Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte: Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock [1. Aufl.] 9783839403273

In den 50er Jahren tritt das Fernsehen seinen bis heute anhaltenden Siegeszug an. Diese Entwicklung findet in Martin Mor

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Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte: Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock [1. Aufl.]
 9783839403273

Table of contents :
INHALT
Geleitwort. Merke: Telemann war Martin Morlock
Einleitung
Fernsehkritik
Lieber Spiegelleser (Rudolf Augstein)
Fachmannlos
Wo der Pfeffer wächst
Epilog
Spiegel-Verlag/Hausmittelung
Spezifik des Fernsehens
Standbild – Wandbild
Eingemachtes
Durststrecke
Kaiserwetter
Lebensecht
Müllers Lust
Imperfektion
Wasser am Kinn
Rose und Reiher
Dichtlinien
Finster
Sozialprodukt
Heckenschützen
Teutoburger Wahn
Live-Geprüft
Chi Chi Chi
Wieder und wieder
Institution
Kalte Füße
Ringelspiel
Verpulvert
Münster aus Stein
Halb und Halb
Körper-Pflege
Epitaph
Zeugen gesucht
Alle für einen
Buridan-Büschel
Laien-Predigt
Programm
Quizproquo
Fietscher
Unterschiebung
Kiewitt
Mal eine Blume
Fernseh-Hinrichtung
Nachtschub
Lektro-Schock
Nachtgedanken
Berlitz-Schulfunk
Gemischtes Doppel
Abend-Schule
Die toten Seelen
Haltung: Schweifend
Satelliten-Programm
Der Krieg der Knöpfe
Richtfest
Tschühüs
Eckig und nicht rund
Der Fernsehzuschauer
Ab und an
Abhärtung
Mit Gewalt
Liebe Sachen
Der Neunzigprozenter
Im Namen des Volkes
Verhimmelung
Viel Freund
Augentrost
Sippenhalt
Die Mörder sehn unter uns
Spass durch Ernst
Ordnungsdienst
Nichts geht über Bärenmarke
Mensch bleiben
Politik
Muster ohne Wert
Das große Zweimalzwei
Nicht in die Tüte
Mauch-Grimmen
Kleine Anfrage
Einmischung
Terrorama
Schläferstündchen
Stabilidäd
Ätherkrieg
Pferdefhues
Mitteldeutsches Klagebuch
Kuli-Aufstand
Hintennach
Spähposten
Bauern-Theater
Mit Engels Zungen
Phantomime
Kalte Suppe
Ohnmacht-Parade
Bei Charlie
Schrift-Verkehr
Unter dem Tage
Böhmischer Wind
Personal
Durch die Wüste
Haarig
Hand aufs Hemd
Umkehr-Spülung
Heger-Latein
Welt am Montag
Onkels Clou
Kookie-Look
Schmus Primae Noctis
Sparflamme empor
Hinter der Nachricht
Namensregister

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Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte

Christina Bartz (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB/FK »Medien und kulturelle Kommunikation« in Köln.

Jens Ruchatz (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Universität Erlangen.

Martin Morlock (1918-1983) schrieb Texte für Kabarett und Presse (Spiegel, Süddeutsche Zeitung u.a.).

Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte. Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ›Studienstiftung Niessen‹. Für die Unterstützung bei der technischen Herstellung des Manuskripts danken wir dem SFB/FK ›Medien und kulturelle Kommunikation‹ in Köln.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Christina Bartz, Jens Ruchatz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-327-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Geleitwort. Merke: Telemann war Martin Morlock Heidi Treutler-Morlock

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Einleitung Christina Bartz/Jens Ruchatz

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Fernsehkritik Lieber Spiegelleser (Rudolf Augstein) Fachmannlos Wo der Pfeffer wächst Epilog Spiegel-Verlag/Hausmittelung

21 21 23 25 27 29

Spezifik des Fernsehens Standbild – Wandbild Eingemachtes Durststrecke Kaiserwetter Lebensecht Müllers Lust Imperfektion Wasser am Kinn Rose und Reiher Dichtlinien Finster Sozialprodukt Heckenschützen Teutoburger Wahn Live-Geprüft Chi Chi Chi Wieder und wieder

31 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68

Institution Kalte Füße Ringelspiel Verpulvert Münster aus Stein Halb und Halb Körper-Pflege Epitaph Zeugen gesucht Alle für einen Buridan-Büschel Laien-Predigt

71 75 77 79 81 83 85 87 89 91 93 95

Programm Quizproquo Fietscher Unterschiebung Kiewitt Mal eine Blume Fernseh-Hinrichtung Nachtschub Lektro-Schock Nachtgedanken Berlitz-Schulfunk Gemischtes Doppel Abend-Schule Die toten Seelen Haltung: Schweifend Satelliten-Programm Der Krieg der Knöpfe Richtfest Tschühüs Eckig und nicht rund

97 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138

Der Fernsehzuschauer Ab und an Abhärtung Mit Gewalt Liebe Sachen Der Neunzigprozenter

141 145 147 149 151 153

Im Namen des Volkes Verhimmelung Viel Freund Augentrost Sippenhalt Die Mörder sehn unter uns Spass durch Ernst Ordnungsdienst Nichts geht über Bärenmarke Mensch bleiben

155 158 160 162 164 166 168 169 171 173

Politik Muster ohne Wert Das große Zweimalzwei Nicht in die Tüte Mauch-Grimmen Kleine Anfrage Einmischung Terrorama Schläferstündchen Stabilidäd

177 181 183 185 187 189 191 192 194 196

Ätherkrieg Pferdefhues Mitteldeutsches Klagebuch Kuli-Aufstand Hintennach Spähposten Bauern-Theater Mit Engels Zungen Phantomime Kalte Suppe Ohnmacht-Parade Bei Charlie Schrift-Verkehr Unter dem Tage Böhmischer Wind

199 202 204 206 208 210 212 214 216 219 221 223 225 226 228

Personal Durch die Wüste Haarig

231 234 236

Hand aufs Hemd Umkehr-Spülung Heger-Latein Welt am Montag Onkels Clou Kookie-Look Schmus Primae Noctis Sparflamme empor Hinter der Nachricht

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Namensregister

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MERKE: TELEMANN

WAR

MARTIN MORLOCK

HEIDI TREUTLER-MORLOCK Martin Morlock war auch »G. G.«, »goe«, »Azillus« und »Kurt Zuntgud«. Geboren als Günther Goercke 1918 in Berlin, aufgewachsen in München. Wie wird ein sensibles Kind, das früh Verse schreibt, unsportlich ist, aber gezwungen wird, die Hacken zusammenzuschlagen in einem maßgeschneiderten Matrosenanzug, stramm deutsch national zu denken, um der erzkonservativen Familie keine Schande zu machen; wie wird dieser gedrillte Knabe mit seinem einsamen Leben fertig? Er schämt sich, fühlt sich schuldig. Er wird zum Einzelgänger. Pubertäre Neugier rettet ihn. Auf der Suche nach den erotischen Geheimnissen des Lebens fingert er sich – etwas außerhalb der Legalität – aus dem ›Giftschrank‹ seines Stiefvaters einen in seinem Elternhaus noch nie erwähnten Autor namens Tucholsky heraus und entdeckt durch ihn sein Leben. Entdeckt, dass er nicht allein ist, dass es da einen ›Bruder‹ gibt, der genauso denkt wie er. Versteckt unter der Herrenhaustreppe verschlingt er den ›feindlichen‹ Geistesfreund. Lerne lachen ohne zu weinen. Eine Offenbarung. Dieser Mut zu freien Gedanken prägte sein Erwachsenwerden. Nach dem Abitur 1938 landete er allerdings sofort beim Arbeitsdienst: Moore entwässern. Schon am dritten Tag bekam er durch eigene Ungeschicklichkeit eins mit dem Spaten übergezogen. Seine Zeit als Knochenarbeiter war auf wunderbare Weise beendet. Er war außerordentlich talentiert, sich das Leben angenehm einzurichten. Zum Militärdienst eingezogen, erfuhr er nach ein paar Tagen, dass Medizinstudenten zurückgestellt würden. Also war er plötzlich Medizinstudent, besuchte aber lieber die private Blocherer Kunstschule und erlangte so Grundkenntnisse der Anatomie beim Aktzeichnen. 1940 half keine Kunst mehr: Er wurde als Ungedienter zum Nachrichtendienst nach Lothringen geschickt. Nicht das Schlimmste, was einem jungen Mann damals passieren konnte. Von Haus aus reich, frequentierte er die Feinschmeckerlokale in Nancy, knüpfte Kontakte zur Résistance, wofür ihn die französischen Mädchen liebten. Trotzdem befiel ihn schon damals Entsetzen über diesen Krieg.

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MIT TELEMANN DURCH DIE DEUTSCHE FERNSEHGESCHICHTE

1941 wurde es ernst. Das Deutsche Reich brauchte ihn in Russland. Um am Töten und ›Judenschlachten‹ nicht mitschuldig zu werden, bekannte er sich zu seinem ›eigentlichen‹ Beruf: Er war Regisseur und daher prädestiniert, in Kremenþuk, dem Standort der Truppe, die Betreuung des Fronttheaters zu übernehmen. Zum Intendanten geworden, schrieb er Soldatenklamotten, inszenierte und spielte selbst, betreute aber vor allem das Ballett. Ukrainische Bauernmädchen schwangen zu »Oh, Donna Klarrrrrra.....« ihre strammen Beine. Als ihm zu Ohren kam, Medizinstudenten dürften weiterstudieren, nutzte er die Chance. Aus dem Künstler wurde wieder ein Student. Verständnisvolle Vorgesetzte erlagen seinem Schwindel-Charme, der ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Neben einem mehr als lässigen Studium in München trat er abends, annonciert als »G. G., der feine Satiriker« mit ersten eigenen Gedichten in Anni Trautners Künstlerklause auf, einem bevorzugten Treffpunkt musisch angehauchter Anti-Nazis. Hier probierte er sich aus, lernte das Handwerk eines Kabarettisten. Mit den Mitteln von Ironie und kritischem Witz an Gewissen und Verstand appellieren. Vor allem: Pointen setzen. Weil er so schön und noch dazu so herrlich groß war ( 1,96 ), angelte ihn sich die Bavaria-Filmschule. Sie wollte ihn zum möglichen Partner von Zarah Leander machen, oder wenigstens zu einem deutschen Gary Cooper. 1944 brauchte man für den Endsieg dann doch eher Mediziner als Filmstars. Mit einem Not-Staatsexamen versehen, diente er als Feldunterarzt noch Monate in einem Lazarett in Verona. Ein ihn zutiefst erschütternder Abschnitt in seinem Leben. In amerikanische Gefangenschaft geraten, traf er wieder einen Bruder im Geist: Werner Finck. Die beiden schenkten ihren Mitgefangenen eine satirische Lagerzeitung: Die Fieberkurve. Nach seiner Entlassung in eine zerstörte und verstörte, aber freie Welt wusste er, dass er seine Begabung nutzen musste: Er musste schreiben. Zunächst schlug er sich als Journalist und Autor von Kurzgeschichten, Essays und Hörspielen durch. Als Azillus mit kleinen gereimten Politbosheiten in der Münchner Abendzeitung, als Filmkritiker in der Süddeutschen Zeitung. Er hastete von Kino zu Kino, denn Honorar gab es nicht pro Zeile, sondern pro Film. Der kauzige Finck verpflichtete seinen Geistesgenossen Dr. Günther Goercke unter dem Pseudonym Kurt Zuntgud für seine satirische Zeitschrift Das Wespennest und als Mitgestalter für sein Stuttgarter Kabarett Die Mausefalle. Dort entdeckte ihn Kay Lorentz für das gerade gegründete Kom(m)ödchen. Noch unter Kurt Zuntgud schrieb er das erste Chan-

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GELEITWORT

son für Lore Lorentz. Sie wurde seine ideale Interpretin. Sein Name Martin Morlock, ein neues Pseudonym, wurde bald darauf zum Markenzeichen, war er als Klassiker des literarischen Kabaretts in aller Munde. Was er schrieb, war immer Literatur. Er stellte hohe Ansprüche an sich und das Publikum. Nie schrieb er »Kleinkunst«, schon das Wort Kleinkunst erinnerte ihn an die verhasste Nazi-Zeit. Sein bewundertes Vorbild Erich Kästner holte ihn 1950 zur Münchner Kleinen Freiheit. Es war eine Blütezeit des Kabaretts. Die besten Kritiker beschäftigten sich intensiv mit den Programmen und würdigten jede einzelne Nummer. Ein beflügeltes Konkurrenz-Reimen begann. Monat für Monat ein neues Programm. Und Kästner war neidlos stolz auf seinen erfolgreichen Rivalen, hatte er doch auf Anhieb gespürt, Martin Morlock sei der richtige Mann am richtigen Platz: auf der Bank der Spötter. Dann das neue aufregende Medium Fernsehen! Der politisch engagierte Moralist war sofort fasziniert. Bestand doch die Möglichkeit, auch den Stubenhockern die Welt ein wenig näher zu bringen, sie neben Spaß und Unterhaltung in ihrem gemütlichen Wohnzimmer mit ungemütlichen Gedanken zu konfrontieren. Mit einer wöchentlichen Kolumne in der SZ wurde er zu einem der ersten und bald wohl auch zum bekanntesten Fernsehkritiker Deutschlands. Denn 1958 warb ihn Rudolf Augstein für seinen Spiegel als Telemann ab. Der Perfektionist nahm sich eine Wohnung in Hamburg. Ständiger persönlicher Kontakt zum Haus und vor allem die Anwesenheit bei den Redaktionskonferenzen machten das unumgänglich. Der Spiegel stellte sich eine Art Klatschkolumne vor: Kulissengeplauder und Hintergrundgespräche mit den mächtigen Machern; was Morlock zu dem in der Redaktion viel zitierten Satz veranlasste: »Was können die mir schon sagen?« Er sah sich als kritischer Beobachter der gesellschaftspolitischen Beeinflussung via Bildschirm, denn manch mächtiger Macher nutzte die Flimmerkiste bald für billige Demagogie und noch billigere Anbiederung an Volkes Stimme. Telemann hatte immerhin Vorschlagsrecht und setzte sich durch. Er blieb seinem Stil treu. So entstanden unverwechselbare Kostbarkeiten mit dem immer beliebter werdenden »Merke« am Schluss der Kolumne. (Für viele Studenten unvorstellbar, ohne dieses »Merke« in die lange Woche zu starten; sie versuchten sogar, sich mit eigenen »Merkes« zu übertreffen.) Der Leichtigkeit der Telemann – Sottisen merkte man die Anstrengung dahinter nicht an. M.M. war nie ein Schnellschreiber, feilte oft stundenlang an einem einzigen Satz, wenn nötig die Nacht hindurch. Nichts Unpräzises, Halbgelungenes verließ seinen Schreibtisch. Und er

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MIT TELEMANN DURCH DIE DEUTSCHE FERNSEHGESCHICHTE

konnte genau auf Zeile und Anschlag texten: zur Freude seiner verantwortlichen Redaktion. Aber nach fünf Jahren hatte der spöttische und immer neugierige Telemann genug. »Die Gefahr einer unheilbaren Depression« (Zitat Morlock) ließ ihn nicht weiterhin täglich vor der Glotze ausharren. Verloren ging er dem Spiegel nicht. Mit einer Namens-Kolumne (damals eine Ausnahme) verwöhnte er seine Leser fortan mit Glossen über exklusive Zeitgenossen und Erscheinungen. Bejubelte Porträts gelangen, doch ihn langweilten auf Dauer Abbildungen ohne Tiefenschärfe. Er vermisste die Hintergrundmalerei, die Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Vorgängen. Der Querdenker ärgerte sich auch über die zunehmende Einmischung leitender Redakteure auf die Auswahl Spiegelwürdiger Persönlichkeiten. 1966 trennte er sich von den Prominenzen, blieb dem Magazin aber als Gast-Kolumnist treu. Seine neue Freiheit bescherte uns – und mir, seiner Frau – satirische Fernsehspiele, Balladen, Parodien, erneut Kabarettbeiträge (Münchner Lach- und Schießgesellschaft), Bücher und Theaterstücke. Würde Telemann sich heute den Inhalten von zahlreichen Quoten heischenden Fernsehprogrammen widmen? Würde er darüber schreiben? Würde er dann mit seinem pointierten »Merke« schließen? Nein – er würde stumm bleiben.

München, im November 2005.

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EINLEITUNG Ende 1958 wird im Spiegel eine neue Kolumne angekündigt, die unter dem Namen Telemann den ›Fernseh-Betrieb‹ kommentieren soll. Dabei geht es, wie Rudolf Augstein den Spiegel-Lesern versichert, nicht um schlichte Sendungskritiken, also die Begutachtung einzelner Programmbeiträge.1 Vielmehr nimmt die Kolumne einzelne Sendungen nur als Aufhänger, um an sie grundsätzliche Überlegungen zum Fernsehen zu knüpfen. Dem Kabarettisten Martin Morlock, der hinter Telemann steckt,2 dient die laufende Beobachtung des Fernsehprogramms dazu, so die Prämisse des vorliegenden Bandes, die kommunikativen Potentiale und die gesellschaftliche Bedeutung des Fernsehens zu erläutern. Wenn der Soziologe Niklas Luhmann mit seiner Annahme recht hat, dass wir alles, was wir »über die Welt, in der wir Leben, wissen, [...] durch die Massenmedien« wissen,3 dass die Massenmedien also für die Herstellung eines gesellschaftsweit unterstellbaren Wissensstandes zuständig sind, dann gilt dies gleichermaßen für die Massenmedien selbst als Teil der Welt. Auch Wissenschaft, Erziehung oder Politik reflektieren zwar über Nutzen und Folgen einer neuen Kommunikationstechnik, doch ist es letztlich nur das massenmedial verbreitete Wissen, das die Gesellschaft insgesamt auf das neue Medium einstellt. An Telemann lässt sich ideal verfolgen, wie auf diesem Weg auch die Fernsehbeobachtung ein1

2

3

Vgl. Rudolf Augstein: »Lieber Spiegelleser« (Sektion »Fernsehkritik«). Solange es nur eine Sendeanstalt mit einem zeitlich strikt begrenzten Abendprogramm gibt, bleibt die übliche Form der Fernsehkritik die reihende Sammelrezension des Fernsehabends; vgl. Knut Hickethier: »›Bruderschaft der entzündeten Augen‹. Eine kleine Geschichte der Fernsehkritik in Deutschland«, in: Werner Faulstich (Hg.), Vom ›Autor‹ zum Nutzer: Handlungsrollen im Fernsehen. [Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5] München: Fink 1994, S. 119-216, hier S. 135, 139, 143 u. 154. Morlock mit bürgerlichem Namen Günther Goercke ist vor allem als Kabarettautor für das Kom(m)ödchen und andere Kabarett-Ensembles bekannt. Als Autor für den Telemann hatte er sich empfohlen, weil er in der Süddeutschen Zeitung bereits seit 1955 unter der dienstags erscheinenden Rubrik Deutsches Fernsehen das Fernsehprogramm kommentierte. Vgl. Hickethier: »Bruderschaft der entzündeten Augen«, S. 157. Zur Person Morlocks vgl. im vorliegenden Band auch das »Geleitwort« von Heidi Treutler-Morlock. Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 9. Luhmann ist dabei wichtig, dass Massenmedien nicht Meinungen übertragen, sondern lediglich bekannt machen, was dann allgemein als bekannt vorausgesetzt werden kann.

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MIT TELEMANN DURCH DIE DEUTSCHE FERNSEHGESCHICHTE

zelner gesellschaftlicher Teilsysteme ›popularisiert‹ und d.h. in den massenmedialen Mediendiskurs eingespeist werden. Die Kolumne greift Studien von Psychologen auf, berichtet über Gerichtsurteile oder rekonstruiert Argumente der Politik, soweit sie einen tieferen Einblick in die gesellschaftliche Aneignung des Fernsehens bieten und darüber hinaus eine gute Pointe abwerfen. Jenseits der Schwelle von Zustimmung oder Ablehnung filtert der massenmediale Fernsehdiskurs unter den stark ausdifferenzierten und perspektivierten Beobachtungsmustern diejenigen heraus, die von allgemeinem Interesse scheinen. Für die Zeit vor der breiten Etablierung des Fernsehens wird man annehmen dürfen, dass die Presse noch das bestimmende Medium einer solchen Öffentlichkeit ist, die bestimmte Themen und Sachverhalte mit dem Siegel des Vertrauten auszeichnet. Und innerhalb dieses Kontextes zählt Der Spiegel zweifelsohne zu den journalistischen ›Leitmedien‹, die nicht nur ihre unmittelbare Leserschaft erreichen, sondern zunehmend auch über ihre journalistischen Leser Anschlusskommunikation anregen.4 Seine Stellung erreicht Der Spiegel nicht etwa als Repräsentant einer bestimmbaren politischen oder journalistischen Strömung. Vielmehr fällt er als erstes und jahrzehntelang auch einziges deutsches Nachrichtenmagazin genauso aus dem Rahmen wie durch einen signifikant eigenen, von Ironie und rhetorischer Finesse gekennzeichneten Stil der Berichterstattung. Vor allem aber treibt Der Spiegel eines, was sich auch Morlocks Telemann zu eigen macht: Er beobachtet, wie andere gesellschaftliche Akteure beobachten. Es ist diese Haltung des Spiegel, die Hans Magnus Enzensberger zu der Kritik anregt: »Das Blatt hat keine Position.« Er schreibt 1957: Alle bisherigen Versuche, dem Spiegel irgendwelche Überzeugungen zuzuschreiben, sind gescheitert. […] Die Ideologie des Spiegel ist nichts weiter als eine skeptische Allwissenheit, die an allem zweifelt außer an sich selbst. Damit ist bereits gesagt, daß Der Spiegel Kritik nicht zu leisten vermag, sondern nur deren Surrogat.5

Was Enzensberger hier bemängelt, kann man mit Luhmann weniger als Defizit, denn als Errungenschaft werten und als ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ bezeichnen. Eine solche wird vollzogen, wenn nicht über ver4

5

Vgl. Helmut Wilke: »Leitmedien und Zielgruppenorgane«, in: ders. (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln: Böhlau 1999, S. 303329, hier S. 302-305 u. S. 318-320. Hans Magnus Enzensberger: »Die Sprache des Spiegel (1957)«, in: ders., Baukasten zu einer Theorie der Medien, hrsg. v. Peter Glotz, München: Reinhard Fischer 1997, S. 14-43, hier S. 29. Zur »Spiegel-Sprache« vgl. auch Wilke, »Leitmedien und Zielgruppenorgane«, S. 318f.

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EINLEITUNG

meintlich invariante Grundlagen und Notwendigkeiten argumentiert wird, sondern diese als bloß möglich vorgestellt werden.6 Während die Beobachtung erster Ordnung in einer zweiwertigen Logik des Entweder/Oder verbleibt, beobachtet der Beobachter zweiter Ordnung die Unterscheidung des Beobachters erster Ordnung als kontingent: Er setzt sie als nicht notwendig, um ihre spezifischen Folgen und Blindheiten erkennen zu können.7 Diese Beobachtungsposition scheint dem Spiegel ein zentrales Anliegen, das er in seiner, von Enzensberger sogenannten Spiegel-Sprache ausdrückt. Sie markiert eine Distanznahme und eine demonstrativ übergeordnete Beobachtungsperspektive, die sich nicht involvieren läßt. Gerade die gewohnheitsmäßige Übernahme anderer Rhetoriken und die zahlreichen Zitate weisen jede Bezugnahme auf einen direkten Gegenstand zurück. Die eigene Beobachtung gilt vielmehr dem Diskursgeschehen der Gesellschaft. So schreibt auch Telemann nicht so sehr über das Fernsehen als darüber, wie und mit welchen Konsequenzen über das Fernsehen geredet wird. Weil die Kolumne in diesem Sinne die Heterogenität der Fernsehdiskurse einschließt, nimmt sie eine Ausnahmeposition ein, von der aus sich zugleich die diskursive Etablierung des Fernsehens panoramatisch überschauen lässt. Für eine Neuveröffentlichung der Telemann-Stücke spricht also nicht allein die scharfe Beobachtung und ihr brillanter Stil, sondern auch die Sondierungsleistung, die sie als Teilnehmer und Beobachter für die diskursive Etablierung des Fernsehens zu leisten vermögen. 1958 – zum Start der Telemann-Kolumne – sind programmatische Überlegungen zum Fernsehen gefordert, denn viele Fragen zum gesellschaftlichen Status und der sozialen Funktion des Fernsehens sind noch offen. Obgleich das Fernsehen bereits bei der Olympiade 1936 als technische Errungenschaft gefeiert wurde, erhält es erst in den 50er Jahren den Status einer gesellschaftlich bedeutsamen Innovation, als es mit der Eröffnung des regelmäßigen Programms Weihnachten 1952 eine tragfähige institutionelle Verankerung erfährt. Das Fernsehen muss seinen Platz im Medienverbund erst finden. Noch ist der Umgang mit dem neuen Medium nicht habitualisiert. Weder ist die Nutzung durch den Zuschauer geklärt, noch steht fest, wie ein gelungenes Programm auszusehen hat. Es herrscht eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der geeigneten Inhalte und deren potentieller Wirkung auf den Einzelnen und die Gesellschaft. Und so testet man in den Rundfunkanstalten die Möglichkeiten und Effekte des Fernsehens aus und gestaltet ein Programm, das einerseits von großen Erwartungen an die neue Technik und andererseits 6 7

Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 1122. Exemplarisch zeigt sich dies an Morlocks Thematisierung von Mediendifferenzen. Vgl. »Verpulvert« (in der Sektion »Institution«).

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MIT TELEMANN DURCH DIE DEUTSCHE FERNSEHGESCHICHTE

von enormen Befürchtungen über deren gesellschaftlichen Wirkungen geprägt ist. Dieses Programm begleitet Morlock als Telemann kritisch und beteiligt sich auf diesem Weg an der Diskussion, wie das Fernsehen zu gestalten ist. Seine ironischen Anmerkungen zum Programm setzen sich mit der Frage auseinander, welche kommunikative Leistung dem Fernsehen für die zeitgenössische und zukünftige Gesellschaft zukommt und ihm künftig noch zuzutrauen ist. Mit dieser Frage beschäftigt sich Morlock zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung der Fernsehnutzung einerseits noch offen ist und andererseits für die Zukunft vorgezeichnet wird. Die in der Diskussion um das Fernsehen ausgehandelten und fixierten Vorstellungen sind teilweise bis heute maßgeblich.8 Insofern dokumentiert Telemann die historische Situation der konzeptionellen Herausbildung dessen, was künftig als Charakteristik des Fernsehens zu gelten hat. Die Artikel sind also nicht einfach Zeugnisse einer fernsehkritischen Tätigkeit der 50er und 60er Jahre, sondern geben auch Auskunft über die Gegenwart, insofern mit ihnen deutlich wird, auf welcher konzeptuellen Grundlage das heutige Fernsehen entwickelt wurde. Dabei verdeutlicht der Abgleich mit heutigen Diskussionen, welche Ideen im Zuge der Zeit verabschiedet werden bzw. welche Möglichkeiten zunehmend ausgeschlossen wurden. Der Abgleich zeigt aber auch historische Kontinuitäten, d.h. welche Vorstellungen immer noch aktuell sind. Morlocks Fernsehkritiken geben also einerseits ein Zeugnis von dem Augenblick, in dem sich das Fernsehen herausbildet, und vermitteln andererseits einen Einblick in die historische Varianz der Nutzung einer Technik. Nicht zuletzt geben die Artikel der Kolumne auch einen Eindruck von einem vergangenen institutionellen Gefüge – dem öffentlichrechtlichen Rundfunksystem. Dass die Artikel-Serie Telemann der Beteiligung an der Diskussion um die Konzeptualisierung des Fernsehens dient, wird spätestens im abschließenden Resümee deutlich, das anlässlich des Einstellens der Kolumne im Spiegel gezogen wird. Das Ende der Kolumne wird in der Hausmitteilung des Spiegel vom 06.01.19649 angekündigt – u.a. mit der Begründung, dass das Fernsehen nicht mehr die Begleitung durch Telemann benötige, weil es seinen festen Platz im Medien- und Gesellschaftsgefüge der Bundesrepublik gefunden habe. Das Fernsehen sei – laut der Hausmitteilung – konzeptionell abgeschlossen, indem es zum 8

9

Kontinuitäten lassen sich z.B. hinsichtlich des Verhältnisses von Sport und Fernsehen beobachten. Vgl. Christina Bartz: »Sport – Medium des Fernsehens«, in: dies./Irmela Schneider/Torsten Hahn (Hg.), Medienkultur der 60er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 2, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 35-49. Vgl. »Hausmitteilung« (in der Sektion »Fernsehkritik«).

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EINLEITUNG

Massenmedium geworden sei. Es bestimmt ein Jahrzehnt nach dem offiziellen Programmstart das gesellschaftliche Zusammenleben und entfaltet darin seine positiven wie negativen Wirkungen. Die bundesrepublikanische Gesellschaft hat sich an den Umgang mit dem Fernsehen gewöhnt und sich seine inzwischen festgeschriebene Vorstellung davon gebildet. Die Frage nach den sozialen Funktionen und Leistungen des Fernsehens sind Mitte der 60er Jahre weitgehend geklärt. Diese Klärung in Form einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Programm und seiner Macher mitzugestalten, ist, laut des Abschluss-Artikels zu Telemann, das Ziel der Kolumne gewesen. Mit diesem Anspruch geht Morlock weit über die zeitgenössische Fernsehkritik hinaus. 1962, ein Jahr vor Telemanns Ende, bilanziert Walter Müller-Bringmann in der Zeitschrift Der Journalist den Stand der bundesdeutschen Fernsehkritik, denn schließlich ist nicht nur das erste Jahrzehnt des Fernsehens, sondern auch das erste Jahrzehnt seiner Kritik vergangen. Mit dem Start des Programms Ende 1952 beginnt auch dessen publizistische Beobachtung.10 Dabei wird sich in Anlehnung an die Filmkritik ganz auf die Kommentierung einzelner Sendungen konzentriert, die dazu dienen, den Zuschauer zu informieren. Müller-Bringmann formuliert programmatisch: Die Fernsehkritik [...] soll den Leser informieren, die Sendungen erläutern, sie dem Publikum näher bringen und danach erst analysieren, abwägen und urteilen. Wenn die Kritik es versteht, sich dem Leser verständlich zu machen, sich bei ihm Ansehen, Respekt und Achtung zu verschaffen, kann sie dazu beitragen, den Geschmack des Publikums zu verändern und den Produzenten wichtige Hinweise für die Qualität ihrer Erzeugnisse zu geben.11

Fernsehkritik richtet sich demnach an zwei Adressaten: Außer der ›Öffentlichkeit‹ – gewissermaßen allen potentiellen Rezipienten der Massenmedien Fernsehen und Presse – gibt es noch einen zahlenmäßig kleineren Adressatenkreis, der nicht zuletzt aufgrund der noch geringen Zuschauerzahl anfangs deutlich im Vordergrund steht: die Programmgestalter und Produzenten. Als exemplarischer Zuschauer liefert die Kritik den Produktionsinstanzen ein Feedback. In dem Maße, in dem in der moder10 Eine Fernsehkritik in diesem Sinne fehlt, laut Müller-Bringmann, in der Zeit vor 1945, denn seinerzeit steht statt dem Programm noch die Technik im Mittelpunkt der Betrachtung. Vgl. Walter Müller-Bringmann: »Zur publizistischen Aufgabe der Fernsehkritik. Unterrichtung, Stellung, Aspekte und Aussichten einer neuen Sorte des Journalismus«, in: Der Journalist 19 (1963), H. 1, S. 10f., hier S. 10. Vgl. auch Kurt Wagenführ: Die Anfänge der Fernsehkritik (1980), in: ders., Anmerkungen zum Fernsehen 1938 bis 1980. Ausgewählt v. Arnulf Kutsch, Mainz: ZDF 1983, S. 167-175, hier S. 168. 11 Müller-Bringmann: »Zur publizistischen Aufgabe der Fernsehkritik«, S. 10.

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MIT TELEMANN DURCH DIE DEUTSCHE FERNSEHGESCHICHTE

nen Gesellschaft allgemein verpflichtende Standards (z.B. ästhetischer Art) außer Kraft gesetzt werden, kommt der institutionalisierten Kritik der laufenden Kunstproduktion – als Reflexionsinstanz – eine unverzichtbare Funktion zu: In kontinuierlicher Auseinandersetzung mit dem Produzierten – also in Beobachtung zweiter Ordnung – werden stets nur vorläufige und wandelbare Kriterien konstituiert, die für eine eigenlogische Steuerung der ›Produktion‹ in den Sozialsystemen der Kunst verfügbar sind. Nach Auffassung des Medienwissenschaftlers Siegfried J. Schmidt ist Medienkritik deswegen unverzichtbar, weil »jedes Mediensystem, das seine Nutzer nicht direkt steuern kann (und das ist bei allen modernen Mediensystemen seit dem Buchdruck der Fall), kritische Beobachtung und Analyse im Sinne des Nutzers braucht.«12 Wenn Kurt Wagenführ, erster Fernsehkritiker der Bundesrepublik, dessen Berufserfahrungen bis in die Zeit vor 1945 zurückreichen, seine Position sogar als »Kollaborateur« der Fernsehproduzenten beschreibt, dann übersteigert er diese Teilfunktion von Kritik.13 In seinen Anfängen als Fernsehkritiker bei der Süddeutschen Zeitung fasst auch Morlock die Fernsehanstalten noch als wichtigsten Adressaten auf. Er wolle, so schreibt er 1955 in seiner allerersten Fernsehkritik, die wichtige Innovation des Fernsehens einer »wohlwollenden Kritik [...] unterziehen«. Das »verlorene Häuflein« der bayerischen Fernsehproduktion in Freimann wolle er nicht noch kopfscheuer machen, als es vermutlich schon ist. Im Gegenteil. Der Schreiber wird sich bemühen, ihm nach Kräften zu helfen. Nicht aus reiner Nächstenliebe oder weil er seine Meinung für maßgeblich hält, sondern weil er glaubt, daß der Verbraucher den Wert oder Unwert einer Ware besser beurteilen kann als der Erzeuger [...].14

Trotz dieser konzilianten Worte rückt Morlock von einem Selbstverständnis als „Kollaborateur“ ab und artikuliert schon formal – durch die als Kabarett-Autor eingeübte Ironie und Pointierung – die Distanz des Beobachters zweiter Ordnung zum von ihm beobachteten Tun. Durch den Zwang zum regelmäßigen Fernsehen kommt offenkundig aber auch noch das letzte Wohlwollen abhanden. Morlock versucht im Dezember 1958 – als er parallel schon für den Spiegel schreibt – in der Süddeut12 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien Kultur Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist 2000, S. 172f. 13 Vgl. Hickethier: »Bruderschaft der entzündeten Augen«, S. 127-130, S. 135 u. S. 143-147. Seine Ansicht zu der sich anbiedernden Kritik eines Wagenführ, die sogar Heinz Maegerlein für preiswürdig hält, formuliert Telemann: »Fachmannlos« (in der Sektion »Fernsehkritik«). 14 Martin Morlock in der Süddeutschen Zeitung, 8./9.6.1955, zit. nach Hickethier: »Bruderschaft der entzündeten Augen«, S. 146.

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EINLEITUNG

schen Zeitung einen Boykott der Gebührenzahler zu initiieren, damit sich durch den Druck der Zuschauer das Programm endlich ändere.15 So ist es kein Wunder, dass er sich als Telemann von dem Ziel, das Fernsehen zu verbessern, verabschiedet. Telemann, kündigt Rudolf Augstein an, wolle »das deutsche Fernsehen nicht ändern, nicht reformieren und nicht bessern«, sondern »es nur begleiten«.16 Die Intendanten taugen nun nur noch als Objekt des Spotts und werden – vor allem durch Telefoninterviews, die in die frühen Kolumnen in Wortlaut eingebaut werden – in ihren undurchsichtigen Interessenlagen entlarvt und der Lächerlichkeit preis gegeben. So versteht sich Telemann nicht so sehr als Sachwalter der Zuschauer, der stellvertretend deren Willen an die Fernsehgewaltigen vermittelt, sondern adressiert gerade die anderen Zuschauer, um sie über das Geschehen und die Strategien hinter dem Programm aufzuklären. Die Feedback-Rolle des Kritikers scheint für das Fernsehen ohnehin zunehmend obsolet zu werden, in dem Maße in dem – von Telemann verfolgt –17 die Meinung der Zuschauer durch statistische Erhebung eingeholt wird. Auch dient die Fernsehkritik den Zuschauern nicht – wie die Theateroder Filmkritik – der Programmauswahl, insofern in den Anfängen die Kritiken erst im Anschluss an die Ausstrahlung erscheinen können.18 Daher bleibt ihr nur der Anspruch einer fernsehästhetischen und -politischen Bildung der Zuschauer. Die Fernsehkritik stellt in diesem Sinn also gleichsam eine Anleitung zum kompetenten Zuschauen dar. Wie Rudolf Augstein schon zum Auftakt der Telemann-Reihe zurecht prognostizierte, hat es die Wissenschaft mit dem Fernsehkritiker Telemann leichter als mit dem gleichnamigen Barockkomponisten. Die Wissenschaft brauchte in der Tat keine zweihundert Jahre, um sich durch den Berg der Telemann-Kolumnen hindurchzuarbeiten. Immerhin sind in der Zeit zwischen dem 5.11.1958, als der erste Beitrag erschien, und dem 25.12.1963, als Telemann mit seinem »Epilog« endete, mehr als 260 Kolumnen erschienen. Morlock führte danach eine Spiegel-Kolumne weiter, deren meisten Artikel mit »Martin Morlock« und nur noch wenige mit »Telemann« gezeichnet waren.19 Neben den zwei rahmenden Mitteilungen der Spiegel-Redaktion haben wir für den vorliegenden Band aus diesem Konvolut 99 Beiträge ausgewählt.20 Ein wichtiges Auswahlkriterium 15 16 17 18

Vgl. Hickethier: »Bruderschaft der entzündeten Augen«, S. 147. Vgl. Rudolf Augstein: »Lieber Spiegelleser« (Sektion »Fernsehkritik«). Vgl. beispielsweise »Ab und an« (Sektion »Der Fernsehzuschauer«). Den Ausfall dieser Serviceleistung von Kritik moniert zeitgenössisch z.B. Jan Olden-Hystor: »Schlechte Fernsehkritik nicht nur in der Tagespresse«, in: Der Journalist 13 (1963), H. 2, S. 49f., hier S. 49. 19 In diesem Band nur »Stabilidäd« (in der Sektion »Politik«). 20 Schmalere Auswahlen sind bislang im Rahmen von Sammelbänden mit Werken Martin Morlocks erschienen: Martin Morlock: Regeln für Spielverderber, Mün-

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war, ob ein Beitrag auch für einen heutigen Leser noch zugänglich, also ohne Kenntnis der Sendungen auch lustig und verständlich ist. Inhaltlich spielte die wichtigste Rolle aber die Frage, inwiefern ein Artikel Teil an der großen Debatte über das Fernsehen hat und die Besprechung einer einzelnen Sendung überschreitet. Schließlich sollten auch allzu große Redundanzen und Wiederholungen vermieden werden. So ist beispielsweise zu Bernhard Grzimek oder Lou van Burg nur jeweils ein Beitrag aufgenommen worden, obwohl diese Namen als Stammgäste in der Kolumne auftauchen. Um die inhaltliche Stringenz dieser Beiträge zur Fernseh-Debatte herauszustellen, sind die Beiträge nicht primär chronologisch geordnet, sondern zunächst nach wiederkehrenden Themenfeldern sortiert worden: Spezifik des Fernsehens, Institution, Programm, Zuschauer, Politik, Ätherkrieg und Personal.21 Selbstredend sind diese Zuordnungen nicht trennscharf, denn viele Artikel kombinieren verschiedene Hinsichten. Die Gliederung beansprucht dennoch, eine grobe Unterteilung der wichtigsten Felder der Fernsehdebatte um 1960 zu geben. Jede der Sektionen ist mit einer kommentierenden Einleitung versehen, die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten herstellen und den Diskurskontext der Zeit aufrufen. Für sich steht nur die kurze Sektion »Fernsehkritik«, die – anschließend an diese Einleitung – als Vorspann Morlocks eigene Überlegungen zum Geschäft des Kritikers mit den Kommentaren des Spiegel verbindet. Unser Dank gilt zunächst Heidi Treutler-Morlock für die gute Zusammenarbeit und die Bereitschaft, die Arbeiten ihres Mannes noch einmal in einem wissenschaftlichen Rahmen publizieren zu lassen. Unterstützt hat uns Irmela Schneider als Leiterin des Forschungsprojektes Zur Diskursgeschichte der Medien am Forschungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität zu Köln, in dem dieser Band seinen Anfang nahm. Verena de Faber übernahm dankenswerterweise die Digitalisierung der Beiträge. Schließlich wäre die Publikation auch ohne die Druckbeihilfe der Niessen-Stiftung nicht zustande gekommen.

chen, Bern: Scherz 1967; ders.: Auf der Bank der Spötter. Meistersatiren aus 30 Jahren, München: Kindler 1989. 21 Innerhalb der Sektionen herrscht wieder eine chronologische Gliederung. Nummer und Jahr der jeweiligen Spiegel-Ausgabe ist in Klammern hinter dem Titel angegeben.

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FERNSEHKRITIK Lieber Spiegelleser (45/1958) RUDOLF AUGSTEIN Seit Olims Zeiten wird dem Kritiker entgegengehalten, er möge es erst einmal besser machen, ehe er Mund und Feder in Bewegung setze – ungeachtet der alten Weisheit aus den Frauengemächern des Zwei-StromLandes, daß es nicht dasselbe ist, ob man eine Sache kann oder ob man weiß, wie sie gemacht wird. Manch großes Werk hilft den Spielplan füllen, das bei seiner Geburt von den namhaftesten Kritikern zerfetzt wurde. So wird auch das deutsche Fernsehen sicher noch bestehen, wenn das kritische Glossarium, das wir ihm von dieser Nummer ab allwöchentlich widmen, den Weg aller papierenen Einfälle gegangen ist. »Telemann« nennt sich der Autor, der die zwei Spalten betreuen und schreiben wird. Der Name führt in die Irre. Nicht Ereignisse aus der musikalischen Welt werden glossiert, wie die klangliche Erinnerung an jenen Hamburger Musikdirektor und Komponisten vermuten lassen könnte, der »Opern, Comedien und alle dergleichen zur Wollust anreitzende Spiele allhier außer der Marckt Zeit« aufgeführt hat. Anvisiert wird vielmehr das Auf und Ab des Fernseh-Betriebes, der zwanzig Telemänner brauchte, die den behäbigen Koloß unablässig prickten und zwickten. Und das Lob, werden die Fernseh-Männer sogleich einwenden, sollen wir denn nicht gelobt werden, wenn wir etwas gutmachen? Nun, fast alle großen Zeitungen haben eine Fernseh-Kritik, wo den Schaffenden bescheinigt wird, daß der Dienstag schlecht und der Mittwoch besser, daß eine Shakespeare-Aufführung gelungen und eine Sport-Sendung blamabel gewesen sei. Oft haben die Kritiker über dieselbe Darbietung sehr entgegengesetzte Ansichten, natürlicherweise. Dort also, in den großen Zeitungen und in den Fernseh-Blättern, gibt es Lob und Tadel. Unser Telemann würde sich niemals unterfangen, zu begutachten oder zu beschlechtachten, was ganze Heerscharen zweifellos begabter und hochbezahlter Mitarbeiter sich haben beikommen lassen. Er behauptet nicht, es besser zu können, darum lobt und tadelt er erst gar nicht. Als Dauerabonnent linst er auf die große öde Scheibe, und wenn ihm etwas Lustiges einfällt, dann notiert er es mit seinem Stift. Irgendwann 21

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wird es in seine Glossen-Spalte eingehen. Er schlendert durch die Studios und spricht mit dem Fernseh-Volk. Er hat kein leichtes Leben. Jeden Abend von Berufs wegen auf den Bildschirm starren, das gewinnt sicher nicht einmal der Fernseh-Ur-Intendant Dr. Pleister über sich. Wir haben Telemann darum auf Verlagskosten schon eine einfache Lampe gekauft, die er über den Tele-Schirm montieren kann. Ein Professor, der es wissen muß, hat ihm verraten, nur so könne er sich vor einem Augenschaden bewahren. Auf daß er nicht bitter werde, haben wir ihm stärkende Medizin für die langen Abende in Aussicht gestellt. Telemann ist nämlich ein umgänglicher Mensch. Er spricht gern sanft durch die Blume und verabscheut den Vorschlaghammer. Er hat nicht nur ein scharfes Auge für menschliche Schwächen, er hegt eine Vorliebe für sie, er liebt sie geradezu. Wo Telemann die Stirn runzelt, da blühen die Blumen bunter, um sein Haupt von Wolken freizufegen. Er verletzt nicht gern, unser Telemann, aber er ist nicht ohne Bosheit, und er hat sich eine ganze Menge Spieße besorgt, um die kleinen Eitelkeiten und die großen Unzulänglichkeiten des deutschen Fernsehens säuberlich aufzureihen wie ein Schaschlik. Telemann ist ein fleißiger, ein unermüdlicher Beobachter. Er will das deutsche Fernsehen nicht ändern, nicht reformieren und nicht bessern. Solch große Pläne liegen seiner bescheidenen, auf das Kleine gerichteten Natur nicht. Er will es nur begleiten, wie die legendäre Maus, die ständig unter dem Hut des großen Benjamin Franklin war, der zwar nicht das Fernsehen, wohl aber den Blitzableiter erfunden hat. Ab und an, jede Woche, will Telemann sich mit seinem Gepiepse – Zwischenruf wäre ein zu männlich-hartes Wort – vernehmlich machen. Die Leute vom »Bau« sollen, auch wenn sie sich gelegentlich seinethalben die Haare raufen, in ihm einen Trabanten sehen, der ihnen in ihrer Dunkelheit Mut macht, indem er bei ihnen ist, unter ihrem Hut gewissermaßen, und sein fröhliches Piep-piep erschallen läßt. Apropos Blitzableiter: Wer sich über das Fernsehen ärgert – und das soll trotz all der vorzüglichen Könner, die dort versammelt sind, gelegentlich noch vorkommen – möge seinen Ärger abreagieren, indem er Telemann liest (der mir vor lauter Angst, er werde nach so viel rühmender Ankündigung kein eines Wort mehr zu Papier bringen, zur Sekunde das Skript weggenommen hat). Laß ihn. Sein Namens-Ahn, der Musikus Telemann, war von kaninchenhafter Fruchtbarkeit. Er hat über 600 Kantaten und ebenso viele Ouvertüren geschrieben, denen allerdings nur 40 Opern gefolgt sind, von 44 Passionen gar nicht zu reden. Zweihundert Jahre – sein Sterbe-Jubiläum 1967 sollte als Telemann-Jahr gefeiert werden – haben für die Wissenschaft nicht ausgereicht, sich durch den Nachlaß des Georg Philipp Te-

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lemann hindurchzuwühlen. Was immer aus der munteren kleinen Glossen-Spalte werden wird, die SPIEGELs Telemann zu Gedeih oder Verderb federführen will: So lange wird die Wissenschaft bei ihm nicht brauchen. Herzlichst Ihr Rudolf Augstein

F ac hm an n l o s ( 6 / 1 9 6 0 ) »Der Initiative des bekannten Rundfunk- und Fernsehkritikers Dr. Kurt Wagenführ (Hamburg) ist es zu danken, daß sich seit 1954 alljährlich ein Gremium qualifizierter Fachkritiker um eine Jahreswertung der besten, niveauhaltenden Fernsehsendungen bemüht«, las Telemann im Heft Nummer 3 der Münchner Fernseh-Informationen. »Diese in Europa einzigartige fachkritische Wertung«, las er, »stellt eine mühevolle, saubere, in den Begründungen klare, verdienstvolle Arbeit dar.« Somit wäre also das Deutsche Fernsehen in der glücklichen Lage, sich im Ödland der Ungewißheit gleich zwiefach orientieren zu können. Einmal nach dem Urteil der Laienschaft, das auf demoskopischem Schleichwege ermittelt wird, zum anderen nach dem Jahresgutachten der Fachwelt; veröffentlicht in Dr. Wagenführs Monatsschrift FernsehRundschau, verantwortet von einer unabhängigen, achtköpfigen Jury, die sich seit sechs Jahren der Strapaze unterzieht, aus insgesamt 1200 Sendungen die 35 »wesentlichen« auszuwählen. Den Mattscheiben-Oscar für 1959 erhielten unter anderem: die Fledermaus-Inszenierung von Kurt Wilhelm (Köln/München), das Mitteldeutsche Tagebuch von Günter Lincke (Berlin) und die »Gesamtarbeit« von Heinz Maegerlein (München). Daß sich die Sender trotz solcher Merk- und Mahnzeichen nur zögernd auf ein Idealprogramm zubewegen, mag daran liegen, daß auch das Anstreben bekannter Hochziele mit lästiger Mühsal verbunden ist. Vielleicht aber stellen sich die Programmplaner zuweilen dieselbe Frage, die sich auch Telemann stellt und die da lautet: Was wohl eigentlich ein »qualifizierter Fernseh-Fachkritiker« ist? Über die klassischen Sparten der Kritik herrscht Einmütigkeit: Ein qualifizierter Theaterkritiker ist, seit Diderot, ein Mensch, den sein künstlerisches Empfinden, seine literarische Bildung, sein kritischer Verstand und seine Fähigkeit, sich anderen verständlich zu machen, in die Lage versetzen, Bühnenwerke und -aufführungen zu beurteilen und

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zu allen Problemen des zeitgenössischen Theaters Stellung zu nehmen. Ähnliches gilt für den Musik-, den Kunst- und den Filmkritiker. Welcher Fachmann aber, welcher Ausbund an enzyklopädischer Wissensfülle vermöchte über einen Gegenstand zu urteilen, der jede Kunstgattung, jedes Wissensgebiet, ja, überhaupt jede Art von menschlicher Tätigkeit einschließt, sei es Politik, Wirtschaft, Sport oder Freizeitvertreib – und wer brächte es fertig, jener hehren Pflicht nachzukommen, die vorschreibt, daß der Kritiker das, worauf sich seine Kritik erstreckt, zu lieben habe? – Dem Theater, der Malerei, der Literatur, sogar dem Film kann man zarte Gefühle entgegenbringen. Doch einen Fernsehapparat zu lieben, käme wohl einer Verirrung gleich. Fachkritiker? Zu ihrer Ehrenrettung sei eingeräumt: Sie dünken sich weder als Leibnize, noch erwecken sie den Eindruck von Fetischisten. Sie unterscheiden sich vom Laienzuschauer vornehmlich durch die Tatsache, daß sie aus »fachlichem Interesse«, das heißt ohne Unterlaß, fernsehen (Dr. Wagenführ: »Meine Frau und ich haben seit dem 27. November 1950 keine einzige Sendung versäumt«). In Stunden stiller Einkehr freilich oder während einer Umschaltpause werden manche von ihnen der Nichtigkeit ihres Tuns gewahr, und sie schultern ihr angesessenes Fachwissen und tragen es dorthin, wo man für dergleichen Verwendung hat: in die Fernseh-Funkhäuser. So kam der Norddeutsche Rundfunk an den Fachkritiker Dr. Krollpfeiffer, der Westdeutsche an den Fachkritiker Dr. Simon und der Süddeutsche an den Fachkritiker Prager. Daraus könnten Uneingeweihte den Schluß ziehen, daß der Fernsehkritiker nur eine biologische Zwischenform, sozusagen die häßliche Larve sei, aus der zu gegebener Zeit ein buntschillernder Fernsehdirektor schlüpfe. Doch wäre dieser Schluß voreilig. Fernsehkritiken zu schreiben, kann nicht nur der Beginn, es kann auch die Krönung einer Karriere sein. Beweis: der 74jährige François Mauriac, Mitglied der Académie Française, Nobelpreisträger, Ritter des Großkreuzes der Ehrenlegion. Er thront zu Malagar im Département Gironde und schreibt für den Pariser Express die TV-Chronik. Da es jedoch mehr Zeitungen als Nobelpreisträger und weniger Direktorenposten als Kritiker gibt und da überdies die Gefahr besteht, daß nach Einführung eines zweiten Programms kaum noch ein Vernünftiger geneigt sein wird, im kalten Elektronenlicht zum Fernsehfachmann heranzureifen, sollte man schon jetzt nach einem Personenkreis Umschau halten, der aus absolut zwingenden Gründen fernsieht. Im Etat des dänischen Sozialministeriums, erfuhr Telemann, sind Mittel zum Ankauf von zwölf Fernsehempfangsgeräten vorgesehen, die in drei Heilanstalten für Geisteskranke aufgestellt werden sollen. Grund:

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Die Erfahrungen in anderen Anstalten haben gezeigt, daß Fernsehsendungen auf die Kranken einen wohltuenden Einfuß ausüben. Vermutlich wird diese Therapie auch bei uns Schule machen, ist sie doch vergleichsweise wohlfeil. Wenn aber schon in die Röhre geguckt wird – warum sollte man da nicht noch einen Schritt weitergehen? Natürlich käme die Lösung nur für seriöse Blätter in Betracht: Die Boulevardpresse wird sich mit ihren diesjährigen Fachkräften behelfen müssen. Merke: »Ich bitte diejenigen um Entschuldigung, die der Meinung sind, daß ich mich erniedrige, indem ich diese (TV-)Chronik schreibe. Ich erachte sie im Gegenteil als zu hoch für mich ...« (François Mauriac, L’Express, 29. Oktober 1959.)

W o d e r P f e f f e r w äc h s t ( 6 / 1 9 62 ) Telemann hat die Geschichte von Richard Cawston, dem DokumentarFilmchef der BBC, folglich muß sie wahr sein. In der Republik Nigeria, wo der Guinea-Pfeffer wächst – nicht zu verwechseln mit Liberia, das unseren Bundespräsidenten Lübke zum Ehrenoberhäuptling beförderte –, in Nigeria also gibt es ein Fernsehen. Kein öffentlich-rechtliches, versteht sich, sondern (unterentwickelt ist unterentwickelt) ein kommerzielles. Der weißhäutige Eigner dieses Netzwerks, wohnhaft in London, Park Lane, reist klimatischer Mißlichkeiten wegen nur selten an die westafrikanische Küste. Unlängst aber mußte er hin – und fragte seinen schwarzen Chauffeur, wie ihm, dem ansässigen Nigerianer, denn das TVProgramm gefalle. Nicht besonders, antwortete der Schwarze; was ihn jedoch keineswegs daran hindere, regelmäßig fernzusehen. »Man kann sich«, meinte er, »ein viel besseres Bild machen. Früher zum Beispiel hatte ich es einfach nicht für möglich gehalten, daß dem weißen Mann ein Menschenleben so wenig bedeutet.« Erklärung: Im nigerianischen Fernsehen werden fast ausschließlich amerikanische Western gezeigt. Diese Geschichte könnte Diskussionen über Wert oder Unwert eines kommerzialisierten Fernsehens befruchten, auch hat sie gewiß völkerkundliche Aspekte. Telemann aber möchte damit etwas anderes hervorheben: Da lebt auf dem Schwarzen Erdteil ein Mitmensch, der, obzwar er die Television nicht sonderlich liebt, Abend für Abend fernsieht; nur weil ihn interessiert, was auf der Welt alles möglich ist. Da sitzt er, schaut in die Röhre und hat keine Ahnung, daß er mit solchem Seelenrüstzeug auf

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weißen Kontinenten längst nicht mehr Chauffeur wäre, sondern Fernsehkritiker. Freilich, in den Funkanstalten des hellhäutigen Mannes wird gerade das wichtigste Berufsmerkmal – der Mangel an Zuneigung – bitter beklagt. Mehr noch, man ist ständig bemüht, den Kritiker zu einer zärtlicheren Einstellung zu bekehren. Nicht durch elektronische Taten, was ja auf die Dauer Erfolg haben könnte, vielmehr durch akademische Wortschwalle. So kam es heuer wieder, auf Einladung der Evangelischen Adademie Mülheim an der Ruhr (27. und 28. Januar), zur Erörterung des Herzensthemas Das Fernsehen und seine Kritiker. Und weil ein wichtiger Punkt der Tagesordnung lautete: »Das Unterhaltungsprogramm – Informationen, Beispiele und Erfahrungen«, kam es zwangsläufig auch dazu, daß der Vortragende Grünefeldt das »Selbstmitleid« gewisser Rezensenten geißelte und manche lieblose Kritik an bundesdeutscher Tele-Lustbarkeit darauf zurückführte, daß der »Minderwertigkeitskomplex«, der den berufsmäßigen Betrachter angesichts all der Köstlichkeiten befalle, ja irgendwie kompensiert werden müsse. Dem Fernsehen sei die Kritik im Grunde nicht so wichtig, sagte Hans-Otto Grünefeldt, weithin unbekannt als Subkoordinator des Unterhaltungsprogramms. Dem Fernsehen, sagte Hans-Otto stolz, genügen die Indexziffern (Infratest). Und dann – selbstlos bis ins Mark – gab er der deutschen Fernsehkritik einen Rat, wie sie ihrer leidigen Liebesarmut ledig werden könne: Spezialisieren soll sie sich. Was nützt es dem Theater-Kenner, wenn er den Hamlet preist und besitzet der Liebe zu Lou van Burg nicht? Was hat, umgekehrt, ein Gutachter für Schlagerfestivals beim Eishockey oder bei den Salzburger Festspielen verloren? Für die 240 Unterhaltungssendungen, die das Fernsehjahr in petto hält, bedarf es vielmehr sonniger Sonder-Gemüter, die nicht gleich Zeter und Mordio schreiben, wenn Friedel Hensch mit den Cypris schalkt. Hans-Otto Grünefeldt forderte den »Spezialkritiker«. Telemann, vom Schlager-Geistlichen Günter Hegele darüber belehrt, daß unser deutsches Fernsehen nicht für ihn (Telemann) allein da ist, möchte sehr gern ein Spezialkritiker werden. Ja, vielleicht wäre er überhaupt niemals so TV-liebeleer durchs Leben gegangen, wenn man ihm, zur Pflege seiner Minne-Fähigkeit, rechtzeitig eine Parzelle zugewiesen hätte. Etwa das Umschaltpausen-Dia oder die Durchsagen der Kriminalpolizei.

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Nun, da er sich längst mit allen erdenklichen Sendesparten unzart auseinandergesetzt hat, erscheint es zweifelhaft, ob ihn ein möglicher Gegenstand künftiger Spezialzuneigung jemals widerlieben könnte. Und darauf käme es doch einzig an. Oder glaubt das Fernsehen, es könne sich, sozusagen durch Zellteilung, kritische Liebhaber heranzüchten, ohne diesen ein Quentlein Gegenliebe zu schenken? Wodurch sonst sollten sie das Jahr über bei LobeLaune gehalten werden – durch das Programm? Telemann sieht nur eine Möglichkeit: Er wird in Nigeria anfragen, ob der schwarze Chauffeur und ein paar seiner eingeborenen Freunde nicht Lust hätten, den weißen TV-Mann in einer anderen, nicht weniger absonderlichen Spielart, nämlich der bundesdeutschen, bestaunen zu lernen. Lautet die Antwort günstig, können gewisse Kritiker auf dem Tauschwege tun, was sie nach Ansicht des Deutschen Fernsehens allzulange unterlassen haben: hingehen, wo der Pfeffer wächst. Merke: »Lieben und Singen kann man nicht zwingen« (Alte Unterhalterweisheit).

Epilog (52/1963) Telemann beschreibt in seiner letzten regelmäßigen Kolumne seine eigene Beerdigung. Er hat das Fernsehen in seinen Entwicklungsjahren von Woche zu Woche verfolgt. Fortan will sich Telemann von Fall zu Fall nur noch dann zu Wort melden, wenn besondere Ereignisse im Fernsehen es erfordern. Martin Morlock, der sich in den letzten fünf Jahren mit dem Pseudonym Telemann maskiert hatte, wird mit Beginn des neuen Jahres an anderer Stelle im SPIEGEL allwöchentlich eine Kolumne veröffentlichen. Kaum hatte der Katafalk die Last der hortikulturellen Spenden zu tragen vermocht. »Ihrem nimmermüden Mentor in tiefem Schmerz – die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten«, kündeten Kranzschleifen. Und: »Dem warmherzigen Förderer – sein Name sei uns Verpflichtung – die Anstalt Zweites Deutsches Fernsehen«, Oder: »Dem unvergeßlichen Telemann von seiner dankbaren Eurovision«. Auch der Trauerzug, der sich bei Glockenklang und Böllerkrachen in Bewegung setzte, entbehrte nicht der Importanz: voraus ein Musikkorps der deutschen Karnevals-Vereine, verstärkt durch ein Fähnlein Trommelbuben der »Landsmannschaft Schlesien«. Danach, in Tränen aufgelöst, gleichwohl zu Zweierreihen geordnet, die Ansagerinnen beider Netzwerke. An ihrer Spitze Ursula von Manescul (Südwestfunk) und Irene Koss, verehelichte Drechsel.

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Hinter dem schlichten Zinksarg, den sechs Nachrichtensprecher mit ihren Schultern stemmten, schritten die Hauptleidtragenden; all jene, die sich dem Schaffen des Dahingegangenen besonders verbunden fühlten: die Intendanten Bausch (Süddeutscher Rundfunk), Wallenreiter (Bayrischer Rundfunk) und Holzamer (ZDF), die Fernsehdirektoren Lange (Köln) und Münster (München), die TV-Schaffenden Lou van Burg, Heinz Maegerlein, Werner Höfer, Thilo Koch, Kurt Wilhelm, Jochen Richert, Curd Jürgens und Peter von Zahn samt seinen »Reportern der Windrose«. Im weiteren Gefolge sah man: die Massen-Lieblinge Willy Millowitsch und Peter Boenisch (BildZeitung), die Reporterin Corinne Pulver, das Gedächtniswunder Brigitte Franke, Hans-Joachim Kulenkampff, Kurt Wessel, Peter Frankenfeld, Clemens Wilmenrod, C. W. Ceram, den Dichter Ernst Schnabel, Robert Jungk, Jacques Königstein, sowie die Hai-Schrecken Hans und Lotte Hass. Den Abschluß bildete der Großwildhüter Professor Bernhard Grzimek, auf dem Beizhandschuh ein herziges Aasgeierküken (Neophron percnopterus), an kurzer Leine eine gefleckte Hyäne (Hyaena crocuta) sinnbildhaft mit sich führend. Schier unerschöpflich waren, am Ziele des gemeinsamen Marsches, die Zeugnisse der Zuneigung und des ehrenden Angedenkens: Die Kolossalschwedin Zarah Leander hatte, assistiert vom Kinderchor des Norddeutschen Rundfunks, das Halleluja von Händel so volltönig zum Vortrag gebracht, daß rings der Dezemberschnee von den Zweigen rieselte. Günter Hegele, genannt der »Schnulzenpfarrer«, hatte der Trauergemeinde Trost gespendet, indem er an den 139. Psalm, Vers 8, anknüpfte: »Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da.« Überdies war es zu einem Zwischenfall gekommen: Sportkommentator Heinz Maegerlein, einen markerschütternden Wehlaut auf den Lippen, hatte sich in die offene Grube stürzen wollen, und nur die Autorität des ARD-Vorsitzenden Klaus von Bismarck hatte ihn daran gehindert. Nun standen sie schon seit Stunden, die Trauernden, und immer noch plätscherte der Strom der Nachrede, wurde vielzüngig betont, mit welch erstaunenswerter Selbstdisziplin der Verblichene – »diese wunnewunnebare Kolumnist«, wie einer sich ausdrückte – ein halbes Jahrzehnt dem »Medium Fernsehen« geopfert habe. Und jedesmal ging ein Aufschluchzen durch die Versammlung. »Welche Anstalt«, fragte Intendant Bausch, Stuttgart, »würde nicht freudig all ihre Werbeeinkünfte hingeben, wenn sie Telemann damit ins Leben zurückrufen kön...«

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Von tief unten, aus dem Sarginnern, ertönte ein Pochen. Die Trauernden hielten den Atem an. Wieder klang es metallisch aus der Grube, einmal, zweimal, dreimal... Die Friedhofsbeamten rückten nervös an ihren Dienstmützen. »Aber leider«, fuhr Intendant Hans Bausch, Stuttgart, mit erhobener Stimme fort, »gibt es von dort kein Zurück!« Sprach’s und schickte, alter Sitte folgend, drei Schaufeln Geröll in die Tiefe. Und nochmals drei. Und abermals drei, bis ihm die Schippe aus der Hand gerissen wurde. Ein hastiges Scharren und Hacken, ein Scheppern, Prasseln, Poltern – und wo eben noch ein Loch gegähnt hatte, türmte sich ein Hügel. Christian Wallenreiter, München, aber sprach aus, was alle dachten: »Möge«, sagte er, während sein Spielbein sich mühte, die eine oder andere lockere Scholle festzutreten, »möge ihm die Erde leicht werden!« »Amen«, sagte die Trauerversammlung.

S P I E G E L - V E RL A G / H A US M I T T E I LU N G ( 1 / 2 / 1 9 6 0 ) Datum: 6. l. 1964 Betr.: Telemann Mehr als fünf Jahre lang ist die Fernseh-Kolumne »Telemann« regelmässig im SPIEGEL erschienen. Das hektisch um sich greifende Medium TV sollte in einem »News Column« verfolgt werden. Der Kolumnist – so kündigte der SPIEGEL-Herausgeber den Lesern an – »schlendert durch die Studios und spricht mit dem Fernseh-Volk«. Vom Autor eines Columns werden Prägnanz des Stils und Fähigkeit zur Kontinuität verlangt. Der SPIEGEL fand diesen Autor in Martin Morlock – einem Mediziner. Allerdings, dem Arztberuf hatte er entsagt – aus Unbehagen am Gefüge einer Gesellschaft, die Doktoren, Pastoren und Majoren Sozialkredit blanko einräumt. Zu seinem Beruf hatte er das satirische Feuilleton und das Kabarett gemacht; er schrieb Fernsehkritiken für die Süddeutsche Zeitung, Texte für das Kom(m)ödchen und als »Azillus« Zeitkritik in Knittelversen für die Münchner Abendzeitung. In mehr als 200 Telemann-Kolumnen hat Morlock dem »Fernseh-Volk« und dessen Publikum nicht nur Erlauschtes aus Studio-Gesprächen vor Augen gehalten, sondern auch die Zweifel eines Individualisten, der nicht widerstandslos zusah, wie das Fernsehen unter dem plakativen Begriff »Massenmedium« Inbegriff der Gesellschaft zu werden drohte. Ein Riese an literarischer Bildung und an Gestalt (1,96), sieht sich Morlock gefährdet wie ein Dinosaurier des letzten Stammes, wenn Howland und Maegerlein gemeinsamer Nenner menschlichen Zusammenlebens sind. Sein Instinkt für die natürlichen Feinde der Individualität machte ihn am Fernsehschirm

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wachsam. Was sich in den kunstvollen Facetten der Artikel des Arztes Morlock spiegelte, war meistens nicht nur ein abendliches Fernsehprogramm, sondern auch der labile Zustand einer Gesellschaft, die den Kritiker als Arzt braucht. Wie schmerzhaft Morlocks satirisch zugespitzte Gedankensplitter unter die Haut gehen konnten, hat vielleicht am deutlichsten von allen Heinz Maegerlein erfahren. Mit dem aufgegriffenen Zitat aus Maegerleins eigenen Begleitworten zum fernsehbaren Tun (»Ich greife jetzt in diesen Kasten«) ist dessen törichte Gesprächigkeit unübertrefflich karikiert. Und seit Maegerlein ausbrach in die SportApotheose »Nur wer glühen kann, lebt«, hängt ihm bis an das Ende seiner Fernsehtage Morlocks Maegerlein-Apotheose an: »Da steht er dann, vom Sardellenscheitel bis zur Turnvatersohle eine einzige Absage an die Mächte der Finsternis, und glüht und glüht und glüht und glüht und glüht und glüht und glüht.« Ein Morlock ist in der Zeitmaschine von Wells eine lichtempfindliche Kreatur, die unter der Erde für besonnte Ästheten (»Elois«) schuftet, nachts aber an die Oberfläche kommt, um Elois zu fressen. Was es heißen konnte, wenn der SPIEGEL-Morlock zuschnappte, haben im »Fernseh-Volk« erfahren müssen Wallenreiter und Dr. Grzimek, Münster und Peter von Zahn, Holzamer und Irene Koss. Und nicht nur sie. Nachdem das erste Fernseh-Jahrzehnt überstanden ist – im ganzen doch mit weniger Schaden an Bildung und Geschmack als Skeptiker gefürchtet hatten –, überlässt der SPIEGEL das Fernsehen der Kulturredaktion. Die Rubrik »Fernsehen« wird im SPIEGEL ebenso vertreten sein wie »Presse« und »Film«. Eines News Columns wird das Fernsehen zukünftig ebensowenig bedürfen wie diese Medien der Publizität. Morlocks Kolumnen greifen über das Fernsehen hinaus, ihr Stoff ist die ganze Gesellschaft, ihr Platz die »Personalien«-Seite.

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Der Fernsehregisseur Hans Gertberg, so verrät uns Telemann, habe ihm das Wesen des Deutschen Fernsehens erschlossen: »Fernsehen heißt Bild, Bild und nochmal Bild.«1 Telemann wäre nicht Telemann, wenn er diese Aussage nicht aufs Korn nehmen und an der ›Realität‹ des Programms messen würde. Nachdem er die Nachrichtensendungen eingehend studiert hat, kann er eine präzisere Definition hinterherschicken: Fernsehen heiße »Standbild, Standbild und nochmal Standbild.« Vielleicht sei daher zu überlegen, so legt Telemann zum Schluss nahe, die zwanghafte Bestimmung als Bildmedium zumindest für bestimmte Programme auszusetzen. Auch wenn sie sich oft wie im vorliegenden Fall als wenig haltbar erweisen, sind Bestimmungen der besonderen Eigenschaften eines Mediums nicht minder ein gängiges Thema für Mediendiskurse, insbesondere so lange dieses Medium noch nicht fest etabliert ist. Eine Gruppe von Diskursen zur Medienspezifik zielt darauf, das Medium gesellschaftlich einzuordnen, also seinen möglichen Nutzen oder Schaden in der Absicht einzuschätzen, seine weitere Distribution je nach dem zu fördern oder zu blockieren. Hierzu werden zunächst mediale Spezifika wie die Bildlichkeit extrapoliert und dann auf präsumtive gesellschaftliche Effekte hin hochgerechnet. Selbst wenn man sich dabei auf ähnliche Grundeigenschaften einigt, können durch deren unterschiedliche Rahmung gegenläufige Einschätzungen zustande kommen.2 Häufig stehen solche Debatten im Zeichen der Medienkonkurrenz, denn neu hinzu tretende Medien zwingen dazu, die Medienverhältnisse insgesamt neu zu ordnen. Zumindest fordert ein neues Medium ökonomische und technische Ressourcen sowie die Aufmerksamkeit potentieller Nutzer, die von den etablierten Medien erst einmal abgezogen werden müssen. Telemann beobachtet, wie die Apologeten des Kinos angestrengt dessen ureigenes Potential preisen und auf die visuellen Effekte des Leinwandbildes setzen, die Innovation »Fernsehen« ihnen ohne sol1 2

Telemann: »Standbild – Wandbild« (in dieser Sektion). Für einen ersten Überblick in die diskursiven Parameter des Mediums Fernsehen siehe Christina Bartz: »›Das geheimnisvolle Fenster in die Welt geöffnet‹ – Fernsehen«, in: Albert Kümmel/Leander Scholz/Eckhard Schumacher (Hg.), Einführung in die Geschichte der Medien, Paderborn: Fink 2004, S. 199-223.

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che Selbstbewerbung aber weiterhin mühelos Zuschauer abwirbt. Wenn der »Existenzkampf, der da seit Jahren tobt«, dennoch »im Zeichen friedlicher Koexistenz zu stehen vorgibt«,3 dann geschieht dies, weil die spezifischen Vermögen der einzelnen Medien und damit ihre jeweiligen sozialen ›Nischen‹ deutlich von einander abzugrenzen sein sollen. Das Gebot für die einzelnen Medien wäre demnach, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen – diese überhaupt erst kennen zu lernen. Dabei werden – quasi als Spiegel der Konkurrenzsituation – jene Eigenschaften stets in Bezug auf Vergleichsmedien und deren vermeintlichen Leistungen herausgearbeitet. Was das Kino betrifft, so lässt Telemann die von den KinoFürsprechern hervorgebrachten Spezifika als Illusionen zerplatzen und relativiert damit letztlich die absolute Mediendifferenz zu einer allenfalls graduellen. Weil er dem Fernsehen all das, was das Kino leistet, prinzipiell auch zuspricht, kann Telemann der Filmwirtschaft keine Hoffnung machen.4 Im Blick auf das Fernsehen müht er sich hingegen dessen spezifische Stärken herauszustellen. Diese zweite Art von Diskursen über Medienspezifik ist stärker pragmatisch orientiert, versucht sie doch »differenzästhetisch« zu bestimmen, wie die Praxis des Mediums effektiv und wirksam ausgestaltet werden kann.5 So kann diese Spezifizierung als Fundament für eine Fernsehkritik dienen, die sich als eine Beobachtung zweiter Ordnung versteht, die wieder in die Medienpraxis zurückgespeist werden soll.6 Die Berücksichtigung der medienspezifischen Möglichkeiten verspricht hier also vor allem eine gelungene Programmierung des Mediums.

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Telemann: »Imperfektion« (in dieser Sektion). Ausführlicher zur Semantik der Koexistenz vgl. Jens Ruchatz: »Konkurrenzen – Vergleiche. Die diskursive Konstruktion des Felds der Medien«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S.137-153; für Überlegungen zur Medienkonkurrenz siehe Marie-Luise Kiefer: »Medienkomplementarität und Medienkonkurrenz. Notizen zum weitgehend ungeklärten ›Wettbewerbsverhältnis‹ der Medien«, in: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.), Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur Einführung, Wien: Braumüller 1994, S. 125-137. Vgl. Telemann: »Wasser am Kinn« (in dieser Sektion). Knut Hickethier: »›Fließband des Vergnügens‹ oder Ort ›innerer Sammlung‹«, in: ders. (Hg.), Der Zauberspiegel – Das Fenster zur Welt. Untersuchungen zum Fernsehprogramm der fünfziger Jahre [=Arbeitshefte Bildschirmmedien, 14], Siegen: Universität-GH 1990, S. 4-32, hier S. 12. Als Vorstufe eigentlich wissenschaftlicher Medientheorie benennt Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München 2003, S. 23f., solche – immer bei neuen Medien angestellten – Reflexionen als »primäre Intermedialität«. Morlock verpflichtet seine Kritik zumindest anfangs der Hilfe für die Fernsehmacher; vgl. hierzu die Einleitung des vorliegenden Bandes.

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Als wesentliche Vergleichspunkte für das Fernsehen fungieren Radio und Film,7 die gewissermaßen über Kreuz eingesetzt werden, um die Spezifik des Fernsehens im Schnittpunkt beider zu bestimmen: Was das Fernsehen mit dem Film verbindet, lässt es vom Radio unterscheiden, und was es mit dem Radio teilt, grenzt es wiederum vom Film ab. Aus dieser Warte ist Medienspezifik keine substantielle Gegebenheit, sondern ein diskursiv – in der Operation des Vergleichs – erzeugtes Konstrukt, das je nach der gewählten Vergleichsgröße variiert. In Kontrast zum Hörfunk zeigt sich das Fernsehen als audiovisuelles Medium, das nicht nur das Ohr, sondern auch das Auge adressiert, insofern es der Devise »Bild, Bild und nochmal Bild« folgt.8 Wenn Fernsehen und Hörfunk »nur etwas, nämlich die ›Drahtlosigkeit‹ gemeinsam haben«, dann kann der Fernsehzuschauer mit Recht erwarten, dass ihm – »Programm-Notlage« hin oder her – nicht Konzertübertagungen, sondern vornehmlich visuelle Reize dargeboten werden.9 Aus den technisch verfügbaren Möglichkeiten leitet sich mithin ein Imperativ zur adäquaten Nutzung ab. Wie sehr das Programm diesem Zwang zur Bildlichkeit unterliegt, unterstreicht Telemann an der Darstellung von Geschichte: Hier, wo beweisende Bildquellen in der Regel nicht verfügbar sind, sieht sich das Fernsehen gezwungen, Augenzeugenschaft zu simulieren. Die Ergebnisse bestätigen Telemann jedoch darin, dass fürs Fernsehen nur taugt, was zeitgenössisch in bewegten Bildern aufgezeichnet wurde oder besser noch direkt – also live – übertragen werden kann.10 ›Live‹ ist das in der differenzästhetischen Bestimmung des Fernsehens wahrscheinlich am meisten gebrauchte Konzept. Weil vor 1956, dem Jahr der Verfügbarkeit von Videorecordern, ein geeignetes Aufzeichnungsmedium für elektronische Bildsignale fehlte, war die Direktsendung anfangs nicht nur eine Möglichkeit, sondern zugleich auch eine Grenze des Fernsehens. Allein auf Filmmaterial ließen sich Fernsehbilder speichern oder vorproduzieren. Das Live-Fernsehspiel, jene »Spätgeburt aus Film und Bühne«11, galt vielen indes nicht nur als Notlösung, sondern geradezu als Inbegriff der zu begründenden Fernsehkunst.12 Als 7

So platziert beispielsweise auch die wichtigste Fernsehästhetik der Frühzeit, Gerhard Eckert: Die Kunst des Fernsehens, Emsdetten: Lechte 1953, S. 5, das Fernsehen »[z]wischen Rundfunk und Film«. 8 Telemann: »Standbild – Wandbild«, präsentiert als Alternative zu den Fernsehnachrichten dann auch – ironisch – die Illustrierte statt dem Radio. 9 Telemann: »Durststrecke« (in dieser Sektion). 10 Telemann: »Müllers Lust« (in dieser Sektion). Als »Übel« bezeichnet Eugen Kogon diesen Zwang zum Bild, insofern er den Themenhorizont des Fernsehens einschränke; Martin Morlock: »Kein Spaß«, in: Der Spiegel 19 (1965), Nr. 3, S. 79. 11 Telemann: »Dichtlinien« (in dieser Sektion). 12 Hier ist vor allem zu nennen G. Eckert: Die Kunst des Fernsehens. Vgl. zusammenfassend Knut Hickethier: Das Fernsehspiel der Bundesrepublik. The-

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Martin Morlock zu Telemann wird, ist das Zeitalter des Live-Fernsehens allerdings schon im Verschwinden begriffen: »Heute sind LiveÜbertragungen – in des Wortes verwegenster Bedeutung – nur noch beim Sport, beim Quiz und bei ›Gesprächen am runden Tisch‹ üblich«, schreibt er 1959 in einem ›Nachruf‹ auf das Live-Fernsehen. Von dem »Ideal«, das »hieß: ›Zauberspiegel‹, [das] hieß: ›Zur selben Zeit mit dabeisein‹«,13 habe man sich im Zeitalter der Magnetaufzeichnung aus Bequemlichkeit verabschiedet. Er verdächtigt die Programmverantwortlichen des Versuchs, den Zuschauern selbst in den verbliebenen »LiveReservaten« noch das live abzugewöhnen.14 Die neue Richtung des Programms sieht Telemann verkörpert in der Wiederholungen alter Sendungen, dem absoluten Antipoden der Live-Übertragung.15 Spätestens wenn ›Live‹ nicht mehr den Normalfall bezeichnet, muss es markiert werden, um die »reflexive Gegenwart« herzustellen, also die »Gegenwart meiner Wahrnehmung in der der anderen Zuschauer ›draußen‹« wahrnehmbar zu machen.16 Der Live-Charakter ist damit keine natur- oder zumindest technikgegebene Eigenschaft des Fernsehens, sondern eine Möglichkeit, die dem Fernsehen als Ideal vorauseilte. Die Einschränkung der Live-Sendungen verschenkt insofern eine dem Fernsehen eigene Erlebnisqualität: »Fernsehen, als Wunschtraum, heißt nicht, ›möglichst weit‹ sehen, es heißt: einem Geschehen beiwohnen, das einen nichts angeht; zugegen sein, wenn der Mitmensch, im Wahne, er sei unbeobachtet, sich Blößen gibt.«17 Solcher Blick in das Unbekannte wird nicht nur durch Live-Übertragung – der Beitrag bezieht sich auf ein Candid-Camera-Format –, aber besonders durch sie gewährt. Denn mit der Live-Sendung verbindet sich ein Erwartungsstil, der – zumindest am Rande – immer mit dem Einbruch des Unbekannten, Ungeplanten oder zumindest Überraschenden rechnet. Jede Live-Darbietung enthält eine gewisse Unsicherheit, wie das Dargebotene ausgehen wird, ob etwa ein Live-Fernsehspiel oder eine Gesangsnummer tatsächlich gelingt.18 Stabilisiert findet man diese Ergebnisoffenheit beim Sport. Vielen Zuschauern einer Fußball-Live-Übertragung geht es, Telemann zufolge, weniger um den Sport als um die potenzierte Spannung des Live-Ereignisses an sich: »Da aber haben sie etwas, was ihnen kein Rundfunk, keine Zeitung bie-

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men, Form, Struktur, Theorie und Geschichte, 1951-1977, Stuttgart: Metzler 1980, S. 39-51. Telemann: »Eingemachtes« (in dieser Sektion). Telemann: »Teutoburger Wahn« (in dieser Sektion). Telemann: »Wieder und wieder« (in dieser Sektion). Lorenz Engell: »Einmalig! Mediengeschichte im Einzelfall«, in: Björn Laser/Jochen Venus/Christian Filk (Hg.), Die dunkle Seite der Medien, Ängste, Faszinationen, Unfälle, Frankfurt/Main u.a.: Lang 2001, S. 17-28, hier S. 17. Telemann: »Heckenschützen« (in dieser Sektion). Vgl. Telemann: »Eingemachtes« und »Live-Geprüft« (in dieser Sektion).

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ten kann und was ihnen wahrhaftig, das Fernsehen sonst auch nicht bietet: Fernsehen.«19 Nicht die Freude am Scheitern selbst, sondern am Einbruch des Ungeplanten ist es, die in diesem Sinne das Live-Erlebnis antreibt. Ein weiterer Begriff, der sich fast bis zur Identität mit dem Konzept ›Live‹ verbindet, ist der des »Dabeiseins«, der synchronen Partizipation an öffentlichen Ereignissen.20 Vor dem Fernseher kann Telemann – gemeinsam mit 60 Millionen anderen über Eurovision angeschlossenen Zuschauern – zeitgleich sehen, wie mit Dwight D. Eisenhower erstmals ein amerikanischer Präsident deutschen Boden betritt. Das Gesehene sei zwar an sich ebenso langweilig wie eine Kino-Wochenschau gewesen, doch der »Unterschied [...], der zwischen einem Original und seiner Reproduktion besteht«, macht den Unterschied im Erleben. Durch den Fernseher »weht einen ›der Atem der Geschichte‹ aus jeder Wohnzimmerecke an.«21 Im reflexiv gewordenen kollektiven Dabeisein, wie es ansonsten vor allem besagte Fußball-Übertragungen hervorrufen, wird das Fernsehpublikum zu einer Einheit, zusammengefügt, sei es zur ›Nation‹ oder gar zu »de Gaulles ›Europa der Vaterländer‹«.22 Doch Telemann markiert auch die dunklen Seiten der LiveÜbertragung: die Langeweile. Nicht jedes Fähnchenschwenken am Rande des Präsidentenbesuchs lässt den »Atem der Geschichte« wehen.23 Und die bei einer Wildfütterung im Harz und der Live-Übertragung einer Sonnenfinsternis will sich die Erhabenheit des Naturerlebnisses partout nicht einstellen. Zum ›Dabeisein‹ in der Natur gehören offenkundig mehr Sinnlichkeiten als nur Hören und Sehen: Erst Frostbeulen und Mückenstiche komplettieren das Naturerlebnis.24

19 Telemann: »Sozialprodukt« (in dieser Sektion). 20 Zur Gängigkeit des Topos in den frühen Fernsehdiskursen vgl. Monika Elsner/Thomas Müller: »Der angewachsene Fernseher«. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 392–415. 21 Telemann: »Kaiserwetter« (in dieser Sektion). Vgl. zum »Dabeisein« des weiteren ders.: »Müllers Lust«, »Lebensecht«, »Rose und Reiher« (alle in dieser Sektion), »Bauerntheater« und »Hintenach« (Sektion »Ätherkrieg«). 22 Vgl. Telemann: »Sozialprodukt« und »Chi Chi Chi« (in dieser Sektion). 23 Telemann: »Kaiserwetter« (in dieser Sektion). 24 Vgl. Telemann: »Finster« und »Lebensecht« (in dieser Sektion).

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S t an d b i l d – W an d b i l d ( 4 6 / 1 9 5 8 ) Stets wird der Laie dankbar sein, wenn ein Eingeweihter ihm den Schlüssel zum Verständnis des Deutschen Fernsehens in die Hand drückt, damit er aufschließen kann. Das ist bei Telemann dem Fernsehregisseur Hans Gertberg gelungen, der es vermocht hat, ihm die tiefere Bedeutung des Deutschen Fernsehens mittels eines einzigen Satzes zu enthüllen: »Fernsehen heißt Bild, Bild und nochmal Bild!« Diese Vorstellung ist nicht allein Hans Gertberg eigen, sondern es handelt sich dabei um einen Lehrsatz für Fernsehschaffende des Nordund Westdeutschen Rundfunkverbandes. Es ist jedoch ein Lehrsatz, der nicht bloß in der Theorie verharrt. Rüdiger Proskes Nordschau und Kölns Hier und Heute machen sich die Weisheit dieser Lehre in der täglichen Praxis zunutze, nach der Variante: »Fernsehen heißt Standbild, Standbild und nochmal Standbild!« Standbilder dienen den Nordschauschaffenden zur Illustration der sogenannten Weltnachrichten, die nämlich im Regionalprogramm dargeboten werden, damit sich dem Zuschauer auf diese Art die weite Welt auftut und er über dem Regionalprogramm nicht das Ganze vergißt. Illustriert werden müssen die regionalen Weltnachrichten, weil Fernsehen Bild, Bild, Bild heißt, und der Sprecher mit seinem lebenden Dauerporträt ist kein Bild im Sinne des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbandes, er reicht nicht aus. Wenn gemeldet wird, daß es in Thailand einen Wirbel gegeben hat oder daß die Sudanesen gegen den Assuan-Damm sind, und man zeigt dazu eine Karte, damit auch der Fernsehteilnehmer sehen kann, wo die Länder liegen – auch das reicht nicht aus, sondern mehr Bilder müssen her, vor allem von Eisenhower und den anderen hohen Persönlichkeiten, damit man sie endlich einmal sieht. Dabei will es die Unbill, daß nicht immer das neueste Abbild vorhanden ist, sondern von Fall zu Fall muß man sich zu helfen wissen. So kommt es, daß Eisenhower in einer neuen Botschaft mitgeteilt hat, kein Mensch könne wissen, ob jetzt die Amerikaner etwas tun werden, aber den Zuschauern der Nordschau muß ein Bild des Präsidenten aus der Zeit genügen, da er noch wegen der vorletzten Krise befremdet gewesen ist. Natürlich kommt es im Grunde gar nicht darauf an, was abgebildet ist, sondern allein darauf, daß man sich unter der betreffenden Weltnachricht etwas vorstellen kann, irgendwas. Beispielsweise ein Flugzeugabsturz. Die Maschine selbst kann man nicht zeigen, das sieht jeder ein, denn sie ist hin. Da zeigt man eben eine andere, irgendeine – Hauptsache Flugzeug.

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Oder es beginnt in Genf die neue Konferenz. Wie soll irgendein Fernsehteilnehmer wissen, wie eine Konferenz aussieht, wenn man sie ihm nicht zeigt! Deshalb sieht man im Bild den Konferenztisch und lauter kleine Gestalten daran – die Konferierenden. Sie sitzen und tun keinen Mucks. Ganz ähnlich verhält es sich bei John Foster Dulles, an dem man sich gar nicht satt sehen kann. Wo immer dieser Reisige fliegt, er wird uns im Stand-Photo, mit eingesäuertem Lächeln, zum regionalen Abendbrot gereicht. Denn Fernsehen heißt auch Dulles, Dulles und nochmal Dulles und hower, nauer und nochmal sauer, weil es sonst nämlich an seiner edelsten Aufgabe achtlos vorübergehen würde: am Fernsehen, wo man immer etwas sieht. Auch Martin Svobodas Tagesschau kennt diese Pflicht. Wenn unversehens Olaf Gulbransson gestorben ist, über den das Deutsche Fernsehen einige Wochen zuvor einen langen Film dargeboten hat – wie soll die Tagesschau einer so verzweifelten Situation Herr werden, wenn nicht durch das Standbild? Und so grinst der Uralte eine halbe Minute lang regungslos geduckt aus dem Heimgerät, weil man ihn so bei seinem letzten Besuch im Lokstedter Studio glücklicherweise hat abkonterfeien können. Und Ida Wüst, soeben entschlafen, muß den Zuschauern als Standbild mit erstarrtem Lächeln ins Gedächtnis gerufen werden. Sagt Martin Svoboda: »In der Not ist jedes Mittel recht!« Wann wird die Fernsehnot ein Ende nehmen? Ach, vielleicht, indem wir hoffen, hat uns Unheil schon getroffen! Denn das ausgedehnte Bemühen, aus den sechs oder sieben Intendanturen einen Chefredakteur herauszumendeln, der von Hamburg aus den Fernseh-Nachrichtendienst kräftigt, wird eines Jahres die Weltnachrichten von den Regionalen befreien, aber was wird mit den Standbildern? Werden wir etwa nur dann und wann eins sehen, wenn es darum geht, ein neues Gesicht oder ein vergessenes bekannt zu machen? Sicherlich nicht! Seit Jahren schon wird höheren Orts daran laboriert, Weltnachrichten im Abendprogramm des Deutschen Fernsehens zu verbreiten, vor oder nach der Tagesschau und – mit Standbildern. Gesetzt den Fall, es kommt eine ganz neue Neuigkeit. Mit Film kann man sie nicht illustrieren, weil er sich gar nicht rasch genug kopieren läßt. Aber das Funkbild! Zwar wandelt sein grobschlächtiger Raster beispielsweise den armenischen Mikojan im Fernsehen zum Porfirio Rubirosa oder zum Chaplin, aber was tut’s! Der Sprecher nennt ja den Namen, da weiß man, um wen es sich handelt. Ein ganz anderer Gedanke: Wenn man die Nachrichten vor der Tagesschau nur sprechen ließe, ganz ohne Bild, wie im Radio und jetzt

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nach Sendeschluß des Fernsehprogramms? Warum nicht? Weil es dann kein Fernsehen wäre! Merke: Fernsehen heißt – wer keins hat, nimmt die Illustrierte.

E i n g e m ac h t e s ( 1 3 / 1 9 5 9 ) Wer auf seine Berlitzschoolbildung vertraut, der schreibt’s mit »f«, weil man ihm erzählt hat, daß »life« leif ausgesprochen wird und auf deutsch »Leben« heißt. Eine Life-Sendung, denkt er sich, ist also ein Fernsehvorgang, bei dem die Summe dessen, was da, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre währet, ins Wohnzimmer dringt. Und weil er das denkt, wundert er sich über die Schreibweise »Live-Sendung« (sprich trotzdem: »Leif«Sendung), an der die feineren Fachkreise und manche Zeitungen so hartnäckig festhalten. Er wundert sich grundlos. Telemann, den solche philologische Ungewißheit nicht ruhen ließ, hat nachgeforscht und herausgefunden: Das Wörtchen »live« kommt, wenn auch nicht im Oxford English Dictionary, so doch im amerikanischen TV-Jargon vor (»livecast«) und ist eine saloppe Abkürzung des Adjektivs »alive«, das soviel wie »lebendig« bedeutet. Eine Live-Sendung ist demnach, auch wenn die Billard-Europameisterschaft übertragen wird, eine lebendige Sendung. Leider hat man mit diesem Sprachforschungsergebnis wenig gewonnen. Denn Direktsendungen sind für das deutsche Fernsehen heute dasselbe wie Parlaments-Neuwahlen für eine Regierungspartei, nämlich lästige Überbleibsel aus einer Zeit, da man noch Ideale besaß. Das Ideal, das unserem Fernsehen einst so lichthell vorgeschwebt hatte, hieß: »Zauberspiegel«, hieß: »Zur selben Zeit mit dabeisein«. Man proklamierte es auf Pressekonferenzen, kleidete es in ein wichtigtuerisches Fremdwort, ja strebte ihm sogar eine schickliche Weile nach. Damals, in der guten alten Fernsehzeit, als noch Original-Sendespiele wie Goes’ Unruhige Nacht, Anouilhs Lerche oder Garcia Lorcas Bernarda Albas Haus dafür sorgten, daß wir den Kasten in der Ecke für eine durchaus lohnende Anschaffung hielten. Heute sind Live-Übertragungen – in des Wortes verwegenster Bedeutung – nur noch beim Sport, beim Quiz und bei »Gesprächen am runden Tisch« üblich. Der Rest ist »Aufzeichnung«. Und wenn man sich bei der Direktion erkundigt, warum sie denn gar so viel aufzeichnen läßt, dann bekommt man lauter vernünftige Antworten: weil es nicht möglich ist, ein gutes Ensemble für einen Abend zu verpflichten (wer was kann, der spielt abends Theater), weil es beim Fernsehen keine Souffleuse gibt und die Schauspieler bei der kurzen Zeit, die für Proben zur Verfügung steht, viel zu nervös würden, weil der Regisseur Detailschäden, die er angerichtet hat, wiedergutmachen möchte, weil’s billiger kommt.

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Daß die Gesichter Asiens oder das des Erich Ollenhauer Unter den Linden nicht »live« übertragen werden konnten, sieht Telemann ein. Er sieht auch ein, daß es Fernsehfilme geben muß, weil sich viele, die in die Braunsche Röhre gucken, den Weg zum Kino nebenan ersparen wollen. Doch wenn man ihm, wie am 12. März eingeweckte Ratten vorsetzt, dann bittet er höflich ums Beschwerdebuch. Das Fernsehspiel, so wenigstens glaubte man zu Anbeginn, ist ein wohlgeratenes Retortenkind der Bühne und des Films, wohlgeraten deshalb, weil es von beiden nur die Vorzüge geerbt hat: Vom Mütterchen die Gabe, dramatisches Geschehen im Augenblick des Ablaufs zu vermitteln, vom Vater die Möglichkeiten der Großaufnahme, des Schnitts und der Tricktechnik. Daß es ein aufgewecktes Kind war, merkte der aufgeweckte Zuschauer schon bei den ersten Gehversuchen. Wer es nicht merkte (oder nicht merken wollte), war das deutsche Fernsehen. Kaum waren die Masern überstanden und kluge Theoretiker dabei, »gültige Fernseh-Spielregeln« aufzustellen, wurde der vielversprechende Sproß vor die Studiotür gesetzt. Aus technischen Gründen. Aber auf die fällt Telemann nicht herein. Gewiß war die FernsehAufzeichnung von Gerhart Hauptmanns Ratten (NWRV-Hamburg, Regie: John Olden) eine ganz vortreffliche Fernseh-Aufzeichnung. Nur eben kein Fernsehspiel. Was wäre schon gewesen, wenn sich Ingrid Andree mal verhaspelt oder wenn der Bildregisseur einen »Anschluß« verpaßt hätte? Aufregender wäre es gewesen, denn im Grunde wünscht sich der Zuschauer, daß Regisseur und Schauspieler »ohne Netz« arbeiten. Nicht aus Sensationsgier, sondern weil der Reiz, mitzubangen, ob eine erhoffte künstlerische Leistung wirklich zustande kommt, erheblich größer ist als der, den die blankpolierte, beliebig oft reproduzierbare Perfektion hervorruft. Vor zweieinhalb Jahren, während des Spiels Gaslicht von Patrick Hamilton, blieb einmal ein Hauptdarsteller stecken. Viele Sekunden lang und mitten in der Großaufnahme. Es war qualvoll, nicht nur für ihn, auch für das Publikum. Aber es war Fernsehspiel, es war »lebendig«. Heute kann höchstens der Film reißen, und manchmal wünscht sich Telemann, er risse, und der Sender hätte keinen Klebstoff im Haus. Was immer die Konservenfabrikanten an Entschuldigungsgründen vorbringen mögen: ihr Eingemachtes wird dadurch nicht köstlicher. Doch braucht sie das kaum zu bekümmern. Der Absatz ist befriedigend, die Konsumenten werden sich mit der Zeit schon daran gewöhnen, und überdies gibt es ja jetzt das praktische Magnetbildverfahren. An dieser genialen Erfindung kann man doch, als Anstalt des Öffentlichen Rechts, nicht achtlos vorübergehen.

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Und so werden sich denn, sieht Telemann tränenden Auges voraus, in den Archiven die Filmbüchsen stapeln, und zu jedem festlichen Anlaß wird etwas Passendes auf Lager sein. Zu Ostern Bernanos, zu Pfingsten ein uriger Orff, zum Tag des Baumes Der Wildschütz, zum Renommieren Euripides und zu Weihnachten Hanneles Himmelfahrt. Merke: »Live-Sendung – aus den Anfängen des Fernsehen stammendes, heute nicht mehr anwendbares Verfahren, bewegte Bilder mit Mitteln des Funks zu übertragen« (Der Große Brockhaus, 1974).

D u r s t st r e c k e ( 3 0 / 1 9 5 9 ) Ein Londoner Psychologe namens Belson, las Telemann, hat erforscht, wie sich der Durchschnitts-Brite nach der Anschaffung eines Fernsehgerätes verhält. Das Ergebnis seiner langjährigen Mühen, das sich vertrauensvoll auf Beobachtungen bei 3000 Versuchspersonen aller sozialen Schichten stützt, lautet: Sein, des Fernseh-Neulings, Verhalten darf mit Fug als anomal bezeichnet werden. Und wo immer Seelensachverständige Ungewöhnliches erspürt haben wollen, stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein: »Fernsehfieber« befalle den Ärmsten, erklärte Belson. In den ersten zwei Jahren wüte es so heftig, daß alle übrigen Interessen vernachlässigt würden. Dann folge eine lange Periode der Rekonvaleszenz, und erst nach fünf bis sechs Jahren könne man von einer Heilung sprechen. Als Folgen dieser Sehkrankheit beobachtete Dr. Belson sogar nach der Genesung noch eine pathologische Abneigung gegen Bücher und Filme. Der Forscher weiß auch, wie man der Seuche Herr werden kann. Das Fernsehen muß »die Interessen auf neuen Gebieten des Selbststudiums und der Selbstbeschäftigung wecken und den Unterhaltungsteil entsprechend begrenzen«, schlägt er vor. Wenn das britische Fernsehen auf ihn hört (und die Engländer hören auf ihre Psychologen), dann wird es die Einführung von Fernbastelkursen und Anleitungen zum Selbstunterricht ernstlich in Erwägung ziehen müssen. Wie aber steht es bei uns? Telemann, den, als treuen Leser von Das Beste, neuartige Krankheiten ungemein interessieren, hat herumgehorcht und in Erfahrung gebracht: Von einem Fernsehfieber kann in der Bundesrepublik keine Rede sein. Das bißchen erhöhte Temperatur, das wir bekommen, wenn uns so ein Kasten brandneu in die Ecke gestellt wird, ist nach ein paar Wochen abgeklungen, und zurück bleibt jene saturierte Gelassenheit, mit der wir auch anderem technischen Hausrat, etwa einem Waschautomaten, begegnen.

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Warum das so ist, wurde Telemann klar, als er sich während des Opernkonzerts Ja, die Liebe hat bunte Flügel (München, 12. Juli) beim Lesen eines Buches ertappte. Unsere Programmgestalter haben nämlich, im Gegensatz zu ihren britischen Kollegen, von Anbeginn dafür gesorgt, daß es zu einer krankhaften Entartung unserer Schaulust gar nicht erst kommen konnte. Dies fiel ihnen um so leichter, als sie ihre Berufserfahrungen ja in der Hauptsache dort sammeln durften, wo es einzig das Ohr zu ergötzen gilt: beim Hörfunk. Natürlich brachten es die jähe Umstellung und der dadurch verursachte Schock mit sich, daß sie in den ersten Jahren ihrer neuen Tätigkeit, auch optischen Anforderungen gerecht zu werden versuchten. Indes, diese begreifliche Schwäche ging bald vorüber. Seit dem l. Januar, an dem sich (nach dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker) herausstellte, daß auch das Publikum liebgewordene Hörfunkgewohnheiten nicht aufzugeben wünscht, stehen unsere Fernsehfunker wieder auf sicherem Boden. Wissen sie doch jetzt: Wenn kein sehenswertes Programm zustande kommt, läßt sich jederzeit ein hörenswertes ausstrahlen. Dazu braucht man: Ein Orchester (oder ein Tonband), ein paar Sänger und einen Ansager, der die Pause zwischen Duett und Arie mit zierlichen Wortgespinsten zu füllen weiß, und, wenn man was aus Falstaff bringt, einen Bauch zum Anschnallen. Nun könnte Telemann kleinlich sein und darauf hinweisen, daß sich der Erfinder ja etwas gedacht haben muß, als er ein Gerät zur drahtlosen Übertragung lebender Bilder entwickelte. Doch erstens haben Erfinder die Gepflogenheit, die Zweckentfremdung ihres Lebenswerks durchaus positiv zu bewerten (Beispiel: Nobel), und zweitens würden Sendungen, die auch das Auge fesseln, die deutsche Hausfrau unnötigerweise vom Bügeln ablenken. Denn das ist ja gerade das Praktische an unserem Fernsehen: Man bezahlt monatlich sieben anstatt zwei Mark und kann trotzdem Radio hören. Der Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, Robert Lembke, der sich für die Konzerte seiner Anstalt in hohem Maße verantwortlich fühlt, erklärte Telemann auf Befragen: »Auf dem Gebiet der Unterhaltung haben wir noch eine Durststrecke vor uns, denn einige unserer geplanten Unterhaltungssendungen sind einfach noch nicht so weit. Und auf dieser Durststrecke scheint mir ein anständiges, einstündiges Musikprogramm mit kostümierten Solisten und einer Ballett-Einlage noch immer eine legitime Form der Unterhaltung zu sein – obwohl ich mir darüber im klaren bin, daß sowas im Hörfunk auch geht.« Telemann will die überregionale und ungewöhnlich langanhaltende Programm-Notlage weder verkennen noch in Zweifel ziehen. Auch liegt

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es ihm fern, die Tatsache, daß Hörfunk und Fernsehen nur etwas, nämlich die »Drahtlosigkeit«, gemeinsam haben, zum Gegenstand der Erörterung zu machen, inwieweit man, statt Funkveteranen, Personen beschäftigen könnte, die etwas vom Schaugeschäft verstehen. Er möchte nur dies zu bedenken geben: Sollte die Durststrecke sich noch länger hinziehen, könnte der Fernseh-Hörer plötzlich auftauchende Unterhaltungs-Oasen geradezu als Störung empfinden. Weil er sich längst wieder ans Kino oder an seine Büchergilde gewöhnt hat. Darum: keine Experimente. Als Kundendienst genügt es völlig, wenn der jeweils konzertierende Sender darauf achtet, daß unsere Bildröhre immer hübsch hell bleibt. (Man verdirbt sich beim Lesen so leicht die Augen.) Merke: »Bei einem hohen Prozentsatz todgeweihter Unternehmen, die bisher untersucht wurden, kam der endgültige Zusammenbruch nur nach einem festen Plan und nach gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligton zustande« (C. Northcote Parkinson, »Parkinsons Gesetz«).

K ai s e r w e t t e r ( 3 6 / 1 9 5 9 ) Eines noch fernen Winterabends wird Telemann seine Enkel um sich versammeln und ihnen vom 26. August des Jahres 1959 erzählen; von jenem Tage, an dem, zum erstenmal in der Historie, ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika den Boden der Bundesrepublik Deutschland betreten hat. Und wenn die Enkel artig sind, wird er ihnen auch vom 27. August erzählen, dem Tag, an dem Dwight D. Eisenhower nach London weitergeflogen ist. Denn Telemann war selber dabei. »Es herrschte in Bonn ein richtiges Kaiserwetter«, so wird er beginnen und sich dabei der Worte des SDR-Fernsehreporters Wolf Dietrich bedienen. »An den Vortagen noch hatte dichter Nebel über dem Rheintal gelegen, nun aber strahlte von der ersten Stunde des Tages an die Sonne vom blauen Horizont herab.« Und dann wird er berichten, wie sorgfältig alle Ehrengäste die Anzugsvorschriften des Protokolls beachtet hatten: Dunkler Anzug und schwarzer, weicher Hut waren vorgeschrieben, und eben diese Kleidungsstücke wurden getragen. Und weil von einem gebügelten dunklen Anzug nichts im Protokoll stand, war der damalige Bundeskanzler in einem ungebügelten erschienen; wohl zum Beweis dafür, daß auch er über jene »gelockerte Vitalität« verfüge, die an seinem hohen Gast so gerühmt wurde. Und dann wird sich Telemann von seiner Erinnerung fortreißen lassen und behaupten, Bonn habe in diesen Tagen beinahe wie eine richtige Hauptstadt ausgesehen. Und als Kuriosum wird er den Reporter Hans-Joachim Friedrichs zitieren, der noch kurz vor der Ankunft des Präsidenten erklärt hatte: »In Paris und London wird man

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ganz andere Schauspiele aufführen. Aber Bonn war schon immer eine zurückhaltende, eine bescheidene Regierungsstadt.« Und wenn Telemanns Enkel noch mehr Seltsames hören wollen, wird er ihnen schildern, wie der Franz-Josef Strauß kurz vor Eisenhowers Abflug ganz schnell noch einmal in dessen Boeing schlüpfte und seine Ministerkollegen brav an der Gangway stehen ließ. Weil ein ganzes Bundeskabinett in so einer Maschine ja nicht Platz hat. Und die Enkel müssen es ihm glauben. Denn Telemann war dabei. Da jedoch außer ihm noch 60 Millionen andere Europäer Gelegenheit hatten, dabeizusein, muß angenommen werden, daß die Zahl der Kindeskinder, die dereinst den Erzählungen von der »größten Begrüßungsschau, die die Bundesrepublik jemals erlebt hat«, lauschen sollen, außerordentlich groß sein wird. Als es noch keine Fernseh-Direktübertragungen, geschweige denn eine Eurovision gab, war die Aussicht, einen historischen Augenblick zu erleben, recht gering. Um nachfolgenden Generationen imponieren zu können, mußte man schon Gardegrenadier oder »kleines Mädchen mit Blumenstrauß« gewesen sein. Heute weht einen der »Atem der Geschichte« aus jeder Wohnzimmerecke an; man braucht bloß rechtzeitig auf den Knopf zu drücken. Wer zu spät drückt, wer lieber wartet, bis ihm die Tagesschau oder ein Dokumentarfilm das Ereignis nachliefert, der wird zwar immer noch informiert, sogar besser informiert als je zuvor, aber er erlebt nicht mit. Warum brannten am 26. und 27. August so viele Bildröhren? Nicht deshalb, weil ein Staatsoberhaupt aus dem Flugzeug stieg, Hände schüttelte und Ehrenkompanien abschritt. Dergleichen gehört zum SaureGurken-Repertoire jeder Wochenschau. Sie brannten, weil ihre Besitzer den Unterschied spürten, der zwischen einem Original und einer Reproduktion besteht; weil sie der Erfindung der korrigierbaren bewegten Photographie noch immer ein gesundes Mißtrauen entgegenbringen; kurzum, weil sie, im Gegensatz zu vielen Fernsehfachleuten, ahnen, was Fernsehen heißt. Vielleicht werden die Enkel an unseren Erzählungen nur eines seltsam finden: daß wir von unserer Augenzeugenschaft soviel Aufhebens machen. Wozu, werden sie fragen, könnte denn ein Fernsehgerät sonst noch dienen als zum Fern-Sehen? – Und dann werden wir ihnen schamhaft verschweigen müssen, daß wir es zu unserer Zeit für ein Mittel gehalten haben, das einem den Weg zum Kino, zum Theater oder gar zur Oper erspart. Sollten sich die Dinge dergestalt entwickeln, hätte der politisch aufgeschlossene Zuschauer freilich nichts zu lachen. Denn es ist ungeheuer zeitraubend und mühevoll, Zeuge der Zeitgeschichte zu sein. Erstens,

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weil auch eine Eurovisions-Zentrale die Riten des Protokolls und die Pläne der Potentaten nicht völlig zu durchschauen vermag, und zweitens, weil die Größe eines geschichtlichen Ereignisses nur selten mit der Länge des Terminzettels übereinstimmt. Telemann mußte es erleben, daß ihn die Fanfaren fünfmal vor den Schirm riefen. Und jedesmal erwartete er, daß ihm Großes begegne, daß er von Klios Schleier einen Zipfel erhasche. Aber nur dreimal wollte ihn Ergriffenheit übermannen: bei Ikes Ankunft in Wahn, bei dem Gedanken, daß die Flüchtlingsverbände sich soviel Mühe mit den Spruchbändern gemacht haben, und bei dem Anblick der telegenen Krawatte von Premierminister Macmillan. Sonst blieb sein Auge trocken, eine Gemütsmangelerscheinung, die sich auch bei Wolf Dietrichs bewegter Schilderung des Vorabends nicht legte. Gewiß war es sehr aufmerksam vom Westdeutschen Rundfunk, uns über jeden öffentlichen Schritt des Präsidenten auf dem laufenden zu halten. Wer sähe schließlich nicht gern Polizisten, Daimler-Benz-Leihwagen oder ein Stückchen Koblenzer Straße. Aber für den Fall, daß wieder ein Mächtiger dieser Erde die Piste von Wahn ansteuert, möchte Telemann dem WDR anraten, Europa nur dann zu alarmieren, wenn die erwartete Darbietung über ein Fähnchenschwenken hinausgeht. Man regt sich sonst nur unnötig auf. Merke: »Um dieses leblosen Gegenstandes willen wage ich es nicht, das Zimmer zu verlassen« (Jean-Jacques Rousseau: Pygmalion).

L e b e n se c h t ( 8 / 1 9 6 0 ) Woran denkt der Großstadtmensch, wenn sein Blick wehmütigverlangend ins Leere irrt? – Er denkt an den deutschen Wald. Nicht an jenes wesenhafte Volksgut, dem die Obsorge des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten gilt, sondern an ein Abstraktum, das, je nach Gemütstiefe und Bildungsgrad, Vorstellungen wie »Caspar David Friedrich«, »Adalbert Stifter« oder »Ludwig Ganghofer« wachruft. Gänzlich unverbildete Naturen denken zumindest an »Ich schieß’ den Hirsch im wilden Forst« oder »Er nahm die Büchse, schlug sie an den Baum ...«; denn untrennbar verbunden mit dem deutschen Wald ist ja das deutsche Weidwerk, eine Organisation, die sich von der Jägerei anderer Nationen erheblich unterscheidet; nicht zuletzt durch ihre halbmilitärischen Umgangsformen. Beides, Wald und Weidwerk, sind auch des Deutschen Fernsehens, genauer: des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands, LieblingsWachtraum, weshalb letzterer keine Mühe scheut, den Hirsch im wilden

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Forst, wenn nicht zu erjagen, so doch immerhin beim Äsen zu beobachten. Im vergangenen Jahr hatten die Veranstalter Pech gehabt. Tauwetter und eine geplatzte Lampe waren für das Rotwild des Hochharzes Grund genug gewesen, die deutschen Menschen vergebens warten zu lassen. Deshalb wurden heuer, am 9. Februar, gleich zwei Futterplätze in grelles Scheinwerferlicht getaucht: der vor dem »Harzhotel Molkenhaus« und der vor der »Marienteichbaude«. Und damit auch eine absolut verläßliche Darbietung stattfände, schickte die Intendanz einen Ansichtsfilm von den Schönheiten am Rande der Bundesstraße 4 voraus (Film-Kommentatrice Irene Koss: »Je tiefer der Wald, desto heimlicher die Wege«). Indes: Kaum hatte ein Forstmeister die harrenden Tierfreunde über das Ethos des Wildfütterns aufgeklärt, da konnte die Kamera durchs Fenster des Molkenhauses das erste Rudel erfassen. Angelockt durch Hirschvater Joachim Wellbrocks urigen Singsang (»So komm!« – »Na komm!«), zog es näher und machte sich ohne Arg ans Schau-Äsen. Nur als ein ungerader Sechzehnender mit abgeforkelter linker Stange zufällig aufblickte und neben der Kamera den NWRV-Reporter und Fernseh-Lotterie-Einnehmer Jochen Richert stehen sah, wollten ihm plötzlich die Kastanien nicht mehr schmecken. »Aber warum denn«, röhrte der Hirschvater dem Flüchtigen nach. Anders war es vor der Marienteichbaude, wo der Sprecher KarlHeinz Hollmann seines Amtes waltete. Dort sollten – Baudenvater Augustin bestätigte es stolz – die besseren, »starkgeweihten« Hirsche verkehren. Doch ein widriges Geschick hatte es gefügt, daß dem FernsehEreignis, außer den unsichtbaren, auch noch ein paar hundert sichtbare Zuschauer beiwohnten, was wiederum strenge Absperrmaßnahmen der Polizei und des Bundesgrenzschutzes erforderlich machte. Ergebnis: Die Tiere des Waldes hungerten lieber ein Weilchen. Ungeachtet solchen Teil-Ungemachs waren sich beide Berichterstatter darüber einig, daß sie ihrer Republik ein beträchtliches Naturerlebnis vermitteln durften. »Es ist immer die freie Wildbahn – auch hier, am Molkenhaus, ist es die echte, freie Wildbahn, aus der das Wild oben herantritt zur Äsung«, versicherte Jochen Richert mit Nachdruck. Und selbst sein unausgelasteter Kollege gab am Ende der Wartezeit mit belegter Stimme zu bedenken: »Sie wollen das Lebensechte miterleben zu Hause ... und vielleicht haben wir ein wenig dafür tun können.« Seitdem sind neun Millionen Klubsessel-Nimrods in dem schönen Wahn versponnen, sich im authentischen grünen Tann, zwischen lebensechten Edelhirschen, getummelt zu haben. Und wenn es ihnen niemand ausredet, kommen sie sich nach der nächsten Rotwild-Show bereits wie erfahrene Waldläufer vor. Fernsehen heißt ja bekanntlich: Dabeisein.

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Nun, es heißt in der Tat: Dabeisein. Zum Beispiel dann, wenn Präsident Eisenhower in Paris landet oder wenn, beim Eishockey, der SC Riessersee dem EV Füssen das »3 : 1« einschießt. Aber wer da als Naturschwärmer firmiert und glaubt, daß ihm der Besitz eines Bildempfängers im Winter die Frostbeulen und im Sommer die Mückenstiche und die Tannennadeln im Kragen erspart, der könnte mit gleicher Kühnheit dafürhalten, daß er nach einem Dutzend Kurt-Wessel-Abenden über »Politik in Deutschland« Bescheid weiß. Es gibt immer noch ein paar Geheimnisse, die sich dem Blick einer Fernseh-Kamera entziehen. Andererseits: Was heißt schon »freie Wildbahn«? Selbst wenn man Jochen Richerts geflüsterten Hinweis auf die »bekannte Scheu dieser Tiere« ernst nehmen will, kann man doch nicht umhin, die Molkenhaus-Hirsche für sehr ausgeruhte Geschöpfe zu halten. Jupiterlampen, Autos, Omnibusse, Kabel, Kameras – wem da nicht der Appetit vergeht, der hat den ersten Mutations-Sprung in Richtung »bester Freund des Menschen« bereits hinter sich. Und was die Stark-Geweihten an der Marienteichbaude betrifft, so werden sie den Grenzschutz nächstes Jahr wohl mit einem Wedeln begrüßen. Wer weiß es denn? – Vielleicht sind diejenigen, die an rein elektronischer Naturbetrachtung Genüge finden, ihrer Zeit nur um ein Stückchen voraus. Wenn wir anderen sie eingeholt haben, wird der deutsche Wald pünktlich in allen Wohnküchen rauschen, das deutsche Wild wird in einem fort niedlich sein, und der deutsche Weidmann wird mühelos von seinen Abendgagen leben können. Horrido! Merke: »Nichts schreckt das Wild so sehr wie der einsame Wanderer mitten im Revier.« (Fernseh-Ansagerin Irene Koss in der Einleitung zur Sendung Wildfütterung im Hochharz)

Müllers Lust (9/1960) Mit den Vorkommnissen der Gegenwart braucht das Deutsche Fernsehen nicht viel Umstände zu machen; die kann es direkt übertragen. Für das zukünftige Geschehen, soweit es im Bilde darstellbar ist, genügen Programmvorschau und Wetterkarte. Und was die nahe Vergangenheit anbetrifft, so hat der Umstand, daß sich belichtetes Zelluloid lagern läßt, schon so manchen Fernsehdirektor der Fährnisse des Grübelns enthoben. Nur die ferne Vergangenheit – im Volksmund »Geschichte« genannt – bereitet den Sendern immer noch Sorgen. Besonders dem Sender Stuttgart. Er nämlich sieht seine pädagogische Aufgabe darin, die Zuschauerschaft auch solchen Ereignissen beiwohnen zu lassen, die noch kein Reporterauge, geschweige eine Filmkamera schauen durfte, und hat auf diese Weise den bislang bekannten

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Arten der Geschichtsbetrachtung – der referierenden, der pragmatischen und der genetischen – ungescheut eine vierte hinzugefügt, die dokumentarische. Wußte er doch: Was ein rechtes Fernsehkind seiner Zeit ist, das will sich nicht mit historischen Mutmaßungen abspeisen lassen. Es will Beweise haben, Tatsachen. Sonst kann ihm die ganze Weltgeschichte gestohlen bleiben. Indes, wo kein Photograph ist, da sind nur zeitgenössische Stiche, allenfalls ein paar vergilbte Handschriften. Vor die Wahl gestellt, den unkontrollierbaren Teil der Geschichte im Bücherregal zu belassen oder neue Wege zu bahnen, entschloß sich der Süddeutsche Rundfunk kühn zu einer »historischen Versuchsreihe«. Experimentieren jedoch bedeutet beim Fernsehen nicht das, was es woanders bedeutet, nämlich: hinter verschlossenen Labor-Türen so lange basteln, bis etwas Ersprießliches herausgekommen ist. Es heißt: Die Abnehmer des angestrebten Idealprodukts sind gleichzeitig die Versuchskarnickel, die gottergeben vor sich hin zu mümmeln und nicht zu fragen haben, wer da an ihnen herumprobiert. Hier war es Arnolt Brecht, alias Artur Müller, 50, ehemals Chefdramaturg des Hessischen Hörfunks, Verfasser mildumstrittener Dramen und Romane sowie einer Leo-Trotzki-Biographie. Artur Müller tat, was jeder vernünftige Bahnbrecher tut: Er begann den Reihenversuch mit einem Minimum an Wagemut, indem er (am 12. September 1958) Kaiser Karl V. zu allerlei alten Bildern und Schriften über dessen tragisches Leben plaudern ließ. Doch schon bei Versuch Nr. 2, einem Querschnitt durch die Französische Revolution, gelang ihm die synthetische Herstellung eines Augenzeugenberichts (13. Juli 1959). Als Berichterstatter fungierte ein gewisser Nicolas Chamfort, Bürger und Schriftsteller, der aufs trefflichste wiederzugeben wußte, was ihm so interessante Persönlichkeiten anvertraut hatten (Danton zum Reporter Chamfort: »Ich werde diese beschissene Guillotine zerbrechen oder besteigen«). Leider, erfuhr man, war der Augenzeuge von einem Blasenleiden so jäh dahingerafft worden, daß ihm keine Zeit blieb, seine Notizen sicher aufzubewahren. Müller mußte sie »rekonstruieren, als seien sie noch greifbar«. Auch der 3. Versuch, eine »imaginäre Revisionsverhandlung« über die Prozeßakte Louis Capet (10. August 1959) zeugte von des Fernseh-Historikers unerschrockener Arbeitsweise. Den Gipfel der Kühnheit aber erklomm Artur Müller am 12. Februar 1960, als er in der Sendung Von Petersburg bis Kronstadt die Russische Revolution zu dokumentarischem Leben erweckte. Denn waren auch in der Revisionsverhandlung Capet schon Schauspieler am Werk gewesen, so durften sie es doch beim Aufsagen erdachter Gespräche bewenden

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lassen. Hier hingegen waren die Dialoge, die den Mangel an Bildern wettmachen sollten – laut Müller –, »echt und historisch belegt«. So erlebte man denn, was zu erleben man sich niemals erhofft hätte: historische Augenblicke. Die Abdankung eines porträtähnlichen Zaren Nikolaus, den Beginn des »Aufbaus der sozialistischen Ordnung« und manches mehr. Sagt der Lenin zum Gorki: »Ich werde Ihnen heute schon verraten, was Sie morgen schwarz auf weiß in der Prawda finden werden« – und liest denselben Prawda-Artikel vor, den auch Artur Müller inzwischen gelesen hat. Sagt der Gorki zum Lenin: »Wladimir Iljitsch, auch ich will Ihnen verraten, was Sie morgen – schwarz auf weiß – in der Nowaja schisn finden werden. Es ist in meinem Kopf schon fertiggeschrieben« – und zitiert die Nowaja schisn. Und Klio, die Muse der Geschichte, bekommt etwas Nachdenkliches in den Blick (besonders, wenn sie obendrein erfahren muß, daß der historische Schnappschütze hartnäckig an der Fehl-Vorstellung festhält, Lenin sei im »plombierten Eisenbahnwagen« durch Deutschland gereist). Andererseits weiß sie natürlich, die Muse, daß man bei der Darstellung historischer Augenblicke nicht kleinlich verfahren darf. Hauptsache, man spürt den »Atem der Geschichte«. Nun, es war keineswegs dieser erhabene Lufthauch, was der Bundesversuchskarnickelschar bei des Müllers Lust am Fabulieren entgegenwehte. Es war – bei allen vier Experimenten – die schiere Langeweile. Und so erhebt sich denn die Frage, ob des experimentierfreudigen Südfunks nächster Versuch nicht darin bestehen sollte, auf Artur Müllers Beihilfe zu verzichten. Wenigstens so lange, bis der Revolutionsfabulant gelernt hat, daß die »Wirklichkeit immer und überall gleich, nämlich unbekannt« ist (Egon Friedell), und daß »Leitartikel auch dann Leitartikel bleiben, wenn man sich zum Vorlesen einen Bart umhängt« (Telemann). Merke: »Über Geschichte soll man dichten. Alles andere sind unreine Lösungen« (Oswald Spengler).

Imperfektion (14/1960) Wenn Filmproduzenten jäh zu der Ansicht neigen, hunderttausend Mark pro Rolle seien ein schönes Stück Stargage, wenn sogar Film-Pressechefs das Wort »Krise« entschlüpft und Filmverleiher ein »Bin-ich-nicht-einguter-Verlierer?«-Lächeln zur Schau tragen, dann weiß das aufgeweckte Weltkind, was dahinter steckt: das Fernsehen. Der Existenzkampf, der da seit Jahren tobt und der, wie jeder bessere Konflikt, im Zeichen friedlicher Koexistenz zu stehen vorgibt, wurde von

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aller Filmwelt mit dem Schlachtruf »Wir können was, was Ihr nicht könnt!« eröffnet. Farbe, Breitwand, Cinemascope, Vista-Vision, ToddAO, Starkult, »Nur für Erwachsene« – aus allen Rohren und dicht über die Köpfe der Freiwilligen Selbstkontrolle hinweg kamen ihre Breitseiten. Selbst der oft vermißte »gute Film« mußte als Munition herhalten. Was aber schickte das Fernsehen ins ungleiche Treffen? Nichts. Es wuchs und mehrte sich, hielt es für einen Glücksfall, erfunden worden zu sein, und strickte am trauten Programm. Zwei schlicht, zwei kraus. So stellten denn auch die Filmkanoniere ihr Störfeuer ein. Beklommen zwar, weil die Zahl der Kinobesucher stetig abnahm (15 bis 20 Prozent jährlich), aber ohne Panik und im Glauben, daß der sanftmütige Konkurrent ihnen wohl gestatten würde, mit heiler Haut in den Schrottoder Gemüsehandel zurückzukehren. Schlimmstenfalls. Doch plötzlich, sei es aus Neckerei oder weil sie wieder mal nicht wußte, wie sie sich die Sendezeit vertreiben sollte, plötzlich legte die Fernsehfunkstation Köln ihr Strickzeug beiseite, rief trutzig: »Ich kann etwas, was Ihr nicht könnt!« – und schoß zurück. Bereits nach dem ersten Treffer, dem sechsteiligen Heimkehrer-Epos So weit die Füße tragen von Josef Martin Bauer (April 1959), merkte die Gegenseite, auf welche besondere Fertigkeit sich der Westdeutsche Rundfunk etwas zugute hielt, und darum sah sie dem zweiten Bombardement, der Verfilmung des Romans Am grünen Strand der Spree von Hans Scholz, mit berechtigter Nervosität entgegen. Und wiederum stellte sich heraus: Das Fernsehen kann Romane erzählen; ausführlicher, werktreuer als die Filmindustrie. Es kann sich Zeit nehmen: ein Jahr für die Vorbereitung, zehn Wochen (mit 14tägigen Pausen) fürs Senden. Vor allem aber kann das Fernsehen billiger arbeiten als der kommerzielle Film. Der fünfteilige Fernseh-Roman Am grünen Strand der Spree kostete samt 180 Schauspielern, 4500 Komparsen, 2250 Kostümen und 100 alten Wehrmachtsfahrzeugen nur wenig mehr als ein einziger deutscher Spielfilm, nämlich zwei Millionen Mark. Und noch etwas kann das Fernsehen, was der Film nicht kann: Es kann politisch unbequem sein, ohne Gefahr zu laufen, vor leere Stuhlreihen oder in den Wirkungsbereich von Stinkbomben und weißen Mäusen zu geraten. Zumindest kann es die Vorstellungskraft derer beleben, die millionenfachen Mord für eine Frage der Arithmetik halten. Beweis: der Schluß des ersten Filmteils (Das Tagebuch des Jürgen Wilms, 22. März). Kurzum: Die Filmbranche müßte sich stracks in die Schäm-Ecke stellen – wenn da nicht der Regisseur und Fernseh-Romancier Fritz Umgelter wäre. Er tat, was sich zünftige Drehbuchschreiber aus gutem Grund längst abgewöhnt haben: Er klammerte sich überängstlich ans

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Fontane-preisgekrönte Original; nicht bedenkend, daß auch ein FernsehFilmroman ein Film ist. Das heißt: Alles Wichtige muß in Bilder übersetzt, alles Unwichtige weggelassen werden, und die Dialoge müssen sprechbar sein. Zungengymnastische Übungen wie »Der Spätheimkehrer, den wir gemeinsam vor drei Monaten dem westlich-bürgerlichen Leben zurückzugewinnen trachteten, ist wieder hier« oder zierlich gedrechselte Kommiß-Konjunktive (»Habe ich nicht zum Ausdruck gebracht, daß es eine Selbstverständlichkeit sei ...«) legen den Verdacht nahe, daß auch des Fernsehens Erzählertalent vorerst nur in der Möglichkeitsform besteht. Dennoch sollte sich die Filmwirtschaft nicht zu früh ins Fäustchen lachen. Telemann jedenfalls wird nimmer vom Schirm weichen, bis er die Schlacht bei Kunersdorf (III. Teil, Preußisches Märchen) nachvollzogen und schließlich erfahren hat, ob Fritz Umgelters literarischer Respekt auch das Florentiner Schau-Duschen der morgenschönen Cornelia (V. Teil) umfaßte. Wiewohl der Pressedienst des NWRV Köln vermeldet: »Nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung.« Ja, selbst wenn sich innerhalb der nächsten neun Wochen erweisen würde, daß sämtliche Personen der Handlung Hans Scholzens Kunstdruck-Jargon nachplappern mußten – von denen der Rahmenhandlung weiß man’s ja bereits –, darf der Weg, den das Westdeutsche Fernsehen nun zum zweitenmal eingeschlagen hat, mit Fug ein Ruhmespfad genannt werden. Nur: Vielleicht sollte es sich nach einem anderen, respektloseren Pfadfinder umtun. Merke: »Wir sind der schwachen Imperfekta müde.« (Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree)

W a s se r a m K i n n ( 1 6 / 1 9 6 0 ) Wer, wenn ihm Gutes widerfährt, an fremdes Ungemach erinnert wird; wer beim Essen der Hungrigen, beim Trinken der Leberkranken und vor dem Einschlafen der Obdachlosen gedenkt, dem dürfte, dieweil er fernsieht, etwas besonders Kummerschweres in den Sinn kommen; der deutsche Film. Auch Telemann wäre in philanthropischen Augenblicken geneigt, diesen sturmzerzausten Zweig der deutschen Wirtschaft zu bemitleiden, wüßte er nicht von Walter Koppel, daß eine solche »Struktur-Krise«, wie die ökonomische Bitternis genannt wird, etwas sehr Heilsames sein kann. Sie kann, glaubt Realfilm-Chef Koppel, »den Ausleseprozeß fördern«. »Struktur-Krise« – das soll heißen: leere Kinoplätze. »Auslese« – das bedeutet seit Darwin: Nur der Tüchtigste hat Überlebens-Chancen.

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Wenn also, gemäß dem neuen Feldzugsplan des Europa-Verleihs, das Fähnlein der mitspracheberechtigten Kino-Eigner die »vertikale Konzentration ohne Anhäufung der Risiken« verstärkt, wird sich der Heilungsprozeß der Filmbranche so vollziehen: Der tüchtigste Kinobesitzer wird, weil er mit der Kundschaft doch den engsten Kontakt hat, herauszufinden suchen, was für Filme sie sehen will, und wird zu seiner Verwunderung erfahren: Sie hat gar keine besonderen Wünsche. Sie will ernste und heitere, spannende und beschauliche – sie will einfach gute Filme sehen, die Kinokundschaft. Diese Neuigkeit wird der tüchtigste Kinobesitzer dem tüchtigsten Verleiher überbringen. Und der tüchtigste Verleiher wird den tüchtigsten Produzenten zu sich bitten. Und dieser wiederum wird den tüchtigsten Regisseur auffordern, das Drehbuch des tüchtigsten Filmautors mit Hilfe der tüchtigsten Filmschauspieler in den Kassenschlager des Filmjahres zu verwandeln. Und wenn das ein paarmal durchexerziert worden ist, kann das Fernsehen einpacken. Aber nicht nur diese neue Patentlösung der Europa-FilmverleihGmbH ist es, was die Herzen unserer Filmwirtschaftsführer vor fruchtloser Verzagtheit bewahrt; ihr ungebeugter Hoffnungsfrohmut ankert auch in jenen liebgewordenen drei Glaubenssätzen, die das Fernsehen aus der Reihe der technischen Umwälzungen ausschließen. Dogma Nummer eins lautet: Der Film kann so groß, so bunt, so breit und so plastisch werden, wie er will. Das Fernsehen jedoch muß seiner Lebtag der kleine Guckkasten bleiben. Beweis: Die Bildschirme haben immer noch das gleiche Format. Dogma Nummer zwei: Filmtheater wird es immer geben, weil der Mensch, als geselliges Wesen, des Menschen sehr bedarf. Beweis: In den USA ist die Zahl der Kinobesucher schon wieder im Ansteigen. Dogma Nummer drei: Das Fernsehprogramm wird mit der Zeit als öde Dauerberieselung empfunden. Der Kinofilm hingegen vermittelt Erlebnisse, die allein aufgrund der Tatsache, daß man sie auswählen kann, den Eindruck des Besonderen erwecken. Beweis: Selbst Filme, in denen Fernseh-Stars mitwirken, können ein Kassenerfolg sein. »Der Film ist nach wie vor das attraktivste aller Unterhaltungsmittel und hat seine technischen Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft«, behauptet Walter Koppel. Und Telemann tut es in der Seele weh, so vielem Überzeugungseifer die Stirn bieten zu sollen. Indessen: Alle drei Glaubensartikel entbehren der Schlüssigkeit. Gegenbeweis Nummer eins: Auch das Fernsehen kann, wenn die Geräte-Industrie es für angezeigt hält, zumindest so groß und so bunt sein, wie es will; wogegen der Film die Grenzen seines Könnens erreicht,

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wenn nicht gar überschritten hat. Noch die kleinste technische Kapriole, und er macht sich vollends lächerlich. Gegenbeweis Nummer zwei: Dem Hang zur Geselligkeit, zum »Sehen und Gesehenwerden«, wird hierzulande im Theater und nicht, wie in Amerika, im Kino gefrönt – es sei denn, man wollte dem Gemeinschaftserlebnis des Bonbonpapier-Raschelns übertriebene soziologische Bedeutsamkeit zuerkennen. Gegenbeweis Nummer drei: Wenn erst ein Zweites Programm ausgestrahlt wird, muß sogar der stumpfsinnigste Berieselungs-Passivist seine Wahl treffen – wodurch sich der »Reiz des Besonderen« auch für das Fernsehen ergibt. Gegen den Fortbestand des Films in seiner jetzigen Form sprechen ferner: die steigende Parkplatz-Not, das Gesetz der Trägheit sowie das Verhalten, das Filmschaffende bei Bambi-Preis-Krönungen zur Schau tragen. Nein, da helfen keine Selbstreinigungs- und Ausleseprozesse, keine Kraftkonzentrierungen und keine spitzen Schreie nach einer Vergnügungssteuer-Ermäßigung. Da hilft nur eins: Möglichst wenig Wind machen, damit das Wasser, das da schon am Kinn steht, nicht auch noch Wellen schlägt. Wer weiß, vielleicht wird man eines Tages im Deutschen Fernsehen, nach dem »alten Laternenanzünder«, auch den »alten Kinobesitzer« im Schlagerliede besingen, der ein Leben lang bemüht war, Hinausgepulvertes wieder einzuspielen. Mark für Mark. Refrain: »Und dann streichelt er noch mal die alte Kinokasse während aus dem treuen Aug’ die Träne rinnt ...« Merke: »Die Einsicht in das Mögliche und Unmögliche ist es, die den Helden vom Abenteurer scheidet« (Th. Mommsen).

R o s e u n d Re i h er ( 2 0 / 1 9 6 0 ) »Das ist das Bedeutsame an dieser Hochzeit ... und wird viele Engländerinnen mit dem Gefühl der Freude erfüllen: Jeder Engländer, der zur anglikanischen Kirche gehört, kann sich in der gleichen Form trauen lassen, wie das heute Prinzessin Margaret erlebt ...«, übertrieb Hans-Joachim Friedrichs, der Fest-Kommentator des deutschsprachigen Fernsehens, während in der Westminster-Abtei zu London ein Geschehnis statthatte, das – wahlweise – als »Hochzeit des Jahrhunderts« (News Chronicle) oder als »Rosen-Hochzeit« (Elisabeth II.) in die Weltgeschichte eingehen wird. Wäre Telemann befugt, historische Daten zu taufen, würde er den 6. Mai 1960 als den »Tag des Hutes« bezeichnen. Denn schier nichts ande-

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res als Kopfputz wippte und wogte auf seiner Bildscheibe: Hüte, besteckt mit Rosen, Maßliebchen und anderen Kindern der Flora; Hüte, die auf ein jähes Fischreiher-Sterben hindeuteten (Königinmutter); Hüte aus Fliegengitter, gefrostetem Beerenobst oder Stachelschwein (Stiefmutter II des Bräutigams) – sie alle kündeten von der Vorliebe dieses Inselvolkes, Dinge, die der Schmückung dienen, dort anzubringen, wo sie am meisten stören; eine Eigenart, die es beispielsweise auch der Königlichen Berittenen Garde ermöglicht, den Kinnriemen unter der Nase zu tragen. Außer dem Kopfputz-Gepränge war an dieser Hochzeit nur eines bedeutsam: die Organisation. Sie klappte so erstaunlich gut, weil alle hohen Gäste so erstaunlich pünktlich waren. Und sie waren alle so pünktlich, weil sie das Sprichwort der »Höflichkeit der Könige« kannten und überdies wußten, daß es für noch bestehende Monarchien nichts Erhebenderes gibt, als Republiken zurufen zu dürfen: »Da seht ihr, was Ihr aufgegeben habt« – wobei immer ein wenig Schadenfreude mitschwingt. Weiß man doch: Ein Land, das sein gekröntes Haupt einmal vergrault hat, kriegt nicht so leicht eins wieder. Freilich verlangt solch monarchistisches Lustgefühl Opfer. Wer königlichen Blutes ermangelt, der muß eben, wenn’s ans An- oder Abfahren geht, ein schickliches Weilchen länger beten. Und sei er Winston Churchill persönlich. Monarchist sein heißt: warten können, bis der richtige Bentley vorgefahren ist. Weil am vergangenen Freitag alles so hübsch gesittet und soigniert vonstatten ging, brauchte sich auch das Fernsehen nicht in unziemliche Hast zu stürzen. Es brauchte nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, daß hundert Fachleute zur rechten Zeit auf den rechten Knopf drückten – und siehe, schon wirkte die Live-Übertragung wie ein mustergültig geschnittener Dokumentarfilm. Dies lag jedoch nicht allein an der Disziplin der erlauchten Statisten, sondern auch an den insgesamt 49 Kameras, die jede Phase der Festlichkeit aus jedem erdenklichen Blickwinkel erfaßten. Vor allem aber lag es daran, daß Englands Fernseh-Techniker den Ruf, die besten der Welt zu sein, erneut verdient haben. Alte Hüte hin, Monarchen her – was 300 Millionen MargaretInteressenten »Live« oder als Aufzeichnung zu sehen bekamen, war ohne Zweifel die bestbesuchte Hochzeit der Menschheitsgeschichte, und daß sie eines Photographen Hochzeit war, wird nachgeborenen Soziologen noch so manches tiefschürfende Sinnbild entlocken; zumal wenn sie erfahren, daß Tonys Beinahe-Kollegen vom amerikanischen Fernsehen versprochen hatten, das Ereignis mit »stiller Würde«, sprich: ohne Werbe-Einblendungen, wiederzugeben. Im übrigen handelte es sich um die erste Kopulation, die durch die Vokabel »Fernseh-Hochzeit« in einem Maße gekennzeichnet wird, wie

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es dem neuesten Stand der Technik entspricht: Nicht nur die MargaretVerehrer in den USA, in Kanada, Hongkong, Australien und Nigeria, nein, auch die Festgäste in der Westminster-Abtei wurden auf elektronischem Wege, nämlich durch mehrere geschickt verteilte Klein-Bildschirme in Rührung versetzt. Wer weiß, vielleicht war der Aufwand deshalb so eindrucksvoll, weil zugleich mit dem freudigen ein betrübliches Ereignis gefeiert wurde: ein »Begräbnis«, wenn man sich so gemütsroh ausdrücken will. Denn an diesem Maienvormittag begegnete auch der letztmöglichen Märchengestalt unserer Zeit etwas Menschliches. Sie wurde, was eine richtige Prinzessin zwar werden möchte, aber nicht werden darf: Frau Armstrong. Gewiß, noch sind die Tage der Rosen. Noch furcht die königliche Jacht Britannia durchs Karibische Meer und die Boulevard-Presse durch des Flitterwöchners Vorleben, exotischer Entdeckungen allzeit gewärtig. Noch! – Aber wie soll es weitergehen? Prinzessin Sorayas traurige Augen verfangen nicht mehr; der Schähin Farah gebricht es an gynäkologischen Besonderheiten sowie am Berliner Blut; das Fürstenpaar von Monako war ohnedies nur eine Notlösung – und was da in niederländischen und skandinavischen Königshäusern heranreift, ist so geheimnisumwittert wie eine Packung Stärkemehl. Nicht nur der Illustriertenleser, auch der Fernsehzuschauer wird sich dareinschicken und ein paar Jahre warten müssen. Wenn nötig, bis zu Prinzessin Annes erster Verlobung oder einem anderen weltweiten Freudentag. Denn merke: »Die Begeisterung für die königliche Familie ist nicht nur in England recht groß« (Hochzeits-Kommentator Hans-Joachim Friedrichs).

D i c htl i n i e n ( 3 4 / 1 9 6 0 ) Fernseh-Nutznießer, die Turgenjews Komödie Ein Monat auf dem Lande (Hamburg, 7. August) verbüßt haben oder Zeugen waren, wie gleichgeartetes Gähngut der dramatischen Dichtkunst in ihre Röhre gezwängt wurde – sie schöpfen Zuversicht, wenn sie hören, daß solche Reisen in die literarische Vergangenheit nur widerwillig anberaumt werden. Und in der Tat, das Mißbehagen, das da aus vielen dramaturgischen Abteilungen hervortönt, ist keine Sinnestäuschung: Die bestallten Fachkräfte wollen im Grunde weder aufbereitete Klassik noch verstaubtes SommertheaterErbe in den Äther senden. Sie wollen das Original-Fernsehspiel pflegen und fördern, wo sie es treffen. So hielt der Sender Freies Berlin unlängst einen Lehrgang für potentielle Fernsehspiel-Urheber ab, der einigen teils vom Berliner Senat, teils

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von Theater-Verlegern empfohlenen Talenten Gelegenheit geben sollte, tief in die Mysterien der Fernseh-Dramaturgie einzutauchen. Telemann, der keinen Berliner Senat noch andere hochmögende Förderer hinter sich weiß, hätte wohl sein Lebtag nicht erfahren, welches die Eigentümlichkeiten einer Fernseh-Dramaturgie sind, wenn es da nicht, in Frankfurt am Main, die Freies Fernsehen GmbH gäbe. Ihr Sachverständiger für das Sendespielwesen, der Dr. phil. habil. Gerhard Eckert, hat, gestützt auf »internationale Fernseherfahrungen« und beflügelt von Vorfreude auf das zweite Programm, »Richtlinien« ausgearbeitet, die künftige Röhren-Dramatiker vor blindem Eifer bewahren sollen. »Die Form des Fernsehspiels ...«, so heißt es darin, »muß sich zur Direktsendung eignen.« Nun, das leuchtet ein, weil es, bei aller veranstalterischen Umsicht, immer mal wieder vorkommen kann, daß eine Darbietung live ausgestrahlt wird. Weiter: »Da die größere Zahl der Fernsehzuschauer zum Mittelstand und der werktätigen Bevölkerung gehört, sind wir besonders ... an Stücken aus diesem Milieu interessiert.« Hier würde Telemann, wäre er ein Dramendichter, stutzen. Weil ihm der Gedanke, die mittelständische und werktätige Schicht unseres Volkes pflege schaugeschäflichen Umgang statt mit den Exponenten eines süßen Lebens lieber mit ihresgleichen, zu ungewohnt vorkäme, als daß er ihn schöngeistig verwerten könnte. Und bei der Vorstellung, daß es seiner Feder benommen bliebe, die sonst so ertragreichen Niederungen der menschlichen Gesellschaft abzuschildern, möchte ihn hier der Harm überkommen – selbst wenn er sich vor Augen führt, wieviel Unersprieß gerade in den besseren Mittelstandskreisen passieren kann. Indes: Richtlinie bleibt Richtlinie. Eine weitere Maxime schreibt vor: »Es ist ... zu berücksichtigen, dass die überwältigende Mehrzahl aller Fernsehspiele von Familien gesehen wird, in denen verschiedene Altersgruppen gleichzeitig vertreten sind.« Will besagen: Was ein fernsehgerechtes Sendestück ist, das darf die Ahne nicht befremden, soll Mütterchen ans Herz oder an die Frohnatur greifen und muß den Vater auf andere Gedanken bringen. Darüber hinaus muß es spannend genug sein, um die reifende Jugend ans Elternhaus zu ketten, nicht aber so aufregend, daß das Kleinchen in der Nacht Schreikrämpfe bekommt. Welchem Autor fiele da nichts Hübsches ein? Als untunlich empfindet die GmbH: poetischen Dialog, Symbolik, theatralische Effekte, melodramatische Handlungen und eine rhetorische Sprache. Nachdem Telemann so gründlich erklärt worden ist, was das Wesen der Fernseh-Dramaturgie ausmacht, fühlt er sich versucht, sein Wissen in einen kargen Satz zu kleiden. Dieser Satz lautet: Es gibt keine FernsehDramaturgie.

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Das Fernsehspiel, Spätgeburt aus Film und Bühne, gehorcht weder unbekannten Gesetzen noch erfordert es neuartige Fähigkeiten. Es gehorcht einem Handikap – dem (noch) zu kleinen Bildformat. Der einzig vernünftige Rat, den man Lernbegierigen geben könnte, wäre also der, sich Stücke mit möglichst wenig Personen auszudenken. Alles Weitere, insbesondere das Standard-Beschwernis, die benötigte Personenzahl so geschickt über die Bildfläche zu verteilen, daß die Hälse der Randfiguren nicht in qualvoller Schräge verharren müssen, ist Sache des Regisseurs. Der Fernseh-Autor muß nichts vom »neuen Medium Fernsehen«, er muß nur etliches vom Stücke- und Filmeschreiben verstehen. Was die TV-Experten in aller Welt für »Dramaturgie« ausgeben, ist einmal ein verkaufspsychologischer Essay, zum anderen ist es der Versuch, Neulingen einzureden, daß die Kunst, es allen recht zu machen, eine erlernbare Kunst sei. Vielleicht, so sagen sie, die längst dazu übergegangen sind, es allen billig zu machen – vielleicht vollbringt so ein dramatischer Springinsfeld das Wunder, daß Fernsehspiele bei Zuschauerumfragen so gut abschneiden wie Kampfsport-Begegnungen. Ihre Lockung dringt bis in die letzte Mansarde. Doch der Nachwuchsverfasser ist nach seiner Richtlinien-Lektüre entweder zu verschüchtert, um noch Wunder anzustreben, oder schon so weit zum Werbefachmann herangediehen, daß er sich seine Kenntnisse in einer freigebigeren Branche honorieren läßt. Merke: »Wenn der Lessing des Fernsehspiels kommt, soll er getrost die Regeln verletzen« (Dr. phil. habil. Eckert).

F i n s te r ( 9 / 1 9 6 1 ) Das Hübsche an einer totalen Sonnenverfinsterung ist: Der Fachmann kann sie auf die Minute prophezeien, und der Laie, solcherweise gewitzt, kann Vorkehrungen treffen. Telemann vermochte dem 15. Februar 1961 besonders wohlpräpariert entgegenzufiebern, weil er alte Schriften studiert und sämtliche darin enthaltenen Winke befolgt hatte. Zunächst einmal hatte er zwei Tage lang gefastet und sich darauf eingerichtet, auch am Tage der Düsternis weder zu essen noch zu trinken noch Kräuterwerk aus dem Garten zu holen, »damit der Leib keine Alteration erfahre«. Denn eben dies heischte ein Dekret der fürstbischöflichen Regierung zu Eichstätt vom 12. Juli 1654. Sodann machte er, auch hierin alten Fordernissen entsprechend, eine fromme Stiftung, sprach seine Schuldner alter Verpflichtungen ledig und schwärzte eine Glasscheibe mit Kerzenruß an. Als das geschehen war,

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nahm Telemann seinen Adalbert Stifter zur Hand und las vorfreudig nach, was dieser am 8. Juli 1842 notiert hatte: »Alles wußte ich voraus, und zwar so gut, daß ich eine totale Sonnenfinsternis so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen. Aber da sie nun wirklich eintraf, da geschahen freilich ganz andere Dinge ... Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich ... von Schauer und Erhabenheit so erschüttert wie in diesen zwei Minuten.« Armer Adalbert Stifter! dachte Telemann am Aschermittwochmorgen, du konntest dich nur ein einziges Mal erschüttern lassen. Wir Enkel dagegen schauen das Wunder, dank Eurovision, in der Haute Provence, in Florenz, auf dem jugoslawischen Berge Jastrebac und vom Flugzeug aus. Morgens als Live-Übertragung, abends als Konserven-Souvenir. Und richtig, von 8.20 Uhr an begannen die astronomischen Ereignisse sich zu überstürzen. Zuerst gab Dr. Rudolf Kühn den aufgezeichneten Rat: »Versäumen Sie nicht, vor lauter Fernsehsendung auch selbst an den Himmel zu sehen« – was Telemann flinkfüßig getan hätte, wenn sein Küchenbalkon nicht nach Norden läge. Gleich darauf sahen er und 90 Millionen andere Europäer auf dunkler Bildscheibe: eine Sichel. Einmal war sie 15 Zentimeter lang, einmal bloß zehn Zentimeter; einmal stand sie am unteren Bildrand, das andere Mal mehr in der Mitte. Dazu der Kommentar des Astronomen Dr. Petri aus der Provence: »Man kann mit dem Auge direkt verfolgen, wie der Mond sich immer weiter vor den Rest der Sonnenscheibe schiebt.« Oder, als aus der Sichel ein Ring geworden war: »Jetzt sehen Sie die wirklich total verfinsterte Sonne. Es ist ein wunderbares Bild, wie es nur ganz wenigen Menschen in dieser Schönheit geboten wurde, und wir dürfen der Technik sehr dankbar sein.« Und: »Ich darf Sie alle, meine lieben Zuschauer, beglückwünschen, daß Sie das Ereignis hier erleben können. Es ist ein außerordentlich packender Anblick.« Wer weiß, mutmaßte Telemann, den nicht Schauer und Erhabenheit noch gar Dankbarkeit durchbeben wollten, vielleicht ist es das Geschehen am Rande, was eine Sonnenfinsternis so unvergeßlich macht. Etwa das Verhalten der Tiere oder jenes unheimliche Zwielicht, das nach dem Glauben der Alten den Zorn der Götter verkündet. Indes, auch diese Fernseh-Hoffnung trog. Wohl gab es während der Übertragung Ochsen, Esel, Schafe und Hühner zu sehen. Wohl versicherte Dr. Kühn vom Jastrebac herab: »Sie sehen die Ochsen, die jetzt schon anfangen, sich hinzulegen. Ganz schläfrig sind auch die Hühner, die können es nicht verstehen, daß es plötzlich dunkel wird hier.« Oder, nach der Finsternis: »Die Ochsen und der Esel, die werden wieder lebendig. Man sieht es richtig.«

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Doch ungeachtet solcher Expertise konnte, wer seinen Augen zu trauen gewohnt ist, keine auch nur ähnlich geartete Wahrnehmung machen: Ochs und Esel überdauerten das Himmelsvorkommnis stehend, mit unbeteiligten Mienen; die jugoslawischen Hennen froren unbeirrt vor sich hin – nur aus der Provence hörte man einmal, als es dämmrig wurde, einen Hahn krähen. Und was das Zwielicht anbelangt, so konnte es schon deshalb kein Ereignis bilden, weil der Zuschauer diese Beleuchtungsart aus allzu vielen Fernsehspiel-Aufzeichnungen kennt. »Wenn man als Astronom weiß, um was es sich handelt, ist man trotzdem immer wieder direkt erschüttert über diesen Anblick«, meinte Rudolf Kühn am Ende, von Stifterschen Schauern ergriffen. Und: »Wenn die Sonne nur zwei Minuten nicht mehr an ihrem gewohnten Platz steht, dann drohen auch Menschen, die durchaus gebildet sind, psychisch umzufallen.« Nun, Telemann, dessen Psyche während der TV-Finsternis bedauerlich lotrecht blieb, möchte die halbe Morgenstunde des 15. Februar dennoch nicht missen. Hat sie ihm doch zu einem bedeutsamen Entschluß verholfen. Wenn Eurovision die nächste totale Sonnenfinsternis überträgt, wird er mit rußgeschwärzter Scherbe ins Freie eilen. Nichts mehr wird ihn an diesem Tag im Sorgenstuhl halten, und wenn die Protuberanzen in buntesten Farben vom Breit-Schirm flammen. Denn: Wozu auch das Fernsehen gut und nützlich sein mag – was es uns an Erhabenem vermittelt, wird immer ein wenig lächerlich wirken. Auch im Jahre 1999. Merke: »Was Sie jetzt sehen, ist einfach Dunkelheit« (FinsternisKommentator Dr. Winfried Petri).

S o z i al p r o d u k t ( 2 0 / 1 9 6 1 ) Die Tischler, die den Türrahmen erneuern sollten, stecken die Holzreste in den Rucksack – eine Art Atavismus aus der Notzeit, aber sie sind nun mal bei geblieben –, nehmen die Fahrräder mit einem Schlenker von der Garagentür und fahren los. Sie schwingen sich aufs Rad, obwohl – voilà – das Spiel noch unentschieden und jedenfalls noch nicht zu Ende ist. Natürlich haben sie es bis dahin angesehen und auch die Schuhe schön abgeputzt, bevor sie auf den Teppich traten. Aber nun ist die Arbeitszeit vorbei und ganz offenbar auch das Interesse daran, ob nun die Hamburger siegen oder nicht. Die Geschichte ist polemisch, aber sie ist wahr. Sie wäre eine rechte Arbeitgebergeschichte, wenn sie nicht als Sonderfall gelten müßte und wenn sich nicht die Arbeitgeber – also genauer: viele – auch unter den Fernsehschirm gesetzt hätten, wie die Schulkinder, die Parteidelegierten,

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die Kranken und die Gesunden, die Arbeiter und die Angestellten, die Mädchen und die Hausfrauen, die Fußgänger und Autofahrer und die Volksvertreter am liebsten auch. Die Fußballkämpfe, sie wenigstens, haben das Parkproblem in den vereinsamten Großstadtstraßen gelöst, den Büroschlußverkehr, diese Fünf-Uhr-Konvulsion, planiert, die Etatdebatte entschärft, die Nation geeinigt und de Gaulles »Europa der Vaterländer« gegen alles Integrationspathos verwirklicht, auf immer und immer mal wieder neunzig Minuten und eine Pause, die den Wasserwerken zu schaffen macht. Was die Bundesbank, trotz ihrer Schätze, und was alle BaustoppOrakel nicht zuwege bringen, sogar das schafft der HSV, wie es im Vorjahr, unter schon eher symbolischem Namen, die Frankfurter Eintracht zuwege gebracht hat: Die Konjunkturhitze kühlt ab, so viele Räder, Hämmer, Bohrer, Sägen, Spaten und große und kleine Maschinen wurden angehalten und stillgelegt. Und das alles – nicht, weil ein prominentes Fußballspiel stattgefunden hat. Sondern weil es genau zu der Zeit auf den Schirmen zu sehen war, zu der es stattfand. Kein Wellental auf den Produktionskurven, kein Pegelsturz im breiten Strom des Sozialprodukts, wenn die Fernseh-Intendanten das tun würden, womit sie sonst noch fast jede Aktualität haben verdorren lassen: einen Film herstellen. Sie könnten einen Film aufnehmen und das Spiel später, nach Feierabend, aus der Konservendose in die Wohnungen entleeren. Da richten sie eine Spätausgabe der Tagesschau ein, als wüßten sie die Fülle schnell verderbender Neuigkeit nicht anders unterzubringen, und zeigen uns Tierkinder aus dem Frankfurter Zoo, ein wasserdichtes Automobil, einen württembergischen Dorftanz oder wenn doch dies alles nicht, so bestimmt Ähnliches im gleichen Genre. Da lassen sie die Nachrichten verlesen und illustrieren uns die Plätze, an denen die Weltpolitik wetterleuchtet, mit Filmen über Land und Leute, derentwegen wir bereits in der Vortelevisionszeit grundsätzlich zwanzig Minuten zu spät ins Kino gegangen sind; und wenn sie uns einen Film zeigen, so ist es bestimmt ein uralter Film, in dem die Mädchen lange Röcke tragen, und wenn sie uns mit Kabale und Liebe bilden oder mit einer dieser entzückenden Operetten ermuntern wollen, so sind auch das noch Konserven. Aber die Fußballspiele, um drei oder um vier oder um fünf (oder um 16 Uhr 55), wenn wir mitten in der Arbeit stecken und, wahrhaftig, auch mal jemanden am Telephon erreichen wollen, erreichen müssen, die zeigen sie live, direkt, sofort, obwohl doch von denen, die da zusehen, noch immer die wenigsten die Regeln kennen, nach denen gespielt wird (Abseits? Wieso abseits?), obwohl von denen, die zusehen, die wenigsten je auf einem Fußballplatz gewesen sind, auf der Tribüne nicht, geschweige auf dem Rasen, und obwohl jedenfalls die meisten, die zusehen, sich un-

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geniert und ohne Scham darüber mokieren, daß die anderen, alle, alle, auch zusehen. Das Gebäude der Volkswirtschaft bricht nicht gerade zusammen in diesen neunzig Minuten, aber es kracht im Gebälk, ganz deutlich, und die Fernseh-Sender, öffentlich-rechtliche Anstalten immerhin, in deren Rätegremien noch jeder Sektierer, wenn er nur energisch genug ist, den Schutz seiner Interessen fordern kann, sollten nicht, wo es ums gemeine Wohl geht, ein Fußballspiel drei oder vier Stunden konservieren mögen? Ach, man kann es nicht einmal verlangen. Nicht, weil die Rundfunksender, weil die Abendzeitungen petzen würden, wie es ausgegangen ist, und uns den halben Spaß verderben. Sondern weil sie sonst nichts haben in der Wüstenei ihres Wochenprogramms, in ihren fünf oder sechs Stunden täglicher Sendezeit, zu denen neun deutsche Sender ihre MillionenEtats und ihre Phantasielosigkeit zusammenfließen lassen. Weil keine ihrer Sendefolgen, keines ihrer Kriminalspiele, keiner ihrer conférencesauren Sonnabendquizze, keine ihrer holperigen Belehrungen und lähmenden Unterhaltungen an Dramatik, Spannung und Abwechslung auch nur entfernt mit dem konkurrieren können, was die zweiundzwanzig jungen Leute unter unser aller Augen aufführen. Wer interessiert sich denn im Ernst für Fußball? Gewiß eine Menge Leute, aber ebenso gewiß nicht die Hälfte derer, die während des Spiels zu den Fernsehgeräten drängen. Da aber haben sie etwas, was ihnen kein Rundfunk, keine Zeitung bieten kann und was ihnen, wahrhaftig, das Fernsehen sonst auch nicht bietet: Fernsehen. Merke: »Ich sehe eine begeisterte Menge« (Samuel Beckett: Endspiel).

H e c k e n sc hü tz e n ( 3 9 / 1 9 6 1 ) Der Vorzeitmensch, in dessen grauer Gehirnsubstanz erstmals die Vorstellung »fliegen« aufdämmerte, dachte nicht an das Durchstoßen der Schallmauer, sondern wollte es den Schwalben gleichtun. Und jenem unbekannten Phantasten, der als erster davon träumte, »fern« sehen zu können, hatten bei solch verschwiegenem Trachten keineswegs unsere öffentlich-rechtlichen Funkanstalten vorgeschwebt. Fernsehen, als Wunschtraum, heißt nicht, »möglichst weit« sehen, es heißt: einem Geschehnis beiwohnen, das einen nichts angeht; zugegen sein, wenn der Mitmensch, im Wahne, er sei unbeobachtet, sich Blößen gibt. Dieser Schlüsselloch-Appeal der Television war zu mächtig, als daß man ihn auf die Dauer hätte mißachten können, zumal die Schwierigkei-

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ten, die einer Befriedigung selbst des TV-Urtriebs entgegenstanden, nicht die Techniker, sondern nur die Juristen zu beschäftigen brauchten. Angefangen hat es in England. Dort schickte die Fernsehgesellschaft ABC zwei Tele-Pioniere aus, Bob Monkhouse und Jonathan Routh mit Namen, und hieß sie mittels verborgener Kamera und Westentaschensender aufzeichnen, wie sich der arglose Brite beträgt, wenn man ihn meuchlings in eine »Ausnahme-Situation« hineinstolpern läßt. Die Jagdbeute wurde lange Zeit vom ITA-Fernsehen zur Schau gestellt. Unter dem Titel Candid Camera (Aufrichtige Kamera) und der Beteuerung, daß das erlegte Wild mit der Ausstellung einverstanden sei. Seit kurzem hat sich auch das deutsche Fernsehen vom NimrodFieber der britischen Heckenschützen anstecken lassen. Und weil es ein sehr vorsichtiges Fernsehen ist, traf es außer juristischen auch noch andere Vorsichtsmaßregeln. Es bestellte einen Angelsachsen zum Jagdaufseher, nämlich den Platten-Jockey Chris Howland, und es läßt die Pirsch unter Ausschluß der Öffentlichkeit vonstatten gehen, nämlich im Zweiten Programm (Vorsicht, Kamera!, Köln). Wer in UHF-Sender-Nähe siedelt, der konnte bereits folgendes miterleben: Vor einer Autobahn-Tankstelle hält eine Limousine. Der Tankwart, so bittet der Insasse, möge doch einmal die Zündkerzen nachschauen. Prüfungsergebnis: kein Motor. Vorne leer, hinten leer. »Ich bin aber damit hergekommen«, sagt der Tank-Kunde wahrheitsgemäß. Denn Howlands Helfer hatten das kraftlose Vehikel unbemerkt die Autobahnzufahrt hinabrollen lassen. Der Tankwart überlegt fachkundig, gerät immer tiefer ins Staunen, holt Gehilfen herbei, die nun ihrerseits ratlos ins Vakuum blicken – und Kamera und Mikrophon, im Wageninneren versteckt, tun boshaft das Ihre ... Oder: Aus einem Gebüsch taucht ein Mann in phantasievoller Fliegerkombination auf, einen offenen Fallschirm unter den Arm geknüllt, und fragt: »Entschuldigen Sie, ist das hier Straßburg?« – »Nein, München«, wird er von zwei Frauen belehrt. Worauf der Fallschirmträger Entsetzen verrät: »Das ist aber gefährlich für mich!« Und siehe, der Frauen Reaktion ist so mild und unvaterländisch, daß Gerhard Schröder wohl demnächst ein Merkbüchlein mit dem Titel »Wie verhalte ich mich gegen Spione?« herausgeben muß. Oder: Eine Dame reiferen Alters möchte ihre Paßbilder abholen. Der Verkäufer des Photogeschäfts reicht sie über den Tisch. Dame: »Das ist doch ein junges Mädchen.« Der Verkäufer hält diese Abweichung für unerheblich und wird nicht müde, die Kundin auf die Vergänglichkeit aller Dinge und gewisse Ähnlichkeiten der Halspartie hinzuweisen. (»Man

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kennt sich selbst zu wenig.«) Schließlich suchte die Hausfrau und Mutter empört das Weite. »Ich hätte genauso reagiert«, beschwichtigt Howlands Kommentar. Oder, wenn der Versuchsperson vor dem »Talent-Prüfungs-Automaten« der mimische Ausdruck für »Sexappeal«, »Zerrissenheit« und »Verlorenheit« nicht überzeugend gelungen ist: »Sie könnte wirklich ein Star werden, aber vielleicht will sie nicht.« Solche Sänftigung hat gute Gründe. So generös nämlich die Hereingefallenen in die elektronische Verbreitung ihres Reinfalls einwilligen – wer wollte, von schadenfrohen Passanten umringt, zugeben, daß er keinen Spaß versteht? –, so sicher ärgern sie sich, wenn sie die Sendung gesehen haben. Und falls sich der Ärger herumspräche, wären wir bald um einen TV-Spaß ärmer. Denn: Sind auch nicht alle Reaktionen der bundesdeutschen Opfer amüsant wie die aus England importierten Einfälle, und könnten die Bild- und Ton-Schnappschüsse, unbeschadet aller technischen Hemmnisse, auch ein wenig deutlicher sein, so möchte Telemann doch meinen: Vorsicht, Kamera! ist die witzigste Unterhaltungsreihe, die unser Fernsehen bislang hervorgebracht hat. Sie unter den Scheffel zu stellen, kommt, zumal in Köln, einer Vergeudung gleich. Vielleicht hatten sich die Koordinatoren gedacht: Das Zweite Programm muß auch leben. Oder: Humor ist selten, UHF-Sender sind selten, also gesellen wir Gleiches zu Gleichem. Telemann weiß es nicht. Er weiß nur: Solange das Netz der Bundespost mehr Lücken als Maschen aufweist, gehört die Chris-Howland-Reihe ins Erste Programm. Merke: »Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte« (Faust I, 3).

T e u to b u r g e r Wa h n ( 8 / 1 9 6 2 ) Jeder kennt das: Die Sendezeit wird karg und kärger. Der Diskussionsleiter tauscht besorgte Seitenblicke mit der Studio-Uhr, rafft das Gestrüpp aus Rede und Widerrede notdürftig zusammen und klagt, man könne das Thema nicht ausführlicher behandeln, da eine Umschaltung zum Viertelfinale im Hallen-Keulen-Schwingen der Damen unabweislich bevorstehe. Und während das Bild im Verblassen Münder zeigt, die noch reflektorisch nach Sprecherlaubnis schnappen, fühlt sich der Zuschauer betrogen. Wieder ist ihm, so denkt er, die Lösung eines brennenden Zeitproblems vorenthalten worden.

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Dieser Mißlichkeit zu steuern, liegt dem Deutschen, genauer, dem Norddeutschen Fernsehen hauteng am Herzen, Und wie vormals die Schildbürger, um endlich Licht in ihr Rathaus zu bekommen, das Dach entfernten, so will sich der NDR bei künftigen Debattier-Darbietungen störender Zeitschranken entledigen. Soll heißen: Die Rundgespräche werden des breiten zu Ende geführt, aufgezeichnet und vor ihrer Ausstrahlung, je nach vorgesehener Dauer, gestutzt. Zunächst geschieht das versuchsweise in einer vierteiligen Diskussionsserie mit Professor Eugen Kogon, deren erster Teil bereits tief in das Thema Die Qualität der Parlamente – Anspruch und Aufgabe hinabtauchte (27. Dezember, Erstes Programm). Schnittabfall: 17 Minuten. Am 2. April soll folgen: »Ist Planung unser Schicksal?« Kogon vermeint in solchem Versuch eine schicksalhafte Auswirkung des »Teutoburger Perfektionswahns« zu sehen und bedauert: »Meine Sendereihe Blick in die Zeit war für jedermann bestimmt; die neue Reihe kann sich nur an die wenigen wenden, die imstande sind, der erschöpfenden Behandlung eines Themas zu folgen. Ich persönlich bin der Ansicht, man sollte im Fernsehen die Probleme nur anschneiden.« Andererseits ist des Professors Gemütsart viel zu heiter, als daß ihn private Bedenken von der Erfüllung öffentlicher Pflichten abhalten könnten. »Wenn man sieht, das wird nichts«, sagte er zu Telemann, »dann läßt man’s halt wieder bleiben.« Daß auch der Norddeutsche Rundfunk die Neuerung nicht ohne eine gewisse Scheu betrachtet, zeigt sein Streben, die Nachteile der toten Aufzeichnung durch die Vorzüge einer lebendigen Bild-Technik wettzumachen. »Weg von der linearen Form«, heißt seine Parole. Weg vom halbrunden oder langen Tisch und hinein in die gemütliche Gelehrtenstube! So wurden für die »Parlaments«-Debatte eigens Fenster in die Dekoration geschnitten, damit sämtliche Kameras mit anschauen konnten, wie Diskussionslenker Eugen Kogon, von Klubsessel zu Klubsessel schlendernd, die Szenerie auflockerte. Nächstens will man noch einen Schritt weitergehen und in der Koryphäen Wechselredefluß dokumentarische Filmschnipsel einblenden. Zwecks »Vertiefung«, vielleicht auch, um der Cutterin das Kaschieren von Bildsprüngen zu erleichtern. Herausgeschnitten werden vornehmlich die Gesprächspausen, die Verlegenheitsfloskeln, das lampenfiebrige Räuspern, das zeitschindende »Äh« und die retardierende Abschweifung. Kogon: »Was wichtig ist, bleibt drin.« Demnach hätte alles seine Ordnung – wenn die ohnedies schon drückende Armut an Live-Sendungen nicht von der geistigen Powerteh derer

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käme, die da vermuten, die Bildkonserve sei kein Notbehelf, sondern das Endprodukt fernsehtechnischer Fortentwicklung. Das Ärgernis »Aufzeichnung« war vergleichsweise klein, als man noch dagegen wetterte. Inzwischen ist es in aller Stille zum Dauerskandal herangewachsen. Und da will man eins der letzten Live-Reservate, die Diskussion, dem Köhlerglauben opfern, daß sich Probleme erschöpfend behandeln ließen Schlimmer: Da will man uns mit Scherenschnitten kommen. »Das bedeutet keine Zensur«, versichert der Leiter der NDRHauptabteilung Zeitgeschehen, Rüdiger Proske. Natürlich nicht. Von ihm und von Eugen Kogon wissen wir, daß sie uns keine unbotmäßige ErichKuby-Silbe, kein unbedachtes Ministerwort verheimlichen würden. So, wie wir bei Kurt-Wessel-Gesprächen sicher sein dürfen, daß sie sich – wenn zwingende Gründe eine Direktübertragung unmöglich machen – bei der Sendung noch desselben Wortlauts erfreuen wie bei der AmpexAufnahme. Falls jedoch der NDR-Versuch glücken, will sagen: auf die landesübliche Apathie stoßen sollte, werden sich die Zuschauer an aufgezeichnete und dokumentarisch garnierte Diskussions-Stückwerke genauso gewöhnen, wie sie sich an aufgezeichnete Fernsehspiele gewöhnt haben. Und dann wird der Tag kommen, an dem unsere öffentlichrechtlichen Angsthasen vor der Frage stehen: Sollen wir Regierungsproteste, Rundfunkratsrügen und den Anwurf der Parteilichkeit in Kauf nehmen, oder sollen wir den Debatten-Film dort, wo er Unersprieß birgt, mit einem hübschen Dokumentar-Dia schmücken? Wie auch immer die Antwort lauten würde – die Möglichkeit, solche Fragen zu stellen, sollte in einem TV-Funkhaus gar niemals geschaffen werden. Merke: »Wir halten nichts von Euren Neuerungen!« (Chamisso).

Live-Geprüft (19/1962) »Ich spiele sehr gern Frauen, wo man nicht gleich von vornherein weiß, woran man ist«, hatte sie kurz zuvor dem Showmaster Jürgen Graf anvertraut, und dieser hatte seine Interviewer-Wißbegier mit dem Bemerken gezügelt: »Ich will Ihnen nicht die Luft nehmen; Sie wollen ja jetzt Ihr reizendes Chanson bringen.« Nun stand sie, Gisela Uhlen, am Pianoforte und sang, begleitet vom Komponisten Werner Eisbrenner, das Hohelied von der Synchronsprecherin.

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Erste Strophe: »Es war einmal eine Schauspielerin, sehr begabt, aber nicht sehr bekannt ...« (Refrain: »Ich bin die Stimme von Brigitte Bardot«) Zweite Strophe: »Es war einmal eine Schauspielerin, sehr bekannt, aber nicht talentiert. Dafür wurde ... wurde ihr Name ... äh ... groß auf dem ... Plakat propagiert ...« Pause. Und während in Millionen Magengruben der schiere Schauder niederfuhr, geschah dieses: Der Komponist klimperte sich eins. Und noch mal eins. Die Kamera folgte angestrengt seinen Fingern, konnte aber nicht verhindern, daß vom rechten Bildrand eine rettungflehende Frauenhand in die Großaufnahme ragte. Gisela Uhlen: »Jetzt weiß ich nicht weiter (anschwellende Klavierakkorde). Was mache ich jetzt?« Eisbrenner, hilfreich: »Wie war die zweite Schauspielerin?« Gisela: »Es war einmal eine Schauspielerin ...« Eisbrenner, hoffnungsfreudig: »Genau!« Gisela: »... die war sehr ... eine Schauspielerin, die war sehr begabt. Sie konnte aber nicht talentieren ... Davor würde sie sehr ... (gequältes Lachen) ... ich kann nicht ...« Eisbrenner: »Ich habe durch einen Zufall den Text bei mir.« Gisela: »Geben Sie nur her!« (ins Publikum) »Ist schon so spät!« (längerer Verlegenheitslachkrampf). Dritter Anlauf, mit Text: »Es war einmal eine Schauspielerin, sehr bekannt und auch sehr talentiert. Dafür wurde ihr Name niemals auf dem Plakat propagiert ...« Eisbrenner: »Jetzt kommt das Ding umgekehrt! (zeigt ihr die richtige Textstelle) Hier geht’s weiter!« Gisela Uhlen, in jähem Erkennen: »Aaah!« – Und wirklich, das Lied nahm, nach einem Zwischenaufenthalt von zweieinhalb Minuten, ein halbwegs glückliches Ende. Geschehen am 2. Mai gegen Mitternacht (Treffpunkt Telebar, Berlin, Erstes Programm). Tags darauf fragte Telemann die Live-Geprüfte, wie sie denn das Vorkommnis deute, und ob nicht vielleicht der böse Weingeist ... »Nein«, sagte Gisela Uhlen, »ich habe keinen Tropfen getrunken; das können alle bezeugen. Ich war nur todmüde.« Und: »Es war mein erstes Chanson seit fünfzehn Jahren.« Und: »Es war ein ganz gemeiner Text.« Und: »Ich hab’s mit dem Lernen ein bißchen zu leicht genommen.« »Aber«, so sagte sie auch, »ich verstehe nicht, daß das Fernsehen nicht anders reagiert hat. Wenn so was auf der Bühne passiert, läßt der Inspizient den Vorhang fallen. Wenn ich gestern vor Aufregung einen

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Kollaps bekommen hätte, dann hätten mich die Zuschauer wohl auch noch in aller Ausführlichkeit sterben sehen.« So ist es. Indes: Das Steckenbleiben – geschweige ein elektronisch verbreiteter Hinschied – findet viel zu selten statt, als daß man dieserhalb Notvorkehrungen treffen müßte. Gestorben, so lehrt die deutsche TV-Historie, ist noch niemand. Und Präzedenzfälle von Textvergeßlichkeit gab es nur zwei: Vor sechs Jahren, im Fernsehspiel Gaslicht, unterlief solches Mißgeschick dem Schauspieler Thomas Gallagher, der daraufhin versuchte, durch stumme Lippenbewegungen eine Tonstörung vorzutäuschen. Und im Vorjahr, während einer Lou-van-Burg-Sendung, verhaspelte sich der Uralt-Komiker Hans Moser in einem Heurigen-Lied. Freilich – die dritte Heimsuchung war die ärgste, denn sie zeigte uns den souffleusenlosen Jammer komplett, in sämtlichen Gruselstadien. Dennoch sollten unsere Mimen nicht Katarrhalisches vorschützen, wenn man sie künftig zu Direktübertragungen einlädt. Brachte der Pannen-Mittwoch doch auch Gewinn: Nun weiß die Öffentlichkeit, was vor einer Live-Kamera alles passieren kann, und achtet fehlerloses Gelingen um so höher. Wäre Telemann die Ständige Programmkonferenz des Deutschen Fernsehens, er hätte der Gisela Uhlen einen Armvoll Orchideen in den Grunewald geschickt. Zum Dank dafür, daß sie – mit sparsamsten Mitteln – etwas verursachte, was hierzulande selbst mit Mehrkosten nur selten zustande kommt: eine aufregende Sendung. Merke: »Such is live« (Nikita S. Chruschtschow).

C hi C hi C hi ( 2 4 / 1 9 6 2 ) Wieder einmal stand die Schranke zwischen Bürger und Mitbürger weit offen, und wer da grußlos und unter Hintanlassung kontaktfördernder Floskeln fragte: »Wie steht’s?«, der bekam nicht nur bereitwillig den Spielstand, sondern auch die Zahl der Eckbälle und orthopädische Einzelheiten soeben stattgehabter Fouls mitgeteilt. Ob auf der Straße, in Gast- und Vergnügungsstätten, im Speisewagen des Nachtzugs, im Flugzeug – überall quakelte das Radio, tönte an- und abschwellend der Schlachtruf der Chilenen (»Chi Chi Chi! – le le le«), überlagert von Reporter-Emphase und atmosphärischer Störung. Überall derselbe Starrblick, dieselbe Stirnfeuchte, dieselbe Bereitschaft, miteins in Jubel oder Jammer auszubrechen. Ein Volk, ein Ohr, ein Leder. Wer allerdings jene entscheidenden Abende des 3. und 6. Juni im Bannkreis seines Fernsehempfängers verbrachte; sei es aus Gewohnheit, sei es, weil auch das dreiteilig tagende Fernsehgericht ihn anlockte, der

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geriet in Bedrängnis: Entschied er sich fürs Radio, also für die Übertragung der Spiele Deutschland-Schweiz und Deutschland-Chile, ging er des ersten und dritten Gerichtsverhandlungstages verlustig und erfuhr nimmermehr, ob das dickliche Gretchen Silbach nun Vaters Letzten Willen manipuliert hat oder nicht. Im anderen Fall quälte ihn fußballsportliche Ungewißheit. Telemann kennt weltaufgeschlossene Leute, die beides wahrgenommen haben: das Fernsehgericht mit voller, den Fußball-Report mit halber Lautstärke. So hörten sie den Radiosprecher nur, wenn er froh- oder leidmütig aufbrüllte, und gewannen Einblick wenigstens in die wichtigsten Phasen des Wettspiels. Anders ging es nicht. Denn zwischen Chile, einem Land ohne Televisionsnetz, Filmproduktion und geeignete Kabelverbindung, und der Bundesrepublik Deutschland klaffen 12000 Kilometer. Die Arbeitsgemeinschaft unserer Rundfunkanstalten mußte in Santiago eigens einen Kurzwellensender und ein Film-Bearbeitungsstudio errichten. Und bis Abgefilmtes herübergelangt und gesendet werden kann, verstreichen – bei günstigem Flugwetter – 48 Stunden. Dennoch: Kein Klagelaut kommt über der Fernsehsportfreunde Lippen. Brav drängen sie sich um den Autosuper, holen Großmamas Volksempfänger vom Speicher, erinnern sich des Hörfunkteils in ihrer Hi-FiMusiktruhe oder, noch pfiffiger, kaufen ein handliches TransistorKleingerät; den Rückfall in die fernmeldetechnische Postkutschenromantik weidlich auskostend. Wie war’s denn zuvor, bei den Kämpfen um den Europapokal, bei Endspielen um die Deutsche Fußballmeisterschaft? – Da leerten sich Arbeitsplätze, Lokale und Öffentliche Verkehrsmittel. Da saß eine ganze Nation wie festgeleimt vor der Flacker-Röhre und atmete Wohnstubenmief. Nicht so während der Chile-Reportagen. Hier herrscht, bei aller ideellen Verknüpfung mit dem Schauplatz des Geschehens, physische Freizügigkeit. Wer da rundfunktechnisch mobil ist, kann sich, wo immer er will, jedweder Nebentätigkeit befleißigen. Ja, selbst was per Luftpost an Tele-Konserven nachgereicht wird, stößt auf beträchtliches Interesse. Gewiß, die Filmausschnitte von den deutschen Vorrunden-Siegen waren zu betagt, um noch an den Nerven zu zerren. Deshalb wurden sie mit Museumsdiener-Kommentaren ausgestattet (Rudi Michel: »Und nun bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für diesen Eckball der Eidgenossen«) und, gemäß dramaturgischem Gebote, an den Anfang gestellt. Doch schließlich, bei dem Bericht über das Treffen Chile-Italien, durfte man genießerisch jene Begebenheiten schauen, von denen man in

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der Zeitung gelesen hatte, daß sie dem Ansehen »König Fußballs« so abträglich gewesen seien: die »Fausthiebe, Tritte und Gemeinheiten« (Hamburger Abendblatt), die Nasen- und Wadenbeinläsionen, den Schiedsrichter Aston, Santiagos Sport-Polizeihunde. Greuel für Greuel. Nun, da die vergleichsweise simple Frage nach Sieg oder Niederlage längst beantwortet war, vermochte man sich, gemeinsam mit dem Kommentator, ganz dem Empörenden zu widmen. Herbert Zimmermann: »Hoffen wir, daß wir solche Bilder nicht noch häufiger zeigen müssen!« Und: »Wir zeigen Ihnen die übelsten Szenen der ersten Halbzeit noch einmal in Zeitlupe.« Radio plus Kinowochenschau – welche Idylle! Leider ist diese Fußball-Weltmeisterschaft die letzte, die zu solch biedermeierlicher Rückartung Gelegenheit bietet. Das nächste Mal wird in England, mithin im Eurovisionsbereich, gedribbelt werden. Und in acht Jahren hängt der Himmel ohnedies voller TV-Satelliten. Segnen wir drum die 12 000 Kilometer. Kosten wir das Hochgefühl aus, elektronischer Fesseln ledig zu sein. Lassen wir unsere Phantasie, solange wir noch genug davon besitzen, um uns ein Fußballstadion vorzustellen, kühn über Land und Meer schweifen. Nützen wir diese Gnadenfrist! Sie kehrt nicht wieder. Merke: »Wir sind im Geiste bei Ihnen!« (Herbert Zimmermann am 6. Juni über Kurzwelle).

W i e d e r u n d w ie d e r ( 3 6 / 1 9 6 2 ) Von einer Unterhaltung mit dem Koordinator Dr. Karl Mohr hat Telemann noch den denkwürdigen Satz im Ohr: »Wir gehen den Wiederholungen nicht aus dem Weg.« Das war wirklich sehr manierlich gesagt. Man nehme nur das Erste Programm, für das der Dr. Mohr zuständig ist: In den letzten zwei Monaten hat es 14 Fernsehspiele, zwei Singspiele und zweimal Schlager-Unterhaltung wiederholt, dazu Kinderfunk, Jugendstunde, Kirchliches. Das von gestern, das von vorgestern und das vom vorigen Jahr. »Wir haben«, sagt der Koordinator sehr richtig, »bereits früh mit den Wiederholungen angefangen.« Immer nach der Devise, die Michael Pfleghar für seine Schlager-Schau Die alte Welle erfand: »Das gab’s nur einmal und kommt schon wieder.« Auch die ist im letzten Monat schon wieder gekommen. Das Publikum, heißt es, will es – oder will es jedenfalls nicht anders. Infratest, das Münchner Volksbefragungs-Institut, hat ihm beispielsweise vom Mund abgelesen, daß es an den Erstauflagen von Fernsehspielen in der Regel nicht mehr als fünfzigprozentig teilnimmt. Was, so arbeitet es

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in den Oberstuben der Fernseh-Administration, mag nur mit den anderen sein? Darf gedacht werden, daß sie mit voller Absicht den Empfang verweigern? Wohl kaum. Sicher waren sie zum großen Teil verhindert, und nun muß man ihnen einfach wiederholt Gelegenheit zur Begegnung mit dem Kulturgut schaffen. Wenn das freitags immer geschieht, soll, so meint der Dr. Mohr, von Wiederholung eigentlich nicht gesprochen werden. Geschieht es doch mit Absicht. Was nicht heißen soll, die übrigen Zweitgaben an den anderen Tagen der Woche ereigneten sich unbeabsichtigt. Eigentlich fast immer hat man sich etwas dabei gedacht: daß sie für einmal viel zu teuer sind; daß der Jugend Gutes – wie Plapp, der Kormoran – gar nicht oft genug wiedergeboten werden könne; daß es schon wieder so viele neue Zuschauer vor neuen Geräten gibt, die in sich Anspruch auf die Standardwerke des Deutschen Fernsehens fühlen. Die da glauben, es könnte ihnen etwas entgangen sein, sollen getröstet werden: Es kommt alles wieder. Manchmal schon nach weniger als neun Monaten, obwohl ein naturverbundener Mensch wie Koordinator Mohr dies zur schicklichen Frist für das freudige Ereignis einer Fernsehwiederholung bestimmt hat. Letzte Früh-Wiedergeburt: Liselott, eine Fernseh-Operette, 22. Juli 1962. Ein Siebenmonatskind. Wenn etwas vom Zweiten Programm im Ersten noch mal auftaucht, gibt es dafür vielleicht noch mildernde Umstände. Wer kann schon das Zweite empfangen? Nicht einmal zwei Millionen bisher. Aber vom Ersten ins Zweite, das ist ein Sprung, der selbst bei den dafür Verantwortlichen Stoßgebete hervorruft. Dessen nicht achtend, verabreichten sie diesen Sommer der bedauernswerten Minderheit, die bereits doppelt angeschlossen ist, in großen, immer häufigeren Happen Aufgewärmtes vom Mehrheitskanal: 13 alte Fernsehspiele und -filme, vier Opern und Operetten seit Anfang Juli. Und eine Oper schon das dritte Mal (Barbier von Sevilla, 12. August). Und die mißglückte Unterhaltungsschau von Ostern (Drei Männer spinnen) nach vier Monaten bereits aufs neue (30. August). Und die Commonwealth-Serie vom letzten Jahr. Und das Stahlnetz vom vorletzten. Wendet sich der Gast mit Grausen zum Ersten Programm, erlebt er dort mitunter am selben Abend auch nur Reprisen (so am 26. und 31. August). Und auch da, wo sie nicht wiederholen: Hüben und drüben die gleichen Themen, die allzu nah verwandten Quiz-Ideen und ShowMethoden, die Alt- und die Uraltfilme der gleichen Preislage. Was den sichtbaren Verfall des Zweiten Programms betrifft, so ließ Klaus Mahlo, einer der Mitverantworter, verlauten, an allem seien die

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vom bösen Länderfernsehen schuld. Haben ein Sechstel vom Geld genommen, sind aber nicht zu Stuhl gekommen. Was sollte man da machen, arm am Beutel (verbleibende FernsehEinnahmen aus Gebühren und Werbung 1962: rund 500 Millionen), arm an Zeit und Ideen, als es hieß, das Ganze noch mal neun Monate – schon wieder neun – fortzusetzen. Man wiederholt. Und bereitet heimlich ein Drittes Programm vor. Wozu in die Ferne schweifen, dachte Telemann und suchte Zuflucht beim Regionalprogramm, wo – es war in Bayern – gerade ein Film von den Salzburger Festspielen abschnurrte. Dazu ein Sprecher: »Wir müssen Ihnen das kleine Geständnis machen, daß der Bericht aus Salzburg vom vorigen Jahr stammt. Aber wir erinnerten uns mit solcher Freude ...« Alsdann: Auf zum Werbefernsehen! Die haben wenigstens ein reelles Motiv für ihr Wieder und Wieder. Merke: Diese Betrachtung kann von Zeit zu Zeit wiederholt werden.

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INSTITUTION Als die Telemann-Kolumne 1958 startet, ist die deutsche Fernsehlandschaft noch überschaubar. Dem Zuschauer der ausgehenden 50er Jahre steht ausschließlich das Programm der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) zur Verfügung. Seine Optionen beschränken sich auf das Einund Ausschalten seines Empfangsgerätes. Alternativen zum Programm der ARD, das den Namen Deutsches Fernsehen trägt, fehlen noch, obgleich in dieser Zeit zunehmend die Möglichkeit und Notwendigkeit eines weiteren Programmanbieters diskutiert wird. Das Deutsche Fernsehen ist ein Gemeinschaftsprogramm der Rundfunkanstalten der Länder, die über die ARD zusammengeschlossen sind. Die Arbeitsgemeinschaft organisiert den Austausch und die Herstellung eines gemeinsamen Fernsehprogramms, das in weiten Teilen der Bundesrepublik empfangen werden kann. Die Rundfunkhäuser stellen einzelne Programmsegmente zur Verfügung, die dann von allen angeschlossenen Sendeanstalten ausgestrahlt werden.1 Durch diese Organisationsform entsteht die Möglichkeit, eine regionale Struktur des Fernsehens und eine nationale Einheitlichkeit des Programms miteinander zu vereinbaren. Alle bundesrepublikanischen Zuschauer empfangen das gleiche Programm, obgleich jede Rundfunkanstalt für ihr Sendegebiet eigenverantwortlich ist. Doch diese beiden Prinzipien kollidieren auch immer wieder, wie die NDR-Produktion Die Sendung der Lysistrata verdeutlicht. Die Anstößigkeit des Stoffes und die Freizügigkeit von Romy Schneider als Myrrhine veranlassen eine Reihe von Intendanten – Clemens Münster (Bayerischer Rundfunk), Hans Bausch (Süddeutscher Rundfunk) und Hans Joachim Lange (Westdeutscher Rundfunk) –, von der Ausstrahlung der Sendung im eigenen Sendegebiet abzusehen.2 Sie beharren auf der 1

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Vgl. Rainer Mathes/Wolfgang Donsbach: »Rundfunk«, in: Elisabeth NoelleNeumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hg.), Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, 3. Aufl., Frankfurt/Main: Fischer 2002, S. 546-598, hier S. 555; Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 126-130. Neben der moralischen Anstößigkeit wird die politische Aussage als Begründung für das Unterlassen der Ausstrahlung angegeben. Vgl. Telemann: »Verpulvert« und ders.: »Münster aus Stein« (in dieser Sektion). Vgl. auch

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juristisch fixierten Autonomie ihrer Sendeanstalten. Infolgedessen bleibt ein großer Teil der bundesrepublikanischen Fernsehzuschauer vom Empfang des Stückes ausgeschlossen. Dieses Verfahren ist Anlass für Telemanns Kritik: »Der Zuschauer ist nicht auf das Bayerische oder Hessische, er ist auf das Deutsche Fernsehen abonniert.« Das bundesrepublikanische Fernsehen soll also nicht nach Sendegebieten unterschieden werden, sondern die BRD soll ein einheitliches Programm empfangen. Dabei geht es Telemann jedoch weniger um die Utopie eines gemeinsamen Erfahrungshorizonts, der durch das Fernsehen zu schaffen wäre. Im Mittelpunkt seiner Kritik steht vielmehr, dass sich ein »Anstaltsleiter« nicht als »Zar und Zensor«3 für sein Sendegebiet gibt. Die Programmgestaltung solle nicht dem persönlichen geschmacklichen und moralischen Urteil der Intendanten unterworfen sein. Nicht das Prinzip der Autonomie habe zu dominieren, sondern das des Programmaustausches, das Vielfalt garantiere und Regionalismen verhindere. Telemann verdeutlicht aber auch, dass die Intendanten die Ausstrahlung der Sendung nicht allein aus moralischen Gründen verweigern. Es ist vielmehr die angenommene soziale Reichweite des Fernsehens, die eine Ausstrahlung problematisch erscheinen lässt. Ein Jahr vor Beginn der Kolumne wird »die erste Teilnehmermillion«4 gezählt. Das Fernsehen erreicht damit zunehmend den Status eines Massenmediums. Aus diesem Grund scheint es auch – nach Telemann – für die Programmgestalter einen Unterschied zu machen, »ob unsere reifende Jugend im Theater oder im Wohnzimmer herumrätselt, was denn wohl ein ›achtzölliger Tröster‹ sei.«5 Telemann referiert hier auf eine Mediendifferenz zwischen Theater und Fernsehen, die weniger auf die Rezeptionsumstände des Einzelnen abhebt, als die Zahl der angenommenen Zuschauer betrifft.6 Die Differenz besteht darin, ob »ein paar hundert oder gleich ein paar Millionen Zuschauer beiwohnen.«7 Die vergleichsweise geringe Zuschauerzahl eröffnet dem Theater eine größere Freiheit bezüglich der Inhalte. Da hingegen mit dem Fernsehen – zumindest potentiell – die ge-

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Christian Pundt, »Konflikte um die Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Der Diskurs über Privatheit im Fernsehen«, in: Ralph Weiß/Jo Groebel (Hg.), Privatheit im öffentlichen Raum. Medienhandeln zwischen Individualisierung und Entgrenzung, Opladen: Leske & Budrich 2002, S. 247-414, hier S. 262265, und Torsten Hahn: »Die Zeit nach Sendeschluss. Der Verdacht als Medium mitternächtlichen TV-Konsums«, in: Claudia Gerhards/Stephan Borg/ Bettina Lambert (Hg.), TV-Skandale, Konstanz: UVK 2005, S. 117-128, hier S.120-124. Telemann: »Münster aus Stein« (in dieser Sektion). K. Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 115. Telemann: »Verpulvert« (in dieser Sektion). Vgl. auch die Sektion »Spezifik des Fernsehens«. Telemann: »Kalte Füße« (in dieser Sektion).

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samte Bundesrepublik medial erreicht werden kann, befürchtet man durch ›falsche‹ Inhalte gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu provozieren. Die Intendanten der Rundfunkanstalten fürchten also geradezu die wachsende Zahl ihrer Zuschauer, weil sie damit eine enorme gesellschaftliche Verantwortung verbinden. Diese Verantwortung resultiert aus einem Mediensystem, in dem im Bereich Fernsehen noch keine Programmvielfalt oder gar Senderkonkurrenz herrscht, sondern die ARD alleiniger Programmanbieter ist. Eine Differenzierung des Publikums hinsichtlich der Programmwahl ist somit ausgeschlossen. Doch die Kolumne erscheint genau in einer Zeit des Umbruchs, in der eine Auseinandersetzung über ein potentielles zweites Programm beginnt – eine Auseinandersetzung, die 1962 im Start des ZDF mündet. Telemanns Beobachtungen dokumentieren also eine Situation, in der sich eine Änderung des institutionellen Gefüges der Fernsehanstalten ankündigt und durchsetzt, insofern bald zwei kontrastierende (bzw. konkurrierende) Programme für den Zuschauer zu empfangen sind. Telemann beschäftigt sich einerseits mit den juristischen, institutionellen und programmgestalterischen Problemen einer sich etablierenden Sendeanstalt und andererseits mit dem bis dato bestehendem System. Dabei interessiert ihn auch immer die Reaktion in den bereits existierenden Sendeanstalten auf die Ankündigung eines weiteren Programmanbieters. Die Intendanten beteiligen sich an einer intensiv geführten öffentlichen Diskussion um die Notwendigkeit und die rechtliche, wie auch finanzielle Grundlage eines zweiten Programms. 1961 fällt dann das Bundesverfassungsgericht das sogenannte Erste Fernsehurteil, das die juristischen Koordinaten für die Schaffung einer zusätzlichen Sendeanstalt vorgibt. In der Folge dieses Urteils beschließen die Ministerpräsidenten die Gründung des Zweiten Deutschen Fernsehens und verpflichten im Zuge dessen die ARD, für einen begrenzten Zeitraum ein zweites Programm zu gestalten. Auf diese Weise sollte dem Zuschauer bereits vor der Ausstrahlung des ZDF ein weiteres Programm zur Verfügung stehen.8 Sowohl das Programm des ZDF als auch das zweite der ARD werden jedoch nicht als Konkurrenzveranstaltung zum bestehenden Angebot der ARD konzipiert. Stattdessen spricht man vom ›Kontrastprogramm‹, das dem Zuschauer neue Wahlmöglichkeiten eröffnen solle. Die Sendeanstalten versuchen ihr Programm miteinander zu koordinieren, um so unterschiedlichen Zuschauerbedürfnissen nachzukommen. Einer Unterhaltungssendung des ZDF z.B. steht ein politischer Beitrag im ARD8

Vgl. K. Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 115-120 und 139-141, sowie Telemann: »Null ouvert«, in: Der Spiegel 16 (1962), Nr. 21, S.69, und ders.: »Wieder und wieder« (Sektion »Spezifik des Fernsehens«).

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Programm gegenüber. Diese Koordination reflektiert Telemann kritisch und dies nicht nur, weil sich das Angebot der beiden Sender häufig trotz der Abstimmungsversuche ähnelt.9 Gerade die kontrastierenden Programmschemata erscheinen ihm problematisch, weil damit kritische Inhalte zugunsten von Unterhaltungssendungen Zuschauer verlieren.10 Politische Sendungen verlören ihre Zuschauer, weil diese die zeitgleich angebotene Unterhaltung präferierten. Die Rundfunkanstalten könnten somit ihrer Funktion, Information und Kultur zu vermitteln, nicht mehr nachkommen, weil der Zuschauer jeweils das unterhaltende Alternativangebot wähle. Damit macht Telemann auch deutlich, dass Kontrast auch immer Konkurrenz heißt und zwar Konkurrenz um Zuschaueraufmerksamkeit.11 Diese Überlegung erhält ihre volle Bedeutung allerdings nicht in Bezug auf das öffentlich-rechtliche System und die beiden Programmanbieter ARD und ZDF, sondern hinsichtlich des sogenannten Verlegerfernsehens. Im Anschluss an das Erste Fernsehurteil treten die Zeitungsverleger – allen voran der Springer-Konzern – für die Etablierung eines kommerziellen Fernsehens und ihre Beteilung daran ein. Telemann reflektiert hier also den Beginn einer Entwicklung, die zur Etablierung des Dualen Rundfunkssystems in den 80er Jahren und zum gerade angekündigten Verkauf der Privatsendergruppe Pro Sieben Sat 1 an das SpringerUnternehmen führt. Das ZDF dagegen stellt zu seinem Start noch keine Konkurrenz für die ARD dar – mangelt es ihm doch aufgrund technischer Probleme an Zuschauern. Anfangs kann das Programm nur von wenigen empfangen werden, u.a. weil die Kapazitäten der Fernsehgeräte nur für den Empfang eines Senders reichen.12 Solche Startschwierigkeiten sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Institutionalisierung des ZDF eine vollkommen neue Fernsehsituation geschaffen wurde, in der der Zuschauer zwischen Alternativangeboten wählen kann.

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Vgl. Telemann: »Halb und Halb«, ders.: »Buridan-Büschel« (in dieser Sektion), sowie ders.: »Null ouvert«, S. 69. 10 Vgl. Telemann: »Zeugen gesucht« (in dieser Sektion). 11 Vgl. Telemann: »Halb und Halb« (in dieser Sektion). 12 Vgl. Telemann: »Laien-Predigt« (in dieser Sektion).

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K al te F ü ß e ( 1 9 / 1 9 5 9 ) Man kann sich auf sehr unterschiedliche Art seine Freizeit vertreiben. Die Größeren dieser Erde greifen zum Golfschläger oder spielen Boccia. Die Kleineren erbauen sich an Postwertzeichen oder Barockputten. Und Telemann schreibt in seinen Mußestunden fürs politische Kabarett. Dabei ist ihm vor etwa einem halben Jahr, ein episches Lied entschlüpft, das den Werdegang des Herrn Bundesverteidigungsministers zum Gegenstand hat. Und weil das Düsseldorfer Kom(m)ödchen dafürhielt, daß dieser Gegenstand von allgemeinem Interesse sei, nahm es die Ballade in sein Programm auf, um so argloser, als es sich sagen durfte, daß das deutsche Kabarettpublikum über die Besonderheiten des Herrn Bundeskanzlers ja schon hinreichend informiert wurde. Hätte Telemann vorausgeahnt, daß er mit dieser Programmnummer den Fernseh-Chefs Hartmann und Münster einen solchen Schrecken einjagen würde, er hatte ihnen wenigstens warme Socken ins Büro geschickt. Wegen der kalten Füße, die sie nach der Kom(m)ödchenSendung bekommen haben. So aber war er des guten Glaubens, daß sich unser Fernsehen, wenn es politische Satire in den Äther schickt, auch über die Folgen seines Wagemutes im klaren ist. Daß es diese Folgen gar nicht erst abwartete, sondern schon vorbeugend Buße tat, zeugt von einem beachtlichen Reaktionsvermögen, andererseits beweist es, daß deutsche Fernseh-Intendanten von der Satire etwa die gleiche Vorstellung haben wie deutsche Innenminister. Minister Dufhues zum Beispiel stellt sich vor, daß die »Persönlichkeit« eines Kabinettsmitglieds ebensowenig verletzt werden dürfe wie die eines Portiers. Nun, das mag zutreffen. So wie es – nach Anatole France – ja auch zutrifft, daß das Gesetz den Armen wie den Reichen verbietet, unter Brücken zu nächtigen. Doch ließ Dufhues einen wichtigen Umstand außer acht: Die Persönlichkeit eines Portiers verursacht in den seltensten Fällen historisches Ungemach, weshalb profilierte Politiker wohl gestatten müssen, daß man den Begriff »persönliche Ehre« bei ihnen etwas engherziger auslegt. Zumindest sollten ihre Wahlreden nicht darin eingeschlossen sein. Was dem deutschen Fernsehen vorschwebt, wenn es – kraft seiner Unabhängigkeit – Kabarettgastspiele zuläßt, ist etwas ungemein Sonniges, nämlich Kritik, die nirgends anstößt und selbst den direkt Betroffenen noch ein väterliches Lächeln abnötigt. So etwas möchte die Intendanz so oft wie möglich gesendet wissen und sich jedesmal sehr tolldreist vorkommen. Aber so etwas gibt es nicht. Es sei denn, man wollte, unter der irreführenden Bezeichnung »Kabarett«, gefällige Kleinkünste vorführen.

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Daß nicht nur die ferngesendete Satire, sondern sogar deren sanftere Schwester, die Parodie, schwere Existenzkämpfe auszufechten hat, zeigte das Nachspiel zur 1. April-Kapriole des Norddeutschen Rundfunks. In dieser Sendung (Nicht ernst zu nehmen) hatten die NDR-Leute ihren Frankfurter Kollegen die Ehre erwiesen, den Blauen Bock meuchlings zu parodieren. Ergebnis: Der Hessische Rundfunk war kollektiv beleidigt. Weil der Pseudo-Äppelwoi-Wirt so täuschend echt volkstümelte, und weil sich Hans-Otto Grünefeldt nichtsahnend der Mühe unterzogen hatte, die Original-Dekorationsskizzen nach Hamburg zu schicken. Und so muß sich denn künftig jeder Sender, der einem anderen parodistisch nahetreten will, vorher mit diesem ins Benehmen setzen (Anordnung des Fernsehkoordinators Dr. Münster). Wenn Kabarettnummern, die bis dahin unbehelligt über die lokalen Bühnchen gegangen sind, auf dem Bildschirm als »bedauerliche Entgleisung« oder als »Verunglimpfung« empfunden werden, dann sprechen die öffentlichen Ärgernisnehmer gern von der ,,Intimsphäre des Kabaretts« (Rundfunkspiegel des Deutschen Industrie-Instituts, Köln), von der im Fernsehen – leider – nichts mehr zu spüren sei. In Wirklichkeit stört sie der Unterschied, den es ausmacht, ob einer satirischen Attacke nur ein paar hundert oder gleich ein paar Millionen Zuschauer beiwohnen. Wer politische Kabarett-Theater frequentiert, das wissen sie, der ist ohnehin ein unsicherer Kantonist. Politisches Fernsehkabarett aber gelangt auch in die Stuben der sicheren Kantonisten, allwo es, wenn nicht gerade Aufsässigkeit, so doch immerhin häßliche Zweifel zu wecken vermag. Der Abgeordnete Hermann Höcherl, CSU, hatte dies klar erkannt, als er erklärte, er würde, falls man ihn vor die Wahl stellte, solches Ärgernis weiter zu dulden oder auf die Sendehoheit der Länder zu verzichten, lieber das Bundesfernsehen in Kauf nehmen. Was wiederum Hartmann und Münster dazu bewog, die umstrittenen Kom(m)ödchen-Lieder, schon im Hinblick auf den Kompetenzstreit um das Zweite Programm, für wenig diplomatisch zu halten. Dennoch wollen sie dem politischen Kabarett nicht die Studiotür weisen. Nicht einmal dem schlimmen Kay Lorentz (er soll im Herbst wieder gastieren). Nur etwas werden Gast-Kabarettisten fürderhin auch in Köln tun müssen (in München müssen sie’s schon lange): ihre Texte vorzeigen. Und wenn ein Text den Erfordernissen der IntendantenDiplomatie nicht gerecht wird, dann fällt er unter den Diplomatenschreibtisch. Weil die Sendezeit drängt und dem Zuschauer schließlich nur das Beste geboten werden kann. »Von einer Zensur ist keine Rede«, meint Koordinator Münster. Wahrscheinlich mag er das Wort nicht.

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Merke: »Fürchtet ihr den schwarzen Mann? Nein, nein, nein. Wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon.« (Deutsches Liedgut.)

R i n g e l sp i e l ( 2 5 / 1 9 5 9 ) In Telemanns humoristischem Hausschatz findet sich folgender Scherz: Jemand will einem weltfremden Freund die Wunder des modernen Verkehrswesens vor Augen führen. »Wenn du« – so schwärmt er – »mit einem Düsenflugzeug um 19.30 Uhr in Frankfurt startest, dann bist du um 21.30 Uhr schon in London.« »Schön«, sagt der Freund, »aber was soll ich um 21.30 Uhr in London?« Dasselbe fragten am 6. Juni fünfzig Millionen Europäer. Was sollten sie um 21.30 Uhr in London, Paris, Monte Carlo und neun anderen Metropolen? Die Veranstalter der (bisher größten) Ringsendung Hallo, Europa! glaubten, die optische Anwesenheit der Völkerfamilie an eben diesen Stätten hinreichend durch die Tatsache motivieren zu können, daß der Geburtstag von Eurovision sich zum fünften Male jährte. Gewiß ein anerkennenswertes Motiv, zumal, wenn man sich vergegenwärtigt, daß jene europäischen Empfindungen, die nach Eurovision-Übertragungen von Fußballweltmeisterschaften aufzukommen pflegen, ja hin und wieder durch andere, schönere ersetzt werden müssen. Ringsendungen erzeugen selbst in trägen Herzen das bekannte »Seid umschlungen, Millionen«Gefühl, das sich, je nach Bedarf, in wohltätige oder touristische Bahnen lenken läßt (weshalb sie gewöhnlich am Jahresende oder vor der Reisezeit stattfinden). Was aber hatte Europa an diesem besonderen Festabend zu bieten? – Das Hazy-Osterwald-Sextett (Schweiz), den »Schrägen Otto« (Berlin) und den Zither-Nestor Anton Karras (Österreich). Die Franzosen wollten ursprünglich Brigitte Bardot ins Treffen schicken, wodurch wenigstens ein europäischer Gemeinschaftsgedanke Stärkung erfahren hätte. Leider sagte sie ab, und die Fernsehvölker mußten mit einem Komiker vorliebnehmen, der sich zu den Klängen der zweiten Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt mit Mehl bestäubte und die Folgen eines Wasserrohrbruchs für einen zulänglichen Grund hielt, in überstaatliche Heiterkeit auszubrechen. Das einzige Land, das den tieferen Sinn des Ringelspiels verstanden zu haben schien, war Italien: Es füllte seine fünf Pflichtminuten mit einem Belcanto-Duett aus Verdis Othello, weil es wußte, daß man landfremden Festgästen Spezialitäten und keine schrägen Ottos anbietet. Eine so intime Kenntnis der Höflichkeitsregeln muß Unkundige natürlich erbosen; und darum war es möglicherweise kein reiner Zufall, daß die

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Sendeoberleitung gerade dieser Darbietung ein zu frühes Ende setzte (man muß immer das Schlimmste annehmen). Nun, dachte Telemann, als der Abend endgültig zur Rüste gegangen war, vielleicht handelte es sich um einen technischen Versuch; vielleicht wollte Eurovision nur mal ausprobieren, ob’s auch wirklich mit den Anschlüssen klappt, und hat diese Probe generös mit wechselseitiger Zerstreuung verbunden. Weil stehende Testbilder doch so langweilig sind. Das eigentliche Ringereignis findet wohl erst am Sonntagnachmittag statt. Dachte Telemann. Doch diese Hoffnung trog; es sei denn, man wäre willens, menschenleere Boulevards, überfüllte Strandbäder oder einen Aufmarsch der Heilsarmee für lockende Linsenobjekte zu halten (Spaziergang durch Europa). Eines freilich brachte die Geburtstagsfeier an den Tag: Die technischen Entwicklungsjahre hat Eurovision nun hinter sich. Seit der Krönung Elizabeths II., die dem Programmdirektor der Radiodiffusion – Télévision Française, Jean d’Arcy, die Idee eingegeben hatte, Ereignisse solcher und ähnlicher Art im trauten Vereine zu übertragen, ist Erstaunliches geschehen. 567 Sendestationen überbrücken eine Verbindungsstrecke von 20 000 Kilometern; um Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Holland, Luxemburg, das Fürstentum Monaco, Österreich, Italien, Schweden, die Schweiz und die Bundesrepublik auf Gemeinschaftsempfang zu schalten, genügt schon ein Telephonanruf; ja sogar das schwierigste Problem, die Umwandlung der verschiedenen Bildzeilennormen (Mitteleuropa 625, Frankreich 819, England 405 Zeilen), wurde befriedigend gelöst. Und wenn Fernseh-Europa sich etwas zu zeigen hat, zum Beispiel eine Papstwahl, eine Fürstenhochzeit oder ein Länderspiel, dann möchte man Herrn d’Arcy und den Fernseh-Technikern Schmucktelegramme schicken. Wenn es aber nichts zu zeigen hat, wenn es sich gegenseitig Höflichkeitsbesuche abstattet und dabei mit seiner Fertigkeit im raschen Umschalten kokettiert, dann ist man geneigt, seine Meriten geringer zu achten. Telemann weiß genau, was ihm Eurovision jetzt entgegenhalten könnte. Sie könnte ihn mahnend darauf hinweisen, daß in dem Länderdutzend sieben verschiedene Sprachen gesprochen werden. Von den Dialekten gar nicht zu reden. Und sie wäre durchaus im Recht, wenn sie behauptete, daß außer den sprachlichen auch noch andere Divergenzen bestehen. Was dem einen sien Buhlan (Berlin), ist dem anderen sien Höhlenzauber-Ballett (Brüssel).

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Doch wenn man all diese Hemmnisse berücksichtigt, bleibt immer noch die Frage offen, ob es außer Krönungszeremonien, Boxkämpfen und Schlagerwettstreitigkeiten nicht doch noch andere europäische Gemeingüter gibt. Zumindest würde es sich bezahlt machen, scharf darüber nachzudenken. Sollte dies nicht fruchten (weil man die falschen Leute zum Nachdenken animiert hat), wäre es ratsam, das Ringsenden bleiben zu lassen. Selbst auf die Gefahr hin, daß dadurch in jeder Nation ein paar Organisationstalente brachlägen, die heute, weil der betroffene Erdteil sich ja nicht wehren kann, noch ungehindert ihren Tatendurst stillen. Denn: Für technische Spielereien ist Eurovision schon viel zu erwachsen. Merke: »... und plötzlich sind da Tausende von Zuschauern, die einem nur deshalb keine Angst machen, weil man sie nicht wahrnimmt. Kein besonderes Verdienst für einen Dompteur, seinen Kopf in den Rachen eines unsichtbaren Löwen zu stecken.« (François Mauriac im Pariser L’Express.)

Verpulvert (51/1960) Wer Kalisalpeter, Schwefel und Holzkohle vermengt und anzündet, der sollte wissen, was daraufhin passiert. Denn die Mischung ist bekannt und heißt Schießpulver. Wer eine Komödie von Aristophanes auf den TV-Spielplan setzt, in der gelehrt wird, wie man vermittels einschneidender SexualnotVerordnungen Kriege beendet, der sollte sich nicht wundern, wenn sein Tun Unersprieß zeitigt. Denn die Komödie ist bekannt und heißt Lysistrata. Und wer diese Lysistrata von einem Regisseur bearbeiten und inszenieren läßt, der sich in jeder Art von Fettnäpfchen wie zu Hause fühlt, sollte hinterher nicht die Klagemauer hochklettern. Denn siehe, auch der Regisseur ist bekannt und heißt Fritz Kortner. Bis auf den ebenso hell- wie vorsichtigen Dr. Clemens Münster aus München-Freimann hatten sämtliche Intendanten und Fernsehdirektoren das Vorhaben gutgeheißen. Auch noch, als der Norddeutsche Rundfunk daranging, die Ingredienzien Aristophanes und Kortner mit dem Arkanum Romy Schneider zu verquicken, schwante niemandem Übles. Die Explosion erfolgte erst, als NDR-Intendant Walter Hilpert dem Clemens Münster und anderen Amtskollegen zu beweisen wünschte, was für ein Prachtfilm die Lysistrata doch geworden sei. Urplötzlich bekamen es auch die Herren Bausch (Stuttgart) und Lange (Köln) derart mit der Sittlichkeit, daß sie lieber den »größten Skandal in der Geschichte des Deutschen Fernsehens« in Kauf nehmen als ein Pulver verschießen wollten, das sie weder erfunden noch bestellt hatten.

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Nun, die Lysistrata des Aristophanes ist ein sehr moralisches Stück mit sehr unflätigen Dialogen. Und weil die »goldenen zwanziger Jahre«, in denen Fritz Kortner nicht nur seine pazifistische Einstellung, sondern auch seinen erotischen Bekennermut erlangt hat, zwar in aller Munde, aber nichtsdestoweniger verstrichen sind, mag es zutreffen, daß der eine oder andere TV-Chef ehrlich der Ansicht ist, man müsse die 17- bis 19 jährigen vor solch klassischem Unflat bewahren. Wobei zu untersuchen wäre, welchen Unterschied es ausmacht, ob unsere reifende Jugend im Theater oder im Wohnzimmer herumrätselt, was denn wohl ein »achtzölliger Tröster« sei. Andererseits hat das Deutsche Fernsehen schon manches unmoralische Stück mit durchaus salonfähigen Wechselreden ins Jungmädchengemach gefunkt. Das weiß die Direktion oder kann es in den kirchlichen Pressediensten nachlesen. Wenn also TV-Direktor Münster und seine Abwehrgefährten lauthals den Verlust der »köstlichen griechischen Unbekümmertheit« bejammern, aber immerhin so frank sind zuzugeben, daß bezüglich der Rahmenhandlung auch politische Erwägungen mitspielen, dann argwöhnt der Gewitzte: Nicht hellenische Deftigkeit, sondern Kortnersche Atomwaffenfeindschaft heißt der Dorn, der den Ärgernisnehmern aus dem Auge ragt. Zugegeben: Konsequenter Pazifismus ist unbequem, wenngleich er in den mehr als 2000 Jahren seines Bestehens noch keinen Gewichtheber des Schreckens ins Wanken gebracht hat. Die Unbequemlichkeit besteht darin, daß man pazifistische Argumente zwar durch strategische, nicht aber durch moralische Gegengründe entkräften kann. Wer aber hat unseren TV-Intendanten und -Direktoren erzählt, daß Bedingungslos-Friedfertige deutschen Funkanstalten abträglich sind? Etwa das Bundespresseamt, dessen Filmreferent Betz am 2. Dezember auf einer Verwaltungssitzung der Deutschen Wochenschau ausplauderte, Fritz Kortner sei – bei aller Wertschätzung – für das »Medium Fernsehen« nicht tragbar? Gewiß kann man die »Friedensbereitschaft um jeden Preis« für unrealistisch halten. Aber man kann einem überzeugten Pazifisten nicht vorwerfen, daß er seine Gegner »unfair karikiert« habe. Hätte Kortner – neben dem gradlinig-aggressiven Aristophanes – einen SPD-Eiertänzer im atomaren Wahlfieber zeigen sollen? Hätte er, statt »politisch einseitig« vorzugehen, auch den Minister Strauß eins raufloben müssen? Was wäre das für eine seltsame Auffassung von Überparteilichkeit, zu glauben, man dürfe einer ehrenwerten und gesetzlich immer noch erlaubten Meinung nur deshalb keine Sendezeit einräumen, weil sie das Publikum zu anderen Gedanken anregt als den höherenorts erwünschten!

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Ob dem Fritz Kortner die Lysistrata gelungen oder mißraten ist, darüber zu befinden, zu streiten oder von der Kanzel zu wettern, wäre genügend Muße geblieben. Nach der Sendung. Vorher hätte man sich, besonders als Leiter einer Fernsehanstalt, der Gelassenheit befleißigen sollen; um so mehr, als der Sündenbock – Intendant Hilpert – ja bereits nominiert war. Ein Gutes freilich hat die Geschichte: Wenn das mitternächtliche Regional-Ärgernis vollzogen ist, kann die tugendsame Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten nach Rhöndorf pilgern und rufen: Schande über den NDR! Und sollte Konrad Adenauer inzwischen – toi, toi, toi! – den TV-Prozeß in Karlsruhe verloren haben, wird er seine Gnadensonne bereitwillig aufleuchten lassen. Weiß er doch: Er braucht nicht länger nach fernsehkundigen Liebedienern Umschau zu halten. Er hat sie. Merke: »Wir befinden uns in einer objektiv schwierigen Situation« (Dr. Clemens Münster zu Telemann).

M ü n s te r au s S te i n ( 5 / 1 9 6 1 ) Heute groll ich, morgen schmoll ich, übermorgen send ich Fritz Kortners Lysistrata – so hatten sie gesungen, unsere schwäbisch-rheinischen Rundfunkstilzchen, und sich in ihr Stationsvorsteherfäustchen gekichert. Ei, wie gut, daß jeder weiß, daß sie Bischoff (Baden-Baden), Bausch (Stuttgart) und Lange (Köln) heißen. Kann man sich gelenkiger aus einer Affäre ziehen? Zuerst »Pfui!« rufen und »Das verstößt gegen unser Rundfunkgesetz!« oder »Ich würde mich vor Weib und Kind schämen!« und dann, wenn der Zuschauerzorn gefährlicher zu werden droht als das Stirnrunzeln christdemokratischer Anstoßnehmer, hinter der Freiwilligen Selbstkontrolle in Deckung gehen und die Ansagerin flunkern lassen: Die endgültige Fassung habe »einen Teil der gegen die Sendung erhobenen Bedenken ausgeräumt« – so viel Anpassungsfähigkeit ist wahrlich nicht jedermann eigen. Warum nur auf einer Schulter tragen, wenn man deren zwei hat, sagten sich die TV-Vorgesetzten und vernähten die Stelle, wo bei weniger pfiffigen Leuten der Charakter sitzt, mit aparten Rückziehern. Nicht so Clemens Münster. Er, der den ganzen Entrüstungsrummel in Gang gebracht hat, blieb beim Nein. Mochten sich in München-Freimann die Telephone heiser klingeln, mochte der Geruch der Lächerlichkeit in dichten Schwaden durchs TV-Funkhaus ziehen – Bayerns Fernsehdirektor ragte trutzig in den weiß-blauen Himmel; ein Monument der Sittenstrenge, dauerhafter als Erz.

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Denn nicht einfach schlecht fand Münster das Kortner-Produkt (»Eine Vokabel, die ich bewußt vermieden habe«), auch nicht unmoralisch, nein, er fand mit aller ihm zu Gebote stehenden Hartnäckigkeit, daß es das sittliche Empfinden der Zuschauer verletze. Telemann hat die Sendung der Lysistrata gleich zweimal betrachtet. Einmal auf der Leinwand, wo sich ihr Urheber auf das ausladendste blamierte, und einmal auf dem Heim-Schirmchen, wo die Blamage auf ein fernsehübliches Maß reduziert war. Beide Male konnte er, bevor ihm die Lider schwer wurden, keine Sinnesregung verspüren, die ihn nicht auch auf einem Adelsball angewandelt hätte. Von politischen FehlAffektionen ganz zu schweigen. Darum fragte er Dr. Münster, was ihn denn dazu getrieben habe, gar so standhaft zu sein. Und erfuhr: »Die Hamburger haben Pech gehabt, daß ich das Stück gekannt habe. Ich wollte die Lysistrata selber einmal machen und bin zu der Einsicht gelangt, daß es nicht geht.« Und: »Wir Fernsehdirektoren sind keine Kompanie. Jeder soll seine Produktionssünden regional abbüßen. Ich habe zu (dem Hamburger Intendanten) Hilpert gesagt: Wenn ihr die Freiheit in Anspruch nehmt, den Film zu bringen, dann gesteht mir doch bitte die Freiheit zu, ihn nicht zu bringen.« Nun, das Recht, sich einer TV-Übertragung zu enthalten, steht jedem Sender rundfunkgesetzlich zu. Aber darf man von seinen verbrieften Rechten so unbedenklich Gebrauch machen? Der Zuschauer ist nicht auf das Bayrische oder Hessische, er ist auf das Deutsche Fernsehen abonniert. Dessen Gemeinschaftsprogramm will er nach 20 Uhr sehen; es sei denn, man schriebe gerade Karneval und Köln wäre an der Reihe. Notwehrmaßnahmen verstehen sich immer von selbst. Wollte jeder Anstaltsleiter als Zar und Zensor schalten und alles, was ihm aus diesem oder jenem Gewissensgrunde mißbehagt, vom Programm streichen – was bliebe übrig? Hoffentlich ist der Norddeutsche Rundfunk nicht so rachgierig, dem Bayernfunk bei nächster Gelegenheit eine Unterhaltungssendung zu retournieren; etwa mit der Begründung, er, der NDR, habe auch schon dergleichen versucht, sei sich jedoch der Unersprießlichkeit seines Tuns bewußt geworden. Natürlich würde Clemens Münster eine solche Revanche mit Beherrschung hinnehmen, weil er ja ein so standhafter und charakterfester Mensch ist. Ein Fels im Gewoge der Zagheit und des öffentlichrechtlichen Wankelmuts. Bleibt als letztes die Frage: Ist Charakterstärke nur eine Tugend, oder darf sie schon als Befähigungsnachweis für TV-Chefs gelten?

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Telemann muß bekennen, daß ihm die Streitsache Lysistrata immerhin eine nützliche Erkenntnis vermittelt hat, nämlich diese: Wer einen schlechten Film nicht von einem anstößigen unterscheiden kann und kraft solchen Unvermögens arglose Mitbürger ins Kino scheucht oder um die sauer verdiente Nachtruhe prellt, an dessen Tür sollte das Schildchen »Fernsehdirektor« füglich nicht baumeln. Merke: »Die Romy Schneider hat ein bar Mahl mit dem Hinterkwardier gewakelt, damit man meinte, daß sie recht lüstern ist. Aber g’sehn hast ums Verrecken nix ...« (CSU-Landtagsabgeordneter Jozef Filser nach einem Besuch des Münchner Universum-Filmtheaters).

H al b u n d H al b ( 1 2 / 1 9 6 1 ) In der vorvergangenen Woche wurde das Weichbild vieler deutscher Städte auf zwiefache Weise verschönt. Einmal durch den Sonnenschein des Frühlenzes, zum anderen durch die Mienen der Funk-Intendanten, die, das Urteil von Karlsruhe in den Aktentaschen, wohlbeflügelt fürbaß federten; hier einen Händedruck, dort ein Scherzwort tauschend. Stünden sie nicht bereits im zweitbesten Alter, sie hätten, wie einstmals der Sendbote von Marathon, die Arme angewinkelt und der Welt im Laufschritt zu wissen getan: »Wir haben gesiegt!« Ihr Frohmut war so überschäumend, daß mancher von ihnen seine Vorstellung von einem zweiten TV-Programm spontan aus der Manschette zauberte: »Kulturell anspruchsvoller und profilierter« soll es sein und »die bayrische Landespolitik stärker als bisher berücksichtigen«, tönte es aus dem Süden. Im Norden erscholl es nicht minder gockelstolz: »Wir haben alle Vorbereitungen getroffen.« Und: »Es ist klargestellt, daß der Norddeutsche Rundfunk in seinem Sendebereich allein Programme ausstrahlen darf.« Die Woche darauf war die Stimmung schon weniger ausgelassen, denn – wie es so geht im öffentlich-rechtlichen Leben – man hat auch sein Päcklein Sorgen. Zumal, wenn man sich genötigt sieht, statt des Triumphator-Lorbeers die Initiative zu ergreifen. »Als Märtyrer des Kanzler-Fernsehens«, begann es unseren TV-Provinz-Herzögen zu schwanen, »hätten wir vielleicht ein bequemeres Auskommen gehabt.« So total hatten sie nämlich gar nicht siegen wollen. Zum Trost sei ihnen in Erinnerung gebracht: Nicht sie haben in Karlsruhe triumphiert, sondern die Länder. Deshalb besteht seitens der Anstalten so wenig Grund zur Euphorie, wie unsererseits Grund besteht, ihnen als Anerkennung jenes Ruhekissen unterzuschieben, das sie »Kontrastprogramm« nennen.

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Unter »Kontrast« versteht der arglose Fernsehteilnehmer: Wenn auf Schiene A Hamlet gegeben wird, will ich auf Schiene B den Kulenkampff empfangen können. Der listige Monopol-Veranstalter aber denkt so: Während auf Schiene A der Willy Millowitsch kaspert, werde ich auf Schiene B spielend meinen profilierten Kulturverschnitt los oder, falls es zu einer regionalen Lösung kommt, mein Chiemgauer Jodel-Quartett. Und was das Schönste ist: Keiner kann protestieren. Weil es sich doch, sobald zwei Programme zur Auswahl stehen, um eine reine Geschmacksfrage handelt. Telemann, der in vielen Fernsehjahren erlebt hat, wohin es führt, wenn zwischen TV-Erzeugern und TV-Verbrauchern Mißverständnisse obwalten, möchte mit Deutlichkeit darlegen: Wir Zuschauer wollen kein kontrastierendes, wir wollen ein zweites Programm. Genauer: ein anderes. Noch genauer: Wenn die Arbeitsgemeinschaft des Ersten Fernsehens glaubt, wir hätten sie gebeten, sich mit Gründerplänen zu tragen, dann irrt sie. Das Gründen ist Sache der Bundesländer. Was soll nun gegründet werden? Am besten ein Netzwerk voller Überraschungen; als da sein müßten: Direktoren, die in der Kunst der Selbstzufriedenheit noch unerfahren sind; Abteilungsleiter, die sich vorzustellen vermögen, daß es noch andere Formen des Fernsehschaffens geben könnte als die bekannten; Autoren, Regisseure, Reporter, die ihre TVKenntnisse nicht beim Hörfunk erworben haben. Weil aber die Länderregierungen froh sein werden, daß sie sich auf ihre bewährten Fachkräfte stützen können, mag es zweckvoller sein, der zweitbesten Lösung das Wort zu reden. Sie heißt: Fortpflanzung durch Teilung. Rezept: Man nehme die vorhandenen neun Fernsehstationen und bilde daraus zwei Sendergruppen; dergestalt, daß jede Gruppe ein Gebiet zusammenschließt, auf dem sich Traditionen, Lebensgewohnheiten und angestammte Überzeugungen weitgehend ähneln. Also Berlin, Hamburg, Bremen, Frankfurt kontra Saarbrücken, Köln, München, Stuttgart, Baden-Baden. Beide Programme müßten allerseits einwandfrei zu empfangen sein. Vorteile: · Rudimentäre Reste der »deutschen Zwietracht« würden sich in fruchtbaren Wetteifer wandeln. · Die Provinz-Meierei würde aufhören, weil jede Gruppe den Ehrgeiz hätte, vor den Abonnenten der anderen zu bestehen. · Es könnte sinnvoller produziert werden. Will heißen: Die Tatsache, daß es in Baden-Baden ein Stadttheater gibt, brauchte für den Südwestfunk nicht länger der Anlaß zu sein, Fernsehspiele auszustrahlen. · Es gäbe keinen Pflicht-Karneval mehr.

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Natürlich hätte die Lösung auch ihre Kehrseite: Wir würden statt des ersehnten neuen vorerst ein zweigeteiltes altes Fernsehen serviert bekommen; mit denselben Gesichtern, demselben Reglement, denselben Führungskräften. Indes, wer die biologischen Gesetze kennt, der weiß: Statt des einen würden zu guter Letzt sogar zwei neue TV-Programme zur Auswahl stehen. Denn mag eine Sendegemeinschaft noch so mildherzig sein – wenn sie merkt, daß ihre ätherischen Mühen weniger Beachtung finden als die der Konkurrenz, wird auch sie sich nach anderen Gesichtern, anderen Regeln und anderen Führungskräften umsehen. Merke: »Nun teilt euch in die Haut, ihr Brüder« (Ludwig Heinrich Freiherr von Nicolay, Der Esel und die drei Herren).

Körper-Pflege (32/1961) Mag über das Zweite Deutsche Fernsehen, Sitz Mainz, derzeit noch so viel Unklarheit herrschen, eines ist gewiß: Sein Programm wird nichts enthalten, wessen sich der Bund, die Länder, die Parteien, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die Handwerker, die Zeitungsverleger, die Journalisten, die Vertriebenen, die Wohlfahrtsverbände, das Erziehungs- und Bildungswesen, der Städtetag, der Städtebund, der Landkreistag und der Gemeindetag schämen müßten. Denn vor jegliche Tele-Vergnügung haben die Staatsvertragspartner den 66-köpfigen Fernsehrat gesetzt. Auch der Deutsche Sportbund (DSB) darf dermaleinst, vertreten durch einen TV-Ratsherrn, den Erfordernissen der Leibesertüchtigung Geltung ertrotzen. Doch staune, solches genügt ihm nicht, dem Deutschen Sportbund. Angeführt vom Präsidenten Willi Daume, erschien eine DSB-Delegation beim rheinlandpfälzischen Ministerpräsidenten Altmeier und erhob mit fester Stimme, was die Zeitung Sport sprachschöpferisch eine »Wunschförderung« nennt. Bundesdeutschlands Sportverbände, kündeten die Abgesandten, möchten beim Aufbau der neuen Organisation »entsprechend ihrer Bedeutung« berücksichtigt werden; soll heißen: gemäß der Tatsache, daß ein Drittel des bisherigen Fernsehprogramms aus Sportsendungen besteht. Das Oberhaupt von Rheinlandpfalz tat, was alle Oberhäupter tun, wenn gut Ding Weile hat – es versprach Unterstützung. Telemann aber, zu landesväterlicher Artigkeit nicht verpflichtet, fragte den Sport-Bundespräsidenten Daume, worauf sich denn sein Begehr im besonderen gründet. Was, fragte er, hat unser altes Fernsehen so verkehrt gemacht, daß man das neue unter DSB-Kuratel stellen müßte?

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Das Erste Fernsehen, erwiderte Willi Daume, habe bei seinen Sportsendungen die »praktische Wirklichkeitsnähe« vermissen lassen, habe durch die Übertragung von eitel »Hochspannungsveranstaltungen« nur »Zerrbilder« des sportlichen Geschehens vermittelt. Dies müsse beim Zweiten Fernsehen anders werden. »Wir möchten«, sagte er, »daß die neue Anstalt auf unserem Gebiet auch schöpferische Arbeit leistet.« Nach Daumes Meinung sollen in den Aufsichtsgremien »hauptamtliche Leute« sitzen und folgenden Belangen Gehör verschaffen: Einhaltung einer täglichen Sport-Sendezeit von mindestens 30 Minuten (wenn ein Vormittagsprogramm ausgestrahlt wird: 90 Minuten), sorgsame Koordinierung von sportlichen Features, Feuilletons und Interviews, Gesamtdeutsches Sportproblem, Leibeserziehung in den Schulen und schließlich Erhaltung der biologischen Substanz – worunter der DSB-Präses im einzelnen die »Körperpflege bei älteren Damen« versteht. »Wieviel Fernseh-Sporträte würden Sie denn gern delegieren?« fragte Telemann. Daume: »Es ist nicht unbedingt eine Frage der Zahl. Wenn es aber nur einer ist, muß dieser eine den Rang eines Programmdirektors erhalten.« Mit dürren Worten, die Ära der leitenden Schöngeister geht ihrem Ende entgegen. Und wenn man’s oberflächlich betrachtet, bietet die Lenkung selbst des kulturellen Programmteils einem Sportfunktionär nicht weniger Kompetenz-Chancen als etwa einem Pfarrer. Was für diesen das Wort zum Sonntag ist, könnte für jenen die Fechtszene in Hamlet sein. Doch ehe die Wunschforderung des Deutschen Sportbundes in einen »Marsch auf Mainz« ausartet, sollte, schon der Historie halber, untersucht werden: Hat das Erste Fernsehen wirklich nur Zerrbilder vermittelt? Ist es nur der sportlichen Sensation nachgelaufen? Telemann, die leibeserzieherischen Eindrücke vieler TV-Jahre auf der Netzhaut, möchte dafürhalten: Wenn dem DSB das bislang Gebotene zu »wirklichkeitsfern« war, wenn er Sport-Abarten oder Sport-Problemchen zu nennen weiß, die noch keine elektronische Würdigung erfahren haben, so kann dies nur bedeuten, daß er uns nächstens – via Zweites Fernsehen – die schiere Langeweile ins Haus schicken will. Statt darüber nachzugrübeln, wie man Funktionärs-Eitelkeiten und Kleinstvereins-Ansprüche noch schöpferischer befriedigen könnte, sollte der Sport einsichtsvoll bedenken, daß er bei der Errichtung einer zweiten Fernsehanstalt der allerunwichtigste Faktor ist. Seinetwegen wurde die Neuerung nicht erheischt. Denn jene »Hochspannungsveranstaltungen«, die Willi Daume so verachtet, die aber allein das Volk vor die Röhre lo-

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cken, lassen sich mühelos in einem Netzwerk unterbringen. Ein zweites ist allenfalls für diejenigen nützlich, die dem TV-Sport-Betrieb ausweichen möchten. Und noch etwas sollte der Sport bedenken: Daß seine »Bedeutung«, die ihn heute so laut auf vermeintliche Führungsansprüche pochen läßt, ja nicht von ungefähr oder gar kraft besonderer Eigenverdienste entstanden ist. Er verdankt sie dem Fernsehen; dem ersten und bisher einzigen. Falls der Deutsche Sportbund dieser Überlegung folgen könnte, wäre ihm anzuraten, sie im Gedächtnis zu bewahren. Wenn möglich, zuoberst. Damit er sie, sollten ihn abermals Hochmut und Herrschgelüst anwandeln, nicht erst lange suchen muß. Merke: »Alles mein Wasser, sagte der Fuchs, als er ins Meer urinierte« (Sumerisches Sprichwort).

Epitaph (27/1962) Funkintendanten kommen und gehen, ohne daß die Spur von ihren Erdentagen selbst einer scharf blickenden Nachwelt ins Auge fiele. Von ihm aber, Christian Wallenreiter, wird man noch lange künden. Was hat er gewollt und mit Ränke und Löwencourage zu ertrotzen versucht? Ein »eigenständiges« Zweites Fernsehprogramm für den Freistaat Bayern. Genauer: Eine öffentliche Einrichtung, die verhindern sollte, daß seine Landsleute von außerbayrischen Äthereinflüssen in noch stärkerem Maße behelligt würden, als dies ohnehin schon – via Erstes Programm – geschieht. Heißt es doch in der »gutachtlichen Äußerung« des Sozialwissenschaftlers Professor Fröhler: Die Ausstrahlungen des Mainzer TV-Netzes »erreichen auch das Land Bayern, und das nicht etwa aus physikalischen Gründen, ohne Absicht der Sendestelle, sondern entsprechend dem Willen und der Zielsetzung der Anstalt«. Alpenländischer und immer alpenländischer wollte Bayerns Rundfunkregent sein Zweites Programm gestalten, mit Hilfe Österreichs und der deutschsprechenden Schweiz; bis daß sich, unter saupreußensicherer Käseglocke, Zithergezirp und Sennerinnensang mit den kulturellen Erträgen von Schwabing, Freimann und Unterföhring zu einer einzigen gamsbärtig-urbanen Erbauung verdichtet hätten. Und nun darf er nicht. Dabei hatte er seines Geistes Wunschkind mit Argumenten geschmückt, die durchaus imstande waren, ein Parlamentarierherz zu betören. Von »bayrischen Interessen« sprach er den Volksvertretern; doch sprach er nicht minder von einer »deutschen und europäischen Aufgabe«,

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deren Ziel es sei, »der deutschen Verpflichtung Bayerns als eines repräsentativen deutschen Landes mit einem ausgewogenen Programm nachzukommen«, was andererseits nicht ausschließe, daß auch die fränkischen und schwäbischen Belange hinreichend berücksichtigt werden. Die mittelständische Werbung gedachte er zu fördern. Und die Provinztheater. Und die Landwirtschaft. Und das Bildungswesen. Und die Landespolitik samt ihren Trägern. Und »andere bayrische Kultureinrichtungen«. Und den Sport. Gar nichts und gar niemand wären leer ausgegangen. Und wer angesichts solcher Vergünstigungen noch zauderte, dem rechnete Wallenreiter milchmädchenmystisch vor: Heute sehen 1,5 Millionen Bayern ein (Erstes) Programm, an dem der Bayrische Rundfunk nur mit 17 Prozent beteiligt ist. Im Jahre 1971 aber werden vier Millionen fernsehen, und der bayrische Programmanteil wird auch dann nur 17 Prozent betragen! So etwas muß einem einfallen. Indes, es fruchtete nichts. Zur Kränkung durch den Ministerpräsidenten Ehard, der da gemütsroh bemerkte, er und nicht der Intendant des Rundfunks bestimme die Richtlinien der Politik, kam die Abfuhr durch das Landesparlament. Wie wird Christian Wallenreiter mit »einer der letzten großen Entscheidungen der Politik in Bayern« fertig werden? Telemann erinnert sich an einen bayrischen Herrscher, an Ludwig I. Als dieser im Jahre 1837 den Widerstand des Landtags gegen einige seiner Lieblings-Kulturpläne zu spüren bekam, hob er die zuvor dekretierte Zensurfreiheit auf, führte die Stockprügel ein und befahl protestantischen Soldaten, dem katholischen Militärgottesdienst beizuwohnen. Erst die Begegnung mit der Tänzerin Lola Montez stimmte ihn milder. Wird ein ähnlich strenges Regiment nun auch in Bayerns Funkhäusern anheben? Es wäre möglich, aber wenig sinnvoll. Denn Ludwig, von Gottes Gnaden Bayerns König, hinterließ etwas Greifbares: die Münchner Ludwigstraße. Christian hingegen, von Hundhammers Gnaden Bayerns Intendant, wird, wenn er dermaleinst abtritt, eine Schimäre zurücklassen und allein dieserhalb Einlaß finden in die Lehr- und Lesebücher eines Alpenvolkes, das gerade den gescheiterten und den tragischen Helden seiner Historie die Treue bewahrt. Er wird in Mythe und Moritat fortleben, gleich dem Grobschmied Balthasar von Kochel, der sich im Spanischen Erbfolgekrieg 1705 vergebens mühte, die Österreicher aus München zu scheuchen, dem Märchenkönig Ludwig II., der kurz vor Erreichung des Staatsbankrotts im Starnberger See ertrank, oder dem Räuber und Wilddieb Matthias Klostermei-

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er, auch »Bayrischer Hias« genannt, der 1771 auf der Höhe seines Schaffens unters Henkerbeil geriet. Merke: »Es muß der Held nach altem Brauch den tierisch rohen Mächten unterliegen« (Heinrich Heine, Lamentationen).

Z e u g e n g e su c ht ( 5 0 / 1 9 6 2 ) Ganz gleich, ob den Professor Karl Holzamer wieder das Lampenfieber schüttelt, wie einst im Mai, oder ob eine grause Schickung den Beginn des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) anderswie verzögert – etwas hat die Mainzer Anstalt bereits hervorgebracht: ein Programm-Schema. Bleibt es bei diesem Schema, nebst dem von den Länderanstalten (ARD) hinzuerdachten Gegenstück, werden künftig folgende Erschwernisse fortfallen: Der Intendant des Senders Freies Berlin, Steigner, braucht sich nach kritischen Fernsehsendungen nicht länger »politisch und rechtlich stark in der Defensive« zu fühlen, weil Vertreter der Regierung, sooft Mitteldeutschlands Bevölkerung »Fälle von Zwietracht in der Bundesrepublik« miterleben muß, lauthals von einer »Verletzung gesamtdeutscher Interessen« lemmern. Der »Deutschland-Union-Dienst« der CDU ist der Mühsal enthoben, sich darüber zu wundern, daß es politische Sendungen geben darf, die »Kritik in der deutschen Öffentlichkeit« auslösen. Der Koordinator Mohr, die Intendanten Bausch (Stuttgart), von Bismarck (Köln), Mai (Saarbrücken) und all die vielen TV-Führungskräfte, die bei Nennung des Buchstabens »C« weder an Kohlenstoff noch an Apfelsinensaft denken, sie sind des Leidwesens ledig, zu grübeln, ob und auf welche diskrete Art sie einem Äther-Ärgernis – sei es regional, sei es republikumspannend – vorzubeugen vermöchten. Und was die Mainzer selbst angeht, so werden sie sich politischen Vor- oder Aberwitzes wegen gar niemals in Proporz-Wehen zu winden brauchen. Denn: Politik im Fernsehen findet demnächst ohne Zeugen statt. Ehe man voranstehende Behauptung für kühn erachtet, sollte man wissen, wie hoch die einzelnen Sendesparten in des TV-Volkes Gunst stehen: Zuoberst, so entdeckten die Demoskopen, rangiert, was Funkfachleute »Unterhaltung« oder gar »Große Unterhaltung« nennen. Kaum weniger hoch ragen die Sparten »Spielfilm« und »Fernsehspiel«. Die politische Sendung bescheidet sich, je nach Weltlage, mit einem der niederen Ränge. Was aber kündet das Standard-Abendprogramm beider Netzwerke für kommende Jahre?

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Dies: An den Montagabenden will die ARD die bisher sonntags gesendeten Reihen Panorama und Report alternieren lassen. Das Zweite Programm aus Mainz zeigt derweil einen Spielfilm. Dienstags. Erstes Fernsehen: »Politische Sendung«, Zweites Fernsehen: »Unterhaltung«. Mittwochs bringt Mainz bis gegen 21 Uhr »politische Berichte«, die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten sendet zur selben Zeit »Unterhaltung«. Anschließend versuchen im Ersten Fernsehen Kurt Wessels Gespräch über Politik in Deutschland und eine Ost-West-Sendefolge gegen ein nicht jugendfreies Fernsehspiel des Zweiten TV-Netzes aufzukommen. Donnerstags ahnden die Länderanstalten solchen Affront, indem sie »Innenpolitischen Berichten« aus Mainz ihrerseits ein Tele-Spiel für Erwachsene entgegenschleudern. Freitags abends steht einer Serie des »Chefkorrespondenten der ARD in Bonn«, Ernst Weisenfeld (Titel: Die Woche in Bonn), abendfüllende »Große Unterhaltung« des ZDF gegenüber. Sonnabends rivalisieren »Außenpolitische Berichte« (ZDF) mit einer »Großen unterhaltenden Sendung« (ARD). Nur die Sonntagabende vollziehen sich beiderseits unpolitisch. Soweit das Schema. Nun könnte man goldrichtig sagen, was schon der ZDF-Intendant Holzamer gesagt hat: daß Erstes und Zweites Fernsehnetz nicht kontrastieren, sondern konkurrieren sollen; oder könnte dafürhalten, daß der Zuschauer, so ihm nicht nach Kurt Wessel zumute ist, einen unverlierbaren Anspruch auf die Kessler-Zwillinge habe. Indes, es sind sowohl das Mainzer als auch die ARD-Funkhäuser Anstalten des öffentlichen Rechts und somit, laut Staatsverträgen, zu kultureller wie auch staatspolitischer Mühewaltung verpflichtet. Mag sein, daß der Kultur bereits Genüge oder zumindest kein Leid geschieht, wenn Dichter-Zentenarien gefeiert werden – mit der politischen Verantwortung steht es hierorts, wo Politik nicht eben zu den Bedürfnissen rechnet, komplizierter. Hier genügt es nicht, daß ein Sender sendet; hier muß, wer möchte, daß auch der letzte Hinterwäldler mählich – und sei’s aus Langeweile – zum urteilsfähigen Bürger heranreift, dafür Obsorge tragen, daß, wenn auf dem einen Kanal des Staates Wohl und Wehe zur Debatte steht, aus dem anderen nicht gerade die Marika Rökk hervorquillt, sondern allenfalls ein Feature über Milchziegenzucht. Ich meine, die Programm-Parlamentäre sollten sich noch einmal zusammensetzen.

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Merke: »Un denn wundern sick de Lüd noch, wo Einer Demokrat warden kann ...« (Fritz Reuter).

Alle für einen (16/1963) Mainz hat sich das erste Millimeter Kinderschuhsohle abgelaufen; hier eine »persönliche Note im Kontakt mit dem Fernsehteilnehmer« klimpernd, dort eine Neuigkeit vom Tage dokumentarisch vertiefend. Die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten (ARD), nicht mehr träge, instituierte zusätzliche Nachrichtendienste, einen Englisch-Kurs für Anfänger sowie einen wöchentlichen Bericht aus Bonn nebst nachfolgendem Weltspiegel, auf daß die Abonnententreue zum alten Ländernetz kein leerer Wahn sei. Alles könnte sich glückhaft und vielversprechend fügen, wäre da nicht landauf, landab jener begehrliche »Gedanke an ein drittes Programm aus privater Initiative, zum Beispiel der Zeitungsverleger« (Welt am Sonntag). In der Tat: Was die Republik braucht, sind keine noch so wohlgemeinten Mätzchen öffentlich-rechtlicher Körperschaften, sondern »schöne Sendungen«, ohne Eierköpfe und Kinnbärte, die nicht erst anfangen, »wenn die Arbeiter ins Bett gehen« (Bild-Leser Spiess aus Remscheid). Was uns not tut, ist ein Axel-Springer-Fernsehen. Träumen wir uns zurück ins Jahr 1961: Schon damals galt des Großverlegers Trachten dem Kampf wider die »Machtzusammenballung« von Rundfunkanstalten, die dem »Expansionsdrang des sowjetzonalen Fernsehens« nicht mehr entgegenzuschleudern wußten als zwei oder drei lumpige Ost-West-Sendungen je Woche. Ob, wie man munkelt, als Aktionär einer New Yorker TV-Produktionsgesellschaft, die ihrerseits materiell mit der deutschen Unternehmung »Tele-West« verquickt war, ob, wie man weiß, als kapitalstärkstes Mitglied der »Fernsehgesellschaft der Berliner Tageszeitungen« – immer standen für Axel Cäsar Ateliers fahrbare Ampexgeräte, KameraTeams und eine »geschulte Schar von Journalisten und Spezialisten« einsatzbereit. Als der Berliner Senat der »Fernsehgesellschaft« die Lizenz versagte, wollte er sich wenigstens am Zweiten Programm des SFB beteiligen. Weil ohne diese Beteiligung »die Kraft, die Auseinandersetzung mit dem Regime der Zone zu bestehen ... empfindlich geschwächt werden würde« (Die Welt). Als die Mainzer Anstalt bedrohliche Schatten warf, verhalf er (1962) der »Pressevereinigung für neue Publikationsmittel« zu neuem Leben, konsultierte den Bundeskanzler, bejammerte auf Tagungen und in Ge-

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burtstags-Festschriften die notleidende Filmindustrie, das »erheblich gestörte« Verhältnis zwischen Presse und Fernsehen oder die »beispiellose Uninteressiertheit« der Länderchefs. Dem »Gigantismus« der TV-Institute stellte er als voranleuchtendes Exempel das Verhalten »großer Verlage« gegenüber, die »ihre Objekte etatmäßig und redaktionell streng voneinander trennen«. Anspielung wohl auf die Tatsache, daß jedes der zehn Springer-Blätter das FernsehAnliegen seines Brotherrn ein klein wenig anders zu formulieren pflegt. Doch nichts wollte bislang fruchten. Nun könnte man einwenden: Ein Mann von solcher Geistes-Vielfalt und Tatkraft wird eines Tages, so oder so, an sein Ziel gelangen; zumal ihm, im Gegensatz zu seinem Hobby-Bruder, dem ehemaligen Fernsehfunk-Amateur Konrad Adenauer, kein Urteil des Verfassungsgerichts im Wege steht. Mag sein. Aber dies ist keine Sache, die an föderalistischer Willkür oder gar an einer Kapriole des Zufalls scheitern darf. Wir, die wir ja im günstigen Fall die Empfangenden wären, können das Kopfzerbrechen über ein Springer-Fernsehen nicht einfach Springer überlassen. Hier hat das ganze Volk ein Mitraterecht. Was also ist zu tun? Soll Axel Cäsar noch einmal nach Moskau fliegen und – telepropagandistischer Bedarfsweckung halber – um schlecht Wetter bitten? Soll er den Ministerpräsidenten der Bundesländer, damit sie in Gegenliebe entbrennen, Aphrodisiaka einflößen? Soll er nach den Filmverleihern auch noch die fernsehgeschädigten Gastwirte, Sportvereine und Arbeitgeber auf die Barrikaden hetzen? Soll er, statt aus Bescheidenheit so irreführende Umschreibungen wie »die Zeitungsverleger«, »die deutsche Presse« oder »die vielgestaltige Zeitungslandschaft« zu gebrauchen, öffentlich verkünden: Ich, Axel Springer, will das Dritte Fernsehen – damit, wenn sonst nichts hilft, ein Referendum stattfinden kann? Telemann weiß es nicht. Deshalb ruft er seine Leser zu einem IdeenWettbewerb auf. Wer eine Möglichkeit sieht, wie man der Nation rasch und sicher zu einem Springer-Netzwerk verhelfen könnte, der möge sich melden. Postkarte genügt. Jeder erfolgversprechende Einfall wird aus Telemanns Privatschatulle mit einem Viertel Jahresabonnement der Bild-Zeitung, wahlweise des Neuen Blattes, belohnt. (Diskreter Versand!) Merke: »Wenn viele sich für einen regen, gereicht’s dem einen meist zum Segen« (Spruchweisheit).

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B u r i d an - B ü sc he l ( 1 7 / 1 9 6 3 ) Ein hungriger Esel, der zwischen zwei gleichbeschaffenen und gleichweit entfernten Heubüscheln zu wählen habe, müsse, da er sich von jedem der beiden Büschel gleichstark angezogen fühle, an Entbehrung zugrunde gehen, behauptete vor 600 Jahren der Scholastiker Jean Buridan. Inzwischen hat Buridans Esel millionenfache Vervielfältigung erfahren. Das Gleichnis von der Unfreiheit des Willens – wen beträfe es augenfälliger als uns, die wir seit dem l. April zwischen zwei TV-Systemen angepflockt sind, von denen jedes bemüht ist, dem anderen ähnlich, mehr noch: mit ihm identisch zu sein! Daß sich am Eröffnungsabend des ZDF dieselbe Charleston-Tänzerin Clessia Wade mal in dieses, mal in jenes Netzwerk verstrickte, mochte manchem als Folge etwelcher Anfangsschwierigkeiten gegolten haben. Doch schon der Abend des 10. April machte es Zweifelsüchtigen schwer zu glauben, das Kanzler-Interview des Ersten und das Vizekanzler-Interview des Zweiten Fernsehens seien von ungefähr simultan verlaufen. Ging es, bei aller Wesensverschiedenheit der Interviewten, ja um ein und denselben Konrad Adenauer. Am 15. April endlich schien jeder Zweifel an der Art des beiderseitigen Ehrgeizes ausgeschlossen: Köln verkaufte den Schwabenkomiker Willy Reichert als Domkapellmeister Blasius Römer (Schwarzwaldmädel), Mainz bot ihn zur nämlichen Osterstunde als Schneidermeister Titus Hasenklein feil (Hasenklein kann nichts dafür). Werden die Identitätswettbewerber, indessen wir Röhren-Grautiere unschlüssig vor uns hindarben, ein weiteres tun? Werden sie Hans-Joachim Kulenkampff, den Frankfurter »Sonntagsanwalt«, durch Hans-Joachim Kulenkampff, den Freudenbringer aus dem Goldenen Mainz, neutralisieren? Werden sie, unseren Appetit auf die höhere Fauna geschickt in der Schwebe haltend, das Brusttaschenäffchen des Bernhard Grzimek mit einem ebensolchen des vorerst noch namenlosen ZDF-Zoologen gleichschalten? Nein. Telemann hat sich erkundigt: Alle bislang erlebte Identität von Sendezeit, Person oder Gegenstand entsprang nicht wetteifernder Absicht, sondern war Fortunas Werk. Genauer: Die notdürftig aufeinander abgestimmten Programm-Schemata wurden zu einer Zeit erstellt, als Einzelheiten, wie Besetzungsfragen, noch nicht interessierten. Womit wir bei einem Thema wären, das auch einen entschlußkräftigen TV-Abonnenten in Fasten-Stimmung versetzen kann: der Koordination beider Netze.

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Ulrich Grahlmann, Programmdirektor des Zweiten Deutschen Fernsehens, will zwar, wenn der im März konstituierte »Koordinierungsausschuß« künftig zusammentritt, die Programm-Abstimmung, »soweit sie im Interesse des Zuschauers liegt«, nach Kräften fördern, hält aber im Grunde mehr von einem unbürokratischen Kontakt zwischen den einzelnen TV-Funkhäusern. Zuviel Koordination, so meint er, bedeute: »Aus zwei Programmen wieder eines machen.« Auch die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten, vertreten durch den WDR-Fernsehdirektor Dr. Hans-Joachim Lange, wünscht keine gar zu enge Fühlungnahme (»sonst guckt einer dem anderen in die Karten«), bedauert jedoch, daß dem Zuschauer durch den unterschiedlichen Beginn der Abendprogramme und den Verzicht auf »genormte Längen und möglichst viele Drehpunkte« die Auswahl erschwert wurde. Lange: »Wettbewerb kann heute höchstens noch durch Zufall entstehen.« In der Tat, hierin liegt das eigentliche Buridansche Phänomen: Beide Programme enthalten Tag für Tag Dinge, die der Verbraucher genießen, und solche, die er missen möchte. Doch kann er nicht hüben und drüben naschen, sondern muß sich, von wenigen Glücksfällen abgesehen, für ein ganzes Büschel entscheiden. Aber für welches? Für unseres, weil wir schon um 19.30 Uhr anfangen! hofft das ZDF – und vergißt, daß mancher treue Kunde der Hamburger Tagesschau sehr wohl mal ins Rhein-Fränkische abschweifen würde, wüßte er nicht, daß er dort eine Viertelstunde zu spät käme. Für unseres! glaubt die ARD, weil sie auf ihren zehnjährigen Erfahrungs-Vorsprung größere Stücke hält, als man ihr, in Anbetracht einiger Mainzer Erstlingserfolge zubilligen möchte. Nun, Infratest wird alles klären. Nur dies nicht: Da steht die millionenköpfige Herde der Buridan-Esel dichtgedrängt, scharrt mit den Hufen, schüttelt die Mähnen, blickt ratlos in die FunkIllustrierte ihres Vertrauens ... Da steht sie stumm, anstatt – o unvernünftige Kreatur! – so lange zu iahen, bis ihr die Bundesländer das erlösende dritte Büschel Heu vor die Nase werfen: ein Axel-Cäsar-Springer-Fernsehen. Merke: »Was der Dünger für die Möhre, ist der Springer für die Röhre« (Bauernregel).

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Laien-Predigt (26/1963) Andere Fernseh-Vorstände sind eher zuschauerscheu, verstecken sich in ihren vier Wänden, treten vor eine nennenswerte Öffentlichkeit nur dann, wenn Subalternen die Last der Verantwortung zu schwer geworden ist. Nicht so der Intendant der Anstalt Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF), Sitz Mainz. Siebenundsiebzig Tage waren seit der Gründung des Netzwerkes erst ins Land gegangen, da trat er an das »große Fenster in unsere Welt« – so nennt er sein Fernsehen – und hielt, selber ein Teil nun jener »ganzen Wirklichkeit«, die er ins deutsche Heim liefern möchte, ein Schwätzchen (Gespräch mit dem Zuschauer, 17. Juni). Kaum hatte das Fernsehspiel Sonderurlaub von Gerd Oelschlegel – es behandelte den Seelenkonflikt eines ostzonalen Mauer-Schützen – die Scheibe verlassen, erschien Karl Johannes Holzamer und tat, was bis dahin allenfalls Fernsehkritiker zu tun bereit waren: Er spendete der vorausgegangenen Sendung Lob. »Es ist«, sagte er, »für den Intendanten erfreulicher, nach einem solchen Höhepunkt sich an die Zuschauer zu wenden, als bei manchen anderen Programmen.« Und: »Nicht wahr, was die Wirklichkeitsnähe dieses Stoffes und dieses Themas so eindrucksvoll gestaltet, das ist eben gerade ... daß hier nicht einfach in einer Schwarzweißmanier Gut und Bös verteilt wird.« Wie sehr es in Holzamers Vorstellung von den Aufgaben und Möglichkeiten eines TV-Intendanten noch nach feuchtem Verputz und frischer Ölfarbe duftet, zeigte auch der weitere Fluß seiner Rede. Wie vor zehn Jahren die Pioniere der ersten Television, als sie noch den Ehrgeiz hatten, es allen recht zu machen, ging auch er vatergeduldig auf »zahlreiche Zuschriften« ein, in denen statt der »vielen Schattenseiten« des Lebens mehr »leichter Stoff, damit man vom Alltag freikommt«, gefordert wird. Und wieder diente ihm Oelschlegels Sonderurlaub als Musterbeispiel, diesmal für die Lichtseite der ZDF-Produktion. Habe es doch gezeigt, »wie dankbar wir sein dürfen, daß wir diese Gestaltungen erleben und doch nicht in dieser schweren Situation unserer (mitteldeutschen) Landsleute uns befinden«. Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andre an. Zuschauern, die ihr Begehren »durchaus in der rechten Weise« vorgebracht hatten, wurde, laut Holzamer, bereits Erfüllung zuteil; etwa in Form einer »besseren Wetterkarte«. (Für den Uneingeweihten steht da freilich, wie zu Anbeginn, ein Diplom-Ingenieur vom Dienst und kritzelt Kreide-Sönnchen oder Regenwölkchen an die Wandtafel.)

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Zwiespältig war des Professors innere Einstellung zu dem Echo, das seine Anstalt hervorzurufen imstande ist. Einerseits registrierte er verwundert, womit er offenbar nicht gerechnet hatte: »Man nimmt Anteil an dem, was hier ausgestrahlt wird.« Auf der anderen Seite übertrieb er: »Es wird vieles durch unser Programm in Bewegung gebracht« oder hielt es – mit den UmfrageErgebnissen der Institute Infratest und Infratam jonglierend – für bedeutsam, daß bei Heute, dem Tagesschau-Pendant der Mainzer, »Zustimmung und Ablehnung in einem sehr diskussionsfreudigen Gipfel stehen ...« Wobei er arglos verschwieg, daß dieser »diskussionsfreudige Gipfel« die Maße eines Maulwurfshügels besitzt: Das Zweite Programm kann vorerst nur von 43 Prozent der Zuschauer wahrgenommen werden. Und weil von dieser knappen Hälfte wiederum nur ein Häuflein seine Bildröhren heizt, bedeutet dies, laut UmfrageTests: Die Diskussion über Wert oder Unwert der Darbietung Heute spielt sich im Wochendurchschnitt zwischen rund neunhunderttausend von potentiellen 24 Millionen TV-Betrachtern ab. Dagegen sehen im Wochendurchschnitt 13,7 Millionen Bundesdeutsche die ARD-Tagesschau. Zum Finale gab Karl Holzamer von einem Plan Kunde, dessen Ausführung das Interesse am Zweiten Deutschen Fernsehen sprunghaft in die Höhe schnellen lassen wird. Er wolle, sagte er, mit »sowas wie einem Tabu« brechen und »es ruhig wagen«, Sendungen wiederholen zu lassen – »natürlich in einem gewissen Abstand, der aber auch nicht allzu groß zu sein braucht«. Sprach’s – nach ganzen elf Sendewochen! – und wünschte der Zuschauerschaft »einen besinnungsstarken guten Abend«. Telemann befolgte diese, Holzamers, Anregung, dergestalt, daß er über Glanz und Elend des einzigen bundesdeutschen FernsehIntendanten (bei der ARD gibt es ja bloß Direktoren) nachgrübelte. Sein Glanz: Er darf das Mainzer Flackerlicht Tag für Tag in alle deutschen Gaue schicken. Sein Elend: Kein Vorgesetzter, geschweige eine Ständige Programmkonferenz, rät ihm, was er tun oder – noch wichtiger – was er lassen sollte. Merke: »Wer stille schweigt, bleibt hochgeehrt; schon darum, weil ihn keiner hört« (Sinnspruch).

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PROGRAMM Wer glaubt, die Qualität von Fernsehsendungen wäre vor der Einführung des Dualen Rundfunksystems und d.h. ohne private Anbieter besser gewesen, der wird seine Meinung nach der Lektüre der Telemann-Kolumne revidieren müssen, denn die Sendungskritiken sind vernichtend. Sie beklagen und dokumentieren einen Mangel an Inspiration bei der Gestaltung des frühen ARD-Programms, in dem eine »ewige gähnende Langeweile«1 herrsche. Noch knapp zehn Jahre nach dem offiziellen Start des Programms von 1952 knüpfen viele »Programmsparten [...] an tradierte Formen und Muster an, die andere Medien – Theater, Varieté, Kabarett, Zirkus, Konzert, Kino, Zeitung, Zeitschrift, Buch, Vortragswesen etc. – entwickelt hatten [...].«2 Diese unterschiedlichen Sendungsformen werden zu Beginn jeweils als Element eines einheitlichen Gesamtablaufs gesehen. Entsprechend der Gestaltung anderer kultureller Einrichtungen soll das Programm jedes Abends eine homogene Einheit ergeben, die aus verschiedenen Einzelsendungen mit einem Hauptbeitrag besteht. Für dieses Programmkonzept ist auch die Begrenzung der Sendezeit auf wenige Stunden notwendig. Nur so kann ein geschlossener Gesamtaufbau mit Anfang und Ende je Programmabend hergestellt werden. Schnell wird »von der ›großen Programmform‹ [...] ›zu einer auch im zeitlichen Ablauf mosaikartigen Aufteilung‹«3 übergegangen, was eine Ausdehnung der Sendezeit möglich macht. Zudem bleibt das Programm nicht auf den Abend beschränkt. Sportübertragungen und Kindersendungen werden durch lange Sendepausen getrennt am Nachmittag gezeigt. Werner Höfers Internationaler Frühschoppen läuft seit den frühen 50er Jahren sonntags Mittag.4 Die Telemann-Kolumne analysiert und diskutiert eine weitere Ausweitung: den Aufbau eines Vormittagsprogramms.5 1 2 3

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Telemann: »Fietscher« (in dieser Sektion). Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 142. Ebd., S. 131. Vgl. auch Joan Kristin Bleicher: »Institutionengeschichte des bundesrepublikanischen Fernsehens«, in: Knut Hickethier (Hg.), Institution, Technik und Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens [=Geschichte des Fernsehens der Bundesrepublik Deutschland, 1], München: Fink 1993, S. 67-134, hier S. 93. Vgl. Knut Hickethier: »Dispositiv Fernsehen, Programm und Programmstruktur in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Ders. (Hg.), Institution, Technik und

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Von »der lückenlosen Television«,6 also dem Vollzeitprogramm, ist man aber noch weit entfernt, denn es stellt eine allseits befürchtete und bekämpfte Entwicklung dar. Telemann legt allerdings den Verdacht nahe, dass die Rundfunkanstalten die Ausdehnung ihrer Sendezeit fürchten, weil es an Sendeinhalten fehlt. Nicht die häufig gegen das Fernsehen vorgebrachten »Gebrauchs-Argumente wie ›Reizüberflutung‹, ›Gefahr für die kindliche Phantasie‹ oder ›frühzeitige Vermassung‹«7 motivieren demnach die Verknappung der Sendezeit, sondern der Mangel an neuen Formaten und interessanten Themen.8 Diesem Problem begegnet man u.a. durch neue Technikentwicklungen. »Im Bereich der Produktionstechnik kam es 1958 zur Einführung einer technischen Neuerung, die zu entscheidenden Veränderungen der Programmplanung und -produktion führte: Die MAZ-Aufzeichnung löste die nur begrenzt eingesetzte Filmaufzeichnung vom Bildschirm ab und ermöglichte auch Vorproduktionen, Mitschnitte von Live-Veranstaltungen und vermehrte Sendungswiederholungen.«9 Die Ausdehnung der Sendezeit wird also nicht nur durch die Steigerung der Produktion bewältigt, sondern man setzt zunehmend auch auf die Möglichkeit der Wiederholung. Legitimiert wird dies aber weniger mit geringen Produktionskapazitäten als mit den Zuschauerbedürfnissen.10 Der Zuschauer soll dadurch flexibler in der Programmauswahl werden – kann er doch eine Sendung, die er verpasst hat, zu einem späteren Zeitpunkt sehen. Eine Argumentation, die mit dem Aufkommen eines kostengünstigen Videorekorders, an Plausibilität verliert und mehr und mehr hinfällig wird. Eine Flexibilität in der Programmauswahl wird dem Zuschauer aber vor allem durch den Start eines zweiten Programms – anfänglich von der ARD und ab 1963 vom ZDF angeboten – geschaffen. Indem er nun zwischen zwei Sendern wechseln kann,11 erhält er erstmalig die – wenn auch noch beschränkte – Möglichkeit, die Sendungsfolge durch Umschalten selbst festzulegen. Der Umgang mit dieser Neuheit der zwei Programme und der Auswahl muss aber erst habitualisiert werden. Zunächst geht man davon aus, dass ARD und ZDF ihre Sendezeiten aufeinander abzustimmen haben. Anfangs- und Endzeiten der Einzelbeiträge sollten bei Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens [=Geschichte des Fernsehens der Bundesrepublik Deutschland, 1], München: Fink 1993, S. 171-243, hier S. 190. 5 Telemann: »Haltung: Schweifend« und ders.: »Die toten Seelen« (in dieser Sektion). 6 Telemann: »Die toten Seelen« (in dieser Sektion). 7 Telemann: »Haltung: Schweifend« (in dieser Sektion). 8 Vgl. Telemann: »Quizproquo« (in dieser Sektion). 9 J.K. Bleicher: Institutionengeschichte, S. 97. 10 Vgl. Telemann: »Die toten Seelen« (in dieser Sektion). Vgl. auch die Sektion »Spezifik des Fernsehens«. 11 Vgl. Telemann: »Nachtschub« (in dieser Sektion).

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beiden Programmen identisch sein, so dass der Zuschauer nach jeder Sendung das Programm wechseln und dennoch alle Sendungen vollständig sehen kann. Man ist also noch weit vom Konzept des flow entfernt, sondern sieht die einzelnen Sendungen noch als geschlossene Darbietungen. Es geht noch um die Sendungen als Einzelereignisse mit Anfang und Ende, anstatt um die Gesamtheit des Gesendeten als Programmfluss.12 Eine Koordination der beiden Anstalten soll zunächst auch bzgl. der Programmsparten stattfinden. Indem beide Sender zur gleichen Zeit nicht identische Sparten bedienen, kontrastieren sie. Auf diese Weise soll das ZDF keine Konkurrenzveranstaltung, sondern ein Kontrastprogramm zur ARD darstellen.13 Solchen Zielen ungeachtet verfolgt man in den Rundfunkanstalten aber zunehmend eine Programmgestaltung, die auf Zuschauerbindung setzt. So platziert das ZDF seine Nachrichtensendung Heute zeitlich vor das entsprechende ARD-Produkt Tagesschau, um so die eigene Attraktivität für den Zuschauer zu steigern. Die Grundlage dieser Disponierung ist – auch das eine Neuheit – »die empirisch ermittelte Tageszeitnutzung der Zuschauer«.14 Solchen Überlegungen hält Telemann noch einmal einen inhaltlichen Vergleich der beiden Nachrichtensendungen entgegen. Weniger die Uhrzeit der Ausstrahlung als die Qualität der Information ist für seine Beurteilung entscheidend und die werde mit der Konkurrenz von ARD und ZDF besser, weil der Zuschauer nun ein größeres Angebot hat, um sich zu informieren.15 Ein Verdacht kommt erst langsam auf – nämlich dass Konkurrenz eine Konkurrenz um Zuschaueraufmerksamkeit bedeutet und dies zur Konsequenz haben kann, dass das Niveau der Sendungen gesenkt wird, um mehr Menschen zu adressieren als der Alternativveranstalter. Die schlechte Qualität der von ihm kritisierten Sendungen sieht Telemann in einem anderen Problem begründet. Bestimmte Strukturen des öffentlichen-rechtlichen Systems sind nach Telemann für Qualitätsmängel verantwortlich. Problematisch erscheinen ihm die Zwänge und Einflüsse, denen das leitende Gremium, der Rundfunkrat, unterworfen ist. Das Gebot der Pluralität garantiert allen politisch, weltanschaulich und gesellschaftlich relevanten Kräften und Gruppen ein Mitspracherecht mit dem Ziel, dass die verschiedenen Auffassungen ausgewogen im Gesamtprogramm berücksichtigt werden.16 Doch laut Telemann ist der Effekt ein 12 Zum Konzept des Programmflusses vgl. Raymond Williams: Television. Technology and Cultural Form, New York: Skocken Books 1975. 13 Vgl. Telemann: »Gemischtes Doppel« (in dieser Sektion). 14 J.K. Bleicher: Institutionengeschichte, S. 103. 15 Vgl. Telemann: »Der Krieg der Knöpfe« und ders.: »Eckig und nicht rund« (in dieser Sektion). 16 Vgl. J.K. Bleicher: Institutionengeschichte, S. 71.

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Anderer: Anstatt Ausgewogenheit herrsche Konturlosigkeit. Der Rundfunkrat hat so viele Interessen zu berücksichtigen, dass alle möglicherweise kontroversen Themen im Programm vermieden werden. Und da alles Gegenstand einer Kontroverse werden kann, betrifft dies alle Sparten bis hin zu den Unterhaltungssendungen.17 Nicht nur der Mangel an kritischen und informativen Sendungen, sondern auch an einem gelungenen Bildungs- und Unterhaltungsprogramm sieht Telemann vor allem im Proporz-Denken der Verantwortlichen begründet. Die unermüdliche Kritik, eine gesellschaftliche relevante Gruppe sei übergangen worden, führe zu einem uninteressanten Programm. Dabei drängt sich bei vielen von Telemanns Sendungskritiken der Eindruck auf, dass trotz der vielen Veränderungen seit der TelemannKolumne – Ausdehnung der Sendezeit zum Vollzeitprogramm, Wechsel vom öffentlich-rechtlichen zum dualen Rundfunkssystem, Steigerung der Anzahl der Programm und damit der Wahlmöglichkeiten des Zuschauers etc. – die damaligen Sendungen den heutigen ähnlich sind. Viele der Sendungen, die Telemann beschreibt und kritisiert, scheinen sich kaum von aktuellen Programmbeiträgen zu unterscheiden. August Detlev Sommerkamp, Richter in der 1963 ausgestrahlten Sendung Das Fernsehgericht tagt, hat scheinbar viel gemein mit Ruth Herz aus der RTLGerichtsshow Das Jugendgericht.18 Und Telemanns Beurteilung des Formats ›Feature‹ würde auch auf sogenannte ›Wissensmagazine‹ passen, die heute vor allem private Anbieter im Vorabendprogramm senden. Die Geschichte der Transatlantikkabel und der Betrieb in Pfandhäusern sind darin heute wie gestern Thema.19 Nicht zuletzt hat die Ausdehnung der Sendezeiten – auf pausenlose 24 Stunden – und der parallel sendenden Kanäle den bereits von Telemann beklagten Exzess von Wiederholungen weiter befördert.20 Gleiches gilt für die Klage über die Werbung. Morlocks Befund, dass die »Fernsehreklame [...] kein Einzel-Malaise« sei, sondern einen »Summierungsschaden.«21 darstelle, könnte auch aktuellen Datums sein. Jedoch verdeutlich gerade das Thema Werbung den diskursiven Wandel. Schließlich stellt nicht nur das Fernsehen als Werbeträger eine Neuheit dar, sondern der gesamte Bereich des Konsums muss in der Nachkriegszeit erst wiederentdeckt werden. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, in der sich eine neuartige Produktvielfalt vor dem Konsumenten auftut. 17 Vgl. Telemann: »Quizproquo« (in dieser Sektion), sowie ders.:»Auf ein Altes«, in: Der Spiegel 13 (1959), Nr. 1, S. 50. 18 Vgl. Telemann: »Tschühüs« (in dieser Sektion). 19 Vgl. Telemann: »Fietscher« (in dieser Sektion). 20 Vgl. Telemann: »Wieder und wieder« (Sektion »Spezifik des Fernsehens«), sowie ders., »Faust-Kampf«, in: Der Spiegel 14 (1960), Nr. 17, S. 54. 21 Telemann: »Kiewitt« (in dieser Sektion).

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Werbung wird dementsprechend nicht nur als Kaufaufforderung, sondern auch als Produktinformation verstanden und ihre Gestaltung trägt dem Rechnung.22 Morlocks Kritik bezieht sich dann auch weniger auf den Tatbestand, dass ein Teil der Sendezeit mit Werbung bestritten wird, als viel mehr auf die fast durchgängig mangelhafte Qualität der Werbesendungen. »Verbraucher«, so Morlock, »lassen sich nämlich gar nicht so gerne für dumm verkaufen, wie Werbepsychologen glauben.«23 Als gelungen gelten ihm im übrigen vor allem solche Werbesendungen, die nicht in der täglichen Wiederholung der selben Darbietung bestehen, sondern sich jeweils vom Vorabend unterscheiden. Problematisch erscheint Morlock zudem die Ausstrahlung von Werbung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Systems, das sich nicht wie die Presse privatwirtschaftlich, sondern aus Gebühren finanziert. Fernsehwerbung wird aufgrund solcher Kritik in den 50er Jahren nicht ausschließlich mit ökonomischer Notwendigkeit legitimiert. »Werbefernsehen«, zietiert Morlock den Intendanten Clemens Münster »stelle eine ›nette Bereicherung des Programms‹ dar.«24 Solchen Äußerungen steht allerdings die Befürchtung gegenüber, dass 1956 mit dem Beginn der Werbeausstrahlung im Deutschen Fernsehen eine Entwicklung initiiert wurde, die in US-amerikanischen Zuständen mündet. Besorgt beobachtet man das Fernsehen der USA, das ohne zeitliche Begrenzung Werbung sendet. In solchen Beobachtungen bleiben allerdings die Unterschiede eines öffentlich-rechtlichen und eines privatwirtschaftlich organisierten Rundfunksystems häufig ungenannt.

22 Siegfried J. Schmidt/Brigitte Spieß: »Geschichte der Fernsehwerbung in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Skizze«, in: Hans-Dieter Erlinger/HansFriedrich Foltin (Hg.), Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme, [=Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, 4], München: Fink 1994, S. 187-242, hier S.194 23 Telemann: »Kiewitt« (in dieser Sektion). 24 Ebd.

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Quizproquo (48/1958) Leider soll am 6. Dezember das schöne Kölner Quiz Hart auf hart zum letztenmal die Zuschauer erheitern, denn so hat es der Programmbeirat des Deutschen Fernsehens gewollt. Damit nun aber die Damen und Herren des Westdeutschen Rundfunks in ihrer Fernsehnot nicht verzweifeln, sondern bald ein neues Quiz unter dem Titel Wie es euch gefeltzt oder Was ihr sollt herausbringen können, hat Telemann eins ersonnen, das er hiermit seinen Kölner Freunden zur Verfügung stellt. Damit der nötige Ernst gewahrt bleibt, schlägt Telemann vor, den verdienten Sportreporter Hugo Murero zum Quizmaster zu bestellen. Das Quiz selbst beginnt mit dem sogenannten Kragenspiel. Neu daran ist, daß der Delinquent mittels eines Holzkragens in die Höhe gezogen wird, von wo aus er einige Fragen zu beantworten hat, etwa: »Nennt man Bismarck den Eisernen Kanzler?« (Um einem Protest des sozialdemokratischen Vertreters im Kuratorium zuvorzukommen, folgt als Ausgleich unverzüglich die Frage: »Liegt Hamburg an der Elbe oder nicht?«, so daß die Unabhängigkeit des Programms gesichert bleibt.) Wer es fertigbringt, diese Fragen richtig zu beantworten, erhält dafür genau 5555,55 Mark. Wer es nicht fertigbringt, bekommt nur 5555,54 Mark. Sodann wird umgeschaltet zu einem Platz, an dem sich mittlerweile 1000 Menschen versammelt haben, um den geheimnisvollen Gegenstand zu erraten. Auf dieses Spiel hat Telemann auch für das neue Quiz nicht verzichten wollen, weil ja gerade dadurch immer eine gewisse Spannung erzielt worden ist. Um eine Auslese zu erreichen, muß jeder ein Taschentuch mitbringen, das diskret vor die Kamera zu halten ist, damit jeder es an seinem Heimgerät identifizieren kann. Zunächst kommen nur die ersten 50 Menschen zu Wort, von denen jeder ganz kurz seine Lebensgeschichte erzählt, ehe er äußert, daß es sich bei dem geheimnisvollen Gegenstand zum Beispiel um eine lockere Schraube oder auch um einen Atomkern handelt, was aber beides nicht zutreffen wird. Nachdem Telemann, der die Rolle des rechtskundigen Helfers zu gern selber übernehmen würde, die Antwort »Falsch« fünfzigmal variiert hat, wird ins Studio zurückgeschaltet, wo das nächste Spiel gestaltet werden soll. Es ist das sogenannte Zahlenspiel, auch Muschelspiel genannt. Die Stelle des Quizmasters nimmt ein Mister Jokerface ein, der dem Betreffenden ein Kartenspiel hinhält. Zieht der Patient Pik oder Kreuz, so muß er ganz schnell bis 99 zählen. Zieht er dagegen Herz oder Karo, so hat er es leichter, weil er nur bis 88 zählen muß. Dies getan, wird ihm eine große Muschel gereicht, in die er hineinhorchen muß. Nach einer Bedenkzeit von 30 Sekunden hat er zu ent-

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scheiden, ob die Muschel aus der Ostsee oder aus der Nordsee stammt. Tippt er auf die Ostsee, so darf er aus einem roten Behälter (Jokerface scherzend: »Rot ist die Liebe – oh, Sie kleiner Schelm!«) ein Los ziehen. Hat er sich für die Nordsee ausgesprochen, so muß er in einen grünen Behälter greifen. Auf jedem Los steht: »Jokerface wird jetzt versuchen, Sie zum Lachen zu bringen.« Und tatsächlich grimassiert Jokerface sogleich, um dem Betroffenen ein Schmunzeln abzunötigen. Nach fünf Minuten Kampf entscheidet Hugo Heinrich Murero, wer gewonnen hat. Ist es der Patient, so erhält er dafür 5555,55 Mark. Hat er jedoch verloren, so bekommt er nur 5555,54 Mark. Nachdem das vorüber ist, wird wiederum zum geheimnisvollen Gegenstand umgeschaltet. Dort werden weitere 30 Minuten damit herausgeholt, daß 50 Menschen ganz kurz ihr Schicksal berichten, um sodann mitzuteilen, der geheimnisvolle Gegenstand sei in Wirklichkeit ein Bahnhof, was jedoch wieder nicht zutreffen wird. Im Studio beginnt alsdann das dritte Spiel, das sogenannte Gedankenlesen, bei dem die Fernsehteilnehmer daheim mitspielen. Im Studio wird jemand in einen Glaskasten gesetzt, wo er scharf nachdenken muß. Mittels Großaufnahme erscheint jetzt das Gesicht des Denkers in jedermanns Zimmer, und so können alle miterleben, wie das Denken ein menschliches Antlitz entstellen kann. Wer im Publikum jetzt errät, woran der Denker denkt, soll es auf eine Postkarte schreiben und an sein Fernsehen schicken, wo es ausgewertet wird. Die Idee, auf die dann die meisten gekommen sind, soll die richtige Lösung sein. Inzwischen aber ist wieder zum geheimnisvollen Gegenstand umgeschaltet worden, und die nächsten 50 Menschen vertrauen Lust und Leid ihres Lebens dem Fernsehen an, ehe sie aussprechen, daß es sich bei dem Gegenstand vielleicht um Rhabarber handelt. Und als rechtskundiger Helfer wird Telemann es nicht versäumen, jedesmal mit einem kleinen Scherz zu erwidern, daß es falsch ist. Bei dem neuen Quiz wird übrigens natürlich niemand wissen, was der geheimnisvolle Gegenstand eigentlich ist. Ist denn noch ein Geheimnis, was jemand weiß? Obendrein ist es so auch leichter, einen zu finden. Da Telemann gern angelt, wird er sicherlich mancherlei herausziehen, was sich eignet, weil noch keines Menschen Auge es je erblickt hat. Und nur so kann man im Deutschen Fernsehen, dessen Kräfte nach Einsicht des Intendanten Hanns Hartmann nur für ein zweistündiges Tagesprogramm reichen (und auch das Nur knapp), anderthalb Stunden überstehen. Merke, was schon La Rochefoucauld zu seiner Zeit tröstend gesungen hat: »Fremdes Quizgeschick zu tragen, sind wir alle stark genug.«

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F i e t sc he r ( 8 / 19 5 9 ) Längst hat sich das deutsche Kinopublikum daran gewöhnen müssen, daß ihm ständig sogenannte Kulturfilme aufgedrängt werden, die dem Beschauer die Freude an Bildwerken alter Meister, schönen Kirchen und berühmten Schlössern vergällen oder unter der Tarnbezeichnung Dokumentarfilm jedes Interesse für technische oder wirtschaftliche Phänomene abzutöten suchen: Als Untermalungsmusik mißbrauchte Bach-Fugen beorgeln den Hauer vor Ort ebenso wie Säulen und Statuen, und alles wird durch einen ehrfürchtig geraunten Text von atemberaubender Albernheit umstelzt. An diese gefürchtete Tradition neuteutscher Kulturverblasenheit anzuknüpfen, scheint dem Deutschen Fernsehen bereits gelungen zu sein. Immer häufiger bekommt die Ansagerin vom Dienst den dunklen Blick des Kulturglanzes von innen her, der Böses ahnen lässt. Wirklich taucht dann auch kurz darauf das ernstgefaltete Antlitz eines geistigen Schwerarbeiters im Heimgerät auf: Etwas Kulturelles droht. Oder es beginnt ein Film über bayrische Hausschlüssel in drei Jahrhunderten mit den ersten Takten von Beethovens Fünfter – schon klopft das Schicksal des deutschen Fernsehteilnehmers an seine Mattscheibe: die ewige gähnende Langeweile. Beim Fernsehen nennt man das nicht Kulturfilm, sondern Feature, sprich Fietscher. Was da von den einzelnen Anstalten zusammengefietschert wird, gehört zu den aufreibendsten Nervenfeilen, die das Deutsche Fernsehen seinem Publikum allwöchentlich ansetzt. Besonders schwer verunglücken bestimmte Anstalten bei der Herstellung von Werbefietschers. Unvergeßlich bleiben Hamburgs Beine der Bundespost mit dem Hausbriefkasten-Refrain, aber auch das Hochhaus zur Gastlichkeit, das die Berliner Fernsehschaffenden für ihren Mister Hilton sendeten, nur daß es statt seiner Millionen Teilnehmer ansehen mußten, bewahrt man ungern im Gedächtnis. Am vergangenen Mittwoch hat nun auch Köln dem Publikum eins übergefietschert: ein Werbewerk für die Öffentlichen Leihanstalten unter dem irreführenden Titel Bargeld lacht. Das Pfandhaus in Dichtung und Wahrheit. Es war weder Dichtung noch Wahrheit, sondern ein Lehrbeispiel dafür, wie man ein gutes Thema von hinten absticht. Statt die Kunden des Leihhauses und damit Menschenwahrheit kennenzulernen, sah der Fernsehzuschauer die Lagerräume der Pfandhäuser und tote Statistiken und Interviews mit Oberpfandverleihern, hörte die Grabesstimme des Reporters, als er sprach: »Bargeld lacht! Bargeld weint!«

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Die eigentlichen Spezialisten des Fietschers sind jedoch die Bayern. Scherzt Koordinator Dr. Münster auf die Frage, was ein Fernseh-Feature sei: »Wir wollen doch jetzt nicht philosophieren ...« Die Bayern haben unter dem erhabenen Titel Schmelz in goldenen Zellen fünfundzwanzig Minuten lang Technik und Geschichte der Email-Malerei dermaßen breitgetreten, daß man gar nicht mehr hinsehen mochte. In schier endlosen Filmen ziehen sie bajuwarische Landschaften und Schlösser, Ausstellungen und Gemeinden lang und länger – ihr kürzestes Fietscher ist noch zweieinhalbmal so lang wie ein sogenannter Kulturfilm im Kino. Wäre nicht das Stuttgarter Fernsehen als eine Art Leuchtturm in diesem Meer der Langeweile, wüßte womöglich überhaupt niemand, was ein Fernseh-Feature ist. Wer jedoch den Großen Cannes-Cannes oder Die Kunden der Traumfabrik gesehen hat, zwei vorzüglich gebaute Features, treffend photographiert und so zusammengestellt und kommentiert, daß man ein interessantes Ergebnis erhielt – der kann wissen, was ein Feature ist. Zuversicht ist allerdings trotzdem nicht am Platze; denn statt der Stuttgarter sind die Bremer entschlossen, sich mit aller Macht auf das Feature zu werfen – es wird voraussichtlich nichts davon übrigbleiben. Denn was sie am Sonnabend vorvergangener Woche geliefert haben, ist ein zutiefst entmutigendes Beispiel für die »kleine Form«, in der Bremens Fernsehchef Rudolf Dumont sich und seine Kollegen üben will. Das Fietscher, das ausgerechnet im Sonnabendabendprogramm gesendet wurde – Koordinator Dr. Münster: »Wir wollen zu dem großen Unterhaltungsprogramm gern manchmal ein Feature als kontrastierende Vorspeise bringen!« –, dieses Fietscher Tramp mit dem Erz zeichnete sich lediglich durch jene niederdrückende Langweiligkeit aus, mit deren Hilfe fast alle Fernseh-Fietschers ihr Thema verunstalten. Anker wurden geworfen und gelichtet, Brücken wurden per Güterwagen überquert, Erz wurde in Eisen verwandelt, es nahm kein Ende. Und der Höhepunkt: »Wir kommen gerade zur rechten Zeit!« sprach der Sprecher nicht ohne Triumph in der Stimme, und die dramatische Untermalungsmusik wurde etwas leiser. »Und wir werden nicht lange zu warten brauchen, bis wir im Bilde zeigen können, was wir nur mit einer Sondergenehmigung von höchster Stelle filmen durften: den Druck auf den Knopf nämlich, der die Sprengung auslöst ...« Und es geschah der Knopfdruck. Sie haben noch viel vor, die Bremer Stadtfietscher, mit ihrer kleinen, aber überlangen Form. Jeder erfahrene Kulturfilmpatient weiß sogleich, was ihm bevorsteht, wenn er die Titel der Fietschers hört, an denen die Bremer ihre hohe Aufgabe erfüllen wollen: 100 Jahre Transatlantikkabel

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und Deich – Schicksal und Aufgabe und Die neue Bremen und Stahl an der Weser und immer noch eins. Merke: Langweilen können wir uns selber.

U n te r s c h i e b u n g ( 1 0 / 1 9 5 9 ) Entsetzen packt jedesmal Heinz Maegerlein, wenn in seinem ewigen Quiz Hätten Sie’s gewußt? ein nach seinem Vorleben befragter Freiwilliger versehentlich ausplaudert, daß er beispielsweise bei Trittmacher & Co. beschäftigt ist und dort Trittmachers gute Fußmatten anfertigen hilft. Gleich wird Heinz Maegerleins ohnehin schon säuerliche Miene saurer, er hebt den Zeigefinger belehrend und spricht mit sanftem Vorwurf: »Aber Herr Soundso! Das war doch Reklame!« Recht hat er, nur ist so etwas nicht halb so schlimm wie jene Schleichwerbung, die dem Teilnehmer sonst immer wieder einmal angedreht wird, ohne daß sich ein Fernsehschaffender dafür entschuldigt, geschweige denn rechtzeitig dafür sorgt, daß dergleichen unterbleibt. Die übelsten Beispiele dafür, wie dem Publikum unter der Behauptung, es handle sich um Programm, eins untergeschoben wird, sind zwei Filme, die schon in anderem Betracht als unzumutbar aufgefallen sind: Hamburgs Beine der Bundespost und Berlins Hochhaus zur Gastlichkeit. Diese reinen Werbefilme von der zehn- bis zwanzigfachen Länge (und Langweile) eines Kino-Werbefilmchens als Dokumentarfilm zu verkaufen, war die unverfrorenste Chuzpe, die den Programmplanern in ihrer Not einfallen konnte. Dagegen sind sie offensichtlich schuldlos an den Werbe-Transparenten, die bei Sportübertragungen in unschöner Aufdringlichkeit die Tribünenwände bespannen und dadurch mit ins Blickfeld der Kamera geraten. Sprüche, die unverdrossen versichern, Hurona heiße der allerbeste Schlittschuh und Omega sei der trefflichsten Zeitmesser einer, kann sich das Fernsehen samt Publikum nur gefallen lassen. Allein der Veranstalter dürfte sich sowas verbitten, aber er will es natürlich nicht und kann es oft gar nicht, weil er den Mietzins zur Deckung seiner Unkosten braucht. Überdies wissen die Fernseh-Teilnehmer durchweg selber, daß solche Transparente und Plakate jedes Stadion verunzieren, ob übertragen wird oder nicht, und stören sich wohl kaum an der bis zur Gleichgültigkeit vertrauten Reklamität, abgesehen von jenen, die selber gute oder schlechte Schlittschuhe oder Zeitmesser verkaufen möchten und durch Überdruck ihres Erwerbssinns in die handelsübliche Konkurrenzhysterie verfallen. Wenn einst Robert Lembke in seinem Quiz Wer bin ich?, in dem herauszufragen war, welchen Beruf der Betreffende hatte, ein altes Weib-

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lein als Lavendelsammlerin entlarven lassen konnte und der guten Frau, um ihr (und dem Fernsehpublikum) noch etwas Nettes zu sagen, mit den Worten »Sie riechen ja so frisch!« die Werbeantwort: »No ja, Lavendel!« in den Mund legte, ist das zwar auch nur für die kosmetische Industrie erfreulich, aber es kann passieren und passiert natürlich immer wieder einmal. Ganz anders aber liegt der Fall, wenn Vermeidbares nicht vermieden, sondern womöglich nach dem Motto »Ein Werbender wird immer dankbar sein« (nach Goethe) als eindeutige Schleichwerbung ins Heimgerät geschmuggelt wird! So war es am vor vergangenen Sonntag im Stahlnetz, in dessen Ickedettekiekemal-Schnodderei unverkennbar eine Werbung für den Ford 17 M eingelegt war. In einem solchen Auto hatte der Bankräuber mit seiner Bandenchefin Reißaus genommen, und jetzt vernahm ein Polizeibeamter am Tatort Zeugen. Polizist: »Haben Sie den Wagen erkannt?« Zeuge: »Ford, gloob ick. Zweifarbig, grau und weiß!« Ein anderer Zeuge namens Schröder hat die Bandenchefin im Wagen sitzen sehen, während ihr Kumpan raubte: »So ‘ne dufte Biene am Steuer von so eenen Wagen, na, da kuckt man doch janz jenau hin!« Und schließlich wird ein Autovermieter von einem Kriminalbeamten im Laufe seiner Ermittlungen gefragt, ob er einen Ford 17 M verliehen habe? Zweitürig oder viertürig? Viertürig, de Luxe. Und zweifarbig. Sagt der Vermieter: »Na, so genau wollte ich das gar nicht wissen!« Nicht nur er, auch die Zuschauer nicht! Denn in diesem Fall wird nicht nur einmal oder zweimal erwähnt, um was für einen Wagen es sich handelt, was schließlich nicht immer zu vermeiden ist und krampfhaft auch gar nicht vermieden werden sollte. Diesmal hat sich Drehbuchschreiber Wolfgang Menge die Werbeargumente der Ford-Werke zu eigen gemacht, die nämlich großen Wert darauf legen, daß sie ihren Wagen sowohl zweitürig als auch viertürig und obendrein zwiefarbig ausliefern. Die Szene mit dem Vermieter war außerdem völlig überflüssig. Sie sollte lediglich ein neues Mal dartun, um welche Realistik sich die Hersteller vom Stahlnetz bemühen, indem sie neben ausgeklügelt genauen Uhrzeiten (11.28 Uhr) und präzisen Namensangaben (die allerdings laut Vorspann erfunden sind) immer wieder zeigen, daß die Polizeibeamten auch vergebliche Wege gehen müssen, ehe sie auf die rechte Spur geraten. Schlußsatz des Autovermieters: »Wir haben sowieso seit Wochen keinen Ford mehr hier gehabt!« Niemand wird glauben wollen, daß Adrian Alexander Menge oder Stahlnetz-Regisseur Jürgen Roland berühmteren Mustern folgen und sich auf ihre Weise, nämlich durch solche Einschiebsel, einen Leihwagen erdienen möchten. In ihrem Falle ist es eine Frage des Aufpassens, aber

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aufpassen sollte man wirklich in solchen Dingen, damit man dem Fernseh-Teilnehmer nicht einen Ford liefert, den er sicher gar nicht haben will. Merke: Es gibt ihn zweitürig und viertürig.

Kiewitt (15/1959) »Kiewitt, kiewitt – nix kiewitt ...« quäkt es seit dem l. April nun auch durch nord- und westdeutsche Kanäle. Und wem dieser Herzensappell eines großen Textilversandhauses für Barzahler ein zages Lächeln entlockt (weil die Zeichentricktierchen doch so putzig sind), der dämpfe aufwendigere Entzückungsäußerungen wenigstens bis Ultimo. Wenn ihn dann, nach den ersten sechs Dutzend »Kiewitts«, eine nebelhafte Ahnung überkommen hat, was »Werbefernsehen« bedeutet, mache er es wie Telemann und blicke zurück im Zorn auf den Bayrischen Rundfunk. Der hat angefangen. Sehr behutsam freilich. Bevor er, im November 1956, die »umstrittene halbe Stunde« ins Regionalprogramm aufnahm, ließ er seinen Direktor Dr. Clemens Münster (den heutigen Koordinator des Gemeinschaftsprogramms) dreierlei kundmachen. Erstens: Das Werbefernsehen sei nur eine »Verteidigungsmaßnahme«. Man wolle – wenn möglich – WerbeOrgien wie in Amerika oder England vermeiden. Zweitens: Ein gut gemachtes, zeitlich begrenztes Werbefernsehen stelle eine »nette Bereicherung des Programms« dar. Drittens: Man könne damit eine »Programmlücke schließen«. Von den eigentlichen Werbedarbietungen, den »Spots« (Flecken), die jeweils den Anfang und das Ende einer sonst reklamefreien Kommerzialsendung verunzieren, schwieg der Verteidiger weislich. Und so ist es denn wohl an der Zeit, etwas darüber zu sagen. Nichts »Grundsätzliches«. Seit dem Tage, an dem das Oberlandesgericht München entschieden hat, daß es sich bei der Ausstrahlung von Werbesendungen um eine Tätigkeit handle, die Rundfunkstationen wohl ansteht (Aktenzeichen 6U 1010/57), muß der gesetzestreue Gebührenzahler dulden, daß ihm in der Abendstunde bewegte Bildinserate aufgebrummt werden. Vor und nach der »netten Bereicherung«. Doch wenn ihn tagtäglich die gleiche geschwätzige Ruhebank mit der Behauptung behelligt, daß ein renommiertes Erzeugnis der wohlgeruchsschaffenden Industrie »immer dabei« sei, wenn er sechsmal pro Woche erfährt, daß eine gewisse klare Fleischsuppe eigenwillig genug ist, nach Fleisch zu schmecken, oder wenn ihn der Gedanke, des zahn-zerfallhemmenden Wirkstoffs »BX« so lange ermangelt zu haben, bis tief in seine Alpträume verfolgt, dann muß er das keineswegs dulden, sondern darf den Wer-

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bern wie auch dem Münchner Oberlandesgericht in aller Form einen verregneten Jahresurlaub wünschen. Die Fernsehreklame ist kein Einzel-Malaise, sie ist ein Summierungsschaden. Daß sie etwas Besseres, nämlich ein Vergnügen sein könnte, beweisen die Spots der Zigarettenmarke Zuban. Ihr Buchstabenpuzzle (KruseFilm, Berlin) erfüllt nicht nur den herkömmlichen Werbezweck, sondern schmeichelt auch der Eitelkeit des Umworbenen. »Für wie gescheit müssen die mich halten«, denkt er genüßlich, »daß sie sich meinetwegen soviel geistige Umstände machen.« Verbraucher lassen sich nämlich gar nicht so gern für dumm verkaufen wie Werbepsychologen glauben. Solange aber dieser Irrglaube fortzeugend »Kiewitts« gebiert, dürfte das Werbeprogramm, das die jetzt ebenso fleißig wie einfallsarm fernsehwerbende Funk-Illustrierte Hör zu! in einem ihrer publizistischen Amokläufe berannte kaum von den Symptomen einer Ätherpest zu kurieren sein. Wenn sich der Konsumgüterverbrauchspflichtige durch den Werbegrießbrei hindurchgegessen hat und nun arglos vermeint, im Schlaraffenland gut gemachter Unterhaltung angelangt zu sein, dann kann es ihm passieren, daß er auf die Hessenfunk-Serie Nachsitzen für Erwachsene stößt und das bübische Gelächter, in das die Mitwirkenden bei jedem unbedarften Scherz ausbrechen, für eine psychische Störung hält (dabei liegt es nur am Autor Willy Köhler). Er kann auch das ungleich größere Pech haben, einem Zyklus des Senders Freies Berlin beizuwohnen, darinnen Darstellerin Christiane Maybach und Darsteller Harald Juhnke von ungepflegter Langeweile geplagt werden. Doch braucht ihn solches Mißgeschick noch nicht abzuschrecken. Es gibt auch Erträglicheres. Zum Beispiel die amerikanische Film-Importreihe Vater ist der Beste mit Robert Young. Wer sie regelmäßig verfolgt und anschließend noch ein bißchen im »Freud« oder im »Adler« schmökert, der kann auch seinen Kindern eigenhändig die Komplexe verdrängen. So lehrreich geht es zu in unserer Fernsehwerbung. Wem das Tageshoroskop hold ist, der erlebt »zwischen halb und acht« ein Quiz. In dieser Disziplin ist das Reklamefernsehen dem anderen über. Bis jetzt brachte es zwei Ratereihen heil über die Runden: Alles oder Nichts mit Heinrich Fischer und Tick-Tack-Quiz mit Fritz Benscher. Beide kommen aus München. Fischer, dessen Amtszeit bald zu Ende geht, errang des Volkes Gunst durch seine »aufgeregte Menschenfreundlichkeit«, Benscher durch seinen schlagfertigen Witz und den Robin-Hood-Drang, eitlen oder ungalanten Kandidaten die Spielhölle heiß zu machen.

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Glück hat mit dem Werbefernsehen einzig der Quiz-Freund. Und auch der nur alle acht Tage. Ob ihn allerdings dieses bescheidene Deputat aus Telefortunas Füllhorn für die Gesamtstrapazen entschädigt, müßte erst erfragt werden. Am besten gleich nach dem Quiz, wenn wieder Grießbrei gereicht wird: »... strafft und verjüngt die Haut ... in der praktischen Klartube ... mit ›drei Plus‹ ... im Dienste Ihrer Schönheit ... das strahlendste Weiß meines Lebens ... jetzt auch mit Filter ... Kaufen Sie noch morgen ...« Merke: »Wir wollten verhindern, daß die falschen Leute Werbefernsehen machen.« (Dr. Clemens Münster, ein Jahr nach der Einführung des Werbefernsehens.)

Mal eine Blume (39/1959) Vom 9. bis zum 12. September fand in München der Kongreß der Werbung 1959 statt, und auf diesem Kongreß wurde auch über das Werbefernsehen diskutiert. In aller Öffentlichkeit, so daß Telemann sein Wissen vom »jüngsten Werbe-Medium, seiner Gestaltung und Resonanz« beträchtlich erweitern konnte. Bis dahin hatte er geglaubt, der Zuschauer dulde die Sendezeitspanne zwischen Regional- und Abendprogramm nur um der 20 Minuten willen, in denen ihm reklamefreie Ergötzung zuteil wird. Doch die Wirtschaftslehrerin Erika Merten aus München, die bei einem Podium-Gespräch die Verbraucherschaft vertrat, belehrte ihn eines Besseren: »Es wundert mich«, so sagte sie, »daß für das Rahmenprogramm, das doch einen sehr magazinhaften Charakter hat, noch so viel Zeit zur Verfügung gestellt wird. Wir würden es als Konsumenten begrüßen, wenn auch im Rahmenprogramm eine mehr aufklärende Tendenz zu spüren wäre.« (Starker Beifall.) Wozu angemerkt werden muß, daß man in Werbekreisen unter einem »Rahmenprogramm« widersinnigerweise denjenigen Programmteil verstellt, der von den Werbespots umrahmt wird. Warum Protagonistin Merten die aufklärende Tendenz von Werbefilmwerken wie Kraft schenkt Freude am Essen, Fernsehzeit, Hausschuhzeit oder Wir zwei und Rei höher veranschlagt als das unkommerzielle Bestreben, Zerstreuung zu schenken, möge noch lange ihr kleines Geheimnis bleiben. Telemann interessiert nur dies: Hat sie dem schauenden Volk aus der Seele gesprochen? Wenn ihre Verbraucher-Brüder und -Schwestern des Nervenkitzels oder anderer magazinhafter Wallungen zu entraten wünschen, dann gebührt dem hessischen Fernsehwerbefunk höchste Anerkennung. Denn, von einer entschuldbaren Entgleisung – der Kriminalserie London 999 – abgesehen, darf gerade sein Rahmenpro-

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gramm als Musterbeispiel einer ebenso stillen wie aufklärerischen Beschaulichkeit gelten. »Die Leute sollen, wenn sie von der Arbeit abgehetzt nach Hause kommen, zur Ruhe gebracht werden. Sie sollen sich mal eine schöne Blume ansehen, sollen zur Besinnung kommen und nach zwanzig Minuten ruhiger geworden sein als vorher.« So erläuterte der Produzent der Filmreihe Ein schöner Tag in zwanzig Minuten, Dr. Rudolf Kauka, sein und seiner hessischen Auftraggeber Anliegen. Telemann hatte um diese Erläuterung gebeten, weil ihm die erwähnte Werbe-Programmreihe, die von den Sendern des Südwestbereichs und von Berlin ausgestrahlt wird, schon zweimal ins Auge gefallen war. Als weiterer Grund für seine Neugier kam hinzu, daß Ein schöner Tag in zwanzig Minuten denselben Mann zum Autor hat, von dem auch die Serie Nachsitzen für Erwachsene stammt und dessen geistiges Schaffen den hessischen Werbefernsehchef Siegfried Rabe mit besonderem Stolz erfüllt, nämlich den Werbefachmann Willy Köhler, Mitinhaber der Firma Köhler und Seng, BerlinSchöneberg. (Rabe: »Herr Köhler gilt in Fachkreisen als einer der brillantesten Formulierer, die wir überhaupt in Deutschland haben.«) War das Nachsitzen für Erwachsene, trotz launiger Dialoge, vornehmlich von volkserzieherischer Absicht getragen (Schüler Lehmann: »Alkohol kenne ich, das ist lateinisch und heißt ›prost‹«), so geht es dem Verfasser beim »schönen Tag« mehr darum, den Beschauer auf Wunder am heimatlichen Wege aufmerksam zu machen. Inhalt der zweiten Folge: Ein junges Ehepaar hat in einem romantischen Städtchen eine Autopanne und muß sich die Wartezeit mit Entdeckungsfußreisen vertreiben. Dabei entspinnen sich, während die Kamera Baulichkeiten des Mittelalters, Kühe und Hausgeflügel einfängt, heiter philosophische Zwiegespräche: Gerti: »Es ist mir noch nie aufgefallen, daß auch unter den Ochsen so große Köpfe sind.« Heinz: »Sie hören das Gras nicht wachsen – sie fressen es. « Oder: Heinz, beim Anblick von Enten: »Die berühmteste Ente ist die Zeitungsente.« Gerti: »Sehr beliebt ist auch die kalte Ente.« Heinz: »Ente gut, alles gut.« Oder: Heinz: »Es ist merkwürdig, aber schmutzige Tiere schmecken am besten: Gänse, Schweine – saubere Tiere gelten nicht als Delikatesse: Pferde, Hunde ...« Im ersten Teil der Serie hatte ein Handelsvertreter ein ähnlich romantisches Städtchen durchwandert, mit dem Unterschied, daß in diesem Fall die erbauliche Panne durch die Abwesenheit eines Kunden und der Tiefsinn durch einen Monolog verursacht wurde. Und in der dritten Folge,

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am 23. September, wird einem Bundesbahnreisenden der Zug davonfahren, wodurch auch er Gelegenheit erhält, die Reize eines romantischen Städtchens in sich aufzunehmen. So lernt der Fernsehzuschauer seine engere und weitere Heimat und Willy Köhlers Philosophie kennen. (Rabe: »Eine Philosophie, die vielleicht nicht immer hieb- und stichfest ist – aber welche ist das schon.«) Obzwar nicht alle, die mit Köhlers geistigem Wirken treuhänderisch zu schaffen haben, derselben günstigen Meinung sind (Filmhersteller Kauka: »So etwas wäre im Ausland unverkäuflich«), scheint sich die Masse der Konsumenten willig damit abzufinden. »Wir haben Hunderte von Zuschriften bekommen, und keine einzige war negativ«, versichert das hessische Werbefernsehen. So darf man es wohl nicht nur als unseligen Zufall betrachten, wenn demnächst, außer zwei weiteren Folgen von Ein schöner Tag in zwanzig Minuten, auch noch ein Köhler-Kurzfilm mit dem Titel Kleingeld macht glücklich gezeigt wird. Als Überbrückungshilfe, sozusagen. Denn im Januar setzt Frankfurt auf allgemeinen Wunsch die Serie Nachsitzen für Erwachsene fort. Bis dahin wird es für Telemann ein leichtes geworden sein, sich der Forderung eingangs erwähnter Wirtschaftslehrerin anzuschließen. Merke: »Vollendung ist Gotteslästerung« (Filmformulierer Willy Köhler am 16. September in einem Telephongespräch).

F e r n se h- H i n r i c h t u n g ( 1 1 / 1 9 6 0 ) »Niemand soll von einer Geheimjustiz verurteilt werden, und die Öffentlichkeit soll Vertrauen in die Unparteilichkeit und Wirksamkeit des Strafprozesses haben«, schrieb der Düsseldorfer Rechtsanwalt Dr. Anton Roesen, Hallstein-Verteidiger im Hallstein/Blankenhorn-Prozeß, am 20. Februar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Indessen ...«, schrieb er weiter, »wir haben im letzten Jahr Prozesse erlebt, in denen das Tribunal zur Szene gemacht wurde. Es gab Fernsehübertragungen aus Gerichtssälen, bei denen sich die Scheinwerfer im Zeitpunkt der Urteilsverkündung auf verurteilte Angeklagte richteten. Dergleichen verstößt ... gegen die Menschenwürde.« Anwalt Roesen griff damit einen Zankapfel auf, den der Hamburger Oberlandesgerichtspräsident Professor Herbert Ruscheweyh im Jahre 1954 mit dem tadelnden Bemerken herumgereicht hatte, Gerichtsverhandlungen seien »Zwiegespräche zwischen Richter und Angeklagtem« und somit »intime Vorgänge«. Wiederverkäufer dieser Frucht advokatorischen Mißmutes waren unter anderem der Rechtsanwalt Fabian von Schlabrendorff, der, nach den Fernsehberichten vom Loeffelholz-Prozeß, den Ausdruck »rechtsstaatlicher Exhibitionismus« münzte, der grimme

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Paul Wilhelm Wenger vom Rheinischen Merkur, der unter der Schlagzeile »Die Fernseh-Hinrichtung« die »Prozedur des technischen Prangers« attackierte, der Bundestagsabgeordnete Dr. Karl Kanka (CDU), der den TV-Kameraleuten attestierte, sie könnten »weder dem schutzwürdigen Interesse des Angeklagten noch dem Interesse der Öffentlichkeit an einer unbeeinflußten Verhandlungsführung in vollem Umfang gerecht werden«, sowie der nordrhein-westfälische Justizminister Flehinghaus, der die Argumente seiner Vor-Polemiker gebündelt und zum Tageskurs übernahm. Wie aber lauten die Forderungen der erzürnten Würdewahrer? Lauten sie etwa: Laßt bei Prozeßberichten mehr Feingefühl walten! Vermeidet indiskrete Großaufnahmen! Zeigt, wenn jemand zu Unrecht verurteilt wurde, auch den Freispruch im Revisionsverfahren! Geht nur zu solchen Verhandlungen, bei denen sich »Persönlichkeiten der Zeitgeschichte« zu verantworten haben! –? Nein. Sämtliche Herren erheben nur eine Forderung, und die heißt: Fernsehen raus! Immerhin ist man sich – mit Ausnahme des Hamburger Oberlandesgerichtspräsidenten – darüber einig, daß der 1848 in die »Grundrechte des deutschen Volkes« aufgenommene und seit 1877 in der Reichsstrafprozeßordnung enthaltene Rechtsgrundsatz der »Öffentlichkeit« noch gilt. Fragt sich bloß: Was soll man darunter verstehen? Die Antwort ergibt sich von selbst, wenn die Frage nach Zweck und Nutzen dieses Grundsatzes geklärt ist. Die Öffentlichkeit hat, wenn nicht das Gerichtsverfassungsgesetz ihren Ausschluß gebietet, die Rechtspflege zu kontrollieren. Und darum kann damit kaum etwas anderes als die »Wahrnehmbarkeit von Vorgängen für einen unbegrenzten Kreis von Personen« (Der Große Brockhaus) gemeint sein. Nicht das strickende Mütterchen auf der letzten Tribünenbank, nicht der Rentner, der sich die Mark fürs Kino sparen will, nicht der Jurastudent im ersten Semester – das Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird, soll darüber wachen, daß Recht geschehe. Dieses Volk aber ist plötzlich, dank der Erfindung der Braunschen Röhre, kein vager symbolischer Begriff mehr, sondern eine millionenäugige Realität. Wenn man also die demokratische Staatsform ernst nimmt, wie sie von ihren Erfindern gemeint war, dann sollte man die RetortenWiedergeburt des Things und des Forums dankbar begrüßen und nicht über Nachteile zetern, die jeder freiheitlichen Institution anhaften. »Technischer Pranger«? »Fernseh-Hinrichtung«? – Jeder, der heute freiwillig und je öfter je lieber das Interesse auf sich lenkt, wird zum »Bunten Hund«; dafür sind auch die landläufigen Ehrbegriffe etwas gröber gesponnen als früher.

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»Sensationelle Publicity«? – Was Tante Auguste im Gerichtssaal recht ist, sollte Tante Paula vor dem Fernsehschirm billig sein. Und die Gefahr einer »Erhitzung der Atmosphäre«, die von den Rausschmeißern so alarmierend im Munde geführt wird, dürfte nur so lange bestehen, bis unsere Rechtspfleger gelernt haben, auch im Scheinwerferlicht kühle Köpfe zu behalten. Natürlich ist eine symbolische Öffentlichkeit bequemer als eine wirklich vorhandene. Besonders in Fällen, wo die regierende Mehrheit erfahren muß, daß nicht eitel Schafe, sondern auch Böcke unter ihr weilen. Doch statt heimlich am alten Inquisitions-Zopf zu flechten, sollten die Phantom-Demokraten wenigstens den wichtigsten Vorzug einer FernsehGerichtsbarkeit zu würdigen wissen. Er besteht darin, daß sich angesichts des wachsamen Volkes die forensischen Umgangsformen zum Besseren wandeln. Nicht heute, nicht morgen, aber eines Tages mit Gewißheit. Und dann brauchen sich die Angeklagten und Zeugen ohnehin nicht mehr so »angeprangert« vorzukommen. Merke: »Alle Niedertracht der Öffentlichkeit ist gerade durch die Öffentlichkeit selber und allein durch sie korrigierbar.« (Karl Jaspers: Rechenschaft und Augenblick. Gefahren und Chancen der Freiheit.)

N ac h ts c h u b ( 4 1 / 1 9 6 0 ) Jeden Abend um 19 Uhr 59 geht im Deutschen Fernsehen dasselbe Ritual vonstatten: Die Bildscheibe verwandelt sich in ein Leuchtzifferblatt, der Sekundenzeiger stottert auf die Zwölf zu, wobei er Gelegenheit nimmt, grüblerisch veranlagten Zuschauernaturen die Flüchtigkeit allen irdischen Seins vor Augen zu führen – und pünktlich um 20 Uhr ertönt ein Gongschlag. Das Abendprogramm nimmt seinen Lauf. Dieser Vorgang, so alltäglich er sein mag, wirkt gleichermaßen auf Grübler wie auf Tatmenschen imponierend, zeugt er doch nicht nur von guten Beziehungen zur Sternwarte, sondern auch von Verantwortungsgefühl und Ordnungsliebe. Was immer man unserem Fernsehen Abträgliches nachsagen kann, eines müssen ihm selbst notorische Nörgler lassen: Es beginnt immer Punkt acht. Leider ist dies das einzig Pünktliche an ihm. Es vergeht nämlich kaum ein TV-Abend, an dem das nachfolgende Programm nicht »zeitverschoben« abrollt. Mal sind es dreizehn (23. September), mal zwanzig Minuten Verspätung (25. September), die auf rätselvolle Weise verursacht und nimmermehr eingeholt werden. Ja, das Zeitüberschreiten ist schon so weit zum Brauchtum herangediehen, daß Ansagerinnen mit reglosen Wimpern verkünden dürfen, das Abendprogramm ende »etwa gegen 22 Uhr 20«. Fehlt nur der Hinweis, daß auch

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die Anfangszeiten, die da vielerorts gedruckt stehen, nicht so ernst gemeint waren, daß sich der Konsument nun darauf versteifen sollte. Natürlich gibt es achtbare Verzögerungen; solche, die infolge olympischer oder weltpolitischer Ereignisse eintreten. Würde das Fernsehen hier auf Pünktlichkeit halten und darüber die Wichtigkeit verpassen, müßte man ihm stracks die Lizenz entziehen. Wie aber soll sich der Zuschauer Zeitverschiebungen erklären, die an gewöhnlichen, sprich: Filmkonserven-Abenden, stattfinden? Daß sich Zelluloid nicht beliebig dehnen läßt, ist bekannt. Ein Fernsehfilm muß also bei der Sendung noch die gleiche Länge haben wie bei der Programmplanung. Er kann höchstens reißen oder falsch eingelegt werden. Gegen solche Zwangspausen ist keine TV-Station der Welt gefeit. Bleiben als heimatliche Verzögerungsursachen einzig: die Umschaltung nach Berlin, die Damen vom Ansagedienst und unvorhergesehene Bereicherungen des Nachrichtenteils. Was die Berlin-Schaltpausen anbetrifft, so ist ihre überlange Dauer fernmeldetechnisch bedingt und kann daher schon bei der Planung berücksichtigt werden. Die Ansagerinnen sind im Gebrauch ihrer sprachkünstlerischen Ausdrucksmittel viel zu sparsam, als daß sich ihrethalben ein retardierendes Moment einschliche. Letzte Möglichkeit also: die Tagesschau. Wenn man in den Fernsehfunkhäusern Umfrage hält, ist sie die Schuldige, weil sie auch das Unerwartete bewältigen muß. So am 27. September den Aufruf der Frau Wilhelmine Lübke anläßlich des Weltkindertages, der eine Sendezeitverschiebung um acht Minuten bewirkte. Aber solches für wahr halten, hieße die Tagesschausteller Starke und Reiche verunglimpfen, die doch gewiß imstande sind, das Neueste vom Tage auf die korrekte Filmlänge zu stutzen. Oder ist die Frau Bundespräsidentin erst um Viertel vor acht in Hamburg-Lokstedt erschienen? Sie wirkte kein bißchen echauffiert. Nein, mit den Waffen der Vernunft ist diesem Rätsel nicht beizukommen; einem Rätsel übrigens, das auch den Programmdirektoren gelegentlich Verwunderung abnötigt. Doch jedesmal, wenn diese Verwunderung in Besorgnis umzuschlagen droht, sagen sie sich: Wen kümmern schon die paar überzähligen Minuten? Die Nacht ist lang! Das macht: In ihrer Vorstellungswelt existiert immer noch jenes aufnahmefähige Wesen, Zuschauer genannt, das sich in den ProgrammZeitschriften nicht Ziffern, sondern Bilder anguckt, und dem es egal ist, was auf seiner Bildröhre zappelt. Unter Fernseh-Neulingen mag diese Spezies noch anzutreffen sein. Alt-Abonnenten jedoch sind längst dazu übergegangen, Einzelsendungen auszuwählen. Und wer um 2l Uhr 10 einen Filmbericht über Afrika zu

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sehen wünscht, wird verdrießlich, wenn ihm zu eben dieser Zeit eine fortschrittliche Ballettstudie oder ein zeitverschobenes Restchen Maegerlein entgegenschlägt. Deshalb sollten die TV-Gestalter dem Verspätungs-Geheimnis auf den Grund gehen. Wenn möglich, noch heuer. Denn im Januar könnte die Kanzler-Television anheben und zur Folge haben, daß auch der dankbare Allesfresser erfahren möchte, zu welcher Uhrzeit diese oder jene Darbietung stattfindet. Und man weiß ja aus der Geschichte, mit wie wenig Selbstbeherrschung gerade die stumpferen Teile eines Volkes auf Enttäuschungen reagieren. Telemann macht den Vorschlag, die Zeitfehlerquelle einmal dort zu suchen, wo jegliche Sendezeit Minute für Minute festgelegt wird: bei der Ständigen Programmkonferenz. Vielleicht wäre dem Übelstand bereits gesteuert, wenn man den Mitgliedern dieses Gremiums ein paar Dienst-Uhren zur Verfügung stellte. Sie wären dann nicht länger auf grobe Schätzungen angewiesen. Merke: »Ein bißchen zu spät ist viel zu spät« (Volksmund).

L e k tr o - S c h o c k ( 2 / 1 9 6 1 ) Als unser Fernsehen noch im Stande der Unschuld, aber schon so stark entwickelt war, daß mit einer unziemlichen Liaison jederzeit gerechnet werden mußte, gab es Leute, die aus dem gefallsüchtigen Nymphchen partout eine Tempeljungfrau machen wollten. Den Künsten sollte es sich weihen, das Deutsche Fernsehen, forderten sie und wiesen ihm, Spalier bildend, den Weg zum Parnaß. Damals, als die Vokabel »fernseheigen« in Schwang kam und vielerorts geprüft wurde, inwieweit das »neue Medium« ungeahnte Stil- oder Ausdrucksformen zu zeitigen fähig sei, erhob sich auch die Frage: Gibt es eine Fernseh-Kunst? Bietet die Elektronenröhre Musenkindern die Möglichkeit, auf eine besondere, nirgendwo anders denkbare Weise zu wirken? Doch soviel man herumrätselte und forschte – die Antwort hieß: nein. Doch als das Fernsehen die Allee aus erhobenen Zeigefingern weit hinter sich gelassen hatte und die ersten Annehmlichkeiten einer öffentlich-rechtlichen Gunstbuhlschaft genoß, zeigte es plötzlich, zwischen Quiz und Quakelei, daß es sehr wohl etwas kann, was Film, Hörfunk und Bühne nicht können: Es kann aus hundert Tuschzeichnungen, zehn Seiten Text und ein paar Takten Musik ein Kabinettstück jenes SchmunzelHumors fertigen, das hierzuland, wo man schon Mühe hat, das Gebräuchliche komisch zu finden, Erstaunen verursacht – kurzum, das »Medium Fernsehen« kann Lektro-Geschichten erzählen.

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Der Lektro, Held einer TV-Bilderbuchserie, ist ein kleiner Mann mit Nickelbrille, übergroßer Dienstmütze, Hängeschultern und einem Lächeln, das von Pflichterfüllung, Untermiete und Malzkaffee kündet. Er lebt und läuft mit der Masse, weil er anders nicht Bankpförtner noch Lötstellenkontrolleur sein könnte, kommt aber, während er »schönen Gedanken« nachhängt, ständig mit den Institutionen der Massen-Ordnung in Konflikt. Der Ton, in dem die Geschichten erzählt sind, ist entweder kunstvollnaiv (»Was die Jagd in den Wäldern so schwierig macht, sind die Bäume«) oder von hauchzarter Boshaftigkeit (»Sie sangen und schunkelten und waren unter sich, aber wenn Autos an ihnen vorbeifuhren, erkannten sie an den Nummern, daß sie in einem fremden Lande waren«). Texte und Zeichnungen stammen von dem 30-jährigen Münchner Graphiker Reiner Zimnik, die Musik schrieb Rolf Wilhelm, produziert wurden die Fernsehkunst-Stückchen in München-Freimann. Das Echo, das aus dem bundesdeutschen Antennenwald hervortönte, erreichte in drei Lektro-Jahren niemals die Phon-Zahl, die ein fortschrittlicher TV-Direktor mit Unterhaltungssendungen zu erzielen wünscht. Indes, Dr. Clemens Münster ließ sich weder durch Umfrage-Ergebnisse noch durch postalische Unmutsäußerungen beirren. Eines Tages im Advent jedoch, bald nachdem das sechste von acht geplanten Lektro-Erlebnissen ausgestrahlt war (Von einer Omnibusfahrt nach Italien, 5. Dezember), ging der Hauptabteilung III wie auch der Unterabteilung »Unterhaltung« eine Hausmitteilung zu, worin zu lesen stand: Reiner Zimnik dürfe in beiden Abteilungen bis auf weiteres nicht mehr beschäftigt werden. Begründung: Die letzte Sendung habe gezeigt, daß man einen so begabten Mann nicht mit Fernseh-Aufträgen überhäufen dürfe, weil dies die Qualität seines Schaffens mindere. Unterschrieben: Clemens Münster. Möglich, daß dem bayrischen Fernsehdirektor Zimniks letztes Schmunzelwerk derart mißfallen hat, daß er, in heiligem Gralsritterzorn, das Musenkind mit dem Bad ausschüttete. Möglich. Es könnte aber auch sein, daß Dr. Münsters künstlerischer Bekennermut schon so tief gesunken war, daß er weiteren Umfrage-Unbilden nicht länger Trotz bieten wollte. Ist doch der Entschluß, den »Kleinen Mann mit der Mütze« vom Bildschirm zu verbannen, ein populärer Entschluß. Aber darf ein Fernsehdirektor solche Entschlüsse fassen? Darf er die wenigen Eilande, die noch – in Sieben-Meilen-Abständen – aus der Programm-Trübnis herausragen, preisgeben, bloß weil Gevatter Fernsehverbraucher sich darauf nicht heimisch fühlt?

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Wenn unsere TV-Obrigkeit der Zuckerwasserflut, die da, aus demoskopischen Quellen gespeist, höher und höher steigt, nichts anderes entgegenzusetzen weiß als ihren lauteren Charakter und das regionale Rundfunkgesetz, wird dieses geschehen: Gevatter und Gevatterin werden selbander vor der Röhre sitzen, und nichts, aber auch gar nichts mehr wird sie verdrießen oder in Befremdnis versetzen. Die Welt, die tagtäglich in ihr Heim kullert, wird doppelt so rund sein wie ehedem. Kein Ausdruck wird fallen, der nicht zum Mindestpensum einer Hilfsschule gehört; kein heißes Eisen wird so heiß angefaßt werden, wie es aus der Esse kommt. Nie mehr werden sie abschalten und murren müssen: »Das ist nichts« oder gar: »Das ist zu hoch für uns«. Nicht einmal dann, wenn etwas Lustiges gesendet wird. Abschalten werden nur noch jene, die einst den Lektro ergötzlich fanden. Aber wer fragt schon danach! Merke: »Dem Individuum ist nicht zu helfen« (Nietzsche, Die Unschuld des Werdens).

N ac h tg e d a n k e n ( 1 3 / 1 9 6 1 ) Das deutsche Fernsehprogramm unterscheidet sich von anderen Hilfsquellen der Zerstreuung nicht zuletzt darin: Wenn man glaubt, es sei zu Ende, dann kommt noch was. Meistens ein bißchen Sport oder, wenn es die Saison bedingt, ein Scherflein Brauchtumspflege. Am 13. März aber kam um 22.47 Uhr noch die Kriminalsendung Das Kartenspiel von Reginald Rose. Sendeschluß: 0.20 Uhr. »Meine Damen und Herren«, fädelte die WDR-Ansagerin Mady Manstein mit geübter Zunge ein, »wir haben für die Sendung des Spiels deshalb diese späte Stunde gewählt, weil wir es außerhalb des üblichen Abendprogramms zur Diskussion stellen wollten.« Und sie erläuterte: Rose, der Autor des Erfolgsstückes Die zwölf Geschworenen, habe Einblick in die seelischen Gefährdungen geben wollen, denen der Mensch dieser Zeit ausgesetzt ist. Ein neuer »Fall Lysistrata«? dachte Telemann erschrocken. Da saßen fünf ausgereifte Herren beim Poker und ließen durchblicken, daß sie a) Kreisen der Industrie, der Justiz und des Zeitungsverlagswesens angehörten und daß ihnen b) weder das Pokern noch das Roulettspiel, ja, nicht einmal mehr Pferdewetten jenen Nervenkitzel verursachten, auf den der moderne Erfolgstyp Anspruch hat. Ausweg aus dem Dilemma: ein »Mord mit moralischer Rechtfertigung«. Nach fruchtloser Erörterung der Frage, ob wohl heute irgendwo ein schlechter Mensch lebe, dessen Ermordung der Allgemeinheit Segen

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brächte, beschließen die Fünf, einen guten Zeitgenossen umzubringen. (»Wenn ihr einen Bösen tötet, tritt vielleicht ein anderer an seine Stelle. Tötet ihr aber einen Guten, dann steht die Gesellschaft auf, um das Böse auszurotten, gegen das er gekämpft hat.«) Vorgesehenes Opfer: ein achtzigjähriger Erzieher von internationalem Ruf. Vorgesehene Tatwaffe: ein Klappmesser, das den Verdacht auf die halbstarke »Jupiter-Bande« lenken und damit einen Kreuzzug zum Heil entarteter Teenager möglich machen würde. Indes, der auserkorene Märtyrer fällt nicht den Poker-Philanthropen, sondern eben jener bösen Halbstarken-Bande zum Opfer. Eine überraschende Schicksalsfügung, die Rose den »Lauf der Geschichte« nennt. All dieses stand, dank dem Sender Köln, nachts um halb eins zur Diskussion. Telemann hätte liebend gern diskutiert, aber er wollte niemanden wecken. So blieb ihm einzig die Meditation. Wie er so vor sich hin grübelte und die seelischen Fährnisse des Wohlstands ins geistige Auge faßte, entdeckte er seltsame Parallelen: Auch er, Telemann, hat sein geregeltes Auskommen, zieht ab und an den Wert alles irdischen Seins in Zweifel und macht sich nicht viel aus Pokern. Folglich wäre auch für ihn ausreichend Anlaß zu einer gemeinnützigen Greueltat gegeben. Natürlich nicht auf weltpolitischer Ebene, sondern im bescheidenen Rahmen seines Wirkens als TV-Kolumnist. Also fragte er sich: Welcher Fernsehschaffende ist so schlecht, daß sein vorzeitiger Hinschied dem Gemeinschaftsprogramm zum Nutz gereichte? – Doch bei jeder Fachkraft, die ihm durch den Sinn fuhr, fielen ihm gleich drei andere, genau so schlechte ein, die den frei gewordenen Platz frohmütig einnehmen würden. Nein, die fünf Kartenspieler hatten ganz recht – ein guter TVMensch muß das Martyrium auf sich nehmen. Aber wer? Gälte der Begriff »gut« hier im ethischen Sinne, könnte das Opfer nur Heinz Maegerlein heißen. Doch die Vorstellung, gerade ihn mit einem Klappmesser zu fällen, verursacht Pein. Sein verzeihendes Quizmaster-Lächeln würde einen noch tagelang verfolgen. Da ist es wohl zweckvoller, man hält sich an den Beliebtesten und schlachtet Dr. Grzimek oder Hans-Joachim Kulenkampff hin. Auf daß im Fernsehvolk Aufruhr entstehe und angestauter Mißmut sich in umstürzlerischen Zorn verwandle. Schon wollte Telemann listig einen Mordplan ausbrüten und dabei den Anschein erwecken, als handele es sich um einen Racheakt des Bundesinnenministers Schröder, da raunte ihm sein Gewissen zu: Wenn jemand Blutzoll entrichten soll, dann kein Unschuldiger, sondern der WDR-Fernsehdirektor Dr. Lange.

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Der nämlich hatte befohlen Das Kartenspiel mitternächtens auszustrahlen, damit derjenige Teil unserer reifenden Jugend, der bis 22.30 Uhr vor der Röhre zu weilen pflegt, sich im zahlungsfähigen Alter nicht mit Mordabsichten trägt. Und was hat er bewirkt? Zweierlei. Er hat eine harmlose Denkspielerei zu einer Bedeutung aufgeblasen, die ihr zu normaler Sendezeit nicht einmal Sextaner beigemessen hätten. Und er hat gezeigt: Die moralpädagogische Überängstlichkeit in unseren TV-Funkhäusern nimmt bereits Formen an, die befürchten lassen, daß uns Ungewöhnliches bald nur noch zur Geisterstunde ins Haus geschickt wird. Nachtschwarze Gedanken, die da aus Telemanns Gemütsabgründen emporstiegen. Aber wozu sonst sollte ein friedfertiger Scheibenbeschauer schlaflos im Flackerlicht heranwuchern, wenn nicht zum Ungeheuer? Merke: »Man soll aber nichts vom Schlafe wecken, was, wenn es wacht, nur bringet Schrecken« (Johann Fischart).

B e r l i tz - S c h u l f u n k ( 1 6 / 1 9 6 1 ) Für wen produziert eigentlich das Deutsche Fernsehen? Wenn man’s oberflächlich betrachtet: für jenes Drittel der Bundesbevölkerung, das sich tagaus, tagein um fünf Millionen Bildröhren schart, und das, will man dem Allensbacher Institut für Meinungsforschung Glauben schenken, zu 76 Prozent aus Volksschul-Absolventen besteht. Sieht man jedoch genauer hin oder besitzt, wie Telemann, die Gabe, TV-Verantwortlichen tief in den Herzensgrund zu blicken, so entdeckt man: Nicht 76, sondern 24 von hundert Zuschauern machen das Berufsleben eines Fernsehanstaltsdirektors erst richtig lebenswert – weil nach Ansicht der Demoskopen nur diese Minderzahl über eine mittlere (18 Prozent) oder gar höhere (sechs Prozent) Schulreife verfügt. Gäbe es nicht in jedem Sendebereich so ein Quentlein gymnasialer Erinnerungsreste – wer wollte da noch länger im Funkhaus sitzen und sich mit Steinen bewerfen lassen! Sooft Telemanns Phantasie Blasen treibt, stellt er sich den Ablauf einer »Ständigen Programmkonferenz« vor. Und zwar dergestalt: Da sitzen sie sinnend beisammen. Monat für Monat. Der Koordinator Dr. Mohr, der Sub-Koordinator Robert Lembke und sämtliche Ritter und Knappen der Tafelrunde. Und vor ihnen steht, vom Lichte öffentlichrechtlicher Verantwortlichkeit überstrahlt, das gebündelte Bildungsgut des Okzidents.

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Zuerst wird mit spitzen Ästhetenfingern jegliches niedere Blendwerk beigeordnet; die Lehár-Operette, die Kriminalserie, der Schabernack ausschwitzende Joachim Fuchsberger. Und nicht überhebliche Geringschätzung ist’s, was dabei um der Gralshüter Mundwinkel huscht, sondern vatergütige Nachsicht. Kaum aber ist das Leidige erledigt, geht ein schaffensfrohes Fiebern durch den Rittersaal. Gilt es doch, nunmehr im Spielplan all die Kostbarkeiten unterzubringen, ohne die das TV-Volkswohl ins Arge geriete: die Weltraumoper, den Dokumentarbericht von den Wundern des Glases, die in ferne Zukunft weisende Ballett-Impression. Denn wisse, in unseren Anstaltsgebäuden waltet keine Führungskraft, die nicht wenigstens ahnte, was man einer Notgemeinschaft alles zumuten kann, wenn das Rundfunkgesetz die Kulturpflege erheischt. Bislang umfaßte der Fortbildungsplan vornehmlich naturwissenschaftliche oder solche Fächer, die dem Eleven allenfalls ein gewisses Maß an musischer Unerschrockenheit abverlangten. Doch seit dem 10. April kann, wer sein Programm bis zur Neige auskosten will, profunder Spezialkenntnisse nicht länger entraten. »Soldier, Soldier – Television Play by John Arden«, stand unter diesem Datum auf dem Programmzettel, »produced by Stuart Burge; Settings by Norman James; Music by The Happy Wanderers Jazz-Band.« Und schließlich: »Eine Aufzeichnung der BBC London in der Originafassung.« »Das Spiel bekam den Preis der Stadt Triest 1960. Da haben wir uns gedacht, es könnte vielleicht einen Teil des Publikums interessieren«, erläuterte NDR-Dramaturg Kozuszek biederherzig. Und als Telemann wissen wollte, warum man denn von der bewährten Übung abgekommen sei, fremdsprachige Wechselreden ins Deutsche zu übertragen, erfuhr er: Kinoübliche Untertitel seien auf dem kleinen Bildschirm unleserlich; eine Synchronisation wäre, da das Stück zum Teil in Versen geschrieben sei, »eine fast unlösbare Aufgabe« gewesen; und überhaupt habe man die Sendung doch für 22.05 Uhr angesetzt, woraus allein schon erhelle, daß es sich um eine typische »Nachtstudio«-Darbietung handele. Nichts gegen den Norddeutschen Rundfunk – er bekam die preisgekrönte BBC-Importe von der Arbeitsgemeinschaft aufgehalst. Wenig gegen den Einwand, daß es Lichtspiel-Erzeugnisse gibt, die sich nicht ohne Qualitätseinbußen verdeutschen lassen. Aber eine Menge gegen diesen ersten Versuch, unter der Tarnbezeichnung »Nachtstudio« eine Art Berlitz-Abendschulfunk ins Leben zu rufen. Mag sein, daß ein »Teil des Publikums« dem Schicksal des originalschottischen Füsiliers Augen- und Ohrenmerk widmete (wohl kein sehr beträchtlicher Teil, wenn man bedenkt, daß nicht einmal jeder, der in der

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Schule gut aufgepaßt hat, fähig ist, angelsächsische Poesie zu würdigen). Möglich auch, daß die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten, im Blütenkleide ihrer Unschuld wandelnd, die neu philologische Versuchsreihe fortzusetzen wünscht. Hat doch Sub-Koordinator Lembke erst jüngst einen »internationalen Programmaustausch« geweissagt. Sicher ist jedenfalls, daß sich das Deutsche Fernsehen des Monopol-Mißbrauchs schuldig gemacht hat. Was kann man von einer Institution, die Millionen informieren und unterhalten soll, mit Fug verlangen? Daß sie sich liebedienernd der Mehrheit unterordnet, den Elektronenblick starr aufs UmfragetestErgebnis geheftet? Gewiß nicht. Wo kommerzielle Rücksichten wegfallen, gebührt auch Minderheiten ein Anteil am Gemeinschaftsprogramm. Eines jedoch kann und muß man verlangen: daß unsere TVFachkräfte auch ihr Abseitiges, Ungewöhnliches, Gewagtes, kurz, ihr Nachtstudiopflichtiges nur in den Äther funken, wenn sie annehmen, daß jeder intelligente Mensch mit Volksschulbildung es versteht. Widrigenfalls hätten sie den Sinn ihres pädagogischen Wirkens tragisch verkannt und allen Grund, ihr Lehramt niederzulegen. Merke: ToȨ µȘįȑȞ ȐȖĮȞ (Euripides Hippolytos, Vers 265, Amme).

G e m i sc h te s D o p p e l ( 1 9 / 1 9 6 1 ) »Kontrast« kommt aus dem Lateinischen und heißt »auffälliger Unterschied« oder »Gegensatz«. »Programm« kommt aus dem Griechischen und heißt »Öffentlicher Anschlag« oder »Vortragsfolge«. Beides zusammen kommt aus den Gehirnen deutscher TVFührungskräfte und wird laut Ministerpräsidentenbeschluß, bis übers Jahr unsere Heimempfänger erleuchten. Soweit herrscht einige Gewißheit. Damit aber auch Klarheit herrsche, machte Telemann einen repräsentativen Querschnitt durch die Fernseh-Oberleitung und richtete an sechs Amtsherren die Meuchelfrage: »Was verstehen Sie unter einem Kontrastprogramm?« Pfeilgeschwind kamen die Antworten. Werner Hess, Fernseh-Programmdirektor des Hessischen Rundfunks: »Bei einem Massenmedium, das 15 Millionen Menschen versorgt, gibt es immer 7,5 Millionen, die mit dem Gebotenen unzufrieden sind. Wir wollen versuchen, diesen Unzufriedenen einen echten Kontrast zu dem zu bieten, was im Ersten Programm gezeigt wird. Also etwa: Kurt-WesselGespräch – Spielfilm, oder: schweres Fernsehspiel – Peter Frankenfeld.«

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Dr. Hans Bausch, Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten: »Ich werde mich hüten, Ihnen etwas zu sagen. Dazu sind im Augenblick meine Erfahrungen mit Ihnen zu schlecht.« (Betrifft SPIEGEL 17/1961, Seite 95.) Robert E. Lembke, Stellvertretender Fernseh-Koordinator: »Unter einem Kontrastprogramm verstehe ich nicht ein Programm, das von der Form des Ersten abweicht, sondern eins, das einen anderen Zuschauerkreis anspricht. Nicht die Rubriken sollen kontrastieren, sondern die Inhalte. Sonst werden diejenigen, die beide sehen möchten, hin und her gerissen. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß zwei Fernsehspiele einen Kontrast bilden. Zum Beispiel Millowitsch – ›Nashörner‹.« Walter Steigner, Intendant des Senders Freies Berlin: »Ein Kontrastprogramm nimmt Rücksicht auf die Bedürfnisse der Zuschauer. Wer leichte Kost haben will, bekommt etwas Leichtes, wer anspruchsvoll ist, etwas Anspruchsvolles.« Dr. Hans Arnold, Programmdirektor des Norddeutschen Rundfunks: »Ich bin der Meinung, daß man nicht jede Viertelstunde kontrastieren lassen sollte, sondern nur die Tage. Das heißt, wenn der Donnerstag im Ersten Programm für den Spielfilm reserviert ist, sollte man auf dem anderen Kanal ein unterhaltsames Nummernprogramm zeigen. Nicht in Gegensatz stellen sollte man zwei Sparten, die in puncto Beliebtheit obenan stehen, und auf keinen Fall dürfen zwei Spaßmacher miteinander konkurrieren.« Christian Wallenreiter, Intendant des Bayrischen Rundfunks: »Unter einem Kontrastprogramm verstehe ich: Abwechslung.« So gibt es denn, sondert man die demoskopische Spreu vom Weizen, zwei Meinungsgruppen. Die eine stützt sich lässig auf ihre guten Erfahrungen mit dem UKWHörfunk und möchte das Gesamtprogramm auf zwei Platten angerichtet sehen: Hie Wort, hie Musik. Oder: Hie Spaß, hie Ernst. Wobei sie außer acht läßt, daß das weltumspannende Radio auch ohne UKW-Zusatz schon recht abwechslungsreich war. Die andere Gruppe will, daß die Kontrastbildner, bevor sie über das Sendeprodukt disponieren, zuerst die Abnehmerschaft teilen. Etwa in Anspruchsvolle und Leichtkostgänger, Musikalische und Unmusikalische, Humorlose und Witzbegabte, Schöngeister und Banausen ... hier sind der Funkbeamtenphantasie keine Grenzen gesetzt. Und weil es ja nicht zwei gleich große Zuschauer-Teile sein müssen, die doppelzüngig angesprochen werden, wäre man obendrein um eine Ausrede reicher. Denn was immer ein Sender an Sonderbarem hervorbringen mag – es wird allzeit ein Häuflein Käuze und Masochisten geben, das dergleichen herunterwürgt und auf dessen Dankbarkeit die Intendanz rechnen kann.

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Nun will es aber das Fatum, daß auch der Abonnent Unterscheidungen trifft. Und zwar unterscheidet er zwischen Sendungen, die ihn erfreuen und solchen, die ihm Ärger bereiten. Im letzten Fall möchte der Opernfreund von La Boheme zum Bericht über Indonesien, und der Quiz-Liebhaber von Frankenfelds Fiasko zu Schillers Fiesco überwechseln können, ohne sich abermals erbosen zu müssen. Von dieser Art Gegensatz freilich war bei allen Diskussionen schon darum nie die Rede, weil unser Fernsehen die Früchte seines Fleißes allenfalls thematisch, nicht aber qualitativ für umstreitbar hält. Doch selbst wenn jählings Demut einzöge in die Herzen der TVLenker, oder wenn es möglich wäre, die Sendezeiten beider Netze aufeinander abzustimmen – ein »Kontrast-Programm«, wie es sich der Zuschauer vorstellt, läßt sich auf dieser unzulänglichen Welt weder herbeidiskutieren noch planen. Deshalb sollte man die liebgewordene Sprachschöpfung schleunigst im Aktenschrank unter der Rubrik »Kuriositäten« verstecken und allen Wetteifer darauf richten, uns auf jedem Kanal so gut und so abwechslungsreich wie möglich zu bedienen. Ohne auf die Kontrast-Farb-Skala zu schielen. Damit wir, die wir uns nur ungern in Geschmacks-Pferche scheuchen lassen, das Erste und das Zweite Programm für eine »Vortragsfolge«, nicht aber für einen »öffentlichen Anschlag« halten. Merke: »Wer fühlt, daß er als Satz nichts gelten kann, der will als Gegensatz sich wichtig machen« (Ernst Raupach, Die Hohenstaufen).

Abend-Schule (22/1961) Dante Alighieri hatte es leicht. Er berichtete über ein Inferno, das noch keines Menschen Auge schauen mußte. Das Deutsche Fernsehen aber hatte es schwer. Denn seine 14teilige Dokumentarserie Das Dritte Reich konnte von Millionen Zeitzeugen nachgeprüft werden. Sieben Monate lang haben die Sender Köln und Stuttgart ihre Urkunden, Karikaturen, Plakate, Photographien, Tonbänder, ihre 8000 Meter Schmalfilm in den Äther geschickt, haben die Sendungen um den Eichmann-Prozeß, die unversehens die Gefahr einer Überdosierung des Grauens heraufbeschworen, wacker durchgestanden – und nun wartet am Ende des bestbesuchten Geschichtsunterrichts der deutschen Geschichte die Frage: War’s der vielen Mühe wert? Die Antwort wurde bereits auf demoskopischem Wege erteilt. Sowohl der Posteingang beider Sender wie auch die Umfrage-Ergebnisse von »Infratest« lassen erkennen: Von den sechs bis acht Millionen Zuschauern, die je Unterrichtsstunde vor der Bildröhre saßen, waren mehr

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als zwei Drittel für die Aufführung dankbar. Nur etwa sieben Prozent äußerten sich gänzlich abfällig oder vermerkten hämisch, daß sie die Sendungen als liebe Erinnerung gewertet hätten. Häufig wiederkehrendes Sonderlob: Das Deutsche Fernsehen sei während der ganzen Lektion »sehr objektiv« gewesen. »Wir waren bemüht, uns charakterlicher Werturteile zu enthalten«, bestätigt Heinz Huber, der Leiter der Stuttgarter Redaktion. »Es ging uns einfach darum, einen möglichst umfassenden, zuverlässigen und sachlichen Bericht zu geben.« Nur dreimal, gesteht er, sei das selbstauferlegte Gebot vorsätzlich durchbrochen worden: in der Frage der Judenverfolgung, bei der Schilderung des deutschen Widerstandes, und als es darum ging, Hitlers angebliche Verdienste unter die Lupe zu nehmen. Gerd Ruge, Leiter der Kölner Redaktion: »Wir wollten zeigen, daß die positive und die negative Seite der Nazizeit ein und derselbe Apfel sind.« Aber da war noch ein anderer Grund, warum es das Deutsche Fernsehen schwer hatte. Wohl standen ihm bedrucktes Papier, belichtetes Zelluloid und gelehrte Ratgeber in Fülle zur Verfügung. Doch wie sich bald herausstellte, weder ein Carlyle noch ein Ranke. Das Braune Jahrzwölft hat bislang keinen Deuter gefunden, auf dessen Standardwerk sich eine TVRedaktion vertrauensvoll stützen könnte. Die Hitler-Biographie von Alan Bullock, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs von General von Tippelskirch – viel mehr Hilfe war nicht zu erhoffen. (Ruge: »Es gibt noch nicht einmal ein Zentralarchiv des deutschen Widerstandes. Jede Gruppe stellt nur sich selbst dar.«) Deshalb mußten die Dokumentierer tun, was gar nicht ihres Amtes war: Sammeln, sichten, sondieren, kurz, sie mußten das Geschichtsbuch, das sie eigentlich nur hatten illustrieren wollen, erst schreiben. Und weil sie nicht das Recht des zünftigen Historikers in Anspruch nehmen konnten, das da lautet: »Über Geschichte soll man dichten« (Spengler), kamen sie oftmals in Bedrängnis. Zum Beispiel bei der 13. Sendung (Der Anfang vom Ende), wo es Hitlers passives Verhalten während der ersten Stunden der Frankreich-Invasion zu erklären galt. Jetzt weiß es die Nachwelt für allemal: Er hat geschlafen. Gerd Ruge: »Manches war nur unter größten Schwierigkeiten historisch zu belegen.« Das also war das Dritte Reich, sagen nun Kinder und Kindeskinder mit immer noch fragenden Blicken. Und wen so ein Blick getroffen hat, der muß ehrlich antworten: Natürlich nicht.

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Denn was gibt eine Epoche schon preis, die zu dicht ans Heute grenzt? Stapel von Bild- und Wortkonserven, Zeugnisse, die der Zufall anschwemmte oder die Pedanterie in Verwahrung hielt. Genug für den, der’s miterlebte, zu wenig für solche, die’s nacherleben oder wenigstens begreifen möchten. Wirkungen lassen sich in aller Schauerlichkeit demonstrieren. Aber was Geschichte erklärlich macht, bleibt Kamera und Mikrophon verborgen. Das »Ja« im Berliner Sportpalast auf die Goebbelsfrage »Wollt ihr den totalen Krieg?« kann heute noch jeder hören, denn ein Tonband hat es festgehalten. Doch verstehen kann es nur, wer wenigstens einen Hauch vom »Lebensgefühl« dieser Jahre verspürt hat; wer einmal in jene massen-magische Dunstglocke geriet, unter der sich auch ein Doppelkinn plötzlich markant vorkam. Dergleichen kann man nicht konservieren. Und weil man es nicht kann, werden auch fürderhin Fragen offenbleiben. Und wenn Optimisten meinen, man brauche künftigen Generationen bloß das 14teilige Dritte Reich vorzuführen, und schon seien sie gegen alle Tyrannenränke gefeit, so ist das leider ein Irrtum. Aber daran sind nicht die Sender Köln und Stuttgart schuld. Ihnen sei bescheinigt: Sie haben endlich gezeigt, daß Fernsehen mehr sein kann als Theater-Ersatz, Haus-Kino oder Idioten-Blickfang; daß es, wenn es will, gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen vermag, die kein anderes Instrument der Publizistik meistert, und daß man doch wohl nicht jedes Mal rot zu werden braucht, wenn man vor der Bildscheibe ertappt wird. Denn merke: Ausführlicher, anschaulicher und lebendiger als in dieser Dokumentarserie läßt sich Geschichte für Laien nicht darstellen.

D i e to t e n S e e l e n ( 3 0 / 1 9 6 1 ) Daß im menschlichen Dasein alles Wichtige »durch Röhren getan« wird, hatte schon Georg Christoph Lichtenberg erkannt. Zum Exempel führte er die Schreibfeder, das Schießgewehr und eine Einzelheit der männlichen Anatomie an. Wir Spätergeborenen dürfen ergänzend zufügen: das Fernsehprogramm. Welche Bedeutung, ja Lebensnotwendigkeit gerade diesem Röhrenprodukt eignet, läßt sich an den Emotionen derer ablesen, die des TeleGenusses nur in spärlichem Maße oder in unerwünschter Weise teilhaftig werden. Da beklagte sich unlängst der Deutsche Hausfrauen-Bund (150 000 Mitglieder) darüber, daß die Hüterin des bundesrepublikanischen Herdes vom Fernsehen »stiefmütterlich behandelt« werde, und forderte die

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Gründung einer TV-Frauenhochschule, mit den Lehrfächern Babypflege, Kindererziehung, Gymnastik, Körperpflege, Kosmetik, Rechtsfragen des Alltags, Marktforschung und Innenarchitektur. Da bekundeten 340 von 350 befragten Münchner Hausfrauen, daß die wenigen Sendungen, die sich mit ewigweiblichen Obliegenheiten befassen, zu jener ungünstigen Stunde (17 bis 18 Uhr) stattfänden, wo es den heimkehrenden Gatten zu begrüßen oder die Schulaufgaben der Kinder zu überwachen gelte. Und da forderte die Industriegewerkschaft Metall, das Fernsehen solle doch für die 255 000 Eisen- und Stahlarbeiter, die in Wechselschichten schlafen und daher nicht regelmäßig zuschauen können, die wichtigsten Abendsendungen (Tagesschau, »wertvolle Kulturprogramme«) am folgenden Vormittag zwischen 10.30 und 12.30 Uhr wiederholen. Woraufhin der evangelische Pressedienst Kirche und Fernsehen auch der Branchen »Bergbau und Energie«, »Druck und Papier«, des Gaststätten- und Hotelgewerbes, des Verkehrswesens, der Krankenpflege, der Polizei, der Versorgungsbetriebe und schließlich der Theater-Garderobefrauen und Kino-Platzanweiserinnen statistisch gedachte. Endsumme aller, die da geistig brachliegen: 700 000 Seelen. Noch zaudert die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten, den Vormittag zur Hausschuhzeit zu machen; ungeachtet des Umstands, daß der Deutsche Fernsehfunk (Ost) seit längerem ein »Spätarbeiterprogramm« (10 bis 13 Uhr) gen Äther schickt. Noch jammert sie, daß sie zuwenig Geld und Personal habe. Aber im September soll ja ohnehin das Versuchs-Schulfernsehen anheben, und da wird es ihr auf ein paar Vormittagsstunden nicht mehr ankommen. Zumal doch auch die 250 Petervon-Zahn-Darbietungen, zu denen sich der Westdeutsche Rundfunk verpflichtet hat, irgendwie untergebracht werden müssen, sollen die FeatureAbteilungen anderer Stationen nicht jahrelang der Muße pflegen. Noch ein Kurzes mithin, und das ganztägige Fernsehen, wie es in höher zivilisierten Ländern längst der Brauch ist, wird auch bei uns statthaben. Und das ist gut so. Liegt doch schon genügend Ungerechtigkeit darin, daß der TV-Konsument nicht beide Abendprogramme auf einmal wahrnehmen kann oder daß Kinder, die nachmittags schwimmen gehen, die Abenteuer des Hundes Lassie versäumen müssen. Wenn jedoch allerwärts Forderungen erhoben werden, warum nicht noch einen Schritt weiter tun und der vollkommenen, der lückenlosen Television das Wort reden – und zwar zugunsten eines Zuschauerteils, der sich weder gewerkschaftlicher noch kirchlicher Stützung erfreut? Telemann möchte sich zum Fürsprech jener Minderheit aufschwingen, die an akuten oder chronischen Schlafstörungen (Agrypnie) leidet:

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Melancholiker, Examenskandidaten, bangende Ehefrauen, Mißbraucher von Genußmitteln, dazu die stattliche Anzahl derer, die zum Abendbrot Schweres gegessen haben. Sie alle müssen bis heute eingebildete Schafe zählen, Zuckerwasser trinken, feuchte Wadenwickel machen oder, wenn all dies nichts fruchtet, sich schmökernd auf dem Lager wälzen. Hier könnte das Deutsche Fernsehen leicht Abhilfe schaffen, indem es von 23 Uhr bis, sagen wir, 7 Uhr ein Nichtschläfer-Spätprogramm aussendet. Wobei es sich ungeheuer günstig trifft, daß die IG Metall ja nur die wertvollen und wichtigen TV-Beiträge wiederholt haben möchte. Die Sendeleitung hätte also, bevor sie nach Hause geht, das Sehenswerte beiseite zu legen und alles übrige, zwecks Wiederausstrahlung, einem Sozialrentner anzuvertrauen, der sich ein bißchen was nebenher verdienen will. Auf solche Weise blieben die Unkosten gering, und es würde endlich auch das weniger wichtige TV-Schaffen gewürdigt werden können. Ob die Zahl der im Bundesgebiet lebenden Schlaflosen den Aufwand rechtfertigen würde? Nun, wenn IG Metall und evangelischer Pressedienst rechnerisch unterstellen, daß es nahezu einem Achtel aller Abonnenten jahraus, jahrein am Nötigsten, dem TV-Programm gebricht, (statt sich zu sagen, daß es ja nicht immer dieselben 700 000 sind, die da Nachtdienste leisten), und wenn es, um begreifliche Sonderwünsche in himmelschreiende Notstände zu wandeln, nur einiger Statistik bedarf, dann will auch Telemann seiner Forderung Gewicht verleihen: Nach gewissenhaften Erhebungen beträgt die Zahl seiner schlaflosen Schützlinge je Nacht 1 934 561. Bitte nachzuzählen. Merke: »Und fuße nicht auf dem, wovon du kein Wissen hast ...« (Koran, 17).

H al tu n g : S c hw e i f e n d ( 4 7 / 1 9 6 1) Das ist das Praktische an einem Fernsehapparat: Man kann ihn überall aufstellen, wo man will. Wenn es sein muß, sogar in der Schule. Ob es sein muß, darüber herrschte in bundesdeutschen Pädagogenkreisen lange Zeit Disharmonie. Der fortschrittlichere Teil des Lehrkörpers machte auf die guten Erfahrungen in Amerika, England, Schweden und Frankreich aufmerksam und bekannte freimütig, daß er sich vom Schulfernsehen ein »den normalen Unterricht ergänzendes Bildungsangebot«, günstige Einflüsse auf die »Sprechgewohnheiten«, insbesondere der Landschuljugend, sowie eine

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mähliche Hinwendung zu »pädagogisch vertretbaren Fernseh-Gewohnheiten« erhoffe. Der konservative Flügel machte sich Gebrauchs-Argumente wie »Reizüberflutung«, »Gefahr für die kindliche Phantasie« oder »frühzeitige Vermassung« zu eigen und sah ein ernstes Problem darin, »daß wir unsere Schüler durch das Schulfernsehen verwöhnen und ihnen der übrige Unterricht noch langweiliger vorkommt als bisher«. »Durch welche Mittel«, so fragte Schulrat Kurt Wacker, Mannheim, »kann der Durchschnittslehrer mit einem derart interessanten Lehrmittel konkurrieren?« (Schulfunkheft, Stuttgart, August 1960). Das Norddeutsche Fernsehen aber machte einen Versuch. Vom 23. Oktober bis einschließlich 11. November lief über die Sender Nord- und Westdeutschlands wie auch über den Sender Freies Berlin in sechstägigem Turnus eine Testreihe, die, in Verbindung mit einer gründlichen Fragebogen-Enquete, darüber Aufschluß geben soll, ob es größere Mittel und Mühen lohne, dem TV-Schulbeispiel anderer Länder zu folgen. (Frage 16: »Aufmerksamkeitshaltung der Schüler während der Sendung? Ausdauernd – angespannt – normal – schwankend – fixierend – schweifend?«) Telemann sprach mit dem Auswerter der Fragebogen, Dr. Heribert Heinrichs, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Alfeld/Leine, über das einstweilige Versuchsergebnis. Und erfuhr: Das Halbstundenspiel von der »Reichskristallnacht« (Zwischen Nacht und Morgen) fand bei Lehrern und Schülern einhellige Zustimmung. Die Feature-Trilogie über Erdölprobleme stieß auf höfliches Interesse. Und das zweiteilige Dokumentarfilmwerk Arbeiter und Bauern in Indien mit Eugen Kogon, das vom NDR als vielerorts schulfernsehübliche »Ex-Katheder-Sendung« bezeichnet wird, erntete eitel Ablehnung. Vorläufiges Fazit: »Die Schule sagt ja. Alle Lehrer sagen: Jawohl, das Fernsehen ist in der Lage, unsere Arbeit zu ergänzen.« Elektronische Bildungsbeihilfe, erfuhr Telemann ferner, ist auch darum erstrebenswert, weil die herkömmlichen Unterrichtsfilme, teils schon in den dreißiger Jahren gedreht, heutigen Ansprüchen kaum noch gerecht werden und weil die Produktion neuer Filme zehnmal soviel kosten würde wie ein empfangslückenloser Schulfernsehbetrieb. Das wichtigste Requisit freilich müßte laut Professor Heinrichs noch erfunden werden: Ein erschwingliches Bildaufzeichnungsgerät, das es dem Schulmann gestattet, eine Sendung über Indien dann vorzuführen, wenn Indien auf dem Lehrplan steht. Das endgültige Testergebnis wird erst Mitte Dezember vorliegen. Denn außer den 15 000 Fragebogen will die Alfelder Hochschule auch

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einen Stapel Tonbänder mit Unterrichtsgesprächen auswerten, wovon sie sich – als wissenschaftlichen Nebengewinn – einen »hochinteressanten Einblick in die gesamtdidaktische Situation der Bundesrepublik verspricht«. Heinrichs: »Das eine läßt sich schon jetzt sagen: Bis das Schulfernsehen geeignete Formen gefunden haben wird, muß noch viel schöpferische Arbeit geleistet werden. Das gilt sowohl für die Bildtechnik, besonders den Schnitt, als auch für die Kommentare. Auf keinen Fall dürfen die Sendungen pädagogisieren. Unsere Kinder sind derart fernsehverwöhnt, daß man ihnen mit einem antiquierten Schulstil nicht beikommen kann.« Hier kündigt sich nach Telemanns Dafürhalten ein Konflikt an, den unser Fernsehen nicht leicht wird lösen können. Angenommen, es befolgt des Professors Rat und gestaltet seine Schulsendungen so einprägsam wie möglich; schickt seinen Bernhard Grzimek, seinen Rudolf Kühn, schickt seine sämtlichen »Reporter der Windrose« in die Klassenzimmer – was dann? Welcher Ausbund an Lehramtseifer, welcher pädagogische Masochist wollte unter solchen Umständen noch schulmeistern? Oder es vertröpfelt, wie beim ersten Versuch, indisch-erdölige Langeweile – dann wird unter der Fragebogenrubrik »Aufmerksamkeitshaltung der Schüler« in aller Zukunft das Wort »schweifend« angehakt sein. Bleibt als einziger Ausweg: Das Erwachsenen-Fernsehen paßt sich, in einem Akt entsagungsvoller Anreizminderung, dem Schulfernsehen an, ja, wird zum guten Ende einschläfernder als dieses. Ein Opfer, gewiß. Aber wir werden es, dem kindlichen Bildungserlebnis zuliebe, wohl bringen müssen. Merke: »Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden« (Kolosser 3, 21).

S a te l l i t e n - P r o g r am m ( 1 5 / 1 9 6 2) Warum geht es hienieden so zwieträchtig, unterentwickelt und verworren zu? Weil es noch kein Satelliten-Fernsehen gibt. Wenn ein solches erst einmal installiert ist, wenn hoch im All die erdteilverbindenden Relais-Sternchen kreisen, hier eines Muselmannes Muße, dort eines Botokuden Bildungslücken füllend, dann wird dies geschehen: Der Mensch wird endlich des Menschen Freund und Nachbar sein; das Kraus der 5000 Sprachen wird sich zu wenigen Welt-Idiomen glätten, und wo heute noch abermillionenfach die Unkunde waltet, werden

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morgen, infolge globaler TV-Schulung, Wissenschaften und Künste ins Kraut schießen. Sagen die Hochfrequenz-Techniker, die Raketenspezialisten, die Steuerungsexperten und bekommen dabei etwas Euphorisches in den Blick. Auch die Theologen schauen nicht eben unfroh in die SatellitenZukunft. Ein erdumspannendes Sendenetz, so hoffen sie, wird Glaubensbotschaften auch in Gebiete befördern, wo missionarisches Mühen bislang vergeblich war; auf daß da zu guter Letzt eine einzige, satellitengesteuerte Herde sei. Dasselbe hoffen die Verkünder diesseitiger Heilslehren. Kurzum, es wird, nach einem vergleichsweise kümmerlichen Vorstadium, das wahre Fernsehzeitalter anbrechen. Seid umschlungen, Milliarden! Und im Sommer geht’s los. Bescheiden vorerst: Ein einsamer »Telstar« wird um den Globus runden und dabei jeweils ein Viertelstündchen Live-Programm reflektieren. Mal für die USA, mal für Eurovision. Was Amerika ins Land seiner Vorväter zu funken gedenkt, sind überwiegend Festlichkeiten: Ansprachen des UN- und des US-Präsidenten sowie des Premierministers von Kanada und, wenn’s gefällig ist, ein Häppchen Weltausstellung in Seattle. Schwerer haben es die Tele-Europäer. Zwar wurde ihnen überseeischerseits nahegelegt, bei der Wahl ihrer elektronischen Gegengaben auf das Bildungserlebnis des US-Normalzuschauers Rücksicht zu nehmen; aber des Zumutbaren gibt es immer noch zuviel: Brigitte Bardot, die Spanische Treppe, Manneken Pis, Eiffelturm, Trevi-Brunnen, Akropolis – wer möchte da entscheiden? Und vor allem, was soll das deutsche Fernsehen, laut Time das beste der Welt, durchs Universum schicken? Bayreuth, Heidelberger Schloß, Adenauer, Oktoberfest, Oberammergau – alles schön und gut. Aber erwartet man drüben nicht mehr? Telemann ist in einer glücklicheren Lage als die deutsche TVObrigkeit; er weiß bereits, was unser Fernsehen an Ureigentümlichem ausstrahlen sollte; weithin über den Atlantik, damit Völkerfreundschaft und interkontinentaler Gemeinsinn heranblühen: Da wäre als erstes die Tante Jutta aus Kalkutta zu nennen, mit Willy Millowitsch, dem Sorgenbrecher. Ein fröhlicher Gruß aus Köln, der freilich aus dem Rheinischen simultan in Tennessee- oder Oklahoma-Slang übersetzt werden müßte. Oder man könnte, wenn ein TV-Satellit das aushält, den Lou van Burg zeigen, wie er »eine wunderbare Musikchampion« aus der Taufe

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hebt. Oder gar den Peter Kraus, nebst Vater Fred, damit die Amerikaner sehen, daß sich auch in den Ödungen des Schaugeschäfts so etwas wie eine niedere Fauna regt. Und die Sendereihen Mitteldeutsches Tagebuch, Die Rote Optik und Diesseits und jenseits der Zonengrenze sollen sie haben; schon um zu lernen, wieviel Standard-Einrichtungen und risikoarme Dauerpöstchen sich aus einem einzigen Ost-West-Konflikt herausmelken lassen. Und die Familie Hesselbach könnte amerikanischen Ex-GIs vor Augen führen, was diese, als sie hier waren, so selten schauen durften: ein echtes deutsches Heim. Und auf Professor Grzimeks Spendenkonto zugunsten afrikanischer Fremdenverkehrs-Wildtiere würden harte Dollars herniederprasseln. Und Thilo Koch könnte seinen Brief aus Washington an sich selbst adressieren. Alles sollen sie bekommen, unsere Freunde in Übersee: den GesamtAnfall an Ballettabenden, das restliche Gerhart-Hauptmann-Jahr, den Blauen Bock samt Wirt und Äppelwoi, den Werner-Höfer-Stammtisch – und natürlich auch die Alten Orgeln in Hessen. Tabula rasa. Alles nach drüben! Mag sein, daß sich die Techniker irren; daß ein Satelliten-Fernsehen kein erdweites Bildungsparadies erschließen, keine Weltsprache zeitigen, ja nicht einmal alle Menschen zu Brüdern machen wird. Sei’s drum. Uns würde, via Weltraumtelevision, ein Lohn zuteil werden, der reichlicher lohnet: Wir wären endlich und für allemal unser Fossilienprogramm los. Das Deutsche Fernsehen müßte sich was Neues ausdenken. Merke: Und im Sommer geht’s los.

Der Krieg der Knöpfe (15/1963) Der Bau der ersten deutschen Eisenbahnstrecke (Nürnberg-Fürth, 1835) war eine vielgerühmte Pioniertat, die Verlegung alles restlichen Geleises eine wenig beachtete Plackerei. Das nämliche gilt für die Netze der Television. Schon dem zweiten, geschweige einem dritten Fernsehen ist es versagt, Marksteine zu errichten. Zehn TV-Jahre samt einer Woche Mainz haben gezeigt: Fernsehspiele sind da wie dort Fernsehspiele, BerlinMelodien Berlin-Melodien, und ob sich jemand von ungefähr verhaspelt oder mit avantgardistischem Vorbedacht (ZDF-Ansagerin Ilse Zielstorff: »Was wollt’ ich noch sagen? – Ach ja ...«), ist höchstens für IntendantenNeulinge von Relevanz.

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Fernsehen bleibt Fernsehen. Wir wissen’s. Die Bataille um unser aller Gunst findet, wenn überhaupt, in Hornberg statt. Nur auf einem Kampfgebiet wurde gleich vom ersten Tage an scharf geschossen: auf dem Gebiet der Aktualitäten. Hier gibt es keinen Pardon. Denn einzig auf dieser Walstatt kann die ARD etwas einbüßen und das ZDF etwas erobern: Vertrauen. Da stehen sie, die Heeresführer, und äugen durchs heruntergeklappte Visier. Hie Hans-Joachim Reiche, kampfesmutig, wie er mir versicherte, und willens, die Streitmacht seiner Tagesschau bis aufs letzte Fähnlein in die Breschen zu werfen. Hie Heute-General Rudolf Radke, bei aller Entschlossenheit eher leidvoll: »Es ist schwer, in eine kämpferische Pose zu geraten, wenn der Gegner mehr (Nachrichten-)Sendezeit hat.« Das erste Scharmützel gewann am l. April die ARD: Sie zeigte schon um 19 Uhr Ludwig Erhards Ankunft in Brüssel, wogegen das ZDF um 19.30 Uhr heilfroh war, mit des Ministers Abflug in Wahn aufwarten zu können. Auch am 2. April schien über Mainz nicht gerade die Sonne von Austerlitz. Heute vermeldete exklusiv: In München tage der Bundesvorstand des DGB, vier Mann des Ratzeburger Weltmeister-Achters trainierten auf der Alster, und im Hamburger Hafen sei eine Schiffsladung Äpfel eingetroffen. Dazu ein Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und »ZDF«Reporter Rüdiger von Wechmar. Adenauer: »Mit Recht sagen Sie, sind Sie zum erstenmal zu Besuch bei mir in Cadenabbia ...« Die Tagesschau teilte mutterseelenallein mit, daß die NatoratsEmpfehlung bezüglich des Röhren-Embargos nicht bindend gewesen sei (Gegenspieler Radke: »Ich weiß nicht, warum wir das nicht hatten«), daß der New Yorker Zeitungsstreik ein Ende gefunden habe (Radke: »Darüber berichteten wir schon am Sonntag, in einer Probe-Sendung«) und daß Chruschtschow nicht nach Peking reisen werde. Erst der 3. April brachte Heute knapp in Führung. Wohl hatte es versäumt, gleich der Tagesschau zu verbreiten, der Staatssekretär Hopf wolle aus dem Amte scheiden (Radke: »Mit Sicherheit ein Zufall«) oder ein neuer US-Satellit mit Namen »Explorer 17« umrunde den Erdball. Dafür schlug es der Konkurrenz insofern ein Schnippchen, als diese den UNBotschafter Stevenson in Bonn auf Schritt und Tritt begleiten und häppchenweise verwerten wollte. Doch Stevenson gab, statt den Hamburgern, den Mainzern ein Sonder-Interview. Interessanter noch als solch totaler Kontrast war die unterschiedliche Würdigung ein und derselben Neuigkeit.

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Daß die sowjetische Raumsonde »Lunik IV« den Eschbornern exakte 1420 Kilogramm schwer vorkam – (Hamburg meldete runde eineinhalb Tonnen) machte deutlich: Das ZDF will auch Minderheiten – hier die Pedanten – nicht vor den Kopf stoßen. Noch weniger die Geflügelzüchter. »Die Hausfrauen im Bundesgebiet werden vor Ostern nicht mehr mit billigen Eiern rechnen können«, unkte die Hamburger Tagesschau. Eschborns Heute aber richtete auf: »(Die Eierpreise) werden vor Ostern aller Voraussicht nach ... nicht weiter steigen.« Veranstalterische Umsicht sprach auch aus dem Extrakt, den das ZDF aus der Rede des Bundespräsidenten vor Mitgliedern des Groß- und Außenhandelsverbandes (l. April) zu destillieren wußte. »Wie sehr der freie Handel«, ließ es Lübke verlautbaren, »auf eine freie Staats- und Gesellschaftsordnung angewiesen ist, zeigt ein Blick in den Machtbereich des Kommunismus.« Die ARD hingegen war großhandelsfeindlich genug, das Staatsoberhaupt warnen zu lassen: »... höchste Zeit, uns klarzumachen, daß eine ständige Steigerung der Kosten im deutschen Wirtschaftsbereich ... uns alle in ernsthafte Gefahren zu bringen vermag«. Man sieht, die Material-Schlacht ist im Gange, das Kriegsglück schwankt, und es wäre unredlich, anderes zu prophezeien als dies: Wer das Hin- und Herschalten nicht scheut, wird künftig besser informiert sein. Merke: »Ungewißheit ist das Element des Krieges, das Unerwartete ist die Regel« (Taschenbuch für Wehrpflichtige und die Reserve der Bundeswehr).

R i c h tf e st ( 3 0 / 1 9 6 3 ) Wie war das doch all die Jahre mißlich mit der bundesdeutschen Television! Gut, jede Länderanstalt hatte ihr Rundfunkgesetz, worin die Grenzen elektronischen Tuns und Lassens notdürftig abgesteckt waren. Man wußte allerorts: Vor 21 Uhr keine Dreiecks-Komödie, am Bußtag keine Kessler-Zwillinge und gar niemals, nicht einmal am Vatertag, einen Entkleidungstanz. Aber wer Augen hatte zu sehen, der sah in den TV-Funkhäusern dennoch Direktorenmienen, aus denen die Existenzangst und die Unentschlossenheit sprachen; sah kopfhängerische Abteilungsleiter, sorgenzerquälte Regisseure, ratlos am Kugelschreiber knabbernde Autoren. Sie alle waren beauftragt, Fernsehsendungen hervorzubringen. Doch niemand hatte ihnen mitgeteilt, was für welche.

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Da endlich, am 11. Juli 1963, machte der ZDF-Fernsehrat der öffentlich-rechtlichen Unschlüssigkeit ein Ende und gab 25 »Richtlinien für die Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens« aus. Schon der unmißverständliche Tagesbefehlston des Dokuments (»Es sind Sendungen zu veranstalten, die ...«) brachte langersehnte Klarheit. Nun weiß man nicht nur in Mainz, sondern überall, wo Sendetürme ragen, was eines rechten deutschen TV-Programms Pflicht und Schuldigkeit ist. Es hat zu dienen. Und zwar dem Frieden unter den Völkern, der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und der Erhaltung der Freiheit Berlins. Es hat zu fördern. Und zwar die Bemühungen um die Einigung Europas, das Verstehen zwischen den verschiedenen politischen, sozialen und landschaftlichen Gruppierungen, wie auch zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften, die gegenseitige Achtung zwischen allen Menschen und Gruppen, die Verantwortungsfähigkeit und die Verantwortungswilligkeit, die Toleranz, die Anerkennung der Rechtsordnung und die Bereitschaft zum Dienst am Gemeinwohl. Es hat überzeugend zu vertreten: die Grundsätze des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Es hat zu stärken: die politische Urteilsfähigkeit. Es hat zu schärfen: das Gewissen. Es hat zu achten, zu wahren, zu ermöglichen, zu unterrichten, zu berücksichtigen. Außerdem, versteht sich, soll das Programm umfassend informieren, anregend unterhalten, zur Bildung beitragen und zu Gespräch und Eigentätigkeit Anreiz bieten. Und dies alles für 1,10 Mark je Monat und Mattscheibe. Mag die eine oder andere Richtlinie ZDF-Subalternen ein wenig vage erscheinen – in drei Punkten hat der Fernsehrat auch die Exkursion ins Detail nicht gescheut. Punkt l, Ehe und Familie: Sie dürfen als Institution nicht in Frage gestellt, herabgewürdigt oder verhöhnt werden. Analytische und kritische Auseinandersetzungen mit Ehe- und Familienproblemen sind »erlaubt«, wenn sie »nicht im Übermaß gesendet« werden. Punkt 2, Verpflichtung zur Überparteilichkeit: »Wenn in Einzelsendungen zu strittigen Fragen eine bestimmte Meinung vertreten wird, so ist in ihnen möglichst auf die ergänzende(n) Sendung(en) hinzuweisen.« Punkt 3, Darstellung von Laster und Gewalt: Wiewohl »ethische Grundforderungen möglichst am Beispiel aufgezeigt« werden sollen, dürfen Verstöße gegen das Ethos nicht den Eindruck erwecken, daß sie »eine über das Maß der Wirklichkeit hinausgehende Verbreitung haben«.

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Und: »Hinweise auf Strafe, Reue oder Sühne sollen in der Darstellung nicht fehlen.« Auf denn, zum fröhlichen Fernsehschaffen, Ihr, die Ihr bislang geglaubt habt, so ein TV-Netzwerk sei nur ein Transportmittel für aktuellen Massenjubel, antiquarische Spielfilme, Quiz-Gequassel, Provinztheatralik, Schlagerfestivals oder Volkshochschulweisheiten! Lernt schleunigst um, Ihr habt den Weltfrieden herbeizufunken, Walter Ulbricht zu entthronen, Europa und die Kirchen zu einen und unser aller Gewissen so scharf zu schleißen, daß wir damit, wenn wir wollten, CSU-Vorsitzende werden könnten. Gralsritter seid ihr fortan. Und Ihr, Fernsehspiel-Autoren, die Ihr Euch vordem der Wahrheit verpflichtet fühltet: Schreibt, richtlinientreu! Macht, daß das Laster nicht auch noch im Fernsehen sein Haupt erhebe. Zeigt die außereheliche Sünde des Fleisches am Beispiel, jedoch nicht im Übermaß, vielmehr in einer »über das Maß der Wirklichkeit nicht hinausreichenden« Weise, und laßt ihr, statt süßer Filmverträge und Memoirenabdrucke, bittere Tränen der Reue folgen! Wie sagte der stellvertretende Vorsitzende des Mainzer Fernsehrats, Fuchs, nachdem das Gremium der Sechsundsechzig die »Richtlinien« bei sechs Gegenstimmen und einer Enthaltung gebilligt hatte? Man habe die »Eigenverantwortlichkeit des Intendanten und seiner Mitarbeiter nicht gängeln« wollen. Wer in aller Bundesrepublik wäre auf eine so absurde Idee gekommen? Merke: »Gängeln – ein kleines Kind gehen lassen; liebevoll verziehen; in schaukelnde Bewegung versetzen« (Pekrun: Das Deutsche Wort).

T sc hü hü s ( 4 8 / 19 6 3 ) Sie solle nicht so schnippisch sein, rügte der Richter die Zeugin Martina John, 17, und sein Antlitz strahlte gekränkte Vatergüte. Zeugin: »Was heißt denn schnippisch? Es wird hier immer gefragt und gefragt, man muß ja alles dreimal sagen ...« Richter: »Sie sind ... ein dreistes Mädchen ist das ja ... was machen wir mit diesem Fehlprodukt der deutschen Erziehung?« Letztere Frage erschien um so brennender, als die Zeugin John auch anderweitig Ärgernis erregte; etwa durch die Bemerkung, ihre Freundin Petra habe »Stunk mit ihrer Regierung« gehabt (»Na ja, Sie nennen es vielleicht Eltern«), oder, als man sie des Saales verwies, durch ein lässig zum Richtertisch geschlenztes »Tschühüs!« – doch niemand im Saale wußte Antwort.

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»Unglaublich!« scholl es, vom Staatsanwalt intoniert, durchs gut besetzte TV-Gerichtsstudio (Das Fernsehgericht tagt, 12. und 13. November, Erstes Fernsehen), und »unglaublich!« klang es vervielfacht weiter, als die Ampex-Aufzeichnung längst vorüber war. Das geladene Gerichtssaal-Publikum und niedere NDR-Chargen fanden, »man müsse so viel minderjährige Unbotmäßigkeit herausschneiden«. Aber zum einen war das technisch nicht möglich, weil jedes Stück der in drei Teile zerlegten und an zwei Abenden gesendeten Fernsehstrafsache in einem Zuge »durchgedreht« wird, zum anderen hatte die blondsträhnige Martina (Linde Fulda) gehandelt, wie das Gesetz dieser TV-Serie es befahl. Angeklagte und Zeugen, so schreibt es vor, werden drei Tage lang mit dem Part der Juris-Fiktion, der sie betrifft, vertraut gemacht: Der Angeklagte erfährt, ob und auf welche Weise er straffällig geworden ist, den Zeugen und Gegenzeugen wird einzeln mitgeteilt, inwieweit sie in den Fall verstrickt sind und welche Marschroute sie einzuschlagen haben. Richter und Anwälte hingegen kennen nur die Gerichtsakten und treffen ihre Entscheidungen im Rahmen des geltenden Rechts völlig frei. So kommt eine Art Kampfspiel zustande, bei dem das Risiko des Unvorhersehbaren sich in schicklichen Grenzen hält. Die Dreistigkeit einer Reeperbahn-Räuberbraut – in jedem Spielfilm Anlaß zu ungetrübter Heiterkeit – wirkte im Fernsehen auf schlichte Gemüter schockierend, weil sie ebensowenig »perfekt« war, wie sie es vor einem authentischen Schöffengericht gewesen wäre. Dort ist es die Aussicht auf realen Freiheitsentzug, die aller Ganoven-Impertinenz jenen Hauch von Unglaubwürdigkeit verleiht, den ein Auditorium als peinlich empfindet, hier war es der Zwang zu improvisierter Rede. Schauspieler, die nicht aufs Stichwort warten, sondern zuhören, mitdenken, selbständig artikulieren müssen, sind bessere »Angeklagte« und »Zeugen« als solche, die einen gelernten Text aufsagen. Das ist ein Vorzug der Improvisation. Ein Nachteil ist, daß das Fehlen eines Autors und die sendezeitliche Ohnmacht des Live-Regisseurs Schauspieler dazu verleiten, ihr StegreifRöllchen aufzubessern; notfalls vermöge voraus-improvisierter Bonmots. So die Zeugin Erna Maass (Renate Schacht), Platzanweiserin, nach der Enthüllung, der Angeklagte habe ihr erst blaue Flecke und dann sechs rote Rosen beigebracht: »Er hätte mir lieber Stiefmütterchen schenken sollen.« Indes, ob schlecht oder echt: Schauspieler spielen. Juristen aber sind; auch wenn sie ihrer Ämter im Fernsehstudio walten. Der Verteidiger verteidigt hier wie anderwärts sein RechtswahrerRenommee.

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Der Staatsanwalt redet so, wie er es an deutschen Gerichten erlernt oder erlauscht hat: »Halten Sie gefälligst den Schnabel!« – »Wenn du uns hier was vorspinnst, mein Junge, dann kannst du was erleben!« Und der Amtsgerichtsdirektor i. R. Dr. August Detlev Sommerkamp, 72, richtet. Mit der Milde eines, dem Hamburgs Bagatell-Sünder schon zu Amtszeiten den Ehrentitel »Papa Gnädig« verliehen, und der Routine dessen, der in 36 Richterjahren den Nutzen einer protokollreifen Sprechweise erkennen gelernt hat. Sein Pensionisten-Charme vor allem hat der langlebigen Serie, laut Infratest, das Zuschauerprädikat »Man kann dabei viel lernen« eingetragen. Sein immer gütiges Wirken bietet die Gewähr, daß kein Murren anhebt unter dem Fernsehvolke, wenn auch im Jahre 1964 das TVSchöffengericht fünfmal zusammentritt. Noch ein kurzes, und Papa Gnädig wird das Denkbild vom hiesigen Rechtswesen so gültig geformt haben, daß es selbst Hehlern und Stehlern aus dem Hinterwald bei dem Gedanken an ein deutsches Justizgebäude nestwarm ums Herz wird. Noch ein weiteres, und die Republik hat für all jene, die da so laut nach einer neuen Strafprozeßordnung verlangen, nur noch ein Achselzucken übrig. Staatsanwalt hin, forensische Umgangsformen her – der Papa wird’s schon richten. Merke: »An guter Lehr trägt keiner schwer« (Alter Spruch).

E c k i g u n d n i c ht r u n d ( 4 9 / 1 9 63 ) John F. Kennedy sei bei einem Attentat »getroffen« worden, sagte KarlHeinz Köpcke, Nachrichtensprecher der ARD-Tagesschau, um 20 Uhr, und in seiner Stimme klang noch ein zuversichtliches »Bangenlachen gilt nicht« mit. Sodann berichtete die Tagesschau, durch »weitere Einzelheiten über das Attentat« mehrmals am vorgesehenen Ablauf gehindert, vom Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes und von Verkehrsstauungen auf den Autobahnen. Nach der Meldung, es seien zwei katholische Priester an das »Krankenbett« Kennedys gerufen worden (»... weitere Berichte über das Attentat sehen Sie in unserer Spätausgabe«), tat eine Ansagerin des WDR die ferneren Darbietungen des Abends kund, darunter Chansons im Vorübergehen und die Sacha-Guitry-Komödie Nicht zuhören, meine Damen. Darauf der Bericht aus Bonn: das literarische Wirken des Diplomaten Dr. Erwin Wickert, Gesundheitsministerin Schwarzhaupt über Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung an der Ruhr.

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Danach aus Hamburg die Nachricht: »Präsident Kennedy ist tot.« Sie wird – in Abständen – sechsmal wiederholt. Danach aus Köln die Sendung Weltspiegel. »Wir haben die Musik nicht für Sie gespielt, die Sie kennen an so einem Abend ... wir haben Ihnen das Dia, wie wir es nennen, vorenthalten«, erläuterte Weltspiegel-Redakteur Rudolf Rohlinger die Geistesgegenwart seiner Anstalt, bevor er zu einem Ferngespräch mit dem ARDKorrespondenten Koch in Washington ansetzte. »Hallo, Thilo! – Thilo, wie sieht es jetzt aus? – Ja, Thilo. Danke schön, Thilo!« tönte es über den Atlantik. Und: »Wir müssen jetzt einen Moment den Geschichtspuls fühlen.« Doch ehe Thilo sein Erlebtes recht zu artikulieren vermochte, schnitt Rohlinger ihm das Wort ab und hieß ihn für geraume Weile die »so sorgsam gehütete Leitung« blockieren. Denn es hatte der Korrespondent Vahlefeld noch manches über die Wahlen in Japan mitzuteilen, und der Korrespondent Scholl-Latour war, wie man sah und hörte, auch nicht müßig gewesen, als es in Paris den deutschen Bundeskanzler zu befragen galt. Scholl-Latour zu Erhard: »Betrachten Sie die Gespräche mit General de Gaulle als eine gute Ausgangsbasis für die kommenden Besprechungen mit Präsident Kennedy ...?« Kurzum, die Politik, die laut Rohlinger »eckig und nicht rund« ist, mußte »noch ein wenig zu ihrem Recht kommen«. Als endlich wieder der Korrespondent Koch vernehmlich war und anhob, neue Einzelheiten bekanntzugeben, erfuhr er aus Köln: »Wir haben die Nachricht erst einmal zu begreifen, Thilo.« Koch: »Ja?« Rohlinger: »Auch Sie müssen die Nachricht begreifen ... Auf Wiederhören, Thilo ... Danke schön, Thilo ...« Danach aus Hamburg Meldungen, Dias, der Nachruf des Bundestagspräsidenten. ARD-Sendeschluß: 22.42 Uhr. Nun könnte man wohlmeinend sagen: Das Erste Fernsehen hat seine Chronistenpflicht erfüllt. Das Unfaßbare zu fassen, dem Unverhofften zur rechten Minute den rechten Tribut zu leisten, reicht selbst eine zehnjährige Sendeerfahrung nicht aus. Schließlich schickte auch eine amerikanische TV-Gesellschaft, kaum war das Attentat gemeldet, noch ein verschämtes Werbefilmchen für Kleenex-Papiertücher in den Äther. Man könnte so sagen, wenn es nicht das Zweite Deutsche Fernsehen gäbe. Sein Nachrichtenredakteur Erich Helmensdorfer hatte, gestützt auf eine upi-Meldung, schon vor 20 Uhr bekanntgegeben: »Der Präsident soll angeblich getötet worden sein« – was vielleicht voreilig war, aber

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die Programmdirektion aller Zweifel über die weitere Gestaltung des Abends enthob. Seine UHF-Kanäle zeigten nicht ratloses Pausendunkel, vielmehr die Leuchtschrift: »Der Beginn der Sendung verzögert sich. Wir erwarten noch eine wichtige Nachricht.« Als die Unheilsbotschaft sich bestätigte, waren seine, des ZDF, Gesprächspartner in Washington, Paris und London nicht der liebe Klaus, Dieter und Sven, es waren die ohne Umschweife berichterstattenden Korrespondenten Harpprecht, Wolff und Hasselblatt. Und als das Erste Fernsehen drohnenfleißig Nachrichten aus zweiter Hand verbreitete (»Innenminister Höcherl betonte ... Vizekanzler Mende erklärte ...«), ja, als in den ARD-Studios schon lange Funkstille herrschte, spann Mainz ein eigenes Neuigkeitennetz, liveinterviewte in Bonn den SPD-Wortführer Barsig, den FDP-Sprecher Genscher, schließlich, nach drei technischen Fehlschlägen, den CDU/CSU-Fraktionschef von Brentano und nahm in Berlin Willy Brandts Bitte entgegen, man möchte Kerzen in die Fenster stellen. ZDF-Sendeschluß: 23.25 Uhr. Wäre der 35. US-Präsident noch am Leben, würde die Bundesrepublik womöglich niemals erfahren haben, was einer TV-Aktualitätenabteilung besser frommt: die vielbelächelten »Kinderschuhe« oder alteingesessene Funkbeamten-Routine. Nun weiß sie’s. Und dieses Wissen, so mag es ihr scheinen, ist teuer erkauft.

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In seiner Eröffnungsrede zum Start des offiziellen Programms des NWDR Weihnachten 1952 äußert Werner Pleister die Hoffnung, in Zukunft eine möglichst große Zahl der Bundesbürger mit dem Fernsehprogramm zu erreichen. Es ergeht ein Appell an den künftigen Zuschauer: »Wir wünschen uns, daß Sie uns freundlich ansehen und die vielen Menschen und Dinge, mit denen wir Sie nun bekanntmachen können, gern in Ihren Lebenskreis aufnehmen.«1 Diesen Appell hören nur wenige. Schließlich ist zum Programmstart so gut wie niemand im Besitz eines Empfangsgerätes. Warum diese Anschaffung, wenn es kein Programm gibt? Die Aufmerksamkeit eines Publikums oder gar von Zuschauermassen ist zum Zeitpunkt der Ansprache also lediglich eine Wunschvorstellung und Zukunftsvision, der Pleister in seiner Rede Ausdruck verleiht. Es ist noch ungewiss, ob das Fernsehen auf breiter Basis angenommen wird. Was Pleister 1952 als Ziel formuliert, wird aber bald darauf – so dokumentiert es die Telemann-Kolumne – als Selbstverständlichkeit aufgefasst. Die Möglichkeit, dass die Zuschauer das Programm ablehnen könnten, wird kaum noch in Betracht gezogen. Statt dessen scheint Gewissheit über eine gelungene Adressierung der Zuschauer zu herrschen. In den Rundfunkanstalten schließt man allein aus der Tatsache, dass ein Programm gesendet wird, dass die Zuschauer dieses auch empfangen. Man phantasiert sich, laut Telemann, ein Publikum mit »bedingungsloser Schaubereitschaft«,2 das sein einmal teuer erworbenes Fernsehgerät ohne Unterlass – d.h. die gesamte Zeit, während der auch ein Programm gesendet wird – nutzt. Diese Phantasie manifestiert sich u.a. darin, dass die Aufrufe zum Einschalten des Empfangsgerätes bald solchen zum »Abschalten«3 desselben weichen müssen. Die ehemaligen Werber werden zu Warnern und der Zuschauer wird aufgefordert, einzelne Sendungen auszulassen. Bereits zwei Jahre nach Pleisters Bitte um das Wohlwollen der noch nicht vorhandenen Zuschauer, warnen die Fernsehkritiker Karl Tetzner und 1 2 3

Werner Pleister: »›Das geheimnisvolle Fenster in die Welt geöffnet‹«, in: Fernseh-Informationen 1 (1953), S. 7. Telemann: »Mit Gewalt« (in dieser Sektion). Telemann: »Die Neunzigprozenter« (in dieser Sektion).

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Gerhard Eckert in einer Einführung für Fernsehzuschauer vor televisonärer ›Völlerei‹.4 Anstatt ununterbrochen dem Programm zu folgen, solle der ›vernünftige‹ Zuschauer eine Auswahl nach seinen eigenen Vorlieben treffen. »Der Vielfraß unter den Fernsehern aber möchte am liebsten keine Minute vom Programm versäumen. Es wird nicht lange dauern, dann hat er sich den Magen verdorben.«5 Um solche Folgen des TVKonsums zu verhindern, ergeht an den Zuschauer der Rat, Programme gut auszuwählen und das Fernsehgerät abzuschalten. Ein solcher Rat zeigt deutlich an, welche Vorstellung vom Zuschauerverhalten herrscht. Die von Telemann genannte Annahme von der ›bedingungslosen Schaubereitschaft‹ der Zuschauer steht für die Intendanten und viele Fernsehkritiker demnach nicht in Frage, andernfalls wären ihre eindringlichen Plädoyers für die individuelle Programmauswahl überflüssig. Doch das Plädoyer dokumentiert auch die kritische Haltung gegenüber dem vermuteten Zuschauerverhalten. Die vermeintliche Selbstverständlichkeit der Zuschaueraufmerksamkeit scheint Anlass für Sorge und wird nicht als Erfüllung des von Pleister benannten Zieles gesehen. Die ›Schaubereitschaft‹, die Pleister in seiner Ansprache einfordert, wird problematisch, wenn sie ›bedingungslos‹ ist. Und weil man in den Rundfunkanstalten von dieser Bedingungslosigkeit ausgeht und an das unumschränkte Wohlwollen des Publikums glaubt, meint man sich auch verpflichtet, Pleisters anfänglicher Appell zum Zuschauen umzukehren und die Devise vom ›Abschalten‹ auszugeben. Im Hintergrund dieser Wendung steht die Entwicklung eines Zuschauerkonzepts, das sich seit Pleisters Eröffnungsrede bis zum Beginn von Telemanns Kolumne zunehmend verfestigt hat. Mit Aufkommen des Fernsehens startet auch eine Diskussion über die Eigenschaften und Dispositionen des Zuschauers, sowie die möglichen Wirkungen seiner Fernsehrezeption. Diese Debatte ist von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Zuschauers zur Selbstdisziplinierung geprägt. Seine Möglichkeiten zur vernünftigen Auswahl gelten aufgrund eines angenommenen Dranges zum permanenten Fernsehen als eingeschränkt. Diese Unfähigkeit des Zuschauers wird über dessen Pathologisierung begründet. Er wird mit einem Süchtigen oder Hypnotisierten verglichen, der seinen freien Willen eingebüßt hat und einem inneren Zwang zum 4 5

Vgl. Gerhard Eckert/Karl Tetzner: Fernsehen ohne Geheimnisse, München: Franzis-Verlag 1954, S. 16-19. Ebd., S. 18. Vgl. zur Nahrungsmittel- und Verdauungsmetaphorik der Zuschauerbeschreibung Irmela Schneider: »Konzepte vom Zuschauen und Zuschauer«, in: dies./Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 245-269, hier S. 255-259.

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Fernsehen unterliegt. Das Konzept der Sucht gibt ein Modell vor, dass das Dauerschauen mit Plausibilität versieht. Aus diesem Modell leitet sich vor allem die Überlegung einer Willensschwäche des Rezipienten her. Wie bei einem Süchtigen oder Hypnotisierten wird seine Willensstärke als zu gering erachtet, um die Leistung des Abschaltens zu erbringen. Auf der Basis des Sucht- und Hypnose-Vergleichs wird dem Zuschauer dann die Entscheidungskompetenz über die Programmauswahl abgesprochen.6 Aufgrund seiner angenommenen Willensschwäche traut man ihm die Verantwortung für sein eigenes Rezeptionsverhalten nicht zu. Aus diesem Zuschauerkonzept wird dann eine Programmkonzept abgeleitet: Die Annahme, der Zuschauer unterliege einem Zwang zum Dauerschauen, verschiebt die Verantwortung Richtung Fernsehschaffende, die das Rezeptionsverhalten und dessen Wirkungen durch ihre Programmgestaltung lenken sollen. Nicht der einzelne Zuschauer, dem die Fähigkeit zum mäßigem TV-Konsum aberkannt wird, steht die Entscheidungskompetenz zu, sondern den Programmverantwortlichen, die die Fernsehsendungen so zusammenstellen, dass auch ein vermeintlich ›Fernsehsüchtiger‹ keinen Schaden nehmen kann. Aufgrund des mangelnden Vertrauens, das man in die Selektionsleistung des Zuschauers hat, werden die Programmverantwortlichen in der Pflicht genommen, ein ›vernünftiges‹ Programm zu bieten. Dabei bleibt natürlich umstritten, was als vernünftig zu gelten hat, was – moralisch und politisch – zu verantworten ist und was ohne schädliche Wirkung bleibt. Die Beantwortung der Frage nach einem Programm, das jedem zuträglich ist, so dass keiner Abschalten braucht, bleibt offen. »Doch«, so moniert Telemann anlässlich klerikaler Sendungskritiken, »bloß weil es [das Fernsehen] niemanden daran hindern kann, sich zur falschen Zeit in die falsche Sendung einzuschalten,« darf daraus kein Programmkonzept resultieren, das sich allen Bedenken gerecht zu werden hat und sich jeder Forderung verpflichtet. »Ein Programm, das mehr sein möchte als Rieselfeld erbaulicher Zeitvergeudung, kann nicht immerzu das moralische Abc hersagen.«7 Telemann setzt sich hier gegen ein Einheitsprogramms für alle ab, das sich inhaltlich allein auf einen Minimalkonsens der Fernsehschaffenden, -kritiker und -zuschauer beschränkt. Er sieht keine Notwendigkeit zur Einigung auf einen solchen Minimalkonsens, weil er auf die Selektionskompetenz des Zuschauers vertraut. Er geht von einem Zuschauer aus, der frei entscheiden kann, welche Sendungen er schaut und gegebenenfalls die Fähigkeit zum Ab6 7

Vgl. z.B. Anonymus: »Die Morde am Familientisch. Die düstere Kehrseite des Werbefernsehens im Westen«, in: epd/Kirche und Fernsehen 9 (1959), S. 1. Telemann: »Verhimmelung« (in dieser Sektion).

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schalten hat. Immer wieder weist er darauf hin, dass der Rezipient dem Fernsehen nicht willenlos ausgeliefert sei, sondern die Sendungen nach seinem Geschmack und Bedürfnissen auswähle. Doch laut Telemann schaltet der Zuschauer nicht ab, weil eine Sendung in moralischer oder anderer Hinsicht bedenklich scheint, sondern weil die Darbietungen ästhetisch mangelhaft und ohne jeden Unterhaltungswert sind. Nicht nur die charakterliche Disposition des Publikum, sondern auch die Folgen der TV-Rezeption sieht Telemann nicht so düster und drastisch, wie viele seiner Zeitgenossen. In den 50er und 60er Jahren wird wie heute auch vor den Wirkungen der Mediennutzung gewarnt. Wie in aktuellen Diskussionen fürchtet man auch damals eine durch das Fernsehen verursachte Verdummung und Verrohung der Gesellschaft. Dabei stehen nicht anders als heute Gewalt- und Verbrechensdarstellungen besonders in der Kritik. Es wird vermutet, dass als Folge ihrer Rezeption ein Gewöhnungseffekt gegenüber brutalen Handlungen eintritt oder dass sie gar als Vorbild für Verbrechen dienen. Während in jüngeren Diskussionen aber Filme wie American History X für Gewaltverbrechen verantwortlich gemacht werden, stehen in den 60er Jahren Kriminalserien wie Stahlnetz unter Verdacht, als Handlungsanleitung für Verbrechen gedient zu haben.8 Die Darstellung von Gewalt mag zwar eskalieren, aber die Argumentationsstruktur bleibt über die Jahre gleich. Solche Behauptungen von Nachahmungstaten und anderen Fernsehwirkungen quittiert Telemann jedoch in gewohnt ironischer Weise. Das Fernsehen führe weder zur Abstumpfung gegenüber Gewalt noch zu einem »Volk von TV-Trotteln oder Bösewichten«,9 denn so etwas bringe nicht erst das Fernsehen hervor. Dummheit und Gewalt – so Telemanns Resümee – seien nicht fernsehgemacht, sondern habe es schon immer gegeben. Das Fernsehen spiele dabei allein die Rolle des perfekten Sündenbockes. Es sei die immer passende Ursache, wenn es um die Erklärung gesellschaftlicher Übel gehe. Dieser schnelle Rückschluss auf das Fernsehen als Ursache für gesellschaftliche Missstände steht im Kontrast zu der Unsicherheit, die hinsichtlich des Sehverhaltens und der Zuschauerpräferenz herrscht. Der Zuschauer bleibt für die Programmgestalter das unbekannte Wesen, die Größe X, der durch Infratest-Studien konkrete Eigenschaften und Bedürfnisse zugeschrieben werden. Telemann erachtet jedoch den damit verbundenen Erkenntnisgewinn gering.10 8

Vgl. Telemann: »Die Mörder sehn unter uns« (in dieser Sektion). Vgl. zu American History X z.B. Frank Pergande: »In Neuruppin endet der Prozeß gegen die Mörder des Schülers Marinus Schöberl mit hohen Haftstrafen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2003, S. 9. 9 Telemann: »Abhärtung« (in dieser Sektion). 10 Telemann: »Ab und an« (in dieser Sektion).

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Ab und an (17/1959) Seit dem 9. April weiß Telemann, was sich Philosoph Jean-Paul Sartre und Regisseur Hans Schweikart unter einem fortschrittlichen Inferno vorstellen: einen Ort, wo Frauen ohne Spiegel, Männer ohne Selbstachtung und Uhren ohne Zeiger auskommen müssen (Geschlossene Gesellschaft). Natürlich ist es sehr unangenehm, an einen solchen Ort zu geraten, zumal, wenn die Mitverdammten so fehlbesetzt sind wie in der BadenBadener Inszenierung. Aber die Hölle? Nein. Die Hölle, das ist – das kann nur sein: ein Fernsehapparat ohne Knöpfe. Und: in alle Ewigkeit die Unterhaltungssendung Abfahrt 14 Uhr 25 des Südwestfunks. Das irdische Fernsehen, soweit es nicht zum gastronomischen Kundendienst gehört, kann man jederzeit abschalten. Wie das Radio. Aber tut man’s? Bringt man es über sich, der Stahlgewinnung an der Weser oder dem Endspiel um die Juniorenmeisterschaft im Hallenfaustball eigenmächtig ein Ende zu setzen? Besonders sensible Naturen drehen in solchen Härtefällen den Ton weg. Das Bild lassen sie zappeln. Wer weiß, denken sie, vielleicht »kommt doch noch was«. Und weil sie das denken und weil überhaupt die Augen viel neugieriger sind als die Ohren, darum zählt auch ein Fernsehapparat mit Knöpfen zu den Sündenstrafen. Wenn auch nur zu den zeitlichen. Wer des Erfinders Karl Ferdinand Braun mit Nachsicht gedenken will, der kann nur eines tun: ins Programmheft schauen und dann gar nicht erst einschalten. Wie erfährt nun das Deutsche Fernsehen, ob und warum eine Sendung die Bildröhren kalt läßt? Es telephoniert. Frei aus dem amtlichen Fernsprechbuch. Nur der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband, dem man erzählt hat, daß höchstens ein Drittel der Fernsehteilnehmer telephonisch erreichbar ist, bezieht sein Wissen von einem Institut für Marktforschung (Infratest, München). Das telephoniert zwar auch, macht aber noch obendrein Panel-Tests (Panel = Feld). Das heißt, es ermittelt nach bewährten demoskopischen Regeln 400 Briefschreiber, die sich bereit erklären, drei Monate lang die Sendungen des Abendprogramms zu kritisieren. Aus dem Ergebnis ihrer kritischen Mühen wird der Urteilsindex errechnet, die telephonische Umfrage gibt Aufschluß über die Beteiligung. Im Anfang, als die Marktforscher noch nicht wussten, was für Frohnaturen beim Fernsehen maßgebend tätig sind, ließen sie die IndexwertSkala von 0 bis 100 reichen. Dies hatte zur Folge, daß die Intendanten laut aufjubelten, wenn eine Sendung den Urteils-Index 50 erzielte.

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»Fünfzig Prozent waren begeistert«, jubelten sie ziemlich grundlos. Und so wird denn heute, zur Vorsicht, von –10 bis +10 gewertet. Null bedeutet »durchschnittlich«. Aber auch diese Maßregel schloß Mißverständnisse noch nicht aus; denn nun geschah es, daß der Verantwortliche für die Unterhaltungssendung Drei kleine Blonde dem Verantwortlichen für die Dokumentarsendung Milchziegenzucht in Nordnorwegen triumphierend seinen Index unter die Nase hielt (»Ätsch. Plus zwo«), und weil dergleichen zwar menschlich, aber einer harmonischen Zusammenarbeit nicht immer förderlich ist, rechnet man neuerdings, neben dem absoluten, noch den relativen Urteils-Index aus. Dabei wird auch der Jahresdurchschnitt einer jeden Sendesparte berücksichtigt (Sport: +4, Unterhaltung: +3, Fernsehspiel: +3, Politik: +1, Kultur: +1). Auf diese Weise herrscht endlich Klarheit, wenn auch nicht mehr soviel Jubel. Lohnend ist das Verfahren auf jeden Fall. Denn benotet das Publikum eine Darbietung schlecht, kann sich der betreffende Sender immer noch in dem Bewußtsein sonnen, ein Hüter und Wegbereiter zu sein, der, wenn es die Kultur gebeut, auch einsame Entschlüsse zu fassen vermag (Ballettsendung Pelleas und Melisande, München: relativer UrteilsIndex: –l). Fällt der Test günstig aus (Kurt-Wilhelm-Opern: +9), kann er seinen Kritikern entgegenhalten, wie weltfremd sie doch urteilen. Was für Gefühle aber mögen den Sender Hamburg beschleichen, wenn er die Index-Ziffern der Perry-Como-Show studiert? Die letzten lauten: –3 (relativ: –5). Beteiligung: 43 Prozent. Mit dürren Worten: Perry Como, »König des Fernsehens«, Idol aller überseeischen Teenager, »begehrtester Ehemann der Vereinigten Staaten« – Perry Como ist dem deutschen Fernsehzuschauer ein mittlerer Greuel. Und weil sich die BBC London das Nachspielen von 35 Como-Show-Minuten 2000 Pfund kosten läßt und kein Grund zu der Annahme besteht, daß Perry den übrigen Europäern Freundschaftsrabatte gewährt, ist er obendrein ein sehr kostspieliger Greuel. Wenn Telemann Pleister hieße, würde ihn das beunruhigen. Schließlich ist es ja nicht ganz gleichgültig, wofür man als Intendant Geld ausgibt, noch dazu, wenn man sich nicht auf Kulturelles herausreden kann. Doch ist es durchaus denkbar, daß der NWRV das Umfrage-Ergebnis ohne nennenswerte Zerknirschung aufnimmt. Im Gegenteil, nun kann er tief Luft holen und sagen: Bitte sehr, wenn ihr das nicht haben wollt, wonach sich die ganze westliche Welt, einschließlich Zyperns, die Lippen leckt, wenn ihr einen Mann abzulehnen wagt, der im Jahr so viele Dollars verdient, wie ihr in zehn Jahren Sorgen habt, kurz, wenn ihr gut gemachte Unterhaltung nicht zu schätzen wißt, dann müßt ihr euch eben mit der begnügen, die wir mit unseren bescheidenen Mitteln zustande

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bringen. Kann er sagen. Weil er auf Infratest abonniert ist. Damit er es aber nicht sagen kann, der NWRV, auch nicht im Scherz, hat Telemann es hier vorweggenommen. Merke: In Canonsburg, USA, gibt es sogar eine Perry-ComoAvenue.

A b h är t u n g ( 2 2 / 1 9 5 9 ) Deutsche Blumenfreunde wollen entdeckt haben, daß Topfpflanzen, die man in den Strahlungsbereich einer Fernsehbildröhre stellt, langsam dahinwelken. Wohl ist der wissenschaftliche Beweis dafür noch nicht erbracht; doch was immer die Biophysiker herausfinden werden: Es kann nichts Besorgniserregendes sein. Denn Blumentöpfe lassen sich ja jederzeit aus der Gefahrenzone entfernen. Was sich nicht entfernen läßt, schon gar nicht nach Anbruch der Dunkelheit, sind Nachtfalter und Kinder im zarten Alter. Daß letztere durch zu häufiges Fernsehen Schaden am Leibe erlitten, diese Befürchtung zerstreute das Max-Planck-Institut für Biophysik vor Monaten mit der Kunde, daß die Braunsche Röhre nicht einmal ein Prozent der Strahlungsbelastung verursacht, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Wogegen die Frage nach den Schäden, die der kindlichen Seele zugefügt werden, noch sperrangelweit offen steht. Soviel ist sicher: Mag das »Kleben am Bildschirm« bei Erwachsenen auch nur schleichende Zivilisationskrankheiten hervorrufen (aus Amerika wurden bereits Fälle von Fernseh-Embolien gemeldet) – bei Kindern stellen sich erkennbare Folgen sehr bald ein. Die auffälligste ist eine stärkere, ja nahezu hypertrophische Ausprägung des Nachahmungstriebs, die ihren Niederschlag vor allem im Spiel findet. Kinder, die regelmäßig fernsehen dürfen, spielen nicht mehr »Räuber und Prinzessin«, sie spielen Sendungen nach, die ihnen gefallen haben. Daß sie dabei nicht Clemens Wilmenrod oder Werner Höfer, sondern lieber Inspektor Garret oder den Letzten Musketier als Spielvorlage benützen, sollte noch kein Grund zur Beunruhigung sein. Wie aber steht es mit den schlimmeren Folgen, die Fernseh-Eltern vorschweben, wenn sie Fernseh-Kindern hin und wieder das Zuschauen verbieten? Hier scheiden sich die guten Geister. »Was wird unseren Kindern angetan!« klagt der Evangelische Informationsdienst Kirche und Fernsehen in einem Artikel über die Kriminalfilmreihen des Werbeprogramms. »Der Umgang mit Gangstern, mit Gewalt, Lüge, Mord wird ihnen als etwas Selbstverständliches zugemutet ... Wenn das Werbefernsehen so weiter macht, dann sind sie bald so abgehärtet, daß ein Mord auf offener Szene ihnen kaum noch Neugier abverlangt.« So sehen es die einen.

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Andere, insonderheit englische Jugendpsychologen, sehen es anders. »Für ein kleines Kind, das sich seiner Selbstbeherrschung noch nicht sicher ist, sind die schlechten Antriebe, die die Schurken (in Kriminalund Wildwestfilmen) verkörpern, viel zu gefährlich, als daß es sich ihnen anvertrauen würde«, behauptet die Zeitschrift Family Doctor, die im Auftrag der British Medical Association erscheint. »Das Kind braucht die Gewißheit, daß das Gute einen entscheidenden Sieg über das Böse davonträgt. Wenn man aus dem Fernsehen jede Spur Gewalttätigkeit entfernte, würde das Kind trotzdem das Bewußtsein behalten, daß es solche Dinge gibt. Eltern und Erzieher, die es auf diese Weise vom Leben abzuschirmen suchen, meinen es gut, liefern aber die Ursache für viele Verwicklungen und Nöte.« Wer also eines Tages feststellen muß, daß der Trost seines Alters infolge zu wenigen oder zu vielen Fernsehens mißraten ist, der kann entweder der Kirche oder dem Sigmund Freud die Schuld geben. Telemann will sich da nicht einmischen. Schon deshalb nicht, weil ihn die Frage, was Kinder fernsehen sollen, viel weniger beschäftigt als die, ob sie überhaupt fernsehen sollen. Deutsche Seelensachverständige neigen zu der Ansicht, daß dem Kind, dessen erste Lebensaufgabe es ja ist, die Welt begreifen zu lernen, keine vorgefertigte Wunsch- oder Scheinwelt gezeigt werden darf. Es muß sich, so erklären sie, seine Vorstellung von den Sachen, die sich so hart im Raume stoßen, selber bilden. Bei einer Lesegeschichte, etwa einem Märchen, kann es die geschilderten Vorgänge mit seinen Erfahrungen noch in Einklang bringen. Bei einem Film oder einem Fernsehspiel wird ihm diese fruchtbare Mühe abgenommen: Das Kind sieht Dinge, die sich mit nichts, was es bisher kennengelernt hat, vergleichen lassen. Und so strengt es seine Phantasie gar nicht erst an, sondern nimmt das Geschaute ungeprüft als neue Erfahrung, als »sichere Tatsache« auf. Wenn diese Ansicht richtig ist – und Telemann zweifelt nicht daran –, dann müßte das Deutsche Fernsehen sogar Filmreihen wie Fury, die Abenteuer eines Pferdes oder Corky und der Zirkus vom Programmzettel streichen. Denn auch Kinder über sechs Jahre bedürfen noch der Phantasie-Anstrengung (für jüngere werden seit Oktober 1958 keine Sendungen mehr produziert). Wie aber kann man dem Seelenunheil steuern? Nun, da gibt es drei Möglichkeiten: Man kann auf Fernsehspiele, Filme und Schlagerparaden verzichten und fürderhin nur noch jugendpsychologisch Wertvolles ausstrahlen. Oder in jedem Wohnzimmer einen Jugendschutzbeamten postieren. Oder das Fernsehen ganz abschaffen. Mehr kann man nicht.

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Da diese Maßnahmen jedoch höchstens bei der Filmindustrie Anklang fänden, dürften sie, zumindest in naher Zukunft, kaum erwogen werden. Bei dem trüben Gedanken, daß nun ein Volk von TV-Trotteln oder Bösewichten heranwachsen wird, tröstet Telemann einzig dies: Viel mehr Dummheiten, als die noch nicht fernsehenden Generationen begangen haben, werden auch die kommenden nicht zustande bringen. Mangels Phantasie. Merke: »Meine Eltern waren immer gut zu mir, aber sie ließen mich nicht das Fernsehprogramm ansehen« (Antwort der Münchner Schülerin Marion P., 13, auf die Frage, warum sie sich zwölf Tage mit älteren Männern herumgetrieben habe).

M i t G e w al t ( 4 4 / 1 9 5 9 ) Wer mit Genehmigung des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen eine Fernseh-Rundfunk-Sendeanlage betreibt, der möchte, daß man ihm dabei zuschaut. Teils aus Eitelkeit – eine Schwäche, von der auch gemeinnützige Körperschaften nicht völlig frei sind –, teils aus der Erwägung, daß ein Fernsehsender kein »Ding an sich«, sondern eine »Erscheinung« ist, von der erwartet wird, daß sie »die Sinne affiziert« (Kant). Wie aber bringt man andere dahin, zuzuschauen? Bis vor kurzem hatte sich das Deutsche Fernsehen darauf verlassen, daß seine Abonnenten dieser Tätigkeit aus freien Stücken obliegen. Es arbeitete sozusagen auf Vertrauensbasis; was ihm um so leichter fiel, als die Umsätze der Rundfunkindustrie und die Teilergebnisse der Meinungsforscher solcher Haltung keineswegs Hohn sprachen. Doch muß da unlängst etwas passiert sein, was dieses Vertrauen erschüttert und ernste Zweifel an des Volkes bedingungsloser Schaubereitschaft hervorgerufen hat. Und zwar muß es im Bereich des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands passiert sein. Denn diese Sendergruppe wendete – statt unsere Neugier wie bisher auf gütliche Weise zu wecken – erstmals rohe Gewalt an: Sie startete die Kriminalserie Der Andere. Unter einer Kriminalserie versteht man diejenige Art drahtloser Zerstreuung, die Menschen aller Intelligenz- und Bildungsgrade dazu zwingt, an bestimmten Wochentagen fernzusehen. Ohne Rücksicht auf Gemütsverfassung, lieben Besuch oder schöngeistige Vorsätze. Dieser Zwang wird nicht so sehr durch die Qualität des Gebotenen als vielmehr dadurch verursacht, daß einem, falls man auch nur eine Fortsetzung versäumt, alles weitere Geschehen auf der Scheibe unklar bleibt. Und Un-

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klarheit über kriminal-literarische Details kann selbst hartgesottenen Schöngeistern die Ruhe rauben. Bevor der NWRV das Gesetz der Kriminalserie in Kraft treten ließ, blickte er wachen Auges nach England, wo das Abstottern von Räubergeschichten ehrwürdige Funktradition ist. Und weil er seinen ersten Gewaltstreich nicht von Unkundigen führen lassen wollte, ging er gleich zum Spezialisten, nämlich zu Francis Durbridge. Francis Durbridge, 47, den die Angelsachsen als Gebrauchsautor etwa auf die Rangstufe der Agatha Christie stellen, verdankt solche Wertschätzung einer Detektivstory-Serie (Call Paul Temple), die dem BBCHörfunk Sendestoff für mehr als zwei Jahrzehnte lieferte und deren Dauererfolg im In- und Ausland (auch das Kölner Funkhaus brachte die Temple-Storys als Hörspielreihen) das BBC-Fernsehen schon bei seiner Gründung bestimmte, den Meister der Kriminal-Kurzstrecke fest in sein Programm einzuplanen. So entstanden seit 1946 zehn Fernsehserien. Durbridge, der ursprünglich Schauspieler werden wollte, jedoch aufgrund seiner Frühbegabung, unzureichende Songs im Noel-Coward-Stil zu schreiben, davor bewahrt blieb, bezeichnet sich selbst als Handwerker, verbringt täglich 14 Stunden am Schreibtisch, läßt von jedem Manuskript 99 Kopien anfertigen und scheut, wenn es gilt, die Lebensweise bestimmter Berufs- oder Gesellschaftsgruppen zu erforschen, weder Zeit noch Mühen. Sein literarisches Leitbild ist »der Alltagsmensch in abenteuerlichen Situationen«, wogegen sein eigenes Verhältnis zur Umwelt des Abenteuerlichen entbehrt; was sowohl an Äußerlichkeiten (Durbridge trägt nur einfarbige Krawatten) als auch daran erkennbar ist, daß er seit 21 Jahren mit dem gleichen Produzenten zusammenarbeitet. Auch mit dem Fernsehen der BBC lebt er in anhaltend gutem Einvernehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil die BBC-Leute den Schauspielern noch nie verraten haben, wie die Geschichte weitergeht. Durbridge macht das nämlich in seinen Verträgen zur Bedingung. Sogar der Darsteller des Mörders darf keine Ahnung haben, wer der Mörder ist. Auf diese Weise glaubt der Autor die Erbfeindin aller Schauspielkunst, die Routine, in Schach halten zu können. Ob auch der Sender Hamburg diese Vorschrift befolgte, als er Durbridges Serie Der Andere (The other man) in Szene setzte, erscheint zweifelhaft. Denn dem bösen Sergeanten Broderick (Heinz Klingenberg) stand die Missetäterschaft schon ab der dritten Folge deutlich im Gesicht geschrieben. Indes, was tat’s? – Das Fernsehvolk, weit davon entfernt, die sechsteilige Gewaltmaßnahme als Tort zu empfinden, reagierte wunschgemäß: Es pfiff aufs »Kino nebenan«, tauschte Dienstmädchen-Ausgang und

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Nachtdienste, sagte Kegelabende ab, ließ Telephone und Hausglocken klingeln – ja, in einer Wilhelmsburger Maschinenfabrik führten Unstimmigkeiten hinsichtlich der Person des Mörders zu einer soliden Schlägerei. Friedfertigere Naturen schickten wenigstens Briefe, (NWRVProduzent John Olden: »Der Versuch ist so ausgegangen, daß man nur sagen kann: Also schnell wieder eine Serie.«) Telemann, der für jede Lehre, die ihm das Leben erteilt, dankbar ist, darf also vermerken: Das Interesse war groß. Und es war trotz des organisierten Ungemachs kein grimmiges, es war ein freudiges Interesse. Wenn man von den paar unabkömmlichen Nachtbediensteten absieht. Der deutsche Fernsehzuschauer will gar kein Zuckerbrot, er will die Peitsche. Dennoch sollte der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband beim nächsten Einkauf darauf achten, daß ihm die Firma Durbridge Ltd. die Gebrauchsanweisung mitschickt. Darin steht nämlich, daß eine Fernsehstation, die auf sich hält, niemals mehr als eine Filmfolge pro Woche in den Äther funkt. (Die BBC hat dafür den Montag reserviert.) Nicht aus Geiz, sondern weil sich der Normalkonsument wohl einen, nicht aber drei Abende freihalten kann. Merke: »Je glücklicher eine Nation ist, desto neugieriger ist sie.« (Ferdinando Galiani: Gedanken, Beobachtungen, Dialoge.)

L i e b e S ac h en ( 4 5 / 1 9 5 9 ) »Wir haben uns darum gekümmert: Geht’s eigentlich jedem so gut, wie’s hier draußen aussieht? Und wir haben festgestellt: Nicht jedem geht es so gut.« – Mit diesen Worten nötigte Quiz-Altmeister Peter Frankenfeld eine arglose Frau aus dem Zuschauervolk auf die Bühne des Wiener Stadttheaters, um ihr dort mitzuteilen, daß sie Adam heiße, von Beruf Plakatschreiberin sei und ihre Schäferhündin Lassie, wirtschaftlicher Not gehorchend, dem Tierschutzverein überantwortet habe. Frau Adam stand nicht an, dies zuzugeben, wobei ihr anzumerken war, daß sie die öffentliche Verkündung ihrer Privatangelegenheiten nur mit Maßen erfreulich fand. Daraufhin schilderte Meister Frankenfeld ausführlich seiner Helfershelfer Mühen, des inzwischen verschollenen Hundes habhaft zu werden, ließ die Richtigkeit seiner Angaben durch Zeugen bestätigen und erklärte schließlich, mit frommer Arglist in der Stimme: »Ich bin unglücklich, Ihnen sagen zu müssen, daß wir alles getan haben, weil wir von Ihrer Hundesehnsucht erfahren haben – aber es hat nicht geklappt ... Machen Sie mal die Augen zu!«

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Nach solchen Präliminarien konnte Frau Adam und mit ihr das gesamte deutschsprachige Fernseh-Europa nur eine Überraschung erwarten, nämlich die Wiederkehr der verlorenen Lassie. Doch der Süddeutsche Rundfunk, dessen Nachforschungen in der Tat vergeblich gewesen waren, hatte nur ein Lassie-Surrogat anzubieten: einen SchäferhundWelpen, den die Beschenkte ungeachtet seines reinen Geblüts nur widerstrebend und ohne den zartesten Anflug von wienerischem Charme entgegennahm. »Mir war mei Lassie lieber«, grollte sie noch im Abgehen. So geschehen am 24. Oktober. Diese psychologische Panne (Frankenfeld: »Ich bin ganz glücklich, daß das so ausgegangen ist, weil es doch bewiesen hat, daß da nichts einstudiert wurde«) war noch relativ harmlos im Vergleich zu der, die passiert wäre, wenn die Stuttgarter ihren ursprünglichen Plan ausgeführt und das »goldene Wiener Fiaker-Herz« zur Schau gestellt hätten. Sie wollten einen der vielbesungenen Mietdroschkenlenker mit seinem »braven alten Schimmel«, Freund aus frohen Fiaker-Tagen, konfrontieren. Indes, vorsichtige Umfragen ergaben, daß der Empfindungsreichtum eines Wiener Kutschers gemeinhin zu hoch veranschlagt wird. Alle Befragten ließen durchblicken, daß ihnen ein solches Wiedersehen keineswegs vordringlich erscheine. So kann man sich täuschen. Dabei hatten sich die Veranstalter gerade von den Wienern jenen ansteckenden Überschwang der Gefühle erhofft, den sie bei ihrem ersten Tränenappell (26. September) in Aalen so schmerzlich vermißten. Gewiß, die Schwester des Wangerooger Leuchtturmwärters war erfreut, ihre Lieben um sich versammelt zu sehen. Aber von fernsehgerechter Glückseligkeit konnte keine Rede sein. Das hatte zwei Gründe: Einmal gehört zu einer optisch ergiebigen Rührszene ein Kamera-Team, das sich nicht scheut, feuchte Leuchtturmwärterblicke in Großaufnahme zu zeigen (das Stuttgarter Team scheute sich), zum anderen lassen sich als Schauobjekte nur solche Personen verwenden, die deutlich sichtbarer Emotionen fähig sind und denen die Überlegung, von Millionen Augen abgetastet zu werden, kaum ins Bewußtsein dringt. Peter Frankenfeld, der solche »lieben Sachen« (so nennt er die neue Art der Abendunterhaltung) in Amerika, genauer: bei Ralph Edwards von der NBC, studiert hat, hätte wissen müssen, was den Erfolg der überseeischen Dauerserie This is your life ausmacht: die straffe und kostspielige Organisation (Edwards läßt sich jede 30-Minuten-Show 90 000 Dollar kosten) und die systematische Gewöhnung an den Gedanken, daß ein Schlüsselloch letztlich auch nur ein »Fenster zur Welt« ist. Beides liegt hierzulande noch im argen. Weil unsere Fernsehfunkanstalten in der eben-

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so fixen wie geschmäcklerischen Idee verhaftet sind, die Schaugier der Menge in schicklichen Grenzen halten zu müssen. Immerhin: Der Anfang ist gemacht. Wenn es unseren Schaustellern gelingt, sich solcher atavistischer Vorurteile zu entschlagen (wofür es Anzeichen gibt), und wenn die zur Schau Gestellten gelernt haben, ihr freud- oder leidvolles Inneres unbekümmert nach außen zu kehren (was bei der Sprödigkeit unseres Volkscharakters einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte), werden auch wir deutschen Zuschauermillionen eines Tages Gelegenheit erhalten, in anderer Leute volles Privatleben zu greifen. Unbelehrbare Kulturträumer werden dann von ,,kommerzialisiertem Sadismus«, »Geschmacklosigkeit« und »seelischer Grausamkeit« sprechen, wie sie das auch in Amerika und Großbritannien getan haben. Und die Erzeuger der lieben Sachen werden darauf hinweisen, daß es doch edel, hilfreich und gut sei, Mitmenschen glücklich zu machen. Und die Zuschauerschaft wird das »Seid umschlungen, Millionen«-Gefühl, das sie sonst nur im Advent oder allenfalls noch bei EurovisionRingsendungen zum Jahreswechsel überkommt, nicht mehr missen wollen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, heißt es im Artikel l des Grundgesetzes. Aber hat der Staatsbürger auch ein »Recht auf die eigenen Tränen«? – Für den Fall, daß die progressive Entwicklung der Massenunterhaltung eine gesetzliche Regelung dieser Frage notwendig macht, schlägt Telemann vor, zwischen Tränen, die innerhalb einer genau festzulegenden »privaten Geheimsphäre«, und solchen, die öffentlich etwa auf einer Schaubühne vergossen werden, sorgfältig zu unterscheiden. Letztere nämlich sollte man einem Volk, das sich sein bißchen Zerstreuung so sauer verdienen muß, nicht vorenthalten. Merke: »Was über den Zaun fällt, gehört dem Nachbarn.« (Alter Rechtsgrundsatz.)

Der Neunzigprozenter (1-2/1960) Wenn leitende Persönlichkeiten des Deutschen Fernsehens gefragt werden, warum sie dieses oder jenes zu senden für sinnvoll halten, dann wissen sie ihre Beweggründe so spritzig zu formulieren, daß es eine helle Freude ist, ihnen zuzuhören. »Ich will ganz offen sprechen – aber es muß natürlich unter uns bleiben«, beginnen sie. Und wenn sie aufgehört haben, fühlt sich der Fragesteller als Ehrenmitglied einer Verschwörung gegen schlechten Geschmack. Manchmal freilich, wenn es darum geht, einen Kongreß oder eine Funkausstellung zu eröffnen, müssen sie solcher Vertraulichkeit entraten.

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Dann lassen sie ein weitgereistes Lächeln um ihre Lippen spielen (weil sie ja schon in England oder gar in Amerika waren) und äußern in aller Öffentlichkeit, daß die deutschen Zuschauer noch manches zu lernen hätten. Vor allem müßten sie lernen, die richtige Auswahl zu treffen. »Es ist nicht jede Sendung für jeden bestimmt«, erklären sie und fügen den vielbelachten Scherz hinzu, daß das Wichtigste an einem Fernsehempfänger der Knopf zum Abschalten sei. Nachdem Telemann dieses Direktoren-Argument zu wiederholten Malen vernommen hatte, stellte er folgende Überlegung an: Lustiges für die Lustigen, Trauriges für die Traurigen und Lehrreiches für die Lernbegierigen. Soweit leuchtet es ein. An wen aber wenden sich Darbietungen, die weder lustig noch traurig noch lehrreich sind? Wer sollte – beispielsweise – vom Sender Hamburg erfahren wollen, wie man sich eine Wohnung einrichtet, wer über Südwestfunk-Weihnachtsmänner lachen, wer bei Otto Höpfner 2 x klingeln? – Und auf welchen sonderbaren Schwärmer hat das Münchner Fortsetzungs-Musical ,,Es gibt immer drei Möglichkeiten« abgezielt? Es muß doch wenigstens einen geben, der all den Aufwand rechtfertigt, überlegte Telemann. Und weil er wußte, daß zwischen Weihnachten und Neujahr, in der Zeit der »Rauhnächte«, die absonderlichsten Dinge geschehen können, machte er sich auf die Suche – und fand ihn, den Einen. Da saß er unbeweglich im Fernsehsessel und starrte ins Zentrum einer 53er Röhre, auf der soeben ein geometrisches Testbild flimmerte. Während Telemann höflich die Tageszeit bot und sein Eindringen entschuldigte, vergewisserte er sich, ob ihn auch kein Trugbild narrte – was ihm leichtfiel, weil er tags zuvor in der britischen MedizinerZeitschrift The Lancet gelesen hatte, woran ein Gewohnheits-Fernseher erkennbar ist. Doch bei dem Mann im Sessel stimmte alles: Da waren die Versteifungen im Bereich der oberen Wirbelsäule (Fernsehhals), da war dieses nervöse Zucken, das durch das Flackern des Bildschirms hervorgerufen wird (Fernsehzucken), und da drückten sich deutlich jene Schmerzen unter dem Brustbein aus, die von stundenlangem Sitzen in verkrampfter Haltung herrühren (Fernsehblähungen). Als nun der Identitätsbeweis solchermaßen erbracht war, entspann sich folgendes Gespräch: TELEMANN: Sie sind also der Mann, der sich nur das ansieht, was andere nicht sehen wollen? DER EINE: Ich sehe mir alles an. Man weiß ja niemals, was kommt. Am 27. Dezember zum Beispiel dachte ich: Fledermaus von Johann Strauß – das gefällt jedem, also kannst du unbesorgt ins Kino gehen. Da las ich noch rechtzeitig: »Neufassung der Dialoge und Regie: Kurt Wilhelm«.

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TELEMANN: Gehören Sie irgendeiner bußeifrigen Sekte an, oder warum tun Sie das? DER EINE (zuckt nervös): Jemand muß es doch tun. Bedenken Sie, was so eine Sendung kostet! TELEMANN: Und was machen Sie in der programmfreien Zeit? DER EINE: Ich schreibe den Sendern Briefe. TELEMANN: Protestbriefe? DER EINE: Im Gegenteil. Ich stärke ihnen den Rücken. Ich bin die 90 Prozent Zustimmung, die den Kritikern im Bedarfsfall entgegengehalten werden. TELEMANN: Wenn ich Sie recht verstehe, erfüllen Sie eine Mission? DER EINE: Ja. Schauen Sie, es ist doch so: Wenn ein Bunter Abend wirklich bunt, ein Komiker komisch oder ein Quiz unterhaltend war, dann brauchen die Anstaltsleiter keine Bestätigung, weil sie’s jeder Reinmachefrau im Studio vom Gesicht ablesen können. Aber wann passiert das schon! In den meisten Fällen wird ein Programm gestaltet, das weder wohl noch weh tut und auf der Erfahrung gründet, daß Langeweile ein Zustand ist, der wenigstens keine heftigen Reaktionen verursacht. Und weil Fernsehdirektoren Menschen sind, die der Selbstachtung und folglich auch der Anerkennung bedürfen, muß es ein Echo geben, das auch dann aus dem Walde heraustönt, wenn gar nichts hineingerufen wurde. Und dieses Echo bin ich. TELEMANN: Glauben Sie nicht, daß auf diese Weise das Geschmacksniveau ... DER EINE: Nach wessen Geschmack soll sich ein Fernsehchef richten? Nach dem eigenen? Dann trägt er die Verantwortung. Nach dem seiner Programmbeiräte? Die haben höchstens Anschauungen. Oder gar nach dem sogenannten Publikumsgeschmack? – Lieber Freund, es gibt nur einen Geschmack, nach dem sich die Herren gefahrlos richten können, und das ist meiner. Denn ich liebe das Fernsehen nicht wegen seiner Programme (zuckt nervös) – ich liebe es um des Fernsehens willen. Als das Zwiegespräch bis dahin gediehen war, begann die Sendung Für die Frau (Wie flechte ich mir ein Bastkörbchen?), und Telemann wollte nicht länger stören. Doch bevor er ging, wünschte er seinem Gesprächspartner ein glückhaftes neues Fernsehjahr und empfahl ihm, was auch The Lancet empfiehlt: keine engen Kleider zu tragen und mindestens einmal je Stunde im Zimmer auf und ab zu schreiten.

I m N am e n d e s V o l k e s ( 4 / 1 9 6 0 ) Der Engländer H. G. Wells hat in seinem Roman Die Zeitmaschine beschrieben, wie die Menschheit in einigen zehntausend Jahren aussehen

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wird. Sie wird aus zwei Gruppen bestehen: aus den »Eloi«, die vom unausgesetzten Müßiggang den Zustand schöngeistiger Infantilität erreicht haben, und aus den »Morlocks«, die durch ununterbrochene Fließbandtätigkeit zu lichtscheuen Arbeitstieren degeneriert sind. Wahrscheinlich stimmt die Prophezeiung. Nur vergaß Wells jenes wichtige Zwischenstadium zu erwähnen, währenddessen sich die Erdbevölkerung zu spalten beginnt: in Wesen, die nur noch fernsehen, und in den minderwertigen Rest. Amerika, von allen westlichen Kulturnationen am weitesten entwickelt, führt auch auf diesem Sektor – jeder zehnte Fernseher hat dort bereits ein Zweit-Gerät. Amerikas Nachwuchs – so haben es die Statistiker errechnet – verbringt täglich die längste nicht mit Schlaf vertane Zeit vor dem TV. 23 Millionen Amerikaner löffeln allabendlich im matt-bläulichen Licht ihrer Empfänger ein TV-Dinner in sich hinein, ein vorgekautes Gericht auf einer Plastikplatte, zu dessen Bewältigung man kein Messer mehr braucht und dessen Beigaben – Kartoffeln, Gemüse, Nachtisch und Kaffee – stets an derselben Teller-Stelle aufgehäufelt sind, damit der dinierende Fernseher sie auch im Dunkeln findet und zu sich nehmen kann, vorausgesetzt, daß er noch weiß, wo der Mund ist. New Yorks Wasserwerke haben erst kürzlich mit einem kostspieligen Dollar-Aufwand eine zusätzliche Druckanlage konstruieren und aufstellen müssen, um in den Abendstunden den zuweilen sprunghaft anschwellenden Wasserkonsum bewältigen zu können – nämlich immer dann, wenn die minutenlange Reklame-Einblendung auf den Bildschirmen den Fernseh-Millionen der Stadt Gelegenheit gibt, ihre bis dahin unterdrückten wasserverbrauchenden Geschäfte zu erledigen. England, auf den kulturellen Spuren seiner einstigen Kolonie, hat im vergangenen Jahr seine ersten Fernsehwahlen hinter sich gebracht und damit bewiesen, daß auch auf der Insel die reinliche Scheidung in Fernseher und unzivilisierten Rest Fortschritte macht: Die Partei mit dem anspruchsvolleren Programm – Labour – wurde klar geschlagen. Für uns Deutsche schließlich birgt das Fernsehen die angenehmste Überraschung: die Erlösung von dem Zweifel, ob es unserer Nation im Sinne von H. G. Wells vielleicht vorbestimmt sei, als Europas »Morlocks« – als lichtscheue Arbeitstiere – zu vegetieren. Durch ein Urteil des Schöffengerichts in Opladen vom l. Dezember ist uns Klarheit darüber geschaffen worden – und was anderes als ein Gerichtsurteil kann unsere Elite überzeugen –, daß diese Sorge unbegründet ist. Trotz der durch den Hitler-Krieg verlorenen Fernsehjahre – auch das sollte man den Neo-Nazis gerade heute stets ins Gedächtnis rufen – ha-

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ben wir den Anschluß an die internationale Entwicklung wiedergewonnen. Die Schöffen von Opladen verurteilten den 23jährigen Kaufmann Günter Weichelt aus Essen zu einem Monat Gefängnis mit Bewährung – wegen Heraufbeschwörung »einer Gemeingefahr«. Diese Gemeingefahr wurde herbeigeführt, als Kaufmann Weichelt am Sonntag, dem 19. Juli 1959, mit seinem Ford 17 M auf der Autobahn zwischen Köln und Düsseldorf im 140-km-Tempo dem heimatlichen Essen – der Stadt, nicht der Mahlzeit – entgegenbrauste und dabei den bereits auf der linken Fahrbahn rollenden Renault des späteren Zeugen Söhnchen so scharf überholte, daß der Renault-Fahrer auf die Bremse trat und sich – »erschreckt und mitgenommen« – »nicht mehr fahrtüchtig fühlte«. Weichelt hatte beim Überholen den linken Seitenstreifen überfahren, wobei »erheblicher Staub aufgewirbelt wurde«, und den Renault anschließend geschnitten. Renault-Söhnchen hielt daher an der nächsten Tankstelle, »um sich zu erholen«. Schon aus dem 140-km-Sachverhalt – die Fordwerke geben 125 Stundenkilometer als Höchstgeschwindigkeit für den 17 M an – wurde klar, daß Kaufmann Weichelt es eilig hatte. Erfährt man nun noch, daß der 23jährige Schnellheimkehrer nicht nur sich und den Renault, sondern auch seine mitrasenden liebsten Anverwandten – Ehefrau, vierjährigen Sohn und Schwägerin – in Lebensgefahr brachte, so drängt sich der zwingende Schluß auf: Es war ihm nicht nur eilig, sondern auch wichtig, lebenswichtig. Wohin also trieb es Sünder Weichelt? Zu einer Entbindung, zu einem Millionengeschäft? Wurde er von der Polizei gejagt? Das Urteil von Opladen hat es für die Nachwelt und zu unser aller Ruhm festgehalten: Er wollte fernsehen. So weit, so gut, sehr gut sogar. Allein, an diesem Punkt muß eingestanden werden, daß der im Fahrer Weichelt verkörperte deutsche »EloiDrang« nach schöngeistiger Infantilität in unserem Lande leider noch nicht allgemein gebührend gewürdigt wird. »Der Angeklagte...«, so heißt es im Opladener Urteil, »wollte aus keineswegs zwingenden Gründen – rechtzeitiges Mitansehen einer Fernsehsendung – möglichst schnell vorankommen.« Nichts gegen die Opladener Schöffen und den zuständigen Oberamtsrichter. Sie urteilten nach bestem Wissen. Hätten sie indes das Programm eingesehen, wäre ihr Spruch hoffentlich milder ausgefallen. Denn am Abend des 19. Juli 1959 lag sehr wohl ein zwingender Grund zu lebensgefährlicher Eile vor: Das Deutsche Fernsehen übertrug um 20.05 Uhr aus dem Kölner Millowitsch-Theater den Schwank Der Juxbaron von Milo und Haller. Und den kölnischen Schwachsinn des Willy Mil-

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lowitsch zu versäumen, bloß weil ein motorisierter Nichtfernseher die Fahrbahn blockiert – dieses Verlangen ist gewiß kein Urteil »im Namen des Volkes«, schon gar nicht des rheinischen. Merke: »Eloi!«

V e r hi m m e l u n g ( 1 8 / 1 9 6 0 ) Wenn klerikalen Pressebediensteten so rüde Wörter wie »Pullover-Girl« oder »Dirne« und so rätselvolle wie »N....-Cocktail« entschlüpfen (FunkKorrespondenz des Katholischen Rundfunkinstituts, Nummer 12), wenn in ihren Publikationen von einer »Mißachtung des Jugendschutzes« oder vom »schlechthin anstößigen und anti-erzieherischen Charakter« gewisser Sendungen die Rede ist, wenn die Katholische Filmkommission wider »bordellnahe Unterhaltung« und deren »bedenkliche Folgeerscheinungen im Raum der Familie« zu Felde zieht, wenn der Kardinal und Kölner Erzbischof Josef Frings in seiner Osterpredigt gegen »falsche Verhimmelung des leiblichen und sinnlichen Lebens« wettert, kurzum, wenn angesichts so vieler kostenloser Reklame die Sittenfilmproduzenten vor Brotneid mit tiefen Augenschatten herumlaufen – dann fragt sich der Laie, welche öffentlich wahrnehmbare Einrichtung Seine Eminenz und die geistlichen Herren Redakteure denn so in Harnisch gebracht haben mag. Und wenn er ein phantasiebegabter Laie ist, tippt er vielleicht auf einen pornographischen Störsender, der da irgendwo aus dem Hinterhalt hervorfunkt, entschlossen, des Bundes Jugend bis ins Mark zu vergiften. Aber weit gefehlt. Die gesamtkirchliche Empörung galt einer Institution, der man Verstöße gegen so manches Gebot zugetraut hätte, nur nicht gerade gegen das der Sittsamkeit – sie galt dem Deutschen Fernsehen. Als Telemann dessen inne wurde, erging es ihm ähnlich wie einem, der lange Zeit Tür an Tür mit einer Konsistorialratswitwe gewohnt hat und nun plötzlich erfahren muß, daß die Dame seit ebenso langer Zeit der gewerbsmäßigen Unzucht obliegt: Er verwunderte sich sehr. Das Fernsehen ein Lotterbetrieb? – Wo doch seine Ansagerinnen immer so zugeknöpft und seine Direktoren so einsichtsvoll waren? Was die Fehl-Verhimmelung des sinnlichen Lebens anbetrifft, so hatten die Ärgernisnehmer beider Konfessionen in der Hauptsache die szenische Gestaltung von Ehebrüchen, Ehescheidungen sowie des außerehelichen »Sichauslebens« im Auge, dargeboten in den Sendespielen Hexenschuß (9. Januar), Das Mißverständnis (29. Februar) und Zum Geburtstag (10. März). Die Wiedergabe des Allzuleiblichen war nur in ei-

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nem einzigen Fall anzuprangern, nämlich während der »soziologischen Studie« von Peter Schmid: Begegnung mit St. Pauli (30. März). Und dieser Dokumentarfilm, in dem einen Lidschlag lang gezeigt wurde, wie eine Reeperbahn- ....e die erste vergleichsweise unschuldige Phase ihres Entkleidungskunstgewerbes durchwabert, war es wohl auch, der die Entrüstung auf die Spitze, den Kardinal auf die Kanzel und den FernsehKoordinator in die Enge trieb; zumal der Letzterwähnte es schuldhaft versäumt hatte, diese Sendung des Anstoßes in die nicht mehr , »jugendfreie« Zeit nach 21 Uhr zu verlegen. »Strip-Tease für Jugendliche?« scholl es von katholischer, »Nun langt es uns!« von evangelischer Seite. Denn: Mögen hinsichtlich der Unmoral eines Schauspiels die Ansichten auseinandergehen – über die Unmoral einer Blöße herrschte noch allemal Einmütigkeit. Telemann hat die meisten Sittengreuel miterlebt und steht nicht an zu bekennen: Manches von dem, was da so laut und lustvoll getadelt wird, war in der Tat nichts für Kinder. Denn die wären über der Begegnung mit St. Pauli oder viertelgescheiten Boulevard-Theater-Dialogen prompt eingeschlafen. Und einiges, zum Beispiel das Spielchen Hexenschuß, war auch nichts für Erwachsene – zumindest für solche mit Geschmack. Des weiteren sei zugegeben, daß es ein vernünftiger Einfall ist, Sendungen, die einen gewissen Reifegrad voraussetzen, für den späteren Abend aufzusparen. Doch das Fernsehen der »Bordellnähe« oder der Familienfeindlichkeit zu zeihen, bloß weil es niemanden daran hindern kann, sich zur falschen Zeit in die falsche Sendung einzuschalten, ist auch dann kein vernünftiger Einfall, wenn die Ständige Programmkonferenz solche Bezichtigung mit einem Besserungsgelöbnis quittiert. Natürlich stellt es jedem Staatsbürger frei, zu befürchten, daß eine frivole Ehekomödie oder ein zeitkritisches Filmdokument der heranreifenden Jugend abträglich sei; und wenn er es für angebracht hält, seine Befürchtung in Worte zu kleiden, die jeden Tugendsamen beim Kauf eines Fernsehgerätes erröten machen, so bleibt auch dies ihm unbenommen. Dennoch wäre zu wünschen, daß sich die Obsorge der Jugendpfleger, statt nur auf das Leibhafte, auch auf jenes weniger klar umrissene Ethos erstreckte, das – beispielsweise – am 19. April von der Tagesschau verlangt hätte, den fanfarenfrohen »Schweigemarsch« des uniformierten Jungvolks von Helmstedt nicht als »Zeichen der Verbundenheit aller Deutschen«, sondern richtig als nationalistischen Frühjahrs-Umtrieb zu bezeichnen. Vor 21 Uhr. Im übrigen sollte gelten: Ein Programm, das mehr sein möchte als ein Rieselfeld erbaulicher Zeitvergeudung, kann nicht immerzu das mo-

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ralische Abc hersagen. Unzarter ausgedrückt: Es lassen sich auch Fernsehdarbietungen denken, die nicht für Erzbischöfe bestimmt sind. Merke: »Die wahre Moral macht sich über die Moral lustig« (Pascal, Gedanken).

V i e l Fr eu n d ( 3 2 / 1 9 6 0 ) Ein gutes Jahr schon sei sie verheiratet, enthüllte die Kandidatin Obermeier auf Befragen. »Ist ja fabelhaft«, scherzte der Quiz-Geselle Joachim Fuchsberger aus dem Stegreif. »Stellen Sie sich vor, Sie wären ein schlechtes Jahr verheiratet!« – Worauf im Saal ein Lachsturm losbrach, so jäh und gewaltig, als hätte die Welt gerade diesem Humor-Erweis seit Jahren entgegengefiebert. Das war am 16. Juli in der Sendung Nicht nervös werden vom NWRV, Köln. »Wenn ich die kleinen Mädchen seh’ in kindlichem Gewimmel... dann sag’ ich froh: Dem Himmel sei Dank dafür, daß er die kleinen Mädchen wachsen läßt... Denn nur durch kleine Mädchen haben’s kleine Jungs wie wir so himmlisch auf der schönen Welt hier«, sang der Endsechziger Willy Birgel – und wurde mit einem Applaus belohnt, wie ihn sonst nur Länderspiel-Torschützen erhalten. Das war am 24. Juli in der Sendung Spaß mit Ernst (Stankovski) vom Bayrischen Rundfunk. Solches Mißverhältnis zwischen dem Belang einer Darbietung und ihren akustischen Folgen beruht einmal darauf, daß die Television imstande ist, Beifall, Gelächter und ähnliche Kundgebungen des öffentlichen Wohlmeinens künstlich herbeizuführen. Zum anderen darf es als Auswirkung eines unbestreitbaren Notstandes gelten: Das Fernsehen hat, wenigstens in seiner Eigenschaft als Schaubühnen-Ersatz, kein Publikum, es hat nur Zuschauer. Was da täglich aus Millionen Bildröhren hervorquillt, wird einzeln, allenfalls grüppchenweise konsumiert. Bei Kriminal- oder Trauerspielen mag das angehen, weil Furcht und Mitleid zu den Emotionen zählen, die jeder mit sich selber abmachen kann. Mißlich wird es erst, wenn Sendungen an den Frohsinn appellieren. Hier braucht der Einzelmensch die Masse, sei es, um sicherzugehen, daß ein Vorgang, der ihn zum Lachen reizt, auch wirklich spaßhafter Natur ist, sei es, damit eine Pointe, die er aus Eigenem verkannt hätte, ihren Zweck erfülle. Selbst in Fällen, wo der Wert einer Humorleistung außer Frage steht, sagt sich der einsame TV-Gast betrübt: Was kann das schon für ein Scherz sein, über den nur ich allein lachen muß.

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Im Bemühen, dem Abonnenten ein frohsinniges Gemeinschaftserlebnis vorzutäuschen, hat das Fernsehen bislang vier Auswege beschritten. Der erste war ein Dornenpfad: Es stellte seinen »Großen Sendesaal« oder eine andere Riesenräumlichkeit voll Stuhlreihen, verkaufte Eintrittskarten und brach kühn ein Quiz oder einen Bunten Abend vom Zaun. Dies hatte den Nachteil, daß Lachsalven immer nur dann erschollen, wenn ausreichende Gründe zum Lachen vorlagen. Der zweite Weg war schon weniger beschwerlich: Man bestellte sich ein Häuflein Freikarten-Volks ins Studio (auf TV-deutsch: »befreundetes Publikum«) und begegnete der Gefahr, daß auch dessen Reaktionen unliebsam sein könnten, durch geschickte Auswahl. So bat zum Beispiel das Düsseldorfer Kom(m)ödchen zu einer seiner Gastsendungen die Rheinische Bruderschaf, eine als weltoffen beleumundete Gemeinschaft evangelischer Priester und Laien. Ausweg Nummer drei: Das befreundete Publikum wird vom Aufnahmeleiter vermittels Handzeichens in Frohlaune versetzt. Vierte und bequemste Lösung: Alles zustimmende Geräusch, vom Fußgetrampel bis zu der zarten Wallung, die in Sitzungsprotokollen »Heiterkeit« heißt, ist vorfabriziert und kann bei Bedarf eingeblendet werden (Beispiel: die amerikanische Perry-Como-Show). Die Antrittslustbarkeiten der Herren Fuchsberger und Stankovski haben das Netz der Aus- und Umwege noch erweitert. Fuchsberger verdankte die ihm zuteil gewordene Volksgunst einer kleinen CharmeurAnsprache, in der er – kurz vor Sendebeginn – zu bedenken gab, wie sehr doch der Erfolg dieses Abends von den befreundeten Lachern und Applaudierern im Saal abhänge. Und bei der Lärmkulisse von Spaß mit Ernst (Stankovski) handelte es sich um eine Sonder-Mixtur. Unterhaltungsproduzent Friedrich Sauer: »Wir haben die spontanen Äußerungen einiger Freunde, denen die fertige Aufnahme vorgeführt wurde, mit den besten Publikumsreaktionen, die wir im Archiv hatten, gemischt.« Im Ergebnis seiner Mix-Mühen sieht Sauer strahlend verwirklicht, was der deutsche Film einst unter der Bezeichnung »Lachpausen« eingeführt und wieder verworfen hatte. Der Zuschauer am Bildschirm soll, während das Magnetband synthetische Begeisterung absondert, lauthals eigener Lachlust frönen können, ohne Gefahr zu laufen, auch nur einen der feinsinnigen Späße zu verpassen. Als Telemann die viele Pionierarbeit, die da zu seinem Nutz geleistet wird, gebührend bewundert hatte, schlug er – neugierhalber – sein altes Konversationslexikon von 1885 auf und entdeckte darin: »Applaus (Beifallklatschen) – Äußerung des Wohlwollens, zu welcher die Gesamtheit

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einer gemischten, jedoch zu einem Zweck verbundenen Menschenmasse durch ein unabweisliches Bedürfnis getrieben wird.« Woraus man wieder mal ersehen kann, wie undankbar es doch ist, Enzyklopädien zu schreiben. Merke: »Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Pedal« (PerryComo-Epigone Stankovski in der Sendung Spaß mit Ernst).

A u g e n tr o s t ( 4 3 / 1 9 6 0 ) Woran liegt es, daß die bundesdeutsche Sprit-Verbraucherschaft den, »Platz an der Theke« nur noch für den zweitschönsten erachtet? Zeigt ihre neue Vorliebe, im eigenen Heim zu zechen, eine sittengeschichtliche Kaprice an, vergleichbar jener, die den Menschen des späten Rokoko dazu bewog, sein Triebleben in die freie Natur zu verlagern? Oder haben sich unsere Trinker des Historikers Heinrich von Treitschke entsonnen, der einmal geklagt hatte, daß den Deutschen die »Anmut der Sünde« fehle, und sind übereingekommen, diesen Mangel nur noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit fortbestehen zu lassen? – Nichts von all dem. Es liegt am Fernsehen. Telemanns Wissen vom »Fernsehsuff« stützt sich vertrauensvoll auf ein Zwiegespräch mit dem in Darmstadt praktizierenden Nervenarzt und vormaligen Leiter einer Trinkerheilstätte Dr. Michael Soeder sowie auf selber gewonnene Eindrücke. Beim Fernsehtrinker, auch Haustrinker genannt, handelt es sich – klinisch betrachtet – um denselben fröhlichen Zecher, der in weniger technisierten Zeiten den Stammtisch, die Stehkneipe oder die Bar zu bereichern pflegte, in der Erwartung, daß sich ihm an diesen Stätten die Mitwelt erschließe. Heute macht die Mitwelt Hausbesuche. So brauchen der Fernsehtrinker und seine Fernsehtrinkerin nur ihr Flaschenbier kühl oder ihren Sherry trocken zu halten und können selbander und selig dem Sendeschluß entgegendämmern. Das hat zwei Vorteile: Einmal entzieht sich der Alkoholiker auf diese trauliche Weise der »sozialen Auffälligkeit« (Dr. Soeder), zum anderen bleibt es ihm erspart, sich mit Schuldgefühlen herumzuplagen. Denn wie sollte er, wenn ihn schon am frühen Abend die TV-Werbung umgirrt (»Fernsehen mit Dujardin – nochmal so schön«), an Suchtgefahren denken? Wie könnte er, wenn zu Silvester, im Karneval oder beim Dürkheimer Wurstmarkt der Saufbruder dem Saufbruder elektronisch begegnet, auf die Idee kommen, daß Mäßigkeit eine Tugend sei? Und wenn der FDP-Bundesvorsitzende Dr. Erich Mende, laut Times, behauptet, daß an unserem Jahr für Jahr sich verdoppelnden Whisky-Konsum nur die trinkfesten Helden amerikanischer TV-Film-Importen schuld hätten, so mag

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auch darin etwas Wahres und Verzeihliches liegen. Freilich, das Zechen am heimlichen Schirm birgt auch einen Nachteil: Der Mund, der beim Außerhaus trinker zum Zwecke des Meinungsaustausches und frohsinniger Mitteilung jederzeit in Aktion treten darf, hat hier zu schweigen. Weil aber dieses wichtige Werkzeug menschlicher Lustgewinnung nicht müßig bleiben will, muß man es aushilfsweise beschäftigen – ein Phänomen, dem die Kinobesitzer ihren Süßwarenumsatz verdanken. Für den Fernsehfreund, dem ja jegliches Nebenlaster erlaubt ist, bedeutet dies: Er kann auch während jener Zeitspannen Alkoholisches zu sich nehmen, die er, als er noch Stammkneipen und Bars besuchte, zum Witze-Erzählen benötigte. Und manch einer tut es. Beobachtungen haben gezeigt, daß der TV-Trunksucht-Gefährdete besonders in zwei Fällen der Anfechtung erliegt. Erstens, wenn das Fernsehprogramm langweilig ist. In diesem Falle dient ihm das geistige Getränk als Anregungsmittel und versetzt ihn, indem es sein Urteilsvermögen herabmindert, in die Lage, sein Heimgerät unverzagt für eine lohnende Anschaffung zu halten. Oder aber – das Programm ist spannend. Tritt dieser Sonderfall ein, verlangt das Nervensystem des Haustrinkers nach Dämpfung. Und weil der Alkohol, wie die meisten Stimulantia, paradox wirkt, erfüllt er seinen Zweck da wie dort. Doch das Fernsehen leistet dem Wohlstandsalkoholismus nicht nur Vorschub, erfuhr Telemann von Dr. Soeder, es kann auch unmittelbare Ursache der Trunksucht sein. Wer also arglos vor der Röhre sitzt und glaubt, seine Charakterstärke sei zu ausgeprägt, als daß er schädlicher Gewohnheit Knecht werden könne, der irrt sich tragisch. Beweis: Versuchspersonen, auf die man unterbrochene Lichtreize, wie sie etwa denen des TV-Bildes entsprechen, einwirken ließ, zeigten in ihrem Elektro-Enzephalogramm (Gehirnstrombild) Frequenzveränderungen. Das bedeutet: nervöse Unruhe. Und die will gezügelt sein. Kurzum, der deutsche Gewohnheitstrinker, der sich vorzeiten mit so ehrenrührigen Entschuldigungsgründen wie »zerrüttete Verhältnisse« oder »Eheschwierigkeiten« behelfen mußte, darf seinen Kopf endlich höher tragen. Hat er doch in Gestalt des millionenumschlingenden Fernsehens eine Säufer-Ausrede, die ihm, selbst im fortgeschrittenen Stadium, der Leidigkeit enthebt, als asoziales Element zu gelten. Merke: »Trinkt, o Augen, was die Wimper hält...« (Gottfried Keller, Abendlied).

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S i p p e n h al t ( 4 6 / 1 9 6 0 ) Wenn deutsche Fernsehfachkräfte gläubig in die deutsche FernsehZukunft blicken möchten, dann beschatten sie ihr Fachmannsauge und spähen nach England. Denn in der Weise, wie sich die Dinge drüben entwickelt haben, werden sie auch hüben ihren Lauf nehmen. Behaupten die Auguren. Telemann hat ein wenig mitgespäht und kann überaus Günstiges berichten. Jenseits des Ärmelkanals, erfuhr er von den ZuschauerBefragern der BBC, sind infolge elektronischer Dauerbestrahlung Früchte herangereift, von deren Bekömmlichkeit sich selbst hoffnungsfrohe Kulturpfleger nichts hatten träumen lassen. Edelste Frucht einer fünfzehnjährigen TV-Therapie: Der britische Familienzusammenhalt hat sich gefestigt. Das Fernsehen, versichert BBC, rufe den unwiderstehlichen Drang hervor, während der Abendstunden gemeinsam zu Hause zu bleiben. Wo noch karge Reste von innerfamiliärer Gefühlsarmut zutage treten, werden sie öffentlich gebrandmarkt. So rügte jüngst auf einer Tagung der Royal Society of Health ein Dr. Ellenbogen die Unsitte, Großmamas Ohrensessel vollinhaltlich aus der Wohnstubenecke ins Altersheim zu verfrachten, bloß weil er der Fernsehgemeinschaft im Wege steht. Als deutlichste Anzeichen dafür, daß die vielbehütete »Keimzelle des Staates« sich anschickt, in eine neue Ära einzutauchen, dürfen, dort wie überall, die Geschehnisse in der Rechtspflege gelten. Zur Zeit läuft in London ein Prozeß, in welchem die Stadtverordnetenversammlung (LCC) als Inhaberin eines Wohnblocks darüber Gewißheit wünscht, ob ein Mieter seinen Kostenbeitrag zur TV-Gemeinschaftsantenne mit der Ausrede verweigern darf, daß er ja gar nicht fernzusehen beabsichtige. Für die Installation von Badewannen und Steckdosen, so argumentieren die Londoner Stadtväter, muß man schließlich auch bezahlen. Ganz gleich, ob man wasser- oder lampenlichtscheu ist. Woraus Kontinental-Europa schließen darf, daß in Großbritannien das Fernsehen keine Lustbarkeit mehr, sondern bereits eine sozialhygienische Verrichtung darstellt. Und welche Entwicklungsstufe haben wir inzwischen erklommen? Noch im Jahre 1958 hatte der Bundesfinanzhof die Stirn, unseren Familienblickfang »zwar keinen Luxusgegenstand, aber noch kein dem übrigen Hausrat notwendigerweise angehöriges Stück« zu nennen. Heute ist die edelholzumhüllte 59er Röhre auch in Richterheimen gebräuchlich, und darum konnte ein Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf lauten: »Es ist bei der Verbreitung des Fernsehens zu beja-

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hen, daß ein Fernsehgerät zum Hausrat oder ... zu den Haushaltsgegenständen gehört.« Ein Markstein, gewiß. Und doch: Die Familienbande sind hierorts loser geschlungen als in TV-Gefilden, wo die Sinne schon länger paralysiert werden. Noch gibt es landauf, landab Ehewidrigkeiten und PartnerWechselfälle. Heißt es doch in dem Düsseldorfer Beschluß, der in einem Ehestreit-Verfahren verkündet wurde, weiter: Bei einer Scheidung muß geprüft werden, »für welchen Ehegatten eine Entbehrlichkeit des Fernsehgerätes eher zu bejahen ist«. Telemann sieht sie im Geiste schon vor dem Richtertisch stehen – all die ehemüden Törinnen und Toren, die da nicht warten konnten, bis ihnen das drahtlose Familienglück von selber ins Haus käme. Er sieht sie in Reue die Hände ringen und begehrlich nach dem unteilbaren Streitobjekt starren, das der Rechtsfinder vor sich aufgestellt hat. Und dann hört Telemanns geistiges Ohr den Beamten urteilen: Der Mann soll ihn haben. Ihm, der geschaffen ist, über die Natur zu gebieten (Kant), soll das Fenster zur Welt allezeit offenstehen. Zumindest soll er, wertvollen Gedanken nachhängend, ins bläuliche Flackerlicht blinzeln dürfen; eine Annehmlichkeit, die in feudalistischer Vorzeit das offene Kaminfeuer vermittelte. Und dann wird sich die Frau, heimatlos und entrechtet, vor die Schranken des Gerichts werfen und jammern: Mir steht er zu! Wo sonst könnte ich an einsamen Abenden Trost finden als bei Joachim Fuchsberger, Lou van Burg und Heinz Maegerlein! – Und dem Richter wird die Gewissensqual im Gesicht geschrieben stehen. Und wenn es sich bei dem Gerät gar um jenes Kombifon handelt, das die Firma Werner & Röttger gegenwärtig auf der Deutschen Gastwirts-, Konditoren- und Nahrungsmittelausstellung in Berlin feilbietet – eine Verquickung von TVBildröhre, Radio-Groß-Super und Kühlschrank –, dann wird er die Sache vertagen und derweil ein bißchen in den Sprüchen Salomons schmökern. Denn das Amt des Scheidungsrichters wird für eine geraume Übergangszeit Einsichten erfordern, die nicht jedem Volljuristen in die Wiege gelegt wurden. Aber endlich wird auch diese Miß-Phase vorüber sein, und niemand in aller fernsehenden Welt wird sich vorstellen können, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, wo der Stumpfsinn Privileg der Stumpfsinnigen und noch nicht sippenversöhnendes Volksgut war. Merke: »Bisher sind keinerlei Klagen laut geworden über geringere Berufstüchtigkeit fernsehloser Personen als fernsehbesitzender« (Landgerichtsdirektor i. R. Adolf Schumacher in der Deutschen Gerichtsvollzieher Zeitung).

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D i e M ö r d e r se hn u n te r u n s ( 5 0 / 1 9 6 1 ) Wenn man Tag für Tag lesen muß, wieviel Abgrund und Niedertracht, wieviel Büberei und Bosheit hieniden im Schwange sind, so fragt man sich unwillkürlich: Woher kommt das? Warum wird allerwärts gemeuchelt, gemetzelt, des Nächsten Weib, Knecht, Magd oder Banksafe-Inhalt begehrt, wenn nicht gar widerrechtlich in Besitz genommen? Als Telemann sich noch im Stande kriminologischer Unschuld befand, glaubte er, dergleichen liege in der menschlichen Natur begründet und zähle zu den unabwendbaren Verdrießlichkeiten dieser Welt. Heute, da er Pressedienste und Meinungsäußerungen von Fachleuten studiert hat, weiß er: Es liegt am Fernsehen. Genauer: An den Kriminalspielen und -filmen, die das Fernsehen, hierin nicht faul, unters Volk streut. Schrieb der Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für Straffälligenpflege e. V., Pfarrer Kuhler: »Wie nur viele Gefangene immer wieder erklärten, hat sich der Täter allzuoft von der Literatur, von Filmen und in neuerer Zeit von Fernsehspielen anregen lassen. Von hier kam der Anstoß, der einer labilen Veranlagung zum Ausbruch vorhalf.« Oder: »Das Verbrechen wird dem Unterbewußtsein vertraut gemacht. Die natürliche Scheu weicht der Gewöhnung an die kriminelle Situation. Die dargestellte Arbeit der Kripo ist nur eine weitere Schulung (für den Gesetzesbrecher), die er sich bei seinem taktischen Vorgehen zu eigen macht.« Und: »Der junge Mann, den Sie heute mit einem spannungsreichen Verbrecherspiel fesseln, ist der mögliche Mörder von morgen!« Fürwahr, höchst schaudervoll. Doch nicht nur bei uns, nein, auch an den Geburtsstätten des KrimiDenksports schossen die düsteren Expertisen nur so ins Kraut: »Das Fernsehen ist die Vorschule des Verbrechens«, dräut’s aus amerikanischem Psychiater-Munde. Und im gleichfalls von Warnfingern wachgekitzelten England wurde der BBC die Abfassung von »Richtlinien betreffend Gewalttaten auf dem Bildschirm« zur Pflicht gemacht, in denen es heißt: »Die Geräusche des Brechens von Knochen sowie des Schädeloder Kieferspaltens dürfen weder verzerrt noch verstärkt werden.« Just als Telemann solches in sich aufgenommen und darüber nachgegrübelt hatte, auf welche Weise sich wohl die Unholde früherer Zeiten ihre Lust am Massakrieren verschafft haben, da passierte jener GangsterÜberfall, von dem die Nachrichtenagentur UPI zu melden wußte, er sei , »nahezu der Kopierung einer Sendung gleichgekommen, die innerhalb der Fernseh-Sendereihe Stahlnetz vor einigen Jahren gedreht worden war«: nämlich der Überfall auf das Düsseldorfer Juwelier-Geschäft Rene G. Kern, Königsallee 26.

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Ein Gespräch mit dem Stahlnetz-Regisseur gab gründlicheren Aufschluß. Jürgen Roland zu Telemann: »Wenn die Meldung richtig wäre, müßte ich, als der Verantwortliche, meinen Hut nehmen und gehen. Zum Glück ist sie falsch. Nicht der Überfall, sondern die Verhaftung der Täter erfolgte ähnlich wie in meiner Sendung Der Polizeibericht meldet vom September 1958. Nicht etwa, weil die Düsseldorfer Kripo damals so aufmerksam ferngesehen hat, sondern weil es für sie ein leichter Manöverfall war: Wenn im Präsidium die Alarmglocke ›Juwelier Kern‹ fällt, dann weiß die Polizei, daß es sich um keinen Mundraub handelt, und kann routinemäßig die geeigneten Maßnahmen treffen. »Ich warne Neugierige, es so zu versuchen, wie es im ›Stahlnetz‹ vorgemacht wird. Meine Verantwortung als Regisseur besteht ja gerade darin, die Umstände eines Verbrechens so darzustellen, daß der Zuschauer sie noch für glaubhaft hält und der potentielle Täter gleich bei der ersten Recherche erkennt: So geht’s nicht.« »Das Juwelier-Geschäft Kern ist ein nahezu uneinnehmbarer Laden. Jeder Einbruch-Spezialist hätte das schon wahrend der Sendung merken müssen und wäre dann gar nicht erst auf dumme Gedanken gekommen.« Woraus erhellt: Die Gangster, deren Überfall am 24. November scheiterte, hatten nicht zu oft, sie hatten nicht oft genug ferngesehen. Vielleicht sollten wir ihr Schicksal zum Anlaß nehmen, den Erziehern, Seelenhirten, Psychologen und Kriminologen ein paar von ihren Herzensängsten auszureden. Vielleicht sollten wir sie ermahnen, nicht jeder Ganoven-Ausrede (»Das Fernsehen war schuld«) Gehör zu schenken, unsere TV-Anstalten nicht durch Forderungen nach »barmherziger, heilsamer, alle unnötige Gefahr meidende Beschränkung« (Kirche und Fernsehen, Nummer 47) kopf- und arbeitsscheu zu machen und sie bitten einzusehen, daß es nicht ihre, sondern Sache der Autoren ist, sich um Kriminalspiel-Spannung zu sorgen. Gesetzt den schlimmen Fall, der »mögliche Mörder von morgen« hätte sich zum Christfest einen Fernsehapparat gewünscht, und gesetzt den noch schlimmeren, wir möglichen Nicht-Mörder müßten uns nun barmherzigerweise die Kinnbacken lahmgähnen – wer oder was würde dadurch gebessert? Die Kriminalstatistik? Das glaubt ihr doch wohl selber nicht. Merke: »Man muß lange sorgen, ehe man einen Strohhalm in Stücke gesorgt hat« (Holländisches Sprichwort).

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Spass durch Ernst (39/1962) Welche Möglichkeiten hat der gemeine TV-Abonnent, sich seinen Sende-Anstalten mitzuteilen? Wie kann er ihrer Führungskräfte Augenmerk auf sich lenken? Er kann Briefe schreiben, Telegramme schicken, sich telephonisch mit dem »Leiter vom Dienst« unterhalten. Er kann, wie die Hausfrau Hannelore Bennert aus Solingen oder der Radiohändler Wilhelm Schlein aus Dortmund, eine »Notgemeinschaft der Fernseh-Teilnehmer« ins Leben rufen, kann dem Duisburger »Bund deutscher Rundfunk- und Fernseh-Teilnehmer« oder dem »Verband der Rundfunkhörer und Fernsehteilnehmer in Bayern e. V. « beitreten. Ja, er kann sich, so er syntaktischer Kenntnisse nicht gänzlich ermangelt, als Fernseh-Kritiker verdingen – fruchten wird es wenig. Nur wer einmal im Leben zu jenen 250 Auserwählten gehört, die da allabendlich zwischen 20 Uhr und 21.15 etwelchen Demoskopen über das Programm des Vorabends Rede stehn dürfen, hat die Gewißheit, von Intendanten und Direktoren – einmal im Leben – wichtig genommen zu werden. Denn was ein fortschrittlicher TV-Verantwortungsträger ist, der vertraut nur auf Gott und den Dr. Ernst vom Münchner Marktforschungsinstitut Infratest. Vor drei Jahren, als Telemann ihn, Wolfgang Ernst, kennenlernte, lagen die Dinge noch ein wenig anders; da war nur der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband selig auf Infratest abonniert, und in den Funkhäusern herrschte allenthalben jene milde Amüsiertheit, wie sie den demoskopisch Unbedarften überkommt, wenn ihm jemand weissagen will, eine Näherin, ein Zahnarzt und ein autogener Schweißer müßten über einen bestimmten Gegenstand dieselbe Meinung haben wie tausend Näherinnen, Zahnärzte und autogene Schweißer. Auch die Befragungsmethode unterschied sich von der gegenwärtigen. Anstatt jeden Abend 250 Schirmbeschauer in Stadt und Land zu interviewen, betraute man in vierteljährlichem Turnus jeweils 400 mit der Abfassung kritischer Briefe. Nun, da die Münchner Meinungsermittlung in voller Blüte prangt – es wird sogar auf das rechte Mischungsverhältnis von Alt- und Neu-Fernsehern geachtet –, sind sämtliche TV-Stationen Kundinnen von Infratest, und die Urteils-Indizes, reichend von minus zehn bis plus zehn, gelten als knüppelharte Valuta. Ernst: »Wir wollen den Anstalten bei ihrem Bemühen helfen, möglichst viele Zuschauer zu befriedigen und möglichst wenige zu verärgern.« In der Tat: Wäre unser Fernsehen fähig, die Test-Ergebnisse richtig auszuwerten, würde es Sendungen, die erkennbar für eine Minderheit bestimmt sind (Beispiel: Strawinski, Die Ballette nach griechischen My-

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then, Erstes Programm, Beteiligung 23 Prozent, Urteils-Index null), nicht mehr zu Zeiten ansetzen (Sonntag, 24. Juni, 20.15 Uhr), wo die Mehrheit nach Ohnsorg-Theatralik dürstet. Indes, die ertüftelten Urteils- und Beteiligungswerte dienen unseren Tele-Programmgestaltern weit eher zur Ergötzung oder, falls erforderlich, zur Stärkung des Selbstbewußtseins. In den Kantinen, auf den Korridoren und überall, wo für das Schirmchen Schaffende einander frohmütig begegnen, tönen statt vergangener Grußworte sinnerfüllte Infra-Indizes: »Plus fünf«, »Plus Sieben«, »Plus acht«, je nachdem, ob der Betreffende einen Fidelen Bauern, eine Marika-Rökk-Reminiszenz oder einen Tratsch im Treppenhaus hervorzubringen hatte. Daß die 250 Befragten solcherart nicht so sehr die gesendete Leistung wie die gesendete Gattung (Operette, alte Schlager, Schwank) belobigen wollten, weiß jeder TV-Schöpfer tief in sein Unterbewußtsein zu verdrängen. Eine der Hauptursachen des Vergnügens, das Infratest seiner Kundschaft bereitet, dürfte jedoch in dem günstigen Gesamtbild liegen, das da vom Deutschen Fernsehen entsteht. Denn: Erreichen auf der Index-Skala die Plus-Werte auch mühelos den achten oder – bei Sport-Übertragungen – gar den neunten und zehnten Platz, so sinken die abfälligen Urteile doch selten unter die Marke minus drei. Den Index null, Inbegriff des Mittelmaßes, empfinden sensible Naturen bereits als kränkend. Woher das kommt, weiß Telemann vom Demoskopen Dr. Ernst, und der wiederum hat es durch seine Sendboten ermitteln lassen. Es kommt daher, daß der gemeine TV-Abonnent, von wildfremden Fragestellern überrascht, zu scheu ist, den verbalen Unflat zu wiederholen, der ihm am Fernsehvorabend leicht von den Lippen gekommen sein mag. Merke: »Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet, rauscht der Wahrheit tief versteckter Born« (Schiller, Das Ideal und das Leben).

O r d n u n g sd i e n st ( 1 0 / 1 9 6 3 ) Es gibt an unseren TV-Anstalten Frohnaturen, die glauben: Bei meinem Talent und einem bißchen Bonheur schauen mir 25 Millionen zu. Irrtum. Mag die Sendezeit noch so günstig, die Darbietung noch so launig, lebenswirklich oder spannend sein – mehr als dreizehneinhalb Millionen Beschauer darf sich, wer nur weltlicher Augenlust willfahrt, nicht erhoffen. Der Rest – elfeinhalb Millionen TV-Katholiken – steht seit Monaten vor den Pfarrämtern Schlange, um folgenden Revers zu unterfertigen:

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Ich bekenne mich als katholischer Christ zu der Aufgabe, für Gottes Ordnung auch im ... Fernsehen einzutreten. Darum verspreche ich ... Fernsehsendungen gewissenhaft auszuwählen und mich durch den katholischen Fernseh-Dienst beraten zu lassen. Name, Wohnort, Datum, (»Wer diesen Zettel abgibt, hat damit sein ... Fernsehversprechen geleistet. Den ... Text des Versprechens möge man im Gebetbuch aufbewahren.«) Eh genannter Fernseh-Dienst, im Auftrag der deutschen Bischöfe herausgegeben vom Katholischen Rundfunkinstitut in Köln, erscheint wöchentlich; teils in Plakatform, teils als rosarote Hektographie; zum Zwecke, das Tele-Programm der jeweils übernächsten Woche »religiössittlich« vorzubewerten. Seine Vor-Urteils-Skala reicht vom Prädikat »sehenwert für alle«, einer Belobigung, der sich gemeinlich nur Bastelnachmittage oder die Plauderkunststücke des Katholiken Luis Trenker erfreuen, über »für alle«, »ab 12«, »ab 14«, »ab 16«, »für Erwachsene« bis hinunter zu den Verdikten »mit Vorbehalten«, »mit erheblichen Vorbehalten« oder gar »abzuraten« und »abzulehnen«. Unter »für alle« rangiert das Dauerquiz des »sympathisch-trockenen« Heinz Maegerlein; »ab 14« war Claus Hubaleks TV-Spiel Stalingrad angezeigt; »ab 16« steht Christ-Katholiken die Rückblende frei: »sehenswert ab 16« ist die Sendereihe Report mit der geringfügigen Einschränkung: »Dem interessierten Zuschauer wird persönliches Urteil allerdings nicht erspart.« Die Einstufung »für Erwachsene mit Vorbehalten« erfuhren: das Millowitsch-Theater (»... bleiben die unnötigen Anzüglichkeiten ärgerlich«), die TV-Parabel Schlachtvieh (»wird die Zuschauer nur ratlos machen«) und Brechts Leben des Galilei (»nur dem unterscheidungsfähigen Christen kann das marxistische Stück als Exempel ... dienen«). »Erhebliche Vorbehalte« meldete der Fernseh-Dienst zur Kriminalserie Stahlnetz an, weil Jürgen Roland »der sensationelle Effekt wichtiger zu sein scheint als die nüchterne Wiedergabe von Tatsachen«. Das Urteil »abzuraten« traf Fritz Kortners Lysistrata, »abzulehnen« war Somerset Maughams Euthanasie-Drama Die heilige Flamme. Weil jedoch, laut TV-dienstlicher Selbsterkenntnis, »eine Vorbewertung des Fernsehprogramms naturgemäß nicht ganz so sicher sein kann wie eine entsprechende Film- und Zeitschriften-Bewertung«, bedient sich das Rundfunkinstitut am liebsten der mahnenden Halbtöne: »voraussichtlich«, »frühestens«, »eher« ... »Voraussichtlich für alle« bedeutet bei einem Schweden-Film, dessen Regisseur für »meisterliche Naturschilderungen« bekannt ist, ein klein wenig Freikörperkult könnte – apage satanas! – schon passieren.

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»Nur für Erwachsene« deutet auf ein Machwerk des spanischen Leinwandschrecks Luis Bunuel hin. »Eher für Erwachsene« kennzeichnet mit sanfter Besorgtheit das Erscheinen eines Wolfgang Neuss, einer Juliette Greco oder einer Elfie Pertramer (»ihre parodistische Laune schäumt leicht über«). Und »mit Einschränkungen« oder »frühestens ab 16« heißt die religiös-sittliche Prophezeiung, sobald die NDR-Reihe Panorama droht (»... oft sensationsbeflissene Einseitigkeiten«). »Wir möchten niemandem etwas vorschreiben«, versichert der verantwortliche Fernseh-Dienst-Redakteur Herbert Janssen, »wir erteilen nur Ratschläge.« Recht so. Indes: Woran erkennt der erwachsene Katholik, wenn ihm Bertolt Brecht oder eine norddeutsche Einseitigkeit begegnet, ob er ein »unterscheidungsfähiger Christ« ist? Wie erfährt der katholische Jüngling, angesichts der Vorwarnung »mit Einschränkungen«, ob er mit einem zugedrückten Auge der Äther-Anfechtung standhalten darf? Und wer sagt einem Kinde der Erzdiözese München-Freising, in dessen Beichtspiegel die Frage gedruckt steht: »Hast Du Dir schlechte Filme (Fernsehen) angeschaut?« – wer sagt ihm, welcher mißachteter Bewertungs-Chiffre wegen es Reu und Leid erwecken soll? Am besten wohl, der Gläubige tut ein übriges (vielerorts tut er’s längst) und bittet den um TV-Order, der schon immer wußte, was man als katholischer Christ zu wählen hat: den hoch würdigen Herrn Pfarrer. Merke: »Willst Du zu Gott, hol Rates ein. Zum Teufel findest Du allein« (Telemann).

N i c ht s g e h t ü b e r B ä r e n m ar k e ( 4 2 / 1 9 6 3 ) Wenn in Spielzimmern und Sandkästen amerikanisierende Lockschreie wie »Fjuuriih« und »Lääßiih« erschallen und von Imitationen des Wieherns oder Bellens beantwortet werden – wenn in Vorgärten und Hinterhöfen minderjährig-melodisch nach dem britannischen Ritter »Aiwenhooh« gerufen wird – wenn Hänschen klein und Klein Erna die neudeutschen Volkslieder »Nichts geht über Bärenmarke« und »Du hast das strahlendste Lächeln der Welt, Pepsodent« trällern – dann wird ein Thema dringlich, dem Telemann – von Alter und Familienstand inkompetent, weil jugendfern und kinderlos – bislang ausgewichen ist: das Thema, schlimmer noch, das Problem »Kinder und Fernsehen«. Wohl weiß Telemann um die bedenklichen Auswüchse der infantilen Television, wohl sind ihm als aufmerksamem Feuilletonleser die Begriffe

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»Reizüberflutung« und »Bildsüchtigkeit« geläufig, wohl hört er – mit geziemender Empörung – von Eltern, die ihren Nachwuchs durch die Erlaubnis zu ausgedehntem Guckgenuß pazifizieren, vernimmt er von Kindern, die wöchentlich mehr als zwanzig Stunden lang auf die Scheibe äugen, und von jener Million kleiner Deutscher, die auch nach 20 Uhr, auch Stahlnetz und 77 Sunset Strip, noch sehen darf (AbendpostSchlagzeile: Kleine Kinder vor dem Bildschirm: ›Mutti, ist das ein Lustmord?‹). Doch abgesehen von solchen Extrem-Exempeln, die den Pädagogen und den Psychologen auf den Plan rufen und nach dem starken Wort des Kulturpessimisten schreien: Kann sich die reguläre Kinderstunde des Deutschen Fernsehens sehen lassen? Gefällt das, was erlaubt ist? Eigener Jugenderfahrung eingedenk – was den Großen ein Greuel, ist den Kindern oft Kunsterlebnis; andererseits ist das wertvolle Buch nicht immer auch das spannende –, hat Telemann, der, wenn schon nicht als Elternteil, so doch als Nennonkel Kinder-Kontakte pflegt, sich nicht auf seine eigenen Urteile beschränken mögen, sondern auch beim zuständigen Publikum Ermittlungen angestellt. Hier einige Ergebnisse seiner Recherchen: Sofia, 6, mag die Puppenfilmserie Nickis Abenteuer im Spielzeugland am liebsten; Scherenschnitt-Filme hingegen – von erwachsenen Filmkunstadepten oft als besonders fördernswert propagiert – lassen Sofia gähnen. Franz-Josef, 5, muß weinen, wegsehen und getröstet werden, wenn es in den Kinder-Knüllern Fury und Lassie allzu gefährlich-spannend zugeht; was einem gereiften Betrachter wie Telemann dabei als schiere Unkunst erscheinen will, die stereotype Happy-End-Dramaturgie, tut als tröstliche Gewißheit gut – Christine, 8, zu Franz-Josef: »Brauchst nicht Angst haben! Du weißt doch, es geht immer gut aus.« In der Tat, auf jenes sprichwörtlich befreiende Gelächter, in das alle Mitwirkenden amerikanischer Kinder-Serien zu guter Letzt auszubrechen haben, ist Verlaß. Kein Verlaß ist auf den kindlichen Geschmack, eher schon auf die Robustheit, die es vielen Kindern möglich macht, auch eine gewisse Dosis Schund ohne Schaden zu schlucken. So gern Telemann sah, daß die vorbildlich kindergerechte, unsensationalistisch-unterhaltsame Verfilmung von Astrid Lindgrens schwedischen Kindern von Bullerbü ihren verdienten Erfolg erringen konnte, so unlieb war ihm, mit ansehen zu müssen, wie schauriger deutscher Märchenfilmkitsch vom Schneewittchen (mit Liliputanern als Zwergen) bis zum Vertauschten Prinz namens Kokalos den gleichen Effekt machte.

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Enttäuschung befiel Telemann, als die meinungsbefragte Heidi, 7, just jene Ansagerin, die ihm die liebste Augenweide ist, als »doof« klassifizierte. Erfreut war er, dem Kinderstunden-»Onkel« Peter René Körner den Schlagersinger Körner nachsehen zu können; den »Onkel« Havenstein indes sieht Telemann denn doch lieber in der Lach- und Schießgesellschaft lustig sein. Verblüffende Erkenntnis: Luis Trenker, der famose Stegreif-Schwadroneur, dessen patentierter Älplercharme die Großen fesselt, kann bei den Kleinen nachmittags kaum reüssieren. Fernseher Konrad, 8: »Der quasselt immer nur, das ist ja langweilig.« Kurzweilig und kindnah belebt dagegen der Klettermax Arnim Dahl den Bildschirm zur Kaffee-Zeit: Alle freuen sich, wenn er durch Glasscheiben springt, keinen stört es, wenn er nebenher das ihm aufgetragene Soll an Pädagogik erfüllt und die Kinder ermahnt, es nicht nur in den Armen, sondern auch im Kopf zu haben. Die beste oder doch die beliebteste Kinderstunde, die es je gab, wird jedoch weder von Arnim Dahl noch von Ritter Ivanhoe bestritten. Das Äußerste an infantiler Telefaszination ereignet sich allabendlich, wenn das Geheimnis von Nescafé-neu entdeckt wird, wenn Pril das Wasser und Picon den Berufstätigen entspannt. Kein Fury, kein Kokalos kann es mit den Sehpferdchen und Mainzelmännchen, mit den trickmanipulierten Kaffeekannen und Miederwaren aufnehmen. Da, im Werbefernsehen, finden unsere Kleinen Spaß und Zauberei die Fülle und schließlich auch Belehrung: »Denn Kaffee, das schreibt man so: O und N und K und O.«

M e n sc h b l e i b e n ( 2 1 / 1 9 6 6 ) Kaum war der erste Filmteil ins deutsche Bewußtsein gesickert, meldete dpa ein Geschehnis aus Brackwede bei Bielefeld: »Nach dem Vorbild der britischen Posträuber baten am Mittwochabend ... zwei ›Gentlemen‹ zur Kasse. Sie überfielen einen Geldtransport und erbeuteten 40 000 Mark.« Entrüstung über den Drehbuchautor Henry Kolarz und das Norddeutsche Fernsehen wollte Telemann ergreifen, denn noch einen Tag vor der TV-Premiere hatte Landeskriminaldirektor Wenzky vom nordrheinwestfälischen Innenministerium vor Journalisten erklärt, Fernseh-Krimis verdürben zufolge ihrer »Infektwirkung« den Volkscharakter, regten den sittlich Ungefestigten an zu ausgeklügelter Missetat. Doch der Rest der Agentur-Meldung zügelte seinen und sicherlich auch des Kriminaldirektors Zorn: Die »maskierten Männer« (lächerliche zwei Personen!) hatten

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Pistolen gezogen und ihre Opfer gezwungen, »die Geldkassetten in das Räuber-Auto einzuladen«. Jeder Fernsehfreund weiß inzwischen: Ein richtiger PosträuberEpigone enträt nicht nur der Schußwaffe, er legt als good sport auch selbst mit Hand an, wenn es Beute fortzuschaffen gilt, und, vor allem, er verschleißt sein Ingenium nicht an Bagatellsummen. Nein, der Kolarz-Trilogie Die Gentlemen bitten zur Kasse (NDR, 8., 10. und 13. Februar) wohnt kein böser Anreiz inne; anders als jener Francis-Durbridge-Beschickung, welche voreinst bewirkte, daß mehrere gemütsarme Mitbürger zwecks Entleibung ihrer Liebsten keinen Perlonstrumpf, sondern ein Halstuch wählten. »In Deutschland«, sagte Henry Kolarz zur Münchner Abendzeitung, »gibt es keine Gangster dieses (Posträuber-)Formats. Der Plan ist unwiederholbar, schon weil die Geldtransporte in Deutschland ganz anders gehandhabt werden.« Dergestalt beschwichtigt, darf sich Telemann ganz der Erinnerung an das Geschaute hingeben. Was waren das für erhebende 240 Minuten! Wie müssen sich unsere Provinz-Ganoven angesichts Planung und Ausführung dieses »ungeheuerlichen Affronts gegen den Generalpostmeister Ihrer Majestät« geschämt haben! Geldgier? Arbeitsscheues Gesindel? Unterweltsgelichter? – Gefehlt. Kunstsinnige Herren des gehobenen Mittelstandes, ein wenig vorbestraft, nun ja, aber doch erfolgreiche Geschäftsleute, liebevolle Väter und Gatten üben sich in all den Tugenden, die auch in einer pluralistischen Gesellschaft immer noch Gültigkeit haben: Kameradschaft, Freundestreue, Ritterlichkeit, Disziplin, Großmut, Pünktlichkeit. Wie strahlend verkörpert dieser Major Michael Donegan (Horst Tappert), mit authentischem Namen Reynolds, den zivilen Nutzen gründlicher militärischer Ausbildung, wenn er beherrschten Auges Einsatzbefehle widerruft, Strohwitwen und Waisen Renten zuerkennt, sittliche Wertungen vornimmt (»Wenn nur alle so wären wie du!«) oder Obsorge trifft für seiner Miträuber freizeitliches Wohl. Welch entsetzlicher Augenblick für das Publikum, als er durch einen dummen Zufall beinahe dem Kommissar MacLeod (Siegfried Lowitz) ins Netz geht! Und welche Schmach, mitzuerleben, wie eine gewisse Inge Masterson (Kai Fischer) authentisch: Karin Field, als einzige schlappmacht, sich nicht entblödet, 10 000 Pfund Schweigegeld zurückzuweisen, ja, in ihrer Angst, als Mitwisserin verknackt zu werden, den einfachsten Gesetzen der Gastfreundschaft hohnspricht Eine Deutsche, erfährt man (»Diese Deutschen sind unberechenbar«). Hier wird die volkserzieherische Wirkung des Filmdokuments ernstlich in Frage gestellt.

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Freilich, solch kleine moralische Entgleisung innerhalb der Illegalität – verschuldet nicht vom Autor, vielmehr von der historischen Wahrheit – verdüstert kaum das Hauptanliegen der Trilogie, wie es Telemann versteht: den Appell an die Menschlichkeit. »Tut mir schrecklich leid, Kamerad!« sagt Posträuber Archibald Arrow (Günther Neutze), dieweil er dem Lokführer eins über den Schädel gibt. Und nach einer Weile: »Geht es Ihnen besser?« Dies zusammen mit dem Umstand, daß ein Gentleman-Bandit sein Schlaginstrument dick mit Isolierband umwickelt, darf schon im Hinblick auf eine progressive Humanisierung auch unserer Kriminalität nicht unterschätzt werden. Sollte der deutsche Gesetzesbrecher aus der Serie gelernt haben, daß man mit Brutalität allenfalls Rentnerinnen-Handtaschen, nicht aber 30 Millionen erwerben kann, und sein künftiges Handeln den Gesetzen des Edelmuts unterwerfen, hätte sich der Norddeutsche Rundfunk um das Vaterland verdient gemacht.

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POLITIK »Wäre die ›Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei‹«, fragt Telemann in einem Beitrag anlässlich der Spiegel-Affäre, »wäre dieses zarte Pflänzchen NSDAP vor 30 Jahren so fürwitzig aus dem Kompost gesprossen, wenn es dazumal eine Tagesschau, ein Panorama, einen Report, einen Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, kurz, wenn es schon das Deutsche Fernsehen gegeben hätte?«1 Die Antwort ›Nein‹ setzt hohe Erwartungen in die mit dem Fernsehen verbundene Demokratisierung, Informierung und Mobilisierung der Öffentlichkeit. Für Telemann scheint dies aber keine bequeme Gewissheit darzustellen, sondern eher eine erfreuliche Überraschung. Noch zwei Jahre zuvor verbucht er den durch einen unglücklich bebilderten Tagesschau-Bericht hervorgerufenen ersten »Fernseh-Streik«, bei dem das Fernsehen aus Versehen »Menschenmassen« erzürnte und zu politischer Aktion motivierte, als kuriose Merkwürdigkeit.2 Das Versprechen der Demokratisierung wird im Nachkriegsdeutschland gleichwohl grundsätzlich eng an das neue, öffentlich-rechtlich organisierte und alle gleich adressierende Massenmedium gebunden. Das Fernsehen wird als ideales Medium eines demokratischen Gemeinwesens gefasst, insofern es die Distanz zwischen Politik und Bürgern verringert. Hierzu wird von der in zeitgenössischen Fernsehdiskursen gängigen Prämisse ausgegangen, dass der im privaten Raum situierte Empfangsapparat, gekoppelt mit dem auf das Gesicht fokussierten kleinen Bild, den ›Menschen‹ vor der Kamera mit dem ›Menschen‹ vor dem 1

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Telemann: »Einmischung« (in dieser Sektion). Im Zuge der Spiegel-Affäre 1962 werden Herausgeber Augstein und Redakteur Ahlers verhaftet, weil sie in einem Artikel über das NATO-Herbstmanöver, welcher der Bundeswehr und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß schlechte Noten ausstellt, militärische Geheimnisse verraten haben sollen. Die Rolle der Bundesregierung in dieser Angelegenheit wird allerdings von der bundesdeutschen Presse in außergewöhnlicher Einhelligkeit als undemokratische Aktion gegen missliebige Journalisten kritisiert. Nicht nur bei Telemann, auch im historischen Rückblick macht »die Reaktion der Öffentlichkeit die Affäre zu einem Lehrstück in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit und straft[.] damit zugleich die Kritiker einer angeblichen biedermeierlichen politischen Lethargie der Öffentlichkeit am Ende der Adenauer-Ära Lügen«; Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, 2. Aufl., Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1997, S. 163. Vgl. Telemann: »Nicht in die Tüte« (in dieser Sektion).

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Bildschirm in quasi-intimen Kontakt setze. Indem sie die Persönlichkeiten, die Politik machen, in den Mittelpunkt rückt, würde die televisuelle Beobachtung des politischen Tagesgeschäftes dann das hochoffizielle Gesicht der Politik durch ein ›menschlicheres‹ relativieren. ›Begegnungen‹ mit Bundespolitikern beschränken sich dabei nicht allein auf Berichte aus dem Parlament, sondern finden ebenso Raum in diversen Gesprächsrunden, wenn nicht gar in der Abendunterhaltung. So kann Telemann demonstrativ mitleiden, wenn er Franz-Josef Strauß nicht beim standesgemäßen Abschreiten einer Ehrenformation erblickt, sondern »den gewaltigen Verteidiger im zivilen Gespräch wiederfinden muß, in einen Stuhl gepfercht, zum Zuhören gezwungen, verbittert.«3 Angefangen mit den ersten Übertragungen aus dem Bundestag 1953 ist die private Teilnahme an politischen Prozessen der Fokus, wenn das Verhältnis von Fernsehen und Öffentlichkeit thematisiert wird. Durch die Fernsehberichterstattung, so der allgemeine Tenor, lerne der Zuschauer im Fernsehsessel »nicht nur Minister, sondern auch Menschen kennen und verstehen«4. Das spezifische, Privatheit und Öffentlichkeit vermittelnde Dispositiv des Fernsehens gestaltet demnach die Politik um, indem es die Protagonisten des politischen Systems in den Blickpunkt rückt und die abstrakte Beziehung zum Zuschauer in eine quasipersönliche transformiert. Dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit von politischen Programmen auf Personen, heute vielfach als Entpolitisierung und als Medieneffekt beklagt,5 wird zeitgenössisch emanzipatorisches Potential zugeschrieben: »[W]eil Minenspiel und Tonfall eines Redners meist aufschlußreicher sind als das, was anderntags in der Zeitung steht, würde sich sein, des Bürgers neues Interesse mählich in eines der Urelemente der Demokratie, in gedeihlichen Argwohn verwandeln.«6 Die durch die Volksvertreter selbst beschlossene Verweigerung gegenüber Fernsehübertragungen aus dem Parlament – in England generell, in Deutschland zwischen 1959 und 1963 nur vorübergehend – verrät für Telemann eine im Kern undemokratische Abneigung gegen öffentliche 3 4

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Telemann: »Ministersehen«, in: Der Spiegel 12 (1958), Nr. 49, S. 71. Aus der Zeitschrift Fernsehen (1953) zit. nach Monika Elsner/Thomas Müller/Peter Spangenberg: »Zur Entstehungsgeschichte des Dispositivs Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre«, in: Knut Hickethier (Hg.), Institution, Technik und Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens [=Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, 1], München 1993, S. 31-66, hier S. 45. Als Klassiker dieses medienkritischen Topos vgl. Daniel J. Boorstin: Das Image. Der Amerikanische Traum, Reinbek: Rowohlt 1964; Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main: Fischer 1983, S. 341-343 u. S. 349; Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/Main: Fischer 1985. Telemann: »Kleine Anfrage« (in dieser Sektion).

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Kontrolle, der die plakative Warnung, das Fernsehen könne exzessive Selbstdarstellungen und demagogische Auftritte fördern, nur vorgeschoben werde. Vielmehr sei es wünschenswert, dass Übertragungen, die im Bundestag »halbleere Bänke, plaudernde Volksvertreter, drucksachenstudierende Minister, einen ständig auf die Uhr blickenden Regierungschef« entdecken,7 den Nimbus des Parlaments entweder zur Disposition stellen oder aber die Parlamentarierdisziplin erhöhen. Die Fernsehzuschauer werden somit zu Beobachtern erhoben, die in eigener Anschauung die korrekte Durchführung politischer Verfahren prüfen. Wie in vielen anderen Medienangelegenheiten richtet sich der neugierige Blick auch im Falle der Politik auf das Ausland, um Visionen für die Zukunft des deutschen Fernsehens zu gewinnen. So beobachtet man die Fernsehdebatten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 1960, bei denen Kennedy seinen Widersacher Nixon augenscheinlich mit größerer Telegenität aus dem Rennen schlägt. In einem imaginären historischen Rückblick zweifelt Telemann allerdings daran, dass die Weltgeschichte unter der Bedingung des Fernsehens einen anderen Verlauf genommen hätte. Als starke Persönlichkeiten hätten die »Männer, die Geschichte machen«, einerseits von jeher jene Maßstäbe der Unanstößigkeit, wie sie die regulierte Fernsehdebatte bestimmen, unterlaufen, andererseits sei der Unterschied zwischen Reden und Handeln allgemein bekannt.8 Die »ersten europäischen ›Fernseh-Wahlen‹« 1959 in Großbritannien, von der deutschen Politik mit Spannung verfolgt, belohnen in eben diesem Sinn nicht das attraktivere Fernsehprogramm von Labour, sondern bestätigen die Tories trotz einer äußerst drögen Selbstdarstellung.9 Die Fernsehspots der Bundestagswahlkämpfe von 1961 und 1965 legen für Telemann denn auch nahe, die Parteien hätten den Schluss gezogen: »Die Verlierer-Partei hatte ein interessantes TV-Programm, also müssten wir, die wir ja gewinnen wollen, ein so langweiliges machen wie die britischen Konservativen.«10 Der alternativen Folgerung, es gebe überhaupt keine Fernsehwahlen, will sich Telemann freilich nicht anschließen. Sein Zweifel gilt allein der Wirksamkeit politischer Werbung und korrespondiert mit der Konzeption eines kompetenten Zuschauers, die für die Telemann-Kolumne wie für den Spiegel insgesamt signifikant ist.11 Nicht in Frage steht hingegen die Wächterfunktion einer kritisch7 8 9 10

Telemann: »Schläferstündchen« (in dieser Sektion). Telemann: »Das große Zweimalzwei« (in dieser Sektion). Vgl. Telemann: »Muster ohne Wert« (in dieser Sektion). Telemann: »Flinke Männchen«, in: Der Spiegel 15 (1961), Nr. 37, S. 90. Für den Wahlkampf von 1965 vgl. analog Telemann: »Stabilidäd« (in dieser Sektion). 11 Vgl. Christina Bartz: »Spiegel und Zauberspiegel. Zur Beobachtung und Konstruktion des Fernsehens in der frühen Bundesrepublik«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursge-

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journalistischen Beobachtung der politischen Praxis, gerade auch durch das Fernsehen. Am deutlichsten zeigt sich Telemanns Hoffnung auf eine kritische Fernsehöffentlichkeit in jenen Programmen, denen er persönlich am nächsten steht: dem politischen Kabarett, das im Fernsehen eine Nische für dezidiert kritische Positionen bildet.12 Es sind allerdings nicht nur die Massenmedien, die kritisch das politische System beobachten, sondern gleichermaßen verfolgt die Politik, wie sie von den Medien beobachtet wird. Gerade das junge Massenmedium, dem Adenauer, wie Telemann genüsslich zitiert, bescheinigt, »heutzutage einen erschreckenden Einfluß auf die öffentliche Meinung« auszuüben,13 wird hierbei zum Ziel von Versuchen, die politische Berichterstattung zu steuern. In Hinblick auf die Öffentlichkeitsfunktion beobachtet Telemann Adenauers Bemühungen um ein regierungsnahes Privatfernsehen – von der zeitgenössischen Publizistik nicht umsonst »Adenauerfernsehen« genannt –, die politische Einflussnahme in den Rundfunkräten wie auch die Eingriffe in einzelne Sendungen.14 Mit dem Versuch, seine Aktivitäten ins Fernsehen auszudehnen, wird Axel Springer als politischer Spieler auch für den Spiegel zu einem Opponenten. Während die Springerpresse auf einen springerkritischen Beitrag des NDRMagazins Panorama mit der Anschuldigung reagiert, das öffentlichrechtliche Fernsehen sei in der Hand der Linksintellektuellen – von Telemann spöttisch mit der Gruppe 47 identifiziert –, zeigt die von CDUVertretern erfolgreich betriebene Absetzung des Panorama-Chefs Gert von Paczensky eher die gedeihliche Zusammenarbeit von Springer und CDU.15

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schichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 155-175, hier S. 171-173. Telemann: »Kalte Füße« (Sektion »Institutionen«); ders.: »Sagekunst«, in: Der Spiegel 13 (1959), Nr. 42, S. 92; ders.: »Front-Theater«, in: Der Spiegel 16 (1962), Nr. 16, S. 93; ders.: »In Vertretung«, in: Der Spiegel 17 (1963), Nr. 50, S. 100. Zit. nach Telemann: »Einmischung« (in dieser Sektion). Vgl. zu diesen Themen die Sektionen »Institutionen« und »Ätherkrieg«. Vgl. Telemann: »Terrorama« (in dieser Sektion); ders.: »Erbarmen mit den Schlauen«, in: Der Spiegel 17 (1963), Nr. 21, S. 25. Zum Verhältnis Spiegel/ Springer in Bezug auf das Fernsehen Christina Bartz/Jens Ruchatz: »Kommunikationsanlaß Springer«, in: Jens Ruchatz (Hg.), Mediendiskurse deutsch/deutsch, Weimar: VDG 2005, S. 59-84.

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M u st e r o h n e We r t ( 4 2 / 1 9 5 9 ) Nicht alle 32 Millionen Briten, die in den letzten Wochen vor ihrem »Telly« saßen, saßen bequem. Einige hatten ihren weichsten Fernsehsessel einem Gast aus dem fernen Bonn zur Verfügung gestellt: der Höflichkeit halber und weil sie einsahen, daß jemand, der etwas Richtungweisendes wie die ersten europäischen »Fernseh-Wahlen« betrachten möchte, durch keinerlei physische Beschwernis abgelenkt werden darf. Hätten die Gastfreunde geahnt, daß ihre Besucher nicht nur zu schauen, sondern auch zu profitieren gekommen waren, hätten sie ihnen wahrscheinlich noch ein Extrakissen untergeschoben. Genauso nämlich wie 1959 im britischen, erfuhr Telemann, soll 1961 im deutschen Fernsehen gekämpft werden. Da saßen sie also, die geheimen Sendboten der Fraktionen, guckten in fremde Röhren und sahen – nun, zunächst einmal sahen sie etwas, was sie um ein Haar nicht gesehen hätten: unparteiische Reportagen über den Wahlkampf. Die beiden Fernsehgesellschaften, BBC und ITA, mußten hart und lange um die Erlaubnis ringen, das Treiben in den einzelnen Wahlkreisen zu beobachten, und erhielten sie nur mit der Auflage, keinen der Kandidaten zu Wort kommen zu lassen. Es sei denn, alle übrigen wären damit einverstanden. Eine Vorsichtsmaßnahme, die in einem Land, wo keine Partei für Propagandazwecke mehr ausgeben darf als die andere und wo es verboten ist, den Wähler mit Fahnen und Marschmusik zu betören, nicht wunder nimmt. Des weiteren sahen die Bonner Kiebitze, falls sie rechtzeitig über den Kanal geflogen waren, die offiziellen Wahlsendungen der Parteien: fünf konservative, fünf sozialistische und drei liberale. Das Fernsehprogramm der Tories dürfte insonderheit christdemokratischen Spähern nicht viel Neues geboten haben, denn seinen Gestaltern war vor allem daran gelegen, den Unentschlossenen die Häupter liebgewordener Minister zu zeigen. Nach dem bewährten Motto »Deutschland wählt Adenauer« (hier hieß der Slogan: »Es lebt sich besser mit den Konservativen«) wurde – mit dem Holzhammer – auf die Macht der Persönlichkeit gepocht. Äußerstenfalls durfte dieses oder jenes Kabinettsmitglied in einem volksnahen Sketch mitwirken (Landwirtschaftsminister John Hare zu einem Bauern, der mit konservativem Lächeln am Gartenzaun lehnt: »Na, wie sind Sie denn durch den Sommer gekommen?«). Selbst Star-Fighter Macmillan mutete, wenn er zwischen Landkarte und Globus federnd einherschritt, wie der Vorstand eines sehr exklusiven Bühnenvereins an, der gebeten worden war, zu zeigen, wie man den Marc Anton spielt. Die Sendungen der Liberalen hielten sich im selben

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althergebrachten Rahmen, was zur Folge hatte, daß auch sie höchstens Anhänger, nicht aber Zweifler überzeugen konnten. Die einzige Partei, die seit den Wahlen von 1955 auf dem neuen Propaganda-Instrument zu spielen gelernt hatte, war Labour. Sie brachte einen TV-Schlager, der sogar den konservativen Blättern Respekt abnötigte (Times: »Ein lebendiges Labour-Programm«). Der Trick, den ihre Werber dabei angewendet hatten, war der, daß sie, um im Fernsehen erfolgreich zu sein, hinterlistigerweise ferngesehen hatten. Wer aber in England fernsieht, der kennt und schätzt das BBC-Magazin Tonight, eine 40-Minuten-Schau, die mit boshaftem Witz und journalistischer Bravour über Tagesereignisse informiert. Was lag also näher, als das Magazin Tonight (das während des Wahlkampfes ausfallen mußte) durch das Labour-Magazin Britain belongs to you zu ersetzen? So erlebte denn Britanniens erstauntes Fernsehvolk statt der üblichen Eigenlobgesänge der Parteiprominenz eine unterhaltsame politische Revue mit eingeblendeten Zeichentrickfilmen, Vicky-Karikaturen und einer »Star-Parade«, bei der sich Berühmtheiten wie John Osborne, Jack Hilton oder Cassandra zu Gaitskell bekannten – mit individuellen Vorbehalten, was die Aktion nur noch eindrucksvoller machte. Die FernsehProfessionals der Labour-Party brachten die konservativen Laienspieler derart in Bedrängnis, daß acht von hundert farbechten Tories sich vorübergehend mit dem Gedanken trugen, die Sozialisten für halbwegs vernünftige Leute zu halten (wenn man den Gallup-Forschern noch glauben darf). Nun, es sind dennoch keine »Fernsehwahlen« geworden. Die Partei mit dem besten Fernsehprogramm hat nicht gewonnen. Und so konnten die Bonner Zaungäste nichts anderes nach Hause tragen als die Erkenntnis, daß sie sich für 1961 selbst etwas einfallen lassen müssen. Eine bittere Erkenntnis, wenn man bedenkt, was für ein angenehmes Gefühl es doch wäre, sich im Besitz eines sicher wirkenden Mittels gegen Wahlniederlagen zu wissen. Andererseits sollten die Heimgekehrten nicht vergessen, daß es die nächsten Mandate ja nicht mit dem britischen, sondern mit dem Deutschen Fernsehen zu gewinnen gilt; was Telemann, selbst für den Fall, daß deutsche Demokraten gute Wahlkampfunterhaltungen dankbarer anerkennen als angelsächsische, für ein ernst zu nehmendes Handikap hält. Vielleicht wäre es überhaupt vernünftiger gewesen, wenn statt der deutschen Parteipolitiker deutsche Fernsehdirektoren den Kanal überquert hatten. Ihre Reise hätte sich bezahlt gemacht, wüßten sie doch jetzt, wie man es anstellt, daß ein so unergiebiger Vorgang wie das Stimmenauszählen mehr Spannung vermittelt als jeder Kriminalthriller.

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Sollten auch sie heimlich in England gewesen sein, hofft Telemann inständig, daß ihnen der Anblick der elektronischen Gehirne Ella und Deuce nicht den Mut geraubt hat. Es lassen sich nämlich auch mit ganz gewöhnlichen brauchbare Resultate erzielen; zumal wenn man noch zwei Jahre Zeit zum Nachdenken hat.

D a s g r o ß e Z w e i m al z w e i ( 4 4 / 1 9 6 0 ) Nehmen wir an, das Fernsehen wäre eher erfunden worden: etwa von dem Griechen Heron, der sich im zweiten Jahrhundert v. Chr. einen »Apparat zur Erzeugung von Geistererscheinungen« einfallen ließ. Oder von Leonardo da Vinci, der immerhin schon mit dem Gedanken an eine »Camera optica« spielte. Und nehmen wir weiter an, daß infolge dieser Vorverlegung auch das Zeitalter der fernübermittelten Volksaufklärung früher angebrochen wäre – wie hätten die »Männer, die Geschichte machen« ein solches Handikap überwunden? Wären die Franzosen, wenn sie auf ihren Louis-Seize-Fernsehtruhen das Krötengesicht eines Marat, den Tatarenschädel eines Danton oder die eckige Oberlehrergestalt eines Robespierre erblickt hätten, vom »Sturm auf die Bastille« eilends zum »Empire« oder gleich zur »Restauration« übergelaufen? Wäre Otto von Bismarck, der eine zu hohe Stimme besaß, »Eiserner Kanzler« geworden? Stünde der wenig ansehnliche Gustav Stresemann im Neuen Brockhaus? Und hätte der hagere, etwas temperamentarme Abraham Lincoln im amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampf von 1860 den ebenso populären wie rücksichtslosen Senator von Illinois, Stephen Arnold Douglas, aus dem Feld geschlagen, wenn er während »Großer TV-Debatten« jenen Regeln hätte gehorchen müssen, denen sich die Jung-Kandidaten Kennedy und Nixon so willig fügten und die da lauteten: 60 Minuten Gesamtredezeit, vier Fragesteller (zwei werden vom Fernsehen, zwei durch das Los bestimmt), zweieinhalb Minuten für jede Antwort, anderthalb Minuten für jede Gegenrede, keine zusammenfassende Erklärung, kein Hinweis, wer wen worüber befragen wird; jeder hat die gleiche Chance, die gleiche Kulisse, das gleiche Armesünderbänkchen – ? Kurz, wäre die Weltgeschichte in diesem Falle farbloser verlaufen? Keineswegs. Männer, die Geschichte machen, lassen sich weder ein Schema – und sei es das allerdemokratischste – noch einen Redestil aufnötigen. Denn sie sind, wohl oder übel, Persönlichkeiten. Vielleicht hätten einige der Obgenannten, den Forderungen moderner Meinungsbildung Rechnung tragend, sich ein wenig ausfragen lassen. Aber sie hätten das Störende mit einer Geste und das Peinliche mit einem

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Scherz abgetan. Nicht einmal Dwight D. Eisenhower wäre so formtreu gewesen, der Welt als Super-Biedermann ins Haus zu fallen; wie ja überhaupt die Fernseh-Erfolgsaussichten Hochbetagter ungemein günstig sind. Alter schützt vor Torheit nicht, aber es verhütet, daß die Torheit öffentlich als solche erkannt wird. Wie erinnerlich, hat auch der 84jährige Konrad Adenauer im amerikanischen TV keine schlechte Figur gemacht (Meet the Press, 20. März 1960). Ein, sagen wir, 50jähriger Adenauer hingegen hätte, mangels der Fähigkeit, auf klare Fragen klar zu antworten, seine Laufbahn als Politiker wohl vor der Zeit beenden müssen – ein Gedanke, der ausnahmsweise dazu verleitet, die Saumseligkeit der Fernseh-Erfinder zu beklagen. Die Männer jedoch, deren einer im kommenden Jahr die »westliche Welt« personifizieren wird, sind nicht im biblischen, sie sind im besten Alter. Deshalb mußten sie, vor aller Augen und so achtsam gekleidet, daß im Volke nicht Mißgunst noch Geringschätzung aufkeimen konnten, ins Präsidenten-Examen steigen. Richard M. Nixon mit der stolzen Zuversicht eines Abteilungsleiters, dem vertraulich mitgeteilt wurde, daß er demnächst Prokura erhalten soll, John F. Kennedy mit dem Hals einer Lederschildkröte (Dermochelys coriacea) und der Miene eines BaseballTrainers, der sich in Abendkursen die Zulassung zum Begabten-Abitur ertrotzt hat. Beflissen standen sie Rede und Antwort. Und wenn einer der Journalisten gefragt hätte: »Wieviel ist zwei mal zwei?«, so hätten beide bitterernst und im Angesicht des Erdenrunds »vier« gesagt. Als 1860 der Senator Douglas den Wahlmündigen zurief: »Wenn ihr den langen Lincoln wählt, werdet ihr bald mit dem Psalmisten ausrufen: Herr, wie lang’ soll denn unser Unglück dauern?«, gab der spätere Präsident der Vereinigten Staaten zurück: »Wenn ihr den kurzen Douglas wählt, werdet ihr mit dem Psalmisten rufen: Herr, wie kurz war unsere Freude!« Als in der »Großen Debatte« vom 7. Oktober Richard M. Nixon erklärte: »In unserer ersten Diskussion gab (Kennedy) zu verstehen, daß ich keine (politische) Erfahrung hätte. Ich freue mich, heute abend zu hören, daß er mir einige Erfahrung zubilligt«, stellte dies, wenngleich keiner der Musterschüler auch nur ein Lächeln verschwendete, das absolute Höchstmaß an wahlkämpferischem Humor dar. Tableau! hätten Telemanns Altvordern an dieser Stelle angemerkt. Zugegeben, nicht jeder US-Präsident kann ein Abraham Lincoln sein. Und die Kunst, mit kargen Worten zu fechten, stiftet auch dann keinen politischen Schaden, wenn sie drahtlos und weltumspannend geübt wird. Aber die Tatsache, daß jemand Fragen zu beantworten weiß, befähigt ihn noch nicht zum Lenker eines Staatswesens. Wäre dem anders, könnte

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nächstens einer kommen und behaupten, Franz-Josef Strauß habe das Zeug zum Bundeskanzler. Merke: »Politik, segt de Bur, is anners seggen as don« (Volksmund).

N i c ht i n d i e T ü t e ( 5 0 / 1 9 6 0 ) Es begann mit einem Fernschreiben des Tagesschau-Leiters Reiche (Hamburg) an den Tagesschau-Filialleiter Mühlbauer (Köln). Darin war zu lesen, daß die »Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände« am 24. November einen Kongreß abhalten wolle und daß es geboten sei, diesem rhetorischen Ereignis nicht nur Chronisten-Sorgfalt, sondern auch, vermittels vorgefertigter Ansichtsfilmstreifen, Ausschmückung angedeihen zu lassen. Lehrt doch die Erfahrung, daß fesselnde Worte nicht immer mit fesselnden Zügen einhergehen. Also fragte Mühlbauer beim Bundes-Arbeitgeberpräsidenten Paulssen an, worüber denn so geredet werden würde, und erfuhr: über Arbeitslohn und Arbeitszeit. Diese Stichworte vor dem geistigen Auge, fuhr ein WDR-Kamera-Team zu der günstig gelegenen Klöckner-HumboldtDeutz AG in Köln und wies dem Pressechef eine Order vor, worin deutlich geschrieben stand, daß Voraufnahmen für eben nichts anderes als das Brotgebertreffen getätigt werden sollten. Dem Pressechef kam die Gelegenheit, seine Firma ins Elektronenlicht zu rücken, sehr zupaß, und er gab den WDR-Leuten gute Wünsche sowie einen Angestellten vom Lohnbüro mit auf den Weg. Als zu guter Drehstunde die Arbeitnehmer nach regulärem Schichtwechsel zum regulären Lohnempfang schritten, befanden sich am Ort der Handlung auch der Vorsitzende und andere Mitglieder des Betriebsrats. Und damit nicht Neid oder Zwietracht Einzug hielten bei Klöckner in Köln-Kalk, bestimmten diese Räte, welche drei oder vier Glückspilze ihren Wochenlohn vor 30 Millionen Augen empfangen durften. Der Kameramann Theo Rausch waltete seines Amtes, drehte ein paar Totalen, ein paar Nahaufnahmen – und als er sich zur herkömmlichen Großaufnahme anschickte, wurden einem der Erwählten gerade seine verdienten 180 Mark vorgeblättert. Die Kamera erfaßte sie mitsamt der Lohntüte. Noch herrschten Frohmut und Verdienerstolz in Köln-Kalk. Am Vorabend der Sendung jedoch wandelte die Belegschaftsbetreuer jählings Nachdenklichkeit an, und sie kabelten der Tagesschau, die großgezeigte Lohntüte müsse herausgeschnitten werden. Der diensthabende Hamburger Redakteur willfahrte, ließ aber die geblätterten Geldscheine ungestutzt.

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Und so kam es denn, daß in der Tagesschau vom 24. November, gerade als Oberarbeitgeber Paulssens Tonbandstimme wehklagte: »Ein solches Tempo (der Lohnsteigerung) kann nicht ohne Wirkung auf die Preise bleiben ...«, der obenerwähnte Günstling Tele-Fortunas und seiner Betriebsräte die 180 Mark einstrich. Das war die Vorgeschichte. Die Geschichte begann schon am nämlichen Abend, als – nach der Sendung Ωfernsehsitzende Kalkerinnen ihren anvermählten Kalkern die Frage stellten: Wieso 180 Mark? Mir sagst du immer, du bekommst nur 130 – wo ist der Rest? Es herrschten nicht Frohmut noch Verdienerstolz mehr in Köln-Kalk. Am anderen Morgen traten 1500 Angehörige des Betriebes 8 der Klöckner-Humboldt-Werke in einen zweieinhalbstündigcn Streik, riefen: »Wir lassen uns nicht mißbrauchen«, hatten Lust und Laune, zwecks Verabfolgung von Tätlichkeiten das WDR-Funkhaus zu stürmen. »Die Szenen waren gestellt. Wir waren über die Absichten des Fernsehens nicht richtig informiert worden«, tönte es aus Betriebsratsmunde. Und: »180 Mark schafft im Betrieb nur einer, der mindestens 65, Stunden in der Woche gearbeitet hat.« Und: »Für diese Aufnahmen haben die Kameraleute die Aktentaschen unserer Kollegen gegen ihre eigenen Diplomaten-Aktentaschen vertauscht.« (Eine Stegreif-Behauptung, für welche Kameramann Theo Rausch schriftliche Abbitte erheischte und erhielt.) Am späten Mittag fand auch der Vorstand die passenden Worte. Er distanzierte sich von der »Art der Darstellung« und versprach, daß so was nicht wieder vorkommen soll. Das war die Geschichte. Welche Lehre läßt sich daraus ziehen? – Schließlich war’s doch ein historisches Geschehnis: der erste Fernseh-Streik. Und aus der Historie zu lernen, ist jedes Weltkindes vornehmste Pflicht. Nun, es gibt keine Lehre – außer vielleicht der einen, daß sich der Klöckner-Humboldt-Betrieb Nummer 8 bei Gelegenheit einen anderen Betriebsrat einfallen lassen sollte. Es gibt nur die stolze Erkenntnis, daß in einem vergleichsweise unterentwickelten Fernsehland wie dem unseren ein funkelneues TV-Phänomen entsprossen ist. Den »Fernseh-Hals«, den »Fernseh-Herzinfarkt«, die »FernsehBlähungen«, den »Fernseh-Suff« – dies alles gab es längst schon anderwärts. Von einem Fernseh-Streik steht nichts in den Annalen. Und noch eine Merkwürdigkeit sticht ins Auge: Da tobten Aufruhr und Empörung; da verringerte sich das Sozialprodukt um den Ertrag eines halben Arbeits-Vormittags; kurzum, da erregte unser Deutsches Fernsehen ausnahmsweise so viel kollektiven Zorn, daß seinetwegen

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Menschenmassen und nicht nur Kugelschreiber in Bewegung gerieten. Und wenn man’s genau betrachtet, konnte es – ausnahmsweise – gar nichts dafür. Merke: »Unschuld ist meist ein Glück und keine Tugend« (Anatole France).

Mauch-Grimmen (40/1961) »Wer Gewißheit sucht, findet sie im Fernsehen«, behauptete der Zeichentrick-Statistiker Alfred Gaston Wurmser kurz nach Wahl-Mitternacht. Und wirklich, es stimmte: Weilchen für Weilchen gab die rheinische Television über den Stand der Auszählung Kunde. Immer ein Weilchen später als das Radio. Aber dafür wurde der Fernseh-Freund länger in Unruhe belassen, die einen Volksentscheid ja erst reizvoll macht, und empfing allen optischen Komfort. Tafeln mit rätselvollen Schnittmustern, Schaubilder mit Säulchen und Ührchen und herzigen Ministerköpfchen legten Zeugnis davon ab, wie verzwickt doch so eine Bundestagswahl ist. Soziologen, Demoskopen und Partei-Prominente kündeten variantenreich, daß man im Augenblick noch gar nichts voraussagen könne. Dazwischen Werner Höfer und seine Stammgäste, Live-Interviews mit dem Mann auf dem Hamburger Gänsemarkt und der Frau vor dem Münchner Hauptbahnhof, Stimmungsbilder aus jeglicher Provinz (»Die Koblenzer sind gute Bürger, sie machen der Polizei keine Sorgen«) und das 106jährige Mütterchen beim Stimmzettel-Einwurf. Eine Augenlust jagte die andere. Und warum? Weil der Leiter der Darbietung, Klaus Mahlo, die letzte Wahlnacht-Sendung der BBC geschaut hatte. Haargenau so wollte er’s bei uns machen, auf daß im deutschen Heim von 1961 die gleiche Kriminalfilm-Spannung entstünde wie im englischen von 1959. War’s nun Gedächtnisschwund, fehlentwickelter Nachahmungstrieb oder mangelnde Sehschärfe – der Nervenkitzel, den das Produkt der WDR-Mühen hervorrief, entsprach etwa jenem, den man beim Lesen einer Klopstock-Ode empfindet. Dazu aber kam eine Spannungs-Erschwernis, die das Deutsche Fernsehen schon darum nicht vom englischen übernommen haben konnte, weil sie seit acht Jahren den Angelpunkt jeder heimischen Wahlnacht bildet: der Journalist im dreißigsten Schaffensjahr Kurt Mauch, zwischen den Wahlzeiten Chef vom Dienst bei der Deutschen Presse-Agentur.

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Wäre Telemann aufs neue vor die Berufs-Entscheidung gestellt, er wüßte, was er werden wollte – dasselbe wie Mauch. Wahlnacht-Wächter des Fernsehens. Gibt es eine unbeschwerlichere Weise des öffentlichen Wirkens? Alle vier Jahre einmal im Scheinwerferlicht wandeln, als politisch wohlinformiert gelten dürfen; einmal die Blicke von Abermillionen auf sich spüren, ohne deshalb gleich Vorstudien treiben oder zeitraubende Erkundigungen einziehen zu müssen – wer wollte das nicht! Genügt es doch, zu sagen: »Diese Statistik ... ist das schwierigste und komplizierteste, ich habe sie auch selbst deshalb noch gar nicht recht verstanden.« Die Hauptsache, der Zuschauer erfährt Wesentliches. Zum Beispiel: »Diese Karte wird sich im Laufe des Abends immer mehr füllen.« Und ist es doch höchst unterhaltsam zu raten, was sich wohl hinter so geheimnisvollen Abkürzungen wie DFU verbergen mag (Mauchs Mutmaßung: »Deutsche Föderalistische Union«). Denn welcher Gedächtnisriese kann schon acht Parteien im Kopf behalten. Ja, selbst wenn man den Bundestagspräsidenten Gerstenmaier zu den Ministern rechnet – wer nimmt solches krumm, falls man hinterher versichert: »Wir freuen uns ... vor allem wenn wir Fehler machen und auf einen Fehler aufmerksam gemacht wurden.« Was Telemann an seinem beruflichen Leitbild jedoch am heftigsten beneidete, war dessen eigenwilliges Kumpel-Verhältnis zur deutschen Sprache. »Wir haben jetzt wieder einige direkt gewählte Abgeordnete vorzuliegen«, klang es Kurt Mauch bei jedem Teilergebnis aus dem Munde; woraus geschlossen werden muß, daß es in unserem Pressewesen Charaktere gibt, deren grammatikalisches Unabhängigkeitsstreben auch nach 29 Journalisten-Jahren ungebrochen blieb. Leider ist die begehrenswerte Planstelle nicht vakant. Denn wer im Deutschen Fernsehen dreimal seine Unfähigkeit bewiesen hat, kann sicher sein, daß man ihn diesen Beweis auch ein viertes und fünftes Mal wird antreten lassen. Telemann hat nachgefragt. So darf sich Nachtwächter Mauch schon jetzt auf den Wahlsonderdienst von 1965 freuen. Und sollte ihn das Ereignis wieder so unverhofft überfallen, daß ihm keine Zeit bleibt, das »Taschenbuch des Öffentlichen Lebens« oder gar den Großen Duden zu studieren, schadet’s nichts. Denn diejenigen Fernsehzuschauer, die das nächste Wahlergebnis nächtens vorzuliegen haben möchten, werden dann ohnehin Radio hören. Merke: »Herr Mauch war der einzige, der sämtliche Voraussetzungen erfüllte. Er ist parteipolitisch absolut neutral, besitzt eine umfangreiche Kenntnis aller Vorgänge und wirkt in seinem äußeren Erscheinungsbild seriös« (Wahlsonderdienst-Leiter Klaus Mahlo zu Telemann).

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K l e i n e A n f r ag e ( 1 3 / 1 9 6 2 ) Am 9. April, von 15.30 bis 18.00 Uhr, wird sich zu London, Westminster, folgendes abspielen: Im Parlament debattieren Schatzkanzler und Unterhaus über den Staatshaushalt, vor dem Parlament läßt das kommerzielle ITA-Fernsehen seine Kameras und Mikrophone lauern, und dazwischen pendelt keuchend eine Reporter-Staffel, der es obliegt, das innerparlamentarische Geschehen in Minutenabständen nach draußen zu übermitteln, allwo wiederum Finanz- und Wirtschaftsexperten bereitstehen, das auf Stottern Erlauschte kleinweise zu vertiefen. Die Ankündigung dieser publizistischen Clownerie war für die Labour-Abgeordneten John Morris und Ellis Smith Grund genug, einer oft erhobenen Forderung neuerlich Gehör zu verschaffen, die da lautet: Räumt Funk und Fernsehen dasselbe Recht ein, das die Presse seit 90 Jahren genießt; laßt auch sie auf die »Gallery«! Zu den prominentesten Verkündern dieses Verlangens gehören der verstorbene Labour-Parteiführer Aneurin Bevan, der die Schaffung eines eigenen Unterhaus-TV-Kanals anregte, und Englands Lieblings-TeleInterviewer Robin Day, der einen mit öffentlichen Geldern finanzierten und von einem Allparteien-Ausschuß zusammengestellten Filmquerschnitt durch die Parlamentsarbeit des Tages (TV Hansard) vorschlug. Day, optimistisch: »In spätestens fünf oder zehn Jahren wird das Fernsehen seinen rechtmäßigen Platz auf der Pressetribüne einnehmen.« Und wie steht es in der Bundesrepublik? – Hier steht es nicht, hier hängt es geruhsam in der Schwebe. 1959 hatte der Präsident des Dritten Bundestages, im Einvernehmen mit dem Ältestenrat, der Direktübertragung von Parlamentsdebatten ein Ende gesetzt. »Für die Dauer der Legislaturperiode«, wie ausdrücklich erklärt wurde. Erlaubt blieben lediglich kurze Filmberichte für die Tagesschau. Und weil solche Debatten-Kürzel Proporzschmerzen verursacht hätten, ließ es die Tagesschau-Redaktion schließlich mit Regierungserklärungen und Gedenkfeiern bewenden. Nun aber gibt es einen Vierten Bundestag. Und dessen Präsident, mag er mit seinem Amtsvorgänger noch so identisch sein, wie auch der personell veränderte Ältestenrat haben sich bislang nicht darüber geäußert, inwieweit sie gewillt sind, dem Fernsehen Gastrecht zu gewähren. Sollten sie es abermals aussperren wollen, wären ihre Gründe vermutlich die gleichen wie die ihrer britischen Kollegen: Abgeordnete, so würden sie argumentieren, die sich elektronisch beobachtet wissen, reden »aus dem Fenster«, posieren gern als »Rächer der Enterbten«, balgen

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sich um günstige Sendezeiten und, vor allem, laufen Gefahr, Eloquenz mit Demagogie zu verwechseln. Stimmt, sie reden aus dem Fenster; aber nur solange der Zuschauer, der ja auch nicht unintelligenter ist als der Hinterbänkler-Durchschnitt, ihnen das honoriert. Sie plustern sich auf, aber nur bis sie gemerkt haben, daß Posieren allenfalls bei Sonderanlässen, nicht jedoch in Permanenz beeindruckt. Und sie streiten sich um die Gunst der Sendestunde; aber nur wenn es sich das Hohe Präsidium gefallen läßt. Bleibt als stichhaltigster Aussperrungsgrund: die demagogische Gefährdung. Indes, mag man ihrethalben in England, wo sogar Budget-Debatten Spannung erwecken, den Stafetten-Notbehelf gutheißen – bei uns zulande, wo die Politik seit je als »schmutziges Geschäft« gilt, wiegen die Vorteile einer Parlaments-Berichterstattung via Fernsehen schwerer. Ob Live-Übertragung, Spezialkanal oder Filmquerschnitt: · Der Bundesbürger würde endlich erkennen lernen, wessen Sache unter dem Plenarsaal-Adler verhandelt wird: seine. Und weil Mienenspiel und Tonfall eines Redners meist aufschlußreicher sind als das, was anderntags in der Zeitung steht, würde sich sein, des Bürgers, neues Interesse mählich in eines der Urelemente aller Demokratie, in gedeihlichen Argwohn verwandeln. · Die Abgeordneten würden Verstöße wider die parlamentarische Gesittung (Abwesenheit bei spröden Beratungsthemen, Zeitunglesen, Nichtzuhören, wenn die Gegenpartei spricht) geschickt zu vermeiden suchen. · Die Kunst der Rhetorik gelangte zu höherer Blüte; wenn nicht durch praktische Übung, dann durch pfleglichere Rhetoren-Auslese. Man sieht, sämtlicher Gewinn, der dem Zuschauer solcherart in den Schoß fiele, ginge zu Lasten des Parlaments. Daher nimmt es kaum wunder, daß Präsident und Ältestenrat der TV-Initiative entbehren. Erstaunlich ist allein das Verhalten des Deutschen Fernsehens. Warum klopft es nicht an die Hohe Haustür und fragt: Dürfen wir hinein? Teilt es die Bedenken des Dritten Bundestags? Dazu hat es, als Informationsmedium, kein Recht. Will es, nach dem »Fernsehgericht«, auch noch das »Fernsehparlament« im Sandkasten tagen lassen? Das darf es erst, wenn Dr. Gerstenmaier nein gesagt hat. Ich meine, der WDR-Fernsehdirektor Dr. Lange sollte sich bei schönem Wetter mal aufraffen und in Bonn anfragen. Er wohnt am nächsten. Merke: »Vom Fragen wird kein Zahn stumpf« (Sprichwort).

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Einmischung (47/1962) Ist die Weimarer Republik zugrunde gegangen, weil, wie eine deutsche Bild-Zeitung unlängst unter Absingen der Nationalhymne andeutete, »Pessimisten, Nörgler, Hysteriker und Halbkommunisten« sich nicht entblödeten, »den jungen Staat mies zu machen«? Gelangten die Nazis an die Macht, weil, laut Bild-Hauptschriftleiter Boenisch, »die Intellektuellen« – zu denen er sich dankenswerterweise nicht rechnet – »so leicht schwarz sehen«? Oder kam alles historische Ungemach nicht vielmehr daher, daß die unabhängigen Mitteilungsmedien, die den Wächtern und Warnern der »Goldenen Zwanziger« zur Verfügung standen, mehr bibliophilen (die Weltbühne) als publizistischen Wert besaßen? Womit wir bei der interessantesten Frage sind: Wäre die »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« – noch nicht der »SS-Staat«, sondern jene parlamentarische Minderheit, die sich, mangels rechtsstaatlicher Vorstellungen, auf das Primat aller Arier und auf Zuwendungen etlicher Rhein-Ruhr-Industrieller stützte –, wäre dieses zarte Pflänzchen NSDAP vor 30 Jahren so fürwitzig aus dem Kompost gesprossen, wenn es dazumal eine Tagesschau, ein Panorama, einen Report, einen Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, kurz, wenn es schon das Deutsche Fernsehen gegeben hätte? Ich glaube, angesichts der TV-Berichterstattung über die »SpiegelAffäre« darf man die Frage verneinen. Wer zusah, weiß: Zur selben Zeit, als zwischen den Schlagzeilen einiger ungenierter Gazetten der Zorn darüber hervorlugte, daß die Bundesanwaltschaft nicht auch noch etwas von einer Verschwörung Spiegel Kreml durchsickern ließ (warum sonst hätte Chruschtschow die KubaKrise zur Unzeit abgebrochen?), bemühten sich unsere Fernsehstationen, soweit sie für Nachrichten, Meinungen und Analysen zuständig sind, widerrechtsstaatlichen Anfängen zu wehren; entschiedener und mit weniger Aufwand an taktischer Heuchelei als manches der Widerborstigkeit verpflichtete Presseorgan. Sogar der CSU-nahe Helmut Hammerschmidt (Report), von dem Gewährsleute wissen, daß er mit der gleichen Inbrunst, mit der er das Grundgesetz achtet, den Spiegel verabscheut, befleißigte sich – unter Anspannung sämtlicher Kinnbackenmuskeln – der Unvoreingenommenheit. Werner Höfer sprang im Angesicht von zwölf Millionen Frühschoppengästen und mit dem Trinkspruch »Ich glaube, es ist kein Eingriff in ein schwebendes Verfahren, sondern eine sehr naheliegende Solidaritätsbekundung, wenn man den Herren (Rudolf Augstein und Conrad Ahlers)

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alles Gute für das nächste Lebensjahr wünscht« über den Graben einer Höfer-Titelgeschichte (Spiegel 50/1959). Und daß keine Kamera zuschaute, als beim großen Schleier-SpitzenTanz der CDU/CSU vom 8. November nach Entäußerung auch des letzten Behangs kein Demokrat zum Vorschein kam, lag nicht an des Westdeutschen Rundfunks christlichem Schamgefühl, sondern war Pech: Der Bundestagspräsident hatte dem WDR auf dessen Ersuchen einzig das Abfilmen der Fragestunde gestattet. Das eigentlich Sehenswerte aber geschah, nachdem die Kameras bereits abgebaut waren. Zur absichtlichen Einmischung seitens der Television kamen elektronische Zufälligkeiten: Eine lang vorher geplante Dokumentation von Friedrich Sieburg, Im Licht und Schatten der Freiheit (Baden-Baden, 11. November), das Fernsehspiel Lokalbericht (Stuttgart, 13. November), das am Exempel einer korrupten die Nützlichkeit einer unabhängigen »Skandal«-Presse aufzeigte, oder fernmündliche Spontan-Vorschläge wie: »Ich möchte meine Griechenlandreise an Franz-Josef Strauß abtreten« (ein Gewinner der Fernseh-Lotterie 1962, vierte Ziehung, 13. November). Kein Zweifel mehr, das Fernsehen hat »heutzutage einen erschreckenden Einfluß auf die öffentliche Meinung« (Konrad Adenauer vor amerikanischen Journalisten). Wollte man es beim Portepee fassen, würde es in seinem Dienst am Gemeinwohl sicherlich noch weiter gehen und der Republik aus eisernen Personalbeständen einen Übergangskanzler borgen. Dieser würde, wie könnte er anders, aus Köln stammen; würde die Altersgrenze, jenseits welcher ein Politiker in Deutschland für voll genommen wird, bereits überschritten haben; vor allem aber: Er würde über jenes Ausmaß an Humor verfügen, das es ihm ermöglicht, auf das Fraktionskommando »Hosen runter, auch wenn Dreck drin ist!« so anschaulich zu reagieren, wie es der Wahlmündige während vorkarnevalistischer Staatskrisen verlangen kann. Aber vielleicht möchte er lieber außerparlamentarischer Volkskomiker bleiben, der Willy Millowitsch. Merke: »Es gibt kein anderes Land auf der ganzen Welt, in dem es so freiheitlich zugeht wie bei uns« (Hermann Höcherl, Bundesinnenminister).

T e r r o r am a ( 9 / 1 9 6 3 ) »Lokstedt?« fragte der Taxichauffeur, während er mich im Rückspiegel musterte und seine Bild-Zeitung so faltete, daß mir die Schlagzeilen ins Auge sprangen: »FERNSEH-TERROR!« – »PANORAMA – GESCHÄFT FÜR ULBRICHT!« – »BILD-LESER VERBITTERT WIE NIE!«

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Ich las und verstand. Wie konnte der Brave auch wissen, was Telemann, einen dem Scheine nach harmlosen Mitbürger, zu jenem verrufenen Viertel im Nordwesten Hamburgs trieb! In den Fond zurückgelehnt, überdachte ich noch einmal das Ärgernis der letzten Wochen, das da war: Die Panorama-Sendung vom. 11. Februar (Erstes Programm), in der Gert von Paczensky – jedem redlich Fühlenden nur noch als »der Spitzbart« geläufig – von Bild, behauptet hatte, es schreie Passanten an, übe »humanitäre Betriebsamkeit, die dem Geschäft dient«, treibe »sentimentalen Missbrauch« mit unserem Patriotismus, vermittle »Demagogie statt Information« und was der haltlosen Anwürfe mehr waren. Und ich dachte an das Gewissensduell, das da gewütet hatte zwischen Telemann, dem Fernsehfreund, und Telemann, dem Bild-Leser. Zu welcher Partei sollte er sich schlagen? Kein Zweifel, auf der Bild-Seite kämpften und kämpfen starke Bataillone: dreieinhalb Millionen Groschenblatt-Käufer, beflügelt vom Groll gegen das »schlechte Programm«; befehligt vom hübschesten Chefredakteur des deutschen Sprachraums; befeuert vom Fistelstimmwunder Lou van Burg (»Deine Antwort auf Panorama war wunderbar«); unter dem artilleristischen Schutz von Presse-Organen, die nicht dulden wollen, daß »Radikalinskis im Fernsehen ... unbequeme Zeitungen fertigmachen« (Nürnberger Zeitung). Aber der Feind – im strategischen Sprachgebrauch »die Intellektuellen«, »Links-Intellektuelle«, »Links-Clique«, »Heimatlose Linke«, »Non-Konformisten«, »Kryptomarxisten« oder kurz »Gruppe 47« genannt – streitet auf eine viel gefährlichere Weise: Er sitzt, wie die »Katholische Nachrichten-Agentur« zu berichten weiß, »an den Schalthebeln der Personalpolitik und der Programmgestaltung« und ist »viel zu klug«, sich »durch ein Parteibuch oder einen Taufschein vordergründig zu exponieren«. Angesichts dieses Kraft-Mißverhältnisses hatte ich den »Augstein in uns selbst« (Christ und Welt) niedergerungen und beschlossen, das Hauptquartier der TV-Terroristen im Handstreich zu besichtigen. Ich ließ das Taxi warten und betrat wagekühn das Lokstedter Studio. Richtig, da wallte, Schwefeldämpfen ähnlich, ein Rudi von jenem geistigen Hochmut, der unlängst einen 73jährigen Bild-Leser so bitter gekränkt hatte. Da schlotterten Gestalten, hängeschultrig und schmalbrüstig, aus deren Brillengläsern der nackte Intellekt funkelte. Da lungerten heimatlos und hämisch der Günter Graß, der Uwe Johnson und der Martin Walser herum; hetzten, wühlten, schoben einander Abteilungsleiter-Pöstchen und staatsgefährdende Schriften zu.

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Nur Gert von Paczensky, der »kinnbärtige Fernseh-Mephisto« (Christ und Welt), war bereits durch eine Hintertür nach Oberhausen entwischt, um sich – wie seine Vorzimmerdame, die einem lyrischen Mitglied der Gruppe 47 namens Ilse Aichinger verdächtig ähnelte, mir weismachen wollte – »Kurzfilme« anzusehen. »Demokratie heißt Volksherrschaft«, rekapitulierte ich Bild vom 12. Februar. »Und bei Bild herrscht das Volk.« Gewiß. Aber beim Norddeutschen Rundfunk – im Bild-Leser-Mund schlicht »das Fernsehen« geheißen – herrscht, gemäß Staatsvertrag, der Intendant Gerhard Schröder. Also fuhr ich zum NDR-Funkhaus in der Rothenbaumchaussee, vorbei an der gläsernen Pförtnerkabine, wo Hans Werner Richter, Boß der Verschwörergruppe, augenflink die Ein- und Ausgänge kontrollierte, und drang zum Herrn der Anstalt vor. »Ich appelliere«, sagte ich mit Emphase, »nicht an den Intendanten, vielmehr an den Bild-Leser Gerhard Schröder: Was halten Sie von Paczensky?« Doch ehe Schröder den Mund auftun und Bild in Schutz nehmen konnte, erschien eine »Sekretärin« (in Wahrheit natürlich die »Siebenundvierziger«-Dichterin Ingeborg Bachmann!) und reichte ihm, sehr bestimmt, einen Zettel. »Nun?« drängte ich. Und der Intendant des NDR – bleich, verängstigt – las das Papier, zerknüllte es und formte resignierend die Worte: »Paczensky stellt Fragen zu einem Zeitpunkt, wo andere Leute sie noch für unanständig halten. Oft sind diese Fragen berechtigt.« Auch er, Oberhaupt einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und eingeschriebenes Mitglied einer angesehenen Volkspartei (SPD), fest in Non-Konformisten-Hand! So wissen wir denn endlich, Bild-Freunde in Stadt und Land, was allein uns vor lästigem Wahrheitsstreben zu schützen vermag: eine Original-Axel-Cäsar-Springer-Television! Merke: »Willst du dem Feind zu Leibe geh’n, ins Feindeslager mußt du späh’n!« (Anastasius Grün.)

S c hl äf e r s tü n d c h e n ( 4 4 / 1 9 6 3 ) Am 24. Oktober 1963, zu vorgerückter Morgenstunde, gab es im Ersten Deutschen Fernsehen eine lang entbehrte Prozedur zu schauen: die LiveÜbertragung einer Bundestagsdebatte. Welcher TV-Altsasse erinnerte sich nicht mit geschichtlichem Schauder der Redeschlachten, wie sie 1955 anläßlich der Pariser Verträge und 1957 über der Frage der Atomrüstung entbrannt waren!

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Damals brachen sich die Wogen parlamentarischer Ereiferung statt in den vier Wänden des Plenarsaals in des Wählervolkes Wohnküchen; so ungestüm zuweilen, daß Präsident und Ältestenrat des 3. Bundestags sich 1959 genötigt sahen, Direktübertragungen von Parlamentsdebatten »für die Dauer der Legislaturperiode« ein Ende zu machen. Parlamentarisches Geschehen wurde von da an nur in gefilmten Tagesschauportionen verabreicht. Im März 1962, als längst der 4. Bundestag amtierte und unsere Television ihre Verbannung aus dem Hohen Hause für gottgewollt zu erachten schien, riet Telemann dem WDRFernsehdirektor Dr. Lange, doch einmal nachzufragen, wie die TV-Dinge nun lägen. Obwohl, meinte Telemann, der alte Eugen Gerstenmaier das Präsidium innehabe, sei, was da im Vorjahr angehoben habe, unbestreitbar eine neue Legislaturperiode. Aber wie es so geht mit Telemanns Ratschlägen: Über ein Jahr lang schlug das Westdeutsche Fernsehen sie in den Wind. Erst zu Beginn der Ära Erhard erkundigte sich die Bonner WDR-Redaktion bei Dr. Lohmann, dem Vertrauten des Bundestagspräsidenten, nach den Aussichten für eine Live-Übertragung sowohl der Regierungserklärung des neuen Kanzlers als auch der Debatte darüber. Und Lohmann ermunterte: Dr. Gerstenmaier sei im Augenblick »guter Laune« und werde ein diesbezügliches Ersuchen gewiß mit Gunst bescheiden. Und siehe da, so war’s denn auch. Die Debatte – nur sie interessierte den Beschauer, es sei denn, er wäre ein politischer Nimmersatt –, die Debatte verlief so: Nach einem Restchen Fragestunde, in dem von Eisbrechern und Reserve-Eisbrechern die Rede war, kam Heinrich von Brentano, sagte, er wolle »nicht den Versuch unternehmen, die Epoche deutscher Geschichte, die auf immer mit seinem (Adenauers) Namen verbunden sein wird, hier darzustellen«, unternahm den Versuch dennoch, nicht ohne zuvor der SPD den Rüdiger Proske und die Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen, Jahn und Merten aufs Brot geschmiert zu haben – was wiederum die linke Seite zu Schlagfertigkeiten inspirierte, die in Telemanns Ohr wie »Strauß! « klangen, von den Stenographen jedoch, zum Befremden des Hohen Präsidiums, mit »raus!« wiedergegeben wurden. Dann kam Fritz Erler, mißbilligte das ministerielle Sitzfleisch des Hermann Höcherl, tat des emsig vor sich hin schreibenden Abgeordneten Franz-Josef Strauß respektarm Erwähnung und ließ im übrigen Ludwig Erhard einen guten Kanzler sein. Dann kam eine Mittagspause und danach, auf ein weiteres, durch keine Zwischenrufe gestörtes Schläferstündchen, der FDP-Abgeordnete von Kühlmann-Stumm.

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Dazwischen erblickte das schweifende Auge: halbleere Bänke, plaudernde Volksvertreter, drucksachenstudierende Minister, einen ständig auf die Uhr blickenden Regierungschef, sowie – als Lustige Person – den von Bank zu Bank wuselnden, sieghaft in die Kameras lächelnden Will Rasner. Seitdem fragt sich Telemann: Was hatte Eugen Gerstenmaier im Sinn, als er nach vierjähriger Pause wieder Elektronenaugen Einblick gewährte? War es eine pädagogische List? Wollte er einer live-hungrigen Öffentlichkeit demonstrieren: Da seht ihr, wie wenig telegen es bei uns zugeht! Seid also heilfroh, wenn man euch dergleichen nicht in dokumentarischer Gänze, sondern in bekömmlichen Zelluloid-Häppchen serviert! War es wirklich eine Präsidentenlaune, geboren aus der Zuversicht, daß bei einer Direktausstrahlung dreier vom Blatt debattierender Rhetoren nichts Ernstliches passieren könne? Nun, es könnte durchaus etwas Ernstliches passiert sein am vorigen Donnerstag. TV-Neulinge, die von den forensischen Fähigkeiten und Gebräuchen derer, die sie im Bundestag vertreten, eine hohe Meinung gehabt hatten, könnten eine weniger hohe bekommen haben. Und das wäre, weil auch ein Parlament nicht ohne small talk auskommt, noch dazu ungerecht. Es gibt, meine ich, nur zwei Möglichkeiten: Entweder man läßt das Fernsehen nie ins Parlament oder immer. Läßt man es – wie in England – nie hinein, wird sein, des Hohen Hauses, Nimbus wachsen, zumindest jedoch gewahrt bleiben; ganz gleich, ob seine Insassen dösen oder Papierkügelchen drehen. Läßt man es immer hinein, werden die Fraktionen ganz von selbst für zündende Reden, aufmerksame Mienen und gefüllte Bänke sorgen. Und für ein bißchen Demagogie, versteht sich. Ein Risiko muß man laufen. Merke: »Entweder Kapuziner oder Starost« (polnische Redensart).

S t ab i l i d ä d ( 3 8 /1 9 6 5 ) Ende der 50er Jahre, als das europäische Fernsehen aus den Nähten seines Flügelkleides zu platzen begann, schien ein alter ParlamentarierWunschtraum in Erfüllung zu gehen: der Traum, man könne durch gezielte Anwendung der TV-Technik Wahlen gewinnen. Avantgardistin war, im britischen Parlaments-Wahljahr 1959, die Labour-Partei. Sie verfertigte mit Fleiß und Witz eine fünfteilige Magazinreihe (Britain belongs to you), die selbst ihren Gegnern Achtung abzwang. Resultat: Labour verlor.

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POLITIK

Das böse Exempel schreckte die Nachbarn so sehr, daß im deutschen Wahlkampf von 1961 sämtliche Parteien ein ebenso langweiliges TVWahl-Programm zu senden bemüht waren wie vordem die siegreichen Tories. 1965 sind alle Träume ausgeträumt. Kluge Wahlkämpfer wissen, daß man mit TV-Werbespots allenfalls Hundefutter, nicht jedoch Kanzlerkandidaten an den Verbraucher bringen kann. Aber das Fernsehen ist nun mal da, und so muß man es benützen; schon wegen der demoskopisch ermittelten 25 Prozent »Unentschlossenen«. Beginnen wir bei den Kleinsten. Die NPD, verkörpert durch ein Diapositiv oder Adolf von Thadden, benützt ihre Sendefrist von zweieinhalb Minuten, um sich zeitraubend über diese karge Zumessung zu beklagen, die DFU jätet, wie schon beim letztenmal, etwas Passendes aus dem Spiegel. Beide werden nicht müde, kurzfristig einen Grafen Westphalen (»... lehne jede Notstandsjesetzgebung katejorisch ab«), einen Prinzen zu Salm oder einen »Vater der Raumfahrt« auf den Schirm zu schicken. Die FDP, erstmals am 2. September im Werbegeschäft, vertraut auf den Appeal einer Boeing 727 und läßt ihren Ex-Justizminister Bucher tieftraurig sich erkundigen: »Kampf um die Macht – geht es nur darum?« Die SPD, von allen Schön- und Feuergeistern der Nation beraten, baut auf die Schläfrigkeit der Tagesschau-Betrachter: Kaum hat ARDSprecher Köpcke sein 20-Uhr-Pensum erledigt, erscheint ein anderer, ähnlich soignierter Herr auf der Scheibe, zuweilen auch die Hausfrau und Mutter Irene Koss, verehelichte Drechsel, und weiter geht’s im Nachrichtentext, Bonner Depesche geheißen. So wird der Rundfunk-gläubige Tele-Untertan geschickt hinter das Licht geführt, das ihm Brandt und Wehner aufstecken möchten. Er erfährt – pseudoamtlich – von SPD-»Gesundheitsraketen«, »fahrbarer SPD-Mütterberatung«, vortrefflicher SPD-Städteplanung; hört, daß ein »Bild-Leserinnen-Parlament beim SPD-Vorsitzenden gewesen«, daß die »schleichende Inflation im Vormarsch« sei, und bekommt Ratschläge zur Briefwahl wie auch Nachricht, daß »Willy Brandt morgen um 14 Uhr in Bottrop« eintreffen werde. Während die Sozialdemokraten vornehmlich in der Defensive agitieren (Brandts Exil-Renommee wird mit den Emigrantennamen Thomas Mann oder Albert Einstein geschönt, »heftige Angriffe« der Prawda gegen die SPD gelten als mitteilenswert), schießt die CDU/CSU, im Umgang mit der Demagogie robuster, hinter bewährten Hecken hervor. »Es vergeht kein Tag«, tönt es aus der Hecke »Kriegsangst«, »an dem wir nicht von Krisen, Unruhen, ja von Kriegen hören oder lesen,

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und wir fragen uns: Müssen wir uns nicht wehren?« Folgt ein Hinweis auf des Urgroßkanzlers »einfache, gerade Politik«. Zum Thema »Wohlstand ist nicht unmoralisch« erfährt der von SPDTyrannei bedrohte Wahlmündige, daß er unter CDU/CSU-Ägide »ins Theater gehen kann, in dem der Spielplan ihm und nicht dem Staat zu gefallen hat«, daß »dieses Mädchen auch künftig frei und unbeschwert ins Leben lachen« und jener »Regisseur seine Traumwelt zimmern und verkaufen dürfen soll«, günstiger noch, daß »die Zeit des Volksgerichtshofes vorbei ist«. Und fröhlich klingt´s aus dem Gehölz, wenn Ludwig Erhard höchstselbst (»65 Prozent aller Deutschen wollen, daß er unser Kanzler bleibt«) zur Kundgebung federt. Da drängeln sich Ahne, Mutter und Kleinkind, da raunt es tausendfach »er kommt«. Da herrscht jähe Andacht, wenn er zu sprechen anhebt: »Was hab ich gedan? Ich habe die Wege gewiesen«; brandet Jubel, wenn er von der »Stabilidäd unseres Kondinends« kündet oder gar versichert: »Für mich bersönlich gäb’s auch einen andern, bessern Job, als Bundeskanzler zu sein, aber darauf kommt’s doch nicht drauf an!« Dazu die allen wohlvertraute Werbemarschweise für das Tabakerzeugnis Peter Stuyvesant. Wenn’s auch nicht viel nützt, das Wahlkampfmittel Fernsehen, Schaden wird es schon keinen anrichten, dachten sich die Parteihäupter. Woran sie nicht gedacht haben, ist, daß (ungezielte) TV-Programme sehr wohl Wahlentschlüsse reifen machen oder umstürzen können. Beispiel: die Sendung Journalisten fragen – Politiker antworten, mit Strauß, Mende, Brandt und Gerstenmaier (ZDF, 2. September). Sonst hätte sich der eine oder andere vermutlich beim Diskussionsleiter entschuldigen lassen.

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In »guten alten Kriegszeiten«, erinnert Telemann, mussten als Mittel militärischer Informationsgewinnung Fernrohre ausreichen, mit denen man nicht viel mehr sehen konnte, als dass der Feind mit dem selben Interesse durch ein Fernrohr späht. In Zeiten der grenzüberschreitenden Funkmedien brauche der Stratege dagegen nur noch »eine Fernsehantenne über die Brustwehr zu halten, und schon blickt er mitten ins feindliche Lager. Glaubt er. Und weil sein Gegenüber es auch glaubt, sitzen beide mit ausgestreckten Leichtmetallfühlern in ihren Unterständen und zeichnen auf.«1 So beobachtet das Deutsche Fernsehen den Deutschen Fernsehfunk und der DFF zeichnet seinerseits das Programm der ARD auf, auch wenn er dafür auf kostspieliges Filmmaterial zurückgreifen muss, weil er keinen Zugriff auf westliche Videotechnik hat. Wenn auf diesem Weg genug »Gekiebitztes« zusammen gekommen sei, dann griffen die Beobachter »zu Schere und Leimtopf, werten aus, ab und um, kommentieren und lassen das Resultat neuerlich ätherwärts steigen. Auf dass der Feind sich erbose und der Freund auf dem laufenden bleibe.« Diese Art medialen Feindkontakts durch Sendungen wie Thilo Kochs Rote Optik in der Bundesrepublik, der Karl Eduard von Schnitzler seinen Schwarzen Kanal entgegensetzt, bildet eine Front im Kalten Krieg. So konstatiert Koch, dass mit dem Schwarzen Kanal der »innerdeutsche Fernsehkrieg offensiv geworden« sei,2 und klagt über das ungleiche Kräfteverhältnis: Während seine Rote Optik nur viermal im Jahr ausgestrahlt wird, geht der DDRWiderpart wöchentlich auf Sendung. Die zeitgenössische Titulierung der grenzüberschreitenden Hörfunkund Fernsehpropaganda als ›Ätherkrieg‹3 ist durchaus wörtlich zu nehmen, handelt es sich doch tatsächlich um den Versuch, den Feind auf dem Wege der Rundfunkpropaganda hinter den Linien anzugreifen und 1 2

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Telemann: »Spähposten« (in dieser Sektion). Thilo Koch,1960, zit. nach Matthias Steinle: Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm, Konstanz: UVK 2003, S. 166. Vgl. Torsten Hahn: »›Aetherkrieg‹. Der ›Feind‹ als Beschleuniger des Mediendiskurses«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 77-91, hier S. 85.

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kampfunfähig zu machen, und damit um die in Zeiten atomarer Abschreckung einzige ohne größeres Risiko praktizierbare Offensivaktion. Ob dies jemals eine erfolgversprechende oder gar – bis zur friedlichen Revolution in der DDR – erfolgreiche Maßnahme gewesen ist, sei hier dahingestellt, denn eine Diskursrealität ist der ›Ätherkrieg‹ allemal. Der militärstrategische Fachbegriff, unter dem zur Zeit des Kalten Krieges solche Propagandastrategien subsumiert werden, lautet ›psychologische Kriegführung‹: Das Ziel ist demnach, die psychologische Disposition der einzelnen Menschen strategisch auszurichten.4 Mit der Idee der psychologischen Kriegführung geht zwangsläufig eine gewisse Paranoia einher, denn im Glauben an die prinzipielle Beeinflussbarkeit aller Menschen werden nicht nur die eigenen Funkmedien, sondern auch die des Gegners zu Waffen. Die Konsequenz ist ein Misstrauen der Herrschenden gegenüber der eigenen Bevölkerung, die als Ziel der feindlichen Propaganda und damit als potentieller Überläufer zu einer Gefahr im eigenen Land wird. Psychologische Kriegführung muss also nach innen genauso wie nach außen zielen.5 Wie extrem das Erregungsniveau um 1960 ist, nimmt Telemann immer wieder erstaunt zur Kenntnis. Ein Fernsehporträt des StalinNachfolgers Chruschtschew wird erst verschoben und dann überarbeitet, weil der sowjetische Machthaber angeblich zu sympathisch herüber kommt.6 Als Hans-Joachim Kulenkampff in seiner Show Quiz ohne Titel den offiziellen Sprachgebrauch verletzt und die Zuschauer »in der DDR« begrüßt, kommt es zu einem weiteren Eklat. Mit seiner Äußerung im Fernsehen habe Kulenkampff, so die Befürchtung, den zweiten deutschen Staat quasi politisch anerkannt. Die Tatsache, dass sich mehr Politiker und Verbände als sonstige Zuschauer bei der Sendeanstalt beschwerten, amüsiert zwar Telemann, muss für Anhänger der psychologischen Kriegführung aber gerade Anlass zur Besorgnis geben.7 Telemann nimmt die kursierende martialische Semantik auf, distanziert sich von ihr aber zugleich durch Ironie. Dem willfährigen Opfer des 4

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Der Begriff wird – als kommunikationswissenschaftliches Konzept – in den USA im Kontext des II. Weltkriegs gebildet; vgl. Paul Linebarger: Schlachten ohne Tote, Frankfurt/Main: E. S. Mittler & Sohn 1960, S. 56f.; Christopher Simpson: Science of Coercion. Communication Research and Psychological Warfare 1945-1960, New York, Oxford: Oxford University Press 1994, S. 11 und S. 136, Fn.19. Bei Telemann fällt der Begriff in »Spähposten« und »Kalte Suppe« (in dieser Sektion). Dies belegen etwa die heftigen Reaktionen auf eine Infrateststudie von 1959, die ergibt, dass mehr Bundesdeutsche als erwartet das DFF-Fernsehprogramm nutzen; vgl. T. Hahn: »Aetherkrieg«, S. 87f. Vgl. Telemann: »Pferdefhues« (in dieser Sektion). Vgl. Telemann: »Kuli-Aufstand« (in dieser Sektion). Zur Diskrepanz zwischen offizieller und öffentlicher Aufregung siehe des weiteren Telemann: »Böhmischer Wind« (in dieser Sektion).

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›Ätherkriegs‹ stellt er einen Zuschauer entgegen, der sich simplen Wirkmechanismen psychologischer Beeinflussung entzieht, insofern er beispielsweise nur zu gut wisse, »daß Leute, die vor der Kamera Hunde streicheln, Kinder Huckepack tragen oder alten Mütterchen die Hand tätscheln, auch eine ausgedehnte Nachtseite ihr eigen nennen«, und damit Chruschtschew auch angemessen einschätzen könne.8 Überdies reduziert Telemanns Blick in das Programm aus Adlershof, dem Standort des DDR-Fernsehens, den Gegner im Äther auf einen von westdeutschen Kalten Kriegern aufgeblasenen Popanz. Die Live-Übertragung eines Länderspiels der bundesdeutschen Nationalmannschaft, das im Westen nur verzögert als Zusammenschnitt zu sehen ist, werde nicht »zu politischer Schleichwerbung« genutzt.9 Und was ansonsten geboten wird – Endspurt im Ernterennen oder Sendung für die Landwirtschaft –, scheint nicht mal für die gebeutelten bundesdeutschen Fernsehzuschauer attraktiv und raffiniert genug, als dass man ihnen mit einer Programmoffensive entgegentreten müsste: »Unser Deutsches Fernsehen soll das psychologische Kriegführen denen überlassen, die sich etwas Hübsches davon versprechen.«10 Im Ätherkrieg gefährdet sind folglich weniger die Zuschauer als vielmehr die bundesdeutschen Programmverantwortlichen, die riskieren, sich mit den Methoden der DDR-Agitation gemein zu machen und so zum bundesdeutschen Programmeinerlei »noch auf den einzigen Kontrast zu verzichten, den eine freie Sendeanstalt nahezu mühelos darstellen kann: den zum roten Studio Adlershof.«11 Lieber riskiert Telemann als Beispiel westdeutscher Systemkritik im SED-Organ Neues Deutschland zitiert zu werden, als »das gleiche Geschütz« aufzufahren, »mit dem in Adlershof schon geschossen wird«.12 Als Gegenpol zur künstlichen Aufregung im ›Ätherkrieg‹ scheint für Telemann insgeheim ›echte‹ Politik zu fungieren. Und hier legt das Fernsehen das Unvermögen der bundesdeutschen Regierenden in Reaktion auf den Mauerbau dar13 – und erfüllt damit seine eigentliche politische Funktion. 8

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Telemann: »Pferdefhues«. Nur wenig später sieht Telemann Chruschtschew ohnehin von ›unbestechlichen‹ Live-Kameras diskreditiert; vgl. Telemann: »Bauern-Theater« (in dieser Sektion). Telemann: »Hintenach« (in dieser Sektion). Telemann: »Kalte Suppe« (in dieser Sektion) Telemann: »Wenn es keinen Kreml gäbe«, in: Der Spiegel 16 (1962), Nr. 35, S. 61. Telemann: »Mitteldeutsches Klagebuch« (in dieser Sektion). Vgl. in diesem Tenor des weiteren »Spähposten«, »Mit Engelszungen«, »Böhmischer Wind«, »Unter dem Tage« (alle in dieser Sektion). Für Exempel deutsch-deutschen Zitierens von Mediendiskursen vgl. Jens Ruchatz (Hg.): Mediendiskurse deutsch/deutsch, Weimar: VDG 2005. Vgl. Telemann: »Ohnmacht-Parade« (in dieser Sektion).

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P f e r d e f hu e s ( 3 2 / 1 9 5 9 ) Vorige Woche las Telemann in der Süddeutschen Zeitung: »Auf Betreiben des nordrhein-westfälischen Innenministers Dufhues (CDU) hat sich der Westdeutsche Rundfunk entschlossen, die Aufführung des Fernsehfilms über das Leben des sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschew kurzfristig vom Programm abzusetzen. Dufhues erreichte dies in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Rundfunkverwaltungsrats. Zur Begründung führte er an, Chruschtschew komme in dem Film, der als Versuch eines Porträts angekündigt war, zu väterlich und im ganzen zu sympathisch weg. Ein solcher Eindruck sei nicht zu vertreten ...« Diese Nachricht erfüllte Telemann mit Betrübnis. Hatte er sich doch, in seiner Eigenschaft als Weltkind, darauf gefreut, endlich Genaueres über jenen Mann zu erfahren, der sogar zur Sommerszeit mehr Schlagzeilen liefert, als eine Tageszeitung unterbringen kann. Freilich versuchte er sich auch in die Lage eines CDU-Ministers zu versetzen, der tatenlos mitansehen soll, wie da ein leibhaftiger Weltfeind in freundlichen Pastelltönen an die Wand gemalt wird. Denn das weiß jeder IllustriertenLeser: Bilder, die den Nikita nächtens auf dem Blocksberg oder beim Zelebrieren einer Schwarzen Messe zeigen, die gibt es nicht. Es gibt allenfalls welche von der Leipziger Messe, und auf die trifft der Vorwurf der Väterlichkeit in besonderem Maße zu. Da hatten es, meditierte Telemann (immer noch in der Lage des nordrhein-westfälischen Innenministers), unsere Altvorderen doch besser; sie konnten ihren Teufeln wenigstens Pferdefüße anmalen. Andererseits fragte er sich, ob es nicht genügt hätte, den Pferdefuß des Vaters aller Werktätigen im Kommentar zu erwähnen. Eine Möglichkeit, von der in der Geschichte des Dokumentarfilms seines Wissens schon Gebrauch gemacht wurde. Noch mehr aber beschäftigte ihn die Frage, warum der Westdeutsche Rundfunk und sein Verwaltungsratsvorsitzender nicht bedacht haben, daß die Absetzung gerade dieser Sendung im Volke Verwunderung hervorrufen muß, zumal diesem Volk ja nicht fremd sein kann, daß Leute, die vor der Kamera Hunde streicheln, Kinder Huckepack tragen oder alten Mütterchen die Hand tätscheln, auch eine ausgedehnte Nachtseite ihr eigen nennen. Und weil Telemann auf seine Fragen keine Antwort wußte, fragte er den Hamburger Intendanten Hilpert, der gegenwärtig seinen auf Sylt weilenden Kölner Kollegen Hartmann vertritt. Von ihm erfuhr er, daß der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband die plötzliche ProgrammÄnderung weder als besonderes Vorkommnis wertete noch als solches gewertet wissen wollte. Nur zwei Gründe, versicherte Dr. Hilpert, hätten den verantwortlichen Kölner Redakteur zu diesem Schritt bewogen. Ers-

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tens: Das bestellte Filmmaterial sei nicht rechtzeitig eingetroffen (das bereits vorhandene sollte durch die neuesten Aufnahmen von Chruschtschew-Reisen ergänzt werden), zweitens: Der Stand der Genfer Verhandlungen habe den Sendetermin ungünstig erscheinen lassen. Hilpert: »Dem Zuschauer gegenüber ist der Zeitpunkt immer richtig. Aber so eine Sendung hat ja nicht nur eine Wirkung auf den Zuschauer, sondern auch auf die oberen Ebenen der Politik ... und was Herrn Dufhues betrifft, so kann ich verbindlich für ihn erklären, daß er so etwas niemals anordnen oder betreiben würde. Zumindest hätte er mich, als den Vertreter von Herrn Hartmann, fragen müssen. Aber ich habe kein Wort mit Minister Dufhues gewechselt.« Auf der Suche nach einem, der mit Minister Dufhues ein Wort gewechselt hat, stieß Telemann auf den verantwortlichen WDR-Redakteur Christian von Chmielewski. Von ihm erhielt er die Auskunft: »Wie es zu der Zeitungsmeldung kommen konnte, ist mir ein Rätsel. Der Minister rief mich an und erkundigte sich nach dieser Sendung. Er fragte, wie sie denn aufzufassen wäre, er kenne sie ja nicht, und daraufhin sagte ich ihm, ich hielte die Sendung aus der Sicht der gesamten Bürger der Bundesrepublik für vertretbar.« Des Rätsels Lösung fand Telemann schließlich in der Antwort des Fernseh-Koordinators Dr. Clemens Münster auf seine Frage, ob denn ein Ressortleiter befugt sei, eine so lange angekündigte Sendung eigenmächtig abzusetzen. Nein, er sei dazu keineswegs befugt, erklärte Dr. Münster. Aus diesem Grunde habe er, der Koordinator, Herrn von Chmielewski auch in ein hartes »Kreuzverhör« genommen und dabei folgendes erfahren: Gerd Ruge, der Urheber des so jäh ausgefallenen FernsehPorträts, hat für den WDR auch ein Chruschtschew-Hörbild verfertigt (Nikita Chruschtschew, Stalins Gefolgsmann, Stalins Nachfolger), das am 16. Juli gesendet wurde. Dieses Hörbild und vorbeugende Proteste der »Menschen aus dem Ruhrgebiet« hatten Herrn Dufhues auf den Gedanken gebracht, die Männer der Abteilung Fernsehberichte zum Zwecke »zwangloser Unterhaltung« um sich zu scharen. Und weil der Westdeutsche Rundfunk ein Sender ist, der auch das unverbindliche Stirnrunzeln eines Ministers nicht leichtnimmt, hat er kurzfristig entdeckt, daß Nikitas FernsehKonterfei der Ergänzung bedürfe (Chmielewski: »Man hätte sonst gespürt, daß die Sache drei Wochen alt ist«). Telemann darf also mit Befriedigung feststellen, daß es ein deutscher CDU-Minister gar nicht nötig hat, Kompetenzen zu überschreiten. Das Heben einer Braue ist für seine Getreuen Ansporn genug.

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Außerdem darf er einem Herzenswunsch aller von ihm Befragten entsprechen und öffentlich verlautbaren, daß die Sendung »in allernächster Zeit« nachgeholt wird. Mit Pferdefuß. Merke: »Ein geringer Verzug bringt offt grossen Vortheil« (Christoph Lehmann, Politischer Blumen-Garten, 1662).

M i tt e l d e u ts c h e s K l a g e b u c h ( 4 1 / 1 9 5 9 ) Wer es, wie Schiller, zu schätzen weiß, wenn man ihm »sein kleines Zimmer durch Reisebeschreibungen recht groß und weit macht«, der hat gut fernsehen. Denn da ist keine Station, die ihm nicht wenigstens einmal wöchentlich etwas Exotisches verabfolgt; sei es ein karibisches Riff, ein indisches Grabmal oder ein Münchner Oktoberfest. Doch wird die Abenteuerlichkeit solcher Darbietungen gemindert, wenn man sich vor Augen hält, daß die gezeigten Gegenden und Gegenstände jedermann zugänglich sind. Er braucht nur bei Cooks oder bei Touropa zu buchen. Der einzige Sender, der sich nach wie vor die Mühe macht, altmodischen Vorstellungen von »Reisen ins Unbekannte« zu entsprechen, ist der Sender Freies Berlin. Er sendet Günter Linckes Mitteldeutsches Tagebuch. Telemann kennt die Reihe, die nach Auskunft ihrer Redaktion »die Fernsehzuschauer der Bundesrepublik darüber informieren soll, was die Menschen in Mitteldeutschland im guten wie im bösen Sinn durchzustehen haben«, seit ihrem Bestehen. Und weil sie ihm schon so viel Stoff zum Nachdenken geliefert hat, sah und hörte er sich am 25. September auch die neueste Folge an (Ostsee oder Meer des Friedens). Dabei hörte er unter anderem dies: »Am Stalinplatz beginnt das neue Rostock. Hier hat das Marinekommando der sogenannten DDR seinen Sitz. Schon 1958 unterstanden diesen Stäben mehr als 125 seetüchtige Schiffe mit über 10000 Offizieren und Mannschaften. Die Militärkraft, die darin zum Ausdruck kommt, ist nur ein Teil der unter sowjetischem Befehl stehenden kommunistischen Ostsee-Flotte. Mit ihren rund tausend Schiffen, Kreuzern, Zerstörern, Torpedo- und U-Booten, mit ihren über 150000 Soldaten und den über 1200 bereitstehenden Flugzeugen stellt diese Seemacht die stärkste Bedrohung des Friedens in der Ostsee dar.« Wie gut, dachte Telemann, daß auch die Nato in dieser Gegend ein paar Stützpunkte hat; denn die vielen Zahlen erschreckten ihn sehr. Doch als er sich eben fragen wollte, warum ihm Günter Lincke, zu seiner Beruhigung, nicht auch die Anzahl der friedliebenden Soldaten, Kreuzer und Flugzeuge mitgeteilt hatte, wurde er schon wieder in ein anderes Problem vorwickelt. Und zwar ging es um die entscheidende Frage, wann die Russen von der Insel Bornholm abgezogen sind. Walter Ulbricht erklärt (im Ost-Fernsehen): bei Beendigung des Krieges. Der sow-

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jetische Minister für Seefahrt, Bakajew, bekennt: Erst im Jahre 1946 sei Bornholm geräumt worden, und zwar ungeachtet des strategisch wichtigen Umstandes, »daß der Aufenthalt von Streitkräften auf dieser Insel der Sowjetunion die Kontrolle über den westlichen Teil der Ostsee garantieren könnte«. Was Günter Lincke wie folgt kommentiert: »Herr Bakajew ließ mit seiner Bemerkung die Katze aus dem Sack. Es geht der Sowjet-Union nicht um den Frieden, sondern einzig und allein um die Kontrolle im Ostsee-Raum. Hinter den Friedensbeteuerungen steckt die Drohung, weiter nach Westen vorzudringen.« Auf die Gefahr hin, daß Telemann auszugsweise im Neuen Deutschland nachgedruckt wird, behauptet er: Hier hört der Spaß auf. Man kann, wenn man einen Dokumentarfilm über Mitteldeutschland beplaudert, sehr wohl wider Ulbrichts Spitzbart löcken; man kann diese und jene »Errungenschaft« mit Wortpfeilen spicken; man kann auslachen, anklagen, widerlegen – aber man kann, bloß weil das ostdeutsche Fernsehen nichts Passendes hergab, keine unpassenden Vermutungen anstellen. Zumindest sollte man es nicht nötig haben. Was immer die Absicht der Sowjets gewesen sein mag, als sie Bornholm freigaben – Angriffslust darf man ihnen hierbei wohl kaum unterstellen. Und was die vielen Kreuzer betrifft, so kann Telemann ihr Verweilen in der östlichen Ostsee so lange nicht unschicklich finden, als sie dort tun, was andere woanders auch tun, nämlich kreuzen. Mit kargen Worten: Man soll die Friedensliebe auch dann nicht gepachtet haben wollen, wenn man argwöhnt, daß der Nachbar in dieser Tugend ermangelt. Schon gar nicht, wenn man einer Nation angehört, die den Beweis für ihre außenpolitische Sanftmut eben diesem Nachbarn noch schuldig ist. »Und trotzdem schüren dieselben Leute, die den Frieden so laut propagieren, gleichzeitig den Haß«, wettert Lincke angesichts der vielen »falschen Propaganda«. Mag sein, daß er das, was er seinerseits so fleißig schürt, für etwas Besseres oder wenigstens für »erlaubten« Haß hält; wie es ja auch einen »gerechten Zorn« gibt, in den zu geraten jedem Christen gestattet ist. Vielleicht glaubt er, den paar DDR-Bewohnern längs des Stacheldrahts, die sich noch eine West-Antenne anzubringen trauen, das Rückgrat zu stärken – und vergißt dabei, daß gerade sie seine Reise-Abenteuer nachprüfen können. Als Telemann wissen wollte, wie denn der fernsehende Westen das mitteldeutsche Kriegstagebuch aufnehme, gab ihm die SFB-Redaktion zur Antwort: »Die große Masse der Fernsehzuschauer in Westdeutschland ist nicht so angetan von der Reihe, weil sie sie immer ein bißchen unangenehm berührt.«

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Nun, das wäre Telemann eine schöne Masse, die sich keine robustere Gemütsart anerziehen ließe! Der Sender Freies Berlin braucht nur einen Schritt weiterzugehen und das gleiche Geschütz aufzufahren, mit dem in Adlershof bereits geschossen wird. Dann geht sie eines Tages schon mit, die westdeutsche Masse. Frischauf zur fröhlichen Hatz! Oder aber die Entdeckungsreisenden führen ihr Tagebuch korrekt. Merke: »Nicht allein in Lakedämonien werden kriegerische Männer geboren, sondern überall, wo es Menschen gibt. Nur muß sich einer finden, der sie kriegstüchtig zu machen versteht.« (Machiavelli: Vom Staate)

K u I i - A u f s ta n d ( 4 3 / 1 9 5 9 ) Am Abend des 10. Oktober, um 20.24 Uhr, betrat Quiz-Obermeister Hans-Joachim Kulenkampff die Bühne des Großen Frankfurter Sendesaals und eröffnete seine neue Unterhaltungsreihe Quiz ohne Titel mit den Worten: »Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, guten Abend, liebe Fernsehfreunde in Österreich, in der Schweiz und in der Bundesrepublik, in der DDR und alle Kiebitze in den Zonen- und anderen Grenzgebieten.« Daraufhin drahtete der CDU-Bundestagsabgeordnete Heinrich Gewandt: »... eine leichtfertige und gefährliche Entgleisung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts«; schlug sein Fraktionskollege Gradl vor, den Gesamtdeutschen Ausschuß mit der Angelegenheit zu befassen; forderte Minister Lemmer eine »strenge Untersuchung«; beschwerte sich der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses Henneberg: »Es ist erschütternd, daß so etwas in einer Rundfunkanstalt möglich ist. Der Vorgang muß sofort im Rundfunkrat des Senders Freies Berlin erörtert werden«; wollte der SPD-Pressereferent Franz Barsig wissen, ob hier »ein politisches Manöver vorliegt oder ob man es nur mit einer Dummheit – allerdings ersten Grades – zu tun hat«; schrieb die Deutsche Zeitung: »... jene besondere Art von politischer Dummheit, die sich bei Kulenkampff in so herausfordernder Weise zeigte«; schrieb die Berliner Morgenpost: »Wer ... dieses Staatsgebilde von Moskaus Gnaden ... so bezeichnet, sollte von den Mikrophonen der Bundesrepublik ferngehalten werden«; und klagte der Gesamtverband der Sowjetzonenflüchtlinge: »Nach Ansicht des Verbandes kommt dies einer Anerkennung des Unrechtsstaates in Mitteldeutschland gleich ...« Zum Glück besaß der inzwischen erkrankte Hessenfunk-Intendant Beckmann genügend »politischen Instinkt« (so nennt es sein Stellvertreter Dr. Lange), um sich von seinem Star-Unterhalter zu distanzieren und noch am gleichen Abend eine Untersuchung des Falles Kulenkampff in

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die Wege zu leiten. Weil das Überprüfen und Abrücken von suspekten Spaßvögeln ehrwürdiger Rundfunkbrauch ist. Vielleicht aber auch, weil der Gesamtdeutsche Ausschuß nicht mit Problemen behelligt werden sollte, deren Lösung ihn daran hindern könnte, sich um seine eigenen wichtigen Angelegenheiten zu kümmern. Vom Rundfunkrat des Senders Freies Berlin ganz zu schweigen. Die Beckmann-Untersuchung ergab mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, daß der Vorwurf, Hans-Joachim Kulenkampff stehe im Solde Ulbrichts, solider Grundlagen entbehrt. Der SPD-Wachtposten Barsig14 konnte also seinen Helm locker schnallen. Telemann jedoch war nicht gewillt, sich mit einem so simplen und lückenhaften Ergebnis abspeisen zu lassen. Er stellte auf eigene Faust Erhebungen an. Zunächst ließ er vor seinem geistigen Auge alle jene Bezeichnungen Revue passieren, die für den umstrittenen Landstrich erwünscht, gebräuchlich oder gerade noch zulässig sind. Dabei stieß er auf folgende Sprachschöpfungen: »Sowjetisch besetzte Zone«, »Sowjetzone«, »Ostzone«, »Mittelzone« (Frankfurter Allgemeine Zeitung), »Sowjetzonenrepublik« (Nachrichtensprecher des Deutschen Fernsehens), »Zone«, »Mitteldeutschland« und – als äußerstes Zugeständnis – »sogenannte DDR«. Kulenkampff aber hatte einfach DDR gesagt, ja, er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, die unerläßlichen Gänsefüßchen durch ein vorgeschaltetes »Äh« oder wenigstens durch eine ironische Pause anzudeuten. Was trieb ihn dazu? – Ist er ein geltungssüchtiger Sonderling, der sich darin gefällt, seine Umwelt durch öffentliche Extravaganzen zu befremden – ähnlich wie der Dichter Baudelaire, der sich die Haare grün färbte und aus zwei Flaschen gleichzeitig Bordeaux und Burgunder trank, oder wie der Faust-Übersetzer Gerard de Nerval, der im Palais Royal einen lebenden Hummer an einem blauen Seidenband spazierenführte? Oder leidet er unter einem »psychischen Grenzzustand«, den die Psychiater »Onomatomanie« (Wortsucht) nennen und worunter sie den durch Überreizung des Sprachzentrums hervorgerufenen Zwang verstehen, ein bestimmtes schmutziges oder beleidigendes Wort, trotz aller Versuche der Unterdrückung, dennoch auszustoßen? – Oder war er gar des naiven Glaubens, daß nur ein »Sprecher der Regierung«, nicht aber ein Plauderer des Fernsehens imstande sei, ein Staatswesen anzuerkennen? Man müßte das sorgfältig prüfen.

14 Derselbe Mann, der Bedenken gegen Ollenhauers Bereitschaft, sich von Chruschtschow mit »Genosse« anreden zu lassen, durch das Gleichnis entkräftete, daß sich ja auch Andersgläubige beim Betreten buddhistischer Tempel die Schuhe auszögen.

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Sollten mildernde Umstände der angeführten Art nicht vorliegen, wäre der allgemeine Entrüstungssturm (Hessischer Rundfunk: »Drei Telegramme, zwei Briefe«) vollauf gerechtfertigt, und Hans-Joachim Kulenkampff hätte keinen Grund, den Vorfall geringschätzig einen »Krampf mit Worten« zu nennen. Denn Worte – so hat man Telemann gelehrt – sind wichtig und können manche historische Mißlichkeit zur Folge haben; selbst wenn man ihre Bedeutung nicht genügend zu schätzen weiß. Die spanische Revolution von 1873 zum Beispiel verdankte ihren Ausbruch den Worten: »Salud y República Federal« (»Volkswohl und Bundesrepublik«) – worunter sich damals kein Mensch etwas vorstellen konnte. Glücklicherweise sind wir Deutschen ein besonnenes Volk. Und so darf man hoffen, daß Quizmeister Kulenkampffs »gefährliche Entgleisung« zumindest keine weltpolitische Weiterung erfahren wird. Um so mehr noch, als sie den meisten Zuschauern, darunter Telemann, gar nicht aufgefallen war. Merke: »Immer wieder begegne ich in der östlichen Presse, besonders in der Presse der DDR, dem Vorwurf, die westdeutsche Delegation dränge ihre Verbündeten auf einen Abbruch der Genfer Verhandlungen hin.« (Staatssekretär Felix von Eckardt am 24. Juli 1959 vor der Bundespressekonferenz.)

H i n te n n a c h ( 4 7/ 1 9 5 9 ) Wer am vorletzten Sonntagnachmittag der Neigung nachgab, im Kreise gleichgestimmter Seelen Entspannung zu suchen, dem widerfuhr Erstaunliches: Wohin er auch trat – ob unter Golfklub-Kameraden oder Skatbrüder –, überall schlug ihm Argwohn entgegen, der sich, sobald der Ankömmling zu lebhafter Rede ansetzte, in Feindseligkeit wandelte. Zischlaute erstickten, was über ein Grußwort hinausging, und nur in Fällen von kundbarer Begriffsstutzigkeit wurde ein drohendes »Wehe!« oder ein »Ja nichts verraten« hinzugefügt. Der Grund für solche, den Regeln der Geselligkeit hohnsprechende Haltung war dieser: Nicht zur Entspannung war man an diesem späten Nachmittag zusammengekommen, sondern, im Gegenteil, um das Fußball-Länderspiel Ungarn gegen Deutschland fernzusehen. Und weil Radiohörern das Resultat dieser Begegnung seit 16 Uhr bekannt sein mußte, fürchteten die Fernseh-Sportfreunde um ihren sorgsam aufgesparten Nervenkitzel. Die fortschrittliche Möglichkeit, das Ereignis zur Zeit seines Ablaufs wahrzunehmen, bestand für Deutsche offiziell nur in Landstrichen, wo das Interesse an Gedeih oder Verderb der Sepp-Herberger-Elf zwangs-

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läufig gering war – nämlich in Ostdeutschland. In der Bundesrepublik wurde das Treffen fünf Stunden später in einer gekürzten Filmaufzeichnung und mit einem westdeutschen Kommentar gesendet. Auch das DDR-Fernsehen war zunächst auf eine Übertragung des Wettspiels zwischen der kapitalistischen Bundes- und der ungarischen Volks-Republik nicht sonderlich erpicht. Daß es dem Drängen des Sportkoordinators Robert Lembke, der das Bild nur über die Relaisstrecke Prag – Dresden – Leipzig – Berlin bekommen konnte, dennoch nachgab, hatte zwei Gründe: Einmal wußten die Berlin-Adlershofer, daß eine Reihe von Ostblockländern westeuropäische Sportveranstaltungen umgekehrt nur über das Deutsche Fernsehen empfangen kann, woraus sich die Notwendigkeit einer gesamtdeutschen Hilfswilligkeit von selbst ergab, zum anderen mochte sie der Gedanke gereizt haben, daß die Sendetürme entlang der Zonengrenze zumindest an diesem Sonntag ihren Zweck erfüllen würden. Denn außer den Westberlinern hatten auch erhebliche Teile der Bundesbevölkerung Gelegenheit, den Werbeslogan »Fernsehen heißt dabei sein« als wahr zu empfinden (eine Gelegenheit, die der Ostberliner Kommentator keineswegs zu politischer Schleichwerbung benützte). Meint Lembke: »Ich hatte gehofft, daß sich der Deutsche Fußball-Bund unter diesen Umständen vielleicht doch noch entschließt, zu sagen: Senden wir’s lieber direkt, um die Leute nicht zu zwingen, auf OstFernsehen zu schalten.« Nun, diese Hoffnung trog. Der DFB pochte mit eiserner Faust auf einen Vertrag, der am 14. Oktober 1958 zwischen ihm und dem Deutschen Fernsehen geschlossen worden war und dessen wichtigste Klausel vorschreibt, daß Länderspiele nur an Wochentagen direkt übertragen werden dürfen. Als Telemann sich erkundigte, warum der Bund bei Veranstaltungen die der Volksseele besonderen Anlaß zu edler Wallung geben, nicht Gnade oder doch wenigstens Einsicht vor Recht ergehen lasse, erfuhr er folgendes: 1. Die kleinen Vereine sind auf Sonntagnachmittag-Einnahmen angewiesen. 2. Die kleinen Vereine können nicht auf den Samstag ausweichen, weil es zu wenig Sportplätze gibt. 3. Die kleinen Vereine wollen die Länderspiele, nachdem sie ihr Kleines-Vereins-Spiel hinter sich haben, auch sehen. 4. Die kleinen Vereine sind dem Deutschen Fußball-Bund überhaupt viel wichtiger als die paar Millionen Fußball-Lehnstuhl-Anhänger, die durch Live-Übertragungen geworben werden.

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Soweit die amtlichen Auskünfte. Die halbamtlichen freilich lassen das lichthelle Genrebild des Edelmuts merklich dunkler erscheinen. Wenn Telemann ihnen glauben darf, sind es nicht so sehr die kleinen, es sind die mittleren und großen Vereine, die den DFB zur Strenge anhalten; jene weltoffenen Sportgemeinschaften, die einen Fußballer kaufen, wo sie ihn treffen, und allein für Trainer- und Vertragsspielergehälter Summen aufwenden, bei deren Vorstellung geringer bemittelte SchauGeschäftsleute erblassen (von den Aufwendungen, die nicht durch die Bücher gehen, ganz zu schweigen). Wenn ein Vertrag, der auf solcher Grundlage geschlossen wurde, den guten Sitten entspricht, dann würden es dieselben, guten Sitten erfordern, daß der Zentralverband der Deutschen Filmtheater Kinos, in denen erfolgreiche Filme laufen, am Sonntag schließt, damit weniger gut besuchte Häuser auch auf ihre Rechnung kommen. Im übrigen sollte der Deutsche Fußball-Bund bedenken, daß er außer kommerziellen auch noch andere Belange zu wahren hat, jene nämlich, die seine Oberfunktionäre nach siegreichen Länderspielen so genüßlich im Munde führen. Seine Hauptaufgabe sollte es sein, den Fußballsport populär zu machen. Und die Erfahrungen im Reitsport und in der Leichtathletik zeigen deutlich, daß es kein besseres Mittel zur Popularisierung einer Sportart gibt als die Direktübertragung im Fernsehen. Und ein bißchen sollte der DFB auch an jene nicht organisierten Fußballfreunde denken, die an Wochentagen arbeiten müssen und keinen so milden Chef haben, wie den DFB-Präsidenten Peco Bauwens, der in seiner Eigenschaft als Wirtschaftsführer zu Telemann also sprach: »Ein vernünftiger Betriebsleiter sieht es gern, wenn seine Leute sich am Sport erfreuen. Selbst wenn sein Betrieb mal kurzweilig unterbrochen wird. Doch der DFB wird dies alles leider nicht bedenken, sondern eifersüchtig darüber wachen, daß wir auch das Spiel gegen Jugoslawien am 20. Dezember erst dann zu sehen kriegen, wenn es längst vorbei ist. Merke: »Die Tränen und die Seufzer, die kamen hintennach.« (Heinrich Heine: Buch der Lieder.)

S p ä hp o st e n ( 3 / 1 9 6 0 ) Wenn in guten alten Kriegszeiten ein Stratege wissen wollte, was der andere treibt, dann guckte er hüben durchs Scherenfernrohr und sah drüben: ein Scherenfernrohr. Heute braucht er bloß eine Fernsehantenne über die Brustwehr zu halten, und schon blickt er mitten ins feindliche Lager. Glaubt er. Und weil sein Gegenüber es auch glaubt, sitzen beide mit ausgestreckten Leichtmetallfühlern in ihren Unterständen und zeichnen auf. Hie Berlin-Adlershof, hie Hamburg-Lokstedt.

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Haben sie Gekiebitztes zur Genüge beisammen, die strategischen Beobachter, dann greifen sie zu Schere und Leimtopf, werten aus, ab und um, kommentieren und lassen das Resultat neuerlich ätherwärts steigen. Auf daß der Feind sich erbose und der Freund auf dem laufenden bleibe. Die Dauerfrucht solcher elektronischen Mühen nennt sich im östlichen Deutschland Telestudio-West und im westlichen Die rote Optik. So hätte alles seine kriegerische Ordnung – wenn da nicht auf einer Seite, nämlich in Hamburg, ein Mann auf Vorposten säße, der vom Wesen der psychologischen Kriegführung nur in sehr unzureichendem Maße durchdrungen ist: der 49jährige Journalist Thilo Koch, Leiter des Berliner Studios des Norddeutschen Rundfunks. Anstatt zu sein, was man vormals einen »guten Soldaten« nannte, und sich an seinem Kollegen Günter Lincke vom Mitteldeutschen Tagebuch ein Beispiel zu nehmen, läßt er die westöstlichen Schattenspielregeln in einer Weise außer acht, die jede abendländische Kämpfernatur befremden muß. Wohl ist ein geistiger und politischer Standort klar erkennbar: »Sobald die Träger einer bestimmten Fahne fordern, jedermann müsse hinter ihrer Fahne herlaufen, ist die freie politische Ordnung gefährdet« (Moskaus Schatten über Deutschland, 4. Januar). Wohl vergißt er in seinem Kommentar zum Ost-Werbefernsehen nicht, darauf hinzuweisen, daß in einer Wirtschaft ohne Konkurrenzkampf Reklamesprüche für den »Reichalda-Ultra-Kontur-Lippenstift« seltsam und rührend anmuten, oder bekundet ausführlich, daß ihm die Art, wie man in Weimar Schillers Geburtstag feiert, mißbehagt. Aber wenn der Sprecher des ostdeutschen Fernsehfunks zu einem Filmbericht aus Rotchina anmerkt: »Als das Volk seine Peiniger vertrieb, war es plötzlich stark genug, mit seinen jahrtausendealten Sorgen fertig zu werden ...« (26. November) und sich die Bundesbürgerschaft in Erwartung stärkenden Widerspruchs genüßlich zurücklehnt, bekommt sie von Koch um die Ohren: »In der Tat hat die westliche Welt ja in China versagt und die wahrscheinlich entscheidende Schlacht zwischen Ost und West in diesem Jahrhundert dort am Jangtsekiang verloren. Ich würde es heuchlerisch nennen, wenn die ehemaligen Kolonialmächte jetzt das kommunistische Experiment anklagen.« Was soll eine Heeresleitung von einem vorgeschobenen Spähposten halten, der, statt pausenlos zu spähen oder wenigstens Werbeslogans ins Feindesland zu schicken, nach hinten meldet, daß der Krieg bereits verloren sei; der den DDR-Fernsehtechnikern – entgegen anderslautenden Presseberichten – korrektes Verhalten im Äther-Verkehr bescheinigt; der einfach »erläutern möchte, was unerläutert manchmal nicht ganz verstanden wird?« – Nun, sie hält herzlich wenig von ihm, die Leitung. »So kann das kommunistische Fernsehen Nicht-Kennern nicht vorgestellt

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werden!« scholl es dumpf aus einem ihrer Sprachrohre, dem Rundfunkspiegel des Deutschen Industrieinstituts. Und auch die niederen Chargen bis hinab zum gemeinen Schirmvolk murrten vernehmlich, da sich die Kochsche Optik nur schwer in ihr liebgewordenes Weltbild einpassen ließ. Thilo Koch: »Ich habe mit der Sendereihe jede Menge Ärger.« Weil Telemann endlich jemanden hören wollte, der die rote Optik für einen reinen Quell der Freude hält, rief er den Deutschen Fernsehfunk in Ostberlin an und begehrte ebenso hartnäckig wie elastisch, mit dem Intendanten Heinz Adameck verbunden zu werden. Zu guter Letzt meldete sich dessen persönlicher Referent, Herr Sachs. »Wie gefällt Ihnen die Thilo-Koch-Reihe?« fragte Telemann. Sachs: »Sicher werden alle Kollegen unseres Hauses eine solche Sendung verurteilen.« Telemann: »Welche Reihe gefällt Ihnen besser: Die rote Optik oder Linckes Mitteldeutsches Tagebuch?« Sachs: »Ich kann Ihnen vielleicht sagen, daß der Intendant das gleiche sagen wird: Wenn man sich über eine solche Frage unterhalten will, daß man dann doch irgendwie einen persönlichen Kontakt herstellt. Ich würde Sie bitten, wenn es ein solches Vorhaben gibt, daß man sich dann rechtzeitig verständigt, denn – Sie wissen ja selbst – beim Fernsehen – es gibt viele Dinge, die plötzlich auftreten, wo man wohin muß, und dann ist das immer sehr schwierig.« Soweit die offiziellen Auskünfte. Inoffiziell erfuhr Telemann, daß man jenseits der Sektoren- und Zonengrenze gerade die Sendungen Thilo Kochs mit Unbehagen verfolgt. Linckes Tagebuch – damit wird man fertig. In einen groben Klotz einen noch gröberen Keil schlagen zu dürfen, das erhöht nur die Agitationsfreude. Doch gegen eine Sendereihe, die auf die Kasperle-Theatralik der Standard-Propaganda verzichtet und die, obwohl ausdrücklich für den »inneren Gebrauch« bestimmt, auch den Vergleichen und Nachprüfungen der Zaungäste standhält, gegen eine solche Reihe helfen keine Anti-Tiraden. Und so ergibt sich das Phänomen, daß das gefolgschaftstreue Westdeutschland mit einem Manne schmollt, der ihm das einzige Vorbeugungsmittel gegen ideologisches Wechselfieber verabreicht, das es gibt: die Wahrheit. Merke: »Also verderben die schädlichen Fliegen gute Salben.« (Prediger, 10, l.)

B au e r n - T h e a t e r ( 2 2 / 1 9 6 0 ) »Auch Sie haben eine Mutter, sonst wären Sie ja nicht auf diese Welt gekommen«, sagte er – in demselben kehligen Tonfall, dessen sich ein

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Schmierenkomiker bedienen würde, wenn man ihn bäte, Chruschtschow nachzuahmen. Und habe er doch, armer Leute Sproß, in seiner Kindheit der Schlagsahne ermangelt – eine Jugenderinnerung, die er, unter Aufbietung üppigster Gestik, mit der Dressur von Hauskatzen einerseits und dem »amerikanschen Imperialismus« andererseits in Ideenverbindung zu bringen wußte. Und neben ihm, zu seiner Rechten, saß der Außenminister Gromyko und lächelte Löcher in die Schreibunterlage. Und Marschall Malinowski, der Verteidigungsminister aller Sozialistischen Sowjet-Republiken, thronte bleischwer zur Linken und wurde nicht müde, den Eindruck eines Gruselfilm-Phantoms zu erwecken. Und alle haben es gesehen. Alle waren Augen- und Ohrenzeugen, wie der entspannungsfreudige Koexistenz-Kumpel, der Poltergeist von Camp David, dessen Fernweh-Porträt im Vorjahr zu allerlei christdemokratischer Besorgnis Anlaß geboten hatte (man fürchtete, es könnte zu sympathisch wirken) – wie Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in der Wandelhalle des Palais Chaillot zu Paris seinen Nimbus verlor. Peinlichste aller Demaskierungen: wenn hinter dem Schafspelz, der da verrutscht ist, nicht einmal ein interessanter Wolf zum Vorschein kommt, sondern bloß ein Kettenhund. Daß an folgenschweren Blamagen heutzutage nicht nur die diensthabenden Adjutanten und Kammerdiener, nein. all jene teilnehmen können, die in ihrer Gesamtheit die vielgenannte Weltöffentlichkeit bilden, ist ein Vorzug des Fernsehens, der an diesem 18. Mai besonders ins Auge stach. Nie zuvor hatten die Hauptleidtragenden der Historie so ausreichend Gelegenheit, Geschehnisse, an welche sich einschneidende Unliebsamkeiten zu knüpfen pflegen, mit eigenen Augen zu beobachten. Der Prager Fenstersturz, Hitlers Tobsuchtsanfälle – von all dem erfuhr man erst hinterher, noch dazu von Leuten, die womöglich gar nicht dabei waren. Die Geschichte braucht künftig – dank der Erfindung Karl Ferdinand Brauns – nicht mehr geschrieben, sie braucht nur noch beschriftet zu werden. Wer am vorigen Mittwochabend das Ereignis von nicht minder weltweiter Bedeutung – den Fußballkampf Eintracht Frankfurt gegen Real Madrid – hinter sich gebracht hatte, der wollte, aufgewühlt, wie er war, das jüngste Trümmerfeld der Weltpolitik nicht ohne fachkundige Führung betreten. Und siehe, das Deutsche Fernsehen hatte vorgesorgt für seine erste Reporter-Garnitur an die Seine beordert: Thilo Koch, Gerd Ruge, Peter von Zahn. So wurde die »Berichterstattung über ein großes Nichts« (Thilo Koch) zu einer der umfassendsten, lebendigsten und überhaupt ersprießlichsten der bundesdeutschen TV-Geschichte.

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Nichts freut und schmeichelt den Betrachter am Fernsehschirm mehr, als wenn seinetwegen Umstände gemacht werden. Er möchte, »König Kunde«, der er ist, daß Reporter im Dienste seiner Wißbegier so außer Atem geraten wie Gerd Ruge am 17. Mai. Er weiß es zu schätzen, wenn ihm die Ereignisse mit dialektischer Treffsicherheit dargestellt werden (Thilo Koch: »Es war beinahe so wie vor dem Ausbruch einer südamerikanischen Revolution«), ja, sogar Spät-Enthüllungen wie: »Der Präsident (Eisenhower) hat den russischen Ministerpräsidenten Chruschtschow niemals leiden können« (Peter von Zahn) bereiten ihm Behagen. Und wenn er gar, als besondere Rarität, die Alt-Journalistin Madame Genevieve Tabouis (68) zu sehen und zu hören bekommt, die Verfechterin der These, daß es vernünftig wäre, den Russen Berlin im Austausch gegen Thüringen und Westpommern zu überlassen, dann nimmt er es dem WDR-Reporter Franz Wördemann auch nicht krumm, wenn dieser im Eifer der Stegreif-Übersetzung den Nikita Sergejewitsch von der »sogenannten DDR« sprechen läßt. Die Schaltungen zwischen Köln und Paris, die Übergänge von der Live-Übertragung zur Filmaufzeichnung, von der Tagesschau zum Sonderbericht – sie verliefen so nahtlos, daß man versucht war, auch der eingeschobenen Wetterkarte schicksalhafte Bedeutung beizumessen. Kurzum: Es geschah in diesen Maitagen Geschichte – und wer da Röhren hatte zu sehen, der war dabei. Aber war er hinterher klüger? Weiß er nun, ob Nikita S. Chruschtschow Possen gespielt hat oder ob ihn, wie der Herausgeber des Berliner Telegraf mutmaßte, die Buh-Rufe der Journalisten derart in Zorn versetzten? Weiß er, ob der Text der Pariser Rüpelszene selbsterdacht oder souffliert war? Hat er Gewißheit darüber, ob’s vielleicht doch bloß an der Galle lag? Oder am gewitterschwülen Wetter? Oder an Mao Tse-tung? Oder daran, daß der Westen so furchterregend einig war? Dem Zuschauer am Fernsehschirm ist zwar nicht das leiseste Zwinkern, nicht das kleinste Mienenspiel-Fältchen entgangen; er war der Weltgeschichte, Abteilung »Bauern-Theater«, so nahe wie kein Dutzendmensch vor ihm. Aber er hat dabei nichts Nennenswertes gewonnen: weder ein Körnchen Erkenntnis noch ein Fünkchen Voraussicht, geschweige denn ein Gran politischer Weisheit. Merke: »Man erblickt nicht die Welt, wenn man zum Fenster hinaussieht« (Russisches Sprichwort).

M i t E n g el s Z u n g en ( 2 5 / 1 9 6 0 ) Es gibt Fernsehschaffende, die können ins volle Menschenleben hineingreifen, wann und wo sie wollen – es kommt nichts Nachrühmenswertes

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dabei heraus. Und dann gibt es andere, die packen einfach zu, ohne hinzuschauen, und schon haben sie ein »heißes Eisen«, eine »brennende Zeitfrage« oder sonst etwas in der Hand, das ihnen das Prädikat »der verdienstvolle ...« auf Jahre hinaus sichert. Zu diesen letzteren gehört auch der verdienstvolle Reporter des Hessischen Rundfunks Jürgen Neven-du Mont. Nachdem der Sturm der Entrüstung, der seiner vorjährigen Reportage-Reihe über die politische Ignoranz bundesdeutscher Schulkinder (Blick auf unsere Jugend) gefolgt war, selbst verstocktesten Studienräten Reu’ und Leid abgenötigt hatte, wandelte ihn heuer abermals das publizistische Gelüst an, eine »überraschende Beweisführung« zu liefern. Neven-du Mont: »Eines Tages stellte ich mir die Frage: Berufen sich die Führer der Sowjetzone eigentlich zu Recht auf Marx und Engels? Und ich mußte sehr schnell feststellen, daß sie es zu Unrecht tun.« Ungeachtet eines so schnellen Auffassungsvermögens und eingedenk der goldenen Regel, die da sagt, daß der Mensch niemals auslerne, wurde diese Frage am 3. Juni in Form eines zwanglosen Zwiegesprächs der Entwirrung nähergebracht, wobei sich der Hessenfunk, wie die Ansagerin hervorhob, »der Möglichkeiten bediente, die dem Fernsehen zur Verfügung stehen«. Als da waren: Ausschnitte aus Defa-Wochenschauen, Gekiebitztes aus Sendungen des (Ost-)Deutschen Fernsehfunks und Gedrucktes in Mengen. Die vergleichsweise ergiebigste Fernseh-Möglichkeit stellte der vormalige Lehrer an der SED-Parteihochschule Karl Marx und spätere Ost-West-Konvertit Wolfgang Leonhard dar, Werner Höfers Frühschoppen-Zaungästen bekannt als gegenredegewandter Pankow-Astrologe. Da saßen sie, der verdienstvolle Reporter und der auf sein Sonderwissen erkennbar stolze Marx-Experte. Da türmten sich sämtliche Standardwerke des früheren Sozialismus, und da entspann sich von ungefähr, Filmbild und -ton üppig ergänzend, ein Dialog, dessen unmittelbare, lebendige Frische die vorpfingstliche Lektion zu schierer Erquickung werden ließ. Zitierte Leonhard seinen Karl Marx (»Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin«), staunte Beisitzer Neven-du Mont bereitwillig: »So, so, das hat er gesagt?« Erklärte im westlichen WochenschauAusschnitt ein Zonenbauer in wundersamer Druckreife: »Ich bin geflohen, weil ich ... nicht Sklavendienste auf meinem Acker leisten wollte«, redete Exgenosse Leonhard, mit Engels-Zungen und frisch aus dem Zusammenhang gepflückt eitel Ur-Marxistisches. Und wenn auf das Lieblings-Leitmotiv des Großvaters aller Werktätigen die Rede kam, das da lautete: »An allem zweifle!«, wußte das Visavis voller Geistesgegenwart

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fortzuspinnen: »Würde er auch an dem Kult zweifeln, der heute in der Zone mit ihm getrieben wird?« Am tiefsten jedoch hat Telemann die Stelle beeindruckt, wo der Reporter fragte: »Was würden wohl Marx und Engels sagen, wenn sie das (alles) sehen und hören müßten?« und Experte Leonhard pfeilgeschwind zur Antwort gab: »Marx würde wohl an seinen Brief an Doktor Kugelmann vom 18. Mai 1874 erinnern ...« – nicht, weil der Brief an Doktor Kugelmann so über die Maßen wegweisend war, sondern weil alle an der Sendung Beteiligten, einschließlich der Beleuchter, es fertiggebracht hatten, bei so viel Stegreif-Gefaßtheit ernst zu bleiben. Oder fanden sie’s gar nicht komisch? Wie dem auch gewesen sei: Der verdienstvolle Reporter des Fernsehsenders Frankfurt hatte sich an diesem Freitagabend auf zwiefache Weise des Anklanges begeben. Einmal war ihm entgangen, daß es durchaus keine »überraschende Beweisführung«, sondern schlicht »Unbedarftheit im Glashaus« ist, wenn man zu belegen versucht, daß sich Heilslehren mit der Zeit von den Absichten ihrer Gründer entfernen. (Es soll Menschen geben, die, mehr noch als den Mißbrauch des Kommunistischen Manifests, den Umstand bedauern, daß auch die Bergpredigt in viele falsche Hände gelangt ist.) Zum anderen scheint Jürgen Neven-du Mont im Bemühen, seine Volksaufklärung auch auf Walter Ulbrichts TV-Domäne auszudehnen, nicht bedacht zu haben, daß jemand, der dort seine Vorstellungen von Marx und Engels vermöge des westlichen Fernsehens überprüfen möchte, wenig Neigung verspürt, dies nach heimischen Propaganda-Riten zu tun. Sollte die Darbietung Marx und Engels contra Ulbricht jedoch mit West-Applaus gerechnet haben, sei ihrem Urheber höflich mitgeteilt: Wer sich anheischig macht, die Wahrheit zu enthüllen, der darf Diverses: Er darf sich mit Verdienstvoller-Fernsehreporter-Miene vor der Kamera aufbauen, darf uns weismachen, daß das Gesetz, wonach auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, nicht nur unter Holzknechten, sondern auch im west-östlichen Bildfunk-Verkehr Gültigkeit habe, darf so laut mit seiner Überzeugung rasseln, wie es die Intendanz für empfehlenswert hält. Nur etwas darf er nicht: mogeln. Merke: »Ein Zweck, der unheiliger Mittel bedarf, ist kein heiliger Zweck« (Marx/Engels: Gesammelte Werke).

P ha n t o m i m e ( 3 6 / 1 9 6 0 ) Fernsehzuschauer (West), die vermöge besonderer geistiger und geographischer Vergünstigungen befähigt sind, Sendungen des Deutschen Fern-

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sehfunks (Ost) als einstweiligen Ersatz für ein zweites TV-Programm zu betrachten, wurden in der vergangenen Woche Zeugen eines Ereignisses, das sich Endspurt im Ernterennen betitelte und mit eindrucksvoller Regelmäßigkeit der Unterhaltung, der Belehrung und dem Gedanken des Radsports diente. Kaum waren die Jubelfeierlichkeiten für das zehnjährige Stalinstadt im Äther versickert, die Filmfestspiele in Karlovy Vary (Karlsbad) abgespult, die Mozart-Arien im Schlosse Sanssouci verklungen, da erscholl aus dem Lautsprecher das fröhliche Tackern eines Genossenschaftsmähdreschers, und im Filmbild erschienen: Agronomen und Feldbaubrigadiers, freiwillige Helfer aus der Nationalen Volksarmee und sowjetische Freunde – alle nicht faul, nein, erkennbar bemüht, die Ernte eines verregneten Sommers zu bergen. War dieser Vorspannfilm zu Ende, trat – im Studio Berlin-Adlershof – der Kollege Höschel in Erscheinung, präsentierte sich, jovial sächselnd, als »Ernte-Rennleiter« und gab, soweit sein guter Ernährungszustand dies gestattete, den Blick auf eine vereinfachte Grundrißzeichnung der Rennbahn Sachsenring frei. »Cottbus immer noch an der Spitze!« kündete er aufgeregt. Oder: »Wie beim Sieg von Ecke und Täve15 heißt das Geheimnis dieser Erfolge: sozialistische Gemeinschaftsarbeit.« Und jedesmal, wenn ein Bezirk melden konnte, daß er dem Wettermacher »Bähdruß« (Petrus) ein ErnteSchnippchen geschlagen habe, ließ Kollege Höschel dasjenige Radrennfahrer-Figürchen, das diesen Bezirk graphisch versinnbildlichte, eins vorrücken. Als Siegespreise winkten: 20 000 Ost-Mark (für vollständige Erfüllung des Staatsplans) sowie eine Fernsehveranstaltung in dem Bezirk, dessen Landvolk die größten Anstrengungen vollbracht hat. Telemann verfolgte den Wettstreit mit Spannung, jauchzte, als Leipzig und Potsdam, »mächtig in die Pedale tretend«, den »Spitzenreiter Cottbus« bedrohten (Höschel: »Das erhebt doch den Menschen«), und bejammerte die Mannschaft von Pasewalk (Neubrandenburg), deren Kondition zu ernster Sorge Anlaß gab. Leider konnte er, aus kapitalistischer Ferne, nichts Aufmunterndes beisteuern; im Gegensatz zum evangelischen Pfarrer Rosenberg aus Demmin an der Peene (»In der gemeinsamen Bewirtschaftung der Flächen ist ein neues Ethos entstanden«) oder dem Mitglied des Zentralkomitees der SED Horst Sindermann, das da versicherte: »Wir ... Parteiapparat ... sind seit Tagen auf den Beinen, um Ihnen alle Hilfe zu geben. Glauben Sie nicht, daß unsere Position einfach ist.«

15 Spitznamen der DDR-Amateur-Radrennweltmeister Eckstein (»Ecke«) und Schur (»Täve«).

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Jedoch: Weder solches Tribünen-Stimulans noch die Aussicht auf einen bunten Fernseh-Abend vermögen Genossenschaftsmatadore derart anzustacheln, daß sie sämtlichen Unbilden einer Schlechtwetter-Ernte Trotz bieten. Weshalb der Deutsche Fernsehfunk (Ost) eine Konkurrenz ins Rennen schickte, die ihm zur Erweckung vorolympischen Sportgeistes am tauglichsten erschien: die Bundesregierung. Hatten doch der Minister Schwarz und sein Helfershelfer Sonnemann das Bundesvolk jahrelang mit südamerikanischen Wühlmäusen und wurmstichigen Känguruhs gespeist, und war der Minister Strauß, laut Höschel, so bauernfeindlich gewesen, jedweden Erntebeistand seiner Bundeswehr mit den Worten zurückzuweisen: »Lassen Sie mich mit den g’scherten Muhackeln in Ruh’! Die Bundeswehr ist doch kein FürsorgeUnternehmen!« Ein Ausspruch, der selbst intime Strauß-Kenner wundernimmt, wenn sie wissen, daß Bundeswehrsoldaten schon seit 1956 die Früchte des Feldes einheimsen helfen. Und als des westlichen Deutschlands Agrar-Streiter angesichts all der Greuel schon völlig entmutigt schienen, versetzte ihnen der DDRStaatssekretär Koch: »Im westzonalen Landwirtschaftsministerium gibt es keinen Überblick über den Ablauf der Ernte.« Gerade dies war auch für Telemann eine bittere Erfahrung. Wo er doch während des ganzen Fernseh-Rennens mit dem Gedanken gespielt hatte, in Berlin-Adlershof (64 20 21) anzurufen und ein wenig mit den Erfolgsprozenten seiner West-Bauern zu protzen. Indes – das Statistische Bundesamt bestand darauf, seine Ernte-Übersicht erst nach der Ernte zu veröffentlichen. So muß sich denn, was bislang nur Vermutung war, zu der Gewißheit verdichten: Die Bundeslandwirtschaft ist dieses Rennen gar nicht mitgefahren. Wenn also die Radler-Kollegen von den LPGs Florian Geyer oder XXI. Parteitag hinter sich jenes bekannte Keuchen vernommen haben, das auf das Herannahen eines besonders gefährlichen Verfolgers hindeutet, so war das möglicherweise eine Halluzination, keinesfalls aber der Bundesernährungsminister Schwarz. Dieser nämlich saß derweil in Bonn, las, was über ihn verbreitet wurde, und freute sich, daß er, infolge der ungünstigen Witterung, auch mal ein bißchen ins Gerede kommen durfte. Merke: »Ihr sprecht immer so viel vom Siegen. Gegen uns kämpft doch keiner.« (LPG-Bauer Scharf aus Droyßig, Kreis Zeitz, in einer Diskussion).

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K al te S u p p e ( 4 2 / 1 9 6 0 ) Am vorletzten Sonntag hat sich im Leben der Fernsehfamilie ein Wandel vollzogen, der alles kulinarische Herkommen außer Kraft zu setzen droht. Bis dahin galt die Regel: Kaum war, gegen 12.50 Uhr, Werner Höfers Frühschoppen in jenes irrlichternde Stadium getreten, das auf die Näherung des Trinkspruches hindeutet, ließ die Fernseh-Hausfrau ihre Schwemmklöße in die Suppe gleiten, dafürhaltend, das sonntägliche Familienmittagsmahl sei ab nun vor elektronischer Sinnesablenkung gefeit. An diesem 2. Oktober jedoch dürfte die Suppe vielerorts kalt geworden sein. Denn nicht der entbehrlichen Vorschau auf das Programm der kommenden Woche hieß es das Augenmerk versagen, sondern einem Spielfilm mit Liselotte Pulver. »Einen Film ... mittags um ein Uhr zu senden – wie kommt man eigentlich auf so eine Idee?« fragte Filmkritiker Hans Hellmut Kirst Millionen Kochkünstlerinnen aus der Seele (Münchner Merkur, 4. Oktober). Offenbar hielt er den Einbruch in die Intimsphäre des Mittags für eine einmalige Unbesonnenheit der Programmdirektion. Aber das Deutsche Fernsehen hatte weder blindlings noch ausnahmsweise gehandelt. Es hatte nur dem Verband Deutscher Zeitschriftenverleger Gehör geschenkt, der warnend darauf hinzuweisen wußte, daß die »großen Zeitlücken« zwischen den einzelnen (West-)Fernsehprogrammen von den TV-Sendern der Zone propagandistisch ausgenützt würden. Und weil unserem Fernsehen die Sonntags-Lücke zwischen 13 und 14.30 Uhr am bedenklichsten zu klaffen schien, hat es seine Zelluloid-Rücklagen erst einmal dort hineingestopft. Die propagandistische Drangsal, die allsonntäglich zur gleichen Zeit aus Ostberlin herüberflattert, heißt »Sendung für die Landwirtschaft« und ist eine steppendürre Dauerserie, deren Attraktion durch die Unterzeile »Mit Flora und Jolanthe« kaum gesteigert wird: »Flora«, eine geschwätzige Milchkuh, und »Jolanthe«, ein Walt Disney nachgeschöpftes Schwein, scherzen lehrhaft über Fragen der Ertragssteigerung (»MaisMusketiere meistern die Ernte«), geben Tips für eine bessere Abfallverwertung oder plaudern ganz allgemein über die Vorzüge kollektiver Agrikultur. Sind ihre Schäkereien so werbewirksam, daß von den etwa 450 000 Bundesbürgern, die das Ostprogramm empfangen können, etwelche in Gefahr geraten, Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beitreten zu wollen? – In unseren Fernsehanstalten wird davon gemunkelt. Wenn man aber genauer nachfragt, antwortet der Programmdirektor Dr. Oeller (München), die Hiobspost sei »durch die Initiative von beteiligten

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oder interessierten Kreisen« zu ihm gelangt. Und der Aushilfskoordinator Dr. Hans Arnold (Hamburg) räumt ein, daß es sich wohl nur um »Einzelbeobachtungen« handeln könne. Kein statistischer Beleg, kein Umfrage-Ergebnis – das Deutsche Fernsehen ist, wie so häufig, auf Mutmaßungen angewiesen. Dennoch wollte es sich nicht nachsagen lassen, daß es in der Erfüllung seiner psychologischen Kriegsdienstverpflichtungen säumig sei, und ließ gleich beim ersten Gegenangriff ein agronomisches Geschütz auffahren, das »Flora« und »Jolanthe« jäh hinter die Brustwehr scheuchte: den Heimatfilm Uli, der Knecht nach Jeremias Gotthelf. Diese Geschichte vom eidgenössischen Waisenknaben, der es, dank der Nachhilfe seines frommen Brotherrn, zum Meisterknecht und schließlich zum Pächter bringt und der bodenverbunden genug ist, von einem eigenen Hof zu träumen, war gewiß dazu angetan, LPG-verseuchte Westbauern-Hirne zu desinfizieren. Freilich: Immer wird der gefährdete Bundeslandwirt nicht solches Urteils-Kraftfutter gereicht bekommen. Meist werden es gebrauchte Fernsehspiele sein. Aber er muß wenigstens nicht mehr nach (Ost-) Berlin-Adlershof ausweichen, falls er nach Höfers Hofhaltung noch bewegte Genrebilder zu schauen wünscht. Denkt das Deutsche Fernsehen. Telemann gibt zu, die Neuerung ist ungemein kriegslistig ausgedacht. Und wenn demnächst, wie angekündigt, auch das übrige Wochenendprogramm erweitert wird, können nicht einmal mehr die Hüterinnen des Herdes etwas dagegen haben. Indes: Die Vorstellung, ein fugenloses Programm vermöchte, gleichsam als eine Maginot-Befestigung aus schierer Sendezeit, die Agitationsfreude östlicher Bildfunker zu hemmen, wäre mehr als biedersinnig. Es gibt nämlich nicht nur Zeitlücken, es gibt auch Breschen, derer auf Programmkonferenzen nur selten Erwähnung getan wird: die gähnenden Klüfte der Langeweile. In letztere einzudringen, wird den Adlershofern allezeit möglich sein, denn sie brauchen, ehe sie ihr eigenes Programm drucken lassen, nur das unsere zu studieren, das mit Rücksicht auf die TV-Illustrierten schon Wochen im voraus veröffentlicht wird. Und wenn sie lesen Briefmarken berichten (4. Oktober) oder Lebendiges Metall (25. Oktober), dann brauchen sie keine Zeitlücke mehr. Mit rüden Worten: Unser Deutsches Fernsehen soll das psychologische Kriegführen denen überlassen, die sich etwas Hübsches davon versprechen. Merke: »Und was deines Amts nicht ist, da laß deinen Vorwitz« (Jesus Sirach, 3,24).

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ÄTHERKRIEG

O h n m ac h t- P ar ad e ( 3 5 / 1 9 6 1 ) Sonntag, 13. August: Die Zeitungen kündeten von den Tennis-Meisterschaften. Das Radio, Wissensborn werktätiger Frühaufsteher, blieb ungehört. Wäre nicht Werner Höfers Journalisten-Umtrunk gewesen – die Bundesöffentlichkeit hätte noch einen geruhsamen Nachmittag verbracht. So aber erfuhr sie vom Frühschoppen-Gastgeber, was passiert war. Und von Jens Feddersen (Neue Ruhr Zeitung), daß der Westen nun aber energische Schritte zu unternehmen habe. Und von Wolfgang Leonhard (Die Zeit), daß der Gegenschlag der freien Welt darin bestehen müsse, Chruschtschow mit einem geharnischten Verhandlungsangebot zu überrumpeln. Sodann zeigte der Sender Freies Berlin, was seine Kameraleute an der Sektorengrenze gefilmt hatten; mit angenehm knappen Begleitworten, ohne Selbstmitleid, das man verziehen, ohne Frontstadt-Pathos, das man an diesem Tag hingenommen hätte. Und im Abendprogramm erschien eine vorverlegte »politische Reportage« von Matthias Walden (Berlin, 21.37 Uhr), frisch kommentiert, so daß sie fast fugenlos in die Situation paßte. Auch der Norddeutsche Rundfunk besaß genügend Geistesgegenwart, um seine Panorama-Sendung (Zweites Programm) ganz auf das Tagesereignis abzustellen. Man vernahm, daß Präsident Kennedy beim Segeln war, Macmillan Wildhühner schoß, de Gaulle sich in Colombeyles-Deux-Eglises entspannte (Gert von Paczensky: »Hoffentlich sind die alle telephonisch erreichbar!«). Man hörte, was der Minister Lemmer zu melden hatte (»Unbeantwortet bleibt ein Rechtsbruch nicht«), und mußte entdecken, daß man die Dinge auch so betrachten kann wie der britische Labour-Abgeordnete Richard Crossman, der da eröffnete: »Ich glaube, man kann keine Gegenmaßnahmen treffen.« Oder: »(Die Wiedervereinigung) war schon abgeschrieben, als man sich entschlossen hat, Deutschland aufzurüsten.« Kurzum, an diesem 13. August wie auch an den folgenden Tagen erwies sich das Fernsehen als Zufluchtsstätte all derer, die sich vom Gebelfer der Bild-Zeitung erholen wollten. Besonders aufschlußreich möchte Telemann die Tagesschau vom 14. August nennen. Zeigte sie doch: Bei dem Geräusch, das entstand, als die erste Quittung über zwölf Jahre Bundesaußenpolitik vom Block gerissen wurde, waren unsere Führungskräfte beileibe nicht bloß zusammengezuckt, nein, sie waren auch nach Berlin geflogen. Mann für Mann, ungeachtet des tobenden Wahlkampfes. Ein jeglicher konnte sie wichtelwinzig vor dem großen Brandenburger Tor stehen und staunen sehen. Konn-

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te sogar miterleben, wie Eugen Gerstenmaier, Willy Brandt und Erich Ollenhauer im Gleichschritt und mit überparteilicher EllenbogenTuchfühlung »bis hart an die Sektorengrenze« heranmarschierten; dem westwärts speienden Vopo-Wasserwerfer Hohn und Fehde kündend. Heinzelmännchens Machtparade. Wer jedoch, von Ängsten geplagt, Ausschau hielt, ob aus all dem düsteren Gewölk nicht irgendwo ein Fels hervorspringe, granithart und vom Glänze staatsmännischer Weisheit umsonnt, den tröstete die Tagesschau in der Spätausgabe mit folgender Filmszene aus Bonn: Links im Bild der Bundeskanzler, rechts im Bild der Bundesaußenminister, in der Mitte ein Tisch. Sagte der Bundeskanzler: »... wir sind von seiten der Bundesregierung seit jestern in intensiver Arbeit. Vielleicht würden Sie, Herr von Brentano, einige Worte darüber sagen.« Sagte der Herr von Brentano: »Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen schon berichtet. Aber ich kann es ja hier wiederholen ...« Und während des Ministers rastlose Finger es einfach nicht glauben wollten, daß auf dem Tisch kein Zigarettenpäckchen lag, wiederholten seine Lippen für die TV-Zuschauerschaft, daß er bereits die Botschafter der USA, Frankreichs und Großbritanniens »bei sich gehabt« habe; daß alle drei »außerordentlich ernst und besorgt« gewesen seien und daß er damit rechne, daß eine dafür zuständige Arbeitsgruppe »die ganze Entwicklung verfolgen« werde. Adenauer: »Ich möchte zum Schluß unserer heutigen Unterredung – und ich hoffe, Sie stimmen mit mir darin überein – sagen ... wir werden diese ernste Situation zusammen mit unseren Verbündeten meistern.« Brentano: »Ich glaube, Sie haben vollkommen recht ... Der Westen wird diesen Krieg – diese Auseinandersetzung wieder durchstehen, solidarisch geschlossen.« Adenauer: »Das ist auch meine Überzeujung.« Telemanns Überzeugung aber ist, daß sich das Fernsehen gerade in diesen Augusttagen als sehr nützlich erwiesen hat. Nicht nur, weil es Hiobspost auch sonntags befördert, sondern vor allem, weil diejenigen, die nach drei verträumten Legislaturperioden erstmals die Augen aufschlugen, dank seiner erkannten, was für Hoch- und Großmeistern der Staatskunst sie das Mandat verliehen hatten, vor ihrem Schlafzimmer Schildwache zu stehen. Freilich – die Erkenntnis kam einen Hiobsposttag zu spät. Dafür aber hat sie ein Gutes: Bei der nächsten Berlin-Krise weiß jeder Bescheid und braucht sich wenigstens nicht mehr zu wundern. Merke: »Aber es besteht kein Anlaß zu einer Panik« (Konrad Adenauer).

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ÄTHERKRIEG

Bei Charlie (46/1961) »In der Prager Hofburg kam es heute mittag zu einem Zwischenfall, der von gut unterrichteten Kreisen des In- und Auslandes als ›ernst und in seinen Folgen unabsehbar‹ bezeichnet wird.« »Vertreter der protestantischen Stände Böhmens, die sich gegen 14.30 Uhr im großen Saal des Schlosses versammelten, um einer Verlesung des umstrittenen ›Majestäts-Briefes‹ beizuwohnen, bemächtigten sich der kaiserlichen Geheimräte Wilhelm Graf Slawata, Jaroslaw Graf von Martinitz sowie des Sekretärs Fabricius und warfen sie aus dem Fenster in den 15 Meter tiefer gelegenen Wallgraben. Dabei wurden die Grafen Martinitz und Slawata erheblich, der Sekretär nur geringfügig verletzt. Der Führer der Protestanten, Matthias Graf von Thurn, begründete die Ausschreitung mit ›Unstimmigkeiten bezüglich der Schließung einer evangelischen Kirche in Braunau‹.« All dies hätte der Sprecher der Tagesschau vom 23. Mai 1618 gemeldet, während der Filmbericht vom »Prager Fenstersturz« in prickelnder Ausführlichkeit abgeschnurrt wäre. Und Gevatter Handschuhmacher hätte vor seinem Heimgerät ahnungsschwanger aufgestöhnt: »Wenn das man keinen Dreißigjährigen Krieg bedeutet!« Zum Segen für ihn, den Gevatter, lag die Nachrichtenübermittlung seinerzeit sehr im argen. Und bis der »Schwedentrunk« oder »Wallensteins Lager« seine Intimsphäre erreichten, konnte er noch manche Nacht unruhig schlummern. Heute trifft sich die am Zeitgeschehen interessierte Welt täglich bei »Charlie«, dem telegenen Checkpoint an der Friedrichstraße. Blockfreie oder unterentwickelte Omnibus-Inhalte, amerikanische Hauptfeldwebel und wem sonst Berlin eine Studienreise wert ist, bedürfen, so sie das Weiße im Auge des Vopos schauen möchten, keiner Television. Ist doch persönlicher Augenschein lehrreicher als elektronischer. Doch wenn, wie am 25. Oktober, Westberliner Bereitschaftspolizei die Lernlust in aussichtsloses Trümmergelände zurückdämmt, wird die Arriflex des TV-Reporters zu jedermanns Sehnot-Anker. Dann ist einzig sie in der Lage zu zeigen: Da rollen mit drohend aufgestellten Bajonett-Stacheln US-Schützenwagen zum Ausländergrenzübergang, kurven in beherztem Slalom durch die Zick-Zack-Zufahrt, machen kurz Miene, bis zum Alexanderplatz durchzupreschen, und kehren nach 150 Metern, mit eingekniffenem Auspuff zurück. Glory, Hallelujah. Da fahren hüben wie drüben Panzer auf und Unterhändler ab – und die Welt, die aus Erfahrung weiß, was in historischen Augenblicken schicklich ist, hält den Atem an.

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Daß Ihr das Atemanhalten einigermaßen pünktlich gelingt, dafür sorgen die Spähposten vieler Fernseh-Nationen und, für den innerdeutschen Gebrauch, der Sender Freies Berlin. Zwei SFB-Kamera-Teams und ein Einzelgänger mit Namen Gunter Hahn sind seit dem 13. August von früh bis spät auf SchnappschützenPatrouille. Immer an der Wand lang, immer von Tränengas und MPMündungen, von Sand- und Steinwürfen oder mitleidsvollen Injurien (»Armes Kapitalistenschwein!«) behelligt. Ein Trupp beliefert die Tagesschau, der zweite die Berliner Abendschau, und Kameramann Hahn sammelt Material für Matthias Waldens mehrteiliges Filmdokument Die Mauer. Seit dem 25. Oktober jedoch brauchen die Meldegänger ihr Schuhwerk nur halb so emsig verschleißen. Denn an diesem Tage wurde alles potentielle Ungemach, soweit es Berlin betrifft, auf den kleinsten Nenner gebracht: den Checkpoint Charlie. Angesichts solcher Rationalisierung nimmt es kaum wunder, daß in genanntem Sektoren-Grenzgebiet die Nachfrage nach hochgelegenen Aussichts-Bastionen enorm gestiegen ist. Der Sender Freies Berlin, des Vorzugs der Ansässigkeit teilhaftig, konnte rechtzeitig ein Zimmer mit Balkon mieten. Ortsfremde Berichterstatter hingegen mußten sich ihr Fenster nach Osten in listenreichem Konkurrenzkampf erobern. Denn nicht nur Photographen, auch Strategen wollen, wenn es kritische Situationen zu überschauen gilt, hoch hinaus. So hätte das Team der amerikanischen Fernsehgesellschaft CBS ums Haar eine leerstehende Wohnung im ersten Stock des Eckhauses Friedrichstraße/Zimmerstraße an die US-Army verloren. Heer und Hauswirt waren bereits miethandelseinig, und nur der Umstand, daß private TVGesellschaften mit Bargeld rascher und großzügiger zu disponieren vermögen als Militärdienststellen, verhalf der CBS zum Endsieg. In Zukunft kann also, was immer an mißlicher Historie heranwölkt, stationär behandelt werden. Vielleicht sollte man prüfen, ob es nicht tunlich wäre, am Punkt »Charlie« wie auch an den anderen west-östlichen Bruch- oder Lötstellen, immobile Einrichtungen zu schaffen, die eine Direktübertragung menschheitsgeschichtlicher Ereignisse gestatten. Einmal, weil LiveSendungen spannender sind, zum anderen, weil das Entwickeln von Filmstreifen eine gewisse Zeit erfordert. Und diese Zeit könnte eines Tages fehlen. Was doch jammerschade wäre. Merke: »Heisa, Juchheia! Dudeldumdei! Das geht ja hoch her. Bin auch dabei!« (Schiller, Wallensteins Lager).

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S c hr i f t- V e r k e hr ( 2 6 / 1 9 6 2 ) »Dienstag, 19. Juni, 20.50: Fußballweltmeisterschaft in Chile, Sonderstudio mit Filmbericht vom Endspiel«, hatte das ostzonale Fernsehprogramm verheißen; jenen Kleinmütigen zum Gegenexempel, die da argwöhnten, ein Staatswesen müsse, bloß weil es von Mauern ein- und von globalem Wettkicken ausgeschlossen ist, der Weltoffenheit entraten. Und richtig, zur angesagten Stunde waltete das Sonderstudio BerlinAdlershof seines Mittleramtes. In Bild und Ton. Das Bild stammte, so sah man, aus Chile, und der Ton, so hörte man, wurde von einem Kommentator des Deutschen Fernsehfunks (Ost) verursacht. Doch kaum hatte sich der mitteldeutsche Fußballfreund so recht in das Treffen der Endspielgegner Brasilien und Tschechoslowakei hineingefiebert, erschienen auf seiner Bildröhre zwei Inschriften. Die erste lautete: »Das Ostfernsehen stiehlt diese Sendung vom Sender Freies Berlin«, die zweite meldete wenige Schrecksekunden später: »Bildstörung«. Wieder ein paar weltmeisterliche Steil- und Flachpässe, sodann das Dia: »Mit dieser Übertragung vom Sender Freies Berlin ignoriert die Zone die Mauer. Wir danken für unsere Landsleute in der Zone. « Und abermals: »Bildstörung«. Das kam daher: Auch der SFB hatte die jenseitige ProgrammAnkündigung gelesen, sich bei der Eurovision nach der Rechtslage erkundigt und erfahren: Nur die Tschechoslowakei sei zur Übernahme des Endspielfilms befugt, denn sie allein habe – über den östlichen TVDachverband Intervision – die Übertragungsrechte von Veranstalterin (Fifa) und Produzent (Deutsches Fernsehen) erworben. Also ließ er obzitierte Diapositive fertigen, der Sender Freies Berlin, und legte sich auf die Lauer. Die Adlershofer taten auch an diesem Juni-Abend ohne Arg, was sie schon so häufig getan hatten. Anstatt die offizielle Richtstrecke zu benutzen, gingen sie auf sogenannten »Ball-Empfang«, das heißt, sie zapften das gewünschte TV-Bild vom nächstgelegenen West-Sendeturm ab; in der Hoffnung, der SFB würde, falls er dahinterkäme, nicht so unzart sein, ihre etwas eigenwillige Ausdeutung des Begriffes »Sonderstudio« bloßzustellen. Als solche Hoffnung trog, versuchten sie ihr Nassauer-Glück beim NDR-Sender »Torfhaus«, der knapp zwei Kilometer vom DDR-Sender »Brocken« entfernt liegt. Indes, auch die Hamburger wurden der ungebetenen Zaungäste gewahr. Und weil sie kein passendes Dia vorrätig hatten, riß Intendant Schröder einen Graphiker mitten aus dem Privatleben und hieß ihn die Lichtbotschaft bosseln: »Dies ist eine Sendung des westdeutschen Fernsehens. Wir grüßen unsere Landsleute in der Zone.«

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Zweimal erschien das Menetekel – woraufhin das »Sonderstudio« sein Kiebitzauge südwärts wandern ließ und die letzten Wettspielminuten – so wenigstens mutmaßen die TV-Techniker – dem bayrischen Grenzsender »Ochsenkopf« abluchste. Daß der Deutsche Fernsehfunk (Ost) die Summe seiner Bildstörungen im nachhinein als »Kindereien und Mätzchen« von »Acht-Groschen-Jungen und Fernseh-Lümmeln« bezeichnete, darf nicht wundernehmen. Gab es für ihn doch genügend Gründe, sich zu erbosen. Da war einmal die Tatsache, daß er, wäre er den korrekten Weg gegangen, bei den Treuhändern des »Schwarzen Kanals« hätte anklopfen müssen; Gefahr laufend, eine Gegenleistung, zumindest aber einen westlichen Kommentator aufgebrummt zu bekommen. Da gab es – dessenungeachtet – eine Menge Fußballanhänger, die man zur Weltmeisterschaftszeit nicht mit innerzonalen Bagatell-Begegnungen abspeisen konnte. Und da wird es, glaubt Sport-Koordinator Robert Lembke, noch einigen Bruderzwist mit der Intervision geben, der ja nicht daran gelegen sein kann, ihre olympische Nothelferin Eurovision vor den Kopf zu stoßen. Den meisten Ärger jedoch dürfte die Erinnerung bereitet haben, daß er, der Fernsehfunk Ost, das Deutsche Fernsehen überhaupt erst auf die Idee gebracht hat. Voriges Jahr, am Ersten Mai, war es nämlich umgekehrt. Da hatte sich der SFB abwechselnd in die westliche Kundgebung auf dem Platz der Republik und in die östlichen Vorbeimärsche auf dem Marx-EngelsPlatz eingeblendet, und Adlershof hatte, als es davon Wind bekam, mit Kreide gekritzelte Kampf- und Abschreck-Parolen (»Nato raus!«) unters Mai-Geschehen gemischt; ohne freilich auf der Gegenseite Verdruß, geschweige Bildstörungen zu zeitigen. Ärger hin, Schadenfreude her – das gesamtdeutsche TV-Gespräch hat endlich begonnen. Und wo heute noch agitatorischer Laien-Eifer und stilistische Unbeholfenheit schalten, werden morgen die fachkundig ertüftelten Slogans nur so funkeln, vom kernig-naiven »Ulbricht ist doof« bis zu den subtilen Auguren-Weisheiten eines Wolfgang Leonhard. Wann immer das Ost-Fernsehen ein Auge riskiert, wird es unterschwelliger Dia-Werbung begegnen. Merke: »Wenn der schertz am besten ist, so sol man auff hören« (Johannes Agricola, 1529).

U n te r d e m T a g e ( 2 5 / 1 9 6 3 ) Als das erste Viertel des 134 Meter langen West-Ostberliner Tiefbauwerks fertiggestellt war, erinnerten sich drei von insgesamt 41 Flucht-

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weg-Wühlern an das Sprichwort, wonach Wohltun Zinsen bringt: der deutsche Student Wolf Schrödter und seine italienischen Kommilitonen Luigi Spina und Domenico Sesta. Und sie gingen hin und verkauften der Fernsehgesellschaft National Broadcasting Company (NBC), New York, ohne Wissen ihrer unbesoldeten Mitschaufler das Recht, die Tunnelgrabung unter der Bernauer Straße für die freie Welt, ausgenommen Bundesdeutschland und Italien, wo sie selbst kassieren wollten, im Film festzuhalten. Kaufsumme: 30000 deutsche Silberlinge. Gary Stindt, Berlin-Korrespondent der NBC: »Daß mit dem Geld der Tunnelbau finanziert werden sollte, davon war nie die Rede.« Der 90-Minuten-Report gelangte im Dezember vorigen Jahres in den US-Äther und erreichte eine Sehbeteiligung von 36 Prozent (etwa 25 Millionen Zuschauer), wogegen die zur selben Stunde auf einem anderen Kanal verbreitete Show des Zerstreuungsidols Danny Thomas nur 34 von hundert Betrachtern an die Scheibe fesselte. Daß es erstmals in der amerikanischen TV-Historie einem Fernseh-Dokumentarfilm gelungen war, einer Unterhaltungsshow die Schau zu stehlen, blieb nicht ohne Folgen: Die Kamerabrüder Peter und Klaus Dehmel erhielten die Robert-CapaGoldmedaille, eine Auszeichnung, die der Overseas Press Club nur für »außergewöhnliche Arbeiten unter gefährlichen Umständen« verleiht. Und der Tunnelbericht bekam dreimal den Emmy 1962, das Fernsehpendant zum Film-Oscar. Einmal für die »beste Sendung des Jahres«, zum anderen für die »beste Dokumentarsendung des Jahres«, zum dritten für die »am besten kommentierte internationale Reportage«. Soweit die Vorgeschichte. Die deutsche Version (Ein Tunnel, 11. Juni, Erstes Programm), aus dem NBC-Material mit teuer erkaufter Einwilligung der cleveren Jungakademiker gefertigt, dauerte nur 35 Minuten; aber das war für den Kommentator Matthias Walden schon eine qualvolle Frist. Denn eigentlich, so versicherte er eingangs, hatte er uns den Film gar nicht zeigen wollen. Erst nach gründlicher Beratung mit »Verantwortlichen« war er zur Ausstrahlung geschritten, damit »alle, die satt und gleichgültig einen sorgenleeren Alltag leben ... alarmiert werden«. Doch gleich bei den ersten Erdbewegungen wandelten ihn neue Skrupel an; derer wegen, »die jenseits der Mauer an ihren Fernsehgeräten sitzen«, und er warnte, »sich durch diese Aufnahmen nicht zu Unbesonnenheiten anregen zu lassen«. Oder beklagte: »Wir wissen, daß es sehr, sehr schwer sein wird für viele, das zu sehen und selbst keine solche Chance zu haben.«

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Andererseits wiederum gab er der Zuversicht Nahrung, »daß einige der Schuldigen am Bau dieser furchtbaren Mauer durch diese Bilder ... ihre Schuld erkennen«. So löste ein Betracht den anderen ab. Die Sendezeit, die der amerikanische NBC-Kommentator für eine nüchterne, tagebuchartige Schilderung der Wechselfälle und Fährnisse des Stollenbaus – etwa der Ursachen der ständigen Wassereinbrüche – verwandt hatte, vertrieb sich Begleittexter Walden vornehmlich mit Reflexionen über das Phänomen »oben und unten«. »Über den Köpfen der Tunnelbauer gehen Gute und Böse, kreisen die künstlichen Himmelskörper ... während hier unter Hacke und Spaten gegen die ungelösten Probleme auf Erden helfen müssen ...« Und: »Oben, über der Erde, hatte man viele Reden gehalten. Gäste aus aller Welt waren an die Mauer getreten ... hier unten sah man sie nicht und hörte sie nicht ...« Oder, in kühnem Handstreich auf die herkömmliche Ausdeutung der Dreigroschenmoritat: »›Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht‹, dichtete der Kommunist Brecht. Er hatte recht. Die im Dunklen sah man nicht.« Nämlich die Tunnelbohrer. Für das Finale wählte Matthias Walden folgende Tröstung: »Über der Erde singen die Kommunisten ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹ – hier, unter dem Tage, hat dieser Text einen neuen Sinn gewonnen ... Es wird eine Zeit ohne Mauern und ohne Gräben geben. Eine Zeit, in der sich die Menschen, die zueinander gehören, über der Erde begegnen dürfen.« Wie sagt Tante Minchen? Auf Regen folgt Sonnenschein. Bliebe zu erforschen: Warum kann man bei uns einen Dokumentarfilm, der das gespaltene Berlin zum Thema hat, nicht ohne falsches Pathos erläutern? Warum muß man immer betulich nach hüben und drüben schielen; Trost spenden wollen, wo es keinen gibt, Hoffnung wecken, die sich nicht erfüllt, alarmieren, wenn man nicht einmal sagen kann, wozu? Lieber kein Zeitdokument als dieses. Solcher Eiertänzelei halber hätte man den studentischen Kommerzien-Rettern gewiß nicht noch einmal das Taschengeld aufzubessern brauchen.

B ö hm i sc he r Wi n d ( 2 8 / 1 9 6 3 ) Trübe Tonkunst quoll aus dem Lautsprecher. Das Filmbild zeigte Grausal über Grausal, und eine belegte Stimme erläuterte:

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»Immer noch findet man in den Straßen verwahrloste Ruinen von Häusern. Achtzehn Jahre nach Kriegsende ist an vielen Stellen noch keine Spur des Wiederaufbaus zu sehen ... Der Putz alter deutscher Vergangenheit bröckelt noch immer von den Wänden.« Doch dann sagte die Stimme, aller Bitterkeit bar: »Diese Aufnahmen wurden innerhalb von zwei Stunden in Köln gemacht. Im Juni 1963.« Warum diese Aufnahmen gemacht und in der NDR-Sendung Sind wir Revanchisten? von Jürgen Neven-du Mont verbreitet wurden (2. Juli), blieb niemandem verborgen; denn kurz zuvor war ein Ausschnitt aus einem Film des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen, betitelt Ostdeutsche Heimat heute, auf der Scheibe erschienen, worin die Stadt Ratibor ähnliche Düsternis ausgestrahlt hatte (»Noch immer ist diese oberschlesische Stadt zur Hälfte Trümmerwüste«). Nur: Der ministerielle Heimatfilm, der dem Bund der Vertriebenen und anderen Schwarzfärbern osteuropäischer Wirklichkeit noch heute als unanfechtbare Dokumentation gilt, wurde nicht 1963, sondern 1957 gedreht. Neven-du Mont wollte nicht den geringen Aufbauwillen, der Stadt Köln anprangern, vielmehr zeigen, mit welch einfachen Mitteln dokumentarische Manipulatoren auskommen. Gern hätte er noch mehr Beispiele vorgeführt, etwa das sudetendeutsche Leinwandwerk Das hat mir der böhmische Wind erzählt, doch die Landsmannschaft wollte es nimmermehr preisgeben. Wie ja überhaupt der Wille der Vertriebenen zur Mitarbeit an dieser Sendung – sie wurden dazu aufgefordert – nicht stark zu nennen war. Kein Hans Krüger meldete sich zum Widerwort und kein Erich Schellhaus. Die Parteien des Bundestags aber leisteten Beachtliches auf dem Gebiet der Schizophrenie: Als Mitangehörige des Gesamtdeutschen Rates hatten CDU, SPD und FDP schon lange vorher jede Beihilfe zu dieser NDR-Untersuchung mißbilligt, da diese »nach ihrem bisherigen Stand« (den nur der Norddeutsche Rundfunk kennen konnte) »nicht die Gewähr bietet, daß in ihr der deutsche Standpunkt dargestellt wird«. Als Parteien standen sie elektronisch Rede; mit aller gebotenen Vorsicht, damit kein wahlberechtigter Deutschböhme oder Schlesier auf abtrünnige Gedanken komme. So sprach der SPD-Vertreter Erler, gefragt, ob ihm das Verhalten der Flüchtlingsvereine und ihrer Obmänner tunlich erscheine, von den Leistungen auch der Vertriebenenorganisationen »beim Aufbau ... unserer demokratischen Institutionen«.

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So forderte der CDU-Sprecher Rasner, vor die nämliche Frage gestellt, ein »ganz großes Maß von Toleranz ... aufgrund dessen, was diese Leute durchgemacht haben«; mehr Toleranz mithin für Hans-Christoph Seebohm, dem Neven-du Mont mit Grund eine »nationalsozialistische Diktion« vorwarf, als gegenüber »manchem Journalisten«. Und Erich Mende wußte sein Nichtssagendes, wie so oft, in verblüffende Worte zu kleiden. Die Frage der ostdeutschen Grenzregelung werde sich, vertröstete er, in zehn oder zwanzig Jahren quasi von allein lösen; infolge »Elektronik und Kernspaltung«, vor allem aber »durch den Eintritt in die Weltraumnutzung«. So mußte denn, angesichts so vieler Schönredekunst, eine Meinungsumfrage bei Neubürgern und Ureinwohnern der Republik für sich sprechen, ausgeführt vom vielstrapazierten Infratest-Institut in München. Die Befragung der ehemals Ostdeutschen ergab: 53 Prozent sehen die historischen Ursachen ihrer Vertreibung richtig, nämlich als Folge der Landräuberei Hitlers. 76 Prozent fühlen sich in Westdeutschland heimisch. 49 Prozent sind nicht oder nur teilweise mit dem Gebaren ihrer Funktionäre einverstanden. Und 94 von hundert Vertriebenen möchten ihr Heimweh nicht durch kriegerische Mittel heilen. Rekapitulieren wir also: Da war eine Sendung namens Polen in Breslau (7. Mai), dicht gefolgt von einem Protestschrei, der sich anhörte, als komme er aus Abermillionen Kehlen. Da tickten sich die Fernschreiber heiß. Da wurde im Bundestag angefragt, wurde getrommelt, gepfiffen, Fanfare geblasen, mit Fahnenstangen geprügelt – und endlich kennen wir die Ursache allen Getöses: Ein paar Vereinsmeier wollten sich wichtig machen. Gut, das zu wissen (geahnt hatte man’s ohnehin). Aber nun für allemal genug davon. Schließlich gibt es noch andere Minderheiten mit unzureichender Publizität und weltfremden Vorstellungen, die, ehe sie das demoskopische Duschbad ereilt, ein bißchen TVStaub aufwirbeln möchten. Freie Bahn jetzt für den Bayerischen Heimatund Königsbund. Merke: »Kleiner Regen läßt großen Wind aufhören« (italienisches Sprichwort).

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PERSONAL Es gibt »nichts Stabileres als ein Fernseh-Idol«, muss Telemann schon 1960 feststellen, als sich Peter Frankenfeld nach kurzer Fernsehpause mit einer ›neuen‹ Spielshow wieder präsentiert.1 Wie potenziert hätte sich Telemanns Erstaunen, hätte er vorausahnen können, dass Frankenfeld, »der erste Star des deutschen Fernsehens«,2 von 1952 bis zu seinem Tod im Jahr 1978 regelmäßig auf dem Bildschirm zu sehen war – »TV-Star Nummer 1«3 Hans-Joachim Kulenkampff sogar bis weit in die 90er Jahre hinein. Das Fernsehen mit seiner dichten Folge von Sendungen, so hatte man anfangs geglaubt, werde seine Persönlichkeiten rasch verschleißen. Doch das Gegenteil sei der Fall: »Der vermeintlich Verschlissene braucht nichts dazuzulernen, braucht sich nichts abzugewöhnen – er muß nur warten können.«4 Das eigentlich der Aktualität verschriebene LiveMedium scheint paradoxerweise statt Innovation gerade Kontinuität um der Kontinuität willen zu fördern. Und so begegnen einem auch in Telemanns Fernsehkosmos immer wieder die selben Personen, von denen hier eine Auswahl der wichtigsten vorgestellt wird. Den Mechanismus, seine Produkte zentral durch charakteristische Personen zu differenzieren, übernimmt das Fernsehen vom Starsystem Hollywoods. Seit den frühen Fernsehtagen wird freilich beobachtet, dass das Fernsehen sich anders zu seinem Personal verhält und damit eine ganz neue Art von Stars produziert. Fernsehstars präsentieren sich nicht in Form übergroßer Ausnahmehelden der Leinwand, sondern erscheinen im Gegensatz zu diesen regelmäßig ›auf Besuch‹ im Heim der Zuschauer und spielen dabei augenscheinlich keine andere Rolle als sich selbst. Schon 1956 erkennen die amerikanischen Sozialpsychologen Horton und Wohl im ›para-sozialen‹ Kontakt mit solchen Bildschirmpersonen einen

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Telemann: »Umkehrspülung« (in dieser Sektion). Ricarda Strobel/Werner Faulstich: Die deutschen Fernsehstars. Band 1: Stars der ersten Stunde, Göttingen 1998, S. 27. Telemann: »Hand aufs Hemd« (in dieser Sektion). Telemann: »Umkehrspülung«. Vgl. des weiteren exemplarisch zu Kulenkampff ders.: »Schmus Primae Noctis« (in dieser Sektion); zum Dokumentarfilmer Hans Hass ders.: »Verschnellt«, in: Der Spiegel 20 (1966), Nr. 33, S. 85. Mit dieser Form des Recyclings zielt Telemann eine Kritik an der Personalpolitik der Fernsehverantwortlichen; vgl. ders.: »Mauch-Grimmen« (Sektion »Politik«).

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Wesenszug der Fernsehrezeption.5 Anders als der distanzierte Filmstar integriert sich die sogenannte ›Persona‹ des Fernsehbildschirms in das alltägliche Leben des Fernsehzuschauers. Neben den genannten Showmoderatoren ist dabei vor allem zu denken an Figuren wie den fabulierenden Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, den Zoodirektor und Tierfilmer Dr. Bernhard Grzimek oder den weltgewandten Reporter Peter von Zahn, die als telegen elaborierte Version ihrer selbst auftreten. Was für ein Inszenierungsaufwand dabei trotz allem geboten sein kann, demonstriert Telemann am Fall des Tagesschau-Sprechers Karl-Heinz Köpcke, der – als Anchor der Nachrichten – bis auf Seriösität möglichst wenig persönliche Qualitäten repräsentieren soll.6 Die Publikumsbindung des Fernsehens wird schon in seiner Frühzeit sehr über solche Personen gesteuert.7 Die Aufmerksamkeit, mit der die Fernsehstars handeln, ist ein knappes Gut, das aber anfangs – vermutlich mangels Senderkonkurrenz – noch nicht angemessen honoriert wird, so dass die Fernsehstars dazu genötigt sind, als Werbeträger ihr Aufmerksamkeitskapital in ökonomisches umzusetzen. Das Fernsehen, so befürchtet Telemann, setze mit seiner Sparsamkeit sein eigenes Kapital aufs Spiel, sei dessen eigentlicher Lohn doch gerade »das Interesse der Öffentlichkeit«.8 Andererseits mühen sich die Fernsehprominenten umgekehrt um die Aufmerksamkeit, die ihnen die Fernsehöffentlichkeit verschafft, und streiten vehement um jene Sendezeiten, an denen sich ihr Stellenwert messen lässt.9 Das Rätsel des Stars, die Frage nach jenen bestimmenden und differenzierenden ›Star-Qualitäten‹, die ihm die Aufmerksamkeit überhaupt erst zuführen,10 wird unter den Bedingungen des jungen Mediums aufs Neue gestellt. Während es in den meisten Fällen – zumindest des Filmstars – »außer Mühen und Kosten, vieler Tonnen Druckerschwärze [bedarf], um aus Schattengewächsen Idole zu machen«,11 schuf das Fernse5

Vgl. Donald Horton/Richard R. Wohl: »Massenkommunikation und parasoziale Interaktion. Beobachtungen zur Intimität über Distanz«, in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, Konstanz 2002, S. 74104. 6 Vgl. Telemann: »Hinter der Nachricht« (in dieser Sektion). 7 Wie stark die Fernseherfahrung durch solche Personen geprägt wurde, belegen beispielhaft die in Bernd Müllender/Achim Nöllenheidt (Hg.): Am Fuß der blauen Berge. Die Flimmerkiste in den sechziger Jahren, Essen 1994, zusammengetragenen Erinnerungen. 8 Telemann: »Hand aufs Hemd«. Zur »Ökonomie der Aufmerksamkeit« immer noch einschlägig Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, München, Wien 1998. 9 Telemann: »Onkels Clou« sowie »Hegerlatein« (in dieser Sektion). 10 Von der Faszination dieses Rätsels ist nicht zuletzt die Starforschung gezeichnet, vgl. etwa Stephen Lowry, »Stars und Images. Theoretische Perspektiven auf Filmstars«, in: Montage/av 6 (1997), Nr. 1, S. 10-35, hier S. 12f. 11 Telemann: »Kookie-Look« (in dieser Sektion).

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hen einen Star aus dem Nichts: Kookie, Nebenfigur aus der in Deutschland nur im Monatsrhythmus und zu ungünstiger Sendezeit ausgestrahlten Kriminalserie 77 Sunset Strip, war mehr trotz als wegen des Fernsehens zum Popstar und Jugendidol geworden. Es reichte Darsteller Edward Byrnes völlig, sich ausgiebig zu kämmen und in Jugendjargon zu parlieren, um von der deutschen Fernsehjugend verehrt zu werden. Als Gegenteil von Kookie gilt Telemann der von den Fernsehverantwortlichen aus unerfindlichen Gründen gehätschelte Heinz Maegerlein. Das so wichtige Etikett »telegen« will partout nicht zu Telemanns Lieblingsspottobjekt passen. Der Sportreporter und Quizmaster lässt sich aber genauso wenig als Ausweis für die Inkompetenz der Programmverantwortlichen und die Langeweile der Fernsehzuschauer heranziehen. Vielmehr lässt eine stetig anwachsende Zuschauerschaft Telemann ernstlich über Maegerleins Anziehungskraft rätseln.12 Den Mangel an weiblichen Fernsehpersönlichkeiten spiegelt die Telemann-Kolumne – und unsere Artikelauswahl – adäquat wieder. Ganz im Gegensatz zum Film bringt das Fernsehen kaum weibliche Stars hervor, schlicht weil es nur wenige Funktionen für Frauen öffnet: Als Showstar kann sich gerade einmal Caterina Valente etablieren. Dennoch sind es wesentlich weibliche Gesichter, diejenigen der Ansagerinnen, welche das deutsche Fernsehsystem nach außen repräsentieren und ideal jenes eminente Kontinuitätsbedürfnis verkörpern, das in den Anfangsjahrzehnten die Personalpolitik des Fernsehens – und anscheinend nicht nur sie – regiert. Es zeigt sich deutlich, als Irene Koss, Ansagerin des NDR seit 1952, es wagt, »der Republik einen derartigen Schlag zu versetzen« und sich gegen die »Gewohnheitsrechte, die sich einen Nation nicht kampflos beschneiden läßt«, eine neue Frisur zuzulegen.13 So wird die Fernsehansagerin, deren Erfolg gerade auf der »Untertreibung ihrer Person« beruht,14 gewissermaßen zum Spiegelbild der biederen Bundesrepublik. Oder mit Telemann gesprochen: »Jedes Volk hat die Fernseh-Besetzung, die es verdient.«15

12 Telemann: »Sparflamme empor« (in dieser Sektion). Für mehr Spott über Maegerlein vgl. ders.: »Besetzt«, in: Der Spiegel 13 (1959), Nr. 12, S. 60; ders., »Das Glaskammerspiel«, in: Der Spiegel 13 (1959), Nr. 49, S. 91. 13 Vgl. Telemann: »Haarig« (in dieser Sektion). Irene Koss wird noch einmal zum Gegenstand einer Kolumne, als sie wegen Heirat vom NDR zum Bayrischen Rundfunk wechselt; vgl. ders.: »Tu Felix Bavaria«, in: Der Spiegel 16 (1962), Nr. 3, S. 58. 14 So Koss’ Kollegin Dagmar Baumeister, zit. Martin Morlock: »Kein Programm«, in: Der Spiegel 20 (1966), Nr. 21, S. 165. Auch weitere Kolumnen, die sich mit Ansagerinnen beschäftigen, heben die Bedeutung des Gewohnten und Unauffälligen hervor; vgl. ders.: »Besetzt« S. 60; ders.; »Zum Pläsier«, in: Der Spiegel 14 (1960), Nr. 33, S. 60. 15 Telemann, »Besetzt«, S. 60.

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D u r c h d i e W ü s te ( 2 6 / 1 9 5 9 ) Die Nacht sank jäh hernieder. Ein kühler Wind blähte die Burnusse und brachte den Männern, die schweigend am Feuer saßen, Erfrischung. Irgendwo kicherte eine Hyäne. »Ihr werdet hungrig sein, Sahib«, unterbrach Almuluk, Sohn des Omar, das Schweigen und tat neuen Kamelmist auf die Glut. »Es war aber auch ein scharfer Ritt, und, bei Allah, Ihr habt Euch wacker gehalten!« Der weißhäutige Fremde achtete nicht des Lobes. »Ein Happen herzhafte Männerkost könnte uns beiden gut tun«, sagte er leichthin – und während der Wüstensohn sich anschickte, das Mahl zu bereiten, verfolgte er aufmerksam jeden seiner Handgriffe, um ihn im Geiste zu notieren: 250 Gramm gehacktes Rindfleisch – notierte er – werden in eine Schüssel gegeben. In der Mitte macht man eine Vertiefung und schlägt ein rohes Ei hinein. Eine kleine Zwiebel, eine Gewürzgurke und eine Knoblauchzehe werden sehr fein gehackt und dazugegeben. Gewürzt wird mit Salz, Pfeffer, Paprika, Zucker, Tomaten-Ketchup, einem Eßlöffel Meerrettich und zwei bis drei Eßlöffel Joghurt. Das Ganze wird sehr gut gemischt und in einer heißen Pfanne in Butter oder Öl unter ständigem Umrühren ganz kurz gebraten. Dazu werden Bohnen gereicht. »Freund in Lukull«, rief der Weißhäutige, nachdem er den ersten Bissen geschmacklich hatte aufrauschen lassen. »Wie nennt Ihr dieses Gericht?« – Und Almuluk, Sohn des Omar, gab lächelnd zur Antwort: »Wenn dieser unwürdigsten aller Speisen das Glück zuteil wurde, Euren erhabenen Gaumen nicht zu beleidigen, so wisset denn: Sie heißt arabisches Reiterfleisch.« So ähnlich hat sich Telemann jene gastronomische Sternstunde vorgestellt, in der Clemens Wilmenrod das Kochrezept seines Lebens erfuhr. Leider sah die Wirklichkeit ein wenig anders aus. Nicht auf einem Ritt durch die Wüste, nein, an der libanesischen Küste hat Clemens die Köstlichkeit kennengelernt. »An der Mündung des Hundeflusses«, so steht in seinen ReiseErinnerungen (Wie in Abrahams Schoß) geschrieben, »rasteten ... die Karawanen. Hier stehen die Pferde, es liegen die Kamele herum, die Feuer lohen, in den Pfannen brutzelt es. Ich hatte das Glück, zu einem Imbiß eingeladen zu werden, dessen Rezept ich im Fernsehen brachte und das einer der größten Schlager wurde ...« Wüste hin, Hundefluß her – auch die nackte Wahrheit entbehrt nicht des romantischen Reizes. Wenigstens wissen wir jetzt, wie die arabischen Reiter an das Tomaten-Ketchup kommen. Denn Wilmenrod-Sahib fährt fort: »Alle Zutaten werden ... als wohlverpackte, moderne Konserven mitgeführt.«

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Weil Telemann von klein auf eine Schwäche für das Abenteuerliche im Herzen trägt, vor allem aber, weil ihm der Gourmet Voyageur erst neulich wieder, beim Tomaten-Auflauf, erzählt hat, wie begeistert unsere Republik doch damals gewesen sei (15 000 Zuschriften), ging er in die Küche und tat desgleichen. Das arabische Reiterfleisch, das unter seinen Händen willig Gestalt annahm, war ohne Zweifel das authentische arabische Reiterfleisch. Denn Telemann hat das Rezept ehrfürchtig befolgt. Sogar den Zucker hat er drangegeben. Und doch – als er die Frucht seiner Mühen vom Herd nahm und kostete, schmeckte sie nach, jawohl, Buletten. Zuerst hielt Telemann es für eine Geschmacks-Halluzination. Schließlich können 15000 Enthusiasten doch nicht so tragisch irren. Dann erinnerte er sich daran, was Wilmenrod vor Jahren von seinem Speckkuchen gesagt hatte: Man muß ihn im Freien essen. Diese Vorschrift durfte wohl in noch höherem Maße für Karawanenkost gelten. Also ging Telemann in seinen Ziergarten, entzündete ein Lagerfeuer und kostete noch einmal. Es schmeckte wieder nach Buletten. Nun sind Buletten – auch Frikadellen oder Pflanzl genannt – gewiß ein ehrbares Essen; und wenn man sie mit Weckmehl, eingeweichten Brötchen oder mit einer Mehlschwitze (»Beamten-Stippe«) streckt, auch ein sehr preisgünstiges. Doch daß sie der Wunderwelt Arabiens zuzurechnen seien, will nicht ohne weiteres einleuchten. Telemanns Zweifel nahmen allmählich Formen an, die es ihm ratsam erscheinen ließen, der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei stieß er auf jemanden, dem der Schaukoch in einer Anwandlung von Freimut die noch nacktere Wahrheit gesagt hat. Clemens Wilmenrod – so berichtet der Gewährsmann – bereiste im Jahre 1957 den Nahen Osten, bekam auf dem Rückweg von Kabul die Amöbenruhr und wurde ins Hospital von Beirut eingeliefert. Während man ihn dort pflegte, lernte er die Frau des deutschen Generalvertreters der Daimler-Benz-Werke kennen. Die Dame nahm sich des rekonvaleszenten Landsmannes mildtätig an, lud ihn in ihr Haus ein und bewirtete ihn mit jenem Fleischgericht, dessen Name den Fernsehern so romantisch im Ohr klang. Das sind die Tatsachen. Keine hingelagerten Kamele, keine stampfenden Vollblüter, kein Hundefluß. Nur ein paar Amöben. Nun gibt es drei Möglichkeiten. Entweder die Frau Generalvertreter pflegt mit der arabischen Reiterei zu speisen, oder sie hat ihrem Gast etwas vorgeflunkert (weil sie Hackfleisch im Haus und Großmutters Kochzettel im Kopf hatte), oder der Nahost-Reisende hat, dem Beispiel Fatmehs folgend, beides erfunden: die Entdeckungsgeschichte und das Rezept.

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Doch wie dem auch immer gewesen sein mag: Was rechte deutsche Hausmannskost ist, die schmeckt unter jedem Namen. Merke: »Wo kein Kläger ißt, ißt auch kein Richter« (Römisches Recht).

Haarig (46/1959) Am 31. Oktober verkündete der evangelische Altbischof D. Wilhelm Stählin, Rimsting, sein Wort zum Sonntag früher, als es gemeiniglich verkündet wird, nämlich gleich im Anschluß an die Tagesschau; in der vernünftigen Annahme, daß nach der Scherzartikel-Show des Lou van Burg das Interesse an einem besinnlichen Wochenausklang nicht mehr ungeteilt sein würde. Doch erwies sich diese Vorsichtsmaßregel als nutzlos. Die Fernsehgemeinde lauschte ihrem Seelenhirten merkwürdig unkonzentriert, wiewohl D. Stählin duldsam genug war, auch dem katholischen Bevölkerungsteil ins Gewissen zu reden. Den Anlaß zu solcher Zerstreutheit gab die NDR-Ansagerin Irene Koss, eine Fernsehschaffende, deren allgemein gewürdigter Verdienst bislang gerade darin bestanden hatte, die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. »Wie konnte sie bloß!« raunte, ja stöhnte es vor drei Millionen Röhren, während der Prediger sich bereits arglos über Fragen der Ökumene verbreitete, und im Studio Lokstedt des Hamburger Fernsehsenders klingelten die Telephone bis in die späte Nacht. Auch Telemann war verwundert, als er der beliebtesten deutschen Ansagerin neue Haartracht erblickte: ein Gebilde, das vor Zeiten unter der Sammelbezeichnung »Mecki«-Frisur Ruf erlangt hat und dessen stirnwärts gekehrte, ungleichmäßige Fransung an die abgetretenen Schmalseiten kostbarer Teppiche erinnert. Was – so fragte er sich – mag in ihr vorgegangen sein, als sie der Republik einen derartigen Schlag zu versetzen beschloß? Hören wir sie selbst: »Ich wollte es mal ausprobieren. Als Frau möchte man ja ab und zu eine andere Frisur tragen. Vor zwei Jahren hab ich’s schon mal gemacht. Ganz kurz. Nur nicht so schlimm. Aber auch damals waren die Zuschauer nicht erfreut darüber. Sie sind der Ansicht, daß es meinen Typ verändert.« Für den halbwegs geschulten Psychologen ergibt sich daraus folgendes Bild: Irene Koss, der strahlend weiße Schirm-Schemen, die Frau, die selbst gut bewachten Familienvätern kein unbilligeres Verlangen einflößt als das, mit ihr Pferde zu stehlen – Irene Koss hatte es satt. Sie wollte auch mal ein bißchen Unruhe stiften; so wie ihre Kölner Kollegin Mady Manstein, die seit vielen Fernsehjahren leichtbekömmlichen Sex ins deutsche Heim sprühen darf. Und so ließ sie sich eben, in jäher Trotzaufwallung, zu neuer Frisur [...] hinreißen.

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Tragödie einer Ausstrahlung. Doch heißt in diesem Falle »alles verstehen« noch lange nicht »alles verzeihen«. Frau Koss hätte, als der Versucher in Gestalt eines Haarkünstlers an sie herantrat, auf das gesunde Volksempfinden Rücksicht nehmen und der Anfechtung widersagen müssen. Schließlich gibt es Gewohnheitsrechte, die sich eine Nation nicht kampflos beschneiden läßt. Insbesondere, wenn es sich um Fragen handelt, die das weibliche Haupthaar betreffen. Daß hier Affekte frei werden können, deren Ursprung weit in mythische und mystische Bezirke zurückreicht, davon geben noch heute die Riten gewisser Negerstämme am Senegal Kunde, wo Frauenhaar, in einer bestimmten Weise angeordnet, als Fetisch geschätzt und eifersüchtig gehütet wird. Die Hamburger Morgenpost hat zur Frage »Soll Irene die alte oder die neue Frisur tragen?« eine Volksabstimmung in die Wege geleitet, deren Ergebnis wiederum mit einem Preisausschreiben verknüpft werden soll. Und zwar will das Blatt »aus der Mehrzahl drei Glückliche auslosen, die bei der charmanten Ansagerin einen Nachmittag lang Gast sein dürfen«. Mit anschließender Studio-Besichtigung. Das wird, so hofft wenigstens Telemann, den Sonnabend-Abendschock überwinden helfen. Indes, wie die Dinge bereits liegen, dürfte bei dieser Lotterie die Gewinnchance nicht eben groß sein. Nicht zuletzt darum, weil das Festhalten am Herkommen einen wichtigen Bestandteil unseres Nationalcharakters darstellt. Doch wie auch immer das Wahlergebnis ausfallen mag, ja selbst wenn die modernistische Mecki-Richtung einen Überraschungssieg davontragen sollte: Irene Koss wird sich dem Urteil beugen (»Es sind schließlich unsere Kunden, wir müssen ihnen entgegenkommen«). So braucht denn die deutsche Hausfrauenschaft nicht länger zu bangen, daß die Phantasie ihrer Lieben in unrechte Bahnen gelangt. Irene ist nicht »so eine«. Sie wird auch fürderhin ihr Haar nach hinten und ihr nervenschonendes Fluidum nach vorn tragen. Und ihr Lächeln wird weiterstrahlen und niemals mehr versprechen, als eine 1,8-Watt-Bildröhre halten kann. Denn was da am 31. Oktober passiert ist, das läßt sich ja, o Glück, wiedergutmachen (Irene Koss: »Es war nur ein Ideechen kürzer geschnitten, aber das verspielt sich, wenn man’s nach hinten kämmt«). Merke: »... gibt es viele Dinge, an welche der Mensch sich so gewöhnt hat, daß er sie für zweckmäßig hält.« (Friedrich Nietzsche: Wir Philologen.)

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H an d au f s H e m d ( 1 5 / 1 9 6 0 ) Was tut der deutsche Fernsehfreund, wenn er des Abends erfahren muß: »Napoleon hatte seine kleinen Fingerchen in die Jacke gesteckt und nicht in das Hemd. Aber wir Männer von heute, wir sagen ›Hand aufs Hemd‹, wenn es mit dem neuen Rei gewaschen ist. Und in diesem Sinne möchte ich mit Ihnen das Lied anstimmen: Zum Abschied streich ich mir das Hemde und denke an das neue Rei ...« Der deutsche Fernsehfreund ruft; »Mensch, der Kuli«, steigert den Umsatz des gepriesenen Markenartikels – und wenn er feinerer Geschmacksregungen fähig ist, dann fragt er sich wohl auch: Steht es dem TV-Star Nummer Eins, dem obersten RateSpielkameraden des deutschsprachigen Fernsehens so überaus wohl an, für ein Waschmittel Reklame zu machen? Indes: Nicht nur der feinsinnige Zuschauerteil sieht in Hans-Joachim Kulenkampffs propagandistischem Wirken ein mildes Ärgernis, auch das Fernsehen selbst geniert sich ein bißchen wegen der unveräußerlichen Güter. Und weil das Verhältnis der acht Sender zu ihren Werbeabteilungen überhaupt recht sonderbar ist. Gemeinnützige, das heißt: nicht auf Gewinn abzielende, Unternehmen erinnern, wenn sie kommerziellem Tun obliegen, ein wenig an wohltätige Stiftsdamen, die zugunsten der Trinkerfürsorge Fusel verkaufen. Nun werden zwar Fernsehsender längst nicht mehr rot, wenn sie mit spitzen Fingern die 60000 Mark einstreichen, die das Reklamemachen allabendlich abwirft, aber sie mühen sich redlich, ihr schlechtes Gewissen durch eine gute, kulturwärts gekehrte Gesinnung zu kompensieren. Allen voran der Norddeutsche Rundfunk. In den von ihm inspirierten »Richtlinien des Aufsichtsrats der Norddeutschen Werbefernseh GmbH« heißt es: »Werbesendungen sind unzulässig, in denen festangestellte Mitarbeiter des NWF (Norddeutsches Werbefernsehen) oder des Deutschen Fernsehens mitwirken. Dieser Grundsatz soll auch für die Mitwirkung freier Mitarbeiter gelten, die durch die Art ihrer Tätigkeit, den Inhalt ihrer Rolle oder die Häufigkeit ihres Auftretens beim Publikum zum NWF oder zum Deutschen Fernsehen in Beziehung gesetzt werden.« Das heißt nun keineswegs, daß der norddeutsche Sendebereich vor Kulenkampffs Rei-Berieselung gefeit ist, sondern will nur andeuten, daß es – in einer vollkommenen Welt und unter besonders glücklichen Zeitumständen – möglich sein müßte, einer solchen Maxime Folge zu leisten. Hienieden jedoch gilt das Gebot der Gewerbefreiheit wie auch die Faustregel: »Wer zahlt, schafft an« – und zahlen tun die Inserenten. Mit rauhen Worten: Verbieten kann man’s dem Kuli nicht, das »Hemdestreichen« (der NDR hat es in seinem Hoheitsgebiet schon mehr-

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mals versucht). Man kann ihn allenfalls darum bitten, auf derartige Nebeneinnahmen zu verzichten. So machte Telemann sich denn zum Wortführer aller Feinsinnigen und fragte den Meister: »Muß das sein?« Und er bekam zur Antwort: »Vom Fernsehen kann ich nicht existieren. Das bezahlt mir – bei sieben Sendungen im Jahr – 3000 Mark pro Abend und die Reisekosten. Für alles übrige, sogar fürs Hotel, muß ich selber aufkommen. Früher wurde gejammert: Wir haben noch keine Einnahmen. Heute heißt es: Wir bauen auf. Aber wenn die wirklich mal Geld haben sollten, machen wir Veteranen des Deutschen Fernsehens bestimmt kein Fernsehen mehr. Wen es stört, daß ich fürs Werbeprogramm arbeite, der kann mich ja loskaufen.« Loskaufen. Das war die Lösung. Telemann reichte sie rundherum, von Sender zu Sender, erntete jedoch eitel Hohngelächter. »Wissen Sie, was Rei dem Kulenkampff bezahlt?« scholl es ihm entgegen. Telemann wußte es: 3000 Mark monatlich, das sind 1500 Mark für den Werbekurzfilm. Den Quiz-Kuli freizukaufen, wäre also durchaus kein so unbilliges Verlangen; freilich auch kein billiges, aber darum handelt es sich nicht. Es handelt sich darum, daß das Deutsche Fernsehen endlich lernt, die wenigen, die imstande sind, Millionen vor die Röhren zu locken, so zu honorieren, daß sie jedwede Waschwunder-Schaumschlägerei für unter ihrer Würde halten; und daß es nicht jedermann vorrechnet, wie berühmt es ihn gemacht habe, sondern auch den raschen Verschleiß dieser Berühmtheit in Rechnung stellt. Statt schämig oder kulturstolz dreinzublicken, wenn Waschmittelfabrikanten für seine Gegenverpflichtungen aufkommen, braucht unser Fernsehen bloß etwas langsamer zu bauen. Und statt unerfüllbare Anstaltsehrenkodizes aufzustellen, sollte es sich lieber schon jetzt darum kümmern, daß ihm wenigstens ein paar Könner die Treue halten. Falls es jedoch vorzöge, sein Geld weiterhin in Sachwerten anzulegen, könnte einmal der Fall eintreten, daß in den funkelneuen Haupt- und Nebengebäuden, den Ausweich- und Spezialstudios und was der krisenfesten Immobilien mehr sind, nur noch die Stümper Ein- und Urstände feiern. Zu denselben kleinen Preisen zwar (die großen zahlt man dann bei der Konkurrenz), aber ohne jenen Lohn, der Funkanstalten, wie man uns glauben macht, so reichlich lohnet: das Interesse der Öffentlichkeit. Es ist, so möchte Telemann behaupten, eine Frage der Kalkulation. Merke: »Etwas Vorsicht auf Seiten des Doktor Faust – und die Gretchentragödie hätte sich vermeiden lassen.« (Roda Roda, Des Menschen Geist.)

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Um k e hr - S p ü l u n g ( 4 5 / 1 9 6 0 ) Wahrlich: Der Norddeutsche Rundfunk, Sitz Hamburg, ist keins von jenen leichtblütigen Etablissements, die da von der Hand in die Linse leben. Er plant, sorgt vor, blickt in die Zukunft. Und wenn er in dunstiger Ferne den Herbst oder gar schon den Winter herandringen sieht, Zeitläufte, in denen die gelenkte Kurzweil vorgeschrieben ist, dann fährt er hinaus nach Wedel (Holstein) und engagiert – was soll er machen – den Peter Frankenfeld. Doch mit dem Engagieren ist es noch nicht getan. Denn bei der hessischen Konkurrenz waltet ab Januar wieder Hans-Joachim Kulenkampff – und diesem unbesieglichen Günstling aller Gaue muß man, will man nicht Schimpf auf sich laden, etwas Machtvoll-Neues entgegenstellen. Also schickte der Sender Hamburg seinen Vertrags-Spieler Frankenfeld für ein Weilchen nach England. Weil es dort so viel FernsehErfahrung gibt. Und nach Frankreich. Weil dort, zumal auf dem Gebiet der Quiz-Belustigung, der schiere Schöpfergeist umgeht. Und dann hieß er Frankenfeld in aller Heimlichkeit basteln und tüfteln und feilen, bis sich die launigen Eingebungen zu Halden auftürmten. »Selten ist im Deutschen Fernsehen das Wiedererscheinen eines etwas in den Hintergrund getretenen Stars behutsamer vorbereitet worden«, vermeldete die TV-Zeitschrift Tele. Wenn eine neue Sendereihe so pflegliche Vorbehandlung erfährt, kann die Überraschung nicht ausbleiben. Und richtig, Peter Frankenfeld erschien zur Premiere seines Fernseh-Spielmagazins (22. Oktober) in einer großkarierten Jacke, schickte »Fliegende Untertassen« in den ausverkauften Saal, bedankte sich für Toi-toi-toi-Telegramme, schied Kalauer ab (»Soviel Applaus krieg’ ich nie wieder – damit beenden wir den Abend«), ließ dieses und jenes schämige Glückskind des Volkes »Bauchladenverkäufer« oder »Liegestuhlzusammensetzen« spielen und rief, sobald ein Gewinner Gewinn erheischte, nach Herrn Sparbier (»Übrigens ein echter Postschaffner«). Wäre Telemann scheelsüchtig, würde er behaupten: Es war eine Frankenfeld-Show von 1955. Aber ganz so einfach hat es sich der NDR denn doch nicht gemacht. Da paradierten als fortschrittliche Ergötzung die Donkosaken, die Hiller-Girls und der Walter Groß. Da trompeteten zwei Elefantenkälber, die man eigens aus London hatte kommen lassen. Und da war Peter Frankenfelds Lebensgefährtin Lonny (Kellner), körperfrisches Leitbild einer neuen, familienfreundlichen Fernseh-Epoche, die auch der ehelichen Entfremdung Kunstschaffender wirksam zu begegnen weiß.

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Daß der Norddeutsche Rundfunk Lustspiel-Schmalfilm-Amateure hinzuzog, war insofern keine Tributleistung an den Zeitenwandel, als diese Freunde eines ungeschlachten Frohmuts ohnehin aus dem Holz sind, aus dem man seit alters Frankenfeld-Jünger schnitzt. Origineller schien der Versuch, auch dem vergleichsweise anspruchsvollen Bundesvolksteil zu gefallen. Etwa durch die Beifügung so sperriger Bildungsgüter wie der Vokabel »Danaergeschenk«, des Balkan-Barden Gregor von Rezzori oder eines »zeitkritischen« Karnevalsliedes. Indes, der Versuch schlug fehl. Vielleicht hätte wenigstens das »Frag mich was«-Spiel höheren Unterhaltungsansprüchen genügt, wenn das Trumpf-As nicht schon bei der öffentlichen Generalprobe verpraßt worden wäre: Dort galt es die Sternstunde einer Kohlenhändlerstochter zu erraten, die vom (minderjährigen) Metzgersohn Franz-Josef Strauß in den Finger gebissen wurde. Als weitere Neuerung darf gelten, daß Peter Frankenfeld die Früchte seines Witzes nicht mehr von ungefähr, sondern mit ausgeklügeltem Vorbedacht feilbietet (»An diesen Dingen arbeite ich; da kommt was bei raus«), ein Vertrauen, dem die Zuschauerschaft travestierende Wendungen wie (Oberammergauer) »Pensionsspiele« oder »Die Kraniche des Pfiffikus« verdankt. Wichtigster Unterschied zwischen 1955 und 1960: Damals war eine Frankenfeld-Show für 12000 Mark zu erschwingen, heute kostet sie 68000 Mark. Ansonst kam der vorletzte Samstagabend einer Jugenderinnerung gleich. Da hieß es immer – und Telemann hat’s geglaubt –, die revolutionierende Erfindung »Fernsehen« verschlinge ihre eigenen, ihre Lieblingskinder. Da war vom »großen Verschleiß der Talente« die Rede. Und von der »weisen Beschränkung«, die sich ein TV-Besetzungschef auferlegen müsse. Dabei gibt es nichts Stabileres als ein Fernseh-Idol. Wenn das Naturgesetz, wonach »alles fließt«, noch Gültigkeit hat, dann fließt beim Deutschen Fernsehen alles anders als woanders. Sozusagen mit Umkehr-Spülung. Der vermeintlich Verschlissene braucht nichts dazuzulernen, braucht sich nichts abzugewöhnen – er muß nur warten können. So lange, bis wieder ein paar Millionen Heimgeräte installiert sind. Wenn also dem deutschen Schirmvolk das achtteilige »Spielmagazin« so weit zum Halse heraushängt, daß sich die NDR-Intendanz darin verheddert, kann Peter Frankenfeld getrost eine Zeitlang Reklame machen. Weiß er doch: Er darf wiederkommen. Samt Karos, Untertassen, Herrn Sparbier, Frau Lonny und – gegebenenfalls – Klein-Peter, der dann gewiß auch schon ein paar herzige Kalauerchen kennt.

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Merke: »Das Neue, schon’s, das Alte, flick’s, sonst kommst’ zu nix« (Wahlspruch).

H e g e r - L a te i n ( 2 1 / 1 9 6 1 ) Zuerst hatte er lockeren Geistes über Meerechsen geplaudert. Und nicht die Spur eines Leidwesens hatte sein Angesicht verdüstert. Da plötzlich brach es aus ihm hervor: »Es war vereinbart, daß ich über meine letzte Afrikareise im April und im Mai sprechen sollte. Nun ist durch die viele Arbeit hier im Fernsehen leider versäumt worden, diese Sendungen im Programm einzusetzen, so daß ich Ihnen sehr wahrscheinlich erst wieder zu Beginn des Herbstes werde erzählen können, was ich in den letzten Wochen in Afrika erlebt habe und was ich für Löwen und Elefanten und Nashörner bei den neuen schwarzen Politikern erreicht habe ...« Danach wandte sich Professor Dr. Bernhard Grzimek (um wen sonst könnte es sich handeln?) der minder attraktiven Tierwelt des Schwarzen Kontinents zu. Strafweise, sozusagen. Doch was er auch von den Eigenheiten des Erdferkels zu berichten wußte, seine Jüngerschar lauschte nur mit halbem Ohr. Allzu heftig bewegte sie die Frage: Wie konnte der Hessische Rundfunk den strahlenden Fixstern am deutschen TV-Himmel derart vernachlässigen? Und weil Dr. Grzimek das Versäumnis der hessischen Programmplaner mit dem fein-ironischen Hinweis auf des Fernsehens »viele Arbeit« entschuldigt und somit dem Argwohn Raum gegeben hatte, daß da noch andere, geheimnisvollere Beweggründe mitgespielt haben mochten, nahm das bange Rätselraten kein Ende. Wie, wenn in Frankfurts Fernsehfunkhaus Dunkelmänner walteten? Neider womöglich. Oder Intriganten, die das sommerliche Intervall dazu benutzen wollten, des Fernseh-Professors Ruhm in den Schatten zu stellen? Oder waren gar jene faunafeindlichen Rohnaturen am Werk, die, wenn’s keiner sieht, Frösche aufpusten, Tauben vergiften oder Schlachtpferde nach Italien schicken? Fünf Monate kein Platz für Ein Platz für Tiere – konnte das noch mit rechten Dingen zugehen? Es konnte. Die Vorgeschichte: Auf der Programmkonferenz war man zu Beginn des Jahres übereingekommen, die ursprünglich für das Zweite Programm vorgesehene NDR-Trilogie Das Fernsehgericht tagt auf den Gemeinschaftsspielplan zu setzen, und hatte den Hessischen Rundfunk notgedrungen eben des Aprilabends beraubt, an dem eigentlich Professor Grzimek auf dem Schirm prangen sollte. Die Folge: Der Tierseelenforscher war beleidigt, weil man vergessen hatte, ihn vorher zu fragen.

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Auch als die TV-Hessen sich beeilten, ihm für April und Mai geeignete Sendezeitspannen darzubieten, verharrte er im Schmollwinkel. Nicht einmal mehr für den September wollte er sich festlegen lassen. Und was die Monate Juni, Juli und August anbetrifft, so standen sie ohnedies niemals zur Debatte (Grzimek: »Da mache ich meine Forschungsreisen, und außerdem sind Ferien. Meine Sendungen sind ja für ein breites Publikum«). Dazu kam erschwerend: Die hessische Intendanz hatte seit längerem versucht, der Plauderkunst des Zoodirektors Zeitgrenzen zu setzen. Eine halbe Stunde sei genug, fand Intendant Beckmann und war sogar bereit, dafür das volle 45-Minuten-Honorar zu bezahlen. Doch Grzimek sah auch hierin Anlaß, sein Verhältnis zum Frankfurter Fernsehen für getrübt zu halten. Vielleicht wäre es dem Serengeti-Heger dennoch gelungen, seinem Ärger und seiner Phantasie Zügel anzulegen, wenn man ihn nicht vor jener Erdferkel-Sendung wegen einer später folgenden »Eurovisions«Übertragung ersucht hätte, sich fünf Minuten kürzer zu fassen. Indes, man tat’s. Und als Grzimek, ins Mark seiner Ehre getroffen, forderte, die Ansagerin solle das Volk auf die Verstümmelung schonend vorbereiten, hielt die Anstalt solches für überflüssig. Und so entlud sich denn aller Grzimek-Groll in obzitierter Stegreifbehauptung. Und statt fünf Minuten kürzer, plauderte der TV-Professor sechs Minuten länger. Die Befürchtung, Grzimek-Anhänger könnten des Hessenfunks vermeintliche Fehlplanung mit einer Massenerhebung beantworten, erwies sich freilich – wer hätt’s gedacht – als grundlos. Ein paar Briefe und etliche Anrufe stellten das Maximum des öffentlichen Unmuts dar. Da ist man nun, meditiert Telemann, der einzige authentische Fernsehstar; konkurrenzlos, keiner Mode und keinem Verschleiß unterworfen. Da weiß man: Das Fernsehen will einen haben, die Zuschauer wollen einem zuschauen, und man selber leidet auch nicht an Kamera-Scheu. Da sitzt man hoch oben auf der Erfolgsleiter, baumelt mit seinem Telegenie, horcht hinunter zu den Mittelmäßigen – doch soviel man auch horcht: Kein Mensch redet über einen. Muß man da nicht auf die wunderlichsten Einfälle kommen? Merke: »Es ist eine Qual, der einzige große Mann zu sein« (Schiller, Die Verschwörung des Fiesko).

W e l t am M o n tag ( 5 2 / 1 9 6 1 ) Als Telemann noch der Waldbauernbub war, loderte in ihm der Wunsch, die weite Welt kennenzulernen und allem, was darin Wesenheit besitzt,

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auf den Grund zu gehen. Leider wurde nichts daraus. Wohl kam im Laufe der Jahre eine Art Weltbild zustande, roh gepinselt und für die Mitarbeit an einem Nachrichtenmagazin ausreichend, aber Kern, geschweige Kehrseite der Dinge blieben verborgen – bis zum 2. Oktober, dem Tage, da Peter von Zahns Reporter der Windrose auf der Bildfläche erschienen. Seither weiß Telemann über manches besser Bescheid; zum Beispiel über »Wasser«. Es gibt solches an verschiedenen Orten: im Atlantischen Ozean, im Flußbett des Jordan, ja sogar im Toten Meer. Und wenn man Peter von Zahn glauben darf, dann wird es »zu Wolke und Regen und Pfütze ... netzt die Pflanze, löscht den Durst, wäscht Gott und Mensch und Sünde, ist Zeichen der Aufnahme in den Kreis der Reinen und Quelle der Kriege ... heilt Mühsale und Gebresten und betört mit seinen sanften Spiegeln das Gemüt«. Damit aber der Schirmbeschauer nicht meine, die Lektion widerfahre ihm von ungefähr, setzt der Windrosen-Züchter ernst hinzu: »Als einem gebürtigen Wassermann lag mir daran, Ihnen das in Erinnerung zu bringen – bei Betrachtung des Wassers« (11. Dezember, Erstes Programm). Auch sonst weiß von Zahn Geschehnisse und Zustände auf vier Kontinenten – den fünften, Australien, hält er nicht besetzt – mit seiner Anverwandtschaft zu verknüpfen. Etwa wenn er in der Filmfolge Die Rolle des Offiziers seinen ölgemalten Oheim, weiland Leutnant im KöniglichSächsischen Infanterie-Regiment Nummer 110, dem kargen Erscheinungsbild des heutigen Truppen-Führers entgegenhält. (»Mein Onkel Gustav, Gott hab ihn selig ... war, was Goethe in den Wahlverwandtschaften rühmt: ein gebildeter Offizier.«) An Gegenständen mangelt es nicht. Da bietet Die Welt nach Feierabend Anlaß zu sachlicher (»Der Mensch hat häufig Durst«) und zu gefühlsbetonter Zahn-Kommentation (»Eckkneipe im freien Berlin – gepriesen seiest du!«); da gibt das Thema »Der große Mann« Gelegenheit zu einem Adenauer-Interview – und wenn die zehn Windrosen-Reporter keine Reiselust verspüren, dann telephoniert einer von ihnen mit dem FAZ-Korrespondenten in Moskau, Dr. Pörzgen, und läßt sich einen Leitartikel über die chinesisch-russische Spannung vorlesen (Stalins Schatten). Noch weniger aber mangelt es an Sendeterminen. Will Topmanager Zahn nicht vertragsbrüchig werden, muß er das westdeutsche Fernsehen innerhalb von dreißig Monaten mit 250 Dokumentarwerken beliefern. Daneben hat er sich dem Sender Freies Berlin für monatlich vier TV-Beiträge (Aus meinem Tagebuch) verpflichtet. Das macht: Er und seine Erdteil-Statthalter möchten, auf ihre exotische Ortskundigkeit pochend, »die Augen und Ohren des deutschen

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Fernsehzuschauers im Ausland« werden. Vor allem jedoch möchte Peter von Zahn seine beiden Firmen, die Documentary Programs Inc. und die Windrose Filmproduktion GmbH, jene 46 Filme verschmerzen lassen, die sie – im Vertrauen auf ein Kanzler-Fernsehen – für den Mülleimer produziert hatten. Da heißt es sich tummeln. Für den Fall, daß es der Windrose-GmbH nach der 200. Fortsetzung an Generalthemen gebrechen sollte, will Telemann schon jetzt Zahn sein kollegiales Ideen-Scherflein beitragen. Wie wär’s mit einer globalen Behandlung folgender Motive: Die »Welt bei Neumond«. Hier könnte, durch geschickte Verwendung unterbelichteter Zelluloid-Abfälle und unter Vermeidung selbst von Telephonspesen, ein beherzter Schritt zur Konsolidierung beider ZahnUnternehmen getan werden. »Mädchen-Freud – Mädchen-Leid«. Für diesen Streifen stünden der Windrose fünf Zahn-Töchter zur Verfügung. Sollten selbige nicht abendfüllend sein, müßte das Werk unauffällig mit Zahn-Nichten angereichert werden; ein erlaubter Kunstkniff. Und schließlich, als 250. Folge: »Die Welt als Meterware«. Der Film müßte schildern, wie ein Journalist, der vormals den Hörfunkkommentar zur Annehmlichkeit, die Fernsehreportage zum Ereignis und Symptome des Bronchial-Asthmas zum vielkopierten Redestil erhoben hat – wie ein solcher Mann sich immer tiefer und tiefer hinuntermanagert, bis er zu trauriger Letzt unter jenem Strich angelangt ist, unter welchem die fleißigen Feuilleton-Lieschen in aller Provinz ihre Sonntagsbeilagen sticheln. Zum Abschiednehmen just das rechte Feature. Merke: »Alle Psalmen sind gesungen, alle Glocken sind verklungen – Zahn, sollst mir mein’ Ruhe lahn!« (Alter Heilspruch gegen Zahnschmerzen).

Onkels Clou (51/1962) »Wir haben schon mal Geld gestiftet für ein altes Pferd, das glücklich geworden ist.« Und: »Warum nicht in jedem Altersheim in ganz Deutschland und Österreich ein Fernsehapparat?« Also hatte er, eh erwiesenen mit jäh erdachtem Liebesdienst kunstvoll verknüpfend, hervorgesprudelt. Und als den aufgerufenen Brudervölkern das Wasser der frommen Adventsempfindung in den Augen blinkerte, da peitschte gleich zweimal durch den Äther: Diese 14. Sendung der Lou-van-Burg-Reihe Sing mit mir – spiel mit mir! (8. Dezember, Erstes Programm) sei zu aller Leide

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die letzte. Hiobspostillion Lou: »Einen Grund für die plötzliche Absage« – suggestive Pause – »habe ich nicht bekommen.« Wohltätige Ausbeute: an die 1100 Fernsehgeräte. Publizistischer Nutzeffekt: Groschenblatt-Entrüstung (»Dreck« – »Ist das die Demokratie, die das Fernsehen meint?«), Sympathie-Telegramme, empörte Anrufe in Wien und Köln. Inzwischen hat der aufgewecktere Teil der Weltöffentlichkeit erfahren, warum WDR-Verwaltungsrat und Intendant die bereits zweimal verlängerte Quizreihe kein weiteres Mal zu verlängern wünschten: nicht, »weil die Show den Herren in Deutschland zu populär war«, wie der Meister mutmaßt, sondern wegen der Rätselfülle, die das weiland Gedächtniswunder Brigitte Franke betreffs ihrer Frau Tante zurückgelassen und hinsichtlich ihrer, Brigittes, Mitarbeit an einem Spielfilm mit dem Herrn Onkel (Lou) neuerlich aufgeworfen hatte.16 Zu alldem weiß Telemann vom WDR-Unterhaltungschef Hannes Hoff: Des irrenden Holländers Beliebtheit hat, laut Infratest, den Zenit überschritten. Hoff: »Kulenkampff, Frankenfeld – alle mußten sie mal Pause machen, warum sollte das nicht auch für Herrn van Burg gelten?« Nun, sehr einfach: Weil Herr van Burg der erste Massenbelustiger ist, der begriffen hat, was das Wörtchen »live« vollinhaltlich bedeutet; der, als ihn der Rausch des Direkt-Übertragenwerdens letztmalig erfaßte, alle bislang von ihm und anderen gehegte Rücksicht dahinfahren ließ. Daß er zwischen dem Zauber seiner Person und des Zuschauers weihnachtlichem Wohlfahrtsgelüst kausale Zusammenhänge wähnte, ja, den Erfolg seiner »Aktion Altersheim« begrifflich mit einem Anspruch auf weiteres Wirken verquickte – wen wundert’s? Sind doch bezüglich der wahren Ursachen spontaner Volksgunst schon beliebte Fernsehschaffende – etwa der US-Schimpanse »Muggs« – im dunkeln getappt. Daß er mit Cäsarengeste je zehn Minuten Sendezeit im Deutschen und Österreichischen Fernsehen »verlangte«, um »über die Aktion Rechenschaft zu geben« – all das steht zurück hinter der Erkenntnis: Hier hat erstmals einer die Macht über millionenfaches Sentiment und zugleich die Ohnmacht öffentlichrechtlicher Rundfunkanstalten bis zur Neige genossen. Erstaunlich nur, daß solches erst heute geschieht: Da gibt es seit Fernseh-Anbeginn Live-Sendungen mit Teilnehmern, die hemmender Staatsvertragsklauseln nicht zu achten brauchen. Da brennen arglos Lampen, äugen Kameras, lauschen Mikrophone, sind Regisseure und Sendeleiter außerstande, dem Unerwarteten wirksam zu be16 Anm. d. Hrsg.: Ein von der Presse gestreutes Gerücht besagt, dass van Burg mit Brigitte Franke eine Geliebte als Kandidatin seiner Spielshow Sing mit mir – Spiel mit mir begünstigt oder gar bezahl hat; vgl. Telemann: »Pfff und weg«, in: Der Spiegel 16 (1962), Nr. 41, S. 109.

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gegnen – und dennoch seit neun Jahren kein unpoetisches Kraftwort, kein Quentchen verbalen Unfalls, nicht einmal, überfallartig, ein Wirtinnenvers. Ist nunmehr der Bann gebrochen? Josef Rick, Pressechef des WDR: »Wenn wir das durchgehen lassen, passiert das demnächst auch in anderen – etwa politischen – Sendungen.« Man stelle sich vor: Ein freiwillig zurückgetretener Bundesminister, zum Live-Disput über Fragen der Landespolitik gebeten, ruft unverhofft zu einer Spendenaktion »Osterhase« auf (»Jedem Kleinkind zu Ostern sein Laufställchen!«). Oder Konrad Adenauer, aller Amtsmüdigkeit ledig, mahnt im Spätherbst 1963 elektronisch: »Helft den hungrigen Vögeln!« – die Folgen wären absehbar. Nein, der Westdeutsche Rundfunk wird hart bleiben müssen, und auch Mainz dürfte, wenn seine erste Gier nach leichter Labe verantwortungsbewußter Überlegung gewichen ist, einzig den 110 Mitarbeitern des Play-Onkels die Arbeitgeberhand reichen. Und die Insassen deutschsprachiger Altersasyle, sie werden, sobald Wien und Köln mit der Spendenverteilung zu Rande gekommen sind, alles und jedes, was da auf der Bildfläche gaukelt, dankbar bestaunen können – nur nicht, o unerforschliches Fatum, den wohltätigen Lou. Merke: »Die Wohlthat, übel angewandt, wird Übelthat gar wohl genannt« (Friedrich von Logau: Deutsche Sinn-Getichte).

Kookie-Look (14/1963) Wanderer, läuft dir ein Fernsehdirektor über den Weg, so frage ihn: Wen sieht das deutsche TV-Volk am liebsten? – Er wird die Last seiner Verantwortung absetzen, sich nachdenklich den Schweiß der Edlen wischen und antworten: Kulenkampff. Oder: Professor Grzimek. Vielleicht sogar: Heinz Maegerlein. Je nach Gemütslage und Landstrich. Du aber wirst ihm entgegenhöhnen: Der deutsche Fernsehstar Nummer eins heißt »Kookie«! Kookie bekam unlängst aufgrund einer Leserbefragung der Teenager-Zeitschrift Bravo (Auflage: 600 000) den »Großen Otto« in Gold. Kookie erzielt auch bei regelmäßigen Repräsentativ-Umfragen (»Infratest«) einen hohen Durchschnitts-Index. Kookies wegen mußte die WDR-Filmabteilung einen eignen Autogrammdienst einrichten. Kookie bereicherte die hiesige Oberbekleidung um den »KookieLook« Firma C.&A. Edward Brenninkmeyer: »Endlich ist er da, der neue, junge Kleiderstil aus den USA!«

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Kookie, Jahrgang 1933, ist Adressat eines Schlagerliedes, das die Mikrophonschaffende Gitta Lind, Jahrgang 1925, für Telefunken zelebrierte: »Wo gibt es einen Mann, der so lacht wie Kookie ... ach, Kookie, bleib doch immer hier!« Erklärung: Kookie, mit bürgerlichem Namen Edward Byrnes, ist eine in stetem Stimmwechsel befindliche Randerscheinung der amerikanischen Krimi-Serie 77 Sunset Strip (Warner Bros.); teils flirtender Tankstellenstift, teils Lauf- und Raufbursche der Privatdetektei »Spencer and Bailey«, Los Angeles. Seine Aufgabe besteht darin, die Pausen zwischen den detektivischen Bravourleistungen seiner Chefs – dargestellt von Efrem Zimbalist jr., Roger Smith und Robert Logan – mit wortmächtiger Salopperie zu füllen (»Hallo Puppe, wann darf ich deinen Kühlschrank reparieren?«) und überhaupt die Jargon-Bestände der nachwachsenden Generation à jour zu halten. Dank 25 Filmerfolgen und der Bemühung des deutschen Dialogautors Michael Z. Thomas, Verfasser von Jugendbüchern über Marco Polo, Alexander von Humboldt und Albert Schweitzer, weiß nun auch unser Tele-Jungvolk, daß es unter einem »Huhn im Fell« eine Dame im Pelzmantel und unter einem »gutbereiften Kater« den Inhaber eines Rolls Royce zu verstehen hat. Was es nicht weiß: Der Original-Kookie besitzt zwar eine minorenne Stimmlage, enträt aber der hierorts so gerühmten Mutations-Kiekser. Sie sind eine Kehlkopf-Kaprice des Schauspielers Hans Clarin. Jedenfalls: Auch wir haben endlich einen autogrammwürdigen, von Kemenaten-Wänden herablächelnden TV-Star. Wie Leinwand-Lieblinge entstehen, ist bekannt: Durch Mehrheitsbeschluß einer Aktiengesellschaft (Liz Taylor), durch intimsphärische Wechselfälle, durch den Status einer Ex-Kaiserin, durch ständig zur Schau getragene Virginität (Doris Day) oder deren Gegenteil (Brigitte Bardot). Mag sein, auch durch mimische Begabung. In allen Fällen jedoch bedarf es, außer Mühen und Kosten, vieler Tonnen Druckerschwärze, um aus Schattengewächsen Idole zu machen. Anders bei Kookie. Er wurde hierzulande nicht »gemacht«. Nicht von der Presse und schon gar nicht vom Fernsehen. Im Gegenteil: Sein Stern durfte bislang nur einmal im Monat in den Äther strahlen. (In den USA erscheint die Reihe jeden Freitag.) Schlimmer, unsere Programmplaner, denen der Jugend Schutz vor verbaler Keckheit Gebot ist, haben 77 Sunset Strip dorthin verbannt, wo die Sehbeteiligung, laut Umfragen, nur noch knappe 45 Prozent beträgt: vor die Spätausgabe der Tagesschau. Dennoch steht Kookie obenan.

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»Das liegt eben daran, daß wir so gut eingekauft haben«, sagt nun sicherlich die Direktion. In der Tat, das hat sie. Und wenn sie liest, daß der zweite BravoPreisträger Bob Fuller heißt und Held der – im Nachmittagsprogramm gezeigten – Western-Reihe Am Fuß der blauen Berge ist, wird sie wohl noch zufriedener dreinblicken. Wäre Telemann eine TV-Führungskraft und sähe er, daß bei uns die Fernseh-Favoriten statt aus dem teuren Saatgut öffentlichrechtlicher Programm-Ökonomie aus vergleichsweise wohlfeilen Import-Sämereien sprießen – sein Blick wäre eher gedankenvoll. Merke: »Nichts geschieht von selbst, sondern alles infolge eines Grundes ...« (Leukippos von Milet, 5. Jahrhundert v. Chr.).

S c hm u s P r i m ae N o c ti s ( 2 2 / 1 9 63 ) Vor zwei Jahren hatte er sich auf Kinoleinwände und Boulevardbühnen zurückgezogen, in Sorge, des Zuschauers Denkbild von einem TVAlleinunterhalter könnte infolge Abnutzung Schaden erleiden. Nun erscheint er uns gleich doppelt: als Anwalt ehelichen Einklangs im Ersten (Die Sonntagsrichter) und als »Hochzeitsbitter« im Zweiten Fernsehen (Ihre Vermählung geben bekannt, 17. Mai). Warum Hans-Joachim Kulenkampff, 42, nachdem schon sein Wiederauftritt bei der ARD nicht jenen Freudentaumel ausgelöst hatte, der einem lange Vermißten zusteht, nun auch noch das Mainzer Netzwerk frequentieren will, erläuterte er vor allem Volke: »Ich habe mir gesagt: Jede Minute heiraten 20 Paare ... und das ist etwas, was das Fernsehen nie überträgt. Dinge, die viel, viel öfter noch geschehen, von Pferderennen angefangen bis – ich weiß nicht; jede Sportveranstaltung also, wohin Sie wollen, alles wird im Fernsehen übertragen. Nur eine Ehe, das hat noch niemand übertragen.« Zu dieser Erstmaligkeit – Anreiz genug für einen Fernsehschaffenden von Format, das Füllhorn seines Spontan-Witzes in einen zweiten Kanal zu entleeren – kam eine technische Premiere: Ihre Vermählung geben bekannt war die erste deutsche Live-Sendung, die nicht von einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, sondern von einer Privatgesellschaft produziert wurde. Die Firma Intertel stellte das Atelier in der Münchner Tulbekstraße, finanzierte die Quiz-Belohnungen, ließ von einem Reporter der Münchner Abendzeitung ein telegenes Brautpaar ausfindig machen, lud die Hochzeitsgäste. Mainz stellte nur die Übertragungswagen. Das Ergebnis (»Wir feiern jetzt hier richtig eine echte, wirkliche Hochzeit«) erklomm seinen ersten Höhepunkt mit der vorgefilmten Prä-

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sentation des Bräutigams Ernst Räpple, Ski- und Tennislehrer, und der Braut Astrid Reder, Putzmacherin, beide zu München wohnhaft. Herr Räpple wurde beim Tennis ertappt und dezent in ein IntimGespräch verwickelt: »Man muß nicht unbedingt Tennis spielen können; das ist nicht das Wichtigste. Apropos das Wichtigste – reden wir mal von Ihrer Braut.« Fräulein Reder erlebte Kulis Kunst der rhetorischen Überleitung in ihrem Hutsalon: »Wir wollen jetzt nicht von Hüten reden ... sondern von der Sympathie, die alle Frauen haben für Hauben, unter die sie zu kommen gedenken.« Darauf folgte, ebenfalls in bewegtem und bewegendem Bild, die katholische Trauungs-Zeremonie (Kulenkampff: »Immer wieder aufregend, so eine Hochzeit«). Der Rest war fröhliches Live-Lärmen im Studio. Wer in aller Schaugeschäftswelt hätte es sich auch nehmen lassen, auf einer Hutmacher-Hochzeit zu tanzen? Anneliese Rothenberger, Sacha Distel, Helmut Zacharias, die Ansagerin Cordelia des schweizerischen Fernsehens – alle kamen sie, von den 60 »echten« Gästen des Brautpaars ganz zu schweigen. Und wer, wie Maurice Chevalier, verhindert war, schickte wenigstens ein Glückwunsch-Tonband. Aber die Krone des Brautabends war unbestreitbar Hans-Joachim Kulenkampff, der Meister des jähen Einfalls. Sagte jemand »Davos« – gleich spann Kuli fort: »Da, wo’s schön ist«, wurde ein »Madison« intoniert, fiel ihm, im Gespräch mit den Schwiegermüttern, ein Wortspiel bei, das den Namen des Tanzes schelmisch mit erhofften Oma-Freuden verquickte (»Mädi – Sohn«). Und half der Geiger Zacharias eine Harfe in Stellung bringen, hieß er ihn übermütig einen »Harfenarbeiter«. Sinnsprüche und Lebensweisheiten entkullerten ihm wie Murmeln: »Geteilte Suppe ist halbes Leid«, »Reden ist Silber, Geigen ist Gold« oder »Die Frauen sind ja in ihrer Art das beste, was wir haben.« Und, als Sportlehrer Räpple die Lösung einer Quiz-Aufgabe niederkritzelte: »Hätte Schriftsteller werden sollen. Hemingway hat auch im Stehen geschrieben und mit der Hand. Sie erinnern mich an Hemingway.« Wer sich nicht satthören konnte, der sei getrost: Kuli-Hochzeitsnächte sind in Monats-Abständen bis einschließlich November geplant. Das »Ius primae noctis«, mittelalterliches Anrecht des Potentaten auf die Brautnacht einer neuvermählten Hörigen, ist in zeitüblicher Umformung auf den wahren Souverän, das TV-Volk, übergegangen. Zum 21. Juni sind die Berliner aufgerufen, das »Fernseh-Hochzeitspaar Nummer zwei« zu stellen. Letzter Einsendetermin für Bewerbungen war der 24. Mai.

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Am 22. Mai fragte ich den Intertel-Produktionsleiter Mohrbauer, wieviel Zuschriften er – grob nach Waschkörben geschätzt – bekommen habe. Antwort: »Nur zwei Briefe. Leider.« Vermutlich gibt es immer noch zu viele Leute, die das Heiraten für eine Privatsache halten. Merke: »Große Ereignisse werfen ihre Flaschen voraus, große Flaschen schaffen die Ereignisse« (Hochzeitsbitter Kulenkampff).

S p a r f l am m e e m p o r ( 4 5 / 1 9 6 3 ) An seine erste Begegnung mit Heinz Maegerlein wird sich Telemann noch im Austragsstüberl erinnern. Damals, im Jahre 1954, als das deutsche Fernsehen über wenig Zuschauer und seine Kritiker über viele wohlklingende Fachvokabeln – darunter das Wort »telegen« – verfügten, machte der heutige AllsportKommentator und Fragemeister (Hätten Sie’s gewußt?) ein verlorenes Betrachterhäuflein mit den Sehenswürdigkeiten einer Düsseldorfer Jagdausstellung vertraut; hier die Verhaltensweise des Auerhuhns, dort den waidmännischen Wert eines Sechzehnenders biederäugig erläuternd. Und Telemann, durch und durch noch TV-Neuling, rätselte: Wenn »telegen« soviel wie »für das Auftreten im Fernsehen geeignet« bedeutet, mithin ein Feengeschenk meint, dessen kein Fernsehschaffender füglich entraten sollte – wer hat ausgerechnet diesen Mann zu aktiver Television ermuntert? Heute ahnt er: Es muß jemand gewesen sein, der, wäre er beauftragt, anläßlich eines Profumo-Filmvorhabens die Rolle der Christine Keeler zu besetzen, sämtliche Jahrmarktsschaubuden nach einer Dame ohne Unterleib absuchen würde. Indes, die ständig sich mehrende Zuschauerschaft lachte Telemanns erstem und all seinen weiteren Eindrücken hohn. Mit ihrer Zahl wuchs zugleich ihre Vorliebe für Maegerlein den Quizmaster, Maegerlein den olympischen Boten, Maegerlein den Deuter sowohl des Sommer- als auch des Wintersportgeschehens und schließlich für Maegerlein den Halbjahresbilanzzieher, als welcher er am 27. Oktober zum zwölften Male hervortrat, den Abstand zu messen, der zwischen dem hehren Hochziel der Leibesertüchtigung und schnöder Realität gottseisgeklagt noch immer klafft (Zwischen Sommer und Winter, eine Plauderei über den Sport, Bayrischer Rundfunk). Hart geißelte er die »mangelnde Achtung vor der sportlichen Leistung« sowie jene 420 von 500 getesteten »jungen Männern unseres Volkes«, die »nicht einmal einen einzigen Klimmzug am Reck zustande bringen«.

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Ernst war sein Pädagogenblick, als er dem Skisportler Georg Thoma bekannte: »Ich bin gar nicht ganz glücklich darüber gewesen, daß Sie alle diese großen Konkurrenzen des letzten Winters gewonnen haben.« Und unüberhörbare Mißbilligung schwang in der Frage an den Beinahe-Weltmeister im Eiskunstlauf Manfred Schnelldorfer: »Schaulaufen ... ist das eigentlich so ganz die richtige Vorbereitung für einen OlympiaTeilnehmer?« Am unerbittlichsten jedoch befragte Sport-Inquisitor Maegerlein die Tennis-Hoffnung Helga Schultze aus Hanau: »Fräulein Schultze ... Sie haben fast immer aus dem Koffer gelebt, und Sie haben ein sehr unstetes Leben geführt. Ich glaube, sehr viel waren Sie nicht zu Hause in Hanau?« Helga Schultze: »Sie sagen das mit einem leichten Unterton in der Stimme ...« Maegerlein: »Ich möchte Sie fragen, gefällt Ihnen dieses unstete Leben?« Helga Schultze: »Glauben Sie, man wird sehr oberflächlich?« »So deutlich wollte ich’s nicht sagen«, schäkerte der Plauderer zwischen Sommer und Winter und fuhr fort zu inquirieren: »Bereiten Sie Ihre Reisen vor? Ich kenne viele, drum bin ich so skeptisch, die also praktisch doch in erster Linie die Tennisstadien und die Klubhäuser kennen ...« Worauf das Fräulein Schultze sich geschickt exkulpierte: Sie lese vor Antritt einer jeden Tennis-Exkursion ein Buch über das zu bereisende Land. Zum Schluß kündete der ARD-Leibeserzieher, hinterrücks von den Lohen eines offenen Kamins beheizt: »Wirklich arm in der Welt sind ja nur die Blasierten, die zu keinem wirklichen Erleben mehr Fähigen – ganz gleich, aus welchen Bezirken es kommt ... Nur wer noch glühen kann, lebt!« Und plötzlich wurde Telemann inne, was es mit Maegerleins vielstrapaziertem Tele-Genie in Wahrheit für eine Bewandtnis hat: eine magische. Zwischen den Jahreszeiten ist es, wie jedermann weiß, nirgendwo geheuer. Böse Dämonen, arglistige Kobolde, der schreckliche Sonnenwendmann, auch »Wilder Jäger« genannt, durchgeistern die Lüfte – weshalb unsere Germanen-Ahnen eine Menge kultischer Vorkehrungen zu treffen hatten. Heute bedarf es keiner Sonnenfestfeuer und keines beschwörenden Mummenschanzes mehr. Man bestellt, auf daß aller Spuk verschwinde, den Heinz Maegerlein vor die TV-Kamera.

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Da steht er dann, vom Sardellen-Scheitel bis zur Turnvater-Sohle eine einzige Absage an die Mächte der Finsternis, und glüht und glüht und glüht und glüht und glüht und glüht und glüht.

H i n te r d e r N a c h r i c h t ( 3 6 / 1 9 64 ) Das sächliche Geschlecht, auch Neutrum geheißen, kommt vor in der Grammatik, bei staatenbildenden Insekten und in den Tagesschauen beider deutscher Televisionen. In letzterem Bereich verfügt das Neutrum – im Fachjargon: Nachrichtensprecher – über jedwedes Merkmal der Mannheit, erhält Stöße von Verehrerinnenpost, ja, darf mit Fug als maskulinisches Musterbild gelten. Seine Sächlichkeit ist rein institutioneller Natur. Ob ihr Neuigkeitenkünder auch wirklich Neutrum genug sei, fragen sich hin und wieder die TV-Anstalten, von ihrer Verpflichtung zur Objektivität um den Schlaf gebracht. Das Mainzer Fernsehen tat ein übriges und ließ das Allensbacher Institut zweimal Umfrage halten, ob die Sprecher beider Netzwerke einen »politischen Eindruck« hinterließen; wenn ja, welchen. Und siehe, beide Male hielt die Mehrheit der Befragten, soweit sie präzise Vermutungen äußerten, speziell die ARD-Tagesschau-Sprecher Köpcke und Ruhmland für regierungsfromme CDU-Leute. Ich besuchte den Chefsprecher Köpcke zwischen der TagesschauFrüh- und -Spätausgabe in seiner Garderobe und erkundigte mich: »Haben Sie eine politische Meinung?« Der Nachrichtenmittler, maßvoll geschminkt und formschön gescheitelt, nickte vorsichtig mit dem Kopf: »Natürlich habe ich eine. Aber es gehört zu meiner Rolle, diese Meinung hinter der Nachricht zurücktreten zu lassen. Sehen Sie, ein Schauspieler erweckt den Text durch seine Persönlichkeit zum Leben. Wir Nachrichtensprecher müssen versuchen, unser Ich soweit als möglich auszuschalten. Wir sind die prominentesten Anonymen in Deutschland.« Karl-Heinz Köpcke, 41, verheiratet, bringt je Arbeitstag sieben Stunden im Studio Lokstedt zu. In dieser Spanne eingeschlossen sind die Wartezeit, das Schminken, das Einleuchten sowie Probelesungen der von Nachrichten-Redakteuren verfaßten Texte. Reine Sprechzeit etwa 20 Minuten. Vor seiner dreijährigen Sprecher-Lehrzeit bei Radio Bremen wollte er Kameramann, ersatzweise Zahnarzt werden. Nun ist er – seit 1959 beim Hamburger Fernsehen – Senior seines Metiers. Monatsgehalt: 2000 Mark. Wir unterhalten uns über mögliche Gefahren für öffentlich-rechtliche Objektivität: Schon ein Heben der Stimme, ein mimisches Muskelspiel,

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ein Zögern vor Nennung eines Titels könne, weiß Köpcke, bundesweites Ungemach zeitigen. Unlängst, so verrät er mir und bittet um strengste Diskretion, unlängst – »es war das einzige Mal« – habe er beim Verlesen einer Regierungsverlautbarung eigenmächtig ein Füllwort betont. Er schildert das Delikt ausführlich, und noch im nachhinein malt sich der Schreck eines Reiters über den Bodensee auf seinen Zügen. Darf ein Nachrichtensprecher husten oder niesen, darf er sich kratzen, wenn’s ihn an schicklicher Stelle juckt? Katarrhalische Explosionen, versichert Karl-Heinz Köpcke, kommen angesichts der Kamera nicht vor, sie werden, wie beim Bühnenschauspieler, »unterbewußt verdrängt«. Kratzen darf er sich. »Ich überlege mir: Soll ich? Und dann tue ich’s einfach. Schlimmste aller Eventualitäten: wenn der Sprecher infolge einer technischen Panne, etwa wenn ein Filmbericht falsch zusammengeklebt wurde, improvisieren muß. »Das geht nur, wenn man gut in Form ist. Wir sind so überperfektioniert, daß Unvorhergesehenes uns umschmeißt.« Schließlich kommen wir auf die Kleiderordnung zu reden. Resultat: Es gibt keine. Selbst das langlebige Pfeffer-und-Salz-Jackett des Kollegen Siegmar Ruhmland ist wider alles Dafürhalten keine öffentliche Einrichtung zur besseren Unterscheidung der Person, sondern entspringt privaten Geschmacksimpulsen. Glencheck- und Pepita-Anzüge sind verpönt, weil sie flimmern. Im übrigen herrscht keinerlei Kostümzwang. »Ich habe einen Krawattenfundus, wie ihn jeder normale Mann besitzt.« »Gibt es für den jähen Trauerfall einen schwarzen Anstalts-Binder?« »Nein. Wenn nötig, leihen wir uns einen aus. Er darf sogar dunkelrot sein, das merkt man nicht auf dem Bildschirm.« »Wie erklären Sie es sich, daß ein Großteil der Zuschauer Sie, laut Umfragen, für CDU-hörig hält?« frage ich Herrn Köpcke und bitte ihn, im Geiste zu prüfen, ob nicht diese oder jene Eigentümlichkeit seiner Physiognomie oder Vortragsweise zu solcher Massen-Mutmaßung geführt haben könnte. »Wahrscheinlich«, meint der Nachrichtensprecher gedankenvoll, »liegt es daran, daß die Tagesschau Mitteilungen der Regierung immer an erster Stelle bringt.«

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NAMENSREGISTER Adameck, Heinz 212 Adenauer, Konrad 81, 92, 93, 131, 133, 180f., 184, 192, 195, 222, 244, 247 Arcy, Jean d’ 78 Arnold, Hans 123, 220 Augstein, Rudolf 11, 13, 19, 21, 23, 191, 193 Bardot, Brigitte 65, 77, 131, 248 Barsig, Franz 140, 206f. Bauer, Josef Martin 49 Bausch, Hans 28f., 71, 79, 81, 89, 123 Bauwens, Peco 210 Beckmann, Eberhard 206f., 243 Benscher, Fritz 109 Birgel, Willy 160 Bischoff, Friedrich 81 Bismarck, Klaus von 28, 89 Boenisch, Peter 28, 191 Brandt, Willy 140, 197f., 222 Brecht, Bertolt 170f., 228 Brentano, Heinrich von 140, 195, 222 Burg, Lou van 20, 26, 28, 66, 131, 165, 193, 236, 245f. Chruschtschow, Nikita 66, 133, 191, 200ff. (Chruschtschew), 213f., 221 Churchill, Winston 53 Como, Perry 146f., 161f. Dahl, Arnim 173 Daume, Willi 85f. Day, Robin 189 Dehmel, Klaus 227 Dietrich, Wolf 42, 44 Dufhues, Josef Hermann 75, 202f. Dumont, Rudolf 105 Durbridge, Francis 150f., 174 Eckert, Gerhard 55f., 142 Edwards, Ralph 152 Eichmann, Adolf 124

Eisenhower, Dwight D. 35f., 42f., 46, 184, 214 Elisabeth II 52 Engels, Friedrich 215 Erhard, Ludwig 133, 139, 195, 198 Erler, Fritz 195, 229 Ernst, Wolfgang 168f. Fischer, Heinrich 109 Franke, Brigitte 28, 246 Frankenfeld, Peter 28, 122, 124, 151f., 231, 240f., 246 Friedrichs, Hans-Joachim 42, 52, 54 Fuchsberger, Joachim 121, 160f., 165 Gaulle, Charles de 35, 59, 139, 221 Gerstenmaier, Eugen 188, 190, 195f., 198, 222 Gertberg, Hans 31, 36 Goebbels, Joseph 126 Graf, Jürgen 64 Grahlmann, Ulrich 94 Grünefeldt, Hans-Otto 26, 76 Grzimek, Bernhard 20, 28, 93, 119, 130, 132, 232, 242f., 247 Hammerschmidt, Helmut 191 Hartmann, Hanns 75f., 103, 202f. Hegele, Günter 26, 28 Heinrichs, Heribert 129f. Hensch, Friedel 26 Herberger, Sepp 208 Hess, Werner 122 Hilpert, Walter 79, 81f., 202f. Höcherl, Hermann 76, 140, 192, 195 Höfer, Werner 28, 97, 132, 148, 187, 191f., 215, 220f. Hoff, Hannes 246 Holzamer, Karl 28, 30, 89f., 95f. Howland, Chris 29, 61f. Hubalek, Claus 170 Huber, Heinz 125 Janssen, Herbert 171 Juhnke, Harald 109 Kanka, Karl 113

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MIT TELEMANN DURCH DIE DEUTSCHE FERNSEHGESCHICHTE Kauka, Rudolf 111f. Kellner, Lonny 240 Kennedy, John F. 138f., 179, 184, 221 Kirst, Hans Hellmut 219 Koch, Thilo 28, 132, 139, 199, 211ff, 218 Kogon, Eugen 33, 63f., 129 Köhler, Willy 109, 111f. Kolarz, Henry 173f. Köpcke, Karl-Heinz 138, 197, 232, 253f. Koppel, Walter 50f. Körner, Peter René 173 Kortner, Fritz 79ff., 170 Koss, Irene 27, 30, 45f., 197, 233, 236f. Kraus, Peter 132 Krollpfeiffer, Gerd [Fernsehkritiker] 24 Kuby, Erich 64 Kühn, Rudolf 57f., 130 Kulenkampff, Hans-Joachim 28, 71, 93, 119, 200, 206ff., 231, 238ff. 246f., 249ff. Lange, Hans-Joachim 28, 71, 79, 81, 94, 119, 190, 195, 206 Lembke, Robert 41, 107, 120, 122f., 209, 226 Lemmer, Ernst 206, 221 Lenin, Wladimir Iljitsch 48 Leonhard, Wolfgang 215f., 221, 226 Lincke, Günter 23, 204f., 211f. Lindgren, Astrid 172 Lorentz, Kay 10, 76 Lowitz, Siegfried 174 Lübke, Heinrich 25, 134 Macmillan, Maurice Harold 44, 181, 221 Maegerlein, Heinz 18, 23, 28ff., 106, 119, 165, 170, 231, 233, 247, 251f. Mahlo, Klaus 69, 187f. Mai, Franz Wilhelm 89 Manescul, Ursula von 27 Manstein, Mady 118, 236 Margaret, Prinzessin 52ff. Marx, Karl 215f., 226 Mauch, Kurt 187f. Mauriac, François 24f., 79 Mende, Erich 140, 162, 198, 230 Menge, Adrian Alexander 107 Michel, Rudi 67

Millowitsch, Willy 28, 84, 123, 131, 158, 192 Mohr, Karl 68f., 89, 120 Monkhouse, Bob 61 Münster, Clemens 28, 30, 71, 75f., 79ff., 101, 105, 108, 110, 117, 203 Neven-du Mont, Jürgen 215f., 229f. Nixon, Richard M. 179, 183f. Oeller, Helmut 219 Olden, John 39, 151 Ollenhauer, Erich 39, 207, 222 Paczensky, Gert von 180, 193f., 221 Pertramer, Elfie 171 Pfleghar, Michael 68 Pleister, Werner 22, 141f., 146 Prager, Gerhard 24 Proske, Rüdiger 36, 64, 195 Rabe, Siegfried 111f. Radke, Rudolf 133 Rasner, Will 196, 230 Reiche, Hans-Joachim 115, 133, 185 Reichert, Willy 93 Rezzori, Gregor von 241 Richert, Jochen 28, 45f. Roesen, Anton 112 Rohlinger, Rudolf 139 Rökk, Marika 90, 169 Roland, Jürgen 107, 167, 170 Routh, Jonathan 61 Ruge, Gerd 125, 203, 213f. Ruhmland, Siegmar 253f. Sauer, Friedrich 161 Schiller, Friedrich 124, 169, 204, 211, 224, 243 Schneider, Romy 71, 79, 83 Scholl-Latour, Peter 139 Schröder, Gerhard 61, 119, 194, 225 Schweikart, Hans 145 Simon, Klaus 24 Soeder, Michael 162f. Sommerkamp, August Detlev 100, 138 Sparbier, Walter 240f. Spengler, Oswald 48, 125 Springer, Axel 91f., 94, 180, 194 Stählin, D. Wilhelm 236 Stankovski, Ernst 160ff. Steigner, Walter 89, 123 Strauß, Franz Josef 43, 80, 177, 178, 185, 192, 195, 198, 218, 241 Svoboda, Martin 37 Tappert, Horst 174

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NAMENSREGISTER Trenker, Luis 170, 173 Uhlen, Gisela 64ff. Ulbricht, Walter 136, 192, 199, 205, 207, 216, 226 Umgelter, Fritz 31, 50 Wagenführ, Kurt 17f., 23f. Walden, Matthias 221, 224, 227f. Wallenreiter, Christian 28ff., 87f., 123 Wells, H.G. 30, 155f. Wessel, Kurt 28, 46, 64, 90, 122 Wilhelm, Kurt 23, 28, 146, 154 Wilmenrod, Clemens 28, 147, 232, 234f. Wurmser, Alfred Gaston 187 Young, Robert 109 Zacharias, Helmut 250 Zahn, Peter von 28, 30, 127, 213f., 232, 244f. Zielstorff, Ilse 132 Zimmermann, Herbert 68 Zimnik, Reiner 117

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken Juni 2006, 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4

Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften Juni 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-499-9

Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften Juni 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-498-0

Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch Juni 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-481-6

Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft April 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-430-1

Annette Runte Über die Grenze Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst April 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-422-0

Michael Leicht Wie Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte Eine kritische Bildbetrachtung sozialdokumentarischer Fotografie April 2006, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-436-0

Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater April 2006, ca. 440 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 3-89942-461-1

Volker Pantenburg Film als Theorie Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard April 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-440-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Meike Becker-Adden Nahtstellen Strukturelle Analogien der »Kreisleriana« von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann April 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-472-7

Peter Widmer Metamorphosen des Signifikanten Zur Bedeutung des Körperbilds für die Realität des Subjekts April 2006, ca. 150 Seiten, kart., ca. 17,80 €, ISBN: 3-89942-467-0

Birgit Käufer Die Obsession der Puppe in der Fotografie Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman April 2006, 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-501-4

Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 April 2006, ca. 420 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 3-89942-404-2

Markus Fellner »psycho movie« Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm April 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-471-9

Jürgen Straub, Carlos Kölbl, Doris Weidemann, Barbara Zielke (eds.) Pursuit of Meaning Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology März 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 30,00 €, ISBN: 3-89942-234-1

Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht

Andi Schoon Die Ordnung der Klänge Das Wechselspiel der Künste vom Bauhaus zum Black Mountain College

April 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-375-5

März 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-450-6

Achim Geisenhanslüke, Christian Steltz (Hg.) Unfinished Business Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften

Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (Hg.) Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften

April 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-437-9

März 2006, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-446-8

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Martin Heller, Lutz Liffers, Ulrike Osten Bremer Weltspiel Stadt und Kultur. Ein Modell

Sebastian Gießmann Netze und Netzwerke Archäologie einer Kulturtechnik, 1740-1840

Februar 2006, 240 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-485-9

Januar 2006, 120 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-438-7

Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.) »Intellektuelle Anschauung« Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen

Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath (Hg.) Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse

Februar 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-354-2

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Februar 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-420-4

Andreas Jahn-Sudmann Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film Januar 2006, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-401-8

Peter Glotz, Stefan Bertschi, Chris Locke (Hg.) Daumenkultur Das Mobiltelefon in der Gesellschaft Übersetzt von Henning Thies Februar 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-473-5

Januar 2006, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-466-2

Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen Januar 2006, ca. 130 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0

Bernard Robben Der Computer als Medium Eine transdisziplinäre Theorie Januar 2006, 316 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-429-8

Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock Januar 2006, 262 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-327-5

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