als den Sinnbildungsprozeß des historischen Erzählens auszumachen und zu beschreiben, der die Einheit und Prozessualität des Geschichtsbewußtseins konstituiert, dann lassen sich die nun in Frage stehenden verschiedenen Formen des historischen Lernens ebenfalls erzähltheoretisch, als didaktische Beschreibung von Typen des historischen Erzählens gewinnen. 91 Dies möchte ich im folgenden versuchen. Dabei möchte ich vorweg das mögliche Mißverständnis ausräumen, als handle es sich bei der folgenden Auflistung um eine Klassifikation, in die hinein sich konkrete Lernvorgänge bruchlos verteilen lassen. Dann nämlich träfe man die einzelnen Lernformen so eindeutig in der Wirklichkeit an, wie sie sich logisch klar unterscheiden lassen. Dies ist natürlich nicht der Fall. Vielmehr stellen reale Lernprozesse des Geschichtsbewußtseins komplexe Vorgänge dar, deren wichtigste Komponenten sich mit Hilfe der Unterscheidung von typischen Lernformen herausarbeiten und in ihrem Beziehungsgeflecht analysieren lassen. In jedem Lernvorgang vollzieht sich tendenziell jeder Typ von Lernform; entscheidend dafür, wie jeweils gelernt wird, ist gleichsam das Mischungsverhältnis, in dem sie stehen, vor allem ihre hierarchische Ordnung; denn zumeist dominiert eine Lernform über die anderen, sie gibt gleichsam den Ton an, und die anderen machen die Begleitmusik. Es lassen sich (auf der Basis einer entsprechenden Typologie des historischen Erzählens) vier typische Formen des historischen Lernens unterscheiden: traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches. 91

Dazu im einzelnen Rüsen: Die vier Typen (Anm.48).

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a) Die Lernform traditionaler Sinnbildung über Zeiterfahrung In dieser Form geht es darum, Orientierungsbedürfnisse durch Tradition zu befriedigen. Historisches Lernen heißt hier Traditionsaneignung: Vorgegebene Deutungsmuster der Zeiterfahrung und damit zusammenhängende Strategien menschlicher Selbstverständigung werden internalisiert und durch Verarbeitung eigener Zeiterfahrungen aktualisiert (und dabei den eigenen Lebensumständen angepaßt, modifiziert und weitergebildet). Die als Orientierungsproblem auftretende und empfundene Erfahrung von Zeitveränderung wird so verarbeitet, daß die Zeitdivergenzen in die Vorstellung einer sich durchhaltenden Ordnung von Lebensverhältnissen hinein aufgelöst werden. Das Orientierungsproblem wird durch Übernahme vorgegebener Ordnungsschemata gelöst, und dabei werden zugleich diese Ordnungsschemata angeeignet, d.h. als Fähigkeit erworben, mit ihnen weitere Orientierungsprobleme zu lösen, wie sie sich aus andauerndem Erfahrungsdruck und Erwartungsüberschuß in der zeitlichen Organisation der Lebenspraxis ergeben. 'Geschichte' lernen heißt hier: Dauer von Lebensordnungen im Wandel der Zeit auszumachen, diese Dauer als Garant für die Stabilität eigener Lebensordnung anzusehen und durch den eigenen Lebensvollzug absichtsvoll zu affirmieren. In Lernprozessen dieser Form bildet sich historische Identität durch Internalisierung vorgegebener, in den jeweiligen Lebensverhältnissen mental tief verankerter Muster menschlicher Selbstverständigung (Rollen). Das traditionale historische Lernen dürfte zum größten Teil (zumindest in den ersten Lebensabschnitten) unbewußt verlaufen. Auf einer entsprechend tiefen mentalen Ebene werden die hier erworbenen Deutungsmuster der historischen Erfahrung angesiedelt. Auf ihnen beruht ein Großteil der Selbstverständlichkeiten im Umgang mit der Vergangenheit, die zur Gemeinsamkeit von Lebensformen gehören. Hier ist immer schon eine kulturelle Basisselektion dessen vorgenommen worden (und wird lernend immer wiederholt), was eigentlich grundsätzlich als 'Geschichte' in den Kommunikationszusammenhang menschlicher Erinnerungsarbeit eingehen kann. Die lernende Aneignung von Traditionen ist eine notwendige Voraussetzung für jede Kommunikation über historische Orientierungsprobleme; sie ermöglicht Kommunikation über Selbstverständlichkeiten, ohne die Verständigungen unmöglich sind (auch Verständigungen darüber, was eigentlich strittig ist). Natürlich vollzieht sich traditionales historisches Lernen auch bewußt und wird auch absichtsvoll und planmäßig beeinflußt, vor allem dann, wenn es um Tradition als wesentlichen Faktor der Legitimation von Herrschaft geht.

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b) Die Lernform exemplarischer Sinnbildung über Zeiterfahrung In dieser Form werden Orientierungsbedürfnisse dadurch befriedigt, daß einzelne Zeiterfahrungen unter allgemeine Handlungsregeln subsumiert und allgemeine Regeln auf einzelne Fälle angewandt werden. Über den relativ schmalen Erfahrungshorizont von Traditionen hinaus werden Zeiterfahrungen zu handlungsleitenden Regeln verarbeitet. Erfahrungen von einzelnen zeitlichen Veränderungen werden so auf andere Erfahrungen bezogen, daß eine fallübergreifende allgemeine Regel erkennbar wird, die sich dann auf ähnliche Fälle, wie sie im Horizont der aktuellen eigenen Lebenserfahrung und im Bereich der Zukunftserwartung auftreten, beziehen läßt. 'Historia vitae magistra' ist der Grundsatz dieser Lernform; in ihr wird die Fähigkeit der historischen Urteilskraft erworben - die Fähigkeit, allgemeine Regeln menschlichen Handelns auf konkrete zeitliche Umstände und Verhältnisse zu beziehen und umgekehrt konkrete zeitliche Abläufe der menschlichen Lebenspraxis auf in ihnen wirksame allgemeine Regeln menschlichen Verhaltens hin durchsichtig zu machen. Hier wird der Lernende durch Verarbeitung historischer Erfahrung 'klug für immer1, d.h. praxisfähig durch historisch generierte Regelkompetenz. Der weite Bereich historischer Erfahrung wird lernend so angeeignet, daß er den engen Horizont eigener Lebenserfahrung vergrößert und zugleich dadurch überschaubar macht, daß ihm zeitübergreifende allgemein geltende Regeln menschlichen Verhaltens abgewonnen und diese Regeln auf eine Vielzahl verschiedener Fälle angewendet werden. Historisches Lernen erschließt erfahrungsgestütztes und erfahrungsbezogenes Regelwissen, mit dem (irritierende) Gegenwartserfahrungen bewältigt und Zukunftsperspektiven (Erwartungen) realistisch entworfen werden können. Es bildet historische Identität als Regelkompetenz aus, als Fähigkeit einer Urteilskraft, die Tragweite und Verbindlichkeit handlungsbestimmender Normen über eine bloß traditionale Geltung hinaus durch die Probe ihrer Sättigung mit historischer Erfahrung abzuschätzen. Die Subjekte lernen die Probe der zeitlichen Verallgemeinerungsiahigkeit aufs Exempel traditional übernommener Ordnungsmuster ihrer Lebenspraxis. 'Kontinuität' (oder sinnhafter Zeitverlauf) - diese fundamentale Orientierungsgröße des Geschichtsbewußtseins - wird hier als die zeitübergreifende Geltung von Lebensordnungen vorgestellt, die aus ihrer Absicherung durch ausgedehnte Zeiterfahrung folgt. Diese Lernform stellt entschieden höhere Anforderungen an das Erkenntnisvermögen als diejenige der traditionalen Sinnbildung: Sie verlangt bewußte Abstraktions- und Konkretisierungsleistungen und

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schult die Fähigkeit zur logischen Verknüpfung von Allgemeinem und Einzelnem in zeitlichen Verläufen. Sie hat (durchgängig in allen höheren Kulturen) auch immer besondere didaktische Aufmerksamkeit gefunden, geht es in ihr doch um die Fähigkeit zu einem prinzipienund regelgeleiteten Handeln. Sie potenziert die menschliche Handlungskompetenz kognitiv durch ein empirisch gesichertes Regelwissen und führt in den Erwerb kultureller Standards der menschlichen Lebenspraxis die Diskursform ein, in der praktische Entscheidungen unter den Beteiligten nach den Gesichtspunkten der Verallgemeinerbarkeit und Erfahrungssättigung von Grundsätzen verhandelt werden. Exemplarisches Lernen kondensiert die Erfahrung der Vergangenheit zur praktischen Lebensklugheit eines auf die Zeiterfahrung der Gegenwart und auf Zukunftsaufgaben applizierbaren Regelwissens. c) Die Lernform kritischer Sinnbildung über Zeiterfahrung In dieser Lernform werden Zeiterfahrungen interpretierend so angeeignet, daß sie vorgegebene (sozial wirksame) Zeitorientierungen außer Kraft setzen. Die Subjekte lernen mit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit nein zu den historischen Deutungsmustern zu sagen, die ihr Leben in den zeitlichen Veränderungen ihrer Welt und ihrer selbst placieren, ihr Handeln intentional anleiten und ihr Selbstverständnis organisieren. Widerspruchserfahrungen der Gegenwart werden historisch so aufgearbeitet (im Medium der Erinnerung so artikuliert), daß sie zum Widerspruch, zur Negation vorgegebener historischer Denkweisen und Selbstverständigungen führen: mit diesem Lernen verstärkt sich die Kraft, nein zu angesonnenen Deutungsmustern der eigenen Lebenspraxis zu sagen, mit dem Gewicht historischer Erinnerungen. Die Subjekte lernen, die in der Kultur ihrer Zeit eingelagerten historischen Interpretationen gegen ihren Strich zu bürsten; sie lernen, praktisch wirksame Kontinuitätsvorstellungen aufzubrechen und als Kristallisationskerne historischer Identitätsbildung zu depotenzieren. Sie eröffnen sich damit die Möglichkeit, neue und andere Formen der historischen Selbstdeutung und Zeitinterpretation zu konzipieren und ihr Leben nach ihnen zu richten. Diese Lernform trägt zur menschlichen Identitätsbildung dadurch bei, daß sie die Subjekte mit der Fähigkeit begabt, andere sein zu wollen und zu können als diejenigen, die zu sein ihnen angesonnen und zugemutet wird. So sehr diese Lernform zunächst einem naturwüchsigen Interesse der individuierenden Selbstabgrenzung im Prozeß der menschlichen Sozialisation entspricht, also durchaus auch ohne besondere Veranstaltung und Lernanstrengung - etwa durch Trotz - vollzogen wird, so 88

wenig kann sie auf die kognitive Arbeit der Erinnerung verzichten: Schließlich muß sie sich auf Erfahrungen der Vergangenheit hin öffnen, die von den in der Erinnerung schon eingelagerten Wissensbeständen und Rezeptionsschemata signifikant abweichen; aktuelle Entfremdungserfahrungen müssen historisch gewendet werden, und das Subjekt muß den Mut zur Bodenlosigkeit (gegenüber dem vertrauten Terrain seiner kulturellen Umwelt) aufbringen, um ihn sich überhaupt historisch stärken zu können, d.h. den Boden neuer historischer Interpretationen der eigenen Situation bereiten zu können. Dazu gehört schon ein beträchtlicher Druck negativer Gegenwartserfahrung, also die Erfahrung, in dem, was man sein will und glaubt sein zu können, kulturell gehindert zu werden. Nur mit einem solchen Erfahrungsdruck und mit der Fähigkeit, sich selbst gegen die Welt und andere zur Geltung zu bringen, können neue Erfahrungsbereiche der Vergangenheit (zum Gegenbild der Gegenwart) aufgeschlossen werden. Dies ist ohne kognitive und emotionale Strategien von bewußter Distanznahme, riskanter Abweichung und organisiertem Widerstand nicht möglich. Der Lernprozeß historischer Sinnbildung über Zeiterfahrung ist vom "Ernst und Schmerz des Negativen" (Hegel) bestimmt, ohne den menschliche Subjekte nicht ich-stark (bei Kollektiven: 'wir'-stark) werden können. d) Die Lernform genetischer Sinnbildung über Zeiterfahrung In dieser Lernform geht es um den Erwerb einer Fähigkeit, auf der die ganze Emphase des neueren historischen Denkens liegt, einer Fähigkeit, die mit der Bezeichnung des 'eigentlich Historischen' geehrt wird (obwohl sie - wie empirische Untersuchungen zeigen 92 - im schulischen Geschichtsunterricht eher am Rande liegt). Hier werden Zeiterfahrungen über historische Erinnerungen so verarbeitet, daß das Moment der zeitlichen Veränderung selbst zum (historischen) Stabilitätsgaranten der Praxisorientierung und Selbstverständigung wird: Veränderung und Veränderungsfahigkeit werden als notwendige Bedingung von Dauer und Kontinuität eingesehen. Zeiterfahrungen werden lernend in flexible Orientierungsmuster hineingearbeitet: Historisch lernen heißt hier, den Erfahrungsstrom zeitlicher Veränderung so in die Deutungsmuster der eigenen Lebenspraxis hineinzuarbeiten, daß diese selber zeitlich dynamisiert werden, d.h. sich aus der Dauer traditionaler Ordnungen oder zeitübergreifenden Regelwissens herausbewegen und die abstrakte Negation vorgegebener hi92

Vgl. demnächst Rüsen, Jörn u.a.: Geschichtsbewußtsein von Schülern und Studenten im internationalen und interkulturellen Vergleich, in: Borries, Bodo von; Rüsen, Jörn: Geschichtsbewußtsein im interkulturellen Vergleich. Pfaffenweiler 1994.

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storischer Orientierungen überwinden - zugunsten einer historischen Denkweise, in der die gegenwärtigen Lebensverhältnisse eine Richtung zeitlicher Veränderungen erkennen und dieser Richtung entsprechend Zukunft erwarten und praktisch ermöglichen lassen. Historisches Lernen befähigt in dieser Form seine Subjekte dazu, Veränderungen ihrer selbst und ihrer Welt als Chancen des Selbst- und Weltgewinns, zeitlichen Wandel nicht als Bedrohung von Stabilität wegzuarbeiten, sondern als deren innere Dynamik zur Geltung zu bringen. Lernend stabilisiert sich menschliche Identität historisch als Entwicklungs- und Veränderungsfahigkeit: Die dazu kognitiv notwendige Kontinuitätsvorstellung wird als Veränderungsrichtung (z.B. Fortschritt) aus der historischen Erfahrung erhoben. Die hier zu erbringende Lernleistung verlangt und erzeugt nicht nur wie das kritische Lernen ein hohes Maß an Differenzierungs- und Distanzierungsvermögen, sondern darüber hinaus zugleich auch die Fähigkeit, Zeitdifferenzen zu Entwicklungen und Veränderungsprozessen von grundsätzlicher (eben lebensorientierender) Bedeutung zu vermitteln und zu synthetisieren. Die Komplexität historischer Erfahrungen und ihre Verarbeitung in den Orientierungsrahmen der menschlichen Lebenspraxis ist deshalb so hoch, weil die sinnbildende Kontinuitätsvorstellung des historischen Denkens das Moment der Veränderung positiv enthält und die mit ihr zu bildende historische Identität die Form eines zeitlichen Prozesses annimmt, die die Frage nach der Dauer im zeitlichen Wandel mit diesem selber beantwortet. Diese vier Lernformen kommen nie rein für sich vor, sondern gehen unterschiedlich strukturierte Synthesen ein, in denen sie jeweils verschiedenen Lernsituationen entsprechen. Konkrete Lernprozesse können als solche Synthesen erschlossen und beschrieben werden, und zwar in drei Hinsichten: mit der analytisch-künstlichen (theoretischen) Unterscheidung der vier Lernformen kann die Besonderheit, der spezifische Charakter, eines historischen Lernprozesses ausgemacht werden, können verschiedene historische Lernprozesse miteinander verglichen und schließlich auch qualitative Veränderungen des historischen Lernens erschlossen werden. Im ersten Fall muß die Konstellation aufgewiesen werden, die die vier Formen in einem besonderen Fall bilden; im zweiten Fall bilden die Typen Parameter des Vergleichs und im dritten lassen sich Entwicklungen als Transformationen von einem Typ in einen anderen oder als Wechsel ihrer Konstellation konzipieren.

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4. Faktoren der Entwicklungsdynamik Für die Geschichtsdidaktik ist es eine zentrale Frage, wie sich die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins als Lernprozeß in einer zeitlichen Dimension konzipieren läßt, die dem Prozeß der Sozialisation und Individuierung von Subjekten entspricht. Erst in dieser Dimension wird historisches Lernen als integraler Teil der Subjektwerdung des Menschen in seinen sozialen Lebensbezügen sichtbar. Um eine solche, das Leben eines Subjektes umfassende Vorstellung vom historischen Lernen als lebenslangem Lernen zu gewinnen, ist es notwendig, die Faktoren herauszuarbeiten, die den Lebensprozeß des Menschen als Lernprozeß durchgängig bestimmen, und zwar dort, wo sich Geschichtsbewußtsein in der Lebenspraxis konstituiert, wo also Bedürfnisse nach Orientierung in der Zeit dauernd entstehen und - je nach Lebenslage und Umständen - durch verschieden strukturiertes historisches Wissen praxisermöglichend befriedigt werden. Dauernder Anstoß zu den Lernleistungen des Geschichtsbewußtseins ist zumeist eine strukturelle Divergenz zwischen dem Erfahrungsdruck aktueller zeitlicher Veränderungen und dem Erwartungsüberschuß handlungsleitender Absichten über die gegebenen Bedingungen und Umstände des Handelns, es kann aber auch einen Anstoß zum historischen Lernen geben, der aus der Faszination herrührt, die die Vergangenheit durch ihre Relikte und Traditionen in der Gegenwart ausstrahlt. Zeit ist als Erfahrung immer mehr und anders, als handelnde Subjekte in den zeitlichen Veränderungen ihrer Welt und ihrer selbst beabsichtigen, und die Absichten, mit denen die Subjekte auf diese Veränderungen reagieren, gehen immer auf mehr und anderes als auf das, was jeweils geschieht. Diese Divergenz wird in den Operationen des Geschichtsbewußtseins weggearbeitet, und dabei erwirbt das Subjekt die Fähigkeit zur historischen Sinnbildung über Zeiterfahrung; es lernt, Erfahrungen der Vergangenheit deutend so auf seine Gegenwart zu beziehen, daß es diese verstehen und Zukunft erfahrungsgestützt erwarten kann. Historisches Lernen erfolgt nun insofern lebenslang, als der Erwerb dieser Sinndeutungskompetenz nicht definitiv abgeschlossen werden kann, so daß sie von einem gewissen Zeitpunkt an nur noch angewendet und nicht mehr lernend weiter erworben (verändert, erweitert, gesteigert) werden müßte. Dies ist deshalb nicht der Fall, weil das Divergenzverhältnis zwischen Erfahrungsdruck und Erwartungsüberschuß dynamisch ist, also von jedem Zustand lernend erreichter Ausgleichsmöglichkeiten (in der Form von Kompetenzen des Geschichtsbewußtseins) aus sich qualitativ neu herstellt. Mit dem Ausmaß von historischer Verarbeitungskompetenz nimmt der Erfahrungsdruck nicht ab, sondern die Möglichkeit zu weiterer historischer

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Erfahrung, zur Entdeckungsreise ins Reich der Vergangenheit, nimmt (prinzipiell unbegrenzt) zu. Und mit gewachsener historischer Sinnbildungskompetenz nimmt die Faszination der Vergangenheit zu. Sie löst sich von den unmittelbaren Anstößen gegenwärtiger Gegebenheiten des Vergangen und lockt in die zeitliche Tiefe des nicht mehr Präsenten, ja des Vergessenen. Typisch dafür dürfte die Erfahrung sich professionalisierender Historiker sein, mit dem zunehmenden Erwerb von Wissen mindestens in gleichem Ausmaß, wenn nicht noch mehr, Wissen vom Nicht-Wissen zu gewinnen. Der Wissensfortschritt des historischen Lernens, der nicht einfach auf Abruf ins Gedächtnis eingelagert, sondern subjektiv (interessegeleitet, neugierig) erworben wird und zur Artikulation wahrheitsfähiger Selbstverständigung geschieht, hat etwas von der mythischen Hydra an sich: Jede beantwortete historische Frage gebiert mehrere neue. Auch Tantalus könnte als Vergleich bemüht werden: Das Wahrheitsstreben angestrengter historischer Erkenntnisarbeit steigert nur den Wahrheitsdurst. Diese Lerndynamik, die etwas Explosives an sich hat, wird dann in Gang gesetzt, wenn man sich wirklich aufs historische Lernen einläßt, wenn also historisches Denken bewußt in der Dimension erfolgt, wo es um die Sinnbestimmung der eigenen Lebenspraxis geht, also auch wirklich um die eigene (historische) Identität und nicht um die, die man um äußerer Gründe willen (z.B. gute Noten) als vorzeigbares Bildungsgut erwirbt (wie die nicht gelesenen Klassiker im Wohnzimmerschrank). Dynamisch ist aber nicht nur die Erfahrungsverarbeitung des historischen Lernens, sondern zugleich auch seine Abarbeitung von Erwartungsüberschüssen in erfahrungsgestützte Zeitperspektiven. Diese Perspektiven haben neben ihrer objektiven, die Erfahrung von Zeit betreffenden Seite auch eine subjektive, die die Placierung des (lernenden) Subjekts in der Zeit betrifft. Dynamisch ist auch diese Seite, weil sich hier Subjektivität als Quellgrund von Geschichtsbewußtsein ins Spiel bringt, die Unersättlichkeit menschlichen Selbstseins im deutenden Umgang mit der Erfahrung und im Kommunikationsverhältnis mit andern wirksam ist. Typisch für diese subjektive Dynamik dürfte die (jedem Historiker sattsam bekannte) Parteilichkeit der historischen Urteilsbildung sein, die sich in die historische Erkenntnisarbeit immer dann einmischt, wenn es um Fragen des (normativ geregelten) Gegenwartsbezuges der historischen Erkenntnis geht. Sie beruht bekanntlich auf den Standpunkten, die die Historiker im Lebenszusammenhang ihrer Gegenwart einnehmen (sei es unbewußt oder absichtsvoll), und sie läßt sich aus dem historischen Erkenntnisprozeß auch nicht beseitigen, weil 92

für diesen ein Gegenwartsbezug als Ursprung produktiver Fragen und Bezugspunkt historischer Perspektiven konstitutiv ist. Wird erst einmal diese konstitutive Bedeutung der Parteilichkeit, der bewußten Formierung historischen Wissens nach Gesichtspunkten eines normativ vermittelten Gegenwarts- (und Zukunfts-)bezuges, anerkannt und als Triebkraft der historischen Erkenntnis ins Spiel gebracht, dann ist kein Halten mehr, d.h. dann organisiert sich historisches Denken danach, wie diese Parteilichkeit methodisch geregelt, und nicht danach, wie sie aus der methodischen Regelung der historischen Erkenntnis herausgehalten wird. Wie auch immer diese Entscheidung ausfallen mag (dogmatisch, dezisionistisch, pluralistisch): Allemal entfaltet sich Subjektivität auch und gerade dann, wenn sie in die Zucht eines methodisch kontrollierten historischen Denkens genommen wird. Subjektivität als dynamisierender Faktor historischen Lernens läßt sich in zwei Hinsichten (die untrennbar miteinander verbunden sind) thematisieren: einmal als Bezug des lernenden Subjekts auf sich selbst in der deutenden Aneignung der historischen Erfahrung und dann als kommunikativer Bezug auf die anderen Subjekte seines sozialen Lebenszusammenhangs, in dem über gemeinsame Erinnerungen soziale Identität in historischer Hinsicht ausgebildet wird. Berücksichtigt man diese Unterscheidung, dann läßt sich die Entwicklungsdynamik des historischen Lernens nach drei Parametern aufschlüsseln und ordnen: dem Zuwachs (a) von Erfahrung, (b) von Subjektivität (im engeren Sinne des Selbstbezuges) und (c) von Intersubjektivität im Prozeß menschlicher Sozialisation und Individuierung. Diese Differenzierung möchte ich im folgenden kurz umreißen. (a) Die Entwicklungsdynamik des historischen Lernens ist charakterisiert durch Erfahrungszuwachs. Inhalt der Erfahrung ist eine qualitative Zeitdifferenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Das Anderssein der Vergangenheit wird erkannt, um mit ihm das Eigensein der Gegenwart (in ihrer zeitlichen Bewegung) auszumachen und zu verstehen. Lernend wird die Vergangenheit zuerst dann historisch erfahren, wenn sie als Vergangenheit von der Gegenwart unterschieden wird. Historische Erfahrung läßt gleichsam die Gegenwart in die Vergangenheit vergehen, und diese wird zur 'historischen' Gegenwart; sie erhält eine eigene Zeitqualität, die von derjenigen der eigentlichen Gegenwart abgehoben werden kann (so z.B. wenn Kinder entdecken, daß die Zeit, die die Großeltern repräsentieren, wenn sie von ihrer Kindheit erzählen, eine andere ist). Die Zeitdifferenzerfahrung nimmt im Prozeß des historischen Lernens zu, und zwar quantitativ und qualitativ. Quantitativ nimmt sie zu, indem die Unter-

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schiede zwischen Gegenwart und Vergangenheit schärfer konturiert werden und das Ausmaß der Unterschiedlichkeit sich um so mehr erhöht, je größer die Zeiträume der Vergangenheit werden, deren andere, d.h. gegenwartsdifferente Zeitqualität erfahren wird; qualitativ nimmt sie zu, indem innerhalb der Zeitdifferenzqualität der Vergangenheit selber Zeitdifferenzen wahrgenommen werden, jede Epoche mit einem eigenen Zeitprofil erfahren wird. (b) Die Entwicklungsdynamik des historischen Lernens ist charakterisiert durch Subjektivitätszuwachs. Hier geht es um den Aspekt des historischen Lernens, in dem es als Weise des Selbstbezuges von Individuen oder Gruppen erscheint. (Dieser Selbstbezug tritt natürlich nie isoliert für sich auf, sondern ist immer vermittelt durch Interaktionen mit andern - Erzählen ist stets ein kommunikativer Prozeß 93 , und er aktualisiert sich auch stets im Medium erfahrungsbezogener Erinnerung: nichtsdestoweniger aber kann er als ein wesentlicher Aspekt von den anderen unterschieden, herauspräpariert und als Individuierung beschrieben werden.) Subjektivität meint die Art und Weise, wie sich das Ich bzw. Wir des bzw. der Lernenden in den Erwerb historischer Erfahrung einbringt, wie es seinen zeitlichen Horizont in der historischen Erinnerung über die Grenzen der eigenen Lebenszeit hinaus gewinnt. So kann z.B. ein politischer Standpunkt über eine chronologisch geordnete Reihe verschiedener Verfassungen und deren Wandlungen hindurch verfolgt und so historisch konkretisiert und expliziert werden, und dadurch kann er eine erfahrungsgestützte Zukunftsperspektive in (erwarteten) politischen Veränderungen gewinnen. Diese Subjektivität wächst im Prozeß des historischen Lernens, da sich dieser Horizont zeitlicher Selbstverständigung erweitert, und zwar ebenfalls quantitativ und qualitativ. Quantitativ wächst Subjektivität, indem sich der zeitliche Umfang der vergangenen Lebensformen, die eine Rolle zur Selbstdefinition der eigenen spielen, ausdehnt, ohne daß dabei die Selbstdefinition in der Sache verändert würde (z.B. Geschlechtscharaktere, die an immer ausgedehnterem historischen Erfahrungsmaterial bestätigt werden). Qualitativ wächst Subjektivität, indem der Zeitfolge vergangener, zur Selbsteinschätzung relevanter Lebensformen eine Veränderungsrichtung entnommen wird, an die die eigene Lebensperspektive angeschlossen wird (z.B. Geschlechtscharaktere, die durch historische Erfahrung flexibel werden). (c) Die Entwicklungsdynamik des historischen Lernens ist charakterisiert durch Intersubjektivitätsszuwachs. Damit meine ich eine Zunahme von Kommunikationsfähigkeit in der Artikulation identitätsbildender historischer Erinnerungen. Soziale Gebilde von Menschen 93

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Daraufhat vor allem Röttgers eindringlich hingewiesen. Vgl. Anm.87.

haben ein kollektives Gedächtnis, das als Instanz der Vergesellschaftung fungiert, und zwar dort, wo die Vorstellung der Dauer dieses Gebildes bei seinen Subjekten diese Dauer selber bestimmt. Dieses Gedächtnis wird auf ganz unterschiedliche Weise verhandelt, und die Art der Beteiligung an diesem Diskurs hängt (nicht exklusiv - dafür spielen Machtfragen eine viel zu wichtige Rolle -, aber eben doch auch und nicht zuletzt) von der Kommunikationskompetenz der einzelnen Subjekte ab. Von der gleichen Kommunikation hängt auch die Bildung eines individuellen, die historische Identität eines einzelnen Subjektes konstituierenden Geschichtsbewußtseins ab, da die Selbstdefinition des Subjektes im zeitlichen Prozeß auf die Anerkennung der anderen, mit denen es vergesellschaftet ist, angewiesen ist, um lebenspraktisch tragfähig zu sein. Diese Kommunikationskompetenz wird durch historisches Lernen erweitert. Auch dabei lassen sich qualitative und quantitative Arten der Kompetenzerweiterung unterscheiden: In der ersten bleibt die Diskursform (relativ) konstant, und nur die Fähigkeit, sie im Kampf um Partizipation an der Formierung historischer Identität nach allen Regeln der - rhetorischen - Kunst einzusetzen, nimmt zu; im anderen Fall verändern sich die Formen zugunsten eines höheren Grades von Diskursivität. Maßstab dafür ist die Möglichkeit, individuelle Formen von Geschichtsbewußtsein in den Prozeß der Bildung übergreifender historischer Identität einzubringen oder (in der entgegengesetzten Blickrichtung:) die übergreifenden Strukturen des kollektiven Geschichtsbewußtseins auf seine einzelnen Subjekte hin zu individualisieren, so daß diese ihre je eigene biographische Besonderheit in der gemeinsamen Geschichte anerkannt oder positiv aufgehoben finden. Damit sind drei fundamentale Tendenzen angesprochen, die historisches Lernen als Entwicklungsprozeß im Zusammenhang menschlicher Sozialisation und Individuation ausmachen. Ihre jeweilige Eigenart und ihr systematischer Zusammenhang müßten nun genauer ausgeführt werden; dann ergäbe sich ein Netz geschichtsspezifischer lerntheoretischer Bestimmungen, mit dem die Geschichtsdidaktik konkrete Lernvorgänge in übergreifende Entwicklungsprozesse einordnen und von ihnen her auch genauer aufschlüsseln könnte. 5. Stufen des Lernprozesses Das bisher skizzierte Netz theoretischer Begriffe, mit dem sich historisches Lernen als Entwicklungsprozeß ausmachen und untersuchen läßt, hat einen Mangel: Es läßt die angesprochenen qualitativen Veränderungen, die das historische Lernen bewirkt, dort unbestimmt, wo sie selbst Lernqualität haben, d.h. wo durch historisches Lernen dieses selbst sich qualitativ ändert. Kann der Entwicklungsprozeß des

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historischen Lernens selber noch strukturanalytisch als Folge klar unterscheidbarer Lernstufen oder Lernniveaus beschrieben werden? Ich möchte diese Frage positiv beantworten und vorschlagen, die oben entwickelten vier Formen des historischen Lernens selber entwicklungstheoretisch zu interpretieren. Mit einer solchen Interpretation - gesetzt, sie läßt sich plausibel durchführen - könnte die Geschichtsdidaktik die spezifizierenden Gesichtspunkte entwickeln, mit denen sie entwicklungspsychologische Erkenntnisse auf historisches Lernen produktiv beziehen kann. Eines der bislang ungelösten wichtigen Probleme der Geschichtsdidaktik besteht darin, daß sie mit dem Wissen, das andere Wissenschaften über die menschliche Onto- und Soziogenese gewonnen haben, die das Geschichtsbewußtsein betreffenden Lernvorgänge nicht erschließen kann. Sie kann es deshalb nicht, weil sie keine Theorie der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein durch historischen Lernens ausgebildet hat, mit der solches Wissen auf den Prozeß des historischen Lernens hin spezifiziert und modifiziert werden könnte. Sie hat sich stattdessen, wenn sie überhaupt mit expliziten Konzepten der menschlichen Ontogenese und Sozialisation arbeitete, von Vorgaben anderer Disziplinen leiten lassen. Im Unterschied zu anderen Bewußtseinsbereichen (z.B. Moral und Logik) ist derjenige des Geschichtsbewußtseins noch kaum auf seine besonderen Entwicklungsformen und -phasen hin untersucht worden.94 Es fehlt einfach an einem die Besonderheit des Geschichtsbewußtseins als Entwicklungsprozeß aufschließenden (theorieförmigen) Fragerahmen.95 Ich vermute nun, daß sich ein solcher Fragerahmen mit Hilfe der oben vorgestellten Typologie des historischen Lernens ausarbeiten läßt. In ihn könnte dann einschlägiges Wissen über die menschliche Individuation und Sozialisation eingetragen werden, und dann ergäben sich theorieförmige Umrisse einer strukturellen Entwicklung des Geschichtsbewußtseins durch historisches Lernen, die als Grundlage weiterführender geschichtsdidaktischer Forschungen und Reflexionen dienen könnten. 94 95

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Eine rühmliche Ausnahme stellt die (in der Geschichtsdidaktik wenig diskutierte und rezipierte) Arbeit von Kurt Sonntag dar: Das geschichtliche Bewußtsein des Schülers. Ein Beitrag zur Bildungspsychologie. Erfurt 1932. Das ist schon in der Untersuchung von Sonntag der Fall, besonders in dem bekannten Buch von Waltraut Küppers (Anm.68). Auch in der Arbeit von Jung, Horst-W.; Staehr, Gerda von: Historisches Lernen. Didaktik der Geschichte. Köln 1983, gibt es keinen entsprechenden Ansatz, hier jedoch aus explizit theoretischen Gründen. Der Frage nach dem Geschichtsbewußtsein wird der Rang einer geschichtsdidaktischen Schlüsselfrage bestritten (S.32f.) und historisches Lernen nur als Funktion objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse angesprochen; die Subjektivität der Lernenden verschwindet im Ensemble dieser Verhältnisse.

Der Grund für diese Vermutung liegt in der Tatsache, daß sich die vier Lernformen entwicklungslogisch zwanglos und konsistent reihen lassen: traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Lernen sind in dieser Reihenfolge jeweils notwendige Voraussetzung füreinander; das jeweils in der Reihung frühere ist notwendige Bedingung für das spätere. Die traditionale Lernform ist die Voraussetzung aller anderen. Ohne traditionale Handlungsorientierungen gibt es gar keine anderen, läßt sich Handeln überhaupt nicht orientieren, weil es so etwas wie einen Nullpunkt menschlicher Handlungsorientierung einfach nicht gibt. Die exemplarische Lernform setzt die traditionale voraus und geht zugleich mit ihrem verallgemeinernden Zugriff auf die historische Erfahrung als Exempel für Regeln über sie hinaus. Die kritische schließlich setzt die traditionale und exemplarisch voraus, weil es hier ja darum geht, Traditionen und Regeln durch Mobilisierung widersprechender historischer Erfahrungen in ihrer lebenspraktischen Geltung zu depozentieren. Die genetische Lernform schließlich setzt alle drei anderen voraus, weil sie die Positivität traditionaler und exemplarischer Handlungsorientierungen mit der Negativität ihrer kritischen Aufhebung in die Vorstellung einer zeitlichen Bewegung identitätsbildender Deutungsmuster vermittelt. Diese entwicklungslogische Reihung der vier Lerntypen läßt sich (auf der hier zuständigen abstrakten Ebene der Logik historischer Sinnbildung) auch erzähltheoretisch begründen. Erzähltheoretisch läßt sich auch zeigen, daß es eine dynamische Beziehung zwischen den Typen gibt, in der der frühere zur Transformation in den späteren tendiert. Diese Transformationstendenz läßt sich auch lerntheoretisch deuten und damit geschichtsdidaktisch fruchtbar als Strukturveränderung des historischen Lernens im menschlichen Entwicklungsprozeß darlegen. Die oben umrissene Entwicklungsdynamik des historischen Lernens erfahrt dabei eine lernformtypologische Konkretisierung. Die lernend erworbenen Zuwächse an historischer Erfahrung, an Subjektivität und an Intersubjektivität können dann typenspezifisch folgendermaßen charakterisiert werden. (a) Der Erfahrungsgehalt traditionaler Deutungsmuster von Zeiterfahrungen ist relativ gering; Traditionen sind meist erfahrungsarm, und mit ihnen lassen sich irritierende Gegenwartserfahrungen in der Regel nur so verarbeiten, daß alles das von ihnen, was nicht ins Orientierungsmuster der Tradition paßt, aus- und abgeblendet wird. Mit ihnen ist auch der Erfahrungsreichtum der Vergangenheit nur höchst selektiv rezipierbar: Nur Gleiches von der dauernden Tradition oder ihr Entsprechendes lagert sich im Archiv der Erinnerung ab, oder es wird ins Gleiche der Tradition um- und eingeschmolzen. Ist dies nun

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nicht mehr möglich, ist also der Erfahrungsdruck der Gegenwart stärker als die Selektionskraft der Tradition, dann tritt eine Strukturveränderung des Geschichtsbewußtseins ein; die maßgeblichen Deutungsmuster der historischen Erfahrung werden exemplarisch, und damit lassen sich neue, über traditionale Deutungen hinausgehende, mit ihnen nicht vereinbare historische Erfahrungen verarbeiten - in übergreifende allgemeine Handlungsregeln. Dabei öffnet sich der Raum historischer Erfahrung ganz erheblich: Verschiedenheit und Besonderheit zeitlicher Entwicklungen werden rezipierbar, wenn sie sich nur unter allgemeine und abstrakte Regeln subsumieren lassen. Die Abstraktheit der Handlungsregeln ist notwendige Bedingung für die Fülle der historischen Erfahrung, die sie empirisch plausibel machen. Die Lernform kritischer Sinnbildung über Zeiterfahrung ist dann notwendig, wenn der Druck von Zeiterfahrungen, die sich nicht mehr als Anwendungsfalle der handlungsleitenden allgemeinen Regeln deuten lassen, so stark wird, daß die geltenden Handlungsregeln außer Kraft gesetzt werden müssen, um erfahrungskonform handeln zu können. (Natürlich spielen dabei auch Interessen an Regeländerungen eine wichtige Rolle; sie sind es, die der historischen Erfahrung die negierende Kraft verleihen.) In der kritischen Lernform wird die Zunahme qualitativer (hier: negierender) Zeiterfahrung in eine innere qualitative Differenzierung der historischen Deutungsarbeit umgesetzt. Der Zeithorizont der eigenen Gegenwart zerfallt in die Doppelheit noch gültiger Orientierungen und Deutungsmuster der eigenen Identität, die durch Mobilisierung widersprechender historischer Erfahrungen depotenziert werden sollen, und der noch nicht erfolgten Etablierung anderer Orientierungen und Deutungsmuster. Die Lernform genetischer Sinnbildung schließlich geht über die kritische einen entscheidenden Schritt hinaus: Neue Erfahrungen setzen nicht mehr einfach bisher lebenspraktisch wirksame Deutungsmuster außer Kraft, sondern verflüssigen sie zeitlich. Historische Erfahrung wird nicht im kritischen Entweder-Oder verschiedener Deutungsmuster zur Geltung gebracht, sondern in einem Denkvorgang, in dem sie zu einer Vorstellung qualitativer Entwicklung vermittelt werden. Damit ist ein Höchstmaß an historischer Erfahrungsverarbeitung in der Orientierung der Gegenwart und in der Bildung historischer Identität erreicht. (b) Ähnlich läßt sich auch der Subjektivitätszuwachs durch historisches Lernen typenspezifisch konkretisieren. Auf dem Niveau der traditionalen Lernform verständigt sich ein Subjekt mit sich selbst im Rahmen traditionaler Vorgaben von Deutungsmustern; das lernende Ich ist sich selbst gleichsam 'objektiv' vorgegeben. Es entwirft die zeitlichen Ordnungen seines Lebens gar nicht aus sich heraus, son-

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dern gewinnt sich selbst aus diesen Vorgaben als ihm vorgegebenen, sein Selbst tragenden kulturellen Größen. Subjektivität konstituiert sich in der Übernahme historisch vorgegebener Rollen. Sie bleibt in ihrer Zeitorientierungsleistung zeitgebunden. Das lernende Ich geht aber über diese traditionale Gebundenheit seines Selbstbezuges in der historischen Erinnerung dann qualitativ hinaus, wenn es das Niveau des exemplarischen historischen Lernens erreicht. Hier wird es mit der erworbenen Regelkompetenz im Umgang mit der historischen Erfahrung allererst subjektiv: Es ermächtigt sich mit der historischen Urteilskraft zur Selbstbestimmung in der Form einer allgemeinen und abstrakten Subjektivität - eben derjenigen, die zur Generalisierung von historischen Erfahrungen zu zeitübergreifenden Verhaltensregeln fähig ist. Subjektivität erhebt sich über alle Zeitbindungen in die zeitübergreifende Allgemeinheit von Ordnungsprinzipien der eigenen Zeiterfahrung. Das lernende Ich gewinnt sich selbst, indem es von der besonderen Zeiterfahrung zur allgemeinen Handlungsmaxime fortschreitet, und dabei konstituiert es sich als überzeitliche Subjektivität, die allgemeine Geltungsansprüche auf sich beziehen, an andere richten und dabei auf besondere zeitliche Umstände stützen kann. Diese abstrakt-allgemeine Subjektivität wird zugunsten einer konkret einzelnen in der Form des kritischen Lernens überwunden. Das Subjekt bringt sich selbst mit der Kraft der Negation historischer Deutungsmuster ins Spiel der Erinnerung und manifestiert sich dort als besondere Subjektivität (einzelnes Ich bzw. Wir) mit eigener Richtung des historischen Interesses; es gewinnt sich selbst mit der Eigenschaft der Besonderung, allerdings einer noch abstrakten durch bloße Negation. Es artikuliert sein historisches Selbstsein dadurch, daß es sagt, was es nicht ist bzw. sein will. Erst auf der Ebene der genetischen Form des historischen Lernens wird dann diese Besonderung konkret: Das Subjekt prägt seine kritisch durch Abgrenzung gewonnene Eigenheit positiv in die zeitlichen Veränderungen ein, die ihm die historische Erfahrung liefert. Es versteht sich selbst zeitlich, sein Selbst tritt gleichsam als konkrete Zeitgestalt in der Form einer Entwicklungslinie auf, die ihm individuelle Züge verleiht. Es gewinnt sich als Subjektivität nicht aus der Zeit (traditional), nicht über der Zeit (exemplarisch) und auch nicht gegen die Zeit (kritisch) sondern in die Zeit hinein, oder besser: als Zeit, als eine besondere Weise des (inneren) Vollzuges zeitlicher Veränderungen seiner Welt und seiner selbst. Es ordnet sich in den zeitlichen Veränderungen der geschichtlichen Erfahrung ein und gewinnt damit für sich eine historische Kontur. (c) Schließlich kann auch der Zuwachs an Intersubjektivität durch historisches Lernen mit Hilfe der vier Lerntypen differenziert betrachtet werden. Im Rahmen der traditionalen Lernform realisiert sich In-

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tersubjektivität nur in der Form eines vorgängigen Einverständnisses, das allerdings als solches eigens artikuliert und diskursiv in die Kommunikation eingebracht werden kann, in der es um die Verarbeitung von Zeiterfahrungen in gemeinsame historische Erinnerungen geht. Die Diskursivität der Kommunikation findet an dieser Vorgängigkeit allerdings ihre enge Grenze. Diese Grenze wird in der Form des exemplarischen historischen Lernens überschritten: Empirische Kontrolle und Generalisierung bereichern als neue Kommunikationsstrategien die Diskursfähigkeit der historischen Erinnerung; man kann mit Fällen und aus ihnen generierten Regeln argumentieren. Die kritische Lernform erweitert dieses Diskurspotential um die Fähigkeit, eigene Standpunkte entschieden von anderen abzugrenzen und zur Geltung zu bringen. Sie macht die Subjekte im Kampf um ihre historische Identität konfliktfahig. Die genetische Lernform schließlich steigert noch einmal die historische Diskursfähigkeit um die Vermittlung verschiedener Standpunkte in übergreifende Zeitrichtungen der Vergesellschaftung, die die miteinander kommunizierenden Subjekte gemeinsam (und zugleich je für sich) vollziehen. Die historische Kommunikation wird um die Fähigkeit der Subjekte bereichert, ihre eigenen Geltungsansprüche multiperspektivisch auf diejenigen der anderen zu beziehen und unter übergreifende Sinnkriterien der Zeitorientierung miteinander zu vermitteln. Damit dürfte deutlich geworden sein, wie sich der Entwicklungsprozeß des Geschichtsbewußtseins lernformtypologisch ausdifferenzieren läßt. Hinweisen möchte ich noch auf die Möglichkeit, die drei verschiedenen Tendenzen in ihrem systematischen Verhältnis zueinander zu beschreiben; damit würde die innere Verschränkung der angedeuteten Momente des historischen Lernprozesses deutlich, und zugleich käme die Komplexität des gesamten Lernprozesses schärfer in den Blick. Dies muß jedoch einer ausführlicheren Darlegung vorbehalten bleiben, für die die notwendigen empirischen Untersuchungen erst noch unternommen und didaktisch ausgewertet werden müssen. Abschließend möchte ich noch betonen, daß die hier vorgeschlagene und nur ansatzweise ausgeführte entwicklungstheoretische Ordnung der vier Lerntypen in zwei Hinsichten relativiert werden muß. Einmal stellen die vier Lerntypen idealtypische Abstraktionen dar; sie kommen immer in komplexen Mischungen vor. Ihre entwicklungstheoretische Reihung betrifft also nur dominante Formen, die die anderen (in sehr unterschiedlicher Weise) in sich haben. Reale Entwicklungsprozesse des historischen Lernens mit qualitativer Verschiebung der Lernniveaus sind also methodisch nur dann in den Griff zu bekommen, wenn nicht nach einer einzigen Form, sondern immer nach allen in unterschiedlichen Hierarchisierungen gefragt

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wird. Ferner ist die Form des kritischen historischen Lernens nicht so eindeutig plazierbar, wie es bisher den Anschein hat. Die Kritikfähigkeit, die hier lernend erworben wird, gehört zu jedem Transformationsprozeß von einer Lernform in eine andere (oder von einem Lernniveau zu einem anderen). Kritisches Lernen ist vielleicht eher ein Medium des Übergangs als eine eigene Phase; allerdings spricht die Erfahrung auch dafür, im menschlichen Entwicklungsprozeß eine besonders von Kritikfähigkeit gekennzeichnete Phase der Selbstwerdung und -findung hervorzuheben. Gegenüber beiden Bedenken können nur empirische Untersuchungen weiterhelfen. Im folgenden möchte ich nun Fragen der empirischen Analyse, der normativen Ausrichtung und der pragmatischen Organisation des historischen Lernens erörtern. 6. Probleme und Möglichkeiten empirischer Forschung Die Frage der Geschichtsdidaktik nach dem Geschichtsbewußtsein als Ort historischen Lernens eröffnet neue Forschungsperspektiven. Sie liegen zunächst auf der Ebene der Konzeptualisierung, der Theoriebildung. Dort geht es darum, Geschichtsbewußtsein zu definieren, als Lernprozeß zu thematisieren, seine Strukturen und Funktionen zu entwickeln und seine Bedingungen, Triebkräfte und Resultate zu erörtern. Viele an der Praxis des Lehrens und Lernens interessierte Didaktiker und erst recht viele Geschichtslehrer werden solche Theoriearbeit für ein müßiges, rein 'akademisches' Spiel halten; denn es bewegt sich in Höhen der Abstraktion, denen gegenüber der Alltag des Unterrichtens, aber auch die aktuellen Diskussionen um das Geschichtsbild der Deutschen und seine politische Rolle, von der suggestiven Wirkung der Massenmedien ganz zu schweigen, nur als 'Niederungen' erscheinen, die von Theoretikern kaum erreicht zu werden scheinen. So beliebt diese Entgegensetzung bei denen ist, die anspruchsvolles Denken als Verrat am Handeln halten, weil ihnen das Denken zu schwer fallt, so wenig überzeugend nimmt sie sich aus, wenn man die Chancen prüft, mit ausgearbeiteten Theorien empirische Vorgänge und Befunde zu analysieren oder gar mit theoretischer Einsicht über die Eigenart historischen Wissens und seine Funktion in der menschlichen Lebenspraxis die polemischen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit zu kritisieren: Die Theorie öffnet die Augen für Empirie und Praxis und auch dafür, was im öffentlichen Streit über das Geschichtsbewußtsein der Deutschen zwischen den Zeilen steht. Diese heuristische Funktion, dieses Sichtbarmachen, gibt einen Gradmesser für die Qualität geschichtsdidaktischer Theoriebildung ab: Der Höhenflug des Theoretisierens ist um so erfolgreicher, je genauer er die Niederungen der tatsächlichen Be-

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wußtseinsbildungen in den Blick der Empirie bringt, sie vermeßbar und dadurch auch begehbar macht. Wie ist dieser Schritt von der Theorie zur Empirie zu denken, wenn in ihm die konzeptuellen Differenzierungen von Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß nicht zugunsten eines unmittelbaren Erfahrungs- und Praxisbezuges verlorengehen, sondern die Empirie und die Praxis in ihrer inneren Komplexität erschlossen werden sollen? Dazu bedarf es einer sorgfältigen Operationalisierung der theoretischen Ansätze, und zwar in heuristischer, analytischer und interpretatorischer Hinsicht. Heuristisch muß eine Theorie des historischen Lernens Verlautbarungen des Geschichtsbewußtseins in den Blick bringen, die das anzeigen und erforschbar machen, was auf der Theorieebene als Lernleistung ausgesagt wurde (man könnte anspruchsvoll auch von 'Indikatoren' sprechen). In analytischer Wendung müssen von einer Theorie des historischen Lernens Kriterien entwickelt werden, mit deren Hilfe die Verlautbarungen auf ihren Tatsachengehalt hin untersucht werden können. Und in interpretatorischer Hinsicht muß eine Theorie des historischen Lernens zur Bildung von Hypothesen über empirische Korrelationen zwischen verschiedenen Faktoren des Geschichtsbewußtseins, über seine Entwicklung und deren Bedingungen, führen. Eine geschichtsdidaktische Forschungspraxis, die mit anspruchsvollen Theoriekonzepten des Geschichtsbewußtseins arbeitet, steckt noch in den Anfangen. 96 Ich kann also im folgenden keine Standards der Operationalisierung in den genannten drei Hinsichten entwickeln, die bereits durch Forschungsroutine abgesichert wären. Ich kann lediglich Vorschläge für eine theoriegeleitete geschichtsdidaktische Forschungspraxis unterbreiten, die eher auf der bedrückenden Erfahrung von Defiziten als auf gesicherten Ergebnissen beruhen.97 96

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Zu diesen Konzepten siehe vor allem die Arbeiten von Karl Ernst Jeismann und Bodo v. Borries: Jeismann, Karl-Ernst u.a.: Die Teilung Deutschlands als Problem des Geschichtsbewußtseins. Paderborn 1987; Borries, Bodo von: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zum Erwerb und Gebrauch von Historie. Stuttgart 1988. - Einen Überblick über den älteren Stand der empirischen Forschung in der Geschichtsdidaktik geben Fürnrohr, Walter; Kirchhoff, Hans Georg (Eds): Ansätze empirischer Forschung im Bereich der Geschichtsdidaktik. Stuttgart 1976. Vgl. ferner: Blake, David W.: Observing Children Learning History, in: The History Teacher 14 (1981), S.533-549. Nach der Erstpublikation dieses Textes liegen weitere Untersuchungen vor: Börnes, Bodo von: Geschichtsbewußtsein als Identitätsgewinn? Fachdidaktische Programmatik und Tatsachenforschung (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 3). Hagen 1990; Borries, Bodo von; Pandel, Hans-Jürgen; Rüsen, Jörn (Eds): Geschichtsbewußtsein empirisch. Pfaffenweiler 1991; Borries, Bodo von: Kindlich-jugendliche Geschichtsverarbeitung in West- und Ostdeutschland 1990. Pfaffenweiler 1992; Borries, Bodo von; Rüsen, Jörn (Eds): Geschichtsbewußtsein im

Geschichtsbewußtsein indiziert sich überwiegend sprachlich. Sprachliche Verlautbarungen dürften daher auch im Vordergrund des empirischen Forschungsinteresses der Geschichtsdidaktik stehen. Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß es auch nichtsprachliche Indikatoren von Geschichtsbewußtsein gibt, etwa bildhafte Symbole, die einen hohen Aussagegehalt hinsichtlich fundamentaler Sinnkriterien der Zeitdeutung haben. Solche symbolisch-bildhaft indizierten Sinnkriterien sind oftmals den Subjekten gar nicht deutlich bewußt; sie liegen ihren absichtsvollen Reflexionen über zeitliche Orientierungen noch voraus und bestimmend zugrunde. Es bedarf dann erheblicher Anstrengungen, um sie verbal artikulierbar zu machen. Auf der Ebene der sprachlichen Artikulation von Geschichtsbewußtsein stellt sich für jede empirische Forschungsarbeit zunächst einmal die Grundsatzfrage, welche Vorgänge des Geschichtsbewußtseins über welche sprachliche Verlautbarungen empirisch zugänglich sind. Am einfachsten ist es bei den Beständen historischen Wissens. Sie sind immer wieder untersucht worden, und die Untersuchungsergebnisse, die zumeist im Aufweis dessen bestehen, was die untersuchten Personen und Gruppen alles nicht, falsch oder nur halb richtig wissen, wirken nicht nur auf Geschichtsdidaktiker und Lehrer, sondern auch in der politisch interessierten Öffentlichkeit sehr oft schockierend, weil die jeweils zutage getretenen Wissensmängel historische Orientierungslosigkeit oder falsche oder zumindest problematische Orientierungen zu bedeuten, also Defizite in der politischen Kultur darzustellen scheinen. Ein auf (Tatsachen-)Wissen gerichteter empirischer Zugriff auf Geschichtsbewußtsein ist jedoch zu eng, und die Interpretation der erhobenen Befunde ist daher fragwürdig. Denn das historische Wissen stellt zwar einen wesentlichen Teil des Geschichtsbewußtseins dar, und es spielt natürlich eine wichtige Rolle im Prozeß des historischen Lernens; aber, isoliert für sich betrachtet, verrät es nichts oder wenig über seine Funktion im psychischen Haushalt seiner Subjekte, darüber also, was das Interesse und den faszinierten Schrecken an historischen Wissensmängeln hervorruft: die das Handeln der untersuchten Personen und Gruppen bestimmenden Deutungsmuster und Orientierungen. Wissensbestände sind im historischen Lernprozeß kein Selbstzweck, sondern sie spielen eine wesentliche Rolle beim Erwerb von Deutungskompetenz, die sich auf Zeiterfahrung richtet, und diese Deutungskompetenz wiederum ist ein wichtiger Faktor in der absichtsvollen Orientierung menschlicher Lebenspraxis. Die Beziehungen zwischen diesen drei Dimensionen interkulturellen Vergleich (Anm.92). Borries, Bodo von: Vorstellungen zum Nationalsozialismus und Einstellungen zum Rechtsextremismus bei ost- und westdeutschen Jugendlichen. Einige empirische Hinweise von 1990, 1991 und 1992, in: Internationale Schulbuchforschung 15 (1993), S.139-166.

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des Geschichtsbewußtseins sind komplex, und es ist keinesfalls so, daß von differenzierten historischen Wissensbeständen auf ein starkes Orientierungsvermögen der Lebenspraxis in Zeitverläufen rückgeschlossen werden könnte. Wissen kann ja bekanntlich auch tot sein, und das ist immer dann der Fall, wenn es nicht in Deutungsmuster integriert und als so gedeutetes einen Teil der praktischen Lebensorientierung ausmacht. In dieser Form ist es nicht einfach wirkungslos, so daß es dann kein Schaden wäre, historisches Wissen um seiner selbst willen gelernt und gespeichert zu haben, sondern es wirkt, allerdings dysfunktional, etwa als Erfahrungsbremse, als Blockade von Subjektivität in der Aneignung von Zeiterfahrung zur Artikulation eigener historischer Identität. Für eine analytisch differenzierte empirische Erforschung des Geschichtsbewußtseins empfiehlt es sich also, im heuristischen Zugriff auf die sprachlichen Verlautbarungen des Geschichtsbewußtseins die Ebenen des Wissens (um die Tatsachen der Vergangenheit), des Deutens (dieser Tatsachen als historische Zusammenhänge) und des Orientierens (in der Gegenwart mit Hilfe historischer Zeitverlaufsvorstellungen) voneinander zu unterscheiden und die jeweilig entsprechenden Verlautbarungen oder Indikatoren anzugeben. Allerdings läßt sich das eine ohne das andere gar nicht denken. Ein heuristisches Frageraster müßte also sprachliche Äußerungen von Geschichtsbewußtsein analytisch in die drei Hinsichten des Wissens, Deutens und Orientierens aufschlüsseln; es müßte Wissensbestände auf zugrunde liegende und implizite Deutungsmuster hin durchsichtig machen und die Orientierungsfunktion der das Wissen strukturierenden Deutungsmuster eigens hervorheben. Wie eine solche heuristische Operationalisierung aussehen könnte, möchte ich an zwei Beispielen erläutern, die die Analyse von Unterrichtsverläufen und von spontanen Deutungsleistungen der Schüler betreffen. Das erste Beispiel betrifft die Untersuchung von Geschichtsunterricht auf der Basis von Wortprotokollen. Die Erhebung solcher Empirie verlangt keine komplizierten diagnostischen Verfahren. Sie ist in der Geschichtsdidaktik üblich; es gibt eine Fülle publizierter Stundenprotokolle und eine ganze Reihe einschlägiger Untersuchungen, die die unterschiedlichsten Aspekte des historischen Lehrens und Lernens betreffen. Es ist kein Problem, aus genau protokolliertem Unterrichtsgeschehen die in der Kommunikation zwischen den Beteiligten jeweils wirksamen Deutungsmuster als eigenen Tatbestand neben demjenigen der jeweils besprochenen historischen Inhalte festzustellen und als vorherrschende Lernform zu charakterisieren. Dazu braucht lediglich die Typologie der vier Formen historischer Sinnbildung und der ihr kongruenten Lernformen herangezogen und als hermeneutisches Frageraster an den 'Text' der Unterrichtskom-

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munikation angelegt zu werden. 98 Es ergeben sich Einsichten in die Deutungsmuster, die die Präsentation und Verarbeitung historischen Wissens im Unterricht fundamental bestimmen - Einsichten, deren Bedeutung für die Geschichtsdidaktik wohl außer Frage stehen dürfte. Es ist erstaunlich, daß in der empirischen Erforschung von Geschichtsunterricht wenig danach gefragt wird, in welche fundamentalen Sinnzusammenhänge spezifisch historischer Art hinein die Schüler und Schülerinnen Informationen über die menschliche Vergangenheit verarbeiten, die sie im Unterricht präsentiert bekommen oder sich aus den Quellen selber erarbeiten. Daß solche Sinnzusammenhänge die Verarbeitung von Informationen über die menschliche Vergangenheit als spezifisch historische Bewußtseinsleistung determinieren, dürfte sich wohl kaum bestreiten lassen; wie aber solche Deutungsmuster in der Unterrichtskommunikation vorkommen, verwendet werden oder gar beeinflußt werden können - darüber ist wenig bekannt. Schon die Präsentation historischer Tatsachen, sei es durch den Lehrer oder auch schon durch die Quelle, impliziert sehr oft bereits Deutungsmuster, die in einem ungeklärten Verhältnis zu den von den Schülern mitgebrachten Deutungsmustern stehen. Stichprobenartige Untersuchungen lassen es plausibel erscheinen, daß der Geschichtsunterricht in sämtlichen Schularten und Altersstufen überwiegend in der Lernform exemplarischer Sinnbildung vor sich geht. Die Historia ist also im Geschichtsunterricht nach wie vor magistra vitae. Es ist eine für die Geschichtsdidaktik höchst brisante Frage, wie dieser Befund eigentlich mit der kulturgeschichtlichen Tatsache in Verbindung gebracht werden kann, daß die für moderne Gesellschaften kulturell maßgebliche historische Denkform gerade nicht die exemplarische, sondern die genetische ist. Allerdings ist die Charakterisierung der das Unterrichtsgeschehen determinierenden Formen historischer Sinnbildung mit der Unterscheidung von nur vier Sinnbildungstypen grob und daher noch nicht ergiebig genug für eine bewußte Berücksichtigung der Rolle, die historische Sinnbildungsmuster im Unterrichtsprozeß spielen. Für eine Forschungsstrategie, in der es um die faktische Wirkung und um die didaktische Modifizierbarkeit historischer Sinnbildungsmuster im Unterricht geht, ist eine innere Differenzierung der historischen Lernformen dringend erforderlich. Eine solche Differenzierung hat auf der Ebene einer Theorie der historischen Lernformen anzusetzen und hier mit den Mitteln einer analytischen Ausdifferenzierung der einzelnen Lerntypen weiterzuarbeiten. So kann z.B. die exemplari98

Ein konkretes Beispiel führt Hans-Peter Appel vor: Möglichkeiten der erzähltheoretischen Analyse von Geschichtsunterricht. Ein Beispiel aus dem Unterricht einer 10. Hauptschulklasse, in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 177-185.

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sehe Lernform als Spannungsfeld des Geschichtsbewußtseins zwischen traditionalen und genetischen Deutungsmustern (mit der Verwendung kritischer Distanzierungsmöglichkeiten) thematisiert und je nach der Nähe der exemplarischen Sinnbildung zu traditionalen, genetischen oder kritischen Deutungselementen in unterschiedliche Typen des Exemplarischen ausdifferenziert werden. Mit einem solchen typologischen Feinraster exemplarischer Sinnbildung läßt sich dann das Unterrichtsgeschehen im Hinblick auf die Verarbeitung von Wissen und Erfahrungen über die menschliche Vergangenheit in die Vorstellung historischer Zusammenhänge hinein durch die Schülerinnen und Schüler genauer analysieren. Das zweite Beispiel ist ein Versuch herauszufinden, welche Sinnbildungsmuster bei Schülern und Schülerinnen vorherrschen, wenn ihr Geschichtsbewußtsein zu einer spontanen Sinnbildungsleistung herausgefordert, also nicht durch die Regulative des Geschichtsunterrichts bestimmt wird. Um solche spontanen Sinnbildungsleistungen man könnte anspruchsvoll auch von 'originärem Geschichtsbewußtsein' sprechen - empirisch erheben zu können, wurde folgende Untersuchungsanordnung getroffen." Zugrunde lag eine Geschichte, die wegen ihres dramatischen Inhalts Aufmerksamkeit und Interesse beanspruchen konnte: Samuel Johnsons 100 Bericht über eine Begebenheit in Schottland, die Auswirkungen bis in die (damalige) Gegenwart hatte und die auch in Form eines Denkmals sinnenfällig gegenwärtig war. Diese Geschichte wurde vereinfacht und so in eine Gegenwartssituation eingebracht, daß sie zur Begründung einer praktischen Entscheidung erzählt werden mußte. Die Probanden (Schüler unterschiedlicher Schulformen und verschiedener Jahrgänge, aber auch Studierende) sollten sich in die offene Situation versetzen, in der sie eine Entscheidung treffen und diese Entscheidung durch eine Geschichte begründen müssen. In dieser Anordnung wurde die historische Sinnbildung (das Erzählen einer Geschichte wirklicher Begebenheiten) als Teil der eigenen Lebenspraxis, als Moment aktueller Handlungsorientierung, vollzogen: Damit war der für die historische Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins maßgebliche Gegenwartsbezug hergestellt, und zwar in einer Dissonanz und Irritation (in diesem Falle einer zu treffenden Entscheidung), die die Deutungsleistung (hier: eine Begründung) des Geschichtsbewußtseins in Bewegung bringt. Der erzählend verarbeitete Wissensbestand (Tatsachen der Vergangenheit) war vorgegeben, aber so, daß er nicht bereits in sich die Präferenz für ein Deutungsmuster hatte, sondern eher in der Form von 'Bausteinen' einer zu erzählenden Geschichte, 99 100

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Im einzelnen siehe dazu Schmidt (Anm.78). Johnson, Samuel: Reisen nach den westlichen Inseln bei Schottland. Frankfurt/Main 1982, S.221-223.

deren Anordnung eben durch die Probanden selber spontan getroffen werden mußte. In dieser Untersuchungsanordnung sind nun Spontanerzählungen zustande gekommen, in denen der Wissensbestand über die Vergangenheit narrativ so organisiert wurde, daß damit eine aktuelle Handlungsentscheidung begründet werden konnte. Die jeweils für die Begründung verwendeten historischen Deutungsmuster lassen sich ermitteln und mit Hilfe einer ausdifferenzierten Typologie historischer Sinnbildung und historischer Argumentation im einzelnen charakterisieren. Die Beispiele zeigen, daß und wie sich aus dem theoretischen Konstrukt historischer Lernformen heuristische Schemata entwickeln und operationalisieren lassen, mit denen empirische Befunde über Ausprägung und Verwendung historischer Deutungsmuster ausgewertet werden können. Natürlich lassen die Beispiele mehr Fragen offen, als sie Antworten geben. Offen ist die Frage, wie sich in klarer analytischer Abgrenzung von den historischen Deutungsmustern die Orientierungsmuster der Lebenspraxis ermitteln lassen, denen die historischen Deutungsmuster ihrerseits eingelagert sind. Hier käme es darauf an, eine Heuristik für Standpunktartikulation in Äußerungen des Geschichtsbewußtseins zu entwickeln. Eine solche Standpunktartikulation kann indirekt über die Manifestation historischer Perspektiven erfolgen: Aus der jeweils die historische Deutungsarbeit charakterisierenden Perspektive, in der die Vergangenheit auf die Gegenwart bezogen wird, kann rückgeschlossen werden auf den - jeweils für die Deutungsarbeit des Geschichtsbewußtseins maßgeblichen Standpunkt seines Subjekts. Dieser Rückschluß betrifft natürlich auch die funktionale Zuordnung historischer Deutungen zur orientierenden Interpretation der Lebenssituation der jeweiligen Subjekte. Eine direkte Artikulation von Standpunkten, von denen aus und auf die hin historische Deutungen erfolgen, stellen dezidierte Werturteile über historische Tatbestände und Äußerungen von Vorurteilen und werthaften Einstellungen dar. Von der Standpunktartikulation ist es nur noch ein Schritt zur heuristischen Ermittlung sprachlicher Verlautbarungen für historische Identität. Die entsprechenden Sprachhandlungen der Identifikation und ihres Gegenteils, der Distanzierung, sind in ihrer Spezifik für das Geschichtsbewußtsein noch wenig differenziert ermittelt. Der Schlüsselindikator ist natürlich das Personalpronomen der ersten Person (Ich/Wir). Es fehlt jedoch eine analytisch trennscharfe und typologisch vollständige Unterscheidung verschiedener Formen historischer Identifikationen und anderer sprachlicher Artikulationen historischer Identität. Es fehlt ein Analogon zur Typologie der historischen Sinnbildung, mit der die Ausprägung und Wirkungsweise von Deu-

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tungsmustern in der Arbeit des Geschichtsbewußtseins empirisch ermittelt werden kann, für die Orientierungsleistung und Identitätsbildung durch das Geschichtsbewußtsein. Hier geht es nicht mehr um Kategorisierungen der historischen Erfahrung, Wertung und Urteilsbildung, sondern um so etwas wie 'Ethiken' der Daseinsorientierung mit dem Mittel historischer Zeitverlaufsvorstellungen, also um eine Typologie historischer Standpunkte und Perspektivierungen. Eine solche Typologie müßte den Spielraum historischer Identitätsbildung durch Standpunktbezug in der deutenden Verarbeitung historischer Erfahrung ausmessen und kategorial erschließen. Dieser Spielraum läßt sich mit folgenden Typen von Geschichten umreißen, mit denen Standpunkte bezogen und zum Ausdruck gebracht und zugleich Konzepte historischer Identität entwickelt und artikuliert werden: Auf der einen Seite stehen Geschichten, die die Gewißheit des einzig möglichen, objektiven und wahren Standpunktes vermitteln. Alle Abweichungen gelten als sachlich falsch; sie sind nicht Ausdruck anderer Standpunkte und als solche bedenkenswert, sondern schlicht unrichtig. Das Andere in der historischen Perspektivierung der eigenen Lebenspraxis ist das Falsche. Auf der anderen Seite stehen Geschichten, die sich als mögliche gegenüber anderen über die gleichen Erfahrungsinhalte verstehen, ihre Perspektivik eingestehen und sich produktiv-kritisch auf die Perspektivik anderer Geschichten beziehen. Das Andere erhält eine eigene Wahrheit, es wird anerkannt und produktiv auf das Eigene bezogen. Im ersten Falle werden Standpunkte als einzig mögliche behauptet und entsprechend historische Identitäten festgeschrieben. Im anderen Falle setzen sich Standpunkte kommunikativ mit anderen ins Benehmen, und historische Identität wird flexibel und fähig, das Anderssein des Anderen anzuerkennen. Zwischen diesen beiden Extremen können andere Formen historischen Standpunktbezuges und historischer Selbstvergewisserung stehen: das wären exemplarische oder genetische Erzählungen mit entsprechend unterschiedlichen historischen Orientierungen. Grundsätzlich dürfte die Typologie der historischen Lernformen geeignet sein, Orientierungen und Selbstverständigungen über gedeutetes historisches Wissen analytisch zu klassifizieren und in ihrer komplexen Struktur aufzuschlüsseln. Zur Ausdifferenzierung und Verfeinerung einer solchen Typologie historischer Orientierungen und Identitätsformen könnte auf die weiter oben vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Subjektivität und InterSubjektivität des Geschichtsbewußtseins zurückgegriffen werden, die auf der Theorieebene dazu diente, Dimensionierungen und Bedingungsfaktoren des Geschichtsbewußtseins zu unterscheiden.

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Zeigt schon der Überblick über die Probleme einer treffsicheren Heuristik für empirische Indikatoren von Geschichtsbewußtsein, daß es sehr viel mehr Fragen als Antworten gibt, so gilt dies in noch höherem Maße für den nächsten Schritt empirischer Untersuchungen, der von der Ermittlung und Beschreibung empirischer Tatbestände zur Untersuchung von Korrelationen dieser Tatbestände mit Bedingungsfaktoren führt. Wie korreliert das Alter von Menschen mit der Form ihrer historischen Deutungsmuster? Sind die Deutungsmuster abhängig von den Inhalten, die mit ihnen verarbeitet werden, so daß je nach Inhalt Verschiebungen der historischen Deutung erfolgen, die zu deutenden Tatsachen also Einfluß nehmen auf die Strukturierung der historischen Deutungsmuster? Sind auf der anderen Seite die historischen Deutungsmuster abhängig von allgemeinen weltanschaulichen Orientierungen, von den 'Ethiken' der Lernenden, und beeinflussen diese nicht sogar den Zugriff auf die Tatsachen der historischen Erfahrung? Eine andere Korrelation könnte diejenige zwischen der Subjektnähe der zu deutenden historischen Erfahrung und der Komplexität bzw. dem Niveau des Deutungsmusters sein. Einige Beobachtungen legen die Vermutung nahe, daß die Fähigkeit zur Verwendung komplexer und elaborierter (z.B. genetischer) Deutungsmuster bei der Verarbeitung historischer Erfahrungen in dem Maße abnimmt, in dem die Erfahrungsinhalte unmittelbare persönliche Belange der Subjekte berühren oder tiefsitzende Selbsteinschätzungen oder Standpunkte herausfordern. Bei demjenigen Sachverhalt, auf den sich das empirische Interesse der Geschichtsdidaktik wohl am meisten konzentrieren dürfte, sieht es in der Entwicklung erfolgversprechender Forschungsstrategien besonders schlecht aus: Ich meine die strukturellen Veränderungen des Geschichtsbewußtseins in langfristigen Prozessen des historischen Lernens. So verlockend die These sich ausnehmen dürfte, daß im Verlaufe eines langfristigen Lernprozesses die Deutungskapazität des Geschichtsbewußtseins zur Verarbeitung von Zeiterfahrungen und zur Orientierung der Lebenspraxis sich in aufsteigender Linie von der Fähigkeit zur traditionalen Sinnbildung über diejenige der exemplarischen und kritischen zur genetischen entwickelt, so wenig ist darüber bisher empirisch ausgemacht. Welche Forschungsstrategie würde hier weiterhelfen? In Analogie zu den berühmten Untersuchungen von Lawrence Kohlberg über die Entwicklung des menschlichen Moralbewußtseins müßte ein diagnostisches Instrumentarium entwickelt werden, das vergleichbare Entwicklungen des Geschichtsbewußtseins feststellbar macht. Leider aber sind die zu messenden Bewußtseinsstrukturen unverhältnismäßig viel komplexer; denn das Geschichtsbewußtsein ist ja eine eigentümliche Mischung von Zeitbewußtsein

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und Moralbewußtsein, in dem ein Typ von Erfahrungen verarbeitet wird, den die Entwicklungspsychologie bisher kaum beachtet hat. Aus diesen bedrückenden Defiziten erfolgversprechender Forschungsstrategien dürfte gefolgert werden, daß die Geschichtsdidaktik ihre Zukunft noch vor sich haben kann. Anders herum gesagt: Es ist wenig produktiv, die Kontroversen der sechziger und siebziger Jahre weiterzuführen; stattdessen ist es viel aussichtsreicher, empirische Forschungen zu initiieren, die neue Gesichtspunkte und Wissensbestände für die fachdidaktische Diskussion einbringen. 7. Zur normativen Orientierung historischer Lernprozesse Die geschichtsdidaktische Lernzieldiskussion ist abgeflaut. Der Ertrag der ausgiebigen Erörterungen in den sechziger und siebziger Jahren ist ambivalent. Auf der einen Seite wurde die normative Dimension des historischen Lernens und Lehrens in den Blick gerückt und das Bewußtsein von der praktischen Bedeutung geschärft, die bewußte didaktische Zielsetzungen für jedes organisierte Lernen haben. Auf der anderen Seite sind inhaltliche Bestimmungen dessen, was denn als solche Zielbestimmungen für spezifisch historisches Lernen zu gelten habe, eher unbefriedigend geblieben. Ein hohes Maß an Politisierung und politischer Polarisierung hat die geschichtsdidaktische Arbeit daran, konsensfahige Lernziele zu explizieren und zu begründen, erschwert. Überdies war die Abstraktheit der curricularen Argumentation problematisch. Sie übersah in der Frage nach allgemeinen Qualifikationen als obersten Normen für die Organisation des historischen Lernens allzu oft dessen Geschichtsspezifik und neigte daher allzu schnell dazu, 'Geschichte' als Lerninhalt auf Lernziele hin zu instrumentalisieren, die in einem merkwürdig gebrochenen Verhältnis zur kulturellen Funktion des Geschichtsbewußtseins stehen. Hinzu kam, daß sich die Arbeit an zugleich theoretisch fundierten und praxisnahen Zielbestimmungen des historischen Lernens von dessen inhaltlichen Aspekten entfernte. So konnte es zu der unbefriedigenden Situation kommen, daß auf der Ebene geschichtsdidaktischer Argumentation, wo oberste Lernziele formuliert und begründet werden, historische Inhalte wenig gefragt waren, und daß umgekehrt dort, wo es darum ging, konkrete Zeiterfahrungen lernend in historische Deutung einzuarbeiten und diese Deutungen praxisorientierend zu verwenden, die Lerninhalte im Vordergrund standen. Welche Perspektiven für eine Explikation und Begründung normativer Faktoren des historischen Lernens eröffnet nun eine Geschichtsdidaktik, die historisches Lernen als Sinnbildungsprozeß des Geschichtsbewußtseins über Zeiterfahrung thematisiert? Zunächst einmal läßt sich mit der Frage nach Geschichtsbewußtsein als Lernpro-

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zeß an die curriculare Argumentation anknüpfen, die danach fragt, welche Qualifikationen durch historisches Lernen erworben werden (können). Eine lerntheoretische Interpretation der Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins verläßt die curriculare Argumentation in der Geschichtsdidaktik nicht, sondern bringt sie auf den entscheidenden Punkt der Fachspezifik, des spezifisch Historischen. Die oberste Qualifikation, die durch historisches Lernen erreicht werden soll, ist eben die Fähigkeit des Geschichtsbewußtseins, Sinn über Zeiterfahrung bilden zu können, um sich erfahrungsgestützt im Zeitverlauf der eigenen Lebenspraxis absichtsvoll orientieren zu können. Um eben dieser Fähigkeit willen wird das Geschichtsbewußtsein in den mühsamen Prozessen menschlicher Individuierung und Sozialisation ausgebildet. Dieses oberste Lernziel, diese fundamentale Qualifikation, läßt sich in präziser Zuspitzung auf das, was es grundsätzlich heißt, historisch zu lernen, als 'narrative Kompetenz' bezeichnen. Diese Qualifikationsbestimmung ist praktisch und theoretisch zugleich: Praktisch, insofern sie eine Kompetenz darstellt, die für die Orientierung der Lebenspraxis in diachronen Hinsichten unerläßlich ist, und theoretisch, insofern sie nur durch deutende Verarbeitung von Zeiterfahrungen mit dem dafür dem Menschen zur Verfügung stehenden kognitiven Instrumentarium erworben werden kann. Letzteres heißt nicht, daß die Qualifikation 'narrative Kompetenz' kognitivistisch gemeint ist; denn die Sinnbildungsarbeit des Geschichtsbewußtseins umgreift natürlich den kognitiven, emotionalen und pragmatischen Bereich, so daß die entsprechende Fähigkeit, die lernend erworben werden soll, der Unterscheidung dieser drei Lernebenen noch voraus- und zugrunde liegt. Ist aber mit dem obersten Lernziel 'narrative Kompetenz' mehr gewonnen als ein neues schönes Wort (nachdem das alte: 'Emanzipation' im Kampf an der semantischen Front politischer Identität zerschlissen worden ist und das neue Wort 'Identität' gerade dabei ist, an derselben Front zerschlissen zu werden)? Die fundamentale Lernzielbestimmung 'narrative Kompetenz' ist soviel wert, wie sich mit ihr kategorial normative Inhalte des historischen Lernens ausmachen lassen. Zunächst einmal bezeichnet sie auf der Ebene fundamentaler Qualifikationen unzweideutig die Spezifik des Historischen; es handelt sich um eine Kompetenz, deren Erwerb nur durch die Tätigkeit des Geschichtsbewußtseins möglich ist und deren lebenspraktische Notwendigkeit sich hinreichend plausibel machen läßt. Narrative Kompetenz ist zur diachronen Orientierung menschlichen Handelns ebenso notwendig wie historische Identität zu den Formen menschlichen Selbstverständnisses gehört, ohne die sich handlungsfähige Subjekte nicht denken lassen, und beides wird im gleichen Prozeß des Geschichtsbewußtseins lernend ausgebildet.

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Narrative Kompetenz ist also eine Qualifikationsbestimmung von Lernen, die dessen fundamental historischen Charakter bezeichnet. Zugleich läßt sie sich mit den Mitteln einer lerntheoretisch interpretierten Erzähltypologie inhaltlich ausdifferenzieren, also mit komplexem normativen Gehalt füllen. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich auf die Unterscheidung der drei Triebkräfte zurückgreifen, die den Entwicklungsprozeß des Geschichtsbewußtseins in Gang bringen und in Gang halten (können). Historisches Lernen erfolgt unter Erfahrungs-, Subjektivitäts- und Intersubjektivitätsdruck. Das Geschichtsbewußtsein arbeitet diesen dreifachen Druck in narrative Kompetenz um. Erfahrung, Subjektivität und Intersubjektivität als Bestimmungsgrößen historischer Lernprozesse lassen sich normativ formulieren, und damit eröffnet sich die Möglichkeit, die Qualifikation 'narrative Kompetenz' thematisch in drei Bereiche von Lernzielbestimmungen aufzugliedern: In die Lernzielbereiche der Erfahrungsoffenheit, der subjektiven Selbsttätigkeit oder Freiheit und der intersubjektiven Anerkennung oder des Verstehens. (a) Der Erfahrungsbezug, den jede Sinnbildung über Zeiterfahrung als Lernprozeß auszeichnet, läßt sich normativ formulieren, obwohl auf den ersten Blick zwischen Erfahrung und Norm ein unüberbrückbarer logischer Gegensatz zu bestehen scheint. Es geht aber darum, daß die Erfahrungsverarbeitung des historischen Lernens immer eine Konsequenz für die normativen Elemente des Geschichtsbewußtseins hat: Die Deutungsmuster der Zeiterfahrung, die in die orientierenden diachronischen Hinsichten der menschlichen Lebenspraxis eingehen und mit diesen auch das Selbstverhältnis der lernenden Subjekte, ihre Identität, bestimmen, werden von Art und Ausmaß der mit ihnen verarbeiteten Zeiterfahrung beeinflußt, und so bestimmt die lernend verarbeitete Zeiterfahrung die normative Funktion des Geschichtsbewußtseins. Traditionelle Deutungsmuster sind z.B. eher erfahrungsarm und werden durch Erfahrungszuwachs in exemplarische transformiert. Als Zielbestimmung des historischen Lernens läßt sich im Hinblick auf die lernend verarbeitete Zeiterfahrung der Grundsatz aufstellen, daß die Deutungsmuster des Geschichtsbewußtseins in ihrer Funktion als Bestimmungsgrößen der Praxisorientierung und des subjektiven Selbstverhältnisses auf historische Erfahrungen hin lernend geöffnet oder offengehalten werden müssen. Es geht darum, daß die lernend anzueignende historische Erfahrung nicht einfach vorgegebene Deutungs- und Orientierungsmuster bestätigt - dann würde ja eigentlich gar nicht gelernt, d.h. neue Deutungskapazität erworben. Sondern es sollen historische Erfahrungen als Erfahrungen von Zeitunterschieden lernend so angeeignet werden, daß Selbstverständlichkeiten der Deutung und Orientierung durch historisches Wissen problematisiert, wirksame Deutungsmuster und Orientie-

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rungsgrößen durch Erfahrungen veränderbar werden, und sei es nur insofern, als sie den Modus von Selbstverständlichkeiten verlieren und begründbar (und d.h. immer auch: durch Begründungen modifizierbar) werden. Deutungsmuster der Zeiterfahrung und normative Bestimmungsgrößen der Praxisorientierung und des Selbstverhältnisses werden als fixe Größen im kulturellen Haushalt von Individuen und Gesellschaften aufgebaut und sind nicht leicht auf Erfahrungen hin zu relativieren, die ihr Anderssein bedeuten können. Genau diese Relativierung ist aber gemeint, wenn historisches Lernen am Ziel der Erfahrungsöffnung orientiert werden soll: Es geht darum, die diachronen Orientierungsgrößen der menschlichen Lebenspraxis mit Zeiterfahrung zu sättigen, und dies ist ohne eine durchaus irritierende Relativierung von normativen Prinzipien auf historische Veränderungen nicht möglich. Allerdings geschieht diese Relativierung nicht, um ihre normative Kraft zu schwächen, sondern im Gegenteil: um sie mit dem "Sinn für die Wirklichkeit" zu stärken. 1 0 1 Auf dieser Lernzielebene kommen die Lerninhalte in den Blick: Denn es sind ja nicht beliebige Zeiterfahrungen (oder historische Inhalte), die lernend über Deutungsmuster als Faktoren der Praxisorientierung und des Selbstverständnisses angeeignet werden können. Es kann sich nur um die historischen Sachverhalte handeln, die sich schon vor ihrer lernenden Aneignung als Erfahrungen in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen niedergeschlagen haben. Gelernt werden sollen die historischen Inhalte, die schon vor ihrer ausdrücklichen historischen Thematisierung in den objektiven und subjektiven Lebensumständen der Gegenwart wirksam sind. Historische Identität ist alles andere als eine Angelegenheit freier Meinungsbildung oder Entscheidung, sondern unausweichlich bestimmt durch die historischen Entwicklungen, in die hinein die Subjekte geboren werden. Lernend wird die historische Identität nicht gestiftet, sondern angeeignet. Allerdings beeinflußt der Modus der Aneignung die jeweilige Ausprägung der historischen Identität selber. So ist etwa nationale Identität als Teil der historischen immer schon vorgegeben durch Lebensverhältnisse (man wird eben als Deutscher oder Franzose geboren, wenn die Eltern Deutsche oder Franzosen sind), aber andererseits prägt sie sich im Entwicklungsprozeß der Individuen unterschiedlich aus, je nach dem, was und wie das Individuum gelernt hat, sich zu ihr zu verhalten. (b) Der Subjektivitätsbezug des historischen Lernens wird normativ mit den Kategorien des 'Schülerbezuges' oder des 'Schülerinteresses' thematisiert. Damit ist zunächst nicht gemeint, die Geschichtsdidak101

Humboldt: Über die Aufgabe (Akademieausgabe IV, S.40).

des

Geschichtsschreibers

(Anm.17),

S.589

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tik könne Zielbestimmungen des historischen Lernprozesses in der Form eines ausgearbeiteten Wertekanons entwickeln, in dem so etwas wie die jeweils für die Schülerinnen und Schüler maßgeblichen Gesichtspunkte ihrer Daseinsorientierung verbindlich expliziert werden. Dies würde dem Subjektivitätsbezug des historischen Lernens eine objektivistische Wende geben, in der allzu schnell das verloren gehen kann, worum es geht: die Subjektivität der Lernenden, ihr Selbst- und Eigensein, ja ihren 'Eigensinn', der gerade nicht dadurch zur Geltung gebracht wird, daß ihnen schon vorgegeben wird, wer oder was sie gefalligst zu sein hätten. Es geht vielmehr darum, im Lernprozeß die Lernenden zur Selbsttätigkeit, zur eigenen Produktivität in der deutenden Aneignung der historischen Erfahrung zu befähigen. Um es paradox zu formulieren: Sie sollen dazu angeleitet werden, sich ohne Anleitung eines anderen im Zeitverlauf ihrer Welt zurechtzufinden. Es geht also entschieden darum, in die diachrone Orientierung der menschlichen Lebenspraxis die Subjektivität der Betroffenen einzubringen, mit der sie die historischen Orientierungen ihrer Gegenwart als ihre eigenen empfinden und vollziehen. Die maßgebliche fundamentale Norm in dieser Dimension des historischen Lernens lautet also: Freiheit. Die Lernenden sollen zu eigenen Deutungsleistungen und historischen Orientierungen befähigt werden. Aus dieser fundamentalen Norm läßt sich eine Reihe verschiedener Zielbestimmungen des historischen Lernens ableiten. So muß beispielsweise die jeweils lernend anzueignende historische Erfahrung so in den Lernprozeß eingebracht werden, daß sie die Lernsubjekte dort betrifft, wo sie mit eigenen Interessen und Absichten ihr Leben in der Zeit orientieren. Dieses (normative) Betroffenheitskriterium bedeutet zugleich, daß die historischen Erfahrungen nicht nur auf der kognitiven Ebene deutend verarbeitet werden können, sondern immer auch im Medium der Anschauung und Emotionalität vermittelt werden müssen. Dies ist natürlich trivial und überdies nicht unproblematisch, da mit dem normativ gewendeten Subjektvitätskriterium das historische Lernen in die fatale Nähe einer Erzeugung von Gesinnung rückt. Trivial ist jedoch das Betroffenheitskriterium dann nicht mehr, wenn es nicht bloß als unterrichtsmethodisches Mittel zur Anregung kognitiver Anstrengungen verwendet wird, sozusagen als emotionales Schmiermittel zur Einverleibung historischer Wissensbestände, sondern als erstrangige Bezugsgröße des Lernprozesses selber. Um es anspruchsvoll zu formulieren: Subjektivität gewinnt durch historisches Lernen eine innere Zeitqualität, und zwar auch dort, wo sie als 'Einstellung' (in einer eigentümlichen Mischung von kognitiven und emotionalen Elementen) lebenspraktisch wirksam ist.

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Damit allerdings wird das Problem der Gesinnung unabweisbar. Es ist nicht damit getan, diese Dimension menschlicher Subjektivität aus der didaktischen Reflexion historischen Lernens herauszuhalten. Es ist zwar verständlich, daß die negative historische Erfahrung mit Geschichtsunterricht als Gesinnungsfach die Geschichtsdidaktik dazu bewogen hat, nicht mehr von Gesinnungen als Lernzielen zu sprechen, aber damit ist ja diese Dimension von Subjektivität nicht schon aus dem Lernprozeß verbannt, sondern nur aus seiner didaktischen Analyse ausgeblendet. Diese Ausblendung in einer Analyse normativer Faktoren des historischen Lernprozesses rückgängig zu machen, heißt natürlich nicht, Gesinnungen als normative Bestandteile des historischen Lernens zu statuieren, sondern zu prüfen, was 'narrative Kompetenz' als Ausprägung von Gesinnung eigentlich bedeutet. Wenn man die Frage nach der Gesinnung so stellt, dann kann die Antwort nicht eine inhaltlich bestimmte Gesinnung sein, sondern ein Verhältnis zu Gesinnungen, eine Art des Umgangs mit ihnen, die freilich nicht ohne Einfluß auf sie bleibt. Narrative Kompetenz knüpft Gesinnungen in der diachronen Orientierung der Lebenspraxis an Einsichten und Argumentationsvermögen, macht sie reflektierbar, und zwar so, daß die mit ihnen verbundenen Standpunkte bewußt und als Angelegenheiten der eigenen Subjektivität einsehbar und dadurch zugleich auch revidierbar werden. Ein solches 'vernünftiges' Verhältnis zur eigenen subjektiven Tiefenschicht der Gesinnung ist nur dann als Resultat eines historischen Lernprozesses erwartbar, wenn die lernend erzählten Geschichten 'subjektstark' sind, wenn also die Lernenden hinsichtlich ihrer dominanten Lebenserfahrungen in ihnen an nicht gerade beiläufiger Stelle selber vorkommen. (c) Was die Intersubjektivität als Dimension des historischen Lernens betrifft, so läßt sich für sie als fundamentale Norm in Analogie zur Erfahrungsoffenheit und zur Freiheit als Selbsttätigkeit die kommunikative Grundnorm Verstehen nennen. Es geht hier darum, die Zielvorstellungen der Subjektstärke als normative Faktoren von Kommunikation zu interpretieren und zu explizieren. Dies ist dann kein theoretisches Problem, wenn historisches Lernen grundsätzlich als kommunikativer Prozeß verstanden wird. Die Unterscheidung zwischen Subjektivität und Intersubjektivität als Dimensionen des historischen Lernens ist recht künstlich; die eine tangiert im Vollzug des Lernprozesses immer zugleich auch die andere und umgekehrt. 'Verstehen' als fundamentale normative Bestimmungsgröße des historischen Lernens in seinen intersubjektiven Aspekten meint, daß die Norm der Selbsttätigkeit der deutenden Aneignung historischer Erfahrung diskursiv gewendet werden muß. Die Fähigkeit zur eigenen Selbständigkeit wird kommunikativ an das Zugeständnis der gleichen Selbständigkeit an den anderen gebunden. Im Lichte dieser Norm er-

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scheint der Lernprozeß als ein diskursives Verhältnis der Lernenden zueinander, in dem sie ihre eigenen historischen Perspektiven und Standpunkte reflektieren und argumentativ zur Geltung bringen und zugleich dabei die Perspektiven und Standpunkte der anderen wahrnehmen und zu ihren eigenen ins Benehmen setzen. Dieses 'Benehmen' ist selber normativ geregelt: In letzter Instanz durch das Prinzip, daß die Geltung der eigenen (historischen) Identität zugleich das Anderssein des Anderen in Kraft setzt. 102 Narrative Kompetenz läßt sich also als umgreifendes Ziel des historischen Lernens nach den drei Faktoren, die Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß in Gang setzen und in Gang halten, in die drei Dimensionen der Erfahrungsoffenheit, der Freiheit und des Verstehens ausdifferenzieren. Korreliert man nun diese drei Dimensionen mit den vier Formen des historischen Lernens, dann ergibt sich eine Matrix historischer Lernziele, mit der der Komplexität realer Lernprozesse des Geschichtsbewußtseins Rechnung getragen werden kann. Es lassen sich lernformspezifische historische Erfahrungen und Ausprägungen von Subjektivität und Intersubjektivität ausmachen und beschreiben. Eine systematische Ausfaltung eines solchen ausdifferenzierten Lernzielkataloges ist im Rahmen dieses eher programmatischen Aufsatzes nicht möglich. Überdies wäre es mit einer solchen Auflistung auch nicht getan, denn erst dann, wenn die inneren Zusammenhänge der vier Lernformen, die ja nie rein für sich, sondern immer nur in komplexen Verbindungen vorkommen, theoretisch expliziert und die entsprechenden komplexen Synthesen auf der Lernzielebene erarbeitet werden, können die Ziele des historischen Lernens so dargelegt und begründet werden, daß sie realen Lernvorgängen entsprechen und absichtsvoll in diese eingebracht werden können. Ich muß mich daher mit ganz wenigen Andeutungen begnügen. In der traditionalen Lernform müssen diejenigen historischen Erfahrungen vermittelt werden, in denen es vornehmlich um die Stiftung von lebenspraktisch wirksamen Traditionen geht, und zwar in unterschiedlichen Regionen der historischen Identität: sowohl in der weitreichenden Dimension der europäischen Weltgeschichte (Ursprünge und Evolutionsschübe der okzidentalen Rationalität) wie auch in engeren Bereichen der nationalen, regionalen und lokalen Identität, wo es um historische Begründungen wirksamer Traditionen geht. Die entsprechende Subjektivitätsform ist die einer bewußten Übernahme dieser Tradition, einer begründeten Verpflichtung auf sie, und dazu gehört auch so etwas wie die Bereitschaft zur Pflege von Tradition und die damit verbundene Fähigkeit ihrer produktiven An102 Vgl. dazu Rüsen, Jörn: Vom Umgang mit den Anderen - zum Stand der Menschenrechte heute, in: Internationale Schulbuchforschung 15 (1993), S. 167-178.

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Verwandlung an Gegenwartssituationen und Weiterentwicklung in ihnen. Historisch ist in der traditionalen Lernform eine Intersubjektivität zu lernen, die sich am ehesten als 'Einverständnis' charakterisieren läßt, als Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer 'Wertegemeinschaft'. Es wäre ein Mißverständnis, wenn diese Andeutung historischer Lernziele in der Lernform traditionaler Sinnbildung über Zeiterfahrung als einseitiges Plädoyer für eine konservative Einstellung aufgefaßt würde. Denn natürlich lebt auch ein kritischemanzipatorisches Selbstverständnis als historische Bewußtseinsform von wirksamen Traditionen, die nur in dem Maße angewendet und weiterentwickelt werden können, in dem sie von Subjekten bewußt angeeignet worden sind. In der exemplarischen Lernform geht es um die Subjektivitätsqualität der Regelkompetenz. Dies bedeutet hinsichtlich der lernend zu verarbeitenden historischen Erfahrung, daß der Horizont der Tradition bewußt überschritten werden muß, um an exemplarischen Fällen der Verwirklichung oder der Abweichung der zu lernenden Verhaltensregeln deren besondere Geltungsform über bloß traditionale Geltungskraft hinaus einsichtig und handhabbar zu machen. Als Norm der Intersubjektivität dominiert die Argumentation mit standpunktübergreifenden Handlungsregeln, insbesondere der Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit handlungsorientierender historischer Wertungen. In der Lernform kritischer Sinnbildung über Zeiterfahrung geht es vor allem um die Berechtigung je eigener Standpunkte und deren Abgrenzung gegen vorgegebene Deutungs- und Orientierungsmuster. Didaktisch relevant sind alle diejenigen historischen Erfahrungen, mit denen Vorgaben der historischen Orientierung und Identität problematisiert werden können, also um sperrige, widerstreitende, 'gegengeschichtliche' Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge - vor allem aber darum, daß die Lernenden die Fähigkeit erwerben, subjektive Geltungsansprüche mit historischen Erfahrungen zu begründen, und dazu ist die Fähigkeit notwendig, solche Erfahrungen zu machen, sie sich fragend zu erschließen und deutend anzueignen. In normativer Form treten Subjektivität und Intersubjektivität des historischen Lernens in dieser kritischen Lernform folgendermaßen auf: Subjektivität soll als Kritik- und Distanzierungsfahigkeit ins Spiel gebracht werden und Intersubjektivität als Fähigkeit zur Unterscheidung und Abgrenzung verschiedener historischer Perspektiven und Standpunkte. Historisches Lernen muß hier die Fähigkeit zur Wahrnehmung eigener Interessen und zum Konflikt mit anderen in der deutenden Aufarbeitung der Vergangenheit und der Gegenwartsorientierung mit historischen Perspektiven erbringen.

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In der genetischen Lernform haben die historischen Erfahrungen eine besondere normative Qualität, die die Einsicht der Veränderbarkeit traditionaler und exemplarischer Orientierungen nahelegen und kritisch gewonnene eigene Standpunkte mit anderen, abweichenden Standpunkten als vermittelbar erscheinen lassen. Der subjektive Eigensinn historischen Standpunktbezuges und die intersubjektiven Abgrenzungsstrategien müssen überwunden werden in verzeitlichte Formen historischer Subjektivität und Intersubjektivität. Diese Formen lassen sich als Ziele des historischen Lernens so formulieren: Subjektivität soll sich selbst als zeitlich erstreckt, als veränderungsund entwicklungsfähig begreifen und diese ihre eigene Zeitperspektive vermitteln können. In dieser höchsten Form der Individuierung und Sozialisation durch historisches Lernen geht es um eine Ich- oder Wir-Stärke von Subjekten, die sich im Ausmaß ihrer Fähigkeiten dokumentiert, das Anderssein von Anderen anerkennen zu können. Diese - nur abstrakt und skizzenhaft angedeutete - Systematik historischer Lernziele hat eine innere Dynamik, die selber noch eigens als normative Vorgabe an historisches Lernen unterstrichen werden muß: Historische Lernprozesse sollten so erfolgen, daß sie die vier verschiedenen Lernformen durchlaufen und dabei die jeweilig maßgebende narrative Kompetenz erworben wird. Wenn die Vermutung zutrifft, daß der theoretischen Reihung der vier Lernformen nach entwicklungslogischen Gesichtspunkten (traditionale, exemplarische, kritische, genetische Sinnbildung) eine Entwicklungsrichtung des Geschichtsbewußtseins in der menschlichen Individuierung und Sozialisation entspricht, dann hat diese Richtungsbestimmung für den historischen Lernprozeß selber eine normative Bedeutung: Historisches Lernen soll so organisiert werden, daß die einzelnen Lernformen (jeweils als dominant mit Einschluß der anderen in sich) in der genannten Richtung ineinander übergehen. Diese Übergänge müßten dann als besondere normative Bestimmungen in die Matrix historischer Lernziele eingebracht werden. 8. Ausblick auf eine Pragmatik des historischen Lernens Lernziele sind soviel wert, wie sie Handeln anleiten können, dem es bewußt um die Bildung von Geschichtsbewußtsein geht. Prototyp solchen Handelns ist das Lehren von Geschichte in eigens dazu organisierten Lernprozessen. Die übliche Form, dieses Handeln zu thematisieren, ist die Methodik des Geschichtsunterrichts. In ihr geht es um die Regeln, die schulisch organisierte historische Lernprozesse steuern. Sie werden zumeist als Regeln des Lehrens, als Kunstlehre (Kunst im Sinne von 'ars', von praktischem Können) des Unterrichtens von Geschichte erörtert und dargelegt. In dieser Blickrichtung 118

stecken jedoch zwei Verengungen: Einmal werden die absichtsvollen Handlungen des Lehrers so in den Vordergrund gerückt, daß die kommunikativen Zusammenhänge seines Tuns mit den Schülern nicht mehr in der Breite von Wechselwirkungen erscheinen, sondern eher als Konsequenzen einer planmäßigen Lehre: Das Lernen erscheint in funktionaler Abhängigkeit vom Lehren, und die Unterrichtsmethodik konzentriert sich auf die Steuerung des Unterrichts durch die Aktivität des Lehrers. Nun geschieht jedoch alles Lehren um des Lernens willen, und so einflußreich die Handlungen des Lehrers für den Verlauf und das Resultat schulischer Lernprozesse auch immer sein mögen - erst in ihrer kommunikativen Verknüpfung mit den Handlungen der Lernenden entfalten sie ihre steuernde Kraft, und dabei kommt auch den Handlungen der Schüler eine eigene und oft übersehene Steuerungsfunktion zu. Die zweite Verengung des geschichtsdidaktischen Blicks liegt im Objekt Geschichtsunterricht selber. Seine besondere Organisationsform, das hohe Maß seiner institutionellen Geregeltheit, macht ihn zum Musterfall eines absichtsvoll gesteuerten historischen Lernprozesses, aber nicht zum einzigen Fall. Eine mit der Methodik des Geschichtsunterrichts vergleichbare Methodik außerschulischen historischen Lernens (z.B. im Museum oder in der Erwachsenenbildung) gibt es höchstens in Ansätzen. Eine Geschichtsdidaktik, die sich als Wissenschaft vom historischen Lernen versteht und den schulischen Geschichtsunterricht als einen Bereich historischen Lernens neben anderen (wenn auch natürlich als besonders wichtigen) betrachtet, muß diese Verengungen zu überwinden versuchen. Es wäre freilich verhängnisvoll, wenn sie dabei das aus dem Auge verlöre, worum es der Unterrichtsmethodik geht: die besonderen Handlungen, mit denen Lernprozesse (in vorgegebenen institutionellen Formen) absichtsvoll organisiert und gesteuert werden (können). Das Gegenteil ist beabsichtigt: Der theoretisch geschärfte Blick der Geschichtsdidaktik soll tiefer gehen und zugleich schärfer werden, wenn er sich auf die Deutungsarbeit und die Orientierungsfunktion des Geschichtsbewußtseins im realen Lernprozeß richtet. Worin besteht diese Tiefenschärfe? Bisher ging es in der Unterrichtsmethodik darum, allgemeine Regeln unterrichtlichen Verhaltens auf den Geschichtsunterricht zu übertragen. Der Geschichtsunterricht erschien dabei als Anwendungsfall eines allgemeinen Regelsystems, dessen innere Logik diejenige des Unterrichtens oder Erziehens überhaupt war. Das Problem einer solchen Unterrichtsmethodik besteht darin, daß sie ihr Regelsystem nicht aus der Geschichtsspezifik von Lernprozessen gewinnt. Dabei können ihr Handlungen und Handlungsregeln entgehen, die den historischen

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Lernprozeß dort, wo er spezifisch historisch ist, stärker beeinflussen als die Handlungen, die unter fachunspezifischen Gesichtspunkten der Unterrichtsorganisation erfolgen. So können etwa motivationsstärkende Impulse des Lehrers erfolgen, die in einem dysfunktionalen Verhältnis zu dem stehen, was denn motiviert gelernt werden soll. Motivationsfördernde Handlungen in der Medienwahl, der Einstiegsfragen oder dergleichen müssen die dem Geschichtsbewußtsein selber eigentümliche Dynamik auslösen und nicht eine vermutete Interessenlage der Schüler ansprechen, die das Geschichtsbewußtsein nur äußerlich tangiert. Was aber heißt es, das Geschichtsbewußtsein gezielt motivierend anzusprechen? Was sind geschichtsspezifische Dissonanzerfahrungen, die die Deutungsarbeit des Geschichtsunterrichts in Gang setzen? Solche konkreten und höchst praktischen Probleme können nur gelöst werden, wenn das Lerngeschehen auf der Folie einer didaktischen Einsicht in das Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß betrachtet wird. Die Arbeit an einer solchen Unterrichtsmethodik steckt noch ganz in den Anfangen. 103 Sie besteht darin, die einzelnen Themenbereiche der Unterrichtsmethodik (Unterrichtsartikulation, Methodenkonzeptionen, Arbeitsformen, Sozialformen, Medien usw.) systematisch als Faktoren eines Lernprozesses von Geschichtsbewußtsein zu analysieren und dabei die oben skizzierten theoretischen, empirischen und normativen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Diese Gesichtspunkte lassen sich nicht ohne weiteres auf das Unterrichtsgeschehen applizieren; sie müssen vielmehr aus der Denkform der Didaktik in diejenige einer Methodik übersetzt werden. Hier geht es nicht mehr um Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß, sondern um eine Kommunikation zwischen Subjekten, die ihre eigenen Regeln hat, ihre eigenen Steuerungsmechanismen. Es handelt sich um Regeln und Mechanismen des Sprachhandelns, die den Sachverhalt 'Geschichte' betreffen. Ihre Eigentümlichkeit besteht darin, daß jeweils besondere Zeiterfahrungen verhandelt werden, deren Deutung für das Selbstverständnis und die orientierenden Gesichtspunkte der Lebenspraxis der Betroffenen wichtig sind. Die Produktivität eines historischen Lernprozesses steht und fallt damit, ob und inwieweit es in ihm gelingt, Zeiterfahrungen und Schülersubjektivität systematisch aneinander zu binden, wechselsei103

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"Bisher ist nicht diskutiert, was denn eigentlich die inhaltlichen Besonderheiten, die jeweiligen Fachstrukturen, zur Unterrichtsklassifikation beitragen." So Bodo v. Borries: Methodisch-mediales Handeln im Lernbereich Technik/Wirtschaft/Gesellschaft, in: Otto, G.; Schulz, W. (Eds): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 4: Methoden und Medien der Erziehung und des Unterrichts. Stuttgart 1985, S.327-366, zit. S.332.

tig aufeinander zu beziehen und diskursiv miteinander zu vermitteln. Die Unterrichtsplanung z.B. hätte dort anzusetzen, wo Medien nicht nur historische Inhalte präsentieren, sondern zugleich die Schülersubjektivität direkt ansprechen. Und der mit Hilfe eines solchen Mediums erfolgende Unterrichtsprozeß müßte so gesteuert werden, daß das Schülerinteresse nicht in der Arbeit an den historischen Inhalten verschwindet, gleichsam von der Sache aufgefressen wird und auch nicht an der Sache vorbei in einen lebhaften Austausch bloßer Meinungen und Vermutungen hinein sich entfaltet, sondern zugleich zur Vertiefung der historischen Erfahrung und zur Reflexion der eigenen Einstellungen führt. Diese wenigen Andeutungen sind abstrakt. Sie bezeichnen lediglich den Ort der Pragmatik des Lehrens und Lernens im Rahmen einer Geschichtsdidaktik, die sich als Wissenschaft vom historischen Lernen versteht und Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß thematisiert. Ausarbeiten läßt sich eine solche Pragmatik nur dann, wenn die Unterrichtspraxis systematisch nach den Determinanten durchforscht wird, die Geschichtsbewußtsein in die Bewegung eines Lernprozesses bringen und es in ihm halten. Entscheidend für eine Pragmatik des Lehrens und Lernens sind die Faktoren der Unterrichtskommunikation, die den Ausschlag für die Richtung dieses Lernprozesses geben. Sie entscheiden darüber, ob und inwieweit jeweils die entwickelten Lernziele der Erfahrungsoffenheit, der Selbständigkeit und des Verstehens verwirklicht werden und die Deutungs- und Orientierungskapazität des Geschichtsbewußtseins im Gang durch die vier Lernformen systematisch gesteigert wird. Auch hier sind mehr Defizite abzuarbeiten, als daß schon vorhandenes Wissen nur neu zu Geltung gebracht werden müßte.

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Geschichtsdidaktik heute - Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)?

Warum der schillernde Untertitel? 104 Die Berufung auf den Klassiker ist meine Art, im dunklen Wald zu pfeifen: Man macht sich Mut, vertreibt die Angst. Denn wenn man den heutigen Zustand der Geschichtsdidaktik bedenkt, dann müßte mein Thema eigentlich lauten: Was ist die Geschichtsdidaktik nicht mehr, und warum betreibt man sie nicht mehr? Denn gibt es sie eigentlich noch als lebendigen Kommunikationszusammenhang engagierter Fachleute für das Lehren und Lernen von Geschichte, der sich über den Wechsel der Generationen erstreckt? Viele Indikatoren sprechen dagegen: Es gibt so gut wie keinen akademischen Nachwuchs, es gibt keine inspirierenden neuen Debatten oder Kontroversen mehr (und das auch nach der Wiedervereinigung!); es herrscht so etwas wie Friedhofsruhe. Man hat das Gefühl, daß sich kaum noch etwas bewegt, ja daß es noch nicht einmal etablierte Routinen der Forschung und Lehre gibt, die der Disziplin wenn schon keinen begeisternden Aufschwung, dann mindestens eine ungestörte Entwicklung, eine Dauer des Bewährten, garantierten. Der Enthusiasmus der späten sechziger und frühen siebziger Jahre hat einer lang dauernden Ernüchterung und Enttäuschung Platz gemacht. 105 Viele Protagonisten der damaligen Debatten und der in ihnen vertreten anspruchsvollen Konzepte von Geschichtsdidaktik haben sich anderen Arbeitsgebieten zugewandt, und neue Gruppierungen mit neuen und anderen Ideen und Ansprüchen sind nicht in Sicht. Schillers Antrittsrede als Geschichtsprofessor in Jena formulierte programmatisch das stolze Selbstbewußtsein der bürgerlich Gebildeten, durch Aufklärung den Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit bewirken und eine freiere und menschlichere Lebensordnung schaffen zu können. Heute sind gedämpftere Töne am Platze. Darf sich die Geschichtsdidaktik heutzutage noch 104

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Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 17, Weimar 1970, S.359-376. Vgl. dazu Rüsen, Jörn: Im Vorspiel der Aufklärung. Bürgerliche Identität zwischen Geschichtsbewußtsein und Utopie bei Friedrich Schiller, in: ders.: Konfigurationen des Historismus (Anm.6), S. 139-156. Vgl. die nachdenklichen Überlegungen Bodo von Borries', denen ich weitgehend zustimme: Krise und Perspektive der Geschichtsdidaktik - eine persönliche Bemerkung, in: Geschichte lernen, H. 15, Mai 1990, S.2-5.

mit dem Namen Schillers zieren, ohne hinter ihm nur ihre Insuffizienz zu verstecken? Zu Schillers Zeiten war das, was wir heute Geschichtsdidaktik nennen, unter verschiedenen Namen (Historiomathie, Methodologie, Rhetorik) eine feste Reflexionsgröße der Geschichtsschreibung. 106 Seit der Antike gibt es ein Nachdenken der Historiker über die Kunst der Geschichtsschreibung, und in dieser Reflexion geht es vor allem um die Wirkung der Geschichtsschreibung auf die Zuhörer und Leser. Die Geschichtsschreiber vergewisserten sich - und zwar durchaus schon regelhaft-methodisch - der Möglichkeiten, durch ihre Darstellung bei den Rezipienten etwas zu bewirken, eine Verbesserung ihrer Fähigkeiten zur Bemeisterung praktischer Lebensprobleme. In dieser vorwissenschaftlichen Phase steht die Didaktik dort, wo heute die Methodik steht. Die Rhetorik legte die Regeln dar, die Geschichte als Kunst (ars) definierten, während die Methodik heute die Regeln darlegt, die die Geschichte als Wissenschaft definieren. 107 Wenn es ein Regelwerk gab, auf das sich die Geschichtsschreiber glaubten verpflichten zu müssen, dann auf eines, das diese praktische Wirkung ihrer Produkte betraf. Im Prozeß der Verwissenschaftlichung der Historiographie blieb diese Reflexion auf ihre Wirkungszusammenhänge zunächst erhalten. Allerdings nahm langfristig mit der Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft als spezialisierter Fachdisziplin diese Reflexion immer mehr ab. Sie gerann zur Selbstverständlichkeit eines Bildungsanspruchs, der von den professionalisierten Historikern nur noch ausnahmsweise formuliert wurde. 108 Die Geschichtsdidaktik wanderte in ein doppeltes Exil außerhalb der Alltagspraxis der Geschichtswissenschaft aus: einmal in die Technologie des Geschichtsunterrichts und - kaum damit verbunden - in eine allgemeine pädagogische Bildungslehre, die vom kulturellen Prestige des Historismus zehrte. Es hat lange gedauert, bis sie sich im energischen Zugriff auf die Fachdisziplin Geschichtswissenschaft neu konstituierte.^109 106 107

108 109

Hierzu vor allem Pandel: Historik und Didaktik (Anm.3). Vgl. Rüsen, Jörn; Schulze, Winfried: Historische Methode, in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Eds): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.5. Basel 1980, Sp. 1345-1355; ferner Rüsen, Jörn: Historische Methode, in: Meier, Christian; Rüsen, Jörn (Eds): Historische Methode (Beiträge zur Historik. Theorie der Geschichte, Bd.5). München 1988, S.62-80. Siehe oben S.12ff. Zur Entwicklung und zum Stand der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland vgl. Rüsen, Jörn: The Didactics of History in West Germany: Towards a New Self-Awareness of Historical Studies, in: ders.: Studies in Metahistory. Pretoria 1993 (zuerst in: History and Theory 26 (1987), S.275-286); Hoffmann, Eugen: Öffentliche Geschichtskultur und Entwicklung der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Pellens, Karl; Quandt, Siegfried; Süssmuth, Hans (Eds): Geschichtskultur - Geschichtsdidaktik. Internationale Bibliographie, Paderborn 1984, S.91-121; vgl. auch die einschlägigen Bei-

123

Das geschah bekanntlich in den 60er und 70er Jahren, als die traditionellen Bildungsansprüche des fachlich produzierten historischen Wissens verbraucht waren und in der bis dahin üblichen Weise des Geschichtsunterrichts als gänzlich unzulänglich dafür angesehen wurden, junge Menschen zu verantwortungsvollen Staatsbürgern politisch zu erziehen. In dieser Situation einer generellen Unsicherheit über Formen, Inhalte und Ziele des Lehrens und Lernens von Geschichte konstituierte sich die Geschichtsdidaktik neu als ein akademischer Ort, wo die Legitimitätskrise der historischen Bildung bewältigt und die für einen zeitgemäßen Umgang mit der Geschichte im schulischen Bildungssystem erforderlichen Gesichtspunkte reflektiert und entwickelt werden sollten. Krisensituationen werden in der Regel durch Wendungen ins Grundsätzliche bewältigt. Daher ging die Geschichtsdidaktik ihre Aufgabe mit einem enormen Aufwand an Prinzipienreflexion und Theoriebildung an. Ihre Erhebung in die Höhe des Grundsätzlichen hatte eine dreifache Zielrichtung: Einmal verschwisterte sie sich mit den geschichtstheoretischen und -methodologischen Bemühungen der Geschichtswissenschaft um eine tragfahigere Begründung ihres disziplinaren Status und ihrer kulturellen Funktion; sie lud sich mit einem Gutteil an Historik auf. Zugleich wandte sie sich grundsätzlichen Problemen der Unterrichtspraxis zu und unterwarf den Geschichtsunterricht strengen Kriterien der Zielkontrolle und eines regelhaften Ablaufs. Unter dem Zauberwort Curriculum häuften sich die theoretischen Konstrukte der Praxis. 110 Drittens schließlich machte sie sich das Erfordernis einer funktionalen Rechtfertigung des Geschichtsunterrichts zueigen, legte die gesellschaftlichen Erfordernisse einer politischen Orientierung durch historische Erinnerungen als Leitlinien des Geschichtsunterrichts dar und projizierte sie genuin didaktisch auf die Lernchancen und -bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Das ganze geschah in intellektueller Aufgeregtheit, zusätzlich angetrieben durch heftige politische Kontroversen über die Veränderungsbedürftigkeit und Traditionsföhigkeit der bürgerlichen Lebensformen, die die Nachkriegszeit hervorgebracht hatte. Viele Ge-

110

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träge in den Sammelbänden Bergmann, Klaus; Schneider, Gerd (Eds): Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500-1980. Düsseldorf 1982; Leidinger, Paul (Ed.): Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Stuttgart 1988; ferner die Positionsbestimmungen in: Süssmuth: Geschichtsdidaktische Positionen (Anm.50); Pingel, Falk: Geschichte unserer Zeit - Zeit für Geschichte? Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft in ihrem Verhältnis zur Zeitgeschichte in den Westzonen und in der Bundesrepublik, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 19 (1990), S.233-258. Vgl. Schörken, Rolf: Der lange Weg zum Geschichtscurriculum. Curriculumverfahren unter der Lupe, in: Geschichtsdidaktik 2 (1977), S.254-270, 335-353.

gensätze prallten aufeinander: politisches Engagement und wissenschaftlicher Objektivitätsanspruch, utopischer Ausgriff auf eine bessere Zukunft und Disziplinierung durch die Standards fachspezifischer Rationalität, Schülerinteresse an einer besseren Welt, Legitimität stabiler Lebensverhältnisse und Vernunftpotential der Wissenschaft, Pragmatik akkumulierter und systematisierter Schulerfahrung und planend entworfene Lernprozesse. In all diesen Gegensätzen und Unterschieden und in allem Streit, in dem sie ausgetragen wurden, bildete sich so etwas wie eine disziplinäre Kohärenz, ein konsensfähiger Status der Geschichtsdidaktik als Fachdisziplin heraus. Dafür stehen eine Reihe starker Indikatoren: die Einrichtung geschichtsdidaktischer Professuren an Universitäten 111 , die Gründung einer eigenen Fachzeitschrift 112 , die Publikation umgreifender Synthesen, sei es in Form eines Handbuches 113 oder einer summierenden Darstellung 114 , und schließlich (vielleicht das Wichtigste) auch die Aufnahme fachdidaktischer Anteile ins Studium für das Lehramt an höheren Schulen. Das Handbuch wurde in seiner dritten Auflage verramscht 115 , die Zeitschrift gibt es nicht mehr, und nicht gerade wenige Protagonisten der inspirierenden Debatten über Sinn und Zweck und Form und Inhalt des Geschichtsunterrichts beschäftigen sich gar nicht mehr oder nur noch am Rande mit geschichtsdidaktischen Fragestellungen 116 ; der ältere Meinungsstreit hat seine produktive Kraft nicht in eine neue Generation von Protagonisten mit neuen Fragestellungen hinein fortsetzen können. Was sind die Gründe für diesen Niedergang? Es gibt äußere und innere. Der äußere - vielleicht der wichtigste - ist der, daß aufgrund der sinkenden Geburtenrate fast eine ganze Generation von Lehramtsstudenten und -Studentinnen keine Chance mehr hatte, den erlernten Beruf auszuüben. Gerade in dem Augenblick, als die Geschichtsdidaktik sich mit ihrem neuen disziplinaren Anspruch etabliert hatte und sogar in die Studien- und Prüfungsordnungen eingegangen war, verlor sie ihre Klientel, die jungen Historikerinnen und

111 112 113 114 115 116

So z.B. Bochum 1973. "Geschichtsdidaktik - Probleme, Projekte und Perspektiven" seit 1976. Bergmann u.a. (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Anm.29). Rohlfes, Joachim: Umrisse einer Didaktik der Geschichte. Göttingen 1971; ders.: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986; vgl. dazu meine Rezension: Juste milieu - geschichtsdidaktisch, in: Geschichte lernen, H. 2, März 1988, S.6-7. Inzwischen hat es einen unveränderten Neudruck gegeben, und eine überarbeitete Neuauflage ist in Vorbereitung. Ein Beispiel: Der in Anm. 111 erwähnte Bochumer Lehrstuhl hat inzwischen seinen fachdidaktischen Schwerpunkt verloren (und zwar - wie man hört - ohne daß darum groß gestritten werden mußte).

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Historiker, die von ihr inspiriert Lehrer werden wollten; sie wurde sozial bodenlos. Es gibt aber auch innere Gründe, ein inneres Pendant ihrer äußeren Bodenlosigkeit. Sie hatte nämlich ihren disziplinaren Status neben, ja jenseits der Praxis errungen, über die sie Theorien ausbildete. Sie hatte sich ohne einen institutionalisierten Praxisbezug etabliert. Damit ist mehr gemeint als nur die Tatsache, daß bei uns die Lehrerausbildung in einen fachlich-akademischen und in einen praktischschulischen Bereich zerfallt, der durch die Fachdidaktiken nicht überbrückt werden kann, weil sie kein Gegenmittel gegen die institutionelle Separierung und Abschottung der beiden Ausbildungsbereiche hat. Diese Abschottung ist noch durch die Integration vieler pädagogischer Hochschulen in die Universitäten verstärkt worden; mit den pädagogischen Hochschulen ging ein gutes Stück konstitutiven Praxisbezuges der Fachdidaktik verloren. Das Manko dieses Praxisbezuges findet sich auf der Ebene der Theoriebildung selber wieder: Es ist kein Zufall, daß der ausgebreiteten Reflexionsarbeit an den didaktischen Prinzipien des Geschichtsunterrichts keine entsprechend begründete und ausgearbeitete Unterrichtsmethodik gefolgt ist. Der Versuch, das Handbuch der Geschichtsdidaktik durch ein Handbuch der Methodik des Geschichtsunterrichts zu ergänzen, ist kläglich gescheitert, weil sich die Unterrichtsmethodik nicht einfach aus geschichtsdidaktischen Theorien deduzieren läßt, sondern als Regulativ der Unterrichtspraxis nur in und aus dieser selber gewonnen werden kann. Es ist also gegenwärtig schlecht um die Geschichtsdidaktik bestellt. Aber vielleicht ist eine solche Situation der Ernüchterung und Skepsis besonders günstig, um erneut danach zu fragen, was Geschichtsdidaktik ist und welche Aufgabe sie hat. Ich möchte diese Frage grundsätzlich stellen, also danach fragen, warum es Geschichtsdidaktik als eine eigenständige Art des Denkens über Geschichte auch in Zukunft geben muß. Dieser Grund ist ebenso einfach wie zwingend: Es gibt ein grundsätzliches praktisches oder funktionelles Erfordernis für Geschichtsdidaktik: Historiker müssen bestimmte Kompetenzen erwerben, wenn sie ihren akademischen Sachverstand, ihre Fachkompetenz, im Bildungswesen und in den diffusen Bereichen der öffentlichen Geschichtskultur, wie etwa im Museum, im Ausstellungswesen, im Denkmalschutz, praktisch zur Geltung bringen sollen. Unter akademischem Sachverstand oder Fachkompetenz verstehe ich die Fähigkeit, mit wissenschaftlich produziertem historischen Wissen umzugehen, solches Wissen gegebenenfalls selber produzieren zu können, es auf jeden Fall aber dort, wo es gebraucht wird, zur Verfügung stellen zu können. Wir erteilen jemandem im Fach Geschichte einen berufsbefähigenden akademischen Abschluß, wenn wir ihm

126

oder ihr bescheinigen können, daß er oder sie die für die Geschichte als Wissenschaft maßgeblichen kognitiven Prinzipien beherrscht und in mindestens einem Spezialgebiet, also exemplarisch, an der Forschungslinie entlang diskutieren kann. Dieser Sachverstand hat aber seine Grenze. Sie liegt dort, wo von dem Wissen Gebrauch gemacht wird und es um Kriterien dieses Gebrauchs selber geht. Diese Grenze und die Notwendigkeit, sie zu überschreiten und eine eigenen Kompetenz des praktischen Gebrauchs von Geschichte zu gewinnen, sind für den Geschichtsunterricht evident. Es ist letztlich diese Notwendigkeit der Lehrerbildung, die die Geschichtsdidaktik als Institution konstituiert. Genau in dem Maße, in dem die Erziehung von Kindern an und mit historischem Wissen etwas prinzipiell anderes ist als die Arbeit an historischem Wissen in der Wissenschaft, gehört zu ihr eine Kompetenz, die nicht schon mit dem Sachverstand professionalisierter Historiker identisch ist. Das gleiche gilt für den sachverständigen Umgang mit Geschichte außerhalb der Schule: Für sie reicht der fachliche Sachverstand gerade nicht aus, wenn er, wie üblich, mit der Kompetenz wissenschaftskonformen Wissenserwerbs identifiziert wird. Zu dieser primär kognitiven Kompetenz muß eine kulturelle Handlungskompetenz hinzukommen, damit ein sachverständiger Umgang mit Geschichte dort gewährleistet ist, wo es um ihren praktischen Gebrauch im öffentlichen Interesse geht. Und dieses öffentliche Interesse beruht darauf und entzündet sich immer wieder daran, daß eine gemeinsame historische Erinnerung, ihre Dauer über den Wechsel der Generationen hinweg und ihre Verbreitung über alle Segmentierungen des gesellschaftlichen Lebens hinweg eine kulturelle Notwendigkeit des sozialen Lebens ist. Dieses funktionale Erfordernis gibt einen festen sozialen Boden für die Geschichtsdidaktik ab. Es fragt sich aber, welches Gebäude auf diesem Grunde errichtet werden soll. Denn die objektive Vorgabe eines kulturellen Erfordernisses, zu dem die an der historischen Forschung orientierte Fachkompetenz professionalisierter Historiker nicht ausreicht, kann auf unterschiedliche Weise erfüllt werden. Der Spielraum dieser Unterschiede läßt sich vorzüglich mit einer Argumentationsfigur beschreiben, mit der Schiller das Ende beschrieben hat, zu welchem man Universalhistorie betreibt. Schiller hat mit der Unterscheidung zwischen dem Brotgelehrten und dem philosophischen Kopf 117 zwei idealtypische Möglichkeiten skizziert, praktische Erfordernisse an fachliche Kompetenz zu realisieren. Der Brotgelehrte hält sich in den Grenzen funktioneller Vorgaben der Praxis auf und sieht seine fachliche Kompetenz als bloßes Mittel zu 117

Wie Anm. 104, S.360-363.

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außerfachlich vorgegebenen Zwecken. Diese Brotgelehrsamkeit drückt sich geschichtsdidaktisch in den vermeintlich unverdächtigen Worten der 'Anwendung' und der 'Umsetzung' historischen Wissens in pädagogisch definierte Situationen aus. Man denkt sich historisches Wissen als Wissenschaftsprodukt wie eine Ware, mit der man auf dem Markt der Bildung und Erziehung handelt oder wie ein Werkzeug, mit dem sich bestimmte Bildungs- oder Erziehungsprodukte herstellen lassen. Das fertige Wissen wird auf fertige Gebrauchszwecke bezogen und diesen Zwecken entsprechend, als zweckrational, verwendet. Die Bezeichnungen 'Anwendung' und 'Umsetzung' und das in ihnen steckende Verständnis von praktischem Gebrauch sind problematischer als sie klingen, und ihre verbreitete Verwendung in der alltäglichen Beschreibung von Geschichtsdidaktik nahelegen; denn die innere Dynamik, die das historische Wissen im Kontext der Wissenschaft auszeichnet, dürfte ja wohl in der Anwendung und im Umsatz verloren gehen. Ich meine die Dynamik einer historischen Erkenntnis, die Max Weber ihre "ewige Jugendlichkeit" genannt hat 118 , ihre Fähigkeit, Problemstellungen aus der Gegenwart aufzugreifen und in Erkenntnisfortschritt zu verwandeln. Diese innere Dynamik der historischen Erkenntnis, die in sie eingegangenen Inspirationen der Zeitgenossenschaft und die ihr durch die methodischen Regulative der Forschung und der mit ihr verbundenen diskursiven Argumentation verbürgten Vernunftpotentiale gehen in der Zweckrationalität der 'Anwendung' und 'Umsetzung' verloren. Unter den Regulativen dieser Brotgelehrtendidaktik wird aus dem Brot der Geschichte, der kulturellen Nahrung des gesellschaftlichen Lebens, der tote Stoff des Unterrichts oder - um die Schulbeispiele nicht totzureiten - das akkurat aufgereihte Material von Museumsvitrinen. Von beidem, vom Unterrichtsstoff und vom Vitrineninhalt, springen keine inspirierenden Funken auf diejenigen über, die sich mit ihnen konfrontiert sehen. Die didaktische Brotgelehrsamkeit hält die Kompetenz, sich in pädagogisch definierten Situationen sachverständig bewegen zu können, unterhalb des kognitiven Niveaus, für das die Geschichtswissenschaft in der Dynamik ihres Erkenntnisfortschritts steht. Die kulturbildende Kraft der historischen Erinnerung, die im Erkenntnisfortschritt der Geschichtswissenschaft immerhin angelegt ist, geht in einer Didaktik verloren, die diese Kraft nicht auf eigene Weise aus den Situationen entbinden kann, in denen historische Erkenntnis zur Bewältigung praktischer Orientierungsprobleme gebraucht wird. (Eine 118

128

Max Weber, Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Ed. Johannes Winckelmann. 3.A. Tübingen 1968, S. 146-214, zit. S.206.

solche Brotgelehrsamkeit gibt es auch in der Schulbuchforschung: Wenn die Schulbücher unter Gesichtspunkten analysiert werden, die nicht genuin aus ihrem pädagogischen Gebrauch, sondern überwiegend oder gar ausschließlich aus den Erkenntnisstrategien der historischen Forschung entwickelt werden 119 , - ist dann der eingesetzte fachliche Sachverstand eigentlich sachgemäß?) Der philosophische Kopf ist demgegenüber nach Schiller dadurch definiert, daß er seine Fachkompetenz nicht in den Grenzen funktioneller Zweckmäßigkeit hält, sondern mit der Fähigkeit potenziert, dieser Zweckmäßigkeit selber noch sachverständig auf den Grund zu gehen. Das heißt natürlich nicht, daß sich die Didaktik über die praktischen Erfordernisse theoretisierend erheben soll, die sie notwendig machen, sondern daß sie ihnen auf den Grund gehen, daß sie sie in Grund und Boden theoretisieren soll und kann, um ihnen wirklich gerecht zu werden. Wie betreibt also ein philosophischer Kopf Geschichtsdidaktik? Wie kann er ihrem 'Ende', ihrer höchsten Zielbestimmung, gerecht werden, eine Sachkompetenz zu erzeugen, die den praktischen Erfordernissen kultureller Aufgaben der historischen Erinnerung in Schule und Öffentlichkeit gerecht wird? Um den Fehler zu vermeiden, durch eine abstrakte Theoretisierung ins Bodenlose zu verfallen, sollte die Geschichtsdidaktik von den Handlungszusammenhängen ausgehen, deren Bewältigung genau die Kompetenz verlangt, zu deren Entwicklung sie nötig ist. Diese sie wirklich fundierenden Handlungszusammenhänge und der für sie notwendige Orientierungsbedarf lassen sich nicht leicht auf einen Begriff bringen, weil es unterschiedliche Institutionen und Situationen sind, in denen Geschichte lebenspraktisch verwendet wird. Die wichtigste, aber eben nicht die einzige, ist die Schule. Der hier vorherrschende Handlungszusammenhang ist pädagogisch definiert. Es geht um historisches Lernen. Ist das auch in den Bereichen öffentlicher Erinnerungsarbeit der Fall, die zur Berufspraxis von Historikern gehören, wie etwa das Museum oder der Denkmalschutz? Ohne die gewichtigen Unterschiede zur Schule verwischen zu wollen, möchte ich diese Frage bejahen, indem ich einen umfassenden Lernbegriff verwende. Ausgangspunkt und Bezugsgröße der Geschichtsdidaktik sind die lebenspraktisch notwendigen Lernvorgänge, in denen Geschichte verarbeitet wird, genauer: in denen Erfahrungen mit der menschlichen Vergangenheit so gemacht und gedeutet werden, daß sie als Bestim119

So beispielsweise in der sonst zu recht gerühmten Schulbucharbeit des Eckert-Instituts.

129

mungsgrößen in den Orientierungsrahmen aktueller Lebenspraxis eingehen. Die Vergangenheit wird so ins Bewußtsein erhoben, daß sie in Fähigkeiten der Bewältigung von Gegenwartsaufgaben umgesetzt oder deutend verarbeitet wird. Lernen ist Kompetenzerwerb durch Erfahrungsverarbeitung, und das trifft natürlich besonders für den Geschichtsunterricht der Schule zu, aber auch grundsätzlich für die öffentliche Erinnerungsarbeit im Museum und an all den Orten zu, in denen die Vergangenheit bewußt gegenwärtig gehalten oder gemacht wird. Stets handelt es sich um einen durch mehr oder weniger Sachverstand geleiteten Vergegenwärtigungsvorgang, der an Rezipienten, an ein Publikum, an eine Gemeinschaft adressiert wird und dort etwas bewirken soll. Die Vergangenheit wird als Botschaft formuliert, die verstanden werden soll; sie wird als Erfahrung präsentiert, die gedeutet werden soll, und sie wird als Deutung formuliert, die angeeignet und zu Orientierungszwecken verwendet werden soll. Stets handelt es sich um Transformationen in die Subjektivität der Adressaten hinein, um Aneignungen, um Anverwandlungen, die die Subjekte in Bewegung bringen, ja verwandeln sollen. Nehmen wir das Beispiel der Schule. Warum sollen Kinder Geschichte lernen? Die bekannte Antwort lautet: weil sie ohne eine historische Erinnerung ihre eigene Gegenwart und sich selbst nicht verstehen und für ihre eigene Lebenspraxis keine orientierende Zukunftsperspektive entwickeln können. Der Geschichtsunterricht soll ja nicht historische Wissensbestände als Selbstzweck vermitteln, sondern an und mit ihnen historische Erinnerungs- und Orientierungsfahigkeit schulen; er soll ein kollektives Gedächtnis pflegen, das als integraler Bestandteil der kulturellen Orientierung im gegenwärtigen und zukünftigen Leben der Heranwachsenden wirken soll. Es geht also um die Entwicklung, Schulung und Pflege der Kräfte der historischen Erinnerung, und diese Kräfte bestehen aus der Fähigkeit zur Erfahrung und Wahrnehmung der Vergangenheit, der Fähigkeit zur Deutung dieser wahrgenommenen und erfahrenen Vergangenheit mit Hilfe übergreifender Vorstellungen des Zusammenhangs der Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft und schließlich aus der Fähigkeit, diese so gedeutete Vergangenheit, diese so gewonnene erfahrungsgestützte Vorstellung von Geschichte als kulturelle Orientierungsgröße lebenspraktisch zu verwenden. 120 Der sachverständige praktische Umgang mit Geschichte, den die Geschichtsdidaktik anspricht, ist grundsätzlich von der Absicht geprägt, diese Fähigkeiten zu fordern, sie zu wecken, sie zu entwickeln, zu steigern, zu schulen und zu pflegen. Das läßt sich kategorial mit dem 120

130

Dazu ausführlicher Rüsen, Jörn: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S.93ff.

Lernbegriff bezeichnen. Insofern ist das Wort Geschichtsdidaktik auch dann am Platze, wenn es nicht nur um schulisch organisiertes Lernen, um institutionalisierte Erziehungs- und Bildungsvorgänge, sondern allgemeiner um eine sachverständige Aktivität im Bereich der Geschichtskultur geht. Die Geschichtsdidaktik ist die Wissenschaft, die den für diese Aktivität nötigen Sachverstand erzeugt. Als Wissenschaft produziert sie Erkenntnis, aber es ist eine Erkenntnis, deren innere Logik durch die Praxis bestimmt wird, die dieser Erkenntnis bedarf, um erfolgreich zu sein. Was heißt das konkret? Welche Erkenntnisse und welches Wissen muß die Geschichtsdidaktik produzieren, und welcher Logik ist diese Wissensproduktion verpflichtet? Die Geschichtsdidaktik ist die Wissenschaft vom historischen Lernen. Historisches Lernen hat eine äußere und innere Seite. Die äußere betrifft seine Institution und Organisation, die Form der das Lernen vollziehenden Handlungen und die mannigfaltigen Bedingungen, die auf es einwirken. Zu diesen äußeren Gegebenheiten gehören Schule, Kultusbürokratie, Richtlinien, Schulbücher, Museen, Ausstellungen, der ganze Kulturbetrieb, in dem es um Geschichte geht, staatlich organisierte Gedenkfeiern, die Massenmedien und Ähnliches. All dies kann mit der Kategorie 'Geschichtskultur' zusammengefaßt werden. 1 2 1 Die Geschichtsdidaktik hat die Aufgabe, diese Geschichtskultur in allen Einzelheiten und im Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens zu erforschen. Mit dieser Aufgabe schneidet sie sich mit vielen anderen Wissenschaften, z.B. mit der Wissenssoziologie, aber auch mit der Geschichtswissenschaft, wenn es um die diachrone Dimension des historischen Wissens geht, darum also, wie sich im Laufe der Zeit Denken über Geschichte und die soziale Funktion dieses Denkens verändert hat. Seine eigene Logik hat die Geschichtsdidaktik aber darin, daß sie die Geschichtskultur als Bedingungsrahmen für historisches Lernen thematisiert. Sie teilt sich mit vielen Kulturwissenschaften die Aufgabe, den Phänomenbereich Geschichtskultur theoretisch zu erschließen und empirisch zu erforschen; ihre eigene und besondere Konzeptualisierungs- und Forschungsaufgabe besteht aber darin, Geschichtskultur als objektiven Lernprozeß in den Blick zu nehmen. Mit dieser Forschungsaufgabe bleibt der Geschichtsunterricht im Blick; denn er ist einer der wichtigsten Institutionen der Geschichtskultur und als solche auf besondere Weise durch Lernen bestimmt. Die Geschichtsdidaktik sieht aber zugleich weiter und tiefer; es wachsen ihr 121

Vgl. Rüsen, Jörn: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über die Geschichte nachzudenken, in: ders.: Historische Orientierungen (Anm.89). Vgl. ferner Fröhlich, Klaus; Grütter, Heinrich Theodor; Rüsen, Jörn (Eds): Geschichtskultur (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3 (1991792)). Pfaffenweiler 1992.

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neue, noch kaum erschlossene Forschungsfelder zu. Ich nenne stellvertretend nur eines: die historische Museologie. Es gibt Sachverständige dafür auf den Ebenen der Praxis und der Theorie - aber es gibt keine systematisch und kontinuierlich betriebene Forschung, ja noch nicht einmal einen über bloße Ansätze hinausgehenden etablierten Diskussionszusammenhang der Interessierten und Zuständigen. 122 Das gleiche gilt für Geschichte in den Massenmedien und die meisten Bereiche der außerschulischen Geschichtskultur. Die subjektive Seite des historischen Lernens betrifft die mentalen Vorgänge, in denen und durch die sich menschliche Subjektivität konstituiert, indem spezifisch historische Zeiterfahrungen verarbeitet werden. Gelernt wird die Fähigkeit, über artikulierte gemeinsame Erinnerungen zu sich selbst 'ich' und 'wir' zu sagen und dabei die eigene Lebenspraxis unter orientierenden Zeitvorstellungen zu organisieren. Es geht also um historische Identität, oder um es akademischer zu formulieren: um diachrone Konsistenz von Subjektivität, um die Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Lebens zu überschreiten, die eigene Subjektivität in die Vergangenheit hinein zu verlängern, das eigene Leben in handlungsbestimmenden Absichten an das Handeln und Leiden anderer Menschen in der Vergangenheit anzuschließen und auf zukünftiges Handeln und Leiden anderer Menschen hin zu entwerfen. So kann sich z.B. die eigene Moralität im Eingedenken an Untaten der Vergangenheit stimulierend entzünden, an denen man in keiner Weise beteiligt war, und man kann sich die Geltungs- und Wirkungskraft normativer Gesichtspunkte des eigenen Lebens durch Erinnerung an ihren Ursprung, an die Geschehnisse einer Sinnstiftung verlebendigen, die schon sehr lange zurückliegen mag. Alle diese Vorgänge, all dieses Leben der Vergangenheit in den mentalen Prozeduren der Erinnerung, läßt sich mit der Kategorie 'Geschichtsbewußtsein' zusammenfassen. 123 Es ist die Aufgabe der Geschichtsdidaktik, Geschichtsbewußtsein in der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner mentalen Erstreckung und Vollzüge und zugleich als Gesamtzusammenhang subjektiver Prozeduren zu erforschen. Auch diese Aufgabe teilt sie mit vielen anderen Wissenschaften (vor allem mit der Psychologie, die aber bedauerlicherweise von dieser 122 Vgl. den Überblick von Heinrich Theodor Grütter, Geschichte im Museum, in: Geschichte lernen, Heft 14, März 1990, S.14-19; ferner Fehr, Michael; Grohe, Stefan (Eds): Geschichte, Bild, Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum. Köln 1989; KorfT, Gottfried; Roth, Martin (Eds): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt/Main 1990. 123 Die einschlägige Literatur ist sehr umfangreich. Verwiesen seien auf Jeismann: Didaktik der Geschichte (Anm.51); ders.: Geschichte als Horizont der Gegenwart (Anm.120); von Borries; Pandel; Rüsen (Eds): Geschichtsbewußtsein empirisch (Anm.97); Schneider, Gerd (Ed.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1). Pfaffenweiler 1988.

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Aufgabe nichts weiß 124 ), zugleich aber kommt ihr - wie schon bei der Geschichtskultur - eine spezifische Forschungsleistung zu, die nur sie und niemand sonst erbringen kann: nämlich Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß zu thematisieren. Was das heißt, habe ich schon angedeutet: den Erwerb von Fähigkeiten des wahrnehmend-erfahrenden, deutenden und orientierenden Umgangs mit der Vergangenheit. Im Unterschied zum funktionalen Erfordernis einer Erschließung des Phänomenbestandes 'Geschichtskultur', wo es noch zu keiner umfassenden und differenzierten Theoriebildung gekommen ist, hat die Geschichtsdidaktik sich schon intensiv mit der theoretischen Erschließung von Geschichtsbewußtsein erfaßt 125 und seit einiger Zeit auch mit empirischen Forschungen begonnen, in denen die vorgearbeiteten Theoriekonzepte erprobt und modifiziert werden. 126 Allerdings sind die Wissensdefizite gewaltig. Es gibt noch keine ausgearbeitete Theorie des historischen Lernens, die die bisherigen Untersuchungen über Eigenart, Struktur, Funktion und empirische Manifestationen von Geschichtsbewußtsein integrierte und weiterführte. Ein ganzer Bereich des Geschichtsbewußtseins, seine prä-kognitive und emotionale Dimension, ist so gut wie unerforscht, obwohl seine Bedeutung für das historische Lernen unbestreitbar ist. 127 Wir wissen kaum etwas über ein so elementares Phänomen wie historische Wahrnehmung oder historische Erfahrung. Schließlich - und darin sehe ich die größte Herausforderung an eine Geschichtsdidaktik, die sich mit Geschichtsbewußtsein als Lernprozeß befaßt - gibt es 124 Ausnahmen sind: Reulecke, Wolfram: Lernpsychologische Annahmen zum historischen Lernen', in: Geschichtsdidaktik 10 (1985), S.267-271; Straub, Jürgen: Historisch-psychologische Biographieforschung. Theoretische, methodologische und methodische Argumentationen in systematischer Absicht. Heidelberg 1989; ders.: Denken mit den Opfern. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in autobiographischen Erzählungen: Psychologische Analysen, in: Psychologie und Geschichte 2 (1991), S.115-129; ders.: Kultureller Wandel als konstruktive Transformation des kollektiven Gedächtnisses. Zur Theorie der Kulturpsychologie, in: Allesch, Christian G. u.a. (Eds): Psychologische Aspekte des kulturellen Wandels. Wien 1992, S.42-54; ders.: Geschichte, Biographie und friedenspolitisches Handeln. Biographieanalytische und sozialpsychologische Studien auf der Basis von narrativen Interviews mit Naturwissenschaftlern und Naturwissenschaftlerinnen. Opladen 1993; ders.: Collective Memory and Collective Past as Constituens of Culture: An Action-Theoretical and Culture-Psychological Perspective, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 52 (1993), S.114-121. 125 Siehe Anm. 123. 126 Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein (Anm.96); ders.: Geschichtsbewußtsein als Identitätsgewinn? (Anm.97); Borries; Pandel; Rüsen (Eds): Geschichtsbewußtsein empirisch (Anm.97). 127 Eine seltene (m.W. kaum diskutierte oder aufgegriffene) Ausnahme ist Knigge, Volkhard: "Triviales" Geschichtsbewußtsein und verstehender Geschichtsunterricht. Pfaffenweiler 1988; vgl. die außerordentlich fruchtbaren Andeutungen bei Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Konstruktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/Main 1984, S.296, 366f„ 387ff.

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kaum Forschungen zur ontogenetischen Entwicklung des Geschichtsbewußtseins. 128 Ich habe mit dem Phänomenbestand des historischen Lernens in seiner objektiven Erscheinung als Geschichtskultur und in seiner subjektiven als Geschichtsbewußtsein den Gegenstandsbereich der Geschichtsdidaktik umrissen und dabei ihre Aufgabe angedeutet, ihn durch die Ausarbeitung theoriefÖrmiger Interpretationskonstrukte zu erschließen und mit Hilfe dieser Konstrukte empirisch zu erforschen. Gleichberechtigt zur Theorie und Empirie tritt eine dritte Art des forschenden Umgangs mit historischem Lernen hinzu: die Pragmatik. Man könnte sie begrifflich als 'Kunstlehre' charakterisieren, als forschende Ermittlung der Regulative des Handelns, dem es um historisches Lernen geht. Das bekannteste Beispiel einer solchen Thematisierung von Lernen ist die Unterrichtsmethodik. Obwohl sie der Berufspraxis der Historiker und Historikerinnen am nächsten steht und damit direkt auf die spezifischen Anforderungen bezogen ist, die die Geschichtsdidaktik als eigene Wissenschaftsdisziplin definieren und erforderlich machen, sehe ich auch hier große Defizite. Das gilt nicht nur für den schulischen Geschichtsunterricht, sondern erst recht für die Pragmatik des historischen Sachverstands im Bereich der öffentlichen Erinnerungsarbeit. Wie sonst ist es zu erklären, daß sich das Publikum der historisch Interessierten Ausstellungen gefallen lassen muß, deren Didaktik im günstigsten Fall in der ästhetischen Naturwüchsigkeit der aufgestellten Objekte, in der ihnen durch Zeitenabstand zugewachsenen historischen Aura faszinierender Alterität besteht, vielleicht noch unterstützt durch das angestrengte Bemühen der Museumsmacher, die Faszination des Publikums durch massenmediale Kundgabe über die Höhe die Versicherungssumme für die ausgestellten Objekte ins Ungemessene zu steigern? Die geschichtsdidaktische Ignoranz gerade derjenigen Ausstellungsmacher, die sich eines Zustroms erheblicher Mittel erfreuen, ist an der beeindruckenden Hermetik abzulesen, mit der sich die präsentierte Geschichte dem historischem Verständnis der herbeigelockten Besucher entzieht. 129

128

"Intuitively we recognize enormous differences among interest in, and understanding of, history at ages eight, eighteen, and twenty-eight. Yet we call all these diverse engagements with the past studying 'history', and, using the one term for them all, we tend to depreciate their differences. Nor do we have anything like a theory of the development of historical understanding and history teaching that recognizes, refines, and elaborates the implications of these differences." Egan, Kieran: Teaching the Varieties of History, in: Teaching History 21 (1978), S.20-23, zit. S.20. 129 Ich denke an viele Ausstellungen der Villa Hügel in Essen und als eindrückliches Beispiel in jüngerer Zeit an die Ausstellung im Dortmunder Museum am Ostwall "Der erste Kaiser von China und seine Terrakottaarmee", August-November 1990.

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Aber auch der Geschichtsunterricht leidet unter dem Manko einer Methodik, die der Spezifik des historischen Lernens entspricht. Die übliche Geschichtsmethodik ist Applikation einer allgemeinen Unterrichtspragmatik auf Geschichtsunterricht, und sie hat zumeist einen technologischen, auf das Planen von Unterricht konzentrierten Charakter. In dieser technologischen Applikation können aber die Lernerfordernisse verschwinden, die den Geschichtsunterricht in seiner spezifischen kulturellen Funktion notwendig machen. Das ist dann der Fall, wenn sie nicht in der Form pragmatischer Regulative des Unterrichtens formuliert werden. Das aber ist nur möglich, wenn es eine einschlägige Grundlagenforschung gibt. Wo aber wird systematisch untersucht, wie sich Geschichtsbewußtsein von Kindern und Jugendlichen in den Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen des Unterrichts bildet, wie es geweckt, gefördert, entwickelt, verändert wird? (Ein ähnliches Manko gibt es, nebenbei bemerkt, auch in der Schulbuchforschung. Man weiß nur sehr wenig über die Rolle, die Schulbücher wirklich im Unterricht spielen, über die Art ihrer praktischen Verwendung, also darüber, wofür sie eigentlich geschrieben werden.) Wenn ich den Aufgabenbereich der Geschichtsdidaktik so umschreibe, dann distanziere ich mich nicht von dem, was sie bisher geleistet hat. Ich versuche vielmehr, eine Problemskizze zu zeichnen, in die die bisherigen Arbeiten eingeordnet werden können, so daß ihre Errungenschaften, aber auch verbliebene Defizite deutlich werden. Erreicht wurde mit der Thematisierung von Geschichtsbewußtsein ein neuer Ausgriff der Geschichtsdidaktik über den Geschichtsunterricht hinaus auf die Grundlagen und den subjektiven Bedingungszusammenhang historischen Lernens und eine Öffnung der Geschichtsdidaktik auf den weiten Bereich der Geschichtskultur. Erreicht wurde ferner eine präzise Aufbereitung und Systematisierung unterrichtspraktischer Erfahrungen im Rahmen einer curriculumtheoretischen Argumentation und eine entsprechend differenzierte Unterrrichtsplanung. Wo liegen die Defizite, mit der die Geschichtsdidaktik bislang den ihr zugrunde liegenden praktischen Erfordernissen nicht gerecht geworden ist? Natürlich ist sie nicht dafür verantwortlich zu machen, daß in den letzten Jahrzehnten mit der Kinderzahl auch der Bedarf an Geschichtslehrern dramatisch zurückgegangen ist; schließlich ist das Geschichtsbewußtsein nicht gerade zentral zuständig für die psychischen und physischen Vorgänge, die die Demographen generatives Verhalten nennen und für die die Dichtung schönere Worte anbietet. Aber an der erstaunlichen Resistenz der Alltagspraxis in und außerhalb der Schule gegenüber den Anregungen, Ideen, Vorschlägen, Konzepten und Strategien, die die Geschichtsdidaktik mit großem Auf-

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wand an theoretischem Scharfsinn und kontroverser Debatte entwickelt hat, dürfte sie, wie ich schon betont habe, nicht ganz unschuldig sein. Sie kann und sie wird diese Wirkungsgrenze dadurch überschreiten, daß sie intensiver als bisher der funktionalen Spezifik des historischen Lernens gerecht wird und sich ganz entschieden den Problemen seiner Pragmatik zuwendet. Dies kann und wird sie in dem Maße überzeugend leisten, als sie sich den ihr dann zuwachsenden Problemstellungen in der Form einer kontinuierlichen Grundlagenforschung annimmt. Eine Fachdisziplin kann sich langfristig im universitären Bildungsbereich nur durch empirische Forschung legitimieren, und daran hat es der Geschichtsdidaktik immer gemangelt. Den Grund dieses Mangels sehe ich weniger in der miserablen Ausstattung der zahlenmäßig sowieso schon geringen Gruppe professioneller Geschichtsdidaktiker und -didaktikerinnen, sondern vor allem darin, daß es ihr bis heute noch nicht gelungen ist, ihren Gegenstandsbereich theoretisch so zu durchdringen und zu erschließen, daß sich geradezu zwangsläufig die Frage nach der empirischen Konkretisierung, Differenzierung und Modifikation der jeweiligen Konzepte ergibt. Ein Blick in die ja nicht gerade ärmliche Literatur zur Lernzielbestimmung kann uns leicht darüber belehren, was es heißt, forschungsfern zu argumentieren. Das gleiche gilt für die lerntheoretische Wende der Geschichtsdidaktik: Wo ist denn je entschieden versucht worden, sich mit spezifizierenden Fragen nach historischem Lernen in die Lern-, Entwicklungsund pädagogische Psychologie als forschungsorientierten Disziplinen einzuklinken? Die Notwendigkeit eines solchen Forschungsbezuges der neuen Problemstellungen, die der Geschichtsdidaktik in den sechziger und siebziger Jahren zugewachsen sind, ist oft genug betont worden. Es lag auch an der Art, wie diese Problemstellungen theoretisch formuliert wurden, daß es zu lange bei der Forderung geblieben ist. Es gibt allerdings noch einen gewichtigen anderen Grund, der die Rechtfertigung disziplinarer Ansprüche der Geschichtsdidaktik durch Forschung auf die Uberzeugungschwäche von Postulaten reduzierte: Nämlich die schon erwähnte institutionelle Lage der Geschichtsdidaktik. Sie ist ja nicht nur mit der schwierigen Aufgabe beladen, die zahlreichen Fachgrenzen zwischen den Wissenschaften, die für die Phänomenbestände des Geschichtsbewußtseins und der Geschichtskultur zuständig sind, systematisch zu überwinden oder zu unterlaufen und sich dabei zugleich im akademischen Institutionengefüge einen sicheren Platz zu schaffen. Ich habe große Zweifel, ob der langandauernde Konsens der Fachleute darüber, daß die Geschichtsdidaktik am besten in einer institutionellen Anbindung an die Geschichtswissenschaft aufgehoben sei, weise war. Mindestens darüber

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müßten wir inzwischen klüger geworden sein, daß es außerordentlich schwierig ist, sich dem Anpassungsdruck der Historiker erfolgreich zu widersetzen, die die fachliche Solidität und das mit ihr verbundene Prestige an Leistungen der historischen Forschung knüpfen und das Beharren auf der fundamentalen Spezifik geschichtsdidaktischer Problemstellung als Ausweichen oder Unterlaufen der fachlichen Standards interpretieren. Jeder weiß, wie schlecht ein Rat an begabte junge Historikerinnen und Historiker wäre, sich mit einer geschichtsdidaktischen Forschungsarbeit für eine akademische Karriere zu qualifizieren. Es ist also für die Geschichtsdidaktik schon schwer genug, sich mit ihrer besonderen Aufgabenstellungen im Bereich der Hochschulen zu behaupten. Aber es gibt ein noch viel größeres Problem ihrer institutionellen Sicherung. Wenn meine Argumentation über die konstitutive Bedeutung spezifischer Forschungsleistungen für den disziplinären Status der Geschichtsdidaktik richtig ist, und wenn diese Forschung sich vornehmlich auf reale Vorgänge historischen Lernens beziehen muß, um diese ihre Spezifik auch wirklich unter Beweis zu stellen (Arbeiten über historische Entwicklungen von Geschichtsbewußtsein sind gute Geistesgeschichte, aber noch nicht spezifisch für Geschichtsdidaktik), dann handelt es sich um ein Forschungsfeld, das von den Hochschulen gerade institutionell abgekoppelt ist. Ich denke an die Referendarausbildung und an die diffusen Einstiege in die anderen Bereiche der Geschichtskultur. (Sieht man von der speziellen Ausbildung von Archivaren einmal ab, dann gibt es außerhalb der Schule für Historiker keine praktische Ausbildung, die derjenigen der Studienseminare ähnelte. Das Ergebnis ist eine beeindruckende didaktische Ignoranz nicht weniger Praktiker. Sie ist allenthalben zu besichtigen.) Ich plädiere nicht dafür, das gescheiterte Experiment der einphasigen Lehrerausbildung zu wiederholen. Es ist nicht zuletzt daran gescheitert, daß der Zuwachs bislang ausgelagerter Phasen der Lehrerbildung in das Universitätsstudium zu keinerlei struktureller Änderung dieses Studiums geführt hat. Die Implantation eines systematischen Praxisbezuges ist am Immunsystem der Geschichtswissenschaft gescheitert, zu deren konstitutiver Fachlichkeit das falsche Bewußtsein der Fachleute gehört, wenn man nur gute Historiker ausbilde, dann ergäben sich die guten Lehrer mit ein bißchen Unterrichtstechnologie fast schon von selbst. Die Geschichtsdidaktik sollte das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, die Borniertheit des historischen Fachmenschentums und die damit fast zwangsläufig verbundene Austrocknung oder Verdrängung spezifisch pädagogischer Sinnpotentiale in der historischen Erinnerungsarbeit energisch kritisieren, aber das tut sie schon lange nicht mehr: Sie

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möchte sich die eh kaum vorhandenen Sympathien für ihren pädagogischen Eigensinn nicht verscherzen. Der Graben, der die Hochschulen von der Praxis der Geschichtskultur in und außerhalb der Schule trennt, ist größer geworden. Für die Geschichtsdidaktik ist es lebensnotwendig, ihn zu überbrücken. Möglichkeiten dazu gibt es: Viele Studienordnungen für Lehramtsstudenten sehen schulpraktische Studien verbindlich vor, und die zahlreichen Institutionen und Gremien, in denen über Rahmenbedingungen des Geschichtsunterrichts verhandelt wird (etwa über Richtlinien oder über die Genehmigung von Schulbüchern) sind auf den fachdidaktischen Sachverstand angewiesen. Das gleiche gilt für die Lehrerfortbildung, für Beiräte historischer Museen, für die öffentliche Ausstellungskritik, für die wissenschaftliche Beratung massenmedialer Geschichtsproduktionen, für die Schulbuchanalyse und -kritik, und es lassen sich sicher noch viele andere Chancen eines solchen Brückenschlages finden. Ob und wie sie genutzt werden, hängt letztlich davon ab, ob und wie diejenigen, die sich den Sachverstand für die Praxis der Kulturarbeit angelegen sein lassen, die Geschichtsdidaktiker also, über die Qualität verfügen, die Friedrich Schiller als diejenige eines philosophischen Kopfes vom Brotgelehrten unterschieden hat. Der Brotgelehrte hält sich an institutionelle Vorgaben und achtet die Grenzen von Fachgebieten und Denkweisen, deren Überschreitung Unruhe stiftet. Der philosophische Kopf hält diese Unruhe für eine Triebkraft kultureller Kreativität, und er setzt und hält sie in Gang.

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"Das Gute bleibt - wie schön!" Historische Deutungsmuster im Anfangsunterricht von Ingetraud Rüsen

Geschichtsbewußtsein ist im Menschen viel tiefer angesiedelt als nur auf der kognitiven Ebene. Wenn das richtig ist, dann müssen wir das Prä-Kognitive als wichtiges Feld für geschichtliche Sinnbildungen und natürlich auch für historisches Lernen akzeptieren. Hier werden die zentralen Deutungsmuster für das Geschichtsbewußtsein gewonnen und auch bereits gefühlsmäßig, vorrational selektiv angewendet. Hier erfolgen erste Orientierungen in der Geschichte, die aufgrund einer Kette von Sinnerfahrungen und ihren Rationalisierungen und von Schlußfolgerungen mehr oder minder bewußt formuliert werden. Solche historischen Denkformen und Deutungsmuster grundsätzlicher Art sind inzwischen thematisiert und ansatzweise auch empirisch untersucht worden. 130 An diese Überlegungen zur fundamentalen Sinnbildung des Geschichtsbewußtseins müssten Historiker und Geschichtslehrer anknüpfen, wenn sie historisches Wissen in seiner praktischen Funktion der Daseinsorientierung anwenden und vermitteln wollen. Die prä-kognitiven Deutungsmuster des Geschichtsbewußtseins werden schon sehr früh ausgebildet, immer dann nämlich, wenn Erfahrungen von zeitlichen Veränderungen oder von Zeitunterschieden eingeordnet und gedeutet werden: Kinder, die solche Sinnbildungen vornehmen, wenden elementare und fundamentale Deutungsmuster in der Form bildhafter, stark emotional besetzter Vorstellungen an. Sie verfügen durchaus schon über eine Art von Geschichtsbewußtsein, wenn und weil sie sich in ihrer Zeit orientieren. Dieses Geschichtsbewußtsein zeigt sich natürlich ihrem Alter gemäß sehr subjektiv gefärbt, erlebnis- und gefühlsbestimmt, bildhaft situativ eingebettet, und es wird je nach Entwicklungs- und Bewußtseinsstand verbal unterschiedlich formuliert. Ich habe versucht, diese Deutungsmuster im Geschichtsunterricht aufzuspüren, aus dem emotionalen Bereich herauszuheben, sie den Kindern gedanklich faßbar zu machen und sie auch durch die Kinder selbst formulieren zu lassen. Ich gehe dabei von einer Typologie histo130

Siehe oben S.lOlff.

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rischer Lernformen aus, die vier verschiedene Deutungsmuster unterscheidet: (a) das traditionale, (b) das exemplarische, (c) das kritische, (d) das genetische. Ich wollte feststellen, ob und wie die Kinder in einem sehr frühen Stadium des Geschichtsunterrichts solche Muster erkennen und diskutieren können. Als Material habe ich Beispiele aus der historisierenden Werbung gewählt, weil Werbung durch einfache Bild- und Sprachbotschaften sich an die Tiefenschichten des Bewußtseins richtet.131 Sie spricht diese Gebiete an, da sie auf Gefühle, Einstellungen, Bedürfnisse zielt, die es zu artikulieren oder zu erwecken gilt, um den Verbraucher wunschgemäß zu disponieren. Sie bietet sich daher auch für die Geschichtsdidaktik als interessantes Untersuchungsfeld an, vor allem weil sie den Kindern als integraler Teil ihres Alltagslebens vertraut ist. Wegen der extremen Vereinfachung und Elementarisierung ihrer Botschaft ist sie auch für Kinder leicht verständlich und unmittelbar eingängig. Werbesendungen, -spots und -plakate erfreuen sich nicht umsonst großer Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen. Für die benutzten Materialien der historisierenden Werbung galten folgende allgemeine Auswahlkriterien: -

Sie mußten typenspezifisch sein, d.h. die Grundmuster historischer Sinnbildung in ihrer typologischen Verschiedenheit (traditional, kritisch, exemplarisch, genetisch) möglichst rein repräsentieren;

-

Sie mußten extrem vereinfachen;

-

Sie mußten Text und Bild verbinden, wobei eingängige Bilder mit Texten unterlegt sein sollten, die Schlüsselbegriffe der historischen Erfahrung und Deutung, also fundamentale Zeitbegriflfe, enthalten;

-

Sie mußten leicht für den Unterrichtsgebrauch zubereitet werden können (insbesondere einfach kopiert werden können).

Entsprechend habe ich folgende Reklamedarstellungen ausgewählt: (a) für den traditionalen Typ: -

"Am Prinzip hat sich nichts geändert". Jubiläums-Reklame für Mercedes im Zeitmagazin vom 21.2.86;

-

"Die Zeiten ändern sich. Das Gute bleibt". Maggi-Werbung mit alten und neuen Werbeschildern;

131 Vgl. dazu demnächst Seidensticker, Mike: Geschichte in der Werbung. Diss. Bochum 1994.

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-

Metaxa. Der klassische Grieche aus der roten Traube von Attika. Spiegel 50/12.12.1983.

(b) für den exemplarischen Typ: -

"Galerie berühmter Raucher" (BAT). Werbung der Tabakindustrie, Spiegel 33/1977

(c) für den kritischen Typ: -

"Das Auto formte die Gesellschaft. Soll es sie auch ruinieren?" (Fiat-Werbung) Spiegel

(d) für den genetischen Typ: Zwei Werbungsbilder mit Text der Firma Bayer: "Gute alte Zeit. Umwelt noch kein Thema (?)" -

Arbeiterviertel von London;

-

Teerhofsfleet und -brücke, Hamburg

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Am Prinzip hat sich nichts geä ndert.

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MAGGI ä S W u r z e

Sinzig in ihrer Art

MAGO! Würze

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Sì sar Schfldw wurdw in w w imfttoten Auflage n«cf» aäem Ve*»nren wieder rwrgeaei re Mwmaöonen: Posttorte an M a ® GmbH. Postfach 710707.6000 FrmWurt/M. 71

Die Zeiten ändern sich. Das Gute bleibt SoaiteWferbeschiider sind nicht nur liebenswerte Zeugen ihrer Zeit Sie machen einem auch deutlich, wie sehr sich der Zeitgeschmack ändert Erfreulich nur, daß es inmitten all dieses Wandels das

eine oder andere gibt, das bestehen bleibt, seinen Wert behalt. Genau wie jenes berühmte würzige Tröpfchen, das seit eh und je so vielen Gerichten erst das gewisse Etwas verleiht Das Gute bleibt Wie schön.

Maggi-Würze: D a s gewisscTröpfchen Etwas.

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* . j/\m/)l(qm • * ¥ * * * * Der klassische Grieche aus der roten Traube von Attika

Für die METAXA-Freunde das Original-METAXA-Glas

N«h finer Idee des FirmeniriJndm Spjros MtUu Beweisen-Sie die 6ci-Packunt mit je S Glnem wurde mivvfil Lieb« da» Orgnuf-METAXA-GUi, -KlklA*nj(id-MRIUS-fUr DM48,- mil, Porto. in wet kUttiKhen Formen getUiiet. Verpackung und Nachnahme bei Dm schlanie Gl« «KlRlA« fu; die-Dame- iiaviUr- Inur• Marieturtike! GmbH; Rhe-.mrw« « ket gewMbie Ol« »KJRJOS- fur den Herr« ••4!itRheipbeij:

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E. T. A. Hoff m a n n fSflbstiarikatur mit Pfeift, 1813.) J>*M Pfeifen rauche» keanzeuhnet d«a Menschen, wie ein Ordenakleid. An der Art, wie er die Pfeife halt, sie »n die Lippen f&rt, die Awfce ausklopft. Uwen ndh Ptr»Sniirfikeit, Wesensart, Gewohnheiten und Leidenschaften, 1» selbst die Gedanken des

Einmal wettete er mit Königin Elisabeth I, dafi er da. GewiAt seine. TabakrauAes bestimmen k&me. Er wog den Tabak, denn die AsAe, «od da« («Wende war das Gewicht des Rauche». Die Königin xahite und lachte: ..Andere lasarn ihr Geld in Rand» aafgohan. ihr aber waaet aognr, den Ranch wi Geld zu macht«."

Tbomaa Mann „Wenn ich anfwa»he, so freue ich mich, daß ich tagsüber werde rauchen dürfen, und wenn üb e*ae, ao f r « * ich »ich wieder darauf, Ja, ich kan* sagen, dsfi ich eigentlich bloß «bm, um rauchen eo können, wenn ich damit oarörfecb auch etwas übertreibe."

Wilhelm Busch (Selbitbildni*, Ftdtrzeiehnung. 1894.) »Drei Wochen war der Frosch ao krank, jetzt raucht er wieder, Gott sei Dunk'

Bei Qaeeft Viktoria herrsdvte strengstes Rauchverbot Viktoria« Enkel, der «pSter» Kaiser Wilhelm Ii, tot «eift Leben Wag geraucht hat, legte sich bei «inam Besuch bei der Qaeen in seinem Zimmer auf den Fußboden oad pustet« den Rauch in den Kamin.

D a s g r o ß e H a u s A m Tfcb&fai. I« HAÜSBSW5MANK ¡»MOWaMTi-CTOMt KIM AU-SUSl »MONA KlIRMAKK umas • cMJuxsts r*u.«AU USX-fsnäKi. ttm »»SONeMEOCES

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Diese Materialien legte ich dem Geschichtsunterricht in den letzten drei Stunden vor den Sommerferien in einer 6. Klasse eines Bochumer Gymnasiums zugrunde (Goethe-Schule). Die Klasse bestand aus 27 etwa 12-jährigen Schülern und Schülerinnen, die ich seit zwei Jahren aus dem Englischunterricht kannte und bei denen ich vertretungsweise etwa drei Monate vorher den Anfangsunterricht in Geschichte übernommen hatte. Die Kinder waren lebhaft, durchweg hellwach; ich konnte ihnen durchaus die Erörterung unorthodoxer Themen und gedankliche Anstrengungen zumuten. Ich bin folgendermaßen vorgegangen: Die - zunächst unbekannten, später jedoch in Form von Hausaufgaben vorbereiteten - Texte ließ ich abschnittsweise von einzelnen Schülern vorlesen. Danach erläuterte ich unbekannte Ausdrücke und Sachverhalte, und anschließend stellte ich Inhalts- und Sachfragen zum Text. Diese Vorgehensweise hat sich bewährt. Da die Schüler und Schülerinnen anschließend die Texte in eigenen Worten zusammenfaßten, konnte ich feststellen, daß sie sie gut verstanden hatten. Die elementare zeitlich-geschichtliche Dimension des jeweils Dargestellten und Ausgesagten ist bei allen Texten sofort von den Schülern und Schülerinnen erkannt worden (damals/heute). Um ihren Blick dafür zu schärfen (und die Vorgehensweise der Werbetexter und -gestalter, ihre Botschaft, zu vermitteln und zu erkennen) ließ ich die Schülerinnen und Schüler alle zeit- und geschichtsrelevanten Wörter heraussuchen und unterstreichen. Ich hielt diese Vorgehensweise für alle Reklametexte bei, damit die Kinder aufmerksam auf solche Worte wurden, - geht es in ihnen ja letztlich um Zeitdeutungen, die im Rahmen der Sinnbildungsarbeit des Geschichtsbewußtseins eine kategoriale Bedeutung haben. 1. Das traditionale Deutungsmuster Die Verwendung traditionaler Deutungsmuster in den Annoncen wurde von den Schülerinnen und Schülern leicht erkannt und verfehlte obendrein ihre emotionale Wirkung nicht; denn sie arbeiteten engagiert und interessiert mit. Sie fanden mühelos heraus, daß Mercedes mit dem alten und bewährten Auto aus der Vergangenheit wirbt und sich dabei auch des Nostalgie-Appeals des Oldtimers bedient, sich auf die Tradition und das Prinzip beruft, qualitativ hochwertige und ausgereifte Automobile zu bauen, das für die Firma in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleicherweise verpflichtend ist. Sie fanden leicht die entscheidenden Textstellen heraus, wie etwa: "heute wie damals ist es unser Bemühen", "und damit den Anforderungen unserer Zeit Rechnung tragen", "an diesem Prinzip wird sich

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auch in Zukunft nichts ändern", und sie waren sich einig, daß Mercedes mit dieser Berufung auf seine gute Vergangenheit und seine guten gegenwärtigen Produkte dem Käufer auch für die Zukunft Vertrauen in seine Autos ermöglicht, so daß, wie ein Schüler sagte, "die Leute diese Automarke halt immer wieder kaufen". Bei der Maggi-Reklame wurde ebenfalls der emotional wirkende Hinweis auf die altbewährte Qualität von Maggi ("daß es inmitten all dieses Wandels das eine oder andere gibt, das bestehen bleibt, seinen Wert behält", "seit eh und je", "das Gute bleibt, wie schön") wurde von den Kindern eingesehen und erklärt. Das Wort "Tradition" gehörte nicht zu ihrem aktiven Wortschatz, wurde aber, als ich es in die Debatte einbrachte, sofort verstanden und gebraucht und danach in der Erörterung der anderen Beispiele sicher angewendet. Bezeichnend für die Beobachtungsgabe und das Verständnis der Schülerinnen und Schüler scheint mir, daß sie an diesem Beispiel (Maggi) sofort erkannten, daß hier nicht nur mit der Tradition des Produktes geworben wird, sondern zunächst bildhaft mit der Geschichte der Maggi-Reklame selber, die einen Wandel anzeigt, indem "das Gute bleibt", nämlich das Maggi-Produkt. Damit wird über die zeitliche Veränderung in der Reklame selber auf die sich durchhaltende Qualität des Produkts Maggi verwiesen und das Vertrauen in seine Güte und damit eben die Kaufbereitschaft gestärkt oder erweckt. (Als ich diese Annonce für den Unterricht auswählte, war mir diese subtile Werbestrategie mit der Tradition noch nicht so deutlich wie nach den Hinweisen, die von den Schülerinnen und Schülern selber kamen.) Das Beispiel Metaxa kam besonders gut an, vielleicht weil das Produkt exotischer ist oder weil wir uns im Geschichtsunterricht der vergangenen Wochen mit griechischer Geschichte beschäftigt hatten. Die Motive Akropolis und ionische Säulen waren den Schülerin und Schülerinnen vertraut, der Rückgriff auf die altgriechische Tradition augenfällig. Allerdings hatten sie etwas Mühe zu erkennen, daß das Element des Traditionalen in dieser Werbung anders gehandhabt wird als in den anderen Beispielen. Der sachliche Grund liegt darin, daß die dargestellten historischen Inhalte und das Produkt, für das mit ihnen geworben wird, direkt nichts miteinander zu tun haben. Der ('historische') Schluß, "schon die alten Griechen tranken..., also..." griff nicht. Die intelligenten Schülerinnen und Schüler sahen aber bald, daß hier auf eine eher abstrakte Weise mit dem Reiz und der Erinnerung an die altgriechische Tradition im allgemeinen gearbeitet wird, um Interesse an und Vertrauen in das Produkt Metaxa zu wecken.

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2. Das kritische Deutungsmuster Ich habe als nächstes die Annonce von Fiat genommen, weil sie unter allen Beispielen den meisten Text enthält und sich daher besonders dafür eignete, als Hausaufgabe vorbereitet zu werden. Die Schülerinnen und Schüler sollten sich den Text genau durchlesen und mit den bisher im Unterricht bearbeiteten Annoncen vergleichen. In der Unterrichtsstunde haben sie zunächst darauf hingewiesen, daß der Bericht "wie das Auto Los Angeles veränderte" die negative Seite der Motorisierung dieser Stadt zeigt und vor ähnlichen oder noch schlimmeren Folgen für die europäischen Städte warnt. Die kritische Erzählweise dieser Geschichte wurde zwar wahrgenommen, aber das Wort 'kritisch' selbst nicht verwendet, allerdings eine Reihe sinnentsprechender Ausdrücke wie etwa: negativ, abschätzig. Die Schüler kamen spontan auf die schwache Argumentationsweise dieser Reklame: Die Botschaft "das Auto ist schlecht" wird einseitig auf die Beschaffenheit der großen, starken Wagen bezogen, und dagegen werden die Vorzüge des kleinen, geräumigen wendigen Fiat 128 gepriesen, die schließlich eine ernste Gefahr für die Gesellschaft abwenden könnten. Den Schülern und Schülerinnen leuchtete diese Argumentation nicht ein, weil Fiat schließlich auch ein Auto sei; sie hielten sie aber für sehr geschickt. Gegenüber dem in der Reklame verwendeten kritischen Deutungsmuster (dieses Deutungsmuster kommt in der historisierenden Werbung nur sehr selten vor) verhielten sie sich selber auch kritisch. Die Reklame wurde sozusagen die Geister der Kritik nicht los, die sie gerufen hatte. 3. Das exemplarische Deutungsmuster Ebenso kritisch, diesmal aber eher amüsiert und distanziert, betrachteten die Schülerinnen und Schüler die Absicht der Tabakindustrie, mit berühmten Männern aus der Geschichte für das Rauchen zu werben. Sie gaben die Werbungsstrategie folgendermaßen wieder: Berühmte Leute sollen Vorbilder für uns sein, "die haben auch geraucht, also..."; "Ich will auch so sein, deshalb soll ich rauchen". Den Schülerinnen und Schülern war die werbestrategische Absicht klar, daß die Vergangenheit hier als ein vorbildhaftes Beispiel fungiert. Ein Beispiel, das zum Rauchen anregen soll. Sie sahen diese Argumentationsstrategie aber kritisch vor dem Hintergrund aktueller Antiraucherkampagnen.

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4. Das genetische Deutungsmuster Es bereitete den Schülerinnen und Schülern keine Mühe, das in Bild und Text dargestellte umweltbelastende Verhalten der Menschen früher und seine schlimmen Folgen aufzuzeigen. Sie stimmten dem Duktus der Reklametexte zu, daß die gute alte Zeit gar nicht so gut gewesen sein kann, wenn es so war, wie es die Bilder darstellen. Heute dagegen arbeite und lebe man anders und reagiere "zunehmend engagiert und gezielt", wie etwa die Firma Bayer. Der Logik dieser auf dem genetischen Deutungsmuster basierenden Argumentation, daß sich etwas im Umweltbewußtsein gegenüber früher positiv verändert habe, daß da ein Wandel eingetreten sei, konnten sich die Schülerinnen und Schüler nicht entziehen. Sie meinten, daß in dem Text auf einen "Fortschritt" hingewiesen werde (etwa in der Formulierung: "es wird ein bißchen besser") und zitierten die Passage: "In den letzten Jahren hat sich ein ganz neues Umweltbewußtsein gebildet. Mit mehr Verantwortungsgefühl für das Neben- und Miteinander von moderner Industriegesellschaft und Natur". Sie stellten fest, daß sich die Firma Bayer mit ihren Maßnahmen und Forschungen ins helle Licht des Fortschritts und der Verbesserung der Welt rückt. Die intelligenteren Schülerinnen und Schüler konnten auch erklären, warum sie dies tut: Aufgrund von Chemieunfällen, Verklappungs- und Umweltskandalen ist diese Chemiefirma dringend an der Verbesserung ihres Images interessiert und wirbt daher mit positiven Seiten und Ergebnissen ihrer Arbeit. Sie benutzt dabei negative Seiten der Vergangenheit, um ihre Arbeit gut dagegen abzusetzen. Das, so meinten sie, sei ihr mit dieser Werbung auch gut gelungen. Auch hier war den Schülerinnen und Schülern das der Reklame zugrundeliegende historische Deutungsmuster, mit dem Geschichte als Bezug der Vergangenheit auf die Gegenwart bemüht wurde, schnell klar. Sie konnten die Argumentationsstrategie der Werbung (und auch deren Schwächen) leicht benennen. Auch bei der Arbeit an diesem Material überraschte es mich wieder, wie eingängig die Texte und Bilder waren und die verwendeten Deutungsmuster daher gut heraus gearbeitet werden konnten. Einige Schüler konnten sich die geistige Anstrengung, die die Herausarbeitung der historischen Deutungsmuster bedeutete, nur streckenweise leisten. Nichtsdestoweniger hatte ich aber nie den Eindruck, daß auch nur ein Kind nicht verstanden hätte, worum es ging, wenn Zeit und Geschichte bemüht wurden, um einen Werbeeffekt zu erzielen. Das wurde mir auch am Schluß der dritten (und letzten) Unterrichtsstunde bestätigt: Ich faßte die vier Typen der Betrachtungsweise von Geschichte in unseren Reklamebeispielen zusammen und

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fragte, welche von ihnen am besten gefallen habe. Die einhellige Meinung in einem sehr regen Unterrichtsgespräch im Anschluß an diese Frage war, daß die traditionale Deutung am besten und "am schönsten" sei, und von den verwendeten Materialien wurden die Annoncen von Maggi und Metaxa besonders positiv bewertet. Das sei am besten, "wenn man weiß, was früher gut war, auch heute gut ist"; man könne "dem trauen", man fühle sich "gleichberechtigt mit dem Früheren", man fühle "sich dabei gut" (aufgehoben). Solche (und weitere) engagierte und in der Tendenz übereinstimmende Meinungsäußerungen zeugten von dem gefühlsbetonten Weg, den die Schülerinnen und Schüler beschritten, wenn sie sich in Verbindung zu früheren Zeiten brachten, ohne jedoch die diesem Alter eigene Fähigkeit zu pointiertem, entschiedenem und klarem Denken dabei aufzugeben. Das haben sie durch scharfe Beobachtungen und zugespitzte sprachliche Formulierungen in der Arbeit an den Materialien hinreichend bewiesen. Die Schüleräußerungen haben mir gezeigt, daß die traditionale Deutung ganz besonders die emotionalen Bereiche anspricht. Die Schüler verwendeten im Umgang mit den einschlägigen Materialien signifikant die Worte 'gut', 'schön', 'trauen', 'Vertrauen'. Demgegenüber sprachen die Materialien, die sich der exemplarischen oder kritischen historischen Deutungsmuster bedienten, viel stärker kognitive Bereiche im Bewußtsein der Kinder an. Nicht umsonst ist die traditionale Sinnbildung die archaischste Form der Zeitdeutung und geht auf das Urbedürfnis der Menschen zurück, gehalten, getragen zu werden, Vertrauen zu haben. Die Werbung stellt sich in den behandelten Beispielen auf dieses Bedürfnis mit großem Erfolg ein. Diese kleine dreistündige Unterrichtseinheit in der 6. Klasse zeigt, daß man auch im Anfangsunterricht der Geschichte theoretische Einsichten in kategoriale Strukturen des historischen Denkens vermitteln kann, wenn man die richtigen Materialien benutzt. Zwölfjährige konnten sich mit Deutungsmustern auseinandersetzen und Einsichten erlangen, die ihnen geschichtstheoretische Werke wegen ihres hohen kognitiven Standards niemals gestatten würden. Da Reklame Sachverhalte elementarisiert und vereinfacht, kann sie - wenn sie sich einer historischen Argumentation bedient - bei der Vermittlung solcher kategorialer Grundstrukturen des Geschichtsbewußtseins äußerst hilfreich sein. Die Annoncen thematisieren überhaupt keine Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft. Sie machen kategoriale Denkstrukturen sichtbar, die dem historischen Denken überhaupt wesentlich sind, die in allen Bereichen der historischen Wissensbestände und in allen Einstellungen zur Vergangenheit wirksam sind. Überdies handelt es sich um Materialien, die zur Alltagskultur der Schülerinnen und Schüler gehört, mit denen die Kinder also tagtäglich zutun haben. Man kann ihnen mit diesen Materialien den Blick

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für Grundformen, für kategoriale Strukturen des historischen Denkens öffnen und ihnen sprachlich-gedankliche Mittel in die Hand geben, ihre eigene Situation bewußt auf die Geschichte zu beziehen, sich also in ein durch kategoriale Deutungen bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit zu bringen. Abgesehen von einer erhöhten Orientierungskompetenz für den einzelnen ermöglicht eine solche Vermittlung von Deutungsinhalten und vor allem von Deutungsmustern bei den Kindern eine bewußtere Betrachtung ihrer eigenen Alltagswelt auf praktische Verwendungsformen dieser Deutungsmuster. Und natürlich ist es von da aus nur ein kleiner Schritt, den Einsatz und die Wirkung solcher Deutungsmuster im Geschichtsunterricht selber wiederzuerkennen und dort jeweils neu zu thematisieren. So nannten mir viele Kinder spontan eigene Beobachtungen und versprachen, in den Ferien Beispiele für Geschichte im Alltag zu sammeln. Mit Materialien dieser Art ist eine Selbsttätigkeit, ein entdeckendes und nicht bloß reproduzierendes Lernen in den Anfangen des Geschichtsunterrichts möglich, in dem die Kinder Aufschluß über die für ihr eigenes Geschichtsbewußtsein maßgeblichen kategorialen Formen historischer Sinnbildung erhalten.

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Das ideale Schulbuch Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts132

1. Defizite der Schulbuchanalyse Alle Sachverständigen sind sich darüber einig, daß das Schulbuch das wichtigste Medium des Geschichtsunterrichts ist. Daher findet es auch bei denen, die sich das historische Lernen in der Schule und seine Bedeutung für die politische Kultur angelegen sein lassen, ausgiebige Beachtung. Für die Zulassung von Schulbüchern durch die Kultusministerien werden unterschiedliche Begutachtungs- und Genehmigungsverfahren inganggesetzt, in denen lebhaft darüber gestritten wird, welche Qualitäten ein Schulbuch haben muß. Auch die Geschichtswissenschaftler sind an Schulbüchern interessiert. Sie haben dafür verschiedene Gründe. Einmal ist das Schulgeschichtsbuch einer der wichtigsten Kanäle zum Transport historischer Forschungsergebnisse in die Geschichtskultur der Gegenwart. Die Fachleute lassen es sich immer wieder nicht nehmen, darauf zu achten und darauf zu drängen, daß der Forschungsstand ihres Faches möglichst ohne großen Zeitverzug in den Schulbüchern berücksichtigt wird. Ein anderer Grund für ihre Teilnahme liegt in ihrer Auffassung von der praktischen Bedeutung des von ihnen forschend produzierten Wissens. In dem Maße, in dem ihnen bewußt ist, daß und wie historisches Wissen eine kulturelle Orientierungsfunktion im Leben ihrer Gesellschaft hat und daß die Erfüllung dieser Funktion eine Angelegenheit der fachlichen historischen Erkenntnisarbeit selber ist (vermittelt über die Heuristik der Forschung), in dem Maße kann es ihnen nicht gleichgültig sein, welcher Gebrauch vom historischen Wissen im schulischen Geschichtsunterricht gemacht wird. Schließlich sind sie als politisch interessierte und oft auch engagierte Zeitgenossen am Schulbuch interessiert, weil es immer auch politische Botschaften 132

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Die folgenden Überlegungen beruhen auf langjähriger Mitarbeit in der Landesschulbuch-Kommission Nordrhein-Westfalen. Dort ist ein Set von Kriterien zur Schulbuchanalyse erarbeitet worden, der meinen Überlegungen zugrundeliegt. Dietrich Scholle hat diesen Set in der von der Kommission in ihren Gutachten verwendeten Systematik dargestellt: Schulbuchanalyse und Schulbuchkritik, in: Süssmuth, Hans (Ed.): Geschichtsunterricht im vereinten Deutschland. Auf der Suche nach Neuorientierung, Teil II. Baden-Baden 1991, S.275-283. Ich präsentiere im wesentlichen die gleichen Gesichtspunkte, schlage aber eine andere systematische Gliederung vor, mit der eine eindeutiger didaktische Argumentation in der Schulbuchanalyse erreicht werden könnte.

vermittelt; denn der Geschichtsunterricht ist eine der wichtigsten Instanzen der politischen Bildung. Am meisten interessiert an den Schulbüchern und am intensivsten befaßt mit ihnen sind natürlich die Lehrerinnen und Lehrer selber, wenn sich dies auch nur zum allergeringsten Teil in einer Form niederschlägt, die textlich greifbar und damit für die fachliche und öffentliche Debatte über das Geschichtslehrbuch verwendbar wäre. Angesichts dieses weitgespannten Interesses am Geschichtslehrbuch ist es erstaunlich, daß es nur Ansätze einer fachlichen Standards genügenden Diskussion über die Gestalt, über Formen, Inhalte und Funktionen des Geschichtsschulbuches gibt. 133 Es ist symptomatisch, daß es im deutschen Sprachraum - von einem bemerkenswerten Beispiel abgesehen 134 - kein größeres Werk gibt, in dem Kriterien der Schulbuchanalyse systematisch entfaltet, ihre praktische Brauchbarkeit dargelegt, exemplarische Analysen von Schulbüchern vorgenommen und Folgerungen für die Praxis der Schulbucherstellung aus den Resultaten der Analyse gezogen werden. Natürlich gibt es Schulbuchforschung, vor allem in der Bundesrepublik. Hier hat das GeorgEckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung ein hohes Renommee im In- und Ausland dadurch erworben, daß es über vergleichende Schulbuchanalysen Erhebliches zur Beseitigung historischpolitischer Vorurteile zwischen verschiedenen Ländern und Nationen beigetragen hat. Die hiermit verbundene ausgiebige Forschungsarbeit hat sich aber im wesentlichen auf eine fachwissenschaftliche Kritik der in den Schulbüchern vorfindlichen historischen Darstellungen und Interpretationen beschränkt. Daß es sich bei den Schulbüchern um eine ganz bestimmte Gattung historischer Texte handelt, deren Eigentümlichkeit durch ihren Gebrauch im schulischen Geschichtsunterricht definiert wird, ist bei den meisten Analysen weitgehend unberücksichtigt geblieben. Der spezifisch didaktische Aspekt der Schulbuchanalyse bedarf also noch einer gründlichen Erforschung, und zwar auf zwei Ebenen: der theoretischen, wo es um die Explikation und Begründung von Gesichtspunkten der Analyse geht, die der Spezifik des Geschichtslehrbuchs entsprechen, und natürlich auf der empirischen, wo es darum geht, sy133

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Scholle hat die wichtigste einschlägige Literatur zusammengestellt. Vgl. die fortlaufende Bibliographie in "Internationale Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts". Vgl. ferner Fröhlich, Klaus: Das Schulbuch, in: Pandel, Hans-Jürgen; Schneider, Gerhard (Eds): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1985, S.91-114; Berghahn, Volker R.; Schissler, Hanna (Eds): Perceptions of History. International Textbook Research on Britain, Germany and the United States. Oxford 1987. Borries, Bodo von: Problemorientierter Geschichtsunterricht. Schulbuchkritik und Schulbuchrevision, dargestellt am Beispiel der römischen Republik. Stuttgart 1980.

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stematisch geordnetes Wissen darüber zu erarbeiten, welche Gestaltungsmöglichkeiten von Geschichtsschulbüchern es gibt. Ein noch viel schwerwiegenderes Defizit der Forschung liegt aber in einem anderen Bereich: Es gibt so gut wie keine empirische Untersuchungen über den praktischen Gebrauch von Schulbüchern, also über die Rolle, die sie im unterrichtlichen Lernprozeß wirklich spielen. Dieses Defizit ist deshalb so gravierend, weil ohne ein Wissen über die Praxis des Schulbuchgebrauchs die gesamte Schulbuchanalyse schlicht in der Luft hängt. Noch nicht einmal das in der Unterrichtspraxis der Lehrerinnen und Lehrer immer wieder erzeugte und akkumulierte Wissen über Möglichkeiten und Grenzen der unterrichtlichen Verwendung des Schulbuchs wird kontinuierlich und systematisch gesammelt und ausgewertet, zumindest nicht in den für die Analyse von Schul-Geschichtsbüchern vornehmlich zuständigen Disziplinen, der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik. Die folgenden Überlegungen sind durch dieses Manko gekennzeichnet. Gegenüber der eigentlich sachlich notwendigen empirischen Sättigung von Vorstellungen darüber, was ein gutes Geschichtslehrbuch ist, verhalten sie sich rein heuristisch, also in der Attitüde einer fragenden Vermutung. Sie stellen freilich den Anspruch einer systematisch angelegten Argumentation, die vom eigentlichen Zweck des Geschichtsbuchs ausgeht, historisches Lernen zu ermöglichen, zu initiieren und zu fordern. 2. Drei Ziele des historischen Lernens Das Geschichtsbuch ist das wichtigste Leitmedium des Geschichtsunterrichts. Es muß also dementsprechend von der Frage ausgegangen werden, was in und durch den Geschichtsunterricht erreicht werden soll. Insofern ist eine Schulbuchanalyse ohne normative Gesichtspunkte des historischen Lernens unmöglich. Wie lassen sich solche Gesichtspunkte entwickeln, ohne daß sie in schwierige politische Divergenzen und Auseinandersetzungen führen? Als besonders erfolgversprechend für die Beantwortung dieser Frage hat sich ein Ansatz beim Geschichtsbewußtsein der Schülerinnen und Schüler erwiesen. Geschichtsbewußtsein ist zugleich Ort und Ziel des historischen Lernens. 135 Seine wichtigsten mentalen Operationen lassen sich be135

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Aus der inzwischen reichhaltigen Literatur vgl. Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Schneider, Gerhard (Ed.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1 (1988)), S.l-30; Pandel, Hans-Jürgen: Dimensionen des Geschichtsbewußtseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S.130-142; zur Empirie siehe oben Anm.97. Ferner Brown, Donald E.: Hierarchy, History,

schreiben, und auch seine lebenspraktischen Funktionen lassen sich vor aller politischen Divergenz so ins Auge fassen, daß über das Ausmaß und die Richtung ihrer Erfüllung, also darüber, was die Schülerinnen und Schüler können sollen, wenn sie erfolgreich historisch gelernt haben, mit guten Gründen, also konsensfähig, argumentiert werden kann. In wenigen Worten zusammengefaßt, läßt sich Geschichtsbewußtsein als die mentale Tätigkeit der historischen Erinnerung beschreiben, die die Erfahrung der Vergangenheit deutend so vergegenwärtigt, daß gegenwärtige Lebensverhältnisse verstanden und Zukunftsperspektiven der Lebenspraxis erfahrungskonform entwickelt werden können. Der mentale Modus dieser Erinnerungsleistung ist das Erzählen von Geschichten (Erzählen nicht im Sinne einer bloßen Darstellungsform verstanden, sondern im Sinne einer anthropologisch universalen und fundamentalen Wissens- und Erkenntnisform). In dieser narrativen Form erfüllt die deutend als Geschichte vergegenwärtigte Vergangenheit eine Orientierungsfunktion der aktuellen Lebenspraxis. Diese Funktion realisiert sich kommunikativ zwischen Produzenten und Rezipienten von Geschichten. Der kommunikative Aspekt historischen Erinnerung ist deshalb so wichtig, weil über das Erzählen (und Vernehmen) von Geschichten Subjekte ihre eigene Identität in zeitlicher Dimensionierung im Bezug auf Andere artikulieren (und artikulierend ausbilden) und zugleich zeitliche Richtungsbestimmungen (z.B. Zukunftsperspektiven) zu Kriterien der Sinnbestimmung für eigenes Handeln gewinnen. 136 Historisches Lernen ist Entwicklungsprozeß des Geschichtsbewußtseins, in dem Kompetenzen der historischen Erinnerung erworben werden. 137 Es handelt sich um diejenigen Kompetenzen, die Menschen brauchen, um Geschichten so rezipieren und auch produzieren zu können, daß sie ihre eigene Lebenspraxis mit der Vorstellung einer zeitlichen Ordnung, eines inneren Zusammenhangs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft handelnd und leidend vollziehen können. Dazu gehört die Fähigkeit, mit historischem Wissen das eigene Leben unter zeitlichen Richtungsbestimmungen zu reflektieren, und die Fähigkeit, die eigene Identität mit Gesichtspunkten einer zeitlichen Erstreckung zu bilden, die weit über die Grenzen der eigenen Lebenszeit zurück in die Vergangenheit und voraus in die Zukunft reichen.

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and Human Nature. The Social Origins of Historical Consciousness. Tucson 1988; Blum, Johannes: Histoire et mémoire. Enquete au prêt des six cents étudients de l'enseignement supérieur au sujet des années 1933-1945, in: Cahiers de Clio, 107108, Herbst-Winter 1991, S.67-131. Vgl. dazu Röttgers: Geschichtserzählung als kommunikativer Text (Anm.87). Siehe dazu ausführlicher oben S.78ff.

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Die Fähigkeit einer solchen Orientierung der eigenen Lebenspraxis durch historische Erinnerungen läßt sich mit dem Begriff 'narrative Kompetenz' zusammenfassen. Sie besteht darin, daß man die Vergangenheit so deuten und erzählend vergegenwärtigen kann, daß die Gegenwart verständlich wird und die eigene Lebenspraxis eine tragfähige Zukunftsperspektive gewinnt. Diese Fundamentalkompetenz des Geschichtsbewußtseins, die es durch historisches Lernen zu erwerben gilt, läßt sich in drei Einzelkompetenzen zerlegen, die die empirische, die theoretische und die praktische Seite des Geschichtsbewußtseins betreffen: In eine Wahrnehmungs- oder Erfahrungskompetenz, in eine Deutungskompetenz und schließlich in eine Orientierungskompetenz. Die Wahrnehmungsoder Erfahrungskompetenz besteht darin, Vergangenheit als solche, also in ihrer Abständigkeit und Unterschiedlichkeit von der Gegenwart (historische Alterität) im Erfahrungshorizont der Gegenwart aus Überresten und Traditionen wahrnehmen zu können. Die Deutungskompetenz besteht darin, diese wahrgenommene Vergangenheit so zu deuten, daß sie in einem Sinnund Bedeutungszusammenhang mit der Gegenwart erscheint ('Geschichte' ist der Inbegriff dieses Zusammenhangs). Die Orientierungskompetenz schließlich besteht darin, 'Geschichte' als Ergebnis dieser Deutung, als Sinnkonstrukt mit dem Erfahrungsinhalt der Vergangenheit, in den kulturellen Orientierungsrahmen der eigenen Lebenspraxis aufzunehmen und zu integrieren. Natürlich ist die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung, Deutung und Orientierung138 in der mentalen Aktivität des Geschichtsbewußtseins künstlich; alle drei Operationen stehen in einem engen Wechselverhältnis, ja sie gehen ständig ineinander über; aber mit ihnen lassen sich doch Lernvorgänge so dimensionieren, daß die wichtigsten Leistungen identifiziert werden können, die ein Schulbuch im Lernprozeß des Unterrichts erbringen muß. Besonders wichtig erscheint mir die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Deutung. Sie läßt nämlich so etwas wie historisches Wissen als Produkt zweier Sinnbildungsoperationen des Geschichtsbewußtseins erscheinen und raubt ihm damit eine falsche didaktische Qualität, nämlich die, eine Art kleinste Einheit des historisch zu Lernenden zu sein. Als Synthese von Wahrnehmen oder Erfahren und Deuten betrachtet, gewinnt der Wissenserwerb als Lernprozeß eine besondere Dynamik und Komplexität, und erst im Lichte dieser Dynamik und Komplexität lassen sich genau die Qualitäten eines Schulbuches identifizieren und untersuchen, mit denen es seine Funktion

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Sie entspricht in vielen Hinsichten der Jeismannschen Unterscheidung von Analyse, Sachurteil und Wertung.

als Leitmedium im historischen Lernprozeß des Unterrichts wahrnimmt (genauer: schlechter oder besser erfüllt). Ich möchte im folgenden eine Liste von Qualitäten des Geschichtsbuches vorlegen, die nach der genannten Unterscheidung der drei wichtigsten Lerndimensionen des Geschichtsbewußtseins systematisch geordnet ist. Damit möchte ich dem ausschlaggebenden didaktischen Zweck des Geschichtsbuchs grundsätzlich entsprechen, also eine genuin geschichtsdidaktische Strategie der Schulbuchanalyse vorschlagen. 3. Gesichtspunkte der unterrichtspraktischen Brauchbarkeit Noch vor der vorgeschlagenen Unterscheidung dreier Lerndimensionen liegen alle Gesichtspunkte, die den Charakter des Schulbuchs als Leitmedium von Unterricht überhaupt betreffen, also noch gar nicht die Spezifika des historischen Lernens. Hier sind es im wesentlichen vier Eigenschaften, die ein gutes Schulbuch auszeichnen: 1. ein formal klarer Aufbau, 2. eine deutliche didaktische Strukturierung, 3. ein wirksamer Schülerbezug und 4. ein praktischer Unterrichtsbezug. 1. Formal klarer Aufbau: Schon die rein äußere Form entscheidet wesentlich mit über die Rezeptionsfahigkeit der im Schulbuch präsentierten Materialien (Autorentexte, Text- und Bildquellen, Karten, Schaubilder etc.). Dazu gehört ein klares und einfaches Layout, eine übersichtliche Anordnung und Gliederung aller Materialien, Orientierungshilfen in der Form eines Inhaltsverzeichnisses, von Uberschriften und Querverweisen, und schließlich auch ein Apparat, der ein Stichwortverzeichnis, ein Glossar mit Erklärungen der wichtigsten Begriffe und Namen und ein Literaturverzeichnis mit weiterführender Literatur enthält. 2. Didaktische Strukturierung: Im Aufbau des Buches und der Strukturierung seiner Materialien müssen die didaktischen Intentionen, der zugrundeliegende Gliederungsplan, die inhaltliche Schwerpunktbildung und die unterrichtsmethodische Konzeption auch für die Schüler erkennbar sein. 3. Schülerbezug: Das Schulbuch muß in seiner gesamten Anlage die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen. Es muß deren Verständnismöglichkeiten entsprechen, und das gilt vor allem für die Sprache. In Deutschland ist die sprachliche Überforderung der Schülerinnen und Schüler durch die Schulgeschichtsbücher ein ernsthaftes Problem geworden. Durch einen starken Wissenschaftsbezug und eine lange Zeit ziemlich einseitige Ausrichtung der Geschichtsdidaktik auf die kognitive Seite des Geschichtsbewußtseins

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und des historischen Lernens ist es zu einer kognitiven Überfrachtung der Schulbuchtexte gekommen, die ihre Rezeption erheblich behindern. Seitens der Schülerinnen und Schüler kommt erschwerend hinzu, daß in der Konkurrenz der verschiedenen Medien Lesefähigkeit und Leselust abzunehmen scheinen. Schülerbezug besteht aber nicht nur in der Berücksichtigung von Verständnismöglichkeiten. Hinzu kommen muß eine Ausrichtung der präsentierten Materialien auf den Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Schülerinnen und Schüler, insbesondere auf verbreitete generationsspezifische Einschätzungen eigener Lebenschancen, überdies auf dominierende Alltagserfahrungen, wie sie die Lebenssituation der Kindheit und des Jugendalters, die Arbeitssituation der Schule und schließlich auch der sich immer wiederholende Generationskonflikt darstellen (von der zentralen Erfahrung der Pubertät ganz zu schweigen). Die Ausrichtung der im Schulbuch präsentierten historischen Erfahrungen, Deutungen und Orientierungen auf den Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Schüler muß freilich relativiert werden. Es gibt gesamtgesellschaftliche Orientierungsbedürfnisse, die nur gebrochen oder teilweise in diesen Horizont eingehen, deren Berücksichtigung aber für den Kompetenzerwerb eines Geschichtsbewußtseins notwendig ist, das der objektiv vorgegebenen Sachlage von Lebensumständen entspricht. Auf der anderen Seite zeichnen sich die Schüler durch eine hohe Sensibilität für Problemlagen der Gegenwart aus, die sich viele in diese Probleme verstrickte Erwachsenen nicht leisten können und wollen. Allemal aber ist ein Bezug der im Schulbuch präsentierten historischen Interpretationen auf Orientierungsprobleme der Gegenwart konstitutiv für die Lernchancen des Geschichtsbuchs. Die Frage, ob bestimmte historische Inhalte ins Schulbuch gehören oder nicht, entscheidet sich letztlich daran, ob und wie sie zum Verständnis der Gegenwart und zu den Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen beitragen. Nicht vergessen werden sollte bei der Ansprache der Lernenden, daß die historische Erfahrung ein eigenes Faszinationspotential hat, das als Lernchance genutzt werden kann. Die Fremdheit und Andersartigkeit vergangener Lebensumstände kann so präsentiert werden, daß sie Interesse und Neugier auf sich ziehen. Gerade Kinder und Jugendliche sind - vor allem in den ersten Jahren des Geschichtsunterrichts - durch historische Differenz- oder Alteritätserfahrungen in hohem Maße faszinierbar und entsprechend lernbereit. Ein probates Mittel des Schülerbezuges ist die explizite Ansprache. Mit ihr läßt sich die Themenauswahl begründen, eine gewählte Interpretationsperspektive erläutern, und wenn sie inhaltsnah erfolgt, dann nimmt sie die Lernenden genau dort ernst, wo es um die Sache geht. Der Schülerbezug verliert dann das Odium einer bloß taktischen

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Maßnahme, die den lernenden Subjekten keine wirklich eigenen, auch 'eigensinnigen' historischen Orientierungsbedürfnisse zubilligt, sondern nur in die Pflicht nimmt, politisch erwünschte und wissenschaftlich beglaubigte Wissensvorräte anzusammeln. 4. Unterrichtsbezug: Brauchbar ist ein Schulbuch dann, wenn mit ihm im Unterricht praktisch gearbeitet werden kann. Der Arbeitsbuchcharakter ist also unverzichtbar. Ein Schulbuch, an welche Lerngruppe auch immer es sich wenden mag, das nur eine historische Darstellung enthält, ist völlig ungeeignet zur Förderung der oben angedeuteten Kompetenzen des Geschichtsbewußtseins. Es suggeriert als Lernprozeß die bloße Rezeption von Wissensvorräten und vernachlässigt unzulässig die aktive und produktive Seite des Geschichtsbewußtseins. Eigene Urteils- und Argumentationsfahigkeit im Felde der historischen Orientierung aktueller Lebenspraxis ist ein unverzichtbares (und überdies hoch konsensfähiges) Lernziel des Geschichtsunterrichts, und dieses Ziel kann mit einer Darstellung, die den Schülerinnen und Schülern keinen Freiraum zur Entfaltung von Argumentations-, Kritik- und Urteilsfähigkeit bietet, nicht erfüllt werden. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, ein Geschichtsbuch als Arbeitsbuch zu gestalten. Es kann so auf den Unterricht bezogen werden, daß seine Darstellungsform durch ein Gliederungsprinzip nach Unterrichtseinheiten geprägt wird. Es kann das Element des Autorentextes, also die historischen Darstellung, zugunsten der Präsentation von Quellenmaterial und Interpretationsanregungen zurücktreten lassen, so daß die Schülerinnen und Schüler (mit Hilfe der Lehrer) sich mit den gebotenen Materialien eine eigene Darstellung erarbeiten müssen. Es kann aber auch den Darstellungsteil so ausgestalten, daß eine nachvollziehbare historische Deutung gegeben und den Schülerinnen und Schülern angesonnen wird. Mit solchen Darstellungen läßt sich das Buch auf tiefsitzende Erwartungshaltungen der Schüler (und ihrer Eltern, von den Lehrern ganz zu schweigen) ein, und da eine solche Erwartung ja auch eine Lernchance darstellt, ist dagegen nichts einzuwenden. Allerdings müssen neben die Darstellung Materialien treten, die mehr sind als bloße Illustrationen und Bestätigungen der Darstellung. Grundsätzlich muß das Schulbuch die Möglichkeit eröffnen, die angebotenen Deutungen zu überprüfen und eigene Deutungen sachgerecht zu erarbeiten oder aber aus den Quellenteilen historische Zusammenhänge durch selbständige Interpretation (neben der Autorendarstellung oder ergänzend zu ihr) zu erstellen. Ein unterrichtsmethodisch hochwillkommenes Mittel zur Anregung selbsttätigen Lernens sind Arbeitsaufträge, die sich an Darstellungen

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und Quellen anschließen. In ihnen wird der Unterrichtsbezug unmittelbar greifbar. Sie müssen daher auch eine Reihe von Bedingungen erfüllen, die die unterrichtspraktische Brauchbarkeit der von ihnen angesprochenen Materialien betrifft: Sie müssen klar und präzise sein, in sich stimmig, das Material erschöpfen, eine erkennbare didaktische und methodische Funktion haben, unterschiedliche Anforderungen und Lernzielebenen berücksichtigen, methodische und pragmatische Fähigkeiten einüben und Einsichten in Zusammenhänge und historische Ordnungskategorien anregen. Sie sollten Suggestivfragen und bloße Entscheidungsfragen vermeiden, da damit das entscheidende Lernelement der Selbständigkeit, des eigenen Denkens und Argumentierens, eingeklammert wird. 4. Brauchbarkeit zur historischen Wahrnehmung Die Brauchbarkeit eines Schulbuchs zur historischen Wahrnehmung hängt im wesentlichen an drei Eigenschaften: 1. an der Art, wie die Materialien präsentiert werden, 2. an der Mehrdimensionalität der präsentierten historischen Erfahrungsinhalte und 3. an der Multiperspektivität in der Darstellung historischer Sachverhalte. 1. Präsentation der historischen Materialien: Wenn man historisches Lernen überwiegend als Prozeß des Wissenserwerbs betrachtet, dann geht ein entscheidendes Lernpotential verloren: die historische Wahrnehmung oder Erfahrung. Sie hat eine eigene Faszinationskraft, die insbesondere auf der Ebene der sinnlichen Anschauung liegt. Geschichte muß gerade bei Kindern und Jugendlichen auch die Sinne ansprechen - ein Erfordernis, dem nicht nur der übliche schulische Geschichtsunterricht kaum gerecht wird. Auch die Schulbücher folgen nur allzu oft dem Vorurteil, Ästhetik sei eine Sache der Darstellung historischer Einsichten und nicht ein Faktor der Einsicht selber. Schulbücher müssen durch die Art und Weise, wie sie die Vergangenheit in der Form unterschiedlicher Materialien präsentieren, historische Wahrnehmungen und Erfahrungen anregen. Sie müssen den Kindern und Jugendlichen die Augen für historische Differenzen, für unterschiedliche Zeitqualitäten des menschlichen Lebens öffnen. Sie dürfen also nicht bloß schon gedeutete historische Erfahrungen, immer schon kognitiv verarbeitete Wahrnehmungen der Vergangenheit präsentieren. Bilder haben hier eine besonders wichtige Funktion. Lange Zeit überwiegend zu illustrativen Zwecken eingesetzt, haben sie mit Recht in der jüngeren Schulbuchproduktion zunehmende Bedeutung und Selbständigkeit im Verhältnis zu den Texten erlangt. Sie dürfen also keine bloß illustrative Funktion mehr haben, sondern so etwas wie

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Quellen einer genuin historischen Erfahrung abgeben; sie müssen Deutungen anregen und zulassen, Vergleiche ermöglichen, vor allem aber die Besonderheit, Fremdheit, Alterität der Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwartserfahrung der Schülerinnen und Schüler eingängig machen und als Herausforderung eines deutenden Verständnisses präsentieren. Freilich darf das Gebot einer ästhetischen Verlockung der Schülerinnen und Schüler zur historischen Erfahrung nicht dazu führen, daß die Bilder in keinem erkennbaren Zusammenhang mehr mit den Textmaterialien und dem Darstellungsteil stehen. Es muß vielmehr so sein, daß ihre Faszination zur Erweiterung des Erfahrungsbereichs auf andere Materialien und zur Deutung des jeweils Erfahrenen mit Hilfe der Darstellungsteile anregt. Karten und Kartenskizzen sind noch bildnah, aber zugleich abstrakter und einseitiger. Sie verdeutlichen die Raumdimension historischer Vorgänge, und das wirft das schwierige Problem auf, wie die Statik des Kartenbildes zeitliche Erstreckung und zeitlichen Wandel sinnenfällig macht. Grundsätzlich ist das mit Bewegungssymbolen und Farbschattierungen möglich, aber nur zu oft gerinnt der historische Prozeß im Kartenbild zu einer statischen Größe. Diese Zeitdominanz gilt auch für Statistiken und graphische Darstellungen. Wenn sie synchrone Phänomene veranschaulichen, dann müssen sie, wenn irgendmöglich, diachrone Verweise enthalten, sich also auf ein Früheres und Späteres beziehen, damit die Schülerinnen und Schüler in der Anschaulichkeit bildlich oder graphisch präsentierter einzelner Zeiten den übergreifenden Zeitzusammenhang nicht übersehen, in dem die jeweils dargestellten Sachverhalte ihren historischen Stellenwert haben. Für das Textmaterial ist es zunächst einmal wichtig, daß sein Erfahrungswert deutlich gemacht wird, es also klar vom Darstellungsteil abgegrenzt wird. Wenn es historiographische Texte enthält, dann müssen diese von den eigentlichen Quellentexten deutlich unterschieden werden. Da die Textquellen Erfahrungen vermitteln, Vergangenheit in ihrer Eigenart und zeitlichen Differenz zur Gegenwart präsentieren sollen (und an ihnen überdies die methodischen Prozeduren des historischen Denkens eingeübt werden müssen), dürfen sie auf gar keinen Fall bloß illustrativen Charakter im Verhältnis zur Darstellung haben. Sie dürfen auch umfangsmäßig nicht so kurz sein, daß sie keine wirkliche Vorstellung von vergangenen Lebensverhältnissen oder Vorgängen vermitteln können. Schließlich müssen sie in ihrer Auswahl die wichtigsten Erfahrungsbereiche abdecken. Für sie gilt ähnliches wie für die Bildquellen: Sie müssen ansprechenden, herausfordernden, anregenden Charakter haben, Fragen induzieren und problembezogen interpretierbar sein. Ihre Funktion als Bezugs-

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großen historischer Deutungen soll durch Arbeitsaufträge deutlich gemacht werden, die nicht nur ihren Informationsgehalt erschließen, sondern auch den Stellenwert ansprechen sollen, den die jeweiligen Informationen in übergreifenden historischen Zusammenhängen haben. 2. Mehrdimensionalität der historischen Erfahrung: Ein Schulbuch muß die wichtigsten Dimensionen der historischen Erfahrung präsentieren. Diese Dimensionen betreffen die synchrone und eine diachrone Gliederung des Raumes der historischen Erfahrung: In synchroner Hinsicht geht es um die Erfahrungsbereiche der Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Umwelt und Kultur. Alltag und Erfahrung der Betroffenen stellen keinen eigenen Bereich der historischen Erfahrung dar, sondern sind einem erweiterten Kulturverständnis einzuordnen. Anders ist es bei der Umweltproblematik. Sie liegt quer zu den genannten Unterscheidungen Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur und muß daher als eigener historischer Erfahrungsbereich definiert werden. Bei der Präsentation dieser Erfahrungsdimensionen muß ihre Differenziertheit und ihr Wechselverhältnis, ihre innere Bezüglichkeit und Vermittelbarkeit am präsentierten historischen Material erscheinen. In diachroner Hinsicht geht es um die Zeitebene langfristiger Veränderungen auf der Ebene von HandlungssiruAtfi/ren auf der einen und um kurzfristige Veränderungen auf der Ebene von Ereignissen auf der anderen Seite. Es versteht sich von selbst, daß diese beiden Ebenen grundsätzlich aufeinander bezogen werden und in diesem inneren Zusammenhang auch zur wahrnehmbaren Erscheinung gebracht werden müssen. 3. Multiperspektivität (auf der Ebene der Betroffenen): Historische Erfahrung sollte grundsätzlich multiperspektivisch präsentiert werden. Es muß den Schülerinnen und Schülern an dazu geeigneten Materialien (aber auch in der Darstellung selbst) deutlich gemacht werden, daß ein und derselbe Sachverhalt bei den davon Betroffenen unterschiedlich, ja gegensätzlich wahrgenommen werden kann. Daher eignen sich thematisch zur multiperspektivischen Präsentation der historischen Erfahrung vor allem Konflikte. Mit ihrer multiperspektivischen Präsentation verliert die historische Erfahrung den falschen Schein reiner Tatsächlichkeit; sie gewinnt die Züge lebendigen menschlichen Lebens in der Vergangenheit und regt schon im Vollzug der empirischen Wahrnehmung die deutende Aktivität des Geschichtsbewußtseins der Schülerinnen und Schüler an. Sie läßt ihnen gar keine andere Wahl, als argumentierend Stellung zu nehmen.

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5. Brauchbarkeit zur historischen Deutung Erst durch die Deutungsarbeit des Geschichtsbewußtseins wird aus den wahrgenommenen Phänomenen der Vergangenheit so etwas wie eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte. Diese Deutungsleistung betrifft zentral den historischen Charakter der zu deutenden Sachverhalte der Vergangenheit: Die jeweils wahrgenommenen Sachverhalte der Vergangenheit müssen im Zeitzusammenhang mit anderen als Geschichte interpretiert werden. Das Schulbuch muß die Möglichkeit eröffnen, solche Interpretationen in einer bestimmten Weise zu leisten: Sie müssen 1. den fachlichen Standards der Geschichtswissenschaft entsprechen, 2. an und mit ihnen müssen methodische Fähigkeiten eingeübt werden, 3. Prozeßhaftigkeit und Perspektivik von Geschichte eingesehen und schließlich 4. an der historischen Darstellung des Buches selber die für ihre Überzeugungskraft maßgebenden sprachlichen Bedingungen abgelesen werden können. 1. Fachliche Standards: Daß ein Schulbuch den fachlichen Standards der Geschichtswissenschaft entsprechen soll, kann nicht heißen, daß es einfach das wiederzugeben hat, was die Fachwissenschaft für den jeweiligen Erkenntnisstand hält. Sieht man einmal von der Frage ab, ob es einen solchen Erkenntnisstand als fixe Größe überhaupt gibt, dann kann sich das Schulbuch auf historische Forschung nur als Mittel zur Erreichung seiner spezifisch didaktischen Zwecke beziehen. Es ist allerdings dem Forschungsstand als einer Art 'Vetoinstanz' verpflichtet: Es darf keine sachlichen Fehler enthalten, und das heißt auch: Es darf keine historischen Interpretationen präsentieren, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand widersprechen. Das Schulbuch sollte auch in seiner Zitierweise, in der Gestaltung von Anmerkungen, von Quellennachweisen und Literaturangaben im wesentlichen den Gepflogenheiten der Fachwissenschaft entsprechen, und das heißt auch: bei der Präsentation von Quellen Kürzungen, Auslassungen und Bearbeitungen kenntlich machen. 2. Methodische Fähigkeiten: Die eigentliche Entsprechung des Schulbuchs zur Fachwissenschaft liegt auf einer ganz anderen Ebene als derjenigen eines wie immer präsentierten Forschungsstandes: Das Schulbuch muß einen deutenden Umgang mit der historischen Erfahrung nahelegen, der den wichtigsten methodischen Prinzipien des historischen Denkens entspricht, für die die Geschichte als Fachwissenschaft einsteht. Es muß die wichtigsten Verfahren des historischen Denkens präsentieren, und zwar so, daß sie praktisch eingeübt werden können: die Entwicklung von Fragestellungen, die Bildung und Überprüfung von Hypothesen, die Erschließung und Analyse des historischen Materials, eine kritische Anwendung von übergreifenden Kategorien und Deutungsmustern und schließlich eine sachliche Dar-

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Stellung. Es muß nachvollziehbare und überprüfbare Erklärungen bieten, darf also nicht bei bloßen Tatsachenbehauptungen stehenbleiben, muß grundsätzlich monokausale Argumentationen vermeiden und die prinzipielle Offenheit der historischen Deutung für multikausale Argumentationen betonen. Ferner muß es historisches Wissen argumentativ darstellen, also jeden Schein einer dogmatischen Gewißheit und Endgültigkeit vermeiden. Schließlich müssen die Schülerinnen und Schüler am Schulbuch auch lernen können, welche Möglichkeiten und welche Grenzen die historische Erkenntnis hat: Sie müssen zur Reflexion methodologischer und wissenschaftstheoretischer Probleme, natürlich in didaktisch gebotener Grundsätzlichkeit und Einfachheit, angeregt werden. 3. Prozeßcharakter der Geschichte und Multiperspektivität auf der Ebene der Betrachter: Das Schulbuch muß in seinem Deutungsangebot an die Schülerinnen und Schüler Geschichte als Prozeß charakterisieren, also statische Geschichtsbilder vermeiden. Das gilt nicht bloß für einzelne Schulbuchteile, in denen oft aus Gründen der gebotenen Kürze der Veränderungsaspekt zu kurz kommt, sondern insbesondere den Gesamtzusammenhang der einzelnen Kapitel, ja der einzelnen Bände des Unterrichtswerkes. Dieser Zusammenhang muß als Deutungsproblem präsentiert und angesprochen werden und sich nicht einfach aus der Gliederung und der puren Abfolge von Themen ergeben. Soll nicht die falsche Vorstellung von 'der' Geschichte als einer fixen Gegebenheit (unbeabsichtigt) durch die Präsentation von Themen und Epochen erzeugt werden, dann müssen übergreifende Perspektiven der historischen Deutung als solche angesprochen werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen können, daß ein solcher Zusammenhang ohne Bezug auf ihre Gegenwart gar nicht hergestellt werden kann, daß historische Deutungen perspektivischen Charakter haben und daß es verschiedene Perspektiven gibt, die argumentativ aufeinander bezogen und kritisch aneinander abgearbeitet werden können und müssen. Auch hier läßt sich von Multiperspektivität sprechen, aber im Unterschied zur Multiperspektivität in der Präsentation historischer Erfahrungen handelt es sich hier um Multiperspektivität auf der Ebene historischer Deutungen. Das Schulbuch muß auch auf dieser Ebene multiperspektivisch verfahren, wenn es dogmatische Einstellungen in der historischen Deutung vermeiden will. 4. Uberzeugungskraft der Darstellung: Die Autorentexte müssen so angelegt werden, daß an und mit ihnen die genannten Gesichtspunkte der historischen Deutung wahrgenommen und eingeübt werden können. Ihre Begrifflichkeit muß nachvollziehbar sein; ihre Anschaulichkeit der Eingängigkeit historischer Wahrnehmung und Erfahrung entsprechen, und zugleich müssen sie eine Emotionalisierung

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durch Leerformeln und suggestive Bildsprache vermeiden. Ihre Argumentation muß durchsichtig sein, und insbesondere müssen sie Unterschiede und Zusammenhänge von Sachurteilen, Hypothesen und Werturteilen grundsätzlich erkennbar machen. 6. Brauchbarkeit zur historischen Orientierung Die Frage, warum es eigentlich nötig ist, Geschichte zu lernen, begleitet den Geschichtsunterricht als ständige Herausforderung. Eine Antwort auf diese Frage sollte nicht seltenen Ausnahmesituationen des Unterrichts vorbehalten bleiben, sondern zur Routine des historischen Lernens selber gehören. Das heißt nun nicht, daß ununterbrochen praktische Relevanzfragen reflektiert werden müssen, sondern nur: daß im Vollzug historischer Deutungen deren Funktion zur Orientierung gegenwärtiger Lebenspraxis, zur historischen Erklärung der Gegenwart und damit zusammenhängender Zukunftsperspektivierung angesprochen werden muß. Ein gutes Schulbuch regt auch dazu an, indem es 1. die ihm eigene übergreifende Perspektive auf den Fluchtpunkt der Gegenwart der Schülerinnen und Schüler bezieht und damit verbundene Probleme des historischen Selbstverständnisses und der Einordnung der eigenen Gegenwart anspricht, 2. in die Prozedur der historischen Urteilsbildung einführt und 3. mit Gegenwartsbezügen arbeitet. 1. Ubergreifende Perspektiven: Die praktische Orientierungsfunktion historischer Darstellungen wird bei Schulbüchern zumeist negativ angesprochen, in der Form nämlich, daß europazentrische oder gar national ausgerichtete Perspektiven vermieden werden sollen. Ein solches Erfordernis betrifft die historische Identität der Schülerinnen und Schüler. Es sollte aber nicht bloß einer Vermeidungsstrategie folgen, also die Bildung ethnozentrischer historischer Perspektiven verhindern oder erschweren, sondern es sollte vielmehr gezielt die Struktur und Dimension historischer Identität thematisieren, also die Konstellation des Eigenen und des Anderen in der historischen Wahrnehmung und ihrer Deutung ansprechen. Die Rolle, die die historische Deutung im Selbstverständnis und im Gegenwartsverständnis der Lernenden spielt, muß reflektierbar sein. Das Schulbuch sollte seine Perspektive also nicht einfach an den historischen Dingen haften lassen, sondern sie gezielt auf die Identitätskonstellation der Schüler beziehen und dadurch das Lernpotential subjektiver Geltungsansprüche aktivieren. 2. Historische Urteilsbildung: Viele Schulbücher vermeiden explizite historische Urteile und bemühen sich um den Anschein strikter Neutralität. Damit verschließen sie den Schülerinnen und Schülern eine

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Lernchance. Es wäre didaktisch sinnvoller, historische Urteile mit ihrem Wertbezug und ihrer argumentativen Verwendung von Erfahrungen und Deutungen zu thematisieren, damit die Schülerinnen und Schüler lernen können, wie man begründend historisch urteilt. Wichtig dabei ist es, daß solche Werturteile nicht abgehoben von den historischen Sachverhalten und den Prozeduren ihrer methodischen Interpretation als bloß subjektive Angelegenheit der Schülerinnen und Schüler erscheinen, sondern im Gegenteil: als spezifisch historische Werturteile systematisch auf das Selbstverständnis der in der Vergangenheit Beteiligten rekurrieren. 3. Gegenwartsbezüge: Orientierende Perspektivierungen und historische Urteile sind ohne Gegenwartsbezüge in der Präsentation und Deutung der Vergangenheit nicht möglich. Ein Schulbuch, das dem Gesichtspunkt Rechnung trägt, daß historisches Lernen Orientierungskompetenz erbringen muß, wird mit Gegenwartsbezügen in orientierender Absicht arbeiten. Damit vermeidet es die Gefahr eines falschen historischen Objektivismus, kann aber in sein Gegenteil, einen historischen Präsentismus verfallen, wenn es nicht den Gegenwartsbezug selber als ein Mittel verwendet, die Eigenart der Vergangenheit zu verdeutlichen, also die Erhellung der Gegenwart durch den Spiegel der Vergangenheit dazu benutzt, die zeitliche Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart auszumessen. Dadurch wird die Orientierung, die die historische Erfahrung und Deutung für die Gegenwart leistet, allererst historisch. Gegenwartsbezüge verwischen die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht, sondern loten sie so aus, daß im zeitlichen Abstand der Vergangenheit von der Gegenwart ein Stück Zukunftschance für die Gegenwart sichtbar wird. Damit würde ein Schulbuch der Tatsache Rechnung tragen, daß in den Kindern und Jugendlichen, an die es sich wendet, eine Zukunft beschlossen liegt, deren Ausgestaltung auch davon abhängt, mit welchem Geschichtsbewußtsein sie ausgestattet werden.

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Für eine Didaktik historischer Museen - gegen eine Verengung im Streit um die Geschichtskultur

Sir Andrew: 0 ! had I but followed the arts! Sir Toby: Then hadst thou had an excellent head of hair. Shakespeare^^

Historische Museen haben gegenwärtig Konjunktur. Man sollte meinen, das käme auch der Geschichtsdidaktik als derjenigen Disziplin zugute, die sich schon seit vielen Jahren nicht mehr nur um das Lehren und Lernen von Geschichte in der Schule kümmert, sondern sich auch mit der praktischen Wirkung historischen Wissens in den verschiedensten Lebensbereichen beschäftigt, also auch den Themenkomplex 'Geschichte im Museum' bearbeitet. 140 Dies ist aber in einer ganz erstaunlichen Weise nicht der Fall. Typisch dafür ist die Tatsache, daß in die Sachverständigenkommission der Bundesregierung, die eine Konzeption für das geplante Deutsche Historische Museum in Berlin erarbeitet hat, 141 kein Fachdidaktiker berufen wurde. (Daß es bei der Planung des Hamburger Museums der Arbeit anders war 1 4 2 , muß demgegenüber als rühmliche Ausnahme gelten.) Auch in der heftigen und kontroversen Diskussion über die Museumspläne der Bundesregierung hat die Geschichtsdidaktik nicht das Gewicht einer vernehmlichen Stimme bekommen. Dies liegt weniger daran, daß sie sich, nachdem die Hoch-Zeit curricularer Reformstrategien im Bildungswesen vorbei ist, in den Schmollwinkel verschmähter und mißachteter Bildungskompetenz zurückgezogen hat, und es liegt auch nicht daran, daß sie in der aktuellen Debatte um die historische Iden-

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Twelfth Night or What You Will, Act I, Sc. 3. Beispiele: Annette Kuhn/Gerhard Schneider (Eds): Geschichte lernen im Museum. Düsseldorf 1978; Geschichtsdidaktik 9 (1984), H. 1: Geschichte im Museum. Sachverständigenkommission für die Konzeption des geplanten Deutschen Historischen Museum (sie) in Berlin: Konzeption für ein "Deutsches Historisches Museum" 1986; vgl. dazu: Geschichtswerkstatt Berlin (Ed.): Die Nation als Ausstellungsstück. Planungen, Kritik und Utopien zu den Museumsgründungen in Bonn und Berlin. Hamburg 1987. Inzwischen liegt eine umfassende Dokumentation zur Gründung des Deutschen Historischen Museums vor: Stölzl,Christoph (Ed.): Deutsches Historisches Museum. Ideen - Kontroversen - Perspektiven. Frankfurt/Main 1988. Gutachten Museum der Arbeit Hamburg. Inhaltliche Planung und Errichtung. Vorgelegt von der Planungskommission Museum der Arbeit. 1986

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tität der Deutschen keine interessanten Argumente zu bieten hätte. Im Gegenteil: Wer diese Debatte, die aufs engste mit dem Streit um die neu zu gründenden Museen zusammenhängt, aufmerksam verfolgt hat und sich in der geschichtsdidaktischen Diskussion der letzten zehn Jahre etwas auskennt, wird wohl kaum um den Eindruck herumkommen können, daß es ein erstaunliches Mißverhältnis zwischen den erreichten Standards fachdidaktischer Argumentation um historische Identität und Geschichtsbewußtsein auf der einen Seite und der politischen und fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung über die gleichen Themenkomplexe auf der anderen gibt. Es wäre reizvoll, den Gründen für dieses Mißverhältnis im einzelnen nachzugehen. Ich möchte aber in den folgenden Überlegungen nicht dem gekränkten Selbstbewußtsein der Fachdidaktik Ausdruck geben, sondern auf eine systematische Lücke im Diskurs über historische Museen hinweisen. Dieser Diskurs wird im wesentlichen von Fachhistorikern und Politikern bestimmt (wobei die Grenze zwischen diesen Gruppen verschwimmt und oft in der Brust des Historikers zwei Seelen wohnen, die professionalisierte Fachlichkeit neben dem politischen Willen zur Macht). Gemeinsam ist beiden Gruppen eine Vorstellung davon, worauf es bei der Konzeption und der Richtung historischer Museen ankommt: Die jeweils aus politischen Gründen gewünschte oder fachwissenschaftlich für richtig gehaltene historische Auffassung muß als entscheidende Vorgabe an die Gestaltung des Museums festgeschrieben werden. Es geht also vor allem um die durch das Museum zu vermittelnde 'Botschaft', um ein 'Geschichtsbild'. Um seine Durchsetzung werden die Kämpfe an der semantischen Front der politischen Kultur ausgefochten. In einer Hinsicht sind sich die Kontrahenten dieses Kampfes einig: Ist erst die Botschaft fixiert, dann versteht sich der Rest, also alles das, was dann im Museum praktisch gemacht wird, nur noch als Vollzug, als - wie das dann übliche Wort lautet: - 'Umsetzung' dieser Botschaft in sinnliche Erfahrung für Besucher. Die vorgegebene Deutung wird durch das Museum nur realisiert, und Didaktik ist dann nichts anderes als die Strategie und Technologie solcher Realisation. Museumsdidaktik ist 'Umsetzungs'-Technologie und sonst nichts. Das ist die verbreitete Auffassung. Die Geschichtsdidaktik hat daher auch nichts zu vermelden, wenn es um die Festlegung der Zielvorgaben für historische Museen geht. Als Beleg für dieses Didaktikverständnis möchte ich eine Passage zitieren, die das Sachverständigengutachten für das "Deutsche Historische Museum" unter der Überschrift "Didaktischer Bereich" bietet: "Die beste Didaktik in einem Museum ist die klar gegliederte, mit einfachen, räumlich optischen Erkennbarkeiten und Leitmotiven arbei-

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tende Abfolge von Räumen, Themen und Objekten. Entscheidend für das Gelingen ist deshalb eine Architektur, die das bloße Aneinanderreihen von Sälen oder Stockwerken vermeidet. Statt dessen muß das Themen- und Funktionsprogramm in klare Bauformen übersetzt werden, die dem Besucher dieses Programm einsichtig machen. Daneben wird das Deutsche Historische Museum die gesamte Palette der modernen Museumsdidaktik verwenden und sich dabei in breitem Maße an den heute bereits fortgeschrittenen Methoden der naturwissenschaftlichen Bildungszentren ... orientieren. Diese Palette reicht von der mehrsprachigen Beschriftung über Modell, bewegliches Modell, Diorama, Replik, Inszenierung, Begleitdokumentation, Fotografie, Dia-Show, abrufbares Tonband, Video, Film, bis hin zum dialogfähigen Informationsmedium ... In der museumspädagogischen Abteilung wird darüber hinaus an der Fortentwicklung der didaktischen Denkansätze zu arbeiten sein, um die Palette der bekannten und bewährten didaktischen Methoden entscheidend zu erweitern." (S. 23 f.). Es wird also ein "Programm" "übersetzt", und Didaktik hat es mit "Methoden" zu tun, wie vorgegebene historische Auffassungen in sinnlicher Erfahrung für Besucher umgesetzt werden sollen. Die (sachgerechte) Verwendung des Wortes 'Methoden' verrät, worum es hier bestenfalls geht: um eine Museums-Methodik. Den Verfassern des Gutachtens ist der Unterschied zwischen Didaktik und Methodik sowenig geläufig, wie die geschichtsdidaktische Argumentation der letzten anderthalb Jahrzehnte, in der das anwendungstechnologische Verständnis von Fachdidaktik wenn nicht weggearbeitet so doch erheblich relativiert worden ist. Was für Gründe außer einem gekränkten Selbstbewußtsein der Fachdidaktik sprechen aber dafür, in dieser Ignoranz der Strategen für historische Museen eine Argumentationslücke zu sehen? Es müßte gezeigt werden, daß eine spezifisch geschichtsdidaktische Argumentation den Diskussionsraum produktiv erweitert: Erfahrungsmöglichkeiten und Lernchancen historischer Museen müßten freigelegt werden, die noch gar nicht im Blick sind. Eine solche Erweiterung des museologischen Sichtfeldes müßte von der Tatsache ausgehen, daß die durch ein Museum vermittelte sinnliche Erfahrung nicht hinreichend als bloße Erfüllung einer vorgegebenen Deutung betrachtet werden kann. Das Eigenrecht und Eigengewicht der sinnlichen Erfahrung von Geschichte muß gegen ihre Instrumentalisierung zur bloßen Veranschaulichung von Deutung zur Geltung gebracht werden. Neben politischen Zielvorgaben und fachwissenschaftlichen Interpretationsvorgaben an ein historisches Museum gibt es auch den relativ eigenständigen Bereich 'didaktischer' Vorgaben, die nicht hinreichend aus den anderen abgeleitet werden

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können. Im Rahmen solcher Vorgaben könnten politische Zwecke und fachliche Deutungen in ein produktives Verhältnis zu anderen Determinanten des historischen Museums gebracht werden, vor allem in ein produktives und nicht restriktives Verhältnis zur sinnlichen Anschauung als (relativ) eigenständigem Bereich des Geschichtsbewußtseins. Das Medium der sinnlichen Anschauung müßte als fundamentale Bestimmungsgröße in den Diskurs über die Konzeption historischer Museen aufgenommen und eigens bedacht und gewürdigt werden. Worin unterscheidet sich die Präsentation von Geschichte durch historische Museen von der Präsentation von Geschichte durch fachwissenschaftliche Historiographie und von der Verwendung von Geschichte zu politischen Zwecken? Worin liegt die Spezifik und das Eigenrecht musealer Präsentation von Geschichte? Mit dieser Frage soll dem historischen Museum ein didaktisches Eigenrecht gegen seine Indienstnahme durch Wissenschaft und Politik zugesprochen, ihm sein eigener Status in der öffentlichen Auseinandersetzung um Formen und Inhalte des Geschichtsbewußtseins zugewiesen werden. Um diesen musealen Bereich der Präsentation von Geschichte als Gegenstand geschichtsdidaktischer Reflexion auszumessen, ist eine Vorfrage zu klären: In welchen kulturellen Bereich des öffentlichen Lebens gehören eigentlich historische Museen? Für die aktuelle Debatte ist das keine Frage: Ohne besondere Begründung wird vorausgesetzt, daß es um den Bereich der politischen Kultur geht. Dies ist insofern richtig, als die historischen Museen zur öffentlich wirksamen Formulierung historischer Identität beitragen. So stellt ja bekanntlich die für die Deutschen besonders brisante Form historischer Identität, die nationale nämlich, einen der Kernpunkte in der Kontroverse über das 'Deutsche Historische Museum' dar. Und historische Identität ist ein wesentlicher Faktor der politischen Kultur. Insofern gehören historische Museen dazu, aber zugleich geht die von ihnen geleistete Präsentation von Geschichte qualitativ und substantiell über diesen Bereich hinaus. Niemand wird bestreiten können, daß die Ausstellung von Geschichte in Museen etwas mit ästhetischer Erfahrung, also im weitesten Sinne des Wortes mit 'Kunst' zu tun hat. Es gibt also ein Element der Geschichtsdarstellung in Museen, das politisch bedingt und politisch relevant sein mag, aber nicht selber im Kern politisch ist, sondern eine andere, eben eine ästhetische Qualität hat. Dies gilt übrigens nicht nur für die historischen Museen, sondern für das Phänomen Geschichtsbewußtsein überhaupt: Es ist eine Verkürzung, wenn es ausschließlich unter politischen Gesichtspunkten thematisiert wird, da in ihm ästhetische Gesichtspunkte ebenso eine Rolle spielen wie ratio-

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nal-wissenschaftliche, und beides ist nicht unter Politik subsumierbar. ^143 Es empfiehlt sich also, wenn Konzeptionen historischer Museen erörtert werden, nicht vorschnell nur den Bereich der politischen Kultur ins Auge zu fassen. Ich schlage vor, den Begriff 'Geschichtskultur' zu verwenden. 144 Mit ihm sollte der Bereich der Lebenspraxis umschrieben werden, in dem historische Museen angesiedelt sind und wirken. Geschichtskultur ist der durch Geschichtsbewußtsein entscheidend geprägte Teil der Kultur, und da Geschichtsbewußtsein durch nicht-politische Faktoren ebenso geprägt wird wie durch politische und durch nicht-kognitive ebenso wie durch kognitive, gehört es nur teilweise zur politischen Kultur und nur teilweise zur Wissenschaftskultur; es ist genauso ein Teil der ästhetischen Kultur, der Kunst. Geschichtskultur enthält also Elemente von Wissenschaft, Politik und Kunst in sich - vereinigt in der gemeinsamen Bezugsgröße Geschichte. Geschichtsbewußtsein 145 als Bestimmungsgröße von Geschichtskultur ist mehr als bloß ein Bewußtsein von der Vergangenheit, also ist auch Geschichtskultur mehr als 'bloße' Erinnerung, als bloß vergangenheitsorientiert. Natürlich erinnert das Geschichtsbewußtsein an die Vergangenheit; die Geschichtskultur ist die Anstrengung einer Gesellschaft, sich über kollektive Erinnerungen ein tragfähiges Selbstverständnis zu sichern, sich ihre historische Identität zu wahren. Die Erinnerung an die Vergangenheit, die kulturelle Erinnerungsarbeit, die zum Leben jeder Gesellschaft gehört, geschieht jedoch um des Verständnisses der Gegenwart und um der Erwartung, der Perspektivierung von Zukunft willen. Geschichtsbewußtsein ist als Erinnerungsleistung zwar auf die Vergangenheit gerichtet, aber über die Vergangenheit zugleich auch auf Gegenwart und Zukunft; es ist ein Zeitbewußtsein, das die drei Zeitdimensionen umgreift, also Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung durch Vergangenheitsdeutung organisiert. Ich möchte im folgenden die drei schon genannten Dimensionen der Geschichtskultur in ihrem Wechselverhältnis ansprechen. Dabei geht es mir darum, eine Problemlage herauszuarbeiten, die die Besonderheit historischer Museen, ihre ästhetische Dimension, ihr Ansprechen 143 144

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Vgl. Rüsen, Jörn: Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart 1976. Vgl. dazu Rüsen, Jörn: Geschichtskultur als Forschungsproblem, in Fröhlich, Klaus; Grütter, Theodor Heinrich; Rüsen, Jörn: (Eds): Geschichtskultur. (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3 (1991/92)). Pfaffenweiler 1992, S.39-50; ders: Was ist Geschichtskultur? (Anm.121). Jeismann: Geschichte als Horizont der Gegenwart (Anm. 120).

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der Augen oder - wie man akademisch zu sagen pflegt: - ihre Rolle in der visuellen Kommunikation - betrifft. Zugleich damit möchte ich einen Aufgabenbereich der Geschichtsdidaktik umreißen, der in der historischen Museumsdidaktik eher unterbelichtet worden ist. Es geht also um die drei Dimensionen des Politischen, des Wissenschaftlichen und des Ästhetischen, oder - um es begrifflich-kategorial auszudrücken - um Macht, Wahrheit und Schönheit als fundamentale Gesichtspunkte der Geschichtskultur oder als wesentliche Qualifikation von Geschichten, die ihre Wirksamkeit im menschlichen Lebenszusammenhang betreffen. Diese drei Dimensionen und Kriterien stehen in einem ausgesprochenen Spannungsverhältnis. So pflegen Wissenschaftler und Politiker die ästhetische Dimension des Geschichtsbewußtseins als eine bloß sekundäre Größe anzusehen; sie instrumentalisieren 'Schönheit' zum bloßen Mittel, Wahrheits- und Machtansprüche sinnenfällig werden zu lassen. Das gilt vor allem für historische Museen: Der ästhetischen Qualität der Geschichtskultur wird dort kein Eigenwert zugebilligt, wo die zu präsentierende Geschichte selber zur Debatte steht und ausgearbeitet wird. Damit wird aber dieses für historische Museen zentrale Element von Geschichtskultur erheblich beeinträchtigt, ja im Grunde sogar verfälscht. Es zerfällt in zwei Aspekte der historischen Präsentation: Einmal wird es der ästhetischen Willfährigkeit optischer Reize unterworfen, mit denen vorgegebene Deutungen realisiert werden. Es wird zum Bilde dessen, was die Politiker wollen und die Wissenschaftler denken. Aber da die ästhetische Qualität des Geschichtsbewußtseins in dieser Instrumentalisierung nicht aufgehen kann, entwickelt sie zugleich ein Eigenleben. Sie stellt sich als Aspekt einer ästhetischen Widerborstigkeit dar, in der das Eigengewicht des Mediums der sinnlichen Anschauung sich gegen seine Indienstnahme zu politischen und kognitiven Zwecken zur Wehr setzt. Hier liegt ein in der aktuellen Debatte über historische Museen noch nicht hinreichend gewürdigter Gesichtspunkt. Das Medium der sinnlichen Anschauung kann selber zur Botschaft von Geschichte werden, es kann sich gegenüber den wissenschaftlich und politisch vorgegebenen Inhalten verselbständigen und sich als Darstellungsform selber inszenieren: Die ästhetische Form selbst kann zum historischen Inhalt werden, und dann wird die politisch-praktische und wissenschaftlich-kognitive Seite geschichtlicher Darstellungen sekundär, ja wesenlos. Ein besonders markantes Beispiel für diese Abspaltung des Mediums sinnlicher Anschauung, für sein Ausbrechen aus dem wissenschaftlichen und politischen Diskurs, mit dem es zugleich dort ungeahnte Möglichkeiten imaginativer Kraft zur Mobilisierung des Geschichts176

bewußtseins durch die Macht der Symbole entfaltet, ist der HitlerFilm von Hans-Jürgen Syberberg. 146 Es ist kein Zufall, daß Kunstprodukte wie dieser Film auf große Zustimmung der Kunstkritik stoßen und ihr fasziniertes Publikum unter den Intellektuellen finden, obwohl auf der anderen Seite die ästhetische Faszination, die von der ungehemmten Macht der Bilder in der Vergegenwärtigung historischer Erfahrungen ausgeht, in einem tief gebrochenen Verhältnis zu den politischen und kognitiven Inhalten steht, die zugleich mittransportiert und vermittelt werden. 147 Die Verselbständigung des Mediums der ästhetischen Anschauung setzt zwar die in ihm beschlossenen Gestaltungsmöglichkeiten gegen die Restriktionen politischer und wissenschaftlicher Instrumentalisierung frei, fordert jedoch zugleich einen hohen Preis: Die Macht des Bildes scheint nur als Wahnsinn des Gedankens durchsetzbar. Das gilt auch für ästhetisch weniger elaborierte Präsentationen historischer Erfahrung. Vergleicht man z.B. die Fernsehserie 'Holocaust', in der die politisch-moralische Botschaft und die historische Interpretation die medialen Möglichkeiten der Seifenoper beherrschten, mit der Serie 'Heimat', dann ist der Unterschied augenfällig: Die mit Recht gerühmte ästhetische Qualität der 'Heimat'-Serie rehabilitierte das Auge gegenüber dem Verstand in der Wahrnehmung von Geschichte und rückte die wahrgenommene Geschichte zugleich auch über die Art ihrer Darstellung näher an die wahrnehmenden Subjekte heran. Mit dieser spezifisch ästhetischen Qualität ging jedoch ein Verlust an historischer Aufklärung und politischer Orientierung einher. Es gab keine klar formulierte und durch die Bilder eindringlich und eindeutig transportierte 'Botschaft', kein als solches sichtbar werdendes 'Lernziel' der historischen Darstellung. Die Darstellung selber entfaltete eine Sogwirkung: Sie entführte ihre Adressaten in psychische Bereiche, wo klare Botschaften und Lernziele nicht greifen, wo aber nichtsdestoweniger lebenspraktisch wirksame psychische Dispositionen sich bilden und Wirklichkeit wahrgenommen und deutend verarbeitet wird. Damit möchte ich eine Entwicklung in der Geschichtskultur andeuten, die in der Debatte um Aufgabe und Konzeption historischer Museen kaum eine Rolle spielt, obwohl sie doch die Substanz dessen betrifft, was historische Museen an Geschichtsdarstellung leisten und zur Geschichtskultur ihrer Zeit beitragen können.

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Syberberg, Hans-Jürgen: Hitler, ein Film aus Deutschland. Reinbek 1978. Vgl. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München 1984; Kaes, Anton: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film. München 1987.

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Was geschieht hier? Wenn das Eigengewicht des Ästhetischen gegen seine Indienstnahme durch Wissenschaft und Politik zur Geltung gebracht wird und wenn die ästhetische Form sich gegenüber dem politischen und kognitiven Gehalt historischer Darstellungen verselbständigt; dann kann es zu einer Irrationalisierung und Entpolitisierung des Geschichtsbewußtseins in den Gefilden kommen, in denen es ästhetisch konstituiert ist. Der sinnlichen Faszination der geschichtlichen Erfahrung kommt dann keine politische und wissenschaftlichrationale Aufklärung mehr zu. Die Folgen einer solchen subversiven Ästhetik sind problematisch: Dort, wo historische Identität sich in tieferen Gefühlslagen der Subjekte bildet oder verankert ist, verliert sie wesentliche Dispositionen zu politischer Orientierung und rationaler Reflexion. Zumindest wird die historische Erfahrung, die über das Medium der sinnlichen Anschauung Zugang zu den Bildungsprozessen historischer Identität findet, von denjenigen Bereichen des menschlichen Selbstverhältnisses abgelenkt, wo Machtverhältnisse und rationales Argumentieren eine Rolle spielen. Die von Thomas Mann in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" geschilderte typisch deutsche Attitüde einer machtgeschützten Innerlichkeit ist ein gutes Beispiel dafür, was eine solche Verwerfung zwischen ästhetischer Bildung, Politik und Wissenschaft im Bereich der politischen Kultur bewirken kann. Eine abgespaltene Ästhetik historischer Erfahrung kann gerade dann, wenn es gilt, aktuelle Krisenerfahrungen diskursiv zu verhandeln und in politische Handlungsstrategien umzusetzen, eine ausgesprochene Blockadewirkung ausüben: Der schöne Schein verstellt den Blick auf die Wirklichkeit; die Geschichte, die als Inhalt rationaler Argumentation und politischer Orientierung dienen könnte, hat in ästhetisierter Form genau die Orientierungskraft verloren, die in Anspruch genommen werden müßte, um den Herausforderungen der Gegenwart begegnen zu können. Statt dessen fungiert sie als gewichtiger Beitrag zu einem kulturellen Gehäuse, in dem es sich am Rande des Abgrundes wohlig post-modern leben läßt. Es wäre völlig verfehlt, diesen verhängnisvollen Folgen einer dem Zugriff politischer und wissenschaftlicher Instrumentalisierung entfliehenden Ästhetik des Geschichtsbewußtseins dadurch begegnen zu wollen, daß dieser Zugriff noch fester wird. Das hätte lediglich die Konsequenz, den subversiven Charakter des Ästhetischen zu verstärken; denn es läßt sich grundsätzlich nicht auf die erwünschte Realisierungsfunktion politischer Interessen und wissenschaftlicher Interpretationen im Umgang mit der historischen Erfahrung beschränken: Als eigentümliches Medium der historischen Erfahrung und Deutung konstituiert es seinen eigenen Umgang mit der Geschichte. Die seit Piaton nicht abreißenden Versuche, die Dichter zu Propagandisten der Herrscher zu machen oder sie im Weigerungsfalle zu exilieren,

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scheitern a priori an der Grundsätzlichkeit und Ursprünglichkeit (und Unersetzlichkeit) der Kunst als Medium menschlicher Weltdeutung und Selbsterfahrung. Anstatt also über die Widerborstigkeit des Ästhetischen im Namen rationaler Strenge und politischer Eindeutigkeit historischer Botschaften zu klagen und anstatt sich den hoffnungslosen Versuchen hinzugeben, das Medium der sinnlichen Anschauung so zu bändigen, daß es in der Tat nur ein willfahriges Werkzeug zur Präsentation historischer Botschaften abgibt, sollten Wissenschaft und Politik sich im deutenden Umgang mit der historischen Erfahrung so verhalten, daß deren ästhetische Dimension in ihrem Eigengewicht anerkannt, daß also Raum geschaffen wird für das Deutungspotential der sinnlichen Anschauung. Der Einbildungskraft sollte Raum zum freien Spiel mit den anschaubaren Dokumenten der menschlichen Vergangenheit gewährt werden. Es müßte das freie Spiel der Einbildungskraft im Umgang mit der historischen Erfahrung in Gang gesetzt und gehalten werden, das die Zwänge politischer Herrschaftsansprüche und rationaler Stringenz in der historischen Erinnerungsarbeit relativiert. Seitdem es die philosophische Ästhetik gibt, ist sie nicht müde geworden zu betonen, daß dieses Spiel zu einem wesentlichen Faktor menschlicher Freiheit gehört. Wer die entpolitisierenden und irrationalisierenden Konsequenzen einer sich gegen Wissenschaft und Politik behauptenden Ästhetik der historischen Erfahrung als verhängnisvollen Mangel politischer Orientierung und diskursiver Rationalität in der Geschichtskultur beklagt, sollte sich wohl überlegen, an wen er eigentlich diese Klage richtet. Als Schelte irritierender ästhetischer Präsentationen von Geschichte ist sie nur geeignet, die Widerborstigkeit des Ästhetischen zu stärken. Als Selbstkritik am instrumentalisierenden Zugriff politischer Erzieher und fachwissenschaftlicher Aufklärer könnte sie andere Formen im Verhältnis der drei Dimensionen der Geschichtskultur in Kraft setzten und damit neue Wege in der Erinnerungsarbeit des Geschichtsbewußtseins eröffnen. Ich plädiere also für ein Verhältnis der drei Dimensionen der Geschichtskultur, in dem die ästhetische Seite ihr Potential an Bildungskraft ungeschmälert, ohne die Zwänge der Instrumentalisierung, einbringen kann. Dies ist freilich nur möglich, wenn zugleich auch das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Geschichtskultur aus der unklaren Gemengelage befreit wird, in der es sich in der gegenwärtigen Diskussion über historische Museen befindet. Jeder weiß, daß in der Debatte um unterschiedliche Museumskonzeptionen fachwissenschaftliche und politische Gesichtspunkte eine Rolle spielen, aber es ist im Einzelfalle recht unklar und schwer entscheid-

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bar, um was es jeweils konkret geht. Dies liegt daran, daß sich allzuoft politische Interessen hinter fachwissenschaftlichen Argumentationen verstecken (als ob sie es nötig hätten). Analog zum Fundamentalkriterium 'Schönheit', das die Ästhetik der Geschichtskultur reguliert, lassen sich für Politik und Wissenschaft entsprechende Kriterien angeben: Macht und Wahrheit. Im Verhältnis beider zueinander gibt es ähnlich wie in ihrem Verhältnis zur ästhetischen Dimension Instrumentalisierungsversuche mit verhängnisvollen Konsequenzen. Eine solche Instrumentalisierung tritt oft in der Form auf, daß politische Argumente unter wissenschaftliche subsumiert werden, in ihnen gleichsam verschwinden und umgekehrt. In beiden Fällen kommt es zu Verkürzungen und Störungen in der Geschichtskultur. Subsumiert die Wissenschaft die politische Seite der Geschichtskultur unter sich, dann treten Machtfragen im Gewände von Wahrheitsfragen auf, und das Ergebnis ist ein Dogmatismus historischer Deutungen mit zwangshaften Orientierungsansprüchen. Machtfragen verschwinden in Wahrheitsfragen, und dabei wird die Wahrheit zur Ideologie. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der orthodoxe Marxismus-Leninismus, in dem politische Entscheidungen letztlich (ideologisch) auf wahrheitsfahigen Einsichten beruhen sollen. In diesem Falle geht die Offenheit und Vieldeutigkeit historischer Erfahrungen verloren; ein Museum, das dieser Doktrin folgt, präsentiert die offizielle Lehre, und die sinnliche Anschauung der Vergangenheit verliert ihr mediales Eigengewicht in der historischen Deutung. Wird umgekehrt die Wissenschaft unter die Politik subsumiert, d.h. die entscheidenden Sinnkriterien historischer Deutung als nicht wahrheitsfähig, sondern als bloßer Ausdruck von Interessenlagen und Machtbestrebungen angesehen, dann führt dies zum Dezisionismus. Die Macht verliert gleichsam das Auge der Wahrheit; sie wird blind, einsichtslos, vom bloßen Willen zu sich selbst getrieben. Die Wissenschaft wird relativistisch; sie umgibt lediglich politisch gewünschte historische Legitimationen mit dem Schleier der Faktentreue. Sinn und Bedeutung der Fakten werden ihrer Kompetenz entzogen. (Wenn Historiker, die das Konzept eines historischen Museums entwickeln sollen, überwiegend über die Frage streiten, ob nur Originale ausgestellt werden sollen oder auch Remakes zulässig sind, dann entspricht diese Problemlage einem vorgängigen Verzicht der Wissenschaft auf Kompetenz für die Deutungen, in deren Licht die präsentierten Objekte als Momente einer Geschichte erscheinen.) Die geschichtstheoretische Debatte über das Verhältnis von Objektivität und Parteilichkeit der historischen Erkenntnis hat hinreichend

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klargemacht 148 , daß politische Interessen und wissenschaftliche Wahrheitsansprüche sich weder gegenseitig ausschließen noch untereinander subsumierbar sind, sondern in einem komplexen Wechselverhältnis stehen, in dem die Interessen zum Lebensnerv der Wissenschaft gehören, und umgekehrt die Wissenschaft zur kritischen Instanz politischer Machtansprüche wird. Die Wissenschaft führt in den politischen Kampf um die kulturelle Formierung geschichtlicher Identität das friedliche Mittel methodisch geregelter, begrifflich-argumentativer Kommunikation ein. Als Kraft einer diskursiven Unruhe lädt es nicht die Macht mit Wahrheit ideologisch auf und macht sie dadurch nur noch mächtiger, nämlich letztlich totalitär; sondern sie öffnet den Diskurs der Macht tendenziell für alle Betroffenen, indem sie auf eine Vernunft rekurriert, die grundsätzlich allen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen Betroffenen zugesprochen werden muß und mit der die Legitimität dieser Verhältnisse kritisch überprüft werden kann. Umgekehrt verleihen lebenspraktische Interessen und die in ihnen wirksamen Machtimpulse der historischen Erkenntnis einen festen Sitz im Leben und eine praktische Wirkung in der zeitlichen Orientierung aktuellen Handelns und Leidens. Dem Kampf um Macht entnommen, sänke sie zur Bedeutungslosigkeit herab, während sie ihre argumentative Kraft erst in ihm entfalten und damit zugleich als Medium friedlicher Kommunikation wirken kann. Was gewinnt eine Geschichtskultur, wenn in dieses komplexe Verhältnis von Wissenschaft und Politik nun auch noch eine in ihrem Eigengewicht rehabilitierte Ästhetik eingebracht wird und wirkt? Auf diese Frage hat bereits die klassische Ästhetik, der es um die Autonomie des Ästhetischen im kulturellen Gefüge menschlicher Weltdeutung und Selbstverständigung gegangen ist, eine eindeutige Antwort gegeben: Sie setzt die menschliche Subjektivität in eine spielerische Freiheit, zu der sie in den politischen Zwängen des Kampfes um 148

Rüsen, Jörn (Ed.): Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschiehtstheorie. Göttingen 1975; Koselleck, Reinhart; Mommsen, Wolfgang J.; Rüsen, Jörn (Eds): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Band 1). München 1977; Nagl-Docekal, Herta: Die Objektivität der Geschichtswissenschaft. Systematische Untersuchungen zum wissenschaftlichen Status der Historie. München 1982; Rüsen: Historische Vernunft (Anm.5); Megill, Allan (Ed.): Rethinking Objectivity I, II (Annals of Scholarship, Vol.8, Nr. 3-4, Vol.9, Nr. 1-2); Weberman, David: Historische Objektivität. New York 1991; Jeismann, Karl-Ernst: "Lux Veritas" oder "Filia temporis"? zur Frage nach der Wahrheit in der Historie, in: Volkmar Leute (Ed.): Subjektivität und Objektivität in den Wissenschaften. Regensburg 1990, S.51-82; Martin, Raymond: Objectivity and meaning in historical studies: Toward a post-analytic view, in: History and Theory 32 (1993), S.25-50; Van der Dussen, W.J.; Rubinoff, Lionel (Eds): Objectivity, method and point of view: Essays in the philosophy of history. New York 1991.

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Macht und in den methodischen Regeln rationaler Argumentation grundsätzlich nicht fähig ist. 149 An der Substanz dieser Argumentation hat sich bis heute nichts geändert. Genau da, wo Interessenlagen und kognitive Regelsysteme (z.B. wissenschaftliche Methoden) menschliche Freiheitschancen begrenzen, hält die Kunst diese Chancen offen und verleiht ihnen die Imagination des Utopischen. 150 Diese Imagination relativiert das Realitätsprinzip, dem die Politik mit dem Gesichtspunkt des Machbaren und die Wissenschaft mit dem Gesichtspunkt empirischer Triftigkeit verpflichtet sind. Dies gilt auch für die Domäne des Geschichtsbewußtseins. Es läßt sich im einzelnen darlegen, daß historische Deutungen der Vergangenheit, die gegenwärtige Lebensverhältnisse über sich selbst aufklären und Zukunftschancen eröffnen sollen, auf utopische Sinnpotentiale angewiesen sind, die die Kompetenz der Fachwissenschaft genauso übersteigen wie den Legitimationsbedarf des Politischen. 151 Eine unter dem Gesichtspunkt ästhetischer Autonomie rehabilitierte Sinnlichkeit der historischen Erfahrung wäre den Zwängen zur Entpolitisierung und Irrationalisierung des Geschichtsbewußtseins enthoben, in die sie unvermeidlich gerät, wenn sie zum bloßen Ausdruck und zur Präsentationsinstanz historischer Deutungen instrumentalisiert würde, an deren kreativer Erarbeitung sie letztlich nicht beteiligt ist. Ein historisches Museum verbindet alle drei Dimensionen der Geschichtskultur und zwar so, daß die ästhetische dominiert, weil es sich ja an die Augen der historisch Interessierten wendet, weil es Geschichte sichtbar machen soll. Ist damit aber schon gesagt, daß ästhetische Gesichtspunkte für die museale Präsentation von Geschichte den Ausschlag geben sollen? Dies würde letztlich nur zu einer anderen Instrumentalisierung führen: Wissenschaftliche Einsichten und politische Interessen würden zu bloßen Vehikeln ästhetischer Faszination herabgesetzt, und dann wären die Gefahren einer Ästhetisierung der Geschichte durch das historische Museum unvermeidlich: die Irrationalisierung von Wahrheitsansprüchen und die Entpolitisierung von Orientierungsansprüchen historischer Deutungen. Es geht also darum, Kohärenzgesichtspunkte im Verhältnis der drei Dimensionen der Geschichtskultur zu entwickeln, die wechselseitige Instrumentalisierungen und entsprechende Problemfolgen verhindern könnten. Was verbindet die drei Dimensionen der Geschichtskultur miteinander? Allen ist ihr Inhalt gemeinsam: Historische Erfahrung 149 150 151

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Das habe ich am Beispiel Schillers zu zeigen versucht. Vgl.Anm.104. Koppe, Frank: Grundbegriffe der Ästhetik. Frankfurt/Main 1983. Rüsen, Jörn: Geschichte und Utopie, in: ders.: Historische Orientierung (Anm.89), S.48-68.

kann und muß in alle drei Dimensionen eingebracht werden. Diese Identität des Inhalts ist aber kein hinreichendes Kriterium für die Kohärenz der drei Dimensionen, denn in ihnen wird ja aus dem gleichen Inhalt etwas Verschiedenes, und es geht gerade nicht darum, diese Verschiedenheit ins Einerlei der gleichen und selben Geschichte zurückzunehmen oder aufzuheben, sondern sie gerade als produktive Bereicherung der historischen Erfahrung ins Spiel zu bringen, eine Bereicherung, die die Deutung dieser Erfahrung und damit deren Rolle in der praktischen Lebensorientierung der Gegenwart betrifft. Umgreifend für diese Deutung sind die für sie maßgeblichen Sinnkriterien. Die infragestehende Kohärenz der drei Dimensionen der Geschichtskultur betrifft den Sinn der kulturell bedeutsamen und wirkungsvollen Geschichte(n). Es liegt nahe, wenn diese Sinnfrage in einer Argumentation aufgeworfen wird, die sich als Plädoyer für eine Didaktik historischer Museen versteht, jetzt ältere Ressentiments gegen die Geschichtsdidaktik zu revitalisieren, sie setze sich selbst als alles entscheidende Grunddisziplin der Geschichtswissenschaft vorlaut ins Werk und müsse daher als Gefahr einer umgreifenden Ideologisierung - jetzt nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern gleich der ganzen Geschichtskultur - rechtzeitig erkannt und zurückgewiesen werden. Damit würde jedoch eine Chance vertan, die Geschichtskultur historischer Museen genau dort zu thematisieren, wo sie als komplexes Wechselverhältnis ihrer drei Dimensionen angesprochen werden müßte. Streitigkeiten über die Kompetenz für eine solche Thematisierung sollten diese nicht verhindern. Die Frage lautet zunächst nur, wer eigentlich für die Sinnkriterien zuständig ist, die die drei Dimensionen der Geschichtskultur zu einem kohärenten Gebilde verbindet. Diese Frage läßt sich hinsichtlich der Sinnstiftungskompetenz der Wissenschaft und der Politik relativ leicht beantworten: Beide Instanzen des historischen Diskurses können ihre Zuständigkeit für umgreifende Sinnfragen der Geschichtskultur nicht plausibel machen. In der Wissenschaft würde der Anspruch auf Sinnkompetenz den Rahmen fachwissenschaftlicher Diskursmöglichkeiten überschreiten. Um Max Webers Formulierung aufzugreifen 1 5 2 : Der Wissenschaftler würde zum Propheten, und als solcher verlöre er genau die Glaubwürdigkeit, die eine wissenschaftsspezifische historische Deutung für sich in Anspruch nehmen kann. Der Anspruch auf Kompetenz zur Sinnstiftung würde die Wissenschaft zur Pseudoreligion degenerieren lassen und sie unvermeidlich dem Dogmatismus, also

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Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3.. Tübingen 1968, S.609.

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einer Denkweise ausliefern, der sie mit der Logik ihrer Diskursivität gerade widerstreitet. Auch die Politik kann für sich eine Sinnstiftungskompetenz nur um den Preis des Totalitären in Anspruch nehmen: Sie würde als Politik zugleich die Sinnkriterien setzen, an denen ihre Legitimität gemessen werden müßte (und eben das ist ein wesentliches Kennzeichen des Totalitären). Zugleich würde sie ganz unvermeidlich (als Folge ihres totalitären Charakters) Wissenschaft und Kunst zu Vollzugsorganen ihrer selbstgesetzten Legitimität degradieren. Es scheint also, als bliebe nur die ästhetische Dimension der Geschichtskultur übrig, um die Sinnstiftungskompetenz zu lokalisieren. Und es entspricht ja auch einem traditionellen und verbreiteten Kunstverständnis, nachdem der Zuständigkeitsanspruch der Religion in den modernisierenden Prozessen zurückgewiesen worden ist, in denen die Wissenschaft, die Kunst und auch die Politik ihre relative kulturelle Autonomie gewonnen haben, der Kunst die Kompetenz für allgemeine Sinnfragen zuzubilligen. Die post-moderne Wendung in der Geschichtstheorie153 entspricht diesem traditionellen Vorverständnis. Sie hat die narrativen Sprachhandlungen, in denen die Historiker die für ihr Fach maßgeblichen Denk- und Bewußtseinsoperationen vollziehen, auf die jeweils maßgebenden Kriterien der Sinnbildung hin analysiert und ihren poetischen Charakter betont. Wird die Geschichtsschreibung als literarisch-poetische Sinnschöpfung aufgewiesen, dann liegt es nahe, die für die Geschichtskultur maßgeblichen Sinnkriterien als ästhetische zu betrachten. Diese Antwort auf die Sinnkompetenzfrage in der Geschichtskultur ist in doppelter Hinsicht 'post-modern'. Die Geschichtskultur wurde modern in den kulturellen Entwicklungsprozessen, in denen historische Deutungen an wissenschaftsspezifischen Wahrheitskriterien orientiert wurden, in denen also die Sinnkompetenz mindestens teilweise auf die Professionalität von Geschichtswissenschaftlern hin relativiert wurde. Eine Argumentation, die den entscheidenden Sprachhandlungen des historischen Erzählens, den Vorgängen des Geschichtsbewußtseins also, in denen aus Zeiterfahrungen historischer Sinn gebildet wird, wissenschaftsspezifische Rationalität bestreitet und literarische Mechanismen imaginativer, gar fiktionaler Sinnbildungen am Werke sieht, verweist das Metier des Geschichtsschreibers post-modern zurück in die literarischen Gefilde, in der es vor der Modernisierung angesiedelt war. Post-modern ist diese Interpretation aber auch noch in einem weiteren Sinne: Die ästhetische Autonomie 153

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Vgl. dazu Rüsen: Postmoderne Geschichtstheorie (Anm. 28).

der Kunst als Sinnbildungsinstanz ist ebenfalls das Resultat eines Modernisierungsprozesses. Er stellt sich jedoch als ein eigentümlicher Vorgang dar, in dem die Kunst zugleich ihre Autonomie gewinnt und in und mit ihr die Möglichkeit dementiert, als Kunst umgreifende Sinnzusammenhänge der menschlichen Lebenspraxis präsentieren zu können. Hegel hat diese eigentümliche Ambivalenz des Kompetenzgewinns und des Sinnverlustes als 'Ende der Kunst' formuliert. 154 Bezogen auf die Geschichtskultur heißt dies, daß der historische Sinn, der in der deutenden Präsentation der menschlichen Vergangenheit augenfällig werden soll, sich im Rahmen sinnlicher Anschauung überhaupt nicht hinreichend darstellen läßt. Ebensowenig wie der Wissenschaftler als exklusiver Sinnstifter plausibel wird oder der Politiker, ist es auch der Künstler. Wollte er wirklich Geschichte als ein kohärentes Sinngebilde plastisch vor Augen führen, würde er zum Mythologen. Alles das an der historischen Erfahrung, was sich der ästhetischen Kohärenz (Schönheit) nicht fügte, würde verfälscht oder ignoriert. Die Geschichte würde zum Mythos, und nur um diesen Preis wäre eine ästhetische Sinnkompetenz in der Geschichtskultur zu haben. Dieser Preis schließt eine Entpolitisierung und Irrationalisierung der historischen Erfahrung mit ein. Denn nur dann, wenn Wissenschaft und Politik letztlich als nicht sinn-fähig, als sinnlos gelten müßten, bliebe der Geschichtskultur nur die ästhetische Autonomie zur Sinnstiftung übrig. Mythologisierung der Geschichte durch ästhetische Autonomie der historischen Sinnstiftung ist aber mehr als nur eine Irrationalisierung und Entpolitisierung der Geschichte; sie bedeutet zugleich eine Enthistorisierung der Geschichte. In schöner Offenheit wird dies auch im postmodernen Diskurs über die Geschichtskultur zugegeben 155 freilich ohne die politischen und kognitiven Folgekosten zu erörtern, die ja schon selbst als historische Erfahrung vorliegen und zu reklamieren wären. Im Rahmen einer remythologisierten Geschichte verliert sich das Politische als identifizierbare (und damit auch kritisierbare) Konstellation von Interessen im deutenden Umgang mit der historischen Erfahrung. Die Macht wird im Schleier des Schönen unsichtbar. Damit aber wird sie zugleich auch als blind wirksam gesetzt und indirekt anerkannt. Daneben wird auch die Wissenschaft mit ihrem Sinnpotential rationaler Argumentation restringiert. Ihre Vernunftansprüche werden zurückgenommen in die technische Rationalität quellenkritischer Tatsachensicherung, die in der eigentlich histo154 155

Rüsen, Jörn: Die Vernunft der Kunst - Hegels geschichtsphilosophische Analyse der Selbstranszendierung des Ästhetischen in der modernen Welt, in: ders.: Ästhetik und Geschichte (Anm.143), S.30-62. Vgl. dazu Descombes, Vincent: Das Selbe und das Andere. 45 Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978. Frankfurt/Main 1981, S.217f.

185

rischen Verknüpfung der Tatsachen zu sinn- und bedeutungsvollen Geschichten nichts zu suchen hat und nichts ausrichtet. Die Fachhistoriker werden zu Tatsachenfunktionären degradiert, die für jeden Zweck nicht-rationaler Sinnbildung zur Verfügung stehen. Gegen diese Post-Moderne möchte ich die Modernität des Ästhetischen einwenden, die im Eingeständnis der Kunst besteht, zur autonomen Schöpfung von Sinngebilden gar nicht imstande zu sein, die als Orientierungsgrößen der menschlichen Lebenspraxis (analog zur Religion in vormodernen Gesellschaften) fungieren könnten. Eine moderne Selbstbescheidung ästhetisch autonomer Kunst gibt Politik und Wissenschaft ihre je eigene Kompetenz für die Sinnbildungsarbeit des Geschichtsbewußtseins zurück. Worin diese im einzelnen besteht, kann hier nicht ausführlicher erörtert werden. Ich möchte nur andeutungsweise darauf verweisen, daß die politische und die wissenschaftlich-kognitive Dimension des Geschichtsbewußtseins je eigene fundamentale Sinnkriterien aufweist, deren moderne Form darin besteht, die jeweilige Zuständigkeit für Sinnfragen zu begrenzen, also die Politik vor ihrer totalitären und die Wissenschaft vor ihrer ideologischen Selbstermächtigung zur exklusiven oder primären Sinngebungsinstanz zu bewahren. Solche Kriterien in der Dimension des Politischen sind die Menschenrechte und in der Dimension des Wissenschaftlichen die Prinzipien der argumentativen Diskursivität. Die Frage nach der Zuständigkeit für die Sinnkriterien, die die Kohärenz der drei Dimensionen der Geschichtskultur bestimmen, ist also offen. Natürlich läßt sie sich nicht mit der Geschichtsdidaktik beantworten. Wohl aber läßt sich die Geschichtsdidaktik als eine Argumentation ins Spiel bringen, die diese Offenheit im Verhältnis der drei Dimensionen als notwendige Bedingung ihrer Kohärenz erkennbar und zugleich als Lernchance bestimmbar macht. Als Wissenschaft vom Geschichtsbewußtsein156 würde die Geschichtsdidaktik die Sinnfrage nicht beantworten, sondern offenhalten und wechselseitige Instrumentalisierungsversuche der drei Sinninstanzen Wissenschaft, Politik und Kunst in der Geschichtskultur kritisieren. Und als Wissenschaft vom historischen Lernen 157 könnte sie diese Offenheit als spezifisch didaktische Dimension der Geschichtskultur ausmachen und darlegen, als eine Art der Erfahrung und Deutung von Geschichte, die alle diejenigen, die diese Geschichte angeht, dazu befähigt, sie sich selbst frei zu erzählen. Diese Freiheit gegen wissenschaftliche und politische Deutungskompetenz zu verteidigen und mit dem Eigengewicht des Ästhetischen zu stärken, dies halte ich für eine

156 157

186

Jeismann: Anm.50. S.o. S.78ff.

der wichtigsten Aufgaben der Geschichtsdidaktik in der gegenwärtigen Diskussion über historische Museen.

187

Fortschritt Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Fragwürdigkeit einer historischen Kategorie158

... Wenn die historische Erfahrung lehrt, daß den endlich erzielten Fortschritten nur neues Unheil auf dem Fuße folgt, liegt die Vermutung nahe, daß die Balance des Erträglichen einzig dann erhalten bleibt, wenn wir um der möglichen Fortschritte willen unsere äußersten Kräfte aufbieten. Habermas

Hat sich der Fortschritt totgelaufen? Wenn ja, dann sollte er auch beerdigt werden. Oder steckt im Fortschrittsgedanken noch ein Potential historischer Vernunft, auf das wir nicht verzichten können, wenn wir die Zukunft bestehen wollen? Wenn ja, dann sollten wir uns gegen diejenigen wehren, die zu seiner Beerdigung angetreten sind. Ich glaube nicht, daß wir diese Problemstellung von außen an die junge Generation herantragen. Ich bin vielmehr davon überzeugt, daß sie in der Form eines fundamentalen Widerspruchs in ihr selber wirksam ist, daß sie ihn in ihrem alltäglichen Geschichtsbewußtsein mit sich herumträgt und daß sie ihn auflösen muß, um sich in ihrer Welt zurechtfinden zu können. Ein Bruch im

Geschichtsbewußtsein

Die gegenwärtig verbreitete Kritik am Fortschrittsdenken darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief es in der kollektiven Mentalität der meisten Länder der Gegenwart und natürlich und vor allem der hochindustrialisierten Länder verankert ist. In einer zweihundertjährigen Kulturgeschichte des Geschichtsbewußtseins hat die Fortschrittskategorie sich tief in die wirksamen Deutungsmuster der kollektiven historischen Erinnerung eingegraben. Man braucht nur individuelle Lebensentwürfe von Kindern und Jugendlichen auf einfache Relationen zwischen Vergangenheit und Zukunft hin sich zuspitzen 158 159

188

In: Geschichte lernen, H. 1, Dezember 1987, S.8-12. Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung (Kleine politische Schriften VII). Frankfurt/Main 1987, S.146.

zu lassen. Dann kann man leicht feststellen 160 , daß es für die Betreffenden ganz selbstverständlich ist, daß ihre Zukunft die Gegenwart und Vergangenheit der Älteren an Lebenschancen und Glücksmöglichkeiten allemal überbieten muß. Wenn das nicht mehr mit lebensweltlichen Erfahrungen plausibel gemacht werden kann, dann kommt es zu einer Störung, zur Schieflage der eigenen Zeitorientierung; sie wird als Abweichung vom normalen Entwicklungsprozeß empfunden. Mit solchen Einstellungen vollziehen die jüngeren Generationen lediglich für sich die in ihre Lebensumstände eingelagerte Kultur des Fortschrittsgedankens als Stimulanz der eigenen Lebensführung. Sie entnehmen ihr einen zentralen Gesichtspunkt, mit dem sie die erfahrenen und erhofften zeitlichen Veränderungen ihrer eigenen Lebensumstände interpretieren. Der Fortschritt als Denkfigur ist eine soziale Tatsache, ein mental wirksamer Faktor der menschlichen Lebenserfahrung, und er muß als solcher systematisch in Rechnung gestellt werden, wenn es darum geht, im Geschichtsunterricht historische Erfahrung und historisches Wissen als Medium einer tragfahigen, praktischen Lebensorientierung zu vermitteln. Auf der anderen Seite ist es jedoch unbestreitbar, daß sich heute im historischen Lernen die klassische Fortschrittskonzeption, wie sie in vielfacher Brechung und Fragmentarisierung Bestandteil kultureller Selbstverständlichkeiten geworden ist, nicht bruchlos fortschreiben läßt. Dazu sind die widerstreitenden historischen Erfahrungen allzu übermächtig. Die krisenhaften, ja (zumindest tendenziell) katastrophischen Nebenfolgen der traditionell als Fortschritt verstandenen historischen Entwicklungen zur modernen Welt (vor allem im sozioökonomischen Bereich durch die Industrialisierung) sind inzwischen Allgemeingut kollektiver Erfahrung geworden. Gerade Kinder und Jugendliche mit ihrer altersbedingten Sensibilität für strukturelle Widersprüche zwischen der Erfahrung ihrer eigenen Lebenswelt und den ihnen von den Älteren zugemuteten Deutungen nehmen die Dementis des Fortschritts wahr, die seine Realgeschichte hervorgebracht hat: die ökologischen Zerstörungen durch industrielle Naturausbeutung, die ungeheure Steigerung politischer Herrschaftspotentiale in modernen Staaten, die tiefen sozialen Verwerfungen zwischen erster und dritter Welt und schließlich die Austrocknung stimulierender Sinnpotentiale im institutionalisierten Rationalismus der Wissenschaften. Dem Fortschritt geht es gegenwärtig wie dem Kaiser mit seinen neuen Kleidern in Andersens Märchen.

160

Das legen Antworten auf Schülerbefragungen nahe, die im Vorfeld einer (Bochumer) Untersuchung zum Geschichtsbewußtsein an Abiturienten durchgeführt wurden. Genauere Befunde hat Bodo von Borries vorlegt. Vgl. Anm.97.

189

Der Geschichtsunterricht wird sich also der aktuellen Fortschrittskritik kaum entziehen können, wenn ihm das Geschichtsbewußtsein etwas bedeutet, das die Kinder und Jugendlichen immer schon mit in den Klassenraum bringen. Wie soll er ihr sich stellen? Auf die Orientierungskrise, die diese Fortschrittskritik in der politischen und Geschichtskultur der Gegenwart darstellt, muß reagiert werden. Sonst würden die Schüler und Schülerinnen um die Chance betrogen, Kompetenzen des historischen Denkens lernend zu erwerben, die sie zur Lösung der Orientierungskrise verwenden könnten. Eine Abschottung des Geschichtsunterrichts von der Gegenwartserfahrung eines tiefen Kontinuitätsbruches historischer Fortschrittslinien würde das mit dieser Erfahrung befaßte Geschichtsbewußtsein nur umso ideologieanfälliger machen, je entschiedener es von den Wissensbeständen und vom kognitiven Potential ferngehalten wird, die im Geschichtsunterricht erworben werden können. Die Schüler würden letztlich nur lernen, daß die Geschichte für sie keine Orientierungsfunktion hat; der Geschichtsunterricht hätte sie für sie getötet; denn ein historisches Wissen, das nicht in orientierungskräftige Deutungsmuster von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingelagert ist, ist tot. Was ist zu tun? Fortschritt

als historische

Kategorie

Um diese Frage beantworten zu können, sind einige Vorüberlegungen zum Fortschrittsbegriff als Kategorie des historischen Denkens nötig. 161 Es geht um nicht mehr und nicht weniger als ums Ganze: Welchen Sinn hat die Geschichte, auf welche historischen Erfahrungen soll es heutzutage ankommen, nach welchen Gesichtspunkten soll sie gedeutet werden, und welche Funken praktischer Lebensorientierung lassen sich aus ihr schlagen? Solche Fragen zielen auf die kategoriale Basis jeden historischen Denkens. Denn Fortschritt meint als historische Kategorie einen Gesichtspunkt, nach dem der Gesamtbereich der historischen Erfahrung geordnet und darüber entschieden wird, wo-

161

190

Zur kategorialen Grundlage des historischen Denkens vgl. Rüsen, Jörn: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986, S.54ff.; ders.: Der Teil des Ganzen (Anm.89). Zur Fortschrittskategorie vgl. den Überblick von Piepmeyer, Rainer: Fortschritt, in: Bergmann u.a. (Eds): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Anm.29), S. 134-137; speziell zur geschichtsdidaktischen Dimension Weymar, Ernst: Fortschritt als Orientierungsproblem in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik, in: Jeismann, Karl-Ernst (Ed.): Geschichte als Legitimation? Internationale Schulbuchrevision unter den Ansprüchen an Politik, Geschichtswissenschaft und Geschichtsbedürfnis (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 39). Braunschweig 1984.

rauf es in seiner deutenden Aneignung und lebenspraktischen Verwendung ankommen soll. Erinnern wir uns: Der Begriff 'Fortschritt' wurde als eine solche Kategorie am Beginn des Modernisierungsprozesses, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, entwickelt, als (nach den frühneuzeitlichen kulturellen Revolutionen der entstehenden modernen Wissenschaften) mit den politischen Revolutionen in Amerika und Frankreich und der ökonomischen in England sich unsere heutigen Lebensformen herauszubilden begannen. 162 Mit dem Fortschrittsgedanken wurde die tief beunruhigende und radikal herausfordernde Zeiterfahrung eines sich beschleunigenden Wandels im Transformationsprozeß einer ständisch organisierten Gesellschaft in eine bürgerliche geistig verarbeitet. Diese Leistung der Spätaufklärung ist zum Grundbestand der Geschichtskultur moderner Gesellschaften (inzwischen in der ganzen Welt) geworden. Ich möchte hier die Geschichte des Fortschrittsdenkens nicht erzählen, obwohl es sicher reizvoll wäre, einmal zu probieren, ob und wie sie sich selber als Fortschritt interpretieren läßt oder nicht gerade als sein Gegenteil. Stattdessen möchte ich lieber eine Art systematische Bilanz ziehen: Wie wird Geschichte mit dem Fortschrittskonzept begreifbar gemacht? Was tritt in den Blick, und was wird ausgeblendet? Welche Folgen hat das historische Fortschrittsdenken für die Lebenspraxis? Die Fortschrittskategorie schließt die historische Erfahrung zu einer einzigen Geschichte zusammen, die tendenziell alle Menschen umgreift, also die Menschheit als Gattung zu ihrem Subjekt hat. Sie hat also eine ausgesprochen integrative Funktion. Zugleich gibt sie der einen Geschichte der Menschheit eine ungeheure zeitliche Dynamik. In dieser einen Geschichte kommt es auf Veränderung an, auf eine qualitative Veränderung, die eine inhaltlich bestimmte Richtung hat: Die Menschheit gewinnt sich selbst in den durch menschliches Handeln und Leiden bewirkten Veränderungen ihrer Welt; sie tritt im Laufe der Zeit als sie selbst hervor als Kommunikationsgemeinschaft, als Lebensform in rechtlichen, politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen Gebilden. Kennzeichnende Beispiele für diese umfassende und dynamisch fortschreitende Lebensform sind im sozioökonomi162

Grundlegend dazu: Koselleck, Reinhart u.a.: Fortschritt, in: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Eds): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.2. Stuttgart 1975, S.351-423. Vgl. auch Dreitzel, Horst Peter (Ed.): Sozialer Wandel, Zivilisation und Fortschritt als Kategorien der soziologischen Theorie. Neuwied 1967; Fetscher, Iring: Überlebensbedingungen der Menschheit - Zur Dialektik des Fortschritts. Konstanz 1976, 2.A. 1985; Lübbe, Hermann: Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart. Freiburg 1975.

191

sehen Bereich der Weltmarkt und die industrielle Produktionsweise und soziokulturell die Menschen- und Bürgerrechte. Fortschritt als

Handlungsperspektive

'Fortschritt' integriert und dynamisiert also die historische Erfahrung zu einer umgreifenden Geschichte, deren Sinn in einer durch aktiven menschlichen Eingriff bewirkten und zu bewirkenden Veränderung der menschlichen Lebensverhältnisse zugunsten höherer Lebensqualität liegt. Fortschritt war die maßgebende Denkform eines spezifisch modernen Geschichtsbewußtseins. Die geschichtliche Erfahrung wurde nicht mehr nach dem Denkmuster einer großen Beispielsammlung für überzeitlich geltende Handlungsregeln aufgearbeitet, wie es der alte Spruch: Historia magistra vitae (die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens) zum Ausdruck brachte. Die geschichtliche Erfahrung wurde statt dessen genetisch gedeutet; sie wurde als ein einheitlicher Zeitprozeß zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgespannt, in der die Zukunft die Vergangenheit qualitativ an Handlungsmöglichkeiten und Humanisierungschancen überbietet. In dieser Zeitspannung des Fortschritts war das menschliche Handeln in der jeweiligen Gegenwart dazu aufgerufen, diese Überbietung zu realisieren. Das Geschichtsbewußtsein gab der Praxis eine Richtung von Veränderung vor. Es baute aus der historischen Erfahrung eine überschießende Zukunftserwartung auf, so daß eine - normativ als Handlungsziel vorgestellte - allgemeine Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse, durch historische Erfahrung abgesichert und realistisch erschien. So läßt sich beispielsweise bis heute die Geschichte als ein Prozeß fortschreitender technischer Naturbeherrschung interpretieren, der in die Zukunft hinein ungeahnte Handlungsmöglichkeiten eröffnet. In seinen klassischen Ausprägungen wird diese Überbietung der Vergangenheit durch die Zukunft als Befreiung des Menschen von all den Zwängen gedeutet, die ihn an der Entfaltung und Verwirklichung seiner Menschlichkeit hindern: Durch die Industrialisierung wird die Abhängigkeit des Menschen von der Natur in ein Herrschaftsverhältnis über sie verwandelt, die physische Not und Entbehrung strukturell beseitigt; politisch wird Fortschritt als Demokratisierung verstanden, mit der durch zunehmende Partizipation der Beherrschten an Herrschaft deren Inhumanität zugunsten eines legitimierenden Konsenses abgebaut wird; sozial gilt Fortschritt als Egalisierung durch Abbau sozialer Schranken, die den einzelnen tendenziell gleiche Lebenschancen garantiert; und kulturell schließlich ist Fortschritt ein Prozeß der Entzauberung und Rationalisierung, in dem autoritativ zwingende Traditionen in freien und selbständigen Verstan-

192

desgebrauch hinein aufgelöst werden. Mit diesen Fortschrittsdimensionen seines Geschichtsbewußtseins wachsen dem menschlichen Subjekt ungeheure Handlungspotentiale zu: Es versteht sich selbst, seine eigene Subjektivität als zeitlichen Prozeß der Befreiung zu selbstbestimmten Formen der eigenen Lebenserfahrung. Zurück vor die Moderne? Dieser Fortschrittsgedanke hat seine Überzeugungskraft (aus den eingangs erwähnten Gründen) verloren; er hat aber nicht aufgehört, ein höchst wirksamer Faktor im Geschichtsbewußtsein der meisten zu sein. Ein zeitgemäßer Geschichtsunterricht muß diese Krise des Fortschrittsdenkens im Geschichtsbewußtsein der Zeitgenossen und vor allem der Kinder und Jugendlichen als Zeitgenossen der Zukunft in produktive historische Lernprozesse hinein abarbeiten. Was kann getan werden? Naheliegend wäre eine Vergangenheitsdeutung im Lernprozeß, die ich Krisenbewältigung durch Modernitätsunterbietung bezeichnen möchte. Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen Fortschrittsprinzip und Fortschrittsfolgeerfahrung in eine Verklärung vormoderner Zustände weggearbeitet, so daß der Weg zur Gegenwart als problematisch, wenn nicht gar als Irrweg erscheint. Diese historische Gegenwartsauffassung würde ihre Plausibilität schnell verlieren, wenn sie expliziert und diskutiert würde; sie ergibt sich eher indirekt aus der Art und Weise, wie menschliche Lebensverhältnisse vor dem Aufbruch in die Moderne vergegenwärtigt werden. Modernisierung wird als Entfremdung, Fortschritt als deren ideologische Verschleierung gedeutet. Es gibt kein ausgearbeitetes geschichtsdidaktisches Konzept, in dem diese Auffassung vorgeschlagen und begründet würde. Aber im verborgenen Lehrplan realen Geschichtsunterrichts dürften sich durchaus solche modernisierungskritischen Elemente ausmachen lassen, wenn auch nur (wie gesagt) in 'indirekter Rede', nämlich in der Art und Weise, wie mit impliziten Wertungen die Vergangenheit gegen die Gegenwart ausgespielt wird. Die Versuchung, historische Erfahrung auf diese Weise durch indirekte und implizite Gegenwartskritik schmackhaft zu machen, wird in dem Maße größer werden, wie die Fortschrittskategorie ihre Plausibilität verliert und wie sich keine Zukunftsperspektiven der aktuellen Lebenspraxis entwerfen lassen, die an die realen Entwicklungsprozesse anschließen, die einmal als Fortschritte interpretiert worden waren, jetzt jedoch ihre Schattenseite unbewältigter Nebenfolgen zeigen. So kann z.B. die (berechtigte) Kritik an einem ungehemmten Wirtschaftswachstum bisheriger Art sehr schnell in die Verklärung

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eher statischer Wirtschaftssysteme der Vergangenheit umschlagen, und der gegenwärtige Raubbau an der Natur kann mit dem idyllischen Bild eines angeblichen Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur in vormodernen Zeiten oder außereuropäischen Kulturen kompensiert werden. Die Sehnsucht nach der Alternative zur beängstigenden Welt der Gegenwart findet sehr schnell ihr historisches Unterfutter, allerdings auf Kosten der historischen Erfahrung. In der ökologischen und in der Frauenbewegung lassen sich Ansätze zu einem historischen Denken finden, die in diese Richtung weisen: Vormodernen Lebensverhältnissen wird vorschnell ein humanes Naturverhältnis unterstellt (verkörpert in weiblicher Naturnähe), der gegenüber die Entwicklung technisch-industrieller, politisch-bürokratischer Herrschaft und die Ausbildung wissenschaftlich-methodischer Rationalität als sukzessiver Verfall, als Weg in einen qualitativen Humanitätsverlust oder gar in die Katastrophe erscheint. Ähnliche Gedanken der Modernitätsunterbietung dürften die Frage nach der Volkskultur in der frühen Neuzeit angeregt und zum erstaunlichen Aufschwung der kulturgeschichtlichen Forschung in der jüngsten Zeit beigetragen haben. Der außerordentliche Erfolg des Buches von Carlo Ginzburg: "Der Käse und die Würmer" dürfte aufs engste damit zusammenhängen, daß hier am bewegenden Einzelschicksal des Müllers Menocchio eine verloren gegangene 'Volkskultur' in Erinnerung gerufen wird, deren Verlust eine "historische Verstümmelung" unserer selbst bedeuten soll. 163 In solchen Interpretationen spiegelt das Geschichtsbewußtsein die Krise des Fortschritts in historischen Gegenbildern einer verlockenden, mehr oder weniger heilen Welt, die freilich den großen Nachteil haben, einer kritischen Nachprüfung ihres Tatsachengehaltes selten standzuhalten. Vorwärts hinter die Moderne? Eine andere Alternative läßt sich der aktuellen Diskussion in der Geschichtswissenschaft entnehmen. Hier gibt es seit geraumer Zeit eine Gegenbewegung gegen die dem Fortschrittskonzept der Modernisierung (wenn auch in kritischer Distanz) verpflichteten Geschichtsbetrachtung der Gesellschaftsgeschichte. Sie wird unter den Termini 'Alltagsgeschichte' und 'Historische Anthropologie' diskutiert und steht in engem Zusammenhang mit der Geschichtswerkstättenbewegung. 1 6 4 Es geht um eine kritische Gegengeschichte zur Fortschritts163 164

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Ginzburg Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt/Main 1979, S.21. Dazu Rüsen, Jörn: Grundlagenreflexion und Paradigmawechsel in der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: ders.: Zeit und Sinn (Anm.47).

geschichte: Befreiung wird als Disziplinierung sichtbar gemacht, die Kosten der Modernisierungsprozesse werden aufgewiesen, die Opfer des Fortschritts (z.B. Frauen oder Kinder) erhalten historiographisch eine anklagende Stimme. Generell wird der dem Fortschrittskonzept eigentümliche generalisierende Zugriff unter der Bezeichnung 'Makrohistorie' kritisiert und durch einen mikrohistorischen Zugriff ersetzt. Es geht nicht mehr um langfristige und umgreifende Genesen gegenwärtiger Lebensverhältnisse, sondern um detaillierte Rekonstruktionen vergangener Lebensumstände und partieller Entwicklungen. In dem Maße, in dem diese neue Geschichtsbetrachtung die Vorstellung von Geschichte als einen einheitlichen und dynamischen zeitlichen Prozeß mit einer positiven Zukunftsperspektive preisgibt und kritisch destruiert, läßt sie sich in die kulturkritischen Bewegungen einordnen, die in die sogenannte Postmoderne zielen. Diese Bewegungen haben ihren Ausgang von der sensibelsten aller Instanzen zur Erfahrung und Deutung von Zeit genommen, von der Kunst. 'Post-Moderne' ist zum Sammelbegriff all der Versuche geworden, die die zeitliche Signatur der gegenwärtigen Lebensverhältnisse als tiefen Bruch mit der Tradition 'moderner' - und d.h. fortschrittsbezogener und vernunftorientierter - Lebens- und Denkformen deuten. Man spricht von post-industriellen Wirtschaftsformen und von post-materialistischen Wertsystemen, die die Zukunft unserer Gesellschaft bestimmen werden und um deren Ausgestaltung man sich bemühen sollte, - in strikter Abkehr von der bisher üblichen industriellen Naturausbeutung und der ihr zugrundeliegenden Wirtschaftsgesinnung und mentalen Attitüden. In der Geschichtskultur wird diese Zukunftsperspektive der Post-Moderne als Abschied von traditionellen Formen des Geschichtsbewußtseins diskutiert und vollzogen: weg von den Vorstellungen eines die zeitlichen Veränderungen des Menschen und seiner Welt durchwaltenden umgreifenden sinn- und bedeutungsvollen Geschichtsverlaufs, der der aktuellen Lebenspraxis eine Zeitrichtung als tragende Orientierungsgröße vorgibt, und hin zu einer ganz anderen Denkweise über Zeiterfahrung und Zeitsinn, zu einer poetischeren, schöpferischen, mythos-näheren, vielleicht sogar selbst mythischen. 165 165

Einen Überblick über die verschiedenen Strömungen gibt Welsch, Wolfgang: Vielheit ohne Einheit? Zum gegenwärtigen Spektrum der philosophischen Diskussion um die "Postmoderne". Französische, italienische, amerikanische, deutsche Aspekte, in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S . l l l - 1 4 1 . Welschs These, die Postmoderne sei nur eine - und zwar die vernünftigere - Spielart moderner Kultur, bricht freilich dem Konzept der Post-Moderne den geschichtstheoretischen Stachel ab - die entschiedene Wendung gegen diejenigen universalistischen Vorstellungen von Rationalität, Menschheit, Moral, Recht, Emanzipation, Subjektivität und eben auch Fortschritt, die einmal zur kulturellen Grundausstattung sich modernisierender Gesellschaften (zumindest im atlantischen Paradigma) gehörten. Post-Moderne als grundsätzlicher Pluralismus gegen den herrschsüchtigen

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Der Geschichtsunterricht kann an diese Tendenzen anknüpfen, ihnen zumindest in ihrer Abkehr von den eingeschliffenen Denkmustern der Geschichtskultur folgen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben und die Krise des Fortschritts zu bewältigen. Er kann also eine Krisenbewältigungsstrategie verfolgen, die ich als Modernitätsüberbietung in die Postmoderne hinein charakterisieren möchte. Die für moderne Gesellschaften bislang maßgeblichen und kulturell wirksamen Deutungsmuster des Geschichtsbewußtseins werden im Geschichtsunterricht kritisch destruiert, um Raum für neue Formen der Sinnbildungsarbeit des Geschichtsbewußtseins zu schaffen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Einmal dadurch, daß bestimmte historische Erfahrungen ins Bewußtsein der Schülerinnen und Schüler gehoben werden, vor allem die unbeabsichtigten negativen Folgewirkungen der Fortschritte der Modernisierung. Paradigmatisch für solche Erfahrungen und 'schülernah' im Sinne eines direkten Bezuges auf Alltagserfahrungen sind die Umweltzerstörung durch die Industrialisierung; aber auch der zunehmende Disziplinierungsdruck auf Jugendliche in der Entwicklung des Bildungssystems. Aber auch die mit der Fortschrittskategorie selber gedeuteten historischen Inhalte lassen sich so präsentieren, daß ihre traditionellen Deutungen als fortschrittliche nunmehr problematisch werden. Man braucht nur nach den Kosten und nach den Opfern zu fragen, die die Entstehung der als fortschrittlich geltenden historischen Erscheinungen gezeitigt haben. Hierzu hat beispielsweise die historische Frauenforschung manche kritische und ernüchternde Gegenrechnung aufgemacht. Unbestreitbar werden durch eine solche Lösungsstrategie des Fortschrittsproblems neue Qualitäten der historischen Erfahrung in den Geschichtsunterricht eingebracht und bei den Schülern und Schülerinnen Sensibilitäten für historische Folgekosten zivilisatorischer Innovationen geweckt. Mittels der Alltagsgeschichte erfahren die Schülerinnen und Schüler vergangene Lebensumstände und deren zeitliche Veränderungen als Vorgänge und Verhältnisse, die sie sich gleichsam auf ihren eigenen Leib schreiben können. Zumindest sind sie leichter mit ihrer eigenen Lebenswelt vermittelbar als die im Vergleich abstrakteren Vorgänge makrohistorischer Entwicklungen (Wirtschaftwachstumsraten, Verfassungsentwicklungen, Mobilisierungsschübe usw.), die das dem Fortschrittskonzept (wie vermittelt auch immer) noch verpflichtete und am Modernisierungsparadigma orientierte historische Denken anspricht.

Monismus einzelnen Modernitätsprojekte - dieser Gedanke ebnet die Schärfe der geschichtstheoretischen Divergenzen ein, die die unterschiedlichen historischen Qualifikationen des Modernen aufweisen.

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Die Frage ist nur, ob ein solches Denken, das die Fortschrittskategorie nur destruiert, geeignet ist, Schülern und Schülerinnen eine tragfähige historische Orientierung in ihrer eigenen Gegenwart zu ermöglichen. Mit der Destruktion der Fortschrittskategorie werden ja die Entwicklungen der Modernisierung nicht außer Kraft gesetzt und in ihrer Tatsächlichkeit aufgehoben, die zu den gegenwärtigen Lebensverhältnissen geführt haben. Der Blick auf die Opfer mag zwar die historischen Entwicklungen, die sie hervorgebracht haben, als zustimmungsfahig problematisieren, aber dieser Blick legt damit noch keine historisch plausible Zukunftsperspektive frei. Und es ist eine völlig ungelöste Frage, ob und wie die neuen Erfahrungsqualitäten der historischen Anthropologie, der Alltagsgeschichte und der Mikrohistorie sich auf die geschichtlichen Prozesse anwenden und übertragen lassen, die bisher mit dem Modernisierungsparadigma und der Fortschrittskonzeption gedeutet wurden oder ob sie an ihnen nicht eine unübersteigbare Grenze finden. Die Mikrohistorie nimmt sich angesichts der internationalen, den Globus umspannenden Verkettungen in den geschichtlichen Entwicklungen der neuesten Zeit eher kompensatorisch aus. Kann eigentlich die neue, fortschrittskritische Erfahrungsqualität an den zeitlichen Prozessen aufgewiesen werden, die die Fortschrittskategorie empirisch anspricht? Solange das nicht geht, dürfte eine Modernitätsüberbietung in die Postmoderne zu schwach sein, um zu einer historischen Orientierung zu führen, die den gegenwärtigen Lebensverhältnissen und ihren geschichtlichen Voraussetzungen gerecht wird. (Hier sehe ich gravierende geschichtsdidaktische Probleme des zur Postmoderne tendierenden Geschichtsdenkens: Seine Wendung gegen die Moderne läßt die Kritik an ihr ins praktisch Wirkungslose, in eine intellektuelle Kompensation verpuffen, die nicht nur nichts gegen die Triebkräfte modernisierender Entwicklungen ausrichtet, sondern sie indirekt in ihren traditionell vorgegebenen restringierten Formen sich ungehemmt entfalten läßt, um so ungehemmter, je bunter der Schleier postmoderner Alternativkonzepte den Blick auf sie verstellen.) Ebensowenig wie kein Weg des Geschichtsdenkens hinter die Fortschrittskategorie zurückführt, führt auch keiner über sie hinaus, bei dem nicht mindestens dasjenige mit aufgenommen und neu verarbeitet wird, was als 'Fortschritt' reale Entwicklungsprozesse bezeichnet und eine neue Erfahrungs- und Deutungskapazität des Geschichtsbewußtseins erschlossen hatte. Die Fortschrittskritik sollte in ein neues Konzept von Fortschritt verarbeitet werden, das seine kategorialen Errungenschaften nicht preisgibt, sondern die historischen Erfahrungen verarbeitbar macht, die das traditionelle Fortschrittskonzept nicht mehr plausibel erscheinen lassen. Das historische Fortschrittsdenken braucht selber einen Fortschritt.

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Der Fortschritt des Fortschritts Was heißt das? Die Fortschrittskategorie muß das Zwangshaft-Einlinige, das Einebnende, ja Totalitäre im Umgang mit der historischen Erfahrung verlieren, ohne dabei etwas an kategorialer Einheit und Dynamik in der Deutungsarbeit des Geschichtsbewußtseins zu verlieren. Die Schlagschatten, die die traditionell als Fortschritt qualifizierten geschichtlichen Prozesse unübersehbar werfen, fordern dazu heraus, den Fortschritt neu zu qualifizieren. Die Fortschrittskategorie muß fähig werden, die Dimensionen der historischen Erfahrung zu erschließen, die gegen sie mobilisiert worden sind, ohne zugleich diejenigen aus dem Blick verlieren zu lassen, die sie bereits erschlossen hat. Die Kosten und Opfer des Fortschritts, der Schrecken im Gefolge seiner unbeabsichtigten Nebenwirkungen, die Einebnung historischer Vielfalt und Unterschiedlichkeit in die Einlinigkeit eines einzigen Verlaufs - all dies muß als Grenzen der Fortschrittskategorie erkannt werden. Zugleich aber müssen diese Grenzen so überschritten werden, daß 'Fortschritt' eine neue kognitive Qualität bekommt, zur Erkenntnischance wird. Was damit gemeint ist, möchte ich in einer eher abstrakt-theoretischen Argumentation am Verhältnis von Zweckrationalität und Wertoder Sinnrationalität erläutern. Die aktuelle Fortschrittskritik entzündet sich ja nicht an allem, was mit der Fortschrittsvokabel bezeichnet worden ist. (Wer würde z.B. ernsthaft bestreiten, daß die Durchsetzung, Verwirklichung und Weiterentwicklung von Menschenrechten ein zukunftsfähiger Fortschritt in der Vergangenheit ist?) Die Kritik entzündet sich vor allem an den historischen Prozessen, die sich als Fortschritte im Sinne einer hemmungslosen Entfaltung technischer, instrumenteller und strategischer Zweckrationalität in allen Lebensbereichen vollzogen haben. Diese 'Fortschritte' haben die kulturellen Grenzen gesprengt, die das menschliche Handeln in vormodernen Gesellschaften an unübersteigbare Traditionen als Sinnquellen gebunden hatten. Max Weber hat diese Grenzüberschreitung als Entzauberung charakterisiert. Er hat damit (indirekt) darauf hingewiesen, daß mit der Durchsetzung und Institutionalisierung zweckrationaler Systeme in den menschlichen Lebensverhältnissen (einschließlich der Wissenschaften) ein zunehmendes Defizit an Sinnpotentialen entstanden ist. Max Weber hat die Kehrseite dieser Entzauberung im historischen Denken klarsichtig beschrieben: Irrationalen Entscheidungen über höchste Wertideen steht eine Wirklichkeit gegenüber, die als "chaotischer Strom von Geschehnissen" erscheint,

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der sich durch die Zeit dahinwälzt. 166 Dieser Sinnschatten des Rationalisierungsfortschritts provoziert dann die Suche nach Kompensationen; er wird durch den trüben Schein von Ideologien oder irrationalisierenden, pseudo-religiösen und neo-mythischen Sinnstiftungsversuchen ersetzt. Die Wissenschaften haben die Sinnleere mit dem Etikett der Wertfreiheit überklebt. Überschreitung des bisherigen Fortschrittsbegriffs heißt demgegenüber, daß die restringierte Rationalität des Fortschritts in eine umfassendere Vernunftqualität menschlicher Daseinsorientierung hinein überwunden werden muß. Was heißt hier Vernunft? Die zweckrational erschlossenen neuen Handlungsmöglichkeiten werden an Sinnkriterien gebunden, die Gesichtspunkte der Universalität (Menschheitlichkeit), der Freiheit und der zeitlichen Dynamik menschlicher Selbsthervorbringung in Arbeit, Herrschaft und Kultur in sich vereinigen. Diese Sinnkriterien restringieren die Handlungsmöglichkeiten freigesetzter Zweckrationalität nicht im Namen irgendwelcher autoritativ gesetzter Prinzipien, sondern sie halten sie offen, sie durchleuchten die Zweckrationalität moderner Gesellschaften mit Ideen ökonomischer Aufhebung materieller Not, sozialer Anerkennung gleicher Lebenschancen, politischer Partizipation der Beherrschten an Herrschaft und kultureller Verständigung über vielfaltige partielle Identitäten. Sie brechen den zweckrational in Kraft gesetzten Willen zur Macht mit dem Logos freier Verständigung. Die Menschenrechte sind auch dafür ein vorzügliches Beispiel. Sie zeigen etwas vom Vernunftpotential der in die gegenwärtigen Lebensverhältnisse hineinführenden historischen Entwicklungen. Sie gehen in den Gedanken entfesselter Zweckrationalität nicht auf und können durchaus eine handlungsstimulierende praktische Lebensorientierung bewirken. Demgegenüber besteht das Vertrackte an den fortschrittskritischen Wendungen ins Prä- und Postmoderne darin, daß sie die Kräfte nicht empirisch plausibel machen können, die die historisch beschworenen Alternativen zu den gegebenen Lebensverhältnissen auch als realisierbar erscheinen lassen. Das Geschichtsbewußtsein entfaltet seine orientierende Kraft im Zwiespalt zwischen Sein und Sollen, indem es Veränderungen am Erfahrungsmaterial der Vergangenheit vergegenwärtigt, die den Schritt von den kritikbedürftigen Lebensumständen der Gegenwart zu den gewünschten Lebensumständen der Zukunft plausibel machen. Damit die einen werden können, müssen die anderen in einer bestimmten, historisch zu entwickelnden Weise geworden sein.

166

Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm.152).

199

Die Vernunft des Fortschritts Worin könnte eine solche neue Vernunftqualität des Fortschrittskonzepts im historischen Denken bestehen, und welche Grenzen müßten zu ihr hin überschritten werden? Ich möchte diese Frage zu beantworten versuchen, indem ich die schon erwähnten zwei wesentlichen Errungenschaften des Fortschrittsdenkens anspreche: Vereinheitlichung und Dynamisierung der historischen Erfahrung. Die klassische Fortschrittskategorie enthielt die Vorstellung einer die räumliche und zeitliche Verschiedenheit menschlichen Lebens zusammenschließenden gemeinsamen Richtung menschlicher Weltveränderung. Damit wurde historische Erfahrung universalisiert: Sie schloß (zumindest dem Anspruch nach) alle menschlichen Kulturen in sich. Damit stellte sich unvermeidlich das Problem, wie die räumliche und zeitliche Vielheit und Heterogenität der menschlichen Kultur in einen konsistenten Deutungszusammenhang gebracht werden kann. Seine Lösung lag im umgreifenden Konzept einer Zeitrichtung menschlicher Weltveränderung. Die historische Erfahrung wurde also zugleich auch temporalisiert. Geschichte lehrte nicht mehr die empirische Geltung allgemeiner, für alle Zeiten geltender Handlungsregeln. Sie wies in die Zukunft und erschloß sie als eine eigene Zeitqualität über alle Vergangenheit hinaus, die der menschlichen Lebenspraxis als Orientierungsgröße dienen kann. Die inzwischen erkennbar gewordenen Grenzen dieser Vereinheitlichung und Dynamisierung der historischen Erfahrung liegen dort, wo Fortschritt als universelle Entwicklungsrichtung angenommen und zugleich mit einer bestimmten und begrenzten geschichtlichen Bewegung (zumeist mit der Modernisierung Westeuropas) identifiziert wird: Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Kulturen verblaßt im Licht dieser Vereinheitlichung, und das Fortschrittsdenken übt praktisch höchst wirkungsvolle (weil ideologisch aufladbare) kulturelle Anpassungszwänge aus. Gegen diese Vereinheitlichungszwänge läßt sich der Gedanke der Vielheit und Partikularität menschlicher Kulturen kehren, und dadurch gewinnt natürlich der historische Erfahrungsraum eine neue Qualität. Es wäre jedoch verhängnisvoll, wenn dabei der Gedanke der Einheit verlorenginge; die in die Vielheit unterschiedlicher Kulturen freigelassene historische Erinnerung würde von einer Gegenwart abgekoppelt, in der die verschiedenen Kulturen in einer unauflösbaren und ständig zunehmenden Interaktion sich befinden, für die sie ein geradezu lebensnotwendiges Prinzip wechselseitigen Verstehens benötigen. Hier liegen Chancen eines qualitativ veränderten Fortschrittsbegriffs: Er könnte die Vielfalt und Unterschiedlichkeit menschlicher Kulturen zeitlich am Leitfaden einer Interaktion kategorial ordnen,

200

bei der es um Verstehen und wechselseitige Anerkennung von Verschiedenheit geht. Das wäre das Gegenteil von Relativismus; denn Verstehen und Anerkennen setzen gemeinsame Kriterien der Zustimmung der verschiedenen Beteiligten voraus und in Kraft. Auch die zeitliche Qualität des traditionellen Fortschrittsbegriffs hat eine Grenze: Fortschritt konnte nur als realhistorischer Vorgang einer grundsätzlichen Überbietung des Früheren durch das Spätere gedacht werden; es blieb kein Raum für den Eigensinn unterschiedlicher Zeiten. Diese Grenze läßt sich überschreiten, wenn in die Zeitrichtung der Fortschrittskategorie utopische Denkelemente wieder aufgenommen werden, die in der Entwicklung des Fortschrittskonzepts zunehmend aus ihm entfernt worden waren. Mit unabgegoltenen Sehnsüchten, preisgegebenen Handlungsmöglichkeiten, nicht gewählten Alternativen, untergegangenen Sinnpotentialen verfügt die historische Erfahrung selber über utopieähnliche Gehalte. Mit einer neuen Nähe zur Utopie wird die Überbietung des Bisherigen durch den Ausgriff ins Andere und Bessere entlastet von Realisierungszwängen, in denen nur allzuoft im Namen des humanisierenden Fortschritts grauenhaft Unmenschliches getan und gerechtfertigt wurde. Überdies gewinnt die Vergangenheit, ins Recht des historischen Eigensinns entlassen und zugleich als Faktor in der Daseinsorientierung wirksam gehalten, die Erfahrungsqualität des Unabgegoltenen, des Stimulans' für Grenzüberschreitungen. Die für das Geschichtsbewußtsein geradezu zentrale Qualität des Andersseins (Alterität) der Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart lädt sich mit neuer Bedeutung auf. Damit gewinnt die Zukunft neue Dimensionen historischer Möglichkeiten, die nicht schon von vornherein zwangshaft an Gesichtspunkte der Machbarkeit gebunden werden. (Allerdings nur, wenn die grundsätzliche kategoriale Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht preisgegeben wird.) Es würde zu weit führen, hier im einzelnen darzulegen, wie durch eine solche Fortschrittskonzeption die ästhetische Qualität der historischen Erfahrung neu ins Spiel gebracht werden kann, die in vorschnellen Praxisbezügen des historischen Denkens verspielt wird und sich dann als Faszination des ganz Anderen rächt, das die Aufmerksamkeit des Geschichtsbewußtseins seiner praktischen Orientierungsfunktion entzieht. 167

167

Vgl. oben. S.171-187.

201

Wie sollte gelernt werden? Was bedeutet das alles für den Geschichtsunterricht? Zunächst einmal hat er davon auszugehen, daß die in unserer Kultur tief eingelagerte Fortschrittskonzeption ein wirksamer Faktor im Geschichtsbewußtsein der Schülerinnen und Schüler darstellt, das sie immer schon mit in den Unterricht bringen. Wenn die Krise des Fortschritts zum Anlaß werden soll, eine qualitativ fortschrittlichere Fortschrittskonzeption zu erarbeiten, dann hat der Unterricht an diese immer schon mitgebrachte Fortschrittskategorie anzuknüpfen. Dies ist auf zweierlei Weise möglich: implizit in der Behandlung der kanonischen historischen Sachverhalte, die immer schon kategorial mit der Fortschrittsqualität behaftet sind: Renaissance, Humanismus und Aufklärung, die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften und der Technik, die europäischen Revolutionen, die Industrialisierung, die Entstehung moderner Demokratien und Nationalstaaten usw. Gegenüber diesen Inhalten sind nun einerseits die Defiziterfahrungen zur Geltung zu bringen, d.h. nach den Kosten und Opfern zu fragen und die unbeabsichtigten Nebenfolgen anzusprechen, die (häufig schon im Prozeß der Modernisierung selber und nicht erst heute) zur Kritik am Fortschrittskonzept geführt haben (vor allem natürlich die Umweltprobleme, aber auch geistige Umweltverschmutzungen in der Form totalitärer Ideologien, die sich des Fortschrittsgedankens bedienen). Mit solchen historischen Erfahrungen sollte die eingeschliffene Fortschrittskategorie gleichsam 'aufgelockert', also nicht kritisch weggearbeitet, sondern in eine argumentative Bewegung gebracht werden. Dabei könnte sie ihren Status als eines Elementes traditionell vorgegebener Geschichtsdeutungen verändern, also historisch aufgeladen, dynamisiert werden. Lern- und erzähltheoretisch formuliert: Fortschritt sollte im Bewußtsein der Schüler von einem Faktor traditionaler Sinnbildung über Zeiterfahrung zu einem Faktor genetischer Sinnbildung über Zeiterfahrung werden. 168 D.h. die Fortschrittskategorie muß aus der ungefragten Selbstverständlichkeit einer kulturell wirksamen Bestimmungsgröße des Geschichtsbewußtseins problematisiert und in die Bewegung eines neu erarbeiteten und begründeten Gesichtspunktes historischer Deutungen werden. Schlicht und einfach: Sie muß verändert und als sich verändernde gedacht werden. Dazu ist eine kritische Wendung gegen das traditionelle, vorgegebene Fortschrittsverständnis notwendig. Diese Kritik am Fortschritt kann an aktuelle Gegenwartserfahrungen anknüpfen (zum Beispiel an den Umweltproblemen oder auch an den die Schüler und Schülerinnen intensiv beschäftigenden Friedensfragen) und sie historisch wenden, um von ihnen her 168

202

Siehe dazu oben S.37ff.

kritisches Erfahrungspotential zur Problematisierung der Fortschrittskategorie zu gewinnen. So wäre etwa im Rahmen der Friedensfrage eine tendenzielle Aggressivität revolutionär bewegter Gesellschaften anzusprechen und dabei die komplexen inneren Zusammenhänge zwischen den fortschrittlichen Elementen und den aggressiv-gefährlichen zu thematisieren. Es versteht sich von selbst, daß dabei zugleich historische Erfahrungsbestände erschlossen werden können, die als unabgegoltene Vergangenheit thematisiert und somit dem historisch neu qualifizierten Fortschrittspotential der historischen Erfahrung zugeschlagen werden könnten. Die zweite Möglichkeit, die tief im Geschichtsbewußtsein der Schülerinnen und Schüler eingeschliffene Fortschrittskategorie zu thematisieren, zu problematisieren und zu transformieren, besteht darin, diese Vorstellung selber als Kategorie, also nicht vermittelt über mit ihr gedeutete historische Erfahrung, sondern als begrifflichen Faktor der historischen Sinnbildung selbst anzusprechen. Dies ist auf unterschiedliche Weise möglich: So ließe sich das Fortschrittsdenken als ein wichtiger Gesichtspunkt neuzeitlicher historischer Entwicklungen zum Gegenstand des Gesprächs machen, aber es ließe sich auch allgemein-theoretisch nach den Möglichkeiten und Alternativen fragen, die Vergangenheit als eine Geschichte zu interpretieren, die die Schülerinnen und Schüler als ihre eigene, also als eine zeitliche Entwicklung auffassen können, die durch sie selbst hindurchgeht, sich tendenziell in ihre eigene Zukunft hinein erstreckt. Ich halte diese Reflexion für unverzichtbar. Sie sollte nicht am Ende des Geschichtsunterrichts stehen, sondern ihn von Anfang an begleiten; denn schließlich lebt das Geschichtsbewußtsein nicht allein vom Brot eingelagerter historischer Wissensbestände, sondern auch vom Geiste einer Reflexion, die seine Deutungskapazitäten auf neue Niveaus heben kann.

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Menschen- und Bürgerrechte als historische Orientierung - Vorschläge zur Interpretation und didaktischen Analyse

Ich bin der eine und der andre ich. Einer zuviel. Wer zieht durch wen den Strich. Heiner Müller 1 6 9 Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip, und, in Ansehung des menschlichen Willens, einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zu allgemeinen praktischen Gesetzen dienen kann. ... Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse. Kant*™

1. Die hehren Ideale und die schnöde Wirklichkeit Im Jahre 1979 lobte die Bundeszentrale für politische Bildung ein Preisausschreiben mit der Absicht aus, "die Beschäftigung mit den Menschenrechten im Unterricht" anzuregen. 171 Eingereicht werden sollten Entwürfe für Unterrichtseinheiten und Erfahrungsberichte. Das Ergebnis war recht kümmerlich: Eingeschickt wurden nur 26 Arbeiten. Zwei davon behandelten Themen (Judentum und Diaspora, Hunger und Bevölkerung), die zwar die Menschenrechte berühren, sie jedoch nicht direkt und zentral ansprechen. Von den verbleibenden 24 waren nur fünf für den Geschichtsunterricht konzipiert, die anderen für Sozialkunde, Politik, Deutsch oder Philosophie vorgesehen. Keiner der 24 Beiträge hatte einen historischen Schwerpunkt; Geschichte 169 170 171

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Müller, Heiner: Die Schlacht. Szenen aus Deutschland, 1. Szene. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A,B S.66f. Schäfer, Bernd; Schulze, Theodor (Eds): Menschenrechte im Unterricht. Analysen und Texte zu einem Lehrerpreisausschreiben der Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 182). Bonn 1982, S.207.

wurde eher beiläufig und sehr summarisch angesprochen. Die von der Bundeszentrale selber zum Thema (aufgrund einer Tagung) vorgelegte Broschüre "Die Menschenrechte - eine Herausforderung der Erziehung"172 enthält keinen Beitrag, der ein historisches Thema oder den Geschichtsunterricht beträfe. 1986 wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung im Auftrag der deutschen Unesco-Kommission eine Serie von 6 Heften als "Arbeitshilfen für die politische Bildung" zum Thema Menschenrechte herausgegeben. 173 Hier ist zwar ein ganzes Heft (Nr. 4) dem Thema "Historische Entwicklung" gewidmet; sieht man sich das Heft jedoch genauer an, dann spielt der für das historische Denken maßgebliche zeitliche Aspekt und der Entwicklungsgedanke bei der Auswahl und didaktischen Strukturierung der Materialien keine besondere Rolle. Am Engagement der Bundeszentrale für die Berücksichtigung der Menschenrechte im historisch-politischen Lernbereich der Schulen und der Erwachsenenbildung besteht kein Zweifel. Dennoch spielt der Geschichtsunterricht in den diesem Thema gewidmeten Publikationen nur eine untergeordnete Rolle. Ich sehe darin mehr als nur das zufällige Zusammentreffen verhindernder Umstände, sondern ein Symptom. Der Geschichtsunterricht scheint wenig dazu präpariert zu sein, dem Menschenrechtsgedanken im Bewußtsein von Schülern und Schülerinnen zum Leben zu verhelfen. Wie sieht es in diesem Bewußtsein aus? Einen Hinweis gibt uns eine Schülerbefragung, die ein Einsender zum oben erwähnten Preisausschreiben als Vorbereitung seiner Unterrichtseinheit (Leistungskurs Sozialkunde in der gymnasialen Oberstufe) durchgeführt hat. Alle zwölf Befragten haben die Frage "Haben Sie im Unterricht schon einmal etwas über Menschenrechte gehört?" mit nein beantwortet. Auf die Frage "Sind in der Bundesrepublik Menschenrechte aufgrund eines gesetzlichen Anspruches einklagbar" haben zehn die falsche Antwort 'nein' und nur zwei die richtige 'ja' gegeben. Noch erstaunlicher ist die Antwort auf die Frage "Wo werden nach Ihrer Meinung die Menschenrechte am meisten mißachtet? in der Bundesrepublik in den Entwicklungsländern - in der DDR?" Die Reihung bei der Häufigkeit der Nennungen lautet: 1. DDR, 2. BRD, 3. Entwicklungsländer. 174

172 173

174

Bonn 1981. Deutsche Unesco-Kommission (Ed.): Menschenrechte (6 Hefte). Bonn 2.A. 1988. H. 1: Sozialer Rechtsstaat; H. 2: Ost-West-Beziehungen; H. 3: Nord-Süd-Verhältnis; H. 4: Historische Entwicklung; H. 5: Interkulturelle Kommunikation; H. 6: Internationaler Schutz. Schäfer (wie Anm. 171), S.304 f.

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Die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler sind (wer hätte anderes erwartet) erschreckend gering. Dieser Wissensmangel steht aber in einem bemerkenswerten Mißverhältnis zu einer Sensibilität für menschen- und bürgerrechtliche Probleme in der eigenen Lebenswelt. Auf die Frage "Werden nach Ihrer Meinung Menschenrechte in der Bundesrepublik durch staatliche Maßnahmen verletzt? Wenn ja, welche?" antworteten zehn mit dem Radikalenerlaß und zwei mit der Erschwerung der Kriegsdienstverweigerung. Die Befragung wird vermutlich 1979 oder 1980 vor sich gegangen sein; ihre Ergebnisse dürften aber auch heute noch nicht überholt sein. Unkenntnis über die politische Rolle und über die historische Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte steht in einem eigentümlich gebrochenen Verhältnis zu menschen- und bürgerrechtsrelevanten Erfahrungen, Gesichtspunkten und Erwartungen in der eigenen Lebensperspektive. Die Menschen- und Bürgerrechte kommen (zumindest ausweislich der verbreiteten Schulbücher) im Geschichtsunterricht vor, wenn auch zumeist nicht an prominenter Stelle und schon gar nicht als ein erkennbarer Leitfaden des historischen Lernens. Als Inhalt historischen Wissens scheinen sie jedoch schnell wieder verloren zu gehen. Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß ein Wissen von der Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte in keinem engen Zusammenhang mit der eigenen Lebensperspektive und Daseinsorientierung der Schülerinnen und Schüler vermittelt wurde. Eher dürften die Menschen- und Bürgerrechte in den Horizont von Kindern und Jugendlichen als abstrakte Prinzipien moderner Verfassungen treten, die sich gut ausnehmen und sicher als konsensfahig gelten und Zustimmung finden. Ihnen scheint es aber an Lebendigkeit in dem Zeithorizont zu fehlen, in den die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Leben einrücken. Die Menschen- und Bürgerrechte zerfallen gleichsam in der Kluft zwischen abstrakten Rechtsprinzipien moderner Verfassungen auf der einen und persönlichen politischen Einstellungen und Überzeugungen auf der anderen Seite. An dieser Kluft ist natürlich nicht nur und auch nicht vornehmlich der Mangel einer auf einzelne Fächer zugeschnittenen Menschenrechtsdidaktik schuld, so beklagenswert ein solcher Mangel auch ist, insbesondere in der Geschichtsdidaktik. Sie beruht vielmehr auch und vermutlich sogar vor allem auf der aktuellen Erfahrung, daß es einen Widerspruch zwischen menschenrechtlichen Verfassungsnormen und politischer Wirklichkeit gibt. Die meisten Staaten, in denen die Menschenrechte aus Gründen des Machterhalts systematisch verletzt werden, haben eine Verfassung mit Menschen- und Bürgerrechtskatalogen. Verfassungstheorie und politische Wirklichkeit klaffen auseinander, und dies wird als Bruch und Widerspruch umso schärfer empfunden, je grundsätzlicher und ausführlicher die verfas206

sungsrechtlichen Normen formuliert und kodifiziert werden. 175 Dieser Widerspruch muß überwunden werden, wenn das historische Thema mehr sein soll als ein Stück erinnerter politischer Rhetorik moderner Verfassungsgründungen, wenn es also zum integralen Bestandteil der politischen Urteilsfähigkeit und der lebenspraktisch wirksamen historischen Erinnerung junger Menschen werden soll. Wie ist das möglich?

2. Funken aus der Tradition schlagen: Die historische Frage Die Menschen- und Bürgerrechte haben in der politischen Kultur der Bundesrepublik einen hohen traditionalen Stellenwert. Zumindest ihnen gegenüber ist der deutsche Sonderweg - auf dem sich die nationale Eigenart der Deutschen daran bemaß, wie weit ihre Kultur von den westlichen Demokratien abwich - zu Ende. Er ist eingemündet in die Tradition politischer Prinzipien, die die Legitimität politischer Herrschaft von der Wahrung eines Kanons von Grundrechten abhängig macht. Alle Anzeichen - auch die oben erwähnte Sensibilität von Schülerinnen und Schülern für die Wahrung ihrer Rechte auf ein selbstgestaltetes Leben gegenüber staatlichen Übergriffen - sprechen dafür, daß diese Tradition fest in der politischen Kultur der Bundesrepublik verankert ist. Aber Traditionen sind soviel wert und so mächtig, wie sie gepflegt und weiterentwickelt werden. Hier liegt das entscheidende Problem einer historischen Menschenrechtsdidaktik: Wie können die für die Menschen und Bürgerrechte maßgeblichen Denkprinzipien und Argumentationen zu wirksamen Orientierungsgrößen für eine Lebenspraxis werden, deren Belange in einem eigentümlich gebrochenen Verhältnis zum Geltungsanspruch der Grundrechte stehen? Diese Frage ließ im Jubiläumsjahr 1989 zuspitzen: Wie sollte die zweihundertjährige Wiederkehr der 'declaration des droits de l'hommes et du citoyen' vom 26. August 1789 gefeiert werden? Reichte es, sie bloß zu feiern, um sie als eine der Ursprünge des Wertesystems westlicher Demokratien durch historische Erinnerung in Kraft zu halten? Wie an die Kodifikation von Menschen- und Bürgerrechten als Verfassungsregeln erinnert werden soll, hängt davon ab, ob die Tradition dieser Kodifizierung zur Bewältigung von Gegenwartsproblemen notwendig ist. Damit ist das Problem einer historischen Orientierung der Gegenwart am Leitgedanken der Menschen- und Bürgerrechte auf175

Ein beeindruckendes Beispiel liefert die Türkei: Notorischen Menschenrechtsverletzungen in der Praxis der politischen Justiz steht ein ungewöhnlich ausdifferenzierter Menschenrechtskatalog der neuen Verfassung gegenüber.

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geworfen. Was bringt die Geschichte in die politische Kultur der Gegenwart ein? Reicht das historische Denken als Traditionspflege aus? Würde man diese Frage bejahen, dann wären die wirklich drängenden Gegenwartsprobleme, und das sind immer Probleme, die über das Lösungspotential eingeschliffener Traditionen politischen Handelns und Denkens hinausgehen - Herausforderungen, die mit dem Menschenrechtsgedanken nichts Entscheidendes zu tun haben. Die eigentlichen Orientierungsprobleme der Gegenwart wiesen dann, wenn sie vom historischen Denken als entscheidende Anstöße aufgenommen und in Fragen an die Vergangenheit übersetzt würden, in eine Richtung, die an der Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte vorbeigeht. Was sagt die Fachwissenschaft dazu? Offensichtlich wird sie in ihren neuesten Ausprägungen, in ihren Diskussionen an der Front der Forschung und auch in ihrer Rolle in der Öffentlichkeit nicht durch menschen* und bürgerrechtliche Fragen bewegt. Das ist aus zwei Gründen erstaunlich. Einmal, weil der eklatante Widerspruch zwischen universeller Geltung und weitverbreiteter Verletzung der Menschenrechte nach Erklärungen fragt, die ohne Rückgriff auf die Vergangenheit nicht gegeben werden können. Aber auch deshalb, weil das historische Denken sich immer wieder mit Problemen seiner Standpunktabhängigkeit, seiner normativen Basis, seinem Wertgehalt, herumschlagen muß, und da böten sich die Menschenrechte als konsensfahige Normenbasis der historischen Urteilsbildung an - wenn sie sich eben nicht in diesem eigentümlichen Schwebezustand idealer und universeller Geltung gegenüber realen und je partikularen Interessenlagen befänden. Die Menschen- und Bürgerrechte spielen als Inhalte des historischen Denkens in der aktuellen Diskussion über die methodische Konzeption der historischen Forschung und ihre Ausrichtung an drängenden Gegenwartsfragen keine besondere Rolle. Formal, als wirksame Gesichtspunkte der historischen Perspektivierung und Urteilsbildung werden sie so gut wie gar nicht thematisiert und reflektiert. Es ist durchaus symptomatisch, daß die letzte größere wissenschaftliche Untersuchung, die sich dem herausfordernden Problem des okzidentalen Ursprungs und der universellen Geltung menschen* und bürgerrechtlicher Grundnormen zuwendet, eine politologische (und eben nicht eine historische) Habilitationsarbeit darstellt. 176 Sicher ist der Mißkredit, in den geistesgeschichtliche Fragestellungen und Untersuchungsmethoden seit der Wendung der Geschichtswissenschaft zur Sozialgeschichte und dann ungebrochen auch seit der neuen Wende zur Erfahrungsgeschichte und zur historischen Anthropologie geraten ist, mit Schuld an dieser Lage. Da aber 176

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Kühnhardt, Ludger: Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs. München 1987.

eine historische Orientierung der gegenwärtigen Lebenspraxis ohne Gesichtspunkte von 'geistiger' Qualität wie derjenigen der Grundnormen moderner Verfassungen wohl kaum auskommen könnte, dürfte es für das historische Denken längst überfällig sein, solche Prinzipien und Gesichtspunkte des politischen Denkens in den neuen, heute in den Vordergrund der historischen Erinnerungsarbeit stehenden Dimensionen der historischen Erfahrung wiederzufinden und aufzuweisen. Welche Funken einer tragfahigen Gegenwartsorientierung lassen sich aus der Menschenrechtstradition der neuzeitlichen Geschichte schlagen? Diese Frage hat in einer Zeit, wo ernsthaft darüber debattiert wird, ob nicht schon die Epoche der Post-Moderne begonnen hat, ein besonderes Gewicht. 177 Denn zumindest die politische Geschichte der Neuzeit, die sich mit der Entstehung moderner Verfassungen und mit der Legitimation politischer Herrschaft beschäftigt, dürfte in den Menschen- und Bürgerrechtsprinzipien wesentliche Faktoren von Modernisierung und Modernität sehen. Die Postmoderne rückt als Epochenbezeichnung gegenwärtiger Lebensverhältnisse deshalb in den Blick, weil diese Verhältnisse von ungewollten Folgen des Modernisierungsprozesses in allen Lebensbereichen geprägt sind, die nicht nur nicht als fortsetzungsfahig, sondern als akute Bedrohung eines menschenwürdigen, ja des menschlichen Lebens überhaupt erscheinen, so vor allem die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Ressourcen der menschlichen Reproduktion, aber auch zunehmende Ungleichheit zwischen der ersten und der dritten Welt, der Rüstungswahnsinn, Sinnkrisen und Ähnliches. Die Fortschrittshoffnungen, die den historischen Entwicklungsprozeß in unsere gegenwärtigen Lebensverhältnisse hinein begleitet hat, sind zerstoben. Mit ihm verlieren die Grundformen des historischen Denkens, die die neuere Geschichte als einen insgesamt zustimmungsfähigen Entwicklungsprozeß zur Gegenwart ansehen ließen und die entsprechende Zukunftsperspektive einer weiteren Verbesserung der menschlichen Lebenschancen plausibel machten, enorm an Überzeugungskraft. 1 7 8 Der historische Weg in unsere Gegenwart ist an einem Wendepunkt angelangt, wo Ausschau nach neuen Wegweisern gehalten wird, weil die alte Richtungsbestimmung in die Irre zu weisen scheint. Ist dieser historische Zweifel auch gegenüber den für die politische Geschichte der Neuzeit wesentlichen Gesichtspunkten der Legitimität politischer Herrschaft, also gegenüber den Menschen- und Bürger177 178

Dazu Rüsen, Jörn: Historische Aufklärung im Angesicht der Post-Moderne: Geschichte im Zeitalter der "neuen Unübersichtlichkeit", in: ders.: Zeit und Sinn (Anm.47), S.231-251. Siehe dazu oben S. 188-203.

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rechten angebracht? Bislang ist der postmoderne Zweifel an der Tragfähigkeit modernisierender Prinzipien der menschlichen Lebenspraxis vor den Menschen- und Bürgerrechten verstummt. Sie scheinen noch am ehesten zukunftweisende Gesichtspunkte der politischen Praxis aus dem Sinnpotential der Modernität zu sein. Aber ist das wirklich so? Der Selbstzweifel, der die okzidentale Kultur (wieder einmal) plagt, macht auch vor dem Universalismus der Menschenrechte nicht halt. Zweifellos sind sie Produkte der okzidentalen Kultur, und diese ihre historische Besonderheit wird zunehmend deutlicher als Widerspruch zur Universalität ihres Geltungsanspruches empfunden. Vertieft also eine historische Erinnerung an ihre Ursprünge und Entwicklung nur den Zwiespalt zwischen hehren Prinzipien und profaner Wirklichkeit, der das eher alltägliche Bewußtsein von Eigenart und Rolle der Menschen- und Bürgerrechte auszeichnet? Im übrigen ist es ja noch nicht ausgemacht, ob sich nicht der nagende Zweifel an der Fortschrittsfahigkeit der Entwicklungsprozesse, die zur Lebensform moderner hochindustrialisierter Gesellschaften geführt haben, nicht auch die Überzeugungskraft des menschenrechtlichen Denkens zerfrißt. Eine Natur von der Art, wie sie die Aufklärung als Berufungs- und Rechtfertigungsinstanz für ihre Vorstellungen universeller Rechte von Menschen denken konnte, läßt sich heute argumentativ nicht mehr vertreten. Was tritt an ihre Stelle? 179 Überdies sind die Menschen- und Bürgerrechte vor einer ideologiekritischen Untersuchung nicht gefeit, die in ihnen Vorstellungen vom menschlichen Ich und vom Umgang des Menschen mit sich selbst und mit der Natur nachweisen kann, die heutzutage als verhängnisvolle mentale Bedingungen für die negativen Begleiterscheinungen des Modernisierungsprozesses angesehen werden. Auch hier könnte eine historische Analyse der sozialen und mentalen Bedingungen, unter denen die Menschen- und Bürgerrechtsprinzipien entstanden und durchgesetzt werden konnten, zur Schwächung ihrer aktuellen Überzeugungskraft beitragen. 3. Geltungskraft aus historischer Erinnerung Ich glaube, daß alle diese Bedenken letztlich nicht tragen. Sie sollten unseren historischen Blick auf die Menschen- und Bürgerrechte schärfen, unser historisches Fragen anstacheln und ihm die bohrende Dringlichkeit von Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart geben, von denen wir mit guten Gründen annehmen können, daß auch Kinder und Jugendliche sie haben. Die Erfahrung, daß Herrschaft systematisch begrenzt werden muß, damit humane Lebensformen möglich 179

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Breuer, Stefan: Sozialgeschichte des Naturrechts. Opladen 1983.

sind, und das Argument, daß solche Begrenzungen untrennbar mit den Legitimationsansprüchen verbunden sind, die Herrschaft (in welcher Form auch immer) erhebt - beides dürfte ein elementarer Bestandteil des politischen und historischen Bewußtseins unserer Gegenwart sein. Ich vermute, daß Schüler gegenüber solchen Erfahrungen und Argumenten sogar eine höhere moralische Sensibilität aufbringen können, als viele vom Erfahrungsdruck der eigenen Lebenspraxis geplagte Erwachsene (und Lehrer). Diese Grunderfahrung und -Überzeugung kann den Ausgangspunkt einer historischen Erinnerung an die Menschen- und Bürgerrechte bilden. Was kann durch eine solche Erinnerung ausgerichtet werden? Zunächst einmal schließt sie die Kluft zwischen obersten Verfassungsnormen und politischer Wirklichkeitserfahrung. Eine Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte legt dar, in welchen realen politischen und sozialen Zusammenhängen Menschenrechte zu Verfassungsgrundsätzen wurden, welche Zwecke sie erfüllt haben, welche Gruppierungen mit welchen Interessen sie durchzusetzen (oder auch nicht durchzusetzen) verstanden und aufgrund welcher sich verändernder Lebensumstände sie in ihren Formulierungen und in ihren Inhalten sich geändert haben. Historisches Denken ist ein vorzügliches Gegenmittel gegen die Verflüchtigung der Menschen- und Bürgerrechte in den luftigen Höhen normativer Idealität. Es holt sie in die Wirklichkeit zurück, von der sie ohne historische Erinnerung allzuleicht abgespalten werden. Auch das Geltungsargument ist nicht so stark, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Natürlich gibt es eine innere Spannung zwischen der Kulturspezifik der Menschen- und Bürgerrechte auf der einen Seite und ihrem universalen Geltungsanspruch auf der anderen. Sie sind kulturelle Früchte am Baum der in die gegenwärtigen Lebensverhältnisse führenden Modernisierungsgeschichte, aber das ist noch kein zwingendes Argument, das ihre Geltung relativieren könnte. Im Gegenteil: Zwischen der Einsicht in spezifische Entstehungs- und Durchsetzungsbedingungen der Menschenrechte auf der einen Seite und dem Anspruch ihrer allgemeinen und unbeschränkten Geltung auf der andern kann eine historische Betrachtung vermitteln. 180 Historisches Denken kann die Relativität der Menschenund Bürgerrechte selber relativieren, indem sie die Vorstellung einer zeitlichen Entwicklung ausarbeitet, die als Prozeß einer realen Universalisierung der Geltung der Menschen- und Bürgerrechte erscheinen und empirisch dingfest gemacht werden kann. In der Tat haben 180

Vgl. Rüsen, Jörn: Human Rights from the Perspective of a Universal History, in: Schmale, Wolfgang (Ed.): Human Rights and Cultural Diversity. Europe - ArabicIslamic World - Africa - China. Frankfurt/Main 1993.

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ja die Menschen- und Bürgerrechte vom späten 18. Jahrhundert bis heute in immer mehr Verfassungen Eingang gefunden. Das Relativismusproblem betrifft lediglich ihr Verhältnis zu den besonderen Traditionen nichteuropäischer Völker und Kulturen, die sie als Grundsätze kodifizierter Verfassungen übernommen haben. Damit aber ist ebenfalls das historische Denken angesprochen. Denn jetzt geht es darum, in diesen Traditionen und in den Genesen der gegenwärtigen Lebensverhältnisse dieser Völker und Kulturen Faktoren eines historischen Eigensinns aufzuweisen, in die das Menschenrechtsprinzip eingewurzelt werden kann, die es zumindest stärken können. Ohne historische Argumentation lassen sich die Menschenund Bürgerrechte nicht auf eine politische Praxis applizieren, in der nicht-okzidentale Kulturen lebensmächtig sind. Welche Geschichten brauchen wir? Ein historisches Denken, das den Gegenwartserfahrungen einer tiefgreifenden Orientierungskrise im Modernisierungsprozeß entsprechen will, muß zunächst die eigene (europäisch-okzidentale) Geschichte in den Blick nehmen. Dabei darf nicht nur die (relativ kurze) Zeitspanne in den Blick kommen, in der die Menschen- und Bürgerrechte Verfassungsprinzipien wurden, sich als solche durchgesetzt und schließlich weltweite Anerkennung gefunden haben. Wir müssen vielmehr hinter diese Epoche der Neuzeit seit dem 18. Jahrhundert zurücktragen, weil uns die dort vorherrschende Modernisierung als zustimmungs- und fortsetzungsfähiger Prozeß fragwürdig geworden ist. Wir brauchen einen tieferen und umfassenderen zeitlichen Bezugsrahmen zur Verständigung über Möglichkeiten und Grenzen menschen- und bürgerrechtlichen Denkens. Wir müssen also an die Wurzeln okzidentaler Menschheitsauffassungen gehen, und die liegen in Antike und Christentum. Überdies müssen wir die frühe Kolonialgeschichte in den Blick nehmen, um an ihr zu prüfen, ob und wie sich kulturübergreifende Menschheitskonzeptionen historisch aus dem antiken und christlichen Erbe entwickelt haben. Wichtig für den Inhalt dieser Perspektive ist es, daß die Kritik, die die Entwicklung und Durchsetzung der Menschenrechtsprinzipien als Verfassungsgrundsätze begleitet hat, gebührend berücksichtigt wird. Die Menschen- und Bürgerrechte sollten zusammen mit der in ihrer Geschichte schon angelegten Problematik erinnert werden, so daß die offenen Fragen der Gegenwart ihr historisches Echo finden können. In dieser europazentrierten Perspektive läßt sich die Erfahrung anderer Kulturen nicht (mehr) unterbringen. Wir müssen also über die okzidentale Geschichtsperspektive hinausgehen und Gesichtspunkte entwickeln, unter denen die anderen Kulturen im Lichte ihrer eige-

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nen Traditionen und Wertvorstellungen erscheinen. Dann erst kann sich die europäisch-okzidentale Perspektive zu einer universalhistorischen erweitern, und nur in einer solchen historischen Universalität ist das Menschen- und Bürgerrechtsproblem der Gegenwart angemessen historisch zu behandeln. Was die Formen des historischen Lernens betrifft, in denen die Menschen* und Bürgerrechte als wirksame Faktoren unserer politischen Kultur angeeignet, tradiert und weiterentwickelt werden können, so sind sie ganz besonders dadurch bestimmt, daß es mit der Erfahrung und Deutung historischer Sachverhalte in ganz besonderer Weise um die Entwicklung eines Normen- und Wertebewußtseins geht. Geschichtsspezifisches Zeitbewußtsein und praxisbezogenes moralisches Bewußtsein sind beim Thema Menschen- und Bürgerrechte als komplementäre Dimensionen des Geschichtsbewußtseins zu berücksichtigen. Der im historischen Lernen zumeist implizit bleibende Faktor historischer Bedeutung, also normativer Einstellungen, werthafter Urteilskriterien, muß eigens hervorgehoben, reflektiert und berücksichtigt werden. Natürlich kann im Rahmen dieses Aufsatzes ein solches Programm nicht einmal hinreichend systematisch umrissen werden. Ich muß mich im folgenden damit begnügen, Stichpunkte zu nennen und Argumente anzudeuten, die dazu dienen können, den angesprochenen Bezugsrahmen einer spezifisch historischen Menschenrechtserziehung auszufüllen. Daß vieles in diesem Bezugsrahmen Postulat bleiben muß, liegt an den Lücken der einschlägigen Literatur (soweit ich sie übersehe). 4. Historische Perspektive I: Europa Kernbestand der historischen Erfahrung mit den Menschen- und Bürgerrechten sind natürlich deren Kodifikation in den 'klassischen' bürgerlichen Revolutionen, der amerikanischen und französischen.181 An ihnen läßt sich nicht nur der Kanon demokratischer Grundrechte 181

Dazu Oestreich, Gerhard: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß. 2.A. Berlin 1978; Birtsch, Günter (Ed.): Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution 1848. Göttingen 1981; Birtsch, Günter (Ed.): Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Gottingen 1987; Adams, Willi Paul: Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution. Darmstadt 1973; Samwer, Siegmar-Jürgen: Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91. Hamburg 1970; Sandweg, Jürgen: Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis. Untersuchungen zur "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" um 1789. Berlin 1972; Kurzrock, Ruprecht (Ed.): Menschenrechte (2 Bde.). Berlin 1981.

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des westlichen Typs studieren, sondern (in einer kombinierten begriffs- und sozialgeschichtlichen Interpretation) auch politische und soziale Grundbegriffe explizieren und erläutern, die die Entstehung, Durchsetzung und Ausbildung bürgerlicher Gesellschaften anzeigen: Gleichheit, Freiheit und Eigentum sind die drei SchlüsselbegrifFe, die dem bürgerlichen Menschenrechtsdenken zugrunde liegen. Es geht um die formale (rechtliche) Gleichheit, in Freiheit von staatlicher Bevormundung Eigentum zu erwerben und zu genießen. Ein rechtliches und politisches Denken auf der Grundlage solcher Prinzipien und mit der Überzeugungskraft von Argumenten, die die menschliche 'Natur' betreffen, beruht auf geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, die bis zur Antike zurückreichen. Klassische Themen des Geschichtsunterrichts lassen sich daher mühelos unter menschenrechtlichen Aspekten für den Geschichtsunterricht konzipieren. Dies gilt für alle Epochen: Die Antike bringt die Vorstellung einer abstrakt-allgemeinen Menschennatur hervor, die zur distanzierten Beurteilung konkreter menschlicher Lebensverhältnisse argumentativ verwendet werden kann. Es war - nach den Sophisten - besonders die Stoa, die den Gedanken einer naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen entwickelt hatte. 182 Dieser Naturbegriff hat eine metaphysische Qualität; mit ihm legt sich menschliches Selbstsein über die Grenzen partikularer politischer Gebilde in eine Einheit und Allgemeinheit aus, die kosmische Dimensionen hat. Das führt zwar von der politischen Praxis ab, zugleich jedoch wird gedanklich die Möglichkeit erschlossen, politische Wirklichkeit von übergeordneten, das Menschsein des Menschen als allgemeine Naturqualität betreffenden Gesichtspunkten aus zu beurteilen und zu kritisieren. Das Christentum hat dieser meta-politischen Dimension menschlichen Selbstseins eine neue spirituelle Qualität gegeben, mit der es das einzelne Individuum zum Repräsentanten dieser metaphysischen Dimension aufwertete. Es eröffnete menschlichem Selbstverständnis eine neue Spiritualität und subjektive Tiefendimension: Der Glaubensinhalt, daß Gott selbst die Gestalt eines einzelnen historischen Menschen angenommen und mit und in ihm zum Opfer menschlicher Herrschaft, daß der 'Logos' Fleisch geworden ist, erfüllt die religiöse Triebkraft menschlicher Lebensgestaltung mit neuen Humanisierungspotentialen. Der christliche Glaube negierte zwar die Ungleichheit der Menschen in ihren irdischen Lebensbedingungen nicht, relativierte aber alle Unterschiede zwischen den Menschen (einschließlich der geschlechtlichen) zugunsten einer in Christus präsenten übergrei182

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Vgl. Flückiger, Felix: Geschichte des Naturrechts. Bd.l: Altertum und Frühmittelalter. Zollikon 1954; Ilting, Karl-Heinz: Naturrecht und Sittlichkeit. BegrifFsgeschichtliche Studien. Stuttgart 1983.

fenden Menschlichkeit, die als Liebesgebot an den praktischen Umgang der Menschen mit ihren Unterschieden in allen Lebensbereichen adressiert wurde. "Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus." 1 8 3 Die christliche Individualisierung der metaphysischen Menschheitsqualität führte nur indirekt zur neuzeitlichen Vorstellung vom Individuum als Subjekt der Menschenrechte. 1 8 4 Daß Herrschaft an unverletzliche Bedingungen gebunden ist, die in Form eines Vertrages zwischen Herrschenden und Beherrschten kodifiziert werden können, - diese Figur rechtlicher Sanktionierung von Herrschaft gewinnt im Mittelalter politische Bedeutung. Da solche 'Herrschaftsverträge' 1 8 5 deren berühmteste und wirksamste ist die Magna Charta vom 19. Juni 1215 186 - feudale Privilegien, also die Ungleichheit festschreiben, stehen sie aber inhaltlich in striktem Widerspruch zu neuzeitlichen Gleichheits- und Freiheitsvorstellungen. In den feudalen Herrschaftsverträgen geht es um ungleich verteilte 'Freiheiten', deren Bewahrung Bedingung der Zustimmung zu Herrschaft ist und Herrschaft rechtmäßig macht, und nicht um eine dem Menschen als Menschen zukommende Freiheit. Diese Freiheit blieb der religiösen Subjektivität vorbehalten. Zwar wurde das Christentum schon in der Spätantike als Mittel der Herrschaftslegitimation verwendet, es behielt aber (im Unterschied zum Islam) in seinen kirchlichen Institutionen eine Distanz zur politischen Herrschaft und entwickelte (im Westen) keine wirksamen Formen von Theokratie. Es begrenzte vielmehr politische Herrschaftsansprüche religiös und setzte sie unter meta-politische Bedingungen der Legitimität. Diese Bedingungen konnten dann menschenrechtlich interpretiert werden. Dazu freilich mußte die meta-politische Menschheitsqualität rechtlich konzipiert und als Legitimations- und Kritikinstanz auf Herrschaft bezogen werden. Dies geschah in der Entwicklung des europäischen Naturrechts und einer politischen Theorie, die Herrschaft auf einen Vertrag zwischen Herrschenden und Beherrschten 183

184 185 186

Galater 3,28 (Übersetzung der Zürcher Bibel). Max Weber sah in der für das frühe Christentum typischen "Abstreifung aller rituellen Geburts-Schranken für die Gemeinschaft der Eucharistie ... die Konzeptionsstunde des 'Bürgertums' des Occidents..." (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2. Tübingen 1923, S.40). Die Diskussion im Anschluß an die einschlägige These von Jellinek ist zusammengestellt in: Schnur, Roman (Ed.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte. Darmstadt 1964. Vgl. Vierhaus, Rudolf (Ed.): Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze. Göttingen 1977. Dazu: Kyriazis-Gouvelis: Magna Carta. Berlin 1984 (mit vollständigem Text lateinisch und deutsch).

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(gedanklich) gründete, der die Ausübung von Herrschaft an die Erfüllung von Bedingungen im Interesse der Beherrschten band. Eine Probe aufs Exempel einer naturrechtlichen Begrenzung von Herrschaftsansprüchen stellt die frühe Kolonialgeschichte dar: Die Fremden und Anderen wurden (in der Form eines Rechtsstreites vor dem Papst) in ihrer Menschheitsqualität (theoretisch) anerkannt, und entsprechend wurde ihnen (theoretisch) ein menschenrechtlicher Schutz vor kruder kolonialer Ausbeutung als Anspruch zugebilligt. Daß die Praxis auf einem anderen Blatt stand als diese Theorie, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der Zubilligung einer rechtlich und religiös positiv qualifizierten Menschheitsqualität an Andere und Fremde außerhalb des eigenen Kulturkreises die Möglichkeit universalistischer Argumentationen bei der Legitimation von Herrschaft eröffnet wurde. Die Schwellenzeit des 18. Jahrhunderts hat diesen Universalismus zur Rechtsnorm positiver Verfassungsgrundsätze gemacht. Das brachte den 'anderen' zwar nicht schon den politischen und sozialen Status, mit dem sie Ansprüche als Subjekte der Bürgerrechte hätten anmelden und durchsetzen können. Indianer, Neger und Frauen waren von den Handlungschancen ausgeschlossen, die die neuen Verfassungen den (weißen, männlichen, besitzenden) Bürgern erschlossen. Die menschenrechtliche Argumentation zur Begründung und Begrenzung politischer Herrschaft entwickelte jedoch ihre eigene Dynamik: Die Ausgeschlossenen konnten sich ihrer bedienen, da ihnen niemand ihr Menschsein streitig machen konnte. Sie haben sich dann auch in einem langen widerspruchsvollen Entwicklungsprozeß die ihnen menschenrechtlich eröffneten Emanzipations- und Partizipationschancen zu eigen gemacht. Dieser Entwicklungsprozeß dauert an. In ihm war die Frauenfrage entscheidender Prüfstein dafür, ob und inwieweit der Universalitätsanspruch der Menschenrechte sich in realen Zugang zu den Partizipationschancen an politischer Herrschaft umsetzen ließ. Zunächst wirkte die traditionelle und mental tiefsitzende Funktionsdifferenzierung zwischen den Geschlechtern, die dem Mann das eigentlich politische Tätigkeitsfeld oberhalb und außerhalb der Familie zusprach und die Frau politisch über den Status ihres Mannes definierte, wie eine natürliche Schranke für den Geltungsbereich der Menschen- und Bürgerrechte. Die Frauen konnten jedoch langfristig und erfolgreich unter Berufung auf den abstrakt-allgemeinen Charakter der rechtlich zum Ausdruck gebrachten Menschennatur diese Schranke als ungerechtfertigt kritisieren und in einem mühevollen Prozeß sich die rechtliche Gleichheit mit dem Mann im Normengerüst der Menschen- und Bürgerrechte und als Teil dieser Normen selber erkämpfen. Es blieb den Frauen, die diesen Weg der politischen Emanzipation ihres Geschlechtes beschritten, nichts

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anderes übrig, als das Argumentationspotential menschenrechtlicher Begründung bürgerlicher Teilhabe an politischer Herrschaft für das weibliche Geschlecht auszuschöpfen. Die Frage, ob sich nicht hinter der für das eigene Geschlecht in Anspruch genommenen abstrakt-allgemeinen Menschheitskategorie Traditionen eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses verbergen, Weiblichkeit also nur verkürzt in die menschen- und bürgerrechtlich geregelten politischen und sozialen Verhältnisse eingehen konnte - diese Frage konnte ernsthaft erst aufgeworfen werden, nachdem die Gleichheit der Geschlechter im Denkhorizont der traditionellen Menschen- und Bürgerrechte durchgesetzt worden war. Parallel zur innerstaatlichen Ausdehnung menschenrechtlich begründeter Bürgerrechte über Eigentums- und Geschlechtsgrenzen hinweg geht eine historische Entwicklung, in der immer mehr Staaten sich Verfassungen mit Menschen- und Bürgerrechtskatalogen gegeben haben. Diese Entwicklung wurde durch die Nazi-Barbarei indirekt vorwärtsgetrieben. Sie machte deutlich, welche ungeheuerlichen Folgen an manifester Unmenschlichkeit zu erwarten sind, wenn politische Herrschaft von den Legitimitätsgrundsätzen der Aufklärung und des Liberalismus entfernt wird. "Hier ist etwas geschehen, was bis dahin niemand auch nur für möglich halten konnte. Hier ist an eine tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, gerührt worden; die Integrität dieser Tiefenschicht hatte man bis dahin - trotz aller naturwüchsigen Bestialitäten der Weltgeschichte - unbesehen unterstellt. ... Auschwitz hat die Bedingungen für die Kontinuierung geschichtlicher Lebenszusammenhänge verändert - und das nicht nur in Deutschland."187 Die "Universal Declaration of Human Rights" der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 war demgegenüber der Höhepunkt und sichtbare Ausdruck dafür, daß die Menschen- und Bürgerrechte universale Prinzipien der rechtlichen Begründung, Legitimation und Regelung politischer Herrschaft und sozialer Lebensformen geworden waren. 5. Historische Perspektive II: Sozialistische Ergänzung oder kommunistische Alternative? Die klassischen Menschenrechtskonzeptionen sind 'bürgerlich': Sie sind nur in einem sozialen Kontext plausibel, in dem Erwerb, Besitz und Genuß von Eigentum allgemein als realistische Lebenschance angesehen werden kann. Hier liegt eine (bis heute) offene Flanke der bürgerlichen Menschenrechtskonzeption: Die Menschenrechte galten letztlich nur für Bürger, und Bürger im vollen Sinne konnte nur je187

Habermas, Jürgen: Schadensabwicklung (Anm. 159), S.163.

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mand sein, der über Eigentum verfügte. Eigentum konnte in Vermögensform gegeben sein, über Bildung erworben werden oder durch Arbeit. Zunächst war es umstritten, ob Lohn als Arbeitsentgelt ein solches, bürgerliche Politikfahigkeit definierendes Eigentum darstellt, Lohnarbeit also die Eigentumsbedingungen erfüllte, an die der Genuß der Bürgerrechte gebunden war. Die Abhängigkeit des Wahlrechts vom Zensus und vom Geschlecht und der Kampf um die Beseitigung dieser Abhängigkeiten bestimmte die Grundrechtsentwicklung im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Am Ende dieser Entwicklung steht das allgemeine und gleiche Wahlrecht für erwachsene Männer und Frauen. Offen aber blieb die Eigentumsfrage: In dem Maße, in dem Eigentum an (Lohn-)Arbeit gebunden war, hing die bürgerliche Lebensqualität, die die menschenrechtliche Fundierung politischer Herrschaft garantieren sollte, davon ab, ob sich das Eigentum an Arbeitskraft, über das (potentiell) alle Mitglieder der Gesellschaft frei verfügen, auch in Lohnerwerb umsetzen ließ. An der Frage des Rechtes auf Arbeit wurde die Grenze der bürgerlichen Menschenrechtskonzeption sichtbar und von der sich bildenden Klasse der Lohnarbeiter und -arbeiterinnen auch lebensweltlich schneidend erfahrbar. Karl Marx hatte in seinem Artikel "Zur Judenfrage" (1843/44) 188 die Menschen- und Bürgerrechtskodifikationen als rechtliche Sanktionierung der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsform kritisiert. Der 'Mensch' der Menschenrechte und der Bürger der Bürgerrechte sei nichts anderes als der Bourgeois der bürgerlichen Gesellschaft, dessen Lebensweise durch die kapitalistische Wirtschaft bestimmt wird. Durch seine menschen- und bürgerrechtlich ausgerichtete Verfassung nehme sich der moderne Staat lediglich in die Pflicht, diese Wirtschaft sich frei entfalten zu lassen und in ihrem ungestörten Ablauf zu schützen. (Es ist bemerkenswert, daß Max Weber, der große Antipode von Karl Marx in der Interpretation moderner Gesellschaften und ihrer historischen Ursprünge, zu einer ganz ähnlichen Charakterisierung gekommen ist. Er sieht in den "Menschen und Grundrechten die Vorbedingungen für das freie Schalten des Verwertungsstrebens des Kapitals mit Sachgütern und Menschen."189) Die Menschen und Bürgerrechte erscheinen im Lichte dieser Kritik als juristisches Schmiermittel zur Durchsetzung kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Nichtsdestoweniger aber dienten sie der Arbeiterbewegung als Symbol ihres Kampfes um politische Partizipation und um soziale und ökonomische Verbesserung des Le188 189

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MEW 1, S.347-377. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie. Studienausgabe ed. v. Johannes Winckelmann. Köln 1964, S.922.

bensstandards der lohnabhängigen Massen: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht". Die Menschenrechtsidee, mit der die bürgerliche Lebensform in der Trias von Gleichheit, Freiheit und Eigentum sich formulierte, erwies sich als flexibel und erweiterungsfähig genug, um auch zum Schlüsselbegriff des Sozialismus zu werden. Es versteht sich, daß damit grundsätzliche inhaltliche Verschiebungen verbunden waren. Es ging um die sozialen Voraussetzungen für politisches Handeln, um die Politikfähigkeit des Menschen, die er sozial immer schon haben muß, um in einem Staat Bürger zu sein, der den menschen- und bürgerrechtlichen Prinzipien politischer Herrschaft entsprechen soll. Diese soziale Ermöglichung bürgerrechtlich relevanter Politikfähigkeit wurde zum Inhalt der menschenrechtlichen Forderungen, mit denen die Arbeiterbewegung auftrat. Wenn der vierte Stand sich auf die Menschenrechte berief, dann gab er ihnen einen sozialen Sinn und verstand sie als Entwurf einer menschenwürdigeren Alternative zu wirtschaftlicher Ausbeutung und sozialem Elend. Über seine menschenrechtliche Legitimation wurde der Staat in die Pflicht sozialpolitischer Ermöglichung von Bürgerfreiheit genommen. Die neuen Forderungen nach sozialer Absicherung bürgerlicher Politikfähigkeit konnten entweder als Ergänzung oder aber als Umkehrung des klassischen bürgerlichen Menschenrechtsgedankens entwickelt und politisch durchgesetzt werden. Die erste Variante repräsentiert der demokratische Sozialismus, die zweite der Marxismus-Leninismus. Dem demokratischen Sozialismus geht es darum, staatliche Herrschaft menschenrechtlich so zu strukturieren, daß sie in die Pflicht der sozialen Sicherung individuellen Lebens genommen wird, ohne zugleich ihre bürgerrechtliche Beschränkung zu überschreiten. Am Schicksal des Rechtes auf Arbeit läßt sich dieser Weg einer Erweiterung der klassischen Menschenrechte um soziale Grundrechte verfolgen: Bis heute gibt es in den Staaten, die nach ihren Verfassungsgrundsätzen auf die Prinzipien bürgerrechtlicher Herrschaftsbegrenzung verpflichtet sind, kein gesetzlich entfaltetes und einklagbares Recht auf Arbeit, sondern nur soziale Rechte auf Unterstützung und Hilfe für die, die nicht durch Verwendung ihres Eigentums an Arbeitskraft die Mittel zu einer selbstverantworteten Lebensführung aufbringen können. 190 Die kommunistische Variante wurde in der russischen Revolution durchgesetzt. Es ist wenig bekannt, daß Lenin selber ein kommunistisches Gegenstück zu den Menschenrechtserklärungen der bürger190

Vgl. Böckenförde, Ernst Wolfgang u.a. (Eds): Soziale Grundrechte. Von der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung. Heidelberg 1981; Kriele, Martin: Die Menschenrechte zwischen Ost und West. Köln 1977.

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liehen Revolutionen inszeniert hatte: die "Erklärung der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes".191 Es ist ein politisches Ereignis von welthistorischer Bedeutung, daß diese Erklärung in der russischen Revolution von der konstituierenden Versammlung, dem Gremium also, das für die Verfassungsgebung einer bürgerlichen Demokratie zuständig ist, abgelehnt und dann vom allrussischen Sowjetkongreß, einem dem bürgerlichen Gesichtspunkt politischer Repräsentation widersprechenden revolutionären Gremium, angenommen wurde. So stellt die russische Revolution in der Geschichte des Menschenrechtsgedankens eine eigene Epoche dar. Diese Erklärung fußt auf der Negation des für die bürgerliche Menschenrechtsvorstellung zentralen Eigentumsbegriffs. Sie beinhaltet die Vergesellschaftung des Eigentums und garantiert (in der Form einer allgemeinen Arbeitspflicht) allen Mitgliedern des neuen Staates Arbeit als Mittel der Selbsterhaltung. Diese Menschenrechtskonzeption erweitert nicht einfach die traditionellen Konzeptionen der bürgerlichen Revolutionen, sondern kehrt sie um: Zur Sicherung der proklamierten sozialen Rechte auf gesellschaftliches Eigentum wird ein politisches Herrschaftssystem in Kraft gesetzt, in dem die bürgerlichen Begrenzungen der Herrschaftsausübung vollständig preisgegeben werden. Politische und soziale Menschenrechte stehen in einem ausgesprochenen Spannungsverhältnis; denn die staatliche Gewährleistung sozialer Grundrechte, insbesondere des Rechts auf Arbeit, auf freie Berufswahl und auf Bildung scheint nur um den Preis einer erheblichen Relativierung der politischen Menschenrechte möglich zu sein, die staatliche Herrschaft systematisch begrenzen und den Beherrschten einen gesellschaftlichen Binnenraum zu einem selbstverantworteten Leben gegen staatliche Bevormundung garantieren. Dieses Spannungsverhältnis trägt sich im Streit zwischen West und Ost um die Menschenrechte aus. Es wird auch dort deutlich, wo der Gegensatz zwischen Ost und West in gemeinsam für verbindlich angesehenen Grundrechtserklärungen überwunden zu sein scheint: "Bürgerliche und politische Rechte" und "wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" konnten von der UNO nur in zwei getrennten internationalen Pakten beschlossen werden (1966). Eine übergreifende, beide Aspekte einer menschenrechtlichen Organisation politischer Herrschaft und

191

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Abgedruckt in: Hellmann, Manfred (Ed.): Die russische Revolution 1917, 4.A. München 1964, S.340-342. Siehe dazu Fröhlich, Klaus; Rüsen, Jörn: Menschenrechte im Systemkonflikt. Historische Überlegungen und Materialien für die Sekundarstufe II, in: dies. (Eds): Menschenrechte im Prozeß der Geschichte. Historische Interpretationen, didaktische Konzepte, Unterrichtsmaterialien. Pfaffenweiler 1990, S.209-261.

sozialer Lebensverhältnisse übergreifende Konzeption, die sich verfassungsrechtlich durchhalten läßt 1 9 2 , gibt es nicht. 6. Historische Perspektive III: Die anderen Kulturen Nichts ist weniger selbstverständlich, als daß Menschen sich wechselseitig aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zur Gattung Menschheit in rechtlicher Hinsicht als gleiche anerkennen. Nichts ist 'natürlicher' für den Umgang von Menschen miteinander, als sich im Verhältnis zueinander als ungleich zu empfinden und zu verhalten. Nicht die Natur macht den Menschen rechtlich gleich, sondern ein historischer Prozeß. Dieser Prozeß, der zu universalistischen, 'menschheitlichen' Normensystemen mit Rechtskraft von Verfassungsrang geführt hat, ist ein europäisch-okzidentaler. Noch die erste Menschenrechtserklärung der UNO stand ganz unter europäischer Dominanz, und unbestreitbar ist die Institutionalisierung menschenrechtlicher Schutzbestimmungen in (West-)Europa am weitesten fortgeschritten. Was bedeutet diese europäische Herkunft für Staaten in nicht-okzidentalen Kulturkreisen? Hängt der menschenrechtliche Schutz ihrer Bevölkerung vor politischer Unterdrückung und sozialer und ökonomischer Ausbeutung vom Ausmaß ihrer Europäisierung ab? Muß der universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte, der ja zumindest auf der Ebene verfassungsrechtlicher Prinzipien (wenn auch nicht auf der eines wirksamen rechtlichen Schutzes) von den meisten Staaten der Welt anerkannt wird, nicht zu Problemen der kulturellen Identität all der Völker führen, die Menschen- und Bürgerrechte nicht zu wirksamen Faktoren ihrer eigenen Tradition rechnen können? (Nur beiläufig möchte ich darauf hinweisen, daß dies auch ein Problem des historischen Teils in der nationalen Identität der Deutschen ist.) Als die UNO mit ihren Arbeiten an einer universellen Menschenrechtserklärung begann, sah sich die amerikanische anthropologische Gesellschaft dazu veranlaßt, vor einer solchen Erklärung zu warnen. 1 9 3 Sie sah in ihr lediglich einen Akt westlichen Kulturimperialismus', der die nicht-okzidentalen Kulturen ihrer Eigenart, ihres Eigensinns, berauben und sie daran hindern würde, sich in einer Völkergemeinschaft mit eigenen Prinzipien sozialer und politischer Ge192

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Eine Synthese zwischen individuellen und sozialen Bürgerrechten versucht die "Freedom Charter" in Südafrika, Basisdokument der Anti-Apardheitsbewegung. Gegenwärtig ist sie freilich nur eine allgemeine Willenserklärung, der die politische Bewährungsprobe noch bevorsteht. Siehe dazu Rüsen, Jörn; Vörös-Rademacher, Hildegard (Eds): Südafrika: Apartheid und Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart. Pfaffenweiler 1992. American Anthropologist Association: Statement on human rights, in: American Anthropologist 49 (1947), S.539-543.

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staltung ihres Lebens einzubringen. Aber sollte gegen den Universalismus europäisch konzipierter Menschenrechtsnormen ein kultureller Relativismus gesetzt werden? Allzu leicht könnten dann die Menschenrechte für einige reserviert und andere (mit anderer Kultur und meist auch: mit anderer Hautfarbe) ohne sie behandelt werden. Die Geltungskraft der Menschenrechte hängt von dem Ausmaß ab, mit dem sie in der Mentalität betroffener Individuen und Völker historisch verankert sind. Werden sie als fremde Kulturimporte angesehen, gar als Überfremdungsbedrohung der eigenen politischen Kultur empfunden, dann dürfte es um sie schlecht bestellt sein. (Als Beispiel dafür drängt sich das Menschenrecht auf Gleichberechtigung der Frau im Islam auf.) 194 Läßt sich überhaupt das Produkt europäischer Geschichte so in die subjektive Tiefendimension nicht-europäischer Kulturen einpflanzen, daß es dort eine wirksame Kraft zur Legitimation und Kritik politischer Herrschaft und zur Gestaltung sozialer Verhältnisse gewinnt? Diese Frage kann ohne eine historische Argumentation nicht beantwortet werden; denn die formative Kraft mentaler Prinzipien ist eine Angelegenheit historischer Entwicklungen. Wie sieht es da mit der Geschichte nicht-europäischer Kulturen aus? Können sie als Fundamente einer menschen- und bürgerrechtlichen Organisation gegenwärtiger politischer und sozialer Verhältnisse dienen? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: Einmal eine positive, die von Intellektuellen der jeweiligen Kultur im Überschwang ihrer Begeisterung für die Universalität der Menschen- und Bürgerrechte formuliert wurde. 195 Insbesondere im Anschluß an die Deklarationen und Pakte der Vereinigten Nationen setzte eine lebhafte Interpretationsund Begründungsarbeit ein, in der vor allem der Nachweis versucht wurde, daß auch die nicht-europäischen Kulturen über menschenrechtliche Denkprinzipien verfügen, mit denen sie in die durch die UNO und ihre Menschenrechtserklärungen und -pakte repräsentierte übergreifende, interkulturelle Menschheitskonzeption einmünden. Inzwischen gibt es längst andere Stimmen, nachdem der Enthusiasmus über die rechtliche Durchsetzung der Menschenrechte in der ganzen Welt einer nüchternen Einsicht und einer fast deprimierenden Erfahrung ihrer faktischen Durchsetzung gewichen ist. Zugleich ist der Blick auf die geschichtliche Einzigartigkeit des europäischen Menschen- und Bürgerrechtsdenkens schärfer geworden. Die Anders194

195

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So fehlt z.B. ein Passus, der die Gleichberechtigung der Frau betrifft, in der nach europäischem Vorbild verfaßten, aber der islamischen Tradition verpflichteten Islamischen Menschenrechtserklärung. Siehe Salim Abdullah, Muhammad (Ed.): Islamische Menschenrechtserklärung. Aus der Welt des Islam. Altenberge 1982. Z.B. Um die Erklärung der Menschenrechte. Zürich 1951.

artigkeit nicht-europäischer Kulturen in ihrem Umgang mit politischer Herrschaft und sozialer Ungleichheit ist deutlicher ins Bewußtsein getreten. Der Menschen- und Bürgerrechtsgedanke läßt sich aus der Tradition nicht-okzidentaler Kulturen nicht herleiten und nicht ohne weiteres mit ihr vermitteln. 196 Es gibt keine nicht-okzidentale Kultur, deren eigenes politisches Denken in seiner historischen Entwicklung eine eindeutige Richtung auf die menschen- und bürgerrechtlichen Prinzipien genommen hätte, die heute weltweit gelten (sollen). Der übereilte Optimismus und die nüchterne Skepsis sind beide nicht sehr überzeugend, weil sie beide nicht historisch genug ansetzen. Der Optimismus neigt dazu, historische Differenzen auszublenden, wenn er Analogien zur europäischen Menschenrechtsvorstellung in rechtlichen und politischen Traditionen nicht-europäischer Kulturen wiederfindet. Die Skepsis neigt dazu, die Geschichtlichkeit zu unterschätzen, die in den andersartigen politischen und rechtlichen Denkweisen der nicht-europäischen Kulturen steckt. Erst eine methodische Verbindung beider Sichtweisen dürfte dem Problem von universellem Geltungsanspruch und kulturspezifischer Überzeugungskraft der Menschenrechte als historischem Problem gerecht werden. Es ist falsch, den europäischen Menschenrechtsgedanken als eine fixe Größe anzusehen, die, einmal entstanden, unverrückbar sich gleichgeblieben ist und nur insofern eine historische Entwicklung durchgemacht hat, als sie immer weitere Geltungskraft entwickelte und Zustimmung fand. In Wirklichkeit haben sich die Prinzipien und die Argumentationsstrukturen des menschen- und bürgerrechtlichen Denkens im Laufe der Zeit erheblich verwandelt und entwickelt; dafür steht als besonders eindrucksvolles Beispiel die bürgerliche und sozialistische Variante und damit die Tatsache, daß eine Vermittlung von politischen und sozialen Komponenten der Menschenrechte bis heute nicht hinreichend geleistet ist. Es ist aber auch falsch, die dem okzidentalen Menschenrechtsgedanken entgegenstehenden rechtlichen und politischen Traditionen anderer Kulturen als fixe Größen anzusehen. Diese Traditionen haben sich im Laufe der Zeit tiefgreifend verändert, und sie verändern sich gegenwärtig in geradezu atemberaubender Weise. Entscheidend für die Universalität der Menschenrechte ist die Frage, welche Richtung diese Veränderung genommen hat und nehmen kann. In vielen Kulturen läßt sich eine durchaus zukunftsträchtige und fortsetzungsfahige Richtungsqualität in der geschichtlichen Entwicklung an Legitimitätskriterien menschlicher Lebensverhältnisse ausmachen. Sie 196

So vor allem Kühnhardt in seiner groß angelegten Untersuchung (Anm.176).

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führt vom Partikularismus zum Universalismus, von sehr engen Formen kollektiver Identität zu deren Ausrichtung an universellen Prinzipien, vom Totemtier zur Menschheit.197 Freilich ist die jeweils maßgebliche Menschheitsvorstellung religiös, politisch und sozial bedingt und begrenzt, aber das gilt im Prinzip auch für die europäische Menschenrechtstradition. Wie immer diese Begrenzungen im einzelnen aussehen mögen, - das Entscheidende ist, daß es in den nicht-europäischen Kulturen Tendenzen und Prinzipien der Universalisierung kultureller Identität gibt, so z.B. der Konfuzianismus in der chinesischen Kultur. An diese Tendenzen muß (hermeneutisch) angeknüpft werden, wenn Menschen- und Bürgerrechte interkulturell wirklich in Kraft gesetzt werden sollen. Im Blick auf diese Tendenzen und Prinzipien muß der dominante Einfluß modernisierender okzidentaler Rationalität nicht notwendig als Gefahr der Verfremdung und des Selbstverlustes erscheinen. Er kann als Stimulans und Herausforderung zur Weiterentwicklung eigener Prinzipien menschheitlichen und menschenrechtlichen Denkens angesehen werden. 7. Das Prinzip Anerkennung: Universalität in der Relativität Ein historischer Kulturvergleich, der die Menschen- und Bürgerrechte auf jeweilige historische und kulturelle Bedingungen ihrer Entfaltung, Durchsetzung und Weiterentwicklung bezieht, kann leicht zum Relativismus führen. Der ist dann fast unvermeidlich, wenn ein solcher Vergleich nicht selber unter Gesichtspunkten folgt, die etwas mit der Geltung der Menschenrechte zu tun haben. Welche Gesichtspunkte aber können das sein? 198 Wäre es die Normativität des europäischen Menschenrechtsgedankens, dann handelte es sich nur scheinbar um eine interkulturelle Kommunikation; in Wirklichkeit wäre ja dann die europäische Form vorab schon als Meta-Norm eingeführt (und damit übrigens auch in ihrer inneren Geschichtlichkeit stillgestellt). Es kann sich nur um einen Gesichtspunkt handeln, der die innere Berechtigung kulturspezifischer Ausprägungen von Menschenrechten und zugleich einen kulturübergreifenden Universalismus ihrer Geltungsansprüche in sich vereinigt. 197

198

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Ich nenne ganz willkürlich ein Beispiel aus der altägyptischen Kultur: Dort haben die tiergestaltigen Götter einen eher lokalen Charakter, die menschengestaltigen einen eher universalen (Beltz, Walter: Die Mythen der Ägypter. München o.J., S.14). Dieser Befund zeigt m.E. die erwähnte Tendenz vom Partikularen zum Universalen. Bessere Beispiele dürfte die chinesische Geschichte hergeben. Vgl. Rüsen, Jörn: Die Individualisierung des Allgemeinen - Theorieprobleme einer vergleichenden Universalgeschichte der Menschenrechte, in: ders.: Historische Orientierung (Anm.89), S. 168-187.

Es gibt ein Prinzip, das so etwas leistet: das Prinzip der Anerkennung, das einen Diskurs regeln kann, in dem es um menschliche Identität, um das Selbstsein von Individuen, Gruppen, Völkern und ganzen Kulturen geht. Identität ist immer partikular, aber sie lebt davon, daß sie jeweils von denen, die anders sind, anerkannt wird. Im interkulturellen Diskurs über Eigenart und Geltungsanspruch der Menschenrechte geht es um kulturelle Identität, also um die jeweilige Partikularität von Eigensinn und Anderssein in der Kommunikation zwischen Kulturen. Und da es in dieser Kommunikation sowohl das Eigensein (und damit immer ^uch um das Anderssein der Anderen) wie aber auch darum geht, was denn die jeweils Verschiedenen gemeinsam sind, insofern sie ja der gleichen Gattung angehören und (aufgrund ihrer je unterschiedlichen historischen Tradition) auch bereit sind, dieser Gattungszugehörigkeit selber einen hohen kulturellen, rechtlichen, politischen, ja religiösen und zivilisatorischen Wert beizumessen, geht es in der Tat um die innere Einheit von übergreifend allgemein Menschlichem und dessen je besonderer kultureller Ausprägung. Anerkennung ist ein Prinzip, das beides zugleich systematisch berücksichtigt und so etwas wie Zustimmung im Diskurs über Unterschiede des Selbst- und Andersseins ermöglicht. Interkulturelle Diskurse über Menschen- und Bürgerrechte sollten einer Regel folgen, die auf dem Prinzip der Anerkennung kultureller Vielfalt beruht. (Eine solche Diskursregel schlösse eine 'Einmischung' nicht aus, sondern legte fest, wie sie zu erfolgen hätte.) 1 9 9 Die Praxis so geregelter Diskurse ist noch nicht weit gediehen, aber es gibt immerhin Denktraditionen, die dem Prinzip Anerkennung verpflichtet sind und es in konkreten Anerkennungsleistungen zu realisieren versucht haben. Ich denke dabei vor allem an diejenige Tradition des Historismus, die den Unterschied und die Eigenbedeutung der Kulturen in der Einheit der Menschheit betont hat. Und die dabei zugleich dieser Einheit der Menschheit eine historische Dimension gab, sie als Richtung zeitlicher Veränderungen denken und an der historischen Erfahrung erhärten ließ. Ranke hat die hier maßgebende Vorstellung so formuliert: "... In der Herbeiziehung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur ist der Fortschritt ein unbedingter." 200

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In diese Argumentationsrichtung scheint mir Otfried Höffe zu gehen, wenn er die Menschenrechte kommunikationstheoretisch begründet und expliziert: Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: Schwartländer, Johannes (Ed.): Menschenrechte und Demokratie. Interdisziplinäres Kolloquium 1978. Kehl 1981, S.241-274. Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte (Anm.10), S.80.

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In dieser interkulturellen Dimension gewinnt das historische Denken einen außerordentlich starken Zukunftsbezug: Es organisiert die historische Erfahrung von der Entwicklung und Behinderung, der Durchsetzung und Begrenzung menschenrechtlichen Denkens und seiner Kraft und Schwäche in sozialen Verhältnissen und in politischer Herrschaft im Lichte eines umgreifenden historischen Prozesses, der in die Zukunft weist, in eine Zukunft, in der Menschen- und Bürgerrechte zu gestaltenden Prinzipien kultureller Identität in interkultureller Kommunikation werden. Diese Perspektive ist sowohl als Rückgriff auf die Vergangenheit wie aber auch als Ausgriff in die Zukunft noch ziemlich leer. Historisches Denken kann und muß sie mit der Erfahrung der Vergangenheit füllen, und politisches Handeln könnte, gestützt auf diese Erfahrung ein Stück dieser Zukunft gestalten. 2 0 1 Ein Moment dieser Gestaltung, hinsichtlich ihrer Langfristigkeit sicher eines der wichtigsten, ist ein Erziehungs- und Bildungsprozeß, in dem die Menschenrechte zu Gesichtspunkten der jeweils eigenen historischen und politischen Identität heranwachsender Generationen Gestalt und Kraft gewinnen.

8. Historische Perspektive IV: Der Umgang mit der Natur Zur Entwicklungsfähigkeit des Menschenrechtsgedankens gehört die Kritikbedürftigkeit seiner bisherigen geschichtlichen Ausprägungen. Durch Kritik wird er zukunftsfähig. Ich meine jetzt nicht die - durchaus produktive und zukunfterschließende - wechselseitige Kritik von bürgerlicher und sozialistischer Menschenrechtskonzeption, sondern eine Kritik, die beide gemeinsam betrifft. Sie richtet sich auf ein ihnen gemeinsam zugrundeliegendes Verhältnis des Menschen zur Natur, das mehr Zwänge enthält, als mit der beabsichtigten humanen Regelung von Herrschaft vereinbar ist. Das moderne okzidentale Menschenrechtsdenken beruht auf einer Anthropologie, die die Natur des Menschen, sein Menschsein, auf ein Unterwerfungsverhältnis zur anderen, nicht-menschlichen Natur festlegt. Deutlich wird dieses Naturverhältnis an der Rolle, die die Arbeit im Begründungszusammenhang der Menschen- und Bürgerrechte spielt. Arbeit als Unterwerfung der Natur unter den Menschen und als ihre Aneignung als produziertes Eigentum zum Genuß des eigenen Lebens ("persuit of happiness", wie es in der amerikanischen Menschenrechtserklärung heißt) - diese Lebensform ist es, die die menschen- und bürgerrechtlichen Regelungen zugleich möglich und 201

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Vgl. dazu Rüsen, Jörn: Vom Umgang mit den Anderen - zum Stand der Menschenrechte heute, in: Internationale Schulbuchforschung 15 (1993), S.167178.

notwendig macht. Der produktive Widerspruch zwischen bürgerlicher und sozialistischer Fassung dieser Regelungen berührt diese Voraussetzung nicht; sie ist vielmehr beiden gemeinsam. Natur ist für beide das gleiche: Objekt schrankenloser aneignender Ausbeutung zum Lebensgenuß des Menschen. Da diese Unterwerfung der Natur durch den Menschen und ihre Vernichtung im Lebensgenuß selber Natur ist - Natur des Menschen -, steckt im europäischen Menschenrechtsgedanken ein innerer Widerspruch: Natur steht gegen Natur; im Menschen streitet sie mit sich selbst; im Menschen stellt sie sich selbst als ein Verhältnis von Herrschaft, von Unterwerfung und Ausbeutung, dar. In den anthropologischen Grundlagen des modernen Menschenrechtsdenken selber steckt also ein Stück unaufgeklärter und inzwischen illegitim gewordener Herrschaft. Diese Herrschaft liegt noch der politischen Machtausübung und sozialen Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen voraus und zugrunde, um deren Regelung es in den Menschen- und Bürgerrechten geht. Dem Menschen- und Bürgerrechtsdenken der Neuzeit geht es um die Legitimität politischer Herrschaft. Die vorpolitische Herrschaft aber, die es für seine eigene Plausibilität voraussetzt, die Herrschaft des Menschen über die Natur (auch über seine eigene), wird keinem Legitimitätskriterium unterworfen; sie steht als rechtfertigungs- und begründungsbedürftig nicht zur Debatte. In der Arbeitskategorie, der für das Menschenrechtsdenken in allen seinen Ausprägungen eine fundamentale, anthropologische Bedeutung zukommt, tritt dieses Herrschaftsverhältnis harmlos und unschuldig auf. Im klassischen Naturrechtsdenken der Neuzeit, wie es etwa John Locke höchst wirkungsvoll für die Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts formuliert hatte, war Arbeit die Quelle von Lebensgenuß. Arbeit verwirklicht die naturgegebene Freiheit und Gleichheit des Menschen zur Kultur menschlicher (und daher auch menschen- und bürgerrechtlich zu regelnder) Lebensformen; sie läßt aus Freiheit und Gleichheit Lebensgenuß erwachsen, ist also notwendige Bedingung für menschliche Selbstverwirklichung. Wenn jedoch die Produktion der im Lebensgenuß verbrauchten Güter von menschlicher Arbeit zunehmend abgekoppelt wird und wenn zugleich die arbeitende Unterwerfung und Verwandlung der Natur in genußdienliche Lebensgüter zur Zerstörung natürlicher Bedingungen des menschlichen Lebens selber führt, dann verliert das in der Anthropologie des Menschenrechtsgedankens über die Kategorie der Arbeit angelegte Herrschaftsverhältnis des Menschen zur Natur seine anthropologische Unschuld. Es wird zum Problem einer Herrschaft,

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deren Regelung analog zu den Menschen- und Bürgerrechten noch aussteht. Es handelt sich bei dieser Regelung wahrlich nicht um ein bloß philosophisches Problem eines unaufgelösten Widerspruchs in der Anthropologie modernen Menschseins, sondern um ein elementares und fundamentales Problem in den Voraussetzungen aller bisherigen menschen- und bürgerrechtlichen Regelungen politischen und sozialen Lebens. Es geht um eine Herrschaft, die in der Tradition des bürgerlichen und des sozialistischen Menschenrechtsdenkens als 'natürlich' angesehen wurde, für die es also keinen Regelungsbedarf zu geben schien; denn was ist natürlicher und selbstverständlicher, als daß der Mensch sich die Natur arbeitend unterwerfen und verwandelnd aneignen muß, um leben zu können. Diese Naturunterwerfung aber hat ihre eigene Geschichte, und daran zu erinnern ist heutzutage, wo sie den Schrecken einer elementaren Bedrohung der Überlebenschancen der Menschheit angenommen hat, sicher eine der wichtigsten Aufgaben des historischen Denkens. Es ist zu einer historischen Ideologiekritik des modernen Menschenrechtsdenkens aufgefordert, die dieses Denken einer unaufgeklärten und unbewältigten Dialektik der Herrschaft im Versuch einer Bewältigung von Herrschaft überführt. Damit wäre aus der Kritik der Vergangenheit eine Zukunftsdimension eröffnet, die eine neue Qualität menschenrechtlichen Denkens beinhaltet: Menschsein würde zum Kriterium der Legitimität lebensnotwendiger Herrschaft des Menschen über die Natur. Die Natur bekäme, um Bedingung menschenwürdigen und menschenrechtlich regelbaren Lebens bleiben oder werden zu können, ein Recht auf den Menschen. Das Naturrecht des Menschen auf sein Menschsein bedarf des Rechtes der Natur auf den Menschen. An diese Überlegungen könnte auch eine geschlechtergeschichtliche Interpretation der Menschenrechte anschließen, die Weiblichkeit als Ausschließungskriterium bürgerrechtlich definierter Politikfahigkeit neu sehen lehrt: als mögliches Humanitätspotential, das über die Grenzen hinausführen könnte, in die die Arbeit die Natur kategorial eingesperrt hat. Dieser Aspekt ist bisher nur in einer Ideologiekritik ausgearbeitet worden, die im Ende der Aufklärung und der ihr geschuldeten Konzepte menschlicher Emanzipation die einzige (postmoderne) Rettung des Menschen vor der selbstverschuldeten Katastrophe ihres freien Verstandesgebrauchs im Umgang mit der Natur sehen. 202 In dieser Ideologiekritik bleiben die Menschen- und Bürgerrechte auf der Strecke ausgebrannter Traditionen. Was an ihre 202

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So z.B. Hassauer, Friederike; Roos, Peter: Aufklärung: Futurologie oder Konkurs. Acht Behauptungen, in: Rüsen, Jörn; Lämmert, Eberhard; Glotz, Peter (Eds): Die Zukunft der Aufklärung. Frankfurt/Main 1988, S.40-47.

Stelle treten und politische Herrschaft verfassungsrechtlich organisieren soll, ist unklar. Wen kann schon eine mehr verhohlene als reflektierte Phantasmagorie von Frauenmacht als Vorstellung humaner Herrschaftsformen überzeugen, wenn sie die historische Erfahrung mit den politischen Konsequenzen radikaler Zivilisationskritik nicht explizit verarbeitet hat, sondern eher in der Gefahr steht, sie blind zu wiederholen?203 9. Menschenrechte didaktisch I: In der Genese normativer Kompetenzen Erziehungs- und Bildungsprozesse, in denen es um die Menschenund Bürgerrechte geht, betreffen die Entwicklung des moralischen, des politischen und des historischen Bewußtseins bei Kindern und Jugendlichen. In dieser Entwicklung bilden sich politische Handlungsdispositionen und Normen, historische Identität und die zeitlichen Orientierungsmuster der eigenen Lebenspraxis. Gelernt wird die Fähigkeit, handlungsleitende Gesichtspunkte normativer Art zu konzipieren, auf politische Handlungssituationen zu beziehen, im Medium der historischen Erfahrung zu reflektieren, an und mit ihnen die eigene Lebenspraxis zeitlich zu orientieren und die eigene historische Identität zu bilden. Für einen Geschichtsunterricht, in dem es um die Ausbildung und den Erwerb solcher Kompetenzen geht, muß eine Vorstellung davon maßgebend sein, in welcher Form sie sich artikulieren und entwickeln. Denn sie müssen ja in der Arbeit am historischen Material systematisch geschult und reflektiert werden: Die Kinder und Jugendlichen müssen die Menschen- und Bürgerrechte als normative Gebilde mit Geltungsanspruch an sich selbst erörtern und dabei ihre Fähigkeit der Begründung, Explikation, Anwendung und auch der Veränderung von Normen schulen und entwickeln. Die Menschenund Bürgerrechte dürfen im Unterricht nicht bloß als historische Tatsachen vorkommen, sondern als Prinzipien der jeweils eigenen Urteilsbildung bei den Kindern und Jugendlichen, also nicht nur als objektive, sondern als dezidiert subjektive Tatsachen. Die Geschichtsdidaktik hat sich noch wenig mit einer solchen Subjektivität historischer Tatsachen beschäftigt. 204 Es empfiehlt sich, bei der unter203 204

Vgl. dazu Frank, Manfred: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer 'postmodernen' Toterklärung. Frankfurt/Main 1986, S . l l f . Jeismann spricht sie als Geschichtsbewußtseinsoperation der Wertung an, und als solche sind sie bereits in die Fachdiskussion der Geschichtsdidaktik eingeführt. Wir wissen aber noch sehr wenig darüber, wie die Kompetenz wertender historischer Urteilsbildung lernend erworben und lehrend vermittelt werden

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richtlichen Bearbeitung der Menschen- und Bürgerrechte auf die Art ihrer normativen Artikulation zu achten und sie als solche auch ausführlich zu thematisieren. Dabei dürfte die von Kohlberg entwickelte Theorie der Entwicklung des moralischen Bewußtseins bei Kindern und Jugendlichen hilfreich sein. 205 Mit ihr können verschiedene Entwicklungsstadien normativer Urteilskompetenz unterschieden werden, insbesondere das Stadium der konventionellen und der post-konventionell-regelhaften. Im Unterricht müßte versucht werden, bei der Erörterung der Legitimität politischer Herrschaft und der Akzeptanz sozialer Lebensverhältnisse konventionalistische Urteilsformen in prinzipielle und regelgeleitete zu überführen. Die jeweils maßgeblichen Regeln müßten in der historischen Erfahrung wiedergefunden und an und mit der historischen Erfahrung expliziert werden. Dann wäre im moralischen Bewußtsein der Kinder und Jugendlichen so etwas wie das Niveau einer menschenrechtlichen Argumentation erreicht. Vorher freilich käme es darauf an, das vorgängige schon Eingewurzeltsein menschen- und bürgerrechtlicher Urteilsprinzipien in der von den Kindern und Jugendlichen angeeigneten politischen Kultur an Art und Inhalt ihres konventionalistischen Urteilens aufzuweisen. Auch dies kann im Spiegel der historischen Erfahrung, also an den einschlägigen historischen Inhalten und Themen geschehen. Eine nicht unerhebliche didaktische Schwierigkeit dürfte im letzten Schritt des Erwerbs menschenrechtlicher Urteils- und Orientierungskompetenz liegen: im Schritt vom abstrakt-allgemeinen Prinzip, von der zeitübergreifenden normativen Menschlichskeitsvorstellung und kann und welchen Stellenwert sie im moralischen Bewußtsein der Kinder und Jugendlichen wirklich hat. Die Sachlage wird dadurch kompliziert, daß die Vorgänge normengeleiteter historischer Urteilsbildung nur zum Teil auf der Ebene bewußter kognitiver Operationen vor sich gehen, zum anderen Teil reichen sie tief in Bereiche des Unbewußten hinein, die in der Geschichtsdidaktik so gut wie überhaupt noch nicht angesprochen worden sind. Vgl. dazu Knigge (Anm.127). Zur Werteerziehung im Geschichtsunterricht vgl. auch Rothe, Valentine: Werteerziehung und Geschichtsdidaktik. Ein Beitrag zu einer kritischen Werteerziehung im Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1987. R. verweist auf evolutionstheoretische Interpretationen der Entwicklungspsychologie des moralischen Bewußtseins (J. Habermas, K. Eder) als ein wichtiges Argument zur Verbindung von moralischem und historischem Bewußtsein. Leider hat sie diese Verbindung selber als Theorie des Geschichtsbewußtseins nicht ausgeführt, sondern sich darauf beschränkt, historische Inhalte mit moralischen Bewußtseinsoperationen zu korrelieren. Was und wie dabei historisch gelernt werden kann und soll - dieses spezifisch geschichtsdidaktische Problem bleibt unterbelichtet, vielleicht deshalb, weil R. sich durch ihre harsche Ideologiekritik des Historismus selber Möglichkeiten der 'Historisierung' im Moralbewußtsein verstellt hat. Die für die Werteerziehung wichtigen präkognitiven Dimensionen des Geschichtsbewußtseins spricht R. nicht an. 205 Kohlberg, Lawrence: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Frankfurt/Main 1974. Vgl. auch die Argumentation von Bergmann, Klaus: Wir und die Anderen Lernen an und aus Geschichte, in: Internationale Schulbuchforschung 15 (1993), S. 197-200, bes. S.192-194.

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der ihr entsprechenden Argumentation mit den Normen der Menschenwürde und des Menschenrechts hin zu einer zeitlichen Vorstellung von der Entwicklungsfähigkeit und -bedürftigkeit eben dieser normativen Prinzipien. Sie müssen so auf die historische Erfahrung ihrer Bedingtheit und Relativität bezogen werden, daß sie von ihrem Geltungsanspruch nicht nur nichts einbüßen, sondern daß dieser Geltungsanspruch sich intensiviert und erweitert zur Vorstellung einer zukunfteröffnenden Weiterentwicklung der Menschenrechte, einer Vorstellung, die für die Schüler und Schülerinnen selber verpflichtende Kraft haben müßte. Am Menschenrecht auf Arbeit ließe sich dies hinsichtlich der westlichen Tradition der Menschenrechte eingängig darlegen. Und entsprechend könnte an der kommunistischen Menschenrechtskonzeption deren relative Berechtigung zugleich mit dem substantiellen Nachholbedarf an 'bürgerlicher' Menschenrechtssicherung aufgewiesen werden.

10.Menschenrechte didaktisch II: Historische Lernformen Historisches Lernen sollte also so organisiert werden, daß sich die normative Kompetenz der Schülerinnen und Schüler von einer konventionalistischen zu einer prinzipien- oder regelgeleiteten und darüber hinaus zu einer historisch-dynamischen Urteilsform erweitert und steigert. Der normative Aspekt sollte jedoch den historischen nicht überlagern oder gar verdecken. Die innere, subjektive Tatsächlichkeit der Menschenrechte in der Entwicklung politisch-moralischer Urteilsfähigkeit bei den Kindern und Jugendlichen sollte in einem untrennbaren Zusammenhang mit der historischen Erfahrung stehen, sonst würde sich allzu schnell die Kluft zwischen innerem Wertgefühl und desillusionierender äußerer Erfahrung herstellen, die der Durchschlagskraft menschenrechtlichen Denkens äußerst hinderlich ist. Die normative Seite, die sich am Thema der Menschenrechte im Geschichtsbewußtsein so eindrucksvoll hervorheben läßt, muß gleichsam empirisiert werden durch die Arbeit an historischen Erfahrungsbeständen. Diese Arbeit müßte so erfolgen, daß der Objektivierung von Normen an historischen Tatsachen eine (normative) Subjektivierung dieser Tatsachen im Geschichtsbewußtsein entspricht. Wie ist das möglich? Ich schlage vor, bei der Erörterung im Unterricht die vier Grundformen deutender Aufarbeitung der historischen Erfahrung als strukturierende Formen des historischen Lernprozesses zu verwenden. 206 In ihnen lassen sich die unterschiedlichen Formen historischer Urteils-

206

Dazu oben S.85ff. und S.141-155.

231

bildung in ihrer subjektiven und objektiven Ausrichtung zugleich ansprechen, systematisch einüben und als Grundformen des historischen Urteils auch reflektieren. Ich meine die Formen einer traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Sinnbildung an und mit der historischen Erfahrung, also der Erfahrung von der Entstehung, Durchsetzung, Veränderung und Verhinderung menschenrechtlicher Organisation politischer Herrschaft und sozialer Lebensformen. Diese Lernformen sind genuin historisch, zeichnen sich also gegenüber den didaktischen Zugriffen, die von Gesichtspunkten der Entwicklungen des moralischen Bewußtseins bei Kindern und Jugendlichen geprägt sind, durch einen besonderen Zeitbezug aus: Sie bringen Zeit in den Aufbau des moralischen Bewußtseins ein, lassen also dieses Bewußtsein als Teil von Geschichtsbewußtsein erkennen, ansprechen und lernend in Bewegung bringen. In der Lernform traditionaler Sinnbildung werden die Menschen- und Bürgerrechte als Traditionen präsentiert, angesprochen und reflektiert, die gepflegt werden müssen, um weiter gelten zu können. In der Lernform der exemplarischen Sinnbildung werden die Menschenrechte als abstrakt-allgemeine Prinzipien deutlich, die auf konkrete, d.h. je geschichtlich verschiedene Formen politischer Herrschaft und sozialer Verhältnisse angewendet werden müssen. Historisches Lernen macht in dieser Form 'klug für immer' (Thukydides): Es erbringt eine historische Urteilskraft, die die Vielfalt zeitlicher Verschiedenheiten in eine zeitübergreifende Regel zusammenfaßt und umgekehrt eine solche Regel auf unterschiedliche Situationen anwenden läßt. In der Lernform kritischer Sinnbildung geht es darum, menschenund bürgerrechtliche Argumentationen ideologiekritisch zu analysieren, d.h. die in ihnen sich ausprägenden Interessenlagen und Machtansprüche sichtbar zu machen. Sie sollen damit in ihrer Geltung natürlich nicht außer Kraft gesetzt, sondern als bedingt und veränderbar (im Sinne von entwicklungsfähig) eingesehen werden können. In dieser Lernform kann auch das heikle Problem behandelt werden, wie sich eine jeweils partikulare historische Identität an und mit universellen menschenrechtlichen Normen artikuliert und zur Geltung bringt. Das kann zu aggressivem politischen Verhalten unter dem Schleier einer menschenrechtlichen Argumentation führen. Eine solche strategische Instrumentalisierung des Menschenrechtsgedankens kann an historischen Beispielen (etwa an den französischen Revolutionskriegen, am Ost-West-Konfklikt oder am Vietnam-Krieg) aufgewiesen werden. Eine menschenrechtliche Argumentation kann in einem politischen Konflikt zu einer ganz erheblichen Verschärfung führen: Wer für die Durchsetzung seiner Interessen das Interesse der Menschheit bemüht, ist nicht davor gefeit, dem Gegner die Menschheitsqualität abzusprechen und damit Raum für unmenschliches 232

Handeln zu geben. Die kritische Lernform ist auch dann notwendig, wenn es darum geht, die Grenzen, die in einer bloß traditionalen Geltung von Menschenrechten liegt, zu überschreiten und die Abstraktheit allgemeiner Menschenrechtsprinzipien im Hinblick auf unterschiedliche Entstehungs- und Anwendungsbedingungen als Problem zu erkennen. In der Lernform einer genetischen Sinnbildung schließlich wird die innere Zeitlichkeit, die Entwicklungsdynamik der Menschen- und Bürgerrechte im historischen Prozeß der Modernisierung sichtbar. Als Zeitqualität im Wertesystem der Kinder und Jugendlichen wirklich angeeignet, eröffnet sie für deren Lebensperspektive eine Zukunft, in der neue Dimensionen menschen- und bürgerrechtlichen Denkens erschlossen und verwirklicht werden können. Zu solchen Dimensionen gehören (im Kontext unserer politischen Kultur) die sozialen Menschenrechte, aber auch eine Revision des klassischen menschenrechtlichen Denkens hinsichtlich der in ihm maßgebenden Vorstellung des Menschen als Herrn über die Natur.

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Schema einer typenspezifischen Deutung der Menschenrechte: 1. traditional: Die Menschenrechte sind eine große Errungenschaft der europäischen Geschichte. Sie stellen für uns eine nachhaltige Verpflichtung dar. Der Tag der Erklärung der Menschenrechte sollte daher mit entsprechender Feierlichkeit begangen werden, damit diese Tradition lebendig bleibt. 2. exemplarisch: Die Menschenrechte sind ein System von grundlegenden Verhaltensregeln, nach denen eine Gesellschaft am besten organisiert werden kann. Sie gelten eigentlich immer. Die Geschichte zeigt uns nur, wann und wo sie durchgesetzt werden konnten. 3. kritisch: Die Menschenrechte sind ja schön und gut. Nur ist die historische Wirklichkeit immer anders. Ausgebildet wurden sie letztlich nur deshalb, um eine ungehemmte wirtschaftliche Entwicklung (freier Markt, freie Arbeitsverhältnisse usw.) abzusichern. Die Moral spielt da eigentlich keine Rolle. 4. genetisch: Mit den Erklärungen der Menschenrechte wurde historisch ein guter Anfang gemacht. Aber sie sind bisher nur unvollkommen ausgearbeitet und verwirklicht worden. In vielen Verfassungen fehlen wichtige Menschenrechte z.B. das Recht auf Arbeit), und es gibt ganz neue Gesichtspunkte (z.B. beim Umweltschutz), die zu Menschenrechten gemacht werden müßten. Es kommt also darauf an, die Menschenrechte weiter zu entwickeln und zu verbessern.

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Der Lernprozeß sollte im Geschichtsunterricht so organisiert werden, daß an den jeweils angesprochenen historischen Inhalten alle Deutungsmuster verwendet werden. Dabei sollten sie als solche auch angesprochen werden, und zwar so, daß ihre zunehmende Komplexität vom Traditionalen über das Exemplarische und Kritische zum Genetischen eingeübt und beherrscht wird. Dadurch könnte menschenrechtliches Denken zum integralen Bestandteil des Geschichtsbewußtseins der Schüler und Schülerinnen werden. 11. Historisches Lernen als Lebenselixier der Menschenrechte Die historische Erfahrung mit den Menschen- und Bürgerrechten kann nur dann als Lernpotential zur Entwicklung normativer Kompetenzen, historischer Einsichten, Orientierungen und Identitätsbildungen führen, wenn sie in einem Lernprozeß verhandelt wird, der die Brücke zwischen subjektiver Befindlichkeit der Schüler und Schülerinnen und der objektiven Vorgabe von Verfassungsprinzipien schlagen kann. Es dürfte nicht schwierig sein, die Subjektivität der Schüler und Schülerinnen mit dem Thema Menschenrechte anzusprechen. Drastische Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart, aber auch Problemstellungen, die sich direkt auf die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen erstrecken, wie etwa die Frage nach der Zulässigkeit von Prügelstrafe im Erziehungsprozeß, dürften ein subjektives Engagement an der Sache auslösen, das in historisches Interesse übertragen werden könnte. Dieses Interesse könnte dann die zeitliche Dimension der Menschen- und Bürgerrechtsprinzipien so erschließen, daß die Schülerinnen und Schüler sich selbst, ihre moralische Sensibilität und ihre Ansprüche auf Wahrung der eigenen Würde im historischen Prozeß wiederfinden und an der historischen Erfahrung artikulieren können. Dann gewännen die Menschen- und Bürgerrechte ein eigenes Leben im Lernprozeß selber. Die historische Erinnerung würde zum Garanten ihrer Zukunft. Sie könnte zur Stärkung menschenrechtlicher Traditionen der politischen Kultur, zur Universalisierung und Vertiefung menschen- und bürgerrechtlicher Sicherungen humaner Lebensformen, zur kritischen Aufmerksamkeit gegenüber ideologischer Instrumentalisierung des menschenrechtlichen Denkens führen. So bekämen die Menschen- und Bürgerrechte, der jungen Generation überantwortet, neue Entwicklungschancen.

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Drucknachweise

Aufklärung und Historismus - Historische Prämissen und Optionen der Geschichtsdidaktik, in: Mütter, Bernd; Quandt, Siegfried (Eds): Historie - Didaktik - Kommunikation. Wissenschaftsgeschichte und aktuelle Herausforderungen. Marburg 1988, S.49-64. Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, in: Quandt, Siegfried; Süssmuth, Hans (Eds): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S.129-170. Erfahrung, Deutung, Orientierung - drei Dimensionen des historischen Lernens, englisch in: Rüsen, Jörn: Studies in metahistory. Pretoria 1993, S.85-93. Historisches Lernen - Grundriß einer Theorie, in: Geschichtsdidaktik 10 (1985), S.249-265; 12 (1987), S.15-27, Geschichtsdidaktik heute - Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)?, in: Geschichte lernen H. 21, Mai 1991, S. 14-19; auch in: Hinrichs, Ernst; Jacobmeyer, Wolfgang (Eds): Bildungsgeschichte und historisches Lernen. Frankfurt/Main 1991, S. 9-23. Rüsen, Ingetraud: "Das Gute bleibt - wie schön!" Historische Deutungsmuster in der Werbung, in: Geschichte lernen, H. 1, Dezember 1987, S.27-32. Das ideale Schulbuch, in: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992), S.237-250. Für eine Didaktik historischer Museen - gegen eine Verengung im Streit um die Geschichtskultur, in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S.267-276; auch in: Rüsen, Jörn; Ernst, Wolfgang; Grütter, Heinrich Theodor (Eds): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen (Geschichtsdidaktik. Studien, Materialien. Neue Folge. Band 1). Pfaffenweiler 1988, S.9-20. Fortschritt. Überlegungen zur Fragwürdigkeit einer historischen Kategorie, in: Geschichte lernen, H. 1, Dezember 1987, S.8-12. Menschen- und Bürgerrechte als historische Orientierung, in: Fröhlich, Klaus; Rüsen, Jörn (Eds): Menschenrechte im Prozeß der Geschichte. Historische Interpretationen, didaktische Konzepte, Unterrichtsmaterialien. Pfaffenweiler 1990, S.l-31.

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Namensregister Baumgartner 29 Burckhardt 18 Chladenius 15 Danto 29 Droysen 10,17,21 Gatterer 12f.,15f.,19 Gervinus 17 Ginzburg 194 Habermas 188 Hegel 89 Hitler 177 Jeismann 42,44,47-50,76,80 Johnson 106 Kant 204 Kohlberg 109,230 Koselleck 9 Küppers 53 Locke 227 Mann 178 Menocchio 194 Müller 204 Ranke 11,15,17,20,24,225 Roth 53 Schiller 122f.,127,129,138 Schlözer 10,16 Schmidt 70 Schörken 42-44,47-49,53,60 Schröckh 64 Shakespeare 30,171 Stanzel 20 Syberberg 177 Thukydides 82,232 Voltaire 39 Weber 128,183,198

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Jörn Rüsen

HISTORISCHE ORIENTIERUNG Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden X, 2 6 4 S. Br. ISBN 3 - 4 1 2 - 0 9 4 9 2 - 7

Das Buch handelt von historischem Denken, Geschichtswissenschaft, Geschichtsschreibung und historischem Lernen. Es fragt nach Eigenart, Ausprägung und Entwicklung von Geschichtsbewußtsein, nach den theoretischen und methodischen Prinzipien der historischen Erkenntnis, nach der rhetorischen Form, der kulturellen Bedeutung und öffentlichen Wirkung von Geschichte und nach ihren Vernunftpotentialen und Lernchancen. Neben übergreifenden und grundlegenden Aspekten werden exemplarisch einzelne historische Schlüsselthemen wie das Fortschrittsproblem und die Menschen- und Bürgerrechte erörtert. Im Zusammenhang von theoretischer Grundlagenreflexion und historischer Fallstudie wird das weite und verzweigte Feld der Geschichtskultur in seinen wichtigsten Dimensionen und Faktoren erschlossen und damit eine neue Art des Fragens nach Geschichte und des Nachdenkens über diese vorgestellt.

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