Deutsche Versgeschichte mit Einschluss des altenglischen und altnordischen Stabreimverses. Band 1 [1, 2. Auflage] 3110001748, 9783110001747

Band 1, Teil I und II: Einführendes. Grundbegriffe der Verslehre. Der altgermanische Vers. Zweite, unveränderte Auflag

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German Pages IV+314 [324] Year 1956

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Deutsche Versgeschichte mit Einschluss des altenglischen und altnordischen Stabreimverses. Band 1 [1, 2. Auflage]
 3110001748,  9783110001747

Table of contents :
Teil I. Einführendes. Grundbegriffe der Verslehre
1. Die Zeiträume der deutschen Versgeschichte (§ 1-4) 1
2. Aufgaben der Verslehre (§ 5-20) 4
3. Der Rhythmus (§ 21-29) 15
4. Die Bestandteile des metrischen Rhythmus: A. Der metrische Rahmen (§ 30-40) 22
5. Die Bestandteile des metrischen Rhythmus: B. Die Versfüllung (§ 41-54) 31
6. Die metrische Form und der Vortrag (§ 55-60) 42
7. Die deutsche Sprache als Versstoff (§ 61-87) 51
8. Wägender und messender Versbau. Silbenzählung (§ 88-103) 75
Teil II. Der altgermanische Vers
9. Quellen (§ 104-113) 86
10. Der Stabreim (§ 114-134) 92
11. Stabreim und Satzton (§ 135-152) 105
12. Deutungen des Rhythmus (§ 153-174) 116
13. Die zwei Langtakte (§ 175-186) 134
14. Die Füllung der Versglieder (§ 187—219) 144
15. Die Verstypen (§ 220-270) 167
16. Das epische Langzeilenmaß im Norden (§271-313) 201
17. Der nordische Spruchton (§ 314-332) 230
18. Gruppenbau (§ 333-367) 244
19. Altgermanischer Versstil (§ 368-379) 266
20. Zur Vorgeschichte des Stabreimverses (§ 380-389) 276
21. Die Skaldenkunst (§ 390-428) 284

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DEUTSCHE VERSGESCHICHTE 1

GRUNDRISS DER

GERMANISCHEN PHILOLOGIE UNTER MITWIRKUNG

ZAHLREICHER FACHGELEHRTER

BEGRÜNDET

VON

HERMANN P A U L W E I L . ORD. PROFESSOR DER D E U T S C H E N P H I L O L O G I E A K D E R U N I V E R S I T Ä T

MÜNCHEN

8/1

BERLIN

WALTER DE GRUYTER & CO. VORM. G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG. VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 1956

DEUTSCHE VERSGESCHICHTE MIT EINSCHLUSS D E S ALTENGLISCHEN UND ALTNORDISCHEN STABREIM VERS ES DARGESTEI.LT VON

ANDREAS HEUSLER

E R S T E R BAND TEIL I UND II: E I N F Ü H R E N D E S ; G R U N D B E G R I F F E DER DER A L T G E R M A N I S C H E

ZWEITE, U N V E R Ä N D E R T E

VERSLEHRE

VERS

AUFLAGE

BERLIN

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORM. G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG. VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 1956

Archiv-Nr. 43 05 56

Printed in Germany

Alle Redite des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Druck: Thormann & Goetsdi, Berlin-Neukölln

III

INHALT.

INHALT DES ERSTEN BANDES. Teil I. E i n f ü h r e n d e s .

G r u n d b e g r i f f e der V e r s l e h r e . Seite

1. A b s c h n i t t : D i e Z e i t r ä u m e d e r d e u t s c h e n V e r s g e s c h i c h t e ( § 1 - 4 )

. . .

I

2.

,,

A u f g a b e n der V e r s l e h r e (§ 5-20)

3.

,,

Der Rhythmus (§21-29)

4.

,,

D i e B e s t a n d t e i l e des m e t r i s c h e n R h y t h m u s : A . D e r m e t r i s c h e R a h m e n ( § 30-40)

5.

,,

D i e B e s t a n d t e i l e des m e t r i s c h e n R h y t h m u s :

6.



D i e m e t r i s c h e F o r m u n d der V o r t r a g (§ 55-60)

7.

,,

D i e d e u t s c h e S p r a c h e als V e r s s t o f f ( § 6 1 - 8 7 )

51

8.

,,

W ä g e n d e r u n d m e s s e n d e r V e r s b a u . S i l b e n z ä h l u n g ( § 88-103)

75

4 15

füllung (§ 41-54)

Teil II. 9. A b s c h n i t t :

22

B . Die Vers31 42

D e r a l t g e r m a n i s c h e Vers.

Quellen ( § 104-113)

86

10.

,,

D e r S t a b r e i m (§ 114-134)

11.



S t a b r e i m und S a t z t o n (§ 135-152)

92 105

12.

,,

D e u t u n g e n des R h y t h m u s (§ 153-174)

116

13.

,,

D i e zwei L a n g t a k t e (§ 175-186)

134

14.

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D i e F ü l l u n g der Versglieder (§ 187—219)

144

15.

,,

D i e V e r s t y p e n (§ 220-270)

16.

,,

Das

17.



D e r nordische S p r u c h t o n (§ 314-332)

18.

,,

G r u p p e n b a u ( § 333-367)

244

19.

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A l t g e r m a n i s c h e r V e r s s t i l (§ 368-379)

266

20.

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Zur V o r g e s c h i c h t e des S t a b r e i m v e r s e s ( § 380-389)

21.

,.

D i e S k a l d e n k u n s t (§390-428)

epische L a n g z e i l e n m a ß

167 im Norden

(§271-313) .

. . 201 230

. . . .

276 284

D E R ZEITRAUM DES

STABREIMVERSES.

I

T E I L I:

Einführendes.

Grundbegriffe der Verslehre. TäJf

«ElSiN

0

PT&M02.

I. Abschnitt: Die Zeiträume der deutschen Versgeschichte. I. Deutsche Verse kennen wir seit dem achten Jahrhundert. Am Anfang steht eine Verskunst, die der Stabreim auszeichnet. Der stabreimende Vers, dürfen wir schließen, geht in urgermanische Zeit hinauf; er ist die älteste uns erkennbare Dichtform der germanischen Familie. Den urtümlichen niederen Gattungen, wovon Tacitus um das Jahr 100 einen Teil bezeugt, schreiben wir diese Form zu; die höheren Dichtarten, die in der Völkerwanderung entsprangen, bauten darauf weiter. Einzelne stabende Verse in annähernd urgermanischer Lautung haben wir in nordischen Runeninschriften. Der Stabreimvers war jahrhundertelang gemeingermanisch. In der Verskunst tritt die Verwandtschaft der drei Hauptliteraturen klar zutage, der deutschen, der englischen, der nordischen. Dieser gemeinsame Versbau hat auch außer dem Stabreim viel Eigenart; er hebt sich ab sowohl von den außergermanischen Formen wie von den späteren Arten der Germanen selbst. Wir nennen ihn den altgermanischen. Der erste Zeitraum der deutschen Versgeschichte ist der des stabreimenden oder altgermanischen Verses. Schon im 9. Jahrhundert geht dieser Zeitraum in Deutschland zu Ende, und es beginnt die Herrschaft des Reimverses. In England und in Skandinavien hat sich der altgermanische Vers länger gehalten. Das englische und das norwegisch-isländische Schrifttum bieten uns viel reichere Quellen stabreimender Verskunst als die beschränkten Reste in deutscher Sprache. Aus den deutschen Denkmälern allein würde man den stabreimenden Vers mangelhaft kennenlernen. Deshalb ziehen wir für den ersten Zeitraum den englischen (angelsächsischen) und den nordischen (nordgermanischen, skandinavischen) Vers heran. Unsere Betrachtung der altgermanischen Verskunst gründet sich auf die drei Literaturen: die deutsche H e u s 1 e r . Deutsche Versgeschichte.

j

2

D E R Z E I T R A U M DES REIMVERSES.

(nieder- und hochdeutsch) — die englische — die nordische (zumeist norwegisch-isländisch). Die deutsche und die englische Verskunst schließen sich in vielen Punkten näher zusammen (§ 389): sie bilden die westgermanische oder südgermanische Gruppe. Den Namen 'germanisch' brauchen wir nicht gleichbedeutend mit altgermanisch; er ist uns kein Zeitbegriff. 'Germanisch' umfaßt die ganze Sprachfamilie in alter und neuer Zeit. Unter 'vorgermanisch' verstehen wir auch das, was man zuweilen prägermanisch nennt: die indogermanische Vorstufe des Germanischen.

2. Die Einführung des Reimverses in Deutschland, um 850, war ein Bruch so entschieden und folgenreich wie kein zweiter in unsrer Versgeschichte. Mit dem Reimverse fängt die deutsche Verskunst an, fremden Formen zu folgen, und zwar zunächst den lateinischen der Kirche. Sie tritt auch in anderem Sinne aus der germanischen Familie aus: die enge Verwandtschaft mit den Formen der Engländer und der Nordländer löst sich. Mag es auch im weitern Verlaufe noch viel Gemeinsames, auch gegenseitige Entlehnung, gegeben haben: die Geschichte des deutschen Reimverses durch die Jahrhunderte ließe sich nicht wohl im Zusammenhang mit der englischen und der nordischen Versgeschichte erzählen. Auch wird der deutsche Reimvers aus sich selbst verständlich, wenngleich Seitenblicke auf die englischen und nordischen Zustände die Einsicht fördern. Im Zeitraum des Reimverses behandeln wir nur noch die deutsche Masse. Seit dem 16. Jahrhundert kennt die deutsche Dichtung reimlose Verse. Seit dem 18. hat sie auch Stabreimverse wieder eingeführt. Aber der Endreim — der 'Reim1 kurzweg — beherrscht die letzten tausend Jahre. 3. Die Versgeschichte dieses Zeitraums kann man verschieden einteilen. Ein verhältnismäßig scharfer Einschnitt liegt um 1600. Damals wandte sich die deutsche Buchdichtung welschen und antiken Vorbildern zu und setzte bisher volksübliche Formen ab. Man rechnet damit den Beginn der neudeutschen Verskunst. Innerhalb der neudeutschen Jahrhunderte bildet das Auftreten des jungen Klopstock, dann des jungen Goethe, um 1750, die merklichste Wende. Die voraufgehenden fünf Menschenalter können nach dem einflußreichen Schulhaupt Martin Opitz der Opitzische Zeitraum heißen. Für die folgenden sechs Geschlechter böten sich nur die der Literaturgeschichte geläufigen Sondernamen (klassisches, romantisches Zeitalter usw.). Der Reimvers vor Opitz, vom 9. bis 16. Jahrhundert, kennt keinen Umschwung von ähnlicher Gewaltsamkeit. Eine Grenze

UNSERE

ZEITGLIEDERUNG.

3

k a n n m a n legen ins 14. J a h r h . : als d i e v h m . einheitliche V e r s k u n s t , d i e m i t F u g d i e r i t t e r l i c h e h e i ß t , a u s e i n a n d e r f i e l in ungleiche R i c h t u n g e n , w o m i t H a n d in H a n d g i n g , d a ß die einheitliche, g e p f l e g t e B u c h s p r a c h e , d a s M i t t e l h o c h d e u t s c h e , einer Mehrheit n e u e r S c h r i f t m u n d a r t e n w i c h . F ü r d e n V e r s b a u v o m 14. bis 16. J a h r h . t r e i b t m a n schwer einen h a n d l i c h e n G e s a m t n a m e n auf. M a n h a t d a s Z e i t a l t e r n a c h d e n Meistersingern oder n a c h der R e f o r m a t i o n o d e r n a c h H a n s S a c h s b e n a n n t ; d r e i zu e n g e B e z e i c h n u n g e n . Wäre das Wort 'mitteldeutsch* n i c h t schon i m r ä u m l i c h e n Sinne v e r g e b e n , d a n n w ä r e es der p a s s e n d e N a m e f ü r diesen Z e i t r a u m in d e r M i t t e z w i schen A l t - u n d N e u d e u t s c h . D e r N o t g e h o r c h e n d , g e b r a u c h e n wir den A u s d r u c k frühneudeutsch. D e n R e i m v e r s v o m 9. b i s 14. J a h r h . n e n n e n wir d e n altdeutschen. Dieser N a m e f a ß t also die z w e i S p r a c h s t u f e n ' a l t h o c h d e u t s c h ' u n d ' m i t t e l h o c h d e u t s c h ' z u s a m m e n , so j e d o c h , d a ß er erst m i t d e m R e i m v e r s e , u m 850, einsetzt u n d a u c h d e n n i e d e r d e u t s c h e n R e i m v e r s d e s M i t t e l a l t e r s einschließt. D i e sprachlich b e g r ü n d e t e Z e i t g r e n z e u m 1050 ( Ü b e r g a n g v o m A l t - z u m M i t t e l h o c h d e u t s c h e n ) t r i t t a u c h in der V e r s g e s c h i c h t e h e r v o r . F ü h l b a r e r h e b t sich die v e r f e i n e r t e höfische, ritterliche K u n s t , seit e t w a 1 1 7 0 , v o n d e m V o r a n g e h e n d e n ab. Sie s t e h t u n t e r d e m zweiten fremden Einfluß, diesmal weltlich französischem. D o c h v e r l ä u f t i m m e r n o c h der R e i m v e r s in seinem ersten h a l b e n J a h r t a u s e n d in u n g e b r o c h e n e m Flusse. 4. B e a c h t e n w i r n o c h , d a ß diese E i n t e i l u n g auf die erhaltene B u c h d i c h t u n g zielt. Die schriftlose V o l k s d i c h t u n g h a b e n d i e U m s c h w ü n g e u m 1600 u n d u m 1 7 5 0 k a u m b e w e g t , a u c h die V e r f e i n e r u n g n a c h 1 1 5 0 u n d die V e r r o h u n g n a c h 1300 h a t schwerlich g e r ü h r t a n d a s V e r s e m a c h e n der unteren S c h i c h t . D e n Ü b e r g a n g z u m R e i m , den h a t d i e h ä u s l i c h e K l e i n k u n s t v o l l z o g e n , w o h l n i c h t s p ä t e r als im z e h n t e n J a h r h u n d e r t . Aber im B a u d e s V e r s e s wird sie schon d a m a l s , w i e h e r n a c h , den gelehrten M u s t e r n ferner g e b l i e b e n sein. D i e v o l k s m ä ß i g s t e n V e r s e b e w a h r e n b i s h e u t e Z ü g e , die noch über d e n a l t d e u t s c h e n R e i m vers zurückweisen. Unsere Z e i t g l i e d e r u n g m i t d e n z u g e h ö r i g e n N a m e n ist d e m n a c h diese (die u n t e r e Z e i t g r e n z e bei I g i l t nur f ü r die d e u t s c h e D i c h tung) : I. S t a b r e i m v e r s , a l t g e r m a n i s c h e r V e r s : von Z e i t b i s ins 9. J a h r h u n d e r t .

urgermanischer 1*

4

VERS UND PROSA.

II. Reimvers: A. Altdeutsch: 9. bis 14. Jahrhundert. B. Frühneudeutsch: 14. bis 16. Jahrhundert. C. Neudeutsch: a) Opitzischer Zeitraum: 1600 bis 1750. b) die von Klopstock und Goethe eröffnete Zeit: seit 1750. 2. Abschnitt: Aulgaben der Verslehre. 5. Gegenstand der Verslehre sind dichterische Kunstformen. Versgeschichte ist ein Ausschnitt der Dichtungsgeschichte: sie befaßt sich mit der Form der Dichtung. Dies verlangt genauere Bestimmung. Wie grenzen wir die Dichtung von der Prosa ab ? — Das Übergangsgebiet der 'dichterischen Prosa* scheidet für uns aus. Für uns reicht die Dichtung so weit als der Vers. Das liegt schon im Namen Verslehre. Aber wie weit reicht der Vers ? Können wir klar unterscheiden zwischen Vers und Prosa, zwischen gebundener und ungebundener Rede ? Das sichtbare Merkmal der abgebrochenen Zeilen reicht nicht aus; man hat gestritten und kann streiten, ob alle versmäßig abgesetzten Texte aus Versen bestehen. Und bei vielen Texten alter Zeit fällt diese Hilfe weg. Als entscheidend gilt uns ein gehörmäßiges Merkmal: der Takt. 'Verse' sind uns taktierte, takthaltige Rede. Das nähere darüber in § 31 f. Dann bleibt immer noch die Frage, ob der Urheber seinen Text takthaltig gedacht hat. Denn der Formwille des Urhebers ist uns verbindlich. Schriftlich überlieferte Texte aus alter und neuer Zeit lassen uns nur zu oft im Zweifel, wie sie ihr Schöpfer gesprochen wissen wollte. Dann versagt unser gehörmäßiges Wahrzeichen; dann können wir im ungewissen bleiben, ob uns takthaltige Rede, also Verse, vorliegen. Aber dies ist Schuld unserer mangelhaften Kenntnis, kein grundsätzlicher Grenzstreit zwischen Vers und Prosa. 6. Die Form der Versrede beschäftigt den Metriker. Und zwar die äußere, die hörbare Form: die Schallform. Darin liegt das Geständnis, daß Verse von ungleichstem Werte — nach Inhalt und sprachlichem Stil — für den Metriker gleiche Größen sein können. Aber wir müssen noch weiter gehen. Auch am Hörbaren berührt uns nur die eine Seite. Unser Gegenstand ist die Schallform des Verses, soweit sie von der der Prosa abweicht.

MELODIE, SCHALLFARBE UND RHYTHMUS.

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Außerhalb liegt für uns die Sprachmelodie: die klangliche Höhe und Tiefe der stimmhaften Sprachteile; die Unterscheidung von Frageton und Aussageton; die allgemeine Höhenlage der Stimme. Denn hierin stehen Vers und Prosa unter gleichen Gesetzen. Für die metrische Betrachtung gibt es keine FrageHexameter und keine Baß-Trochäen — so wenig als ZischlautJamben oder Nasal-Anapäste. Denn für uns scheidet auch aus die L a u t f o r m , das Phonetische, Artikulatorische. Auch hierin bestehen Vers und Prosa aus gleichem Stoffe. So wichtig es für die Schallform eines Verses ist, ob er rauhe Mitlauter häuft; wie er seine Selbstlauter aufreiht usf.; so sehr sich das Gebot Vossens hören läßt: 'Nie herrsche ein Gepiep, nie ein rauhes Hauchen oder Gezisch!' —: all dies zählt für die Verslehre nicht mit, es begründet dem Metriker keine Unterscheidungen. Denn die nämlichen Dinge würden wir an der Prosa beobachten. Ein deutscher Verskünstler hat ein Gedicht gemacht ohne jeden r-Laut 1 ). Da wirkt also die Lautform mit, das Dichtwerk von der natürlichen Rede zu unterscheiden. Würde derartiges zum Herkommen, dann müßte es wohl der Verslehrer in die Artbestimmung aufnehmen! Vorläufig bleibt es ein Spiel, das sich auch mit Prosa verträgt und für deutsches Formgefühl nichts Versmäßiges an sich hat. Nur da fällt die Lautform in den Bereich der Verslehre, wo sie den Vers planvoll von der Prosa abhebt: die verschiedenen Arten des Reims. Im übrigen gilt der Satz: die gesamte Schallfarbe ist eine sprachliche, keine metrische Erscheinung2). Darin liegt das zweite Geständnis: daß auch die Gehörwirkung, der Schallreiz eines Verses nicht nur von metrischen Größen abhängt. Der von Stimmbewegung und Schallfarbe bedingte Wohllaut steht nicht vor dem Forum der Verslehre. *) Rückert in der fünften seiner Makamen. Daß es Reimprosa ist, tut hier nichts zur Sache. *) Schallfarbe ist, gegenüber Klangfarbe, der umfassendere Begriff: er schließt die Artverschiedenheit der Geräusche ein. Stimmlose Sprachlaute, wie /, s, x, unterscheiden sich zwar auch im Klang, nach Höhe und Tiefe, sie haben Klangfarbe; aber ihr'spezifischer Unterschied' ist der des Geräusches. Das Wort Schallfarbe umspannt alles. Vgl. Bremer, Deutsche Phonetik 1 1 7 ff.

7. Die Seitö der Schallform, womit es die Verslehre zu tun hat, ist der Zeitfall; der Rhythmus. Ihn haben wir uns in Abschnitt 3ff. klarzumachen. Die 'dichterischen Kunstformen5 also, die wir zu untersuchen haben, sind die rhythmischen Formen, die den Vers planvoll von der Prosa unterscheiden.

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D A S RHYTHMISCHE ERLEBNIS.

Diese rhythmischen Formen vernehmen wir im Gesang wie in der Sprechrede. Gesungene Verse sind ebensogut Stoff des Metrikers als gesprochene. Dies hat man zwar geleugnet, aber mit dem Leugnen nie Ernst gemacht: keine deutsche Verslehre übergeht den Minnesang, das Kirchenlied, das Volkslied; Werke also, die ihren Schöpfern durchaus nur gesungen vorschwebten; die ihr wirkliches Leben nur mit der Melodie führten. Auch bei gesungener Dichtung gilt unser Satz: daß die Verslehre aus dem Schallbild nur den Zeitfall auslöst. Die Tonhöhen der Weise, das Melodische und Harmonische denken wir uns weg. 8. Für den Metriker ist der Vers eine Gehörgröße. Das stille Lesen eines Gedichtes ist ihm so viel wie dem Musiker das Ablesen einer Partitur. Eine geschriebene Zeile wird ihm erst dann zum 'Verse', wenn er ihr, und war es nur in Gedanken, die Schallform mit dem bestimmten Zeitfall verleiht. In allen wipfeln Spürest du . . . dies, so schwarz auf weiß, sind noch keine Verse. Die Verse stecken darin. Der Vortrag, sprechend oder singend, hebt sie heraus und trifft die Wahl unter den verschiedenen Möglichkeiten des Zeitfalls (§ 83). Dann erst ist das r h y t h m i s c h e E r l e b n i s d a : die Größe, worauf dem Versforscher alles ankommt. An das rhythmische Erlebnis knüpft das Lust- oder Unlustgefühl, das Werturteil, knüpft das Abbilden in sichtbaren Zeichen, das sachliche Zergliedern und Beschreiben und weiter die geschichtliche Herleitung. Die stumme Wortreihe war nur Rohstoff und Anreiz zum rhythmischen Erlebnis. So nachdrücklich wir das Hörbare am Vers, also den Vortrag, verlangen: wir müssen hier noch eine Schranke ziehen, die den Metriker gewissermaßen vom Vortrag abrückt. Was der Metriker am Verse festhält und bucht, das sind unmöglich die hundert kleinen Verschiedenheiten im Zeitfall bei jedem einzelnen Sprecher oder Sänger. Über diese wandelbaren Zufälligkeiten muß er hinausdringen zur objektiven Form: er muß den vom Dichter gesetzten Zeitfall ergründen. Nur der ist das Feststellbare. Das für die Verslehre Feststellbare — und Feststellenswerte — bedeutet der bunten Wirklichkeit gegenüber ein für allemal eine große Vereinfachung. Auch über diese Frage, das Verhältnis der Form zum Vortrag, haben wir uns später noch zu verständigen (6. Abschnitt). 9. Die Verslehre, sagten wir, ist Kunstlehre. Sie gehört zur Literaturgeschichte; nicht zur Grammatik.

V E R S - UND SPRACHFORSCHUNG.

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Wohl steht sie zur Grammatik in enger Beziehung, nehmend und gebend. Sie lernt aus der Grammatik die genauere Beschaffenheit der Sprachformen, aus denen sich die Verse aufbauen, und sie lernt die geschichtlichen Sprach Wandlungen, die Einfluß übten auf Rhythmus und Reimkunst. Umgekehrt zieht die Sprachlehre Gewinn aus der Verskunde. Die Reime der alten, auch der neueren Dichtung haben zu manchem grammatischen Schlüsse geführt. Vor allem für Betonung und Dauer der Silben hat sich die Sprachforschung an die Verslehre zu wenden; ja, man hat diese Kapitel der Grammatik wohl in die Metrik hinübergespielt. Bei manchen Untersuchungen, z. B. Lachmanns, wäre kaum zu entscheiden, ob das Ziel mehr ein vers- oder ein sprachgeschichtliches ist. So hat. man die Metrik gelegentlich auch als Anhängsel zur Grammatik untergebracht. Aber die Verslehre will anderes sein als eine Hilfswissenschaft der Sprachkunde. Ihre Fragestellungen weisen über die Grammatik hinaus. Mag sie von dieser eine Lehre übernehmen oder ihr eine Erkenntnis zuführen: der Metriker seinerseits fragt, was diese Tatsachen für den Vers, also für die Kunst, zu bedeuten haben. An diesen Grundsatz werden wir uns bei der Behandlung von Ton und Dauer halten (7. Abschnitt). 10. Rückblicke auf die Forschung wollen wir einzelnen Hauptteilen mitgeben. Verfolgt man die Verswissenschaft — soweit sie in den Rahmen unseres Werkes fällt — zeitlich vorrückend durch ihre vier Menschenalter, so sieht man sich vor einer wirren Bilderreihe. Die einzelnen Zeiträume und Vorkommnisse gaben gar ungleiche Fragen zu lösen! Die Probleme des altgermanischen Rhythmus — des ritterlichen Reimverses—der Opitzischen Neuerung — der Nachahmung griechischer Maße: diese und andere waren schwer mit gleichen Handgriffen zu bewältigen. Die Arbeitsfelder waren meist zersplittert. Ein gleichmäßiges Vorschreiten auf dem Gesamtgebiet, das Erstarken einer Methode, die allen Stufen gerecht würde, blieb aus. Mit der Sprachforschung konnte es die Versforschung nicht entfernt aufnehmen an Stetigkeit und sicherm Ausbau. Was sie an Ergebnissen zu allgemeiner Anerkennung brachte, war bescheiden. Uber ziemlich alle tiefer dringenden Fragen herrscht Uneinigkeit bis heute. Die Uneinigkeit erstreckt sich auf die Ziele der Versbetrachtung, auf das Verfahren, nicht zum wenigsten auf die technischen Ausdrücke und Sinnbilder. In keinem anderen geschichtlichen Fache ist es so schwer, sich unter Forschern zu verstehen. Denn in der Metrik redet jeder seine Sprache und läßt sich von seinen Voraussetzungen leiten. Nach der Menge

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D A S ANTIKE S T R E C K B E T T .

und Schärfe der gemeingültigen, ohne weiteres verständlichen Begriffe steht die Verswissenschaft auf einer Stufe, die die Sprachwissenschaft seit Menschenaltern hinter sich gelassen hat. Gleiches gilt für die Verslehre in andern Sprachkreisen. Auch bei den alten Griechen, auch bei den Romanen sind gerade die Grundfragen umstritten. Den Ursachen, die die Mündigkeit unsers Faches hintangehalten haben, graben wir nicht nach. Aber die angedeuteten Verhältnisse schärfen ein, wie nötig es ist, den Boden für unser Vorgehen mit aller Umsicht und Klarheit zu festigen. Die^Ausschau über die metrische Forschung seit dem Isländer Jön Olafsson d. J. (1786), dem Dänen Rask (1811) und dem Deutschen Lachmann (1819) zeigt die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, die Irrtümer, die die Einsicht verbauten. D a s Wichtigere davon wollen wir herausheben und daran Leitsätze für das eigene Verfahren knüpfen. I i i Schwer hielt es, sich den a n t i k e n Formeln und Begriffen zu entwinden. Was man seit der Humanistenzeit als Verstheorie gewohnt war, das schwamm j a ganz und gar im antikischen Kielwasser. Man wußte: jeder Vers war darauf zu befragen, ob er aus Jamben, Daktylen usw. bestehe. Damit aber kam man der Eigenart germanischer Verse nicht bei; für diese brauchte es andere Fächer und Namen, neu geschaffene, auf das Modell zugeschnittene. E s ist Lachmanns Verdienst, daß er den altdeutschen Vers folgerecht aus dem antiken Streckbett heraushob. Seine Kunstausdrücke ließen zwar an gehörhafter Deutlichkeit fast alles zu wünschen übrig, aber sie waren unverbraucht, nicht belastet mit griechelnden Vorurteilen. Den Vätern der altnordischen Verslehre war es damit nicht geglückt. Rask ist in seiner jüngern Darstellung 1 ) zurückgefallen in die Suche nach griechischen Füßen, und der ausgezeichnete Skaldenkenner K . Gislason konnte noch sechzig Jahre später den zwei im Zeitfall so ungleichen Versen: vasa pat beert und bana d i e gemeinGobiaugs (| £ x I JL und | £ X ^ /s I same Formel ^ ^ zuteilen mit einem 'Pyrrhichius' zu Anfang 2 ). Das heißt wirklich durch die griechische Brille sehen. A m meisten mußte den Betrachter der neueren Kunstverse die antike Schulsprache umstricken; hier pflegten ja die Dichter selbst, wo sie begrifflich wurden, in dieser Sprache zu denken! Erst die Lehrbücher der letzten Jahrzehnte mühen sich, diese Fesseln abzustreifen. Manche auch haben mit dem Bade das Kind verschüttet, wenn sie kurzweg sagten, Germanen und Hellenen hätten in der Verskunst nichts gemein, darum sei jede Anlehnung an die Alten, in Versbau und -lehre, ein Unverstand.

D A S SILBENZÄHLEN.

D A S REZEPT OPITZENS.

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Gegen das Zuviel und das Zuwenig gibt es eine Rettung: wir müssen unsere Verse, auch wo sie aus Jonikern und Kretikern bestehen wollen, in ihrer tatsächlichen Schallform erfassen. Schablone und Kunstausdruck müssen unter uns versinken, und das Gehörerlebnis muß uns durchdringen. Dann ist Hoffnung, daß wir beidem gerecht werden: dem, was diese Verse von den alten unterscheidet und was ihnen immer noch gemeinsam ist. *) Rask, Anvisning 1818, Verslehre 1830. 2 ) Aarbager 1881, 221. Rückfälle noch später: a. 1897 spricht A . Olrik von altnordischen Choriamben und Jonici a majore (Dania 4, 121), und a. 1924 heißt es bei Gering (Arkiv 40, 41): der Eingang von deile grgm ii'ö pik habe 'den Amphimacer an Stelle des Jambus'.

12. Ein zweiter Hemmschuh war die Silbenzählerei. Sie lag den Forschern nahe, die anknüpften an die nordischen Skaldenverse und ihren Lehrmeister Snorri (um 1220). Bei Snorri ersetzt die Silbenzahl die ^wirklich rhythmischen Begriffe (§ 113). So haben schon Jon Olafsson und drei Menschenalter später Sievers zu viel aus der Silbenzählung gemacht. Aber auch von ganz anderer S^ite, der des mittellateinischen und romanischen Versbaues, kam man in Versuchung, die Silbenzählung als metrische Größe zu überanstrengen. So wichtig für viele Versstile das Silbenzählen, d. h. die Festlegung der Silbensumme, ist: sie bedeutet noch keine Gehörgröße, also auch kein rhythmisches Grundgesetz (§ 100). Benennt man Versarten als 'Viersilbler', 'Achtsilbler' usw., so sagt man über ihre Schallform noch gar nichts aus. Eine Sache für sich war die verbreitete Neigung, die feste Silbensumme Versen aufzudrängen, die sich ihr erst annähern. Folgen hatte auch der Irrtum, silbenzählender Versbau sei der Inbegriff des Urtümlichen (§ 101). 13. Ssit Opitz und seinen Mitstrebenden hat man hundertfach wiederholt den oberflächlichen Satz: ein 'Vers' sei eine regelmäßige Abwechslung langer und kurzer — oder starker und schwacher — Silben. Seit derselben Zeit geht in der Tat eine Mehrheit unserer Kunstverse in 'alternierendem5 Schritte, im Auf und Ab: (x) )< X X X X • • • Es ist der sogenannte Jambentrab. So klar es war, daß man damit für die voropitzischen Zeitläufe nicht auskam: der Gedanke an den Jambengang, oder das Gefühl dafür, hat oft auf der Lauer gelegen, auch wo alte Reimund sogar Stabreimverse im Spiele waren. Lachmanns berühmtes Gesetz von der 'einsilbigen Senkung' wäre ohne diesen Anstoß nie aufgestellt worden. Durchgeführtes Auf und Ab ist seinem Ursprung nach ein ungermanischer Grundsatz und gibt sich auch heute noch als solcher

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D I E UNHÖRBARE M E T R I K .

zu erkennen. Um so gefährlicher ist es, diesen Grundsatz, als wär er Naturrecht, von germanischen Versen zu erwarten. 14. Viel weiter und tiefer griff ein vierter Übelstand. Die überkommene Schulmetrik hatte daran gewöhnt, das Gehörmäßige am Verse zu mißachten. Sie versteckte es hinter mehr oder weniger schalldichten Scheidewänden. Die üblichen Schablonen: . . .; usw. sind ja als Rhythmenbilder ganz unzulänglich; sie vermitteln nur dem Eingeweihten ein rhythmisches Erlebnis; denn das, was Rhythmus macht, Zeitverhältnisse und Stärkestufen, kommt da nur auf Umwegen und unsicher zum Ausdruck. Die zugehörigen Kunstwörter, die griechischen Fußnamen usw., helfen da wenig nach; sie sind im günstigeren Falle akustisch mehrdeutig. Die Verswissenschaft aber — die germanische wie ihre auswärtigen Schwestern — hat den Anspruch an das Gehörbild selten erhöht. Man darf ohne Übertreibung sagen: in den allermeisten Schriften zur Metrik steht nur Augenphilologie (um einen Sieversschen Ausdruck zu gebrauchen). Mögen sie sich nun mit gestrichelten Textzeilen begnügen oder zu Formeln mit _ und ^ und X greifen, unser Ohr geht leer aus, oder es bekommt eine schwache Abschlagszahlung. Die Frage 'wie hab ich zu lesen?' oder kürzer 'wie klingt es?' ist, so sollte man denken, das A und O des Verslehrers. Aber man achte einmal darauf, wie selten, ausdrücklich oder stillschweigend, so gefragt wird! Der Drang nach dem rhythmischen Erlebnis ist gering. Das hat persönliche Gründe. Daß so viele unsrer Metriker kein Verhältnis zur Musik haben, gibt immerhin zu denken. Zwar k a n n entwickelter Rhythmensinn da sein ohne feines Gehör für Klangstufen (die eigentlich 'musikalische' Anlage); zweifellos aber stärkt Vertrautheit mit der Tonkunst die Liebe zum Rhythmus und verfeinert unsre rhythmische Reizbarkeit, ganz zu schweigen von den Vorteilen musikalischer Kenntnis. Wie dem sei, der Eifer der meisten Versforscher galt dem grammatischen und dem textkritischen Ertrage. Die Metrik sollte belehren über sprachliche Betonung und Dauer. Sie sollte der Textreinigung dienen, auch der prosodischen Statistik und damit den Echtheits- und Verfasserfragen. Für all diese Zwecke genügt ein Verfahren, das diesseits der Hörbarkeit bleibt. Bei einflußreichen Forschern, bei Lachmann so gut wie bei Bartsch, Wilmanns und Sievers, ging die Einstellung unbedingt aufs Grammatische und Textkritische; so war es nur folgerecht, daß ihre Schriften kaum je ein wahres, faßbares Rhythmenbild ent-

D I E NATURSUCHT.

DIE

ZWEI GRUNDFRAGEN.

II

15. Mitwirkte der Umstand, daß in den letzten Menschenaltern die Geschmacksrichtung der Natursucht den Vortragskünstlern wie den Hörern die klargebaute F o r m verleidete. Einen wahrhaft metrischen Vortrag — wie ihn zweifellos die Dichter der Goethezeit noch verlangten — schalt man nun seelenloses 'Skandieren'. Eine Deklamation, die das vom Schöpfer gesetzte Versmaß tunlich auswischte, galt als die allein richtige; womöglich nannte man sie 'stilgemäß'. An diesen amorphen Beobachtungsstoff sollte sich der Metriker halten; auch den Versen der Vorzeit legte man diesen formlösenden Vortrag bei. Daraus verdichtete sich die Lehre: gesprochene und gesungene Verse hätten grundverschiedenen Zeitfall. Takt, ohrenfällige Zeitverhältnisse seien das Vorrecht des Gesanges. Der Sprechvers sei von beidem frei —• was auf das natursüchtigc Deklamieren sicherlich zutraf! So war aus dem Mangel eine Tugend gemacht: wenn der Metriker auf das rhythmische Erlebnis, auf Rhythmenbilder verzichtete, tat er nur, was ihm der Sprechvers gebot. Seit die Herrschaft der Natursucht vorbei ist, wird man dem Gedanken zugänglicher sein: daß abgewogene Zeitverhältnisse noch lange kein seelenloses Skandieren machen; daß geordneter Rhythmus dem Sprechvers wie dem Gesangsvers eignet; daß der Vers den Sprachrhythmus stilisiert und stilisieren m u ß , sonst wär er kein Vers. 16. Von diesem Boden aus kann man erst an die letzte Frage der Versforschung treten. Man kann den Vers befragen: wie stilisiert er die Sprache? Der Begriff des metrischen Stiles muß endlich in einer Verslehre, die nicht nur Gehilfin der Grammatik und Textkritik sein will, zu Ehren kommen. Aber dazu braucht es noch eine Vorbedingung; eine Einsicht, die man selten genug in der gelehrten Literatur aufdämmern sieht. Die Einsicht, daß an jeglichen Versbau zwei g r u n d v e r s c h i e d e n e F r a g e n zu richten sind. Die eine Frage: welchen Zeitfall in abstracto — welchen Kunstrhythmus, welche rhythmischen Figuren •— verwirklicht dieser Vers ? Und die andere Frage: welche Bedingungen stellt dieser Rhythmus an die Sprache, an die Eigenschaften der Silben ? Kürzer gesagt: die Frage der rhythmischen Form — und die der Sprachbehandlung, der Prosodie. Wer sich mit dieser Unterscheidung durchdrungen hat, dem lichten sich die Nebel, und so vieles, woran man sich abmühte, wird einfach und leichtfaßlich. Diese Unterscheidung steht im Mittelpunkt unseres ganzen Verfahrens. Wir erläutern sie in Abschnitt 4—7.

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E I N H E I T DER DEUTSCHEN VERSGESCHICHTE.

Man kann prosodische Regeln aufstellen bis ins Feinste und Unübersehbare — und hat damit noch nicht ein Gehörerlebnis erhascht. Denn alle Sprachbehandlung bleibt etwas Unhörbares, bis man die rhythmische Linie kennt, in die der Sprachstoff sich schmiegen soll. 17. Noch allerlei wäre aus den Fehlgriffen der metrischen Forschung zu lernen. An der tiefen Unklarheit in Grundfragen des Verses lag es, daß man kaum je unser Gesamtgebiet — die deutsche Versgeschichte vom Wurmsegen bis auf Werfel — unter einheitlichem Blickpunkt umspannt hat. Als Versuch, die deutschen, englischen, nordischen Versarten bis ins Spätmittelalter von einer Warte zu überschauen, ragt der Aufsatz des Dänen Edvin Jessen hervor1): bei starken Irrtümern und eng prosodischer Einstellung ein achtenswertes Wagnis. Hemmend wirkte gar lange der Glaube, in Sachen des Verses seien mindestens Altdeutsch und Neudeutsch von Grund aus zweierlei. Daher auch die zwieschlächtige Kunstsprache: auf der einen Seite Ausdrücke wie 'Auftakt; Synkope der Senkung; klingend, stumpf1, auf der andern 'Versfüße, fallende und steigende ; Daktylus, Anapäst. . . ; katalektisch'. Die für ihre Zeit verdienstvolle 'Deutsche Verskunst' von Vilmar und Grein (1870) bricht sichtbar in zwei Hälften auseinander. 'Die alte Verskunst ist die der deutschen Poesie und Sprache eigentümliche und durchaus selbständig; die neuere dagegen beruht wesentlich auf der Nachahmung fremder Versarten'; 'Die vaterländische Rhythmik und Verskunst. . . wurde seit dem Anfang des I7-Jahrh. verlassen . . Diese Sätze übertreiben nach rechts wie nach links, und sie verkennen über der wechselnden Oberfläche den dauernden Kern. Später tauchte die Meinung auf, der unbedingte Schnitt liege zwischen Stabreimvers und Reimvers. Das Lehrbuch von Saran — die tiefst schürfende der Gesamtdarstellungen — verzichtet darauf, das Band von der ersten zur zweiten Stufe zu schlingen. Eine Beziehung des Reimverses zu dem uns bekannten Stabreimverse sei unmöglich2). Die Formen der altgermanischen Dichtung ständen mit der deutschen Reimpoesie weder in geschichtlichem noch rhythmischem Zusammenhang3). Bei solchen Sätzen muß schon die allgemeine historische Witterung argwöhnen, daß nicht alles in Ordnung sei. Eine gesunde Auffassung von den metrischen Kräften weist sich dadurch aus, daß sie alle Zeitstufen und Stilarten des germanischen Verses auf einen Boden zu stellen, neben dem Trennenden das Verbindende zu zeigen vermag. Die Grundmauern unserer Verskunst

DAS

UNBEWEISBARE.

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sind von urgermanischer Zeit bis heute die gleichen geblieben. Dies muß seinen Ausdruck finden in einer einheitlichen Kunstsprache. Oldnordisk og oldtysk verselag 1863; deutsch in der ZsPhil. 2, 114-147 (1870). 2 ) Saran, Deutsche Verslehre (1907) 247. 3 ) Plenio, Beitr. 42, 280 (1917)-

18. Die große Mehrheit der Verse kommt dem Metriker s c h r i f t l i c h zu. Dringt er auf das Hörbare und macht Ernst mit der Frage: Wie hab ich zu messen? ( = Wie wollte der Urheber gemessen haben?), so muß er sich schonungslos eingestehen: die Antwort auf diese Frage bleibt Vermutung. Denn die Schriftzeichen alter und neuer Zeit versagen Auskunft über die Zeitverhältnisse; dazu brauchte es Sinnbilder von der Art der Notenschrift. Auch die zweite Seite am Rhythmus, die Stärkeabstufung, haben wir damit noch nicht gewonnen, daß wir in dem geschriebenen Texte Wurzelsilben, Endsilben usw. objektiv unterscheiden. Die Buchstabenschrift hat keine Mittel, die rhythmischen Werte abzubilden; sie führt uns bis auf einigen Abstand an diese Werte hinan. Die sprachliche Statistik belehrt über vieles und schränkt die Möglichkeiten der Messung ein, aber sie gibt uns doch immer nur einen rhythmisch mehrdeutigen Rohstoff in die Hand. Der Grad der Mehrdeutigkeit ist verschieden. Ist uns die Sprachform vertraut; kennen wir den Formenschatz der Zeit, des Verfassers, dann können die Wahrscheinlichkeiten der Messung auf die Zahl eins herabsinken. Die Zeile: pfingsten, das fröhliche fest, war gekommen, es grünten und blühten hält jeder für einen Hexameter. Aber bei den Versen: ufm bergli bin i gesässe, ha de vögle zugeschaut konnte der Zeitfall einem deutschen Metriker von Ruf dunkel bleiben. Und ließe man abstimmen, in welcher rhythmischen Linie 'Über allen gipfeln' seinem Schöpfer erklungen sei, so wäre das Ergebnis wohl: Tot capita, tot sensus. Aber auch in jenem sichern Falle, beim Hexameter, geraten wir ins Vermuten, sobald wir uns den Rhythmus genauer vergegenwärtigen und z. B. fragen, ob die Takte drei- oder zweiteilig sind. Kurz, je klarer und vollständiger wir den Zeitfall schriftlich vermittelter Zeilen zu erfassen streben, um so mehr lassen uns die Beweise im Stich. Wer die Verslehre auf das Beweisbare einschränken wollte, müßte sie zur prosodischen Statistik erniedrigen.

14

DIE

KHYTHMISCHE D E U T U N G .

Wir entnehmen daraus einmal, daß exakte Beobachtung noch keine metrische Lehre ergibt; ferner, daß der Einwand 'Unbewiesen' eine metrische Lehre noch nicht widerlegt. 19. Phonetische Deutung geschriebener Worte und rhythmische Deutung geschriebener Verse sind in ähnlicher Lage. Letzten Endes knüpft jene an gehörte, erlebte Sprachlaute an, diese an gehörte, erlebte Rhythmen. Nicht als ob man das Gehörte, Erlebte ohne weiteres in den schriftlichen Text hineintrage: die Beobachtung kann darauf führen, daß der Text im Phonetischen, im Rhythmischen irgendwie von dem Gehörten und Gewohnten abweiche. Aber ohne Stütze in einer lebenden Form wird die Deutung nicht auskommen, und je mehr sie mit lebenden Formen Fühlung hat, desto besser für sie. Bei völlig gegenwartsfernen, fremdartigen Metra wird sie sich mit unbestimmteren Aussagen bescheiden. Die Überzeugungskraft einer rhythmischen Deutung hangt von Bedingungen ab, die auch sonst in der Wissenschaft gelten: daß sie Bekanntem nicht widerspreche und das Beobachtete in sinnvollem Zusammenhang zeige. Dies ist die sachliche Seite. Dazu kommt die subjektive: ob die Deutung das persönliche Formgefühl anspricht. Sobald wir über die prosodische Feststellung vordringen zur Rhythmisierung, leitet uns bewußt oder unbewußt ein eigener Formensinn, das Ergebnis eigner Anlage, Gewöhnung, Schulung. Hier spielen Lust- und Unlustgefühle, und die Erfahrungstatsache, daß der Kunstgeschmack, das 'Qualitätsurteil', logisch zwingender Fassung widersteht, ist einer der Gründe für die große Uneinigkeit. Der Versforscher wird sich, wie der Kunstforscher, bestreben, sein Formgefühl zur Geschmeidigkeit und Vielseitigkeit zu erziehen. Er wird die Grenze zwischen dem Beweisbaren und dem Vermuteten im Auge behalten. Wo der zwingende Beweis versagt, kann immer noch ein Wahrscheinlichkeit.sbeweis versucht werden. Den Bereich der subjektiven Willkür gilt es nach Kräften durch objektive Begründung einzuengen; die Lust- und Unlustgefühle gilt es auf beschreibbare Ursachen zurückzuführen. 20. Zu den objektiven Stützen einer metrischen Lehre rechnen wir es, wenn sie die alten Handschriften schonend behandeln kann. Eine 'Metrik, die auch auf zerstörte Texte paßt' 1 ), nicht zeigen kann, daß zerstörte und heile Texte zweierlei sind, ist freilich nicht die beste! Auch im germanischen und deutschen Mittelalter gibt es schlechthin beschädigte Verse; doch pflegt mit metrischer Verderbnis sprachliche und stilistische zusammenzugehen. Im großen hat die mündliche und schriftliche Weitergabe den Vers nicht zerstört sondern seine Oberfläche auf die eine oder

TEXTÄNDERUNG VERSES

HALBER.

i5

andere Art umgebildet. Der Metriker darf da nicht mit d e m einfachen 'falsch' und 'richtig* arbeiten; er muß auch die u m gebildeten Zeilen noch als Verse erklären können. Auch damit m u ß er rechnen, daß die Schreiber nicht nur ins Rohere, sondern ins Glattere, Regelmäßigere geändert haben. Bei den stilistischen Eingriffen hat man dies nie verkannt. Im ganzen gilt doch der Satz: massenhafte Textänderungen nur Verses halber erweisen eine Lehre als zu eng. Erklären taugt mehr als Wegbessern. Man darf es zu den Berufssünden des Metrikers zählen, daß er regelrechter sein will als die Dichter; daß er nach der glatt aufgehenden Rechnung drängt und vor 'Ausnahmen' scheut; daß er eine auf jüngerer Stufe erreichte Regel schon den ältern Stufen aufnötigen will. Darin liegt ungeschichtlicher Blick. Unsre Verslehre wollte zu wenig Literaturgeschichte sein. Alle ihre Zeitabschnitte haben darunter gelitten, daß man ein ruhendes System anstrebte, statt das Spiel der älteren und jüngeren Kräfte zu verfolgen. Die dogmatische Haltung, die das 'Gesetz' überanstrengt, ist der deutschen Verswissenschaft von ihrem Begründer Lachmann in die Wiege gelegt worden. Eine gesunde Theorie m u ß der Einsicht Raum geben, daß jenseits der strengen Kunstregel noch nicht gleich das Chaos k o m m t . E s gibt mögliche, sogar gute Verse, die das Gebot einer gewissen Technik nicht kümmert. Alles in allem: der Metriker hat sich gar so sehr als Schulmeister gefühlt, der den Schreibern oder auch den Dichtern Fehler rot anzustreichen hätte. Möge er v o m Kunstgeschichtler lernen! Der weiß schon lange, daß es nachzuerleben gilt, nicht besser zu machen. x

) Wilamowitz, Griech. Verskunst 84 f.

W a s wir in den folgenden Abschnitten bringen, vermißt sich nicht, eine tiefgründige Größenlehre der Verswissenschaft zu sein. Wir wollen uns verständigen über die Begriffe und Kunstausdrücke, die wir im geschichtlichen Teile zu handhaben denken. Rechtfertigen m u ß sie der Ertrag des geschichtlichen Stoffes.

3. Abschnitt: Der Rhythmus. 21. Was unterscheidet den Vers von der Prosa? Nicht der 'gehobene Ton' 1 ). Den vernehmen wir auch z. B. von der Kanzel, ohne daß Pfarrer und Hörer an Verse dächten. U n d es gibt genug Verse niederer Sprechart, die k e i n e n gehobenen Ton heischen.

i6

VERS

UND

PROSA.

Auch die Mittel der Schallfarbe teilt der Vers mit der Prosa (§ 6). Daß auch die Reime nicht den Vers m a c h e n , leuchtet ein; gibt es doch stabende und reimende Prosa so gut wie stabund reimlose Verse. Der Unterschied liegt im Rhythmus. Hier müssen wir weiter ausholen. *) So Müller-Freienfels, G R M o n . 6, 373.

22. Man nehme diese Prosaperiode (aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft Nr. 338): Überall aber, wo wir als Leidende b e m e r k t werden, wird unser Leiden flach ausgelegt.

Man spreche sich dies deutlich und ausdrucksvoll vor. Man lasse es nur als Schall auf sich wirken. Man vernimmt eine Kette von ungleichen Teilen. Die Teile sind: die Silben und die Pausen dazwischen. Silben sind Lautmassen, die der Hörer als zeitlich unteilbar empfindet; letzte Zeiteinheiten der gehörten Rede. Pausen sind die schallosen Augenblicke zwischen den schallenden. Was macht die Teile ungleich ? — Die Pausen unterscheiden sich nur nach der Dauer. Die Silben unterscheiden sich vierfach: 1. nach der Dauer: die zeitliche Größe; 2. nach der Stärke: die dynamische Größe; Wucht, Nachdruck; 3. nach der Stimmhöhe: die tonische oder melodische Größe; 4. nach der Lautform: die phonetische oder artikulatorische Größe; Schallfarbe (§6 2 ). Diese vier Größen bedingen die Schallform der Rede. Wiederholen wir unseren Satz möglichst genau, nur mit geschlossenen Lippen, also murmelnd! Dann haben wir die vierte Größe, die Lautform oder Schallfarbe, ausgeschieden. Geblieben sind Länge, Stärke, Höhe. Die drei zusammen machen das m e l o d i s c h e G e r i p p e des Satzes. Nun scheiden wir auch noch die dritte Größe aus: die Abstufung nach Höhe und Tiefe, den Anteil der Stimmbänder. Zum Beispiel dadurch, daß wir den Satz mit Schlägen möglichst genau nachbilden. Was bleibt dann übrig? Eine Kette, deren Glieder nur nach der Dauer und nach der Stärke gesondert sind. D i e s e s Gerippe ist das r h y t h m i s c h e . Hier vernehmen wir den R h y t h m u s des Satzes. 23. Nehmen wir nun ein Stück Versrede: ein Paar Knittelverse aus Goethes Legende vom Hufeisen (W. A. 16, 118). Kauft ihrer so wenig oder so viel, als man für einen dreier geben will.

DAS

RHYTHMISCHE GERIPPE.

RHYTHMUS.

17

Man spreche diese Zeilen ausdrucksvoll und markig vershaft, ohne die natursüchtige Wasserscheu vor dem 'Skandieren 1 ! Die vier Hebungen lege man an die bezeichneten Stellen (die erste könnte man auch um eine Silbe verschieben). Die Schallform ruht auf den uns bekannten vier Größen. Nun verfahren wir wie bei dem Prosastück. Wir murmeln uns erst das melodische Gerippe vor. Dann klopfen wir das rhythmische Gerippe nach. Damit schälen wir also den R h y t h m u s dieses Verspaares heraus. Und nun wiederholen wir uns den Rhythmus des Prosasatzes und vergleichen die beiden Skelette. Ihr Unterschied kann keinen Augenblick dunkel sein. Dort, in der Prosa, verspüren wir eine ungeordnete, regellose Folge; hier, im Verse, Ordnung, Gleichmaß. Dabei haben wir mit Fleiß eine Versprobe gewählt von stark bewegtem Gang, damit uns das alte Schlagwort 'regelmäßiger Wechsel leichter und schwerer Silben' nicht die Kreise störe (§ 13). Belauschen wir die Ordnung, das Gleichmaß im zweiten Rhythmus ein wenig genauer, so hören wir: von Hebung zu Hebung sind gleiche Abstände; wir e r w a r t e n die nächste Hebung in einem bestimmten Zeitpunkt. Die Wiederkehr gleicher Abschnitte regt unser Muskelgefühl an, erinnert uns an Marsch oder Tanz oder Rudern . . . . Der Rhythmus Nummer 2 durchströmt unseren Leib mit einer gewissen Straffung, und daraus entspringt ein eigenes Lustgefühl. Der Rhythmus Nummer 1 übt diese Wirkung nicht. Das 'rhythmische Erlebnis' ist in den zwei Fällen deutlich verschieden. Das Doppelbeispiel hat uns vorläufig veranschaulicht: 1. Prosa wie Vers haben Rhythmus; 2. der Rhythmus des Verses wirkt neben dem der Prosa geordnet, abgewogen; wir empfinden wiederkehrende Zeitspannen. Fassen wir nun die Sache etwas allgemeiner! 24. 'Rhythmus' (pu8|iöc) hat schon bei den Alten und wieder in der Neuzeit ungleichen Sinn gehabt. Wir verstehen unter dem Worte: Gliederung der Zeit in sinnlich faßbare Teile. Die Gliederung geschieht durch Bewegungen. Die Sinne, die uns Rhythmus ersthändig vermitteln, sind Muskelsinn, Drucksinn und Gehör. Auf ihnen beruht unser 'Zeitsinn'; der ist nichts anderes als die Empfänglichkeit für Rhythmus. Das Auge ist ein mittelbarerer Zeitmesser, zu schweigen von Geruch und Geschmack. Damit die Teile den Sinnen faßbar, meßbar werden, dürfen sie ein paar Sekunden nicht überschreiten. 'Rhythmus der Tages-, H e u s l e r , Deutsche Verageschichte.

2

i8

GEORDNETE RHYTHMEN.

der Jahreszeiten' und ähnliches ist übertragene Verwendung des Wortes. Mit dem Worte Zeitfall, das wir für Rhythmus gelegentlich brauchen, würden wir gern das Fremdwort, das den Schallstil unserer Sprache stört, ganz ersetzen, wären damit nur auch die Ableitungen 'rhythmisch', 'rhythmisieren' bestritten! Auch in Zusammensetzungen wirkt 'Zeitfall' zu plump. 25. Rhythmen nimmt der Mensch wahr in Bewegungen um sich her; und er zeugt selber Rhythmen, triebhaft und bewußt: im Pulse des Blutes, im Atmen; in den Bewegungen der Glieder und der Sprech wer kzeuge: Singen und Sprechen. Schon unter diesen naturgegebenen oder doch außerhalb der Kunst stehenden Rhythmen gibt es g e o r d n e t e : mit Wiederkehr gleicher Zeitglieder. Man denke an die Pendelbewegung, den Puls, das ruhige Atmen; das stetige Schreiten oder Laufen. Die Lust an geordnetem Rhythmus ist das älteste der Schönheitsgefühle; viel älter als der homo sapiens, wie uns die Spiele der Tiere zeigen. Und so hat der Mensch Bewegungen, die er willkürlich lenkt, in geordneten Zeitfall gebracht: damit hat er die musischen Künste geschaffen, die Bewegungskünste, die Künste der Zeit: Tanz, Musik, Dichtung. In ihnen sind diese Bewegungen zu rhythmischer Ordnung gebändigt: das mannigfaltige Regen der Gliedmaßen, des Kopfes, des Rumpfes; die feineren Bewegungen in Lunge, Kehlkopf und Ansatzrohr, woraus Singen und Sprache hervorgeht. All dies war gleichsam der Rohstoff für den Rhythmenschaffer; diese Tätigkeiten, auch das Singen, verliefen in ungeordnetem oder doch nicht gewollt-geordnetem Zeitfall — bis der göttliche Funke der rhythmischen Ordnung sie durchzuckte. Davon sind wir in § 22 f. ausgegangen, daß die natürliche Rede, die Prosa, in ungeordnetem Rhythmus geht und sich darin von der musischen Rede, dem Verse, unterscheidet. 26. 'Metrischer Rhythmus' und 'metrische Form', diese Ausdrücke wollen wir einschränken auf die geordneten Formen, die in gesprochener oder gesungener Rede, in Versen, verwirklicht sind. Wichtig ist, daß wir uns über die Spannweite des Begriffes Rhythmus einigen. Schon bei den alten Griechen und auch heute, in gelehrtem und ungelehrtem Gebrauche, herrscht vor, daß man unter Rhythmus kurzweg den g e o r d n e t e n Rhythmus versteht 1 ). Den angeordneten nennt man Arrhythmie, Rhythmuslosigkeit. Man bezeichnet ihn somit verneinend, als die Abwesenheit rhythmischer Ordnung.

GLEICHMASS

UND A B W E C H S L U N G .

19

Das ist ein Übelstand. Ungeordneter Rhythmus — in natürlicher Rede, im Rollen des Donners usw. — ist eine bejahte Größe, ist Gegenstand rhythmischen Erlebens. Vor allem fördert es die Klarheit, wenn wir den geordneten, den metrischen Rhythmus als eine Unterabteilung, eine besondere Art des Rhythmus im allgemeinen erkennen; wenn wir festhalten, daß die menschliche Sprache 'Rhythmus' hat, schon eh sie in den Vers kommt. Damit vermeiden wir auch den Ausdruck 'rhythmische Prosa'; für uns ist j e d e Prosa rhythmisch (vgl. § 62). Uns ist also 'Rhythmus' der umfassende Name für sinnlich meßbare Zeitgliederung. Das W o h l g e f ä l l i g e der Gliederung lassen wir aus der Artbestimmung weg. Schon ungeordnete Rhythmen können Wohlgefallen wecken; das weiß jeder Prosaist mit Stilgefühl. Ob a l l e geordneten Rhythmen, auch der einförmige Pendelschlag, wohlgefällig wirken, die Frage hat man ungleich beantwortet. Man hat hier auch von 'unerträglicher Monotonie' gesprochen, und Tatsache ist, daß der Hörer in diesen einfachen Rhythmus Gliederungen höherer Ordnung hineinzuhören oder -zufühlen pflegt: er erlebt das objektive 1 2 3 4 5 6 . . . als ein 1 2 3 4 5 6 . . . oder 1 2 3 4 5 6 . . . oder 1 2 3 4 5 6 . . . usf.: das 'subjektive Betonen' 2 ). Zusammengesetzte Rhythmen gefallen besser als einfache. Aber auch zusammengesetzte, reiche können Mißfallen wecken: durch ihre Regelmäßigkeit. Denn der uralten Lust an rhythmischer Ordnung wirkt etwas entgegen: die Lust an Abwechslung. Jene verlangt nach Gleichmaß, diese nach Freiheit. Die beiden Bedürfnisse setzen sich auseinander in wechselnder Stärke auf den verschiedenen Erziehungsstufen und nach der seelischen Anlage. J e mehr Gehirnmensch, je verkümmerter 'das Dumpfe', die Sinnlichkeit, um so langweiliger erscheint das Gleichmaß. Dem Naiven ist Monotonie süß, nicht 'unerträglich'. Ob man einmal nur noch v e r d e c k t e s Gleichmaß wünschen wird? Und wie lange man dann noch fortfahren wird mit metrischen Formen ? . . . Jedenfalls setzen unsere bisherigen metrischen Formen die Lust am Gleichmaß voraus, wenn nicht bei jedem, der sie gebraucht und vernimmt, so doch bei ihrem Urheber und Deuter. Man halte dazu den 6. Abschnitt. €lv T v

Tl v

*) Eine Ausnahme macht Aristoteles: jjuOuov bei ex ° ^öyov ( 1 XeHiv, die Prosa), /aexpov b i ^r). 2 ) VVundt, Grundzüge der physiologischen 5 Psychologie 53, 2 5 f f .

27. Auf Plato geht zurück die Lehre von dem g e m e i n s a m e n Ursprung der drei musischen Künste und damit des Tanz-, Musikund Versrhythmus. Es ist die 'orchestische Herleitung', denn die Orchesis, der Tanz, erscheint dabei als der gebende oder führende 2*

20

D E R TANZURSPRUNG.

Teil, der Erwecker des rhythmischen Ordnungswillens. Der vom Tanz gelöste Gesang stellt sich als zweite Stufe dar, der gesprochene Vers als dritte, jüngste. Die deutschen Poetiken seit dem 17. Jahrh. tragen diese Lehre mit mehr oder weniger Geschick vor. Es ist nicht unsres Amtes, diese klassische Genese des Verses zu prüfen 1 ). Nur im Blick auf die germanischen Zustände wollen wir einiges anmerken. Gesetzt, es ging so zu, wie Plato meinte — : dann braucht sich doch dieser Hergang nicht bei j e d e r Volksfamilie aufs neue abgespielt zu haben! So wenig jedes Volk den Pfeilbogen oder das Hakenkreuz neu erfunden hat. Metrische Formen, und damit die Erziehung zum Versgefühl, zum Versemachen, kann ein Volk von dem anderen entlehnt haben, so gut wie die Vorbilder in den Raumkünsten. Was wir von der heimischen, vor kirchlichen Dichtkunst der Germanen wissen, verbietet die Annahme, unser Stamm habe die Stufenfolge durchlaufen: zuerst nur Verse zu Tanz oder sonstiger Leibesbewegung ('Leich'); darauf auch nur-gesungene Verse (Chor-, dann Einzelgesang); zuletzt auch rein gesprochene Verse. Damit legte man dem Germanen jenseits unserer Zeugnisse eine ganz andere Wesensart bei als dem uns geschichtlich bekannten. Man stempelte ihn zum tanz- und sangesfreudigen Menschen. In den Quellen erscheint er als das Gegenteil — bevor er beim römischen Mimus und bei der römischen Kirche in die Schule gegangen ist. Dem Tanzursprung der metrischen Form geben die Germanen keine Stütze. I s t die klassische Herleitung allgemeingültig, dann haben die Germanen oder Vorgermanen ihre musische Kunst gelernt aus Vorbildern, die bereits auf der dritten, jüngsten Stufe angelangt waren. Dann konnte in der heimisch-germanischen Formentwicklung von Anfang an der gesprochene Vers vorherrschen. Wir lassen damit die Möglichkeit offen, daß gesungene Gattungen mitbauten an dem Formenschatz der Stabreimzeit. Ablehnen wir es, für die germanischen Versformen sangliche und getanzte Vorstufen, 'Urrhythmen', zu fordern 2 ). Gesetzt, den metrischen- Rhythmus gebar letzten Endes der Tanz — : seit Urzeiten hat sich das G e f ü h l für die metrische Ordnung, das Wohlgefallen an ihr, selbständig gemacht; es braucht nicht mehr die Stütze der Gliederbewegung und den Zwang des Massenvortrags. Das Bedürfnis nach geordnetem Rhythmus ist zu einer selbstherrlichen Anlage geworden: die «tlrU in ^nm T>if-V>+or oornrnrlienpr Vprsp und in spinem Hörer bis

TEXT

UND W E I S E .

21

auf den heutigen Tag. Die Meinung: der nur gesungene und vollends der nur gesprochene Vers schleppe die metrische Form als Überlebsel weiter und dränge von selbst nach ungeordnetem Rhythmus; löse sich der Vers von der Musik, so werde er eigentlich sinnlos3): diese Meinung vergißt das Wichtigste, was es in der Verslehre gibt, die Lust an der rhythmischen Ordnung. l ) Beachtenswerte Bedenken dagegen erhebt Louise Pound, Poetic origins 2 and the ballad ( 1 9 2 1 ) , Kap. I. ) Wie dies Saran in seinen verschiedenen Arbeiten unternommen hat. 3 ) So Richard Benz, Die deutschen Volksbücher ( 1 9 1 3 ) 7. Auch in den Konstruktionen Sarans (Jenaer Hschr. 2, I39f., D.Verslehre 1 3 1 - 2 2 1 , Streitberg-Festgabe 3 i 4 f . ) kommt das autonome Wohlgefallen am metrischen Rhythmus nicht zu seinem Rechte (vgl. § 60).

28. Während wir aus dem ersten Zeitraum fast nur gesprochene Verse haben, gehen in der ganzen endreimenden Zeit gesungene und gesprochene Dichtung nebeneinander her. Wie stellt sich dazu die metrische Betrachtung ? Wo der Urheber seine Verse auf eine Weise, die wir kennen, gedichtet hat, da ist der Rhythmus der Weise für den Metriker verbindlich. Einen Gegensatz von Vers- und Melodierhythmus dürfen wir da nicht aufstellen; der Dichter wollte seinen Text gehört wissen in den Formen der — eigenen oder fremden — Melodie. Ein Beispiel. Bei Franz Kuglers 'Rudelsburg1 könnte man an gewohnte Trochäen denken: An der Saale hellem strande stehen bürgen stölz und kühn. Der Text würde nirgends Einspruch erheben. Nun hat aber dem Dichter die wohlbekannte Weise vorgelegen: die hat einen ganz anderen Zeitfall (§44, 6); der ist also die vom Dichter gesetzte Form. Ist der Dichter zugleich der Tonsetzer, so tritt dieser Fall ohne weiteres ein. Die Frage ist dennoch berechtigt, ob sich der Text ohne Härten zu der Weise füge. Den alten Zustand: daß zu einem sangbaren Gedicht von Anfang an seine Weise gehört, hat das Volkslied festgehalten. Im neueren Kunstliede ist dies nicht mehr die Regel. Auch sangliche Texte finden erst später den Vertoner, und dann kann es geschehen, daß Weise und Text ungleichen Zeitfall haben, d. h. daß der Tonsetzer einen Rhythmus wählte, der dem Dichter nicht vorgeschwebt hat. Unsere Musiker fanden sich nicht gebunden, dem Dichterwort seine angestammte, vom Dichter gesetzte Form abzulauschen und dieser die Melodie zu finden. Der Text galt ihnen mehr oder weniger als rhythmischer Rohstoff. Bei unseren großen Liederkomponisten von Mozart bis Brahms ist ganz ge-

22

SANGLICHER UND UNSANGLICHER V E R S .

wohnlich der Textrhythmus ins reichere und wechselnde verschoben; zu schweigen von den A r i e n , die ihren Text, auch wo er aus geregelten Versen besteht, ganz frei ausformen können. Aber auch manches volkstümlichere Lied weckt den Verdacht, daß der Dichter die Form anders gemeint habe, als wir sie singen. Man prüfe daraufhin das Rheinweinlied von Claudius und Geibels 'Der Mai ist gekommen' (bei beiden ist die Weise jünger als der Text). In all solchen Fällen hat man die metrische Form des Gedichtes aus dem T e x t zu erschließen, nicht aus der Melodie abzulesen. Wo ein vertontes Gedicht seine Weise verliert und ohne sie weiterlebt, kann sein Rhythmus Änderungen erfahren, die sich im Gebrauch festsetzen, somit mehr als Gelegenheitsverderbnis sind. Meist wird es eine Verflachung der alten Form sein. Der Metriker hat den üblich gewordenen Zeitfall festzustellen, m u ß aber hier wie überall zu der Absicht des Urhebers zurückstreben. 29. Bei alten und neuen Versarten kommt es vor, daß sie teils in sangbarer, teils in unsanglicher Dichtung leben. Dann können sie in zwei Spielarten auseinanderwachsen, und zwar so, daß der unsangliche Brauch freiere, mannigfachere Füllung zuläßt und die Gruppenbildung lockert oder auflöst. Beispiele sind der reimende Viertakter des Mittelalters, hier in lyrischen Strophen, dort in gesprochenen Reimpaaren; der fünffüßige Jambus, hier in Reimstrophen, dort als dramatischer Blankvers. Nicht immer liegt es so, daß das sangliche Lager den älteren Zustand fortsetzt; das Gegenteil beobachten wir an dem Viertakter des 12. Jahrhunderts: der wächst erst in die lyrische Glätte hinein. Diese Unterschiede zwischen sanglichem und unsanglichem Versbau können beträchtlich sein: an die Grundgesetze des metrischen Zeitfalls rühren sie nicht. Darüber noch ein Wort in § 59. Nennen wir 'sangbar' d i e Verse, die — metrisch, auch stilistisch — dem Singen nichts in den Weg stellen, dann reicht der sangbare Vers über den gesungenen hinaus. Schon auf altgermanischer Stufe gibt es Gedichte, die nur gesprochen wurden, aber Gesang vertrügen; vor allem unsere neuere Kunstlyrik und -bailade ist zum größern Teile singbar, vertonbar, lebt aber für gewöhnlich im Sprechvortrag.

4. Abschnitt: Die Bestandteile des metrischen Rhythmus. A. Der metrische Rahmen. 30. Da sich Verse an unser Gehör wenden, haben wir den metrischen Rhythmus als Gehörgröße zu untersuchen. Die be-

DAUER

23

UND STÄRKE.

gleitenden Bewegungs- oder Muskelgefühle stellen wir damit nicht in Abrede. Die rhythmische Form hängt ab von der D a u e r der Zeitteilchen, den Zeit Verhältnissen. Sie hängt ferner ab von der a r t h a f t e n S o n d e r u n g dieser Teilchen. Machen wir uns dies klar! Wir denken uns eine einfache rhythmische K e t t e von lauter gleich langen Gliedern, wie beim Pendelschlage: 1 2 3 4 5 6 . .

Werden die ungeraden Glieder irgendwie von den geraden unterschieden, so schafft dies eine neue F o r m ; wir fassen zu zweigliedrigen Gruppen zusammen: 1 2 3 4 5 6 . . .

oder 1 2 3 4 5

..

Entsprechend, wenn das 2., 5., 8. Glied ausgezeichnet w i r d ; dann gruppiert unser Rhythmensinn so: 1 2 3 4 5 6 . . . oder 1 2 3 4 5 6 . . . oder i 2

345678...

Dasselbe gilt von Ketten mit ungleich langen Zeitteilchen. Diese arthafte Unterscheidung oder Auszeichnung der Glieder kann erfolgen durch Stärke oder Höhe oder Schallfarbe. Von diesen drei Größen ordnet sich im metrischen R h y t h m u s die erste, die Stärke, den zwei anderen über: 3t

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

IX

In dieser R h y t h m e n f i g u r haben wir gleich lange Zeitglieder, arth a f t gesondert nach Stärke und Höhe. Die Gipfel- und Gruppenbildung bedingen die s t ä r k e r e n Glieder (durch > bezeichnet), nicht die höheren (an 3., 7., 9. Stelle). Gleiches gölte von der S c h a l l f a r b e . Zwei einfache Beispiele. In den K e t t e n : la le la la le la la le f s f f s f f s w i r k t die bloße Schallfarbe gruppenbildend. abstufung dazu, z. B . : la le la la le la la le >

f

s

>

f

f

,

s

f

>

f

s,

so bestimmt s i e die rhythmische Linie.

Tritt aber Stärke-

24

IKTUS, TAKT, AUFTAKT.

Es ist denn auch allgemeiner Sprachgebrauch, daß man zwei Melodien 'gleichen Rhythmus' zuerkennt, wenn sie abweichen nur in den Höhenstufen oder der Klangfarbe. Damit ist gesagt: von den arthaften Unterschieden der Zeitglieder ist für den Rhythmus wesentlich der dynamische. Mit anderen Worten: den R h y t h m u s m a c h e n D a u e r u n d S t ä r k e . Davon sind wir schon ausgegangen, als wir in § 22f. die rhythmischen Gerippe herausschälten. 31. Dynamische Auszeichnung eines Gliedes nennen wir Iktus oder Hebung. Schwache, iktuslose Zeitteile sind Senkungen. Die Ausdrücke 'Akzent, Betonung, Stark- und Schwachton1 versparen wir streng und folgerecht auf die sprachlichen Eigenschaften der Silben (§ 63). Ganz vermeiden wir die Wörter Arsis und Thesis; sie sind durch widersprechenden Gebrauch entwertet. Einen metrischen Rhythmus bestimmt man, indem man die Dauer der Zeitteile und die Lage der Ikten angibt. Wir sahen, den metrischen Rhythmus unterscheiden von dem ungeordneten die wiederkehrenden gleichen Zeitspannen von Iktus zu Iktus. Damit ist gegeben, was die Griechen xctEi? xpövuiv nannten: zwischen den Zeitteilen bestehen einfache, ohrenfällige Verhältnisse. Z. B.: 1 1 1 1 4 2 1 1 2 2 älles in der w61t läßt sich ertragen. Der unmetrische, ungeordnete Rhythmus hat irrationale (inkommensurable) Zeitverhältnisse. Die angeführte Zeile könnte als Prosa beispielsweise diese Werte haben: 1,4 0,8 1 0,7 2,3 1,7 1,2 0,6 1,9 0,6. 32. Die geregelten Zeitspannen von Iktus zu Iktus sind die Takte. Wir begrenzen sie so, daß sie mit dem Iktus beginnen. Die Taktstriche, die den Takt einschließen, fallen vor den Iktus: | älles in der | weit | läßt sich er- | tragen. Was dem ersten Iktus der Reihe vorangeht, nennen wir Auftakt: die | sterne | die be- | gehrt man | nicht == Auftakt + drei zweisilbige + ein einsilbiger Takt. Damit folgen wir unserer musikalischen Notenschrift. Die Alten haben ihre Tüße* anders begrenzt; der Jambus z. B. be-

Fuss.

TAKTGESCHLECHTER.

25

ginnt mit der Senkung | ^ L |. Nach diesem Vorbild hat man auch bei uns eingeteilt: die st er- | ne die | begehrt | man nicht: = vier vollständige jambische Füße. Wir betonen schon hier: es ist l e d i g l i c h ein Unterschied der Benennung und des Schriftbildest Für die Auffassung der Schallform macht es nichts aus. Unser Verfahren denkt nicht daran, die Zweiheit Jamben und Trochäen zu mißachten oder den Auft a k t die 'außerhalb der rhythmischen Reihe' zu stellen! Auftakt steht durchaus in der rhythmischen Reihe. Nach dem ersten wie dem zweiten Verfahren ist der Taktstrich eine Hilfe fürs Auge: er bezeichnet keine Pause, keinen hörbaren Einschnitt (§ 65). Das Hörbare ist die Gleichheit der Zeitspannen von Iktus zu Iktus. Die besteht, gleichviel ob man den Taktstrich da- oder dorthin setzt. Für die Klarheit der Einteilung und Benennung aber hat unser Verfahren unschätzbare Vorteile. Die andere Art gerät in die Klemme schon bei einem Vers wie dem vorigen: Alles in der weit läßt sich ertragen. Was für 'Versfüße' soll sie da abgrenzen ? Folgt auf den 'Trochäus' alles ein 'Anapäst' in der weit ? Oder bilden die vier ersten Silben einen 'Päonier' _ w w ^ ? usw. Unsere Odendichter schon vor Klopstock sind da einer Verwirrung und Willkür verfallen, wovor sie der andere Weg bewahrt hätte. Die unverfänglichen Ausdrücke fünffüßiger Jambus, jambischer Fünffüßler' u. dgl. brauchen wir uns nicht zu verwehren. I m übrigen aber sprechen wir nur von Takten, nie von Füßen oder Versfüßen; auch nicht von 'Wortfüßen' (§65). ' F u ß ' ist eine der abgegriffenen Münzen ohne Bild, von denen die Verslehre entlastet sein will. 33. Metrischer Rhythmus gehört zu den zusammengesetzten Rhythmen: er kennt Glieder höherer und niederer Ordnung. Der Takt ist im metrischen Gerüste nicht die kleinste Zeiteinheit : er zerfällt in Taktteile. Für unseren Versstoff kommen wir mit vier 'Taktgeschlechtern' aus. (Wir gebrauchen vorläufig und bis zu § 43 die musikalischen Notenzeichen.) 1. der zweiteilige oder Zweiviertelstakt (f): | ^

^

|

2. der dreiteilige oder Dreiviertelstakt (J), der 'Walzertakt':

I r r rI

3. der vierteilige oder Vierviertelstakt ( t ) : | f" f f f

|

26

TAKTGESCHLECHTER.

TEMPO.

4. der 'schwere dreiteilige' oder Dreihalbetakt (;]), der 'Ländlertakt':

| y

[=» f

|

Textbeispiele versparen wir auf § 41. 44. Den Taktteil * , das Viertel, nennt man auch Mora ('Zeitteil'). Der Taktteil f 3 , die Halbe, ist die Doppelmora. 'Guter Taktteil' ist das iktustragende, gehobene Glied; 'schlechte Taktteile' sind Senkungen. Das dritte unserer Taktgeschlechter, der Vierviertelstakt, hat z w e i 'gute Taktteile': eine Haupthebung auf der ersten, eine Nebenhebung auf der dritten Mora. Wir nennen diesen T a k t auch den 'Langtakt' zum Unterschied von dem ' K u r z t a k t ' unter Nr. 1. Zerfällt die Doppelmora des Ländlertaktes, Nr. 4, in zwei Viertel, dann verhält sich das erste zum zweiten wie Hebung zu S e n k u n g : | f" f

f

f

|

3 4 . Die Ausdrücke 'ein Viertel, eine H a l b e . . ' mit den zugehörigen Zeichen dürfen nicht zu dem Glauben verführen: es handle sich u m absolute Zeitwerte; der | - T a k t daure anderthalbmal so lang als der f - T a k t . Die Zeitmessung im R h y t h m u s ist relativ. Sie rechnet mit Z e i t v e r h ä l t n i s s e n . Wenn wir dennoch unterscheiden zwischen und £-Takt, obgleich das Verhältnis beidemal | 1 : 1 : 1 | ist, liegt es daran, daß die versmäßige Behandlung hier deutlich zweierlei T a k t geschlecht erweist. Jeder weiß, daß man dieselbe Melodie, dieselbe Verszeile langsamer oder schneller vortragen kann, ohne die Zeitverhältnisse anzutasten. D a ist der Rhythmus gleichgeblieben: geändert hat sich das Tempo. Man mache sich klar, daß dies zwei verschiedene Größen sind! Ein ungenauer und verwirrender Sprachgebrauch wirft die beiden Größen durcheinander. In der Musik fiele es niemand ein, etwa bei dem rhythmischen Motive:

1r r r r i r ü i u i s r r i r

zu sagen, gegen Schluß des zweiten Taktes setze ein 'schnelleres Tempo' ein. Ebensowenig darf man beim gesprochenen Verse von Beschleunigung des 'Tempos' sprechen, wenn z. B. in Rückerts «Gräbern zu Ottensen' auf die Langzeile: Darinnen liegt begraben der Vers folgt: >

>

ein ganzes volksgeschlecht >

väter mütter brüder töchter kinder knaben . . . Dieser Vers bringt kürzere Zeitglieder, eine raschere rhythmische Bewegung: das Tempo aber, d. h. das Maß der absoluten Ge-

TAKTWECHSEL.

DER

VERS.

27

schwindigkeit, ist nicht beschleunigt. Im Gegenteil besteht in solchen Fällen die Neigung, der gedrängten Silbenfolge durch v e r l a n g s a m t e s Tempo entgegen zu wirken. Man merkt beim Taktschlagen, wie sich die Zeitspannen dehnen. 35. Lieder alter und neuer Zeit kennen Taktwechsel, d. h. Verbindung von Takten ungleicher Dauer und ungleichen Geschlechts. Der bekannte 'Prinz Eugen, der edle Ritter' wechselt zwischen drei- und zweiteiligen Takten 1 ). Das Kinderlied 'Droben auf grünender Heid, da steht ein schöner Birnbaum, schöner Birnbaum, trägt Laub' beginnt mit leichten Dreiviertelstakten und geht mit da zum schweren dreiteiligen Takt über8). Ein Volkslied in Aufzeichnung von 1601: i. Mein gmüt ist mir verwirret, das macht ein jungfrau zart... 3. Hab tag und nacht kein ruh, führ allzeit große klag verbindet in der ersten Langzeile und ^-Takt, die dritte bewegt sich in geradteiligem (§)3). Annäherung an ungeordneten Rhythmus ist Taktwechsel nicht, nur eine minder einfache Ordnung, bei der sich das Gehör mit mehr als e i n e m Taktmaß abzufinden hat. Unserer Kunstmusik ist die Erscheinung so ziemlich abhanden gekommen; die Wenigsten haben noch Gefühl dafür. Über den gesungenen Vers drang Taktwechsel nur ganz vereinzelt hinaus4). Unsre Versgeschichte hat es im allgemeinen nur mit gleichtaktigen Versarten zu tun. Wie fast alle Ausdrücke der Verslehre, so hat auch 'Taktwechsel' ganz widersprechenden Sinn. Man hüte sich vor Unklarheiten ! Manche reden von Taktwechsel, wenn ein Blankvers mit starker Silbe anfängt (sterben ist nichts . . .): also ein Punkt der sprachlichen Füllung; das einheitliche Taktmaß des Rahmens steht hier nicht in Frage. 1 ) Die richtige Gliederung ist die Silchersche, sieh Erk-Böhme 2, 134 f. Falsch sind die Notierungen im J-Takt. 2 ) Bei Bücher, Arbeit und Rhythmus 4 87 ; Erk-Böhme 3, 5 3 1 . Die Bezeichnung mit jj-und ^-Takt verdeckt das Gewichtsverhältnis; besser } für jj. 3 ) Reimann, Das deutsche Lied 3 Nr. 6 1 . Auch 4 Nr. 82 verwendet diese drei Taktgeschlechter. 4 ) Aus deutscher Buchdichtung wüßten wir nur Vossens Galliamben zu nennen; vgl. Vf., D.antVers 172.

36. Bisher hatten wir die Takte mit ihren Taktteilen. Über dem Takt steht als metrisches Glied höherer Ordnung der

Vers.

Die Frage, wie sich der 'Vers' abgrenze nach unten und oben; mit andern Worten: was ein 'Vers' sei und was ein Versteil oder eine Versgruppe: diese Frage erlaubt keine allgemein begriffliche Antwort (Paul, P G r u n d r i ß f.). In der deutschen Vers-

28

TAKTZAHL DES V E R S E S .

GRUPPENBILDUNG.

geschichte gibt es nur wenig Stellen, die der Entscheidung Schwierigkeit machen. Auch dann liegt in der Entscheidung wenig Erkenntniswert. Deutsche Verse gibt es von 2, 3, 4 . . . . bis zu, sagen wir, 16 Takten. Die Grenze nach oben bleibe offen. Bei Ernst Stadler begegnet noch dieses streng jambische und mit einem Schlußreim versehene Gebilde, das auch nach dem Druck als ein Vers gelten will: ein Vers von 16 Hebungen: Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissene luft, hoch übern ström. O biegung der millionen lichter, stumme wacht. Erklärt man alles, was über 4 oder über 6 Takte zählt, für eine Verbindung mehrerer Verse, so geht man über die schlichte Feststellung hinaus und begibt sich in den Bereich entstehungsgeschichtlicher Vermutung. Zeilen mit e i n e r Hebungssilbe sind wohl immer zweitaktig. Zeilen mit drei, fünf, sieben Hebungen werden meist einen pausierten T a k t haben, also bzw. vier-, sechs- und achttaktig sein. Aber a u c h Verse von ungerader Taktsumme muß man anerkennen. E s begegnet auch, daß scheinbar vierhebige Zeilen im metrischen Vortrag als fünftaktig herauskommen. Den Fall, daß Zeilen mit zwei gehobenen Silben dreitaktiges Maß haben, werden wir in skaldischen Formen antreffen (§ 294 u.ö.). Wir gebrauchen die Namen 'Viertakter', 'Sech stakt er* usf. Die kürzeren Ausdrücke 'Vierer, Sechser 1 vermeiden wir schon deshalb, weil einige Metriker damit die Zahl der S i l b e n bezeichnen. Den Grundsatz der festen oder starren oder gebundenen Taktzahl haben wir da, wo jedem Verse eines Gedichtes seine Taktsumme vorbestimmt ist; wo Wechsel in der Taktsumme eine andere Versart bedeutet. Dem steht gegenüber der Grundsatz der freien {unfesten, ungebundenen) Taktzahl: da können Zeilen von wechselnder Taktsumme beliebig durcheinander gehen. 37. Zwei und mehr Verse können sich zu metrischen Gliedern höherer Ordnung verbinden: Versgruppen, Perioden. Z. B. zwei grundsätzlich gleiche Verse, durch den Reim verknüpft, bilden ein Reimpaar; zwei grundsätzlich gesonderte Verse bilden eine Langzeile oder ein Distichon usw. Diese einfachsten, zweigliedrigen Gruppen können sich wieder zu planvollen Gebäuden höherer Ordnung zusammenschließen. Z. B. zwei Langzeilen ergeben ein gereimtes Langzeilenpaar, und zwei solche Paare machen die Nibelungenstrophe aus. Hier haben wir einen Bau von vier Stockwerken: Vers — Langzeile — Lang-

GRUPPENBILDUNG.

STICHISCH.

29

zeilenpaar — Strophe. Es gibt weit zusammengesetztere Perioden, auch solche, die nicht einfach aus fortschreitender Verdoppelung erwachsen; auch solche, die aus Versen ungleicher Taktzahl bestehn 1 ). Die Periode höchster Ordnung innerhalb ihres Gedichts ist die Strophe, das Gesätze. Die Strophe ist, rhythmisch betrachtet, ein in sich ruhendes, nicht über sich hinausweisendes Gebilde (vgl. §52). Über die Strophe geht die m e t r i s c h e Architektur einer Dichtung nicht hinaus: planvolle S t r o p h e n g r u p p e n betrachten wir als s t i l i s t i s c h e Einrichtung. In gesungener Dichtung war die Strophe zugleich die oberste melodische Einheit: mit der Strophe wiederholte sich die Weise; das 'Strophenlied 1 . So noch heute in halbwegs volksmäßiger Liedkunst. Das 'Durchkomponieren 1 — Vertonung des Gedichts ohne genau wiederholte Gesätze — herrschte früher bei Texten von freier, unstrophischer Gruppenbildung: Sequenzen, Leichen; strophische Texte hat man erst in neuzeitlicher Kunstmusik durchkomponiert. *) Für die metrischen Glieder der verschiedenen Ordnungen gibt es Einzelnamen, teils den Alten, teils dem Meistersang entnommen: Kolon, Metron, System; — Lasche, Glied, Bund, Reihe, K e t t e , Gebinde, Gesätze: RoßbachWestphal III 1, 175 f f . ; Saran, DVersl. 168 f.

38. Stichisch nennt man Gedichte, die über dem Einzelvers keine m e t r i s c h e n Gruppen kennen. Die größeren Abschnitte, die Ruhepunkte bestimmt nur der Inhalt, nicht die Form, (crrixos 'Zeile, Vers 1 .) Stichisch im strengen Sinne sind Werke in Blankversen, in Hexametern. Soweit Stabreim oder Endreim herrschten, also in der altgermanischen, altdeutschen und frühneudeutschen Zeit, konnte es eigentlich-stichische Dichtung nicht geben; denn diese beiden Reimarten binden Verse zusammen, schaffen also Gruppen (vgl. § 334). Fortlaufende Reimpaare pflegt man denn auch nicht als 'stichisch 1 , sondern als 'unstrophisch 1 zu bezeichnen. Dagegen ist es Brauch, die stabreimende Gruppe, die 'Langzeile 1 , als e i n e n Stichos zu fassen und demnach die Werke in fortlaufenden, nicht weiter gegliederten Langzeilen 'stichisch 1 zu nennen. Wir werden sehen, daß es da einer weitern Unterscheidung bedarf: den Namen stichisch beschränkt man am besten auf d i e Fälle, wo die stabende Langzeile eine sprachlich geschlossene Größe ist (§ 350. 362). Der Gegensatz strophisch : stichisch (im weiteren Sinne) fällt in germanischer Versgeschichte lange nicht immer zusammen mit dem Gegensatz gesungen : gesprochen. Zwar dürfte reicherer Strophenbau immer vom Gesänge ausgehn; seinen wahren Sinn

30

FREISTROPHISCH.

hat er im Tonstück. Allein, die Germanen konnten Sangesstrophen von Fremden entlehnen und für ihre Sprechdichtung verwenden; ein altes Beispiel ist der geregelte Strophenbau der westnordischen Skalden, der auch auf die Edda abgefärbt hat. Oder man verpflanzte eine Strophe des Minnesangs auf die unsanglichen Heldenbücher : Kürnbergs-Nibelungenweise. Anderseits sind auch einfachste, zweigliedrige Perioden singbar. Von den Reimpaaren wissen wir es aus altdeutscher Lyrik und Spruchdichtung, dann aus dem Volksliede. Von den stabreimenden Langzeilen vermuten wir es, weil ein Teil der gesungenen Dichtung keine höheren Gruppen kannte. Bei Finnen, Slaven, auch im welschen Heldenepos finden wir stichische Dichtung gesungen; also Wiederholung der Weise mit jedem Verse. Unbedingt sangeswidrig wurde unsre Dichtung erst da, wo sie die Schlüsse der Langzeilen und Reimpaare sprachlich übersprang, die syntaktische Einheit dieser kleinsten Perioden löste und damit ins Unsymmetrische zerfloß (§52). Mit andern Worten: noch nicht unstrophischer Bau, erst Zeilensprung, Bogenstil usw. erlauben verseshalber den Schluß auf Unsanglichkeit. Überschwere Senkungen und Auftakte stützen diesen Schluß. 39. Man spricht von ungleichstrophigen Gedichten da, wo die obersten Gruppen nach Länge oder sonstigem Bau verschieden sind. Die Fälle sind ungleicher Art. Nicht hierher gehört ein Fall wie das Sonett: seine zwei viergliedrigen und zwei dreigliedrigen Gruppen bilden als Ganzes einen metrischen Bau, e i n e Strophe. In gesungener Dichtung kann die Melodie die wechselnden Gruppen kontrastieren, so daß die 'Ungleichstrophigkeit' einem höhern musikalischen Plane dient. Der Gesang kann auch die Ungleichheit der Textgruppen a u f h e b e n ; z. B. so, daß er in zweizeiligen Gruppen beide Zeilen wiederholt (:||), in dreizeiligen nur die eine (Erk-Böhme 1, 632 f.): 9. Unter ihrem grünen kränzelein hat sie gezeugt drei söhnelein 10. Zwei hat sie im tiefen meer ersäuft, : j | und mich hat sie in hohlen bäum versteckt, mit dorn und disteln zugedeckt. D a ist Gleichstrophigkeit hergestellt — in dem gehörten und vom Dichter gewollten Vortrag, und nur der kümmert den Metriker. Sprechpoesie kennt keine solchen Mittel. Da hat man immer die Frage zu stellen, ob die Abschnitte nur aus dem Inhalt folgen oder doch noch eine Formabsicht, ein freieres Ebenmaß zu erkennen geben. Ist das erste der Fall, dann spräche man besser von freier

GRUNDMASS

UND

VERSFÜLLUNG.

3i

Gruppenbildung, nicht von Ungleichstrophigkeit; denn eine 'Strophe' ist doch immer eine metrisch bedingte Größe. Wo e i n e Gruppe bestimmten Baues vorwaltet, wie in manchen Eddaliedern, ist der Name freistrophisch am Platze. 40. Die in § 32-39 besprochenen Glieder, von unten nach oben: Mora, Takt, Vers, Periode (Strophe), bilden ein Gerüste: den metrischen Rahmen oder das Grundmaß. Um den Rahmen einer Versart zu bestimmen, müssen wir angeben: 1. welche Taktzahl die Verse haben; 2. welches Taktgeschlecht ihnen zukommt; 3. was an Gruppenbildung vorhanden ist. Bei Versarten mit freier Taktzahl (§ 36) kann man keinen einheitlichen, für alle Verse geltenden Rahmen aufstellen. Dies ist die eine Seite am metrischen Gegenstand. Rein gedanklicher Art ist sie nicht: dieser 'Rahmen' besteht als Wirklichkeit im rhythmischen Gefühl des Dichters und des formempfänglichen Hörers; zum sinnenfälligen Ausdruck brächte ihn ein ideales Taktschlagen, das den Aufbau der Teile vom kleinsten bis zum größten begleitete. Aber Verse selbst hören wir damit noch nicht klingen. Rhythmische Gerippe von Versen haben wir damit noch nicht herausgeschält. Wir haben noch nicht einmal festgestellt, was alles den sämtlichen Versen einer Art gemeinsam ist. Ein V e r s entsteht erst, wenn sich der metrische Rahmen mit sprachlichem Inhalt füllt. Wir reden da von Versfüllung. 5. Abschnitt: Die Bestandteile des metrischen Rhythmus. B. Die Versfüllung. 41. Den Begriff Versfüllung und sein Verhalten zum 'metrischen Rahmen' sollen uns ein altdeutsches und zwei neudeutsche Beispiele vorläufig klarmachen. 1. Wiener Genesis 61, 1 ; 26, 13: der dir sl gellch: * von diu wil ich

f

sumellche heten houbet sam hunt, sumeliche heten an den brüsten den munt

1 rif r irii iri r 1 r 1 i t tu 1r r 1?tf 1 ? \tUS\¿r u ir if 1 r

Diese zwei Reimpaare liegen in ihrer Schallform, ihrem Rhythmus offenbar weit auseinander. Dort der ruhige Schritt mit den

32

GRUNDMASS UND VERSFÜLLUNG.

Dehnungen und Pausen; hier die bewegten, vielgliedrigen Figuren. Das erste Paar hat 9, das zweite 22 Glieder. Und doch sind es Vertreter e i n e s Versmaßes. So verschiedene Stücke gehn in e i n e m Gedicht beliebig durcheinander. Der metrische Rahmen ist beidemal derselbe: gepaarte Viertakter im f - T a k t :

•• ir n r n r r i n r i r r i r n r r i r r Diesen rhythmischen Gang kann man gleicherweise zu den beiden Verspaaren schreiten oder anschlagen. Den ganzen Unterschied hat die V e r s f ü l l u n g ergeben. Der einheitliche Rahmen hat ungleichen Inhalt aufgenommen. Daher der so weit abweichende Zeitfall der beiden Paare. 2. Den zwei Hexametern (Reineke Fuchs 12, 373; 8, 190): Hochgeehrt ist Reineke nun! zur Weisheit bekehre. . Zölle und Zinsen erhüben und dörfer und mühlen benutzten geben wir diese rhythmischen Gerippe:

\ f n r 1 r i r r n r 1 riT r r i r r i r r r i r r r i r f r i T r ri? r n r r Auch hier zwei merklich ungleiche Figuren! Die Ungleichheit entspringt aus der sprachlichen Füllung. Gemeinsam ist beiden Versen dieser metrische Rahmen: sechs ^-Takte;

irrrirrrirrrirrrirrrirr Unsre beiden Einzelverse haben diese gemeinsame, einheitliche Grundform zu zwei Sonderformen geprägt. 3. Künstlers Morgenlied (W. A. 2, 178) hat den metrischen Rahmen: Viertakter im f - T a k t ; zwei Viertakter zu einer Langzeile, zwei Langzeilen zu einer Strophe zusammengefaßt. Durch die Versfüllung entstehn z. B. diese zwei bestimmten Langzeilen; ihr rhythmischer Unterschied liegt in der verhältnismäßigen Stärke der Hebungen: Der tempel ist euch aufgebaut, f | f

f | f

M f

f l f

ihr hohen musen all . . .

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I ^

Bis dann auch er, gebändiget

* |f

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von einer götterhand

f I T T I T f I f5*

M

VERSTYPEN.

UNSRE ZEICHENSCHRIFT.

33

42. Aus diesen Beispielen lernen wir: der metrische Rahmen bildet das Gleichbleibende, die sprachliche Füllung bringt die Buntheit hinzu. Da kann sich die Mora, die Zeiteinheit des Rahmens, spalten; da können zwei und mehr Morae in einen Wert verschmelzen. Statt der Kette gleicher Einheiten können sich Zeitwerte abstufen, deren größter das Sechzehnfache des kleinsten i s t . . . Von Vers zu Vers prägt sich eine metrische Art in neuen Rhythmen aus. So fanden wir den Viertakter in Beispiel i in vier verschiedenen Füllungstypen oder Verstypen. Die Abwechslung ist bald freier, bald begrenzter. Die Einheit in dieser Vielheit ist das Grundmaß. Das Grundmaß irgendeines Verses hat zwar zusammengesetzten Rhythmus (§ 33); aber dieser Rhythmus ist — von den Fällen mit Taktwechsel abgesehen — ungemischt, d. h. er besteht aus lauter gleichen und kongruenten Gliedern. Die Versfüllung schafft daraus gemischte Rhythmen; d. h. mit den gleichen Abschnitten verbinden sich ungleiche Teilglieder oder Gruppen. So vereinigt die rhythmische Schallform jedes Verses Mannigfaltigkeit mit Gleichheit. Die Gleichheit liegt im Rahmen, die Mannigfaltigkeit in der sprachlichen Füllung. 43. Unsre Rhythmenbilder brauchen also Zeichen für vielerle1 Werte. Es hätte Vorzüge, bei der musikalischen Notenschrift zu bleiben; die ist eindeutig und kommt den feinsten Unterscheidungen bei. Wir ersetzen sie durch Zeichen, die bequemer zu schreiben sind und aus dem Druckbild des Textes weniger herausstechen ; gern fügten wir bei: die der Verslehre geläufiger sind! Aber leider liegt es so, daß ein herrschender Brauch nicht besteht. Unsre Zeichen sind zwar zum kleinsten Teile neu, aber ihr Sinn ist wenn nicht bei jedem, so doch bei jedem dritten Metriker wieder ein andrer. So treibt uns nicht nur das Bedürfnis nach genauem Rhythmenbilde, eine eigne Auswahl zu treffen: auch der Mangel einer anerkannten Umschrift berechtigt zu solchem Vorgehen. Am nächsten folgt unsre Verwendung der bei Möller, AhdAllit. (1888) 109 ff. Eben w e i l all diese Zeichen so vieldeutig sind, können wir dem Benützer unseres Buches nicht ersparen, sich die Umschrift einzuprägen mit dem Sinne, den wir ihr im folgenden, und zwar für alle Zeiträume gleichmäßig, zu geben denken. Die metrischen Zeitwerte, von oben nach unten, erhalten die hier rechts stehenden Zeichen: Vier Viertel

o : 11

Drei Viertel

f

H e u s l e r , Deutsche Versgeschichte.

: 3

UNSRE

34 Eine Halbe

Drei Achtel Ein Viertel Ein Achtel Ein Sechzehntel

ZEICHENSCHRIFT.

0 1

•*

1

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: X: X : w

:

Ein zeitlich unbestimmter Silbenwert (§ 218): c Das pausierte Viertel l : /\ Längere Pausen bezeichnen wir durch mehrfache /\. Kürzere Pausen als ein Viertel bleiben unbezeichnet. Iktenzeichen: Den stärkern Iktus, die Haupthebung, bezeichnet der Akut / , z.B. t K f j usw. Den schwächern Iktus, die Nebenhebung, bezeichnet der Gravis N , z. B. usw. Nach Bedarf heben wir einen stärksten Iktus durch Doppelakut, einen stärkern Nebeniktus durch Doppelgravis hervor; z. B. Die T a k t e begrenzen wir mit Strichen | (§32); der Taktstrich am Schluß einer Formel bleibt weg. Ein Punkt vor dem ersten Taktstrich bedeutet: es kann einsilbiger Auftakt stehen; zwei Punkte • •]: es kann ein- oder mehrsilbiger Auftakt stehen. Die V e r s g r e n z e bezeichnen wir in Formeln mit : oder, wo sie mit der Taktgrenze zusammenfällt, mit ||; in Textzeilen mit Spatium oder ||. Die Z ä s u r im Versinnern bezeichnen wir mit 44. Zur Veranschaulichung wiederholen wir die Beispielverse von § 41 mit beigefügter Rhythmenschrift. 1. der dir sl gellch: von diu wil ich i X U I * X U U : X I .AI.1.M/N sumeliche heten houbet sam hunt, sumeliche heten an den brüsten den munt i

X u u ! -

2. hochgeehrt ist Reineke nun! zur Weisheit bekehre . . zölle und Zinsen erhüben und dörfer und mühlen benutzten IIjLXI^-'XI^xxI^-'XI^XXI^-X

U N S R E ZEICHENSCHRIFT.

SILBENSUMME.

35

3. der tempel ist euch aufgebaut, ihr hohen musen a l l . . bis dann auch e r , gebändiget von einer götterhand . . i x l t f x l f c x l ^ x l f c r x l t f x l ^ x l - l l / s Die noch fehlenden Zeichen und Taktgeschlechter findet man in den folgenden Beispielen. 4. zappelt wie eine laus, hüpft wie ein floh (W. A. 16, 3) 5. es saßen beim schäumenden, funkelnden wein drei fröhliche bursche und sangen 1 ) i w I

X I

X I

w X I -L: X I i < - u X I

6. an der Saale hellem strande 1 XX 7. dat ero ni was

I noh

u X IiLI *

stehen bürgen stolz und kühn 2 ) I¿ X ^ A .

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üfhimil 3 )

i X I

\-Ls,:X I & I X oder: I J I ^ ^ I 8. getholon undar theru thiod endi gethwing sö samo 4 ) I- X

I ^ X ^ / w w w

I

I dL

X ! > < X

oder: 9. antfähad ina than eft under iuwe folcscepi, ef he sl is ferhes scolo 5 ) oder: ' ) N a c h der v o m Dichter selbst stammenden Weise (vgl. § 28): Friedländer, s ) Wessobr. 2 (vgl. § 186) 4 ) Heliand 1890. Commersb. N r . 55. *) Sieh § 28. •) E b d . 5195.

45. Deuten wir nun an, welche Fragen an die Versfüllung zu stellen sind! Das genauere erst in den geschichtlichen Abschnitten. Zunächst ist auf die Silbensumme des Verses zu achten. Es gibt Versarten mit fester, starrer, gebundener Silbenzahl ( c silbenzählende Verse') und solche mit freier, beweglicher, ungebundener. Bei diesen ist die Spannweite der Summe sehr verschieden: sie kann z. B. von 2 bis 8 Silben, sie kann von 8 bis 10 Silben reichen. (Auch in den folgenden §§ verstehe man 'frei* als eine sehr bedingte, abgestufte Größe.) Weiter fragt sich, wie sich die (feste oder freie) Silbensumme auf die einzelnen Versgegenden verteilt. Wir unterscheiden die drei Gegenden: Auftakt — Versinneres — Versschluß. 3*

36

AUFTAKT.

INNENTAKTE.

46. Unter Auftakt verstehen wir, was der ersten Vershebung vorangeht (§ 32). Es gibt auftaktlose und auftaktige Verse. Die Auftakte bewegen sich in germanischer Verskunst zwischen einer und vierzehn Silben. Versarten mit freiem Auftakt stellen dem Fehlen oder Eintreten des Auftaktes keine Bedingungen. Auch dann kann die Silben z a h l des Auftaktes beschränkt sein (auf eine Silbe). Gebunden nennen wir den Auftakt dann, wenn sein Fehlen oder Eintreten vorbestimmt ist, sei es durch die Versart (Trochäen: Jamben; Daktylen : Anapäste); sei es durch die Strophenstelle ; sei es durch die Füllung der übrigen Versgegenden (§ 214). Auch geforderter Auftakt kann in seiner Silben z a h l fest oder beweglich sein. Sangbare und strophische Dichtung rechnet den Auftakt in das Zeitmaß der Taktkette ein; er füllt den Schluß des voraufgehenden Taktes. Man sehe Künstlers Morgenlied § 41, 3 und 44, 3. Wie weit Auftakt über die letzte Mora des Taktes zurückreicht, ist von Fall zu Fall zu untersuchen (vgl. § 215). Unsangliche und unstrophische Dichtung kann den einzelnen Vers selbständiger behandeln, so daß sein Auftakt dem Vorgänger nicht 'abgezogen5, nicht in die Gesamtzeit eingerechnet wird. Und dann können die Auftakte silbenreich werden wie eigne Vorspiele ihres Verses. 47. Am Versinnern hat man wieder die Silbenzahl der Takte zu beachten. Sie kann sich innerhalb einer Versart in weiten Grenzen bewegen. So läßt der Langtakt der altgermanischen Dichtung eine bis zehn Silben zu. Man sehe die Beispiele in § 44, 7-9; auch 1 und 2. Dies ist freie Taktfüllung, Füllungsfreiheit. Die Beispiele 3 und 5 belegen die gebundene oder starre Füllung der Innentakte; und zwar hier mit gleichmäßiger Silbenzahl: lauter zweisilbige Takte (Auf und ab, 'alternierend', jambisch oder trochäisch) oder lauter dreisilbige (daktylisch). Nur diese beiden Zahlen werden mehr als gelegentlich durchgeführt. Starre Füllung besteht auch da, wo zwar ein- bis fünfsilbige Takte wechseln, aber jeder seinen genau geregelten Ort hat. So in der Familie der Odenverse. Auch die Art, wie sich die Silben in das Zeitmaß des Taktes einordnen, ist zu ermitteln. Z. B. mhd. f-1 lesent in | und \ | leiten ez | ergeben zwei ungleiche Figuren (§ 75 B), zweierlei Takttypen. 48. Sodann ist die verhältnismäßige Stärke der Hebungssilben zu verfolgen. Der metrische Rahmen bietet gleichwertige Takt-

STÄRKE DER HEBUNGSSILBEN.

MONOPODIE UND D I P O D I E .

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gipfel: die sprachliche Füllung stuft diese guten Taktteile ab, je nachdem sie auf stärkere oder schwächere Silben treffen. Dies ist von Belang für die rhythmische Linie. Beispiele gaben die Hexameter und die jambischen Langzeilen in § 44, 2. 3. Nicht nur im Versschluß, auch im Versinnern können Hebungen in eine P a u s e fallen. Man kennt dies aus dem Schlußvers des Tauchers: den jüngling X bringt keine wider. In den zwei ersten Zeiträumen ist es häufiger; es entspricht heimisch germanischem Satzrhythmus. Auch die Frage nach pausierter A n f a n g s h e b u n g werden wir zu stellen haben. Im altgermanischen Vers macht es einen Unterschied, ob die N e b e n h e b u n g des Langtaktes auf eine stark- oder schwachtonige Silbe fällt; die beiden Füllungen: we-wurt skihit | *wewo skihit

| //

\\_ ] )< X ^ jx X

sind nicht gleichwertig. 49. Hier noch ein Wort über das Verhältnis des f - zum J-Takte, dabei über die Begriffe 'Monopodie' und '.Dipodie', die in germanischer Verslehre seit Jahrzehnten unglaubliche Verheerung angerichtet haben. Wenn ein Viertakter im f - T a k t , gleichviel ob jambisch oder trochäisch oder frei gefüllt, die erste und die dritte Hebung auf stärkere Silben legt, entsteht der Gang: ' ^ der tempel ist euch aufgebaut. Man nennt dies dipodisch: zwei 'Füße' (Takte) vereinigen sich zu dem Gliede ( x ) | £ x I (x)- Dieses Glied ist tatsächlich ein Vier viertelstakt. Unserm Verse könnte man die Formel geben: Wären a l l e Verse des Gedichtes so gebaut, dann hätte man dieses Taktgeschlecht dem G r u n d m a ß e zuzuweisen. Nun stehen aber daneben Verse mit andrer Gewichtsverteilung: bis dann auch er, gebändiget und jene m6ine höhe wand ach, rettet! kämpfet! rettet ihn hinan! hinan! es heulet laut

1 234 12 3 4 1234 1 2 3 4 usf.

Ziemlich alle möglichen Gruppierungen. Hier haben wir keine Dipodien; diese Iktenfolgen sind monopodisch. Die Einheit aber in dieser Vielheit ist offenbar das Grundmaß : x ' x x ! x x ! x x l x mit den v i e r Hebungen gleichen Ranges, neutraler Stärke. Dieses Grundmaß kommt in der sprachlichen Füllung bald dipodisch, bald monopodisch heraus. Die dipodischen Verse sind

38

ZÄSUR.

KADENZ.

hier Gelegenheitsformen; der Oberbegriff ist das monopodischvierhebige Maß. Entsprechendes gilt von zwei- und sechstaktigen Versen. Dipodische V e r s a r t e n , also einen Rahmen im Vierviertelstakt, stellen wir nur da auf, wo alle Einzelverse die Bewegung ' x ' N haben. Auch die Abstufung 1 2 3 4 könnte dipodisch heißen, doch ist sie nirgends planmäßig durchgeführt. Die Formen 1 2 3 4, 1 2 3 4, 1 2 3 4 , 1 2 3 4 dipodisch zu nennen, ist Mißbrauch des Wortes. 50. Noch einen Punkt gibt die Füllung des Versinnern zu beobachten: die Zäsuren oder Schnitte. Zäsuren liegen innerhalb eines Verses. Etwas anderes sind Versgrenzen; z. B. in der Mitte der stabenden Langzeile oder der Nibelungenzeile oder des Alexandriners liegt eine Versgrenze, keine Zäsur! Freilich ist mit dem Begriff des 'Verses* (§ 36) auch diese Unterscheidung gelegentlich unsicher. Eine Zäsur entsteht da, wo ein sprachlicher Kolonschluß im Versinnern deutlich hervortritt. Auf das Kolon oder die Atemgruppe kommen wir im sprachlichen Abschnitt (§ 65). Kolonschlüsse, also Zäsuren gibt es in den allermeisten deutschen Versen: der tempel 'ist euch auf-1 gebaut. Zäsurlos wären etwa diese Verse: von keinen kleinigkeiten; oder nicht bedacht; nach jener seite; mein eingeweide. Allein, die Masse der deutschen Versarten, darunter alle heimischen, gibt es frei, ob und wo Zäsuren eintreten. Dann zählt es nicht zur metrischen Zergliederung, die Verse auf ihre Schnitte hin zu beschreiben. Es sind nur drei entlehnte Arten, die den Einschnitt planvoll regeln: der jambische Fünffuß welscher Art (cVers commun'), der Hexameter und zum Teil der Trimeter. (Die Pentametermitte wäre eher als Versgrenze zu rechnen.) Bei d i e s e n Versen gehört das Setzen und das Vermeiden bestimmter Zäsuren zur Formrichtigkeit. 51. Es bleibt die dritte Versgegend: Schluß, Ausgang, Kadenz des Verses. Es macht viel aus für den Zeitfall der Verse, wie sie ihren Schluß sprachlich füllen. Ungleiche Kadenz schafft aus einer Versart mehrere Sonderformen, die der Gruppenbau gegensätzlich verwenden kann. Ein Beispiel § 44, 3. Bei den Germanen wie anderwärts, so in vedischer, in altgriechischer Dichtung, beobachtet man, daß 'am Ende des Verses die Zügel etwas straffer angezogen werden als im Innern'1). Frei-

UNGESTUMPFTE

SCHLÜSSE.

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gefüllte Verse, stab- und endreimende, pflegen dem Ausgang weniger schwere, silbenreiche Füllung zu erlauben als den Innentakten. Oft ebbt die Bewegung gegen Ende ab. Dies zeichnet vernehmlich die Versgrenze, den Schluß; nahegelegt wird es schon durch den Prosarhythmus: auch der gibt gern den Perioden ruhigeren Ausgang. Im Verschluß hält sich lange die Dehnung der gehobenen Pänultima: . . . gipfeln . . . | j _ ^ , auch wo sich die Innentakte nicht mehr einsilbig füllen. Verallgemeinern aber darf man den Satz nicht, die Kadenz müsse durch Fehlen einer Senkungssilbe, durch Dehnung oder Pause hörbar werden, also irgendwie gestumpft ('katalektisch') sein. Bei Auf und ab-Arten kann der Vers, auch der Strophen schließende, den letzten T a k t wie die übrigen zweisilbig füllen 2 ); man nehme etwa die trochäischen Vierheberstrophen: über meines liebchens äugeln

stehn verwundert alle leute . .

Seltener geben daktylische Arten ihren Schlußtakten den vollen dreisilbigen Inhalt, und wohl nur im Stropheninnern. So der erste, dritte und vierte dieser Viertakter (die zweifellos 'Verse', nicht Versteile sind): Artemis, wälderbesuchende, schreitende über die tauigen halme der flur! deinen unsterblichen bruder begleitende, bogengerüstete, jammerbereitende, höre der flehenden reuigen schwur 3 )! Verse wie diese frühmittelhochdeutschen 4 ): lebentigez bröt, wäriu winrebe | v ^ / ^ w w ! J_ X X I X w w sö tuot der wegemüede gast ein riuwige dannekere w ^ w l v ^ w w w l )< X I sind zwar mit ihren drei-und viersilbigen Schlußtakten entschieden ungewöhnlich; aber 'Verse 5 sind auch diese verwegen ungestumpften Reihen, sogar ausdrucksvolle und wohllautende. Noch bei Goethe findet man einmal derartiges (W. A. 3, 291): umlernen müßte man immer, umlernen *) Pohl, Strophenbau 19; E . Leumann, Wackernagel-Festschrift 1923, 81. 84; K . Krohn, Kalevalastudien 1, 23. 67; schon Schmeller, All. Poesie (1839) 2 i 6 f . 2 ) Fern bleiben die viel häufigeren Vgl. Behaghel, Gesch. d. d. Sprache 4 § 83. Fälle, wo der 'weibliche' Schluß zweihebig ist oder eine Hebungspause nach 3 ) Platen 10, 396. sich hat. So auch die fünffüßigen Jamben und Trochäen. Paul erklärte Dreisilbigkeit des letzten Fußes für eine "Unmöglichkeit": l ) Litanei 217, 29; Priesterleben 89; vgl. § 547. PGrundr. ioo, vgl. 95.

40

SPRUNG.

F R E I E UND STARRE KADENZ.

52. Den Versschluß kann auch der Reim hörbar machen. Insofern dient der Reim nicht nur der Schallfarbe des Gedichts, sondern seinem rhythmischen Gefüge. Ferner stützt sich die Kadenz auf den Satzbau. Mit der metrischen Reihe, dem Vers, kann eine sprachliche enden, ein Satz oder ein verhältnismäßig abgerundetes Satzstück. Dies ermöglicht eine Atempause im Versschluß.auch wo keine metrisch berechnete Pause da ist. Zusammenfall der metrischen Glieder mit den syntaktischen ist der innerlich ältere Zustand. Am Schluß der Periode (der Langzeile, des Reimpaars) pflegt dann der Satz tiefer einzuschneiden als am Schluß des Anverses. Soweit braucht es nicht zu gehen, daß das Versinnere nur schwächere Kolongrenzen duldet als das Versende. Man nehme aus dem altenglischen Weitfahrt: swä ic geondferde1 fela fremdra londa; ond Ingeides ord 1 forbigdan. Eine vorgerücktere Stufe bezeichnet das 'Enjambement1, wofür wir Sprung (Verssprung, Zeilensprung) sagen. Man führt den Satz über die metrische Grenze hinweg. Entweder so, daß er einfach an der n ä c h s t e n Zeilengrenze zur Ruhe kommt: on J)äm siexhund waes smStes goldes O gescyred sceatta scillingrime j ; oder so, daß die stärkeren Kolongrenzen ins I n n e r e der Zeile (auch des Verses) fallen: eine noch entschiedenere Lockerung der metrischen Einheiten: se f>e monna mSEst maegöa ofer eoröan, O folca, geondferde: j oft he on flette gefah O mynelicne mäööum.! Him from Myrgingum O asöelo onwöcon So ergibt die sprachliche Füllung die verschiedenen Arten von Zeilenstil und Bogenstil (Vers-, Reimbrechung). Schon in altdeutscher, noch mehr in neudeutscher Zeit gehört es zur Kennzeichnung einer Versart, ob sie den Schluß syntaktisch zu überspringen, merkliche Kolonpausen ins Versinnere zu legen liebt und damit auf Geschlossenheit ('Integrität') des Einzelverses verzichtet. Am meisten tut dies der dramatische Blankvers. Es gibt auch Strophensprung; d. h. am Strophenschluß geht der Satz weiter, so daß die metrische Selbständigkeit auch der zusammengesetztesten Periode sprachlich durchkreuzt wird. 52a. Wie bei Auftakt und Versinnerm, spielt auch beim Ausgang der Gegensatz: Einerseits freie Füllung: die zu Gebote stehenden Arten können von Vers zu Vers beliebig wechseln; was nicht

D I E SECHS A R T E N DER F Ü L L U N G .

4i

ausschließt, daß die Kadenzform abhängt von der Bildung der übrigen Versgegenden. Anderseits gebundener, fester oder starrer Schluß: die unterschiedenen Füllungsformen gebraucht man nur an vorbestimmter Stelle, oder zum Wesen der Versart gehört die e i n e Kadenz. Das allmähliche oder auch plötzliche Aufkommen des zweiten Grundsatzes gewahren wir an verschiedenen Punkten germanischer Versgeschichte. Mehrmals trennt sich die volkstümlichere Übung von der kunsthafteren oder aber die unstrophische von der strophischen darin, daß dort die Versschlüsse freier sind. W i e wir die Ausgänge sondern und benennen wollen, muß die geschichtliche Betrachtung zeigen. 53. Fassen wir den Gesamtvers ins Auge, so können wir diese Arten freier und starrer Füllung unterscheiden: 1. Die Silbensumme ist frei, desgleichen die Füllung aller Versgegenden. Vertreter: der gemeingermanische Stabreimvers; der deutsche Reimvers um 1100 herum; die Freien Rhythmen. 2. Die Silbensumme ist frei, aber ein Teil der Versgegenden gebunden. Vertreter: der freie Knittelvers; der Hexameter. 3. Die Silbensumme ist starr; sie verteilt sich wechselnd auf die Versgegenden. Vertreter: der epische Stabreimvers in nordischer Glättung. 4. Die Silbensumme ist starr, ebenso ein Teil der Versgegenden. Vertreter: der skaldische Hofton; der strenge Knittelvers. 5. Die Silbensumme ist starr, desgleichen die Silbenzahl aller Glieder: Innentakte und A u f t a k t sind einförmig gefüllt. Vertreter: die Familien der Jamben und Trochäen und der reinen Daktylen. 6. Wie vorhin — aber die Innentakte, zuweilen auch der Auftakt, mannigfach gefüllt. Vertreter: Odenverse. Eine Unterart von 5 ergäben die Jambo-Trochäen mit freier Taktzahl ('Faustverse'): Silbensumme frei, alle Glieder starr und einförmig. Nr. 1 kann man den germanischen Versstil nennen. 5 ist der romanische. Die Alten bewegen sich in 2, 4, 5 und 6; der eigen hellenische Stil aber ist 6. Bei den Germanen haben sich 5 und 6 als bare Nachahmung der Fremde eingestellt. 3 und 4, zum Teil 2, ergaben sich aus Kreuzung fremder Einflüsse mit heimischem Formgefühl. Das Heimische ist 1.

42

ENTARTUNG IM VORTRAG.

Diese Unterscheidungen nehmen sich noch etwas rechnerischgedankenhaft aus. Wir werden sie später mit mehr Gehör- und Gefühlsinhalt zu füllen trachten. 54. Wir haben in Abschnitt 4 und 5 mit G l i e d e r n der metrischen Gebilde gearbeitet: Mora, Takt, Vers, Periode; — Auftakt, Versinneres, Kadenz. Man darf diese Gliederung nicht so verstehen, als wollte sie das W e r d e n der metrischen Größen beleuchten; als hätten Morae, Takte usw. einst für sich bestanden und wären dann zu den reicheren Gebilden zusammengewachsen! Genetisch genommen, wird sogar der V e r s erst Ausschnitt aus einer längern Reihe sein. Unsre Zergliederung ist ein Hilfsgerüste für die Beschreibung des Vorhandenen. Sie zeichnet ein Netz, worein man die mannigfachen Formen der Wirklichkeit eintragen kann. 6. Abschnitt: Die metrische Form und der Vortrag. 55. Rhythmische Kunstwerke leben im Vortrag. Wo der Metriker die Gestalt gesungener oder gesprochener Verse dem lebenden Vortrag nachzeichnen will, muß er sich fragen, wieweit dieser Vortrag 'richtig' ist, d. h. die Formabsicht des Urhebers trifft. Beim volkstümlichen Gesang, den schriftliche Noten wenig oder gar nicht in Zucht halten, gibt es Vortragsfreiheiten, die dem Aufzeichner des Rhythmus Schwierigkeit machen 1 ). Solche Freiheiten, Ungenauigkeiten können sich im Lauf der Zeit zum Gewohnheitsrecht festigen. Nicht einmal begleitender Tanz schützt davor. Ein bemerkenswerter Fall ist dieser. Die Faeringer singen und tanzen die bekannte Langzeile ihrer Balladen s i e b e n taktig: viertaktiger Anvers, dreitaktiger Abvers: £ Vilja tit nü l^öa ä, meöan eg fl^ti främ O um hana frtinna Märgretü, i Nordnesi bränn. Die ganze Strophe, ein Langzeilenpaar, hat v i e r z e h n Tanzschritte 2 ). Wir zweifeln rieht, darin ist e n t s t e l l t die ursprüngliche Kunstform der achttaktigen Langzeile, der sechzehn taktigen Strophe 3 ). Die auffüllenden Pausen oder Dehnungen am Schluß der Abverse hat man unterdrückt. Auf den Fseröer kennt man dies nicht mehr anders; in Dänemark z. B. scheint es mehr gelegentlich vorzukommen 4 ). Noch weiter entarten die isländischen Rimur. Die dienen längst nicht mehr Halbmelodien .1 — dem^ Tanze; T.^ m ; man Asingt Isie r^AinIi ^Ji ctronfr im nach T n L' t-Art Tiip

G E N A U I G K E I T S G R A D E DES V O R T R A G S .

43

Rimur können auch dem Anverse eine Schlußmora wegschneiden5) ; die Langzeile hat dann diesen Gang (langsames Tempo! etwa l Sekunde auf das •): r r r r r r r ^ r r r r r r l ! 7 + 6 Viertel, eine Art Taktwechsel in der Mitte. So gewiß der Metriker solche Mißbildungen als Tatsachen buchen wird, so wenig kann er sich nehmen lassen, die Rhythmen, wie sie ursprünglich gemeint waren, zu ermitteln. Eine metrische Kunstform ist immerhin etwas anderes als ein Märchen, ein Rätselstoff oder ein Sprichwort; und selbst bei diesen kommt der Volkskundler in die Lage, Umbiegungen, Verluste, Trübungen festzustellen, also in gewissem Sinne von richtig und falsch zu reden. Näher liegen Gegenstücke aus den Raumkünsten, vorab der Baukunst: mißverstandene Motive und ähnliches. l ) Elling, KriVid. 1914, 132 f f . ; Sandvik, Maal og Minne 19x5, l 8 9 f f . ; Merian, 2 ) Thuren, Folkesangen paa Faer0erne (1908) 158. Zschr. Garbe 1918, 51 ff. 3 ) L a u b , Danske Studier 1904, 201 f f . ; Elling, 4 ) Fälle bei KriVid. 1909,98. Kristensen, Jyske Folkeminder 11, 353ff. (1891); s. auch Thuren 1. c. i 6 o f f . 5 ) Jon Leifs, Skirnir 1922, 139.

56. Bei den vielen unfesten aber, von Fall zu Fall wechselnden Freiheiten des Volksgesangs ist um so weniger Zweifel, daß, wenn nicht der Aufzeichner, so doch der Musik- und Versforscher zurücktasten muß zu der sachlichen, vom Schöpfer gesetzten Form. Rechnerisch genau bringt auch der Vortrag des K u n s t l i e d e s den Zeitfall selten heraus. Rhythmisch streng ist der Gesang zu Marsch und Tanz. Schon der Chorgesang ohne Leibesbewegung nimmt sich Freiheiten im Tempo. Vollends der Einzelgesang zeigt alle erdenklichen Grade vom straffen Taktieren bis zum Verfließen ins taktfreie 'Rezitativ'. Hier, wo die rhythmische Absicht des Urhebers im Drucke, in Notenschrift, vorliegt, fällt es dem Metriker nicht schwer, die Launen des Vortrags von der sachlichen Form zu scheiden. Schwieriger ist dies beim g e s p r o c h e n e n Verse. Unsre Texte bringen ja keine Rhythmenbilder; sogar die bekannten Strich-HakenFormeln über den Oden sind nur neckische Rhythmenschatten! Die Frage beantwortet sich nicht ohne weiteres, ob und wieweit der Vortragende von dem Rhythmus des Dichters abgehe. Volle metrische Wölbung hat wiederum der zum Reigen usw. gesprochene Vers. In geringerm Grade die Chordeklamation (z. B. in den Braut von Messina-Chören). Das Rezitieren des einzelnen ist womöglich noch mannigfacher als die Monodie. Geschmack, Blutwärme, Gewohnheit und augenblickliche Stimmung, auch Inhalt und Stil des Gedichtes bedingen irgendeine

44

GENAUIGKEITSGRADE DES V O R T R A G S .

Stufe zwischen einförmigem Hersagen und entgürteter Deklamation. Wir dürfen uns nicht verhehlen : nur eine kleine Minderzahl der Verssprecher hat die Andacht zum Rhythmus, die über dem Inhalt auch die Form wichtig nimmt, ihre Reize auskostet und sich ihrer Vorschrift beugt. Die wenigsten unsrer Gebildeten hätten ein A r g daran, beim Lesen z. B. von Alexandrinern planlos jetzt die Taktpause in dei Mitte zu machen, jetzt einen fortlaufenden Sechstakter zu sprechen ; und wie viele Hörer merken auf so etwas ? Bei unsern Berufskünstlern, auf Bühne und Podium, ist es nicht viel anders. Wir sprachen von der Herrschaft des natursüchtigen Geschmacks (§ 15) ; ihre Spuren werden nicht so bald getilgt sein. Diese Richtung war die geborene Feindin des Verses. 'Deklamierte Verse sind um so wohlgefälliger, je mehr sie schöner Prosa gleichen', schreibt ein Franzose im Jahr 1884 1 ). Auf dasselbe läuft es hinaus, wenn in Berlin u m 1890 herum ein Bürger an der Theaterkasse ängstlich fragt : 'Das Stück ist doch nicht in Versen ?' und die beruhigende Antwort erhält: 'Doch, aber man merkt es nicht!' Man merkt es nicht — auch in der Lyrik ! Ein geschmack- und maßvoller Vortragstechniker wie Emil Milan hat im Februar 1917 eine minder bekannte Klopstockische Ode — keine in Freien Rhythmen ! — so unplastisch, prosanah gesprochen, daß Schreiber dies, der aufpaßte wie ein Heftelmacher, nicht dahinterkam, welches Metrum es sei. Die Dichter selbst pflegen metrischer zu sprechen. Sie schämen sich des Verses, ihres eignen Verses, nicht. Man hat oft beobachtet, d a ß der Vortrag von Dichtern mehr zu eintönigem Singsang neigt als zu zügellosem Deklamieren 2 ). Aber auch bei Dichtern — der Verfasser denkt u. a. an einen Vortragsabend von Dehmel — spürt man, daß keine sichere Ü b e r l i e f e r u n g mehr da ist. Es begegnet so viel Launisches und Gekünsteltes; die Form zwar nicht verwischt, aber zerstückelt; die mißverstandene F o r m e l scheint manchmal störend hereinzuspielen (gewaltsames Überdehnen der Hebungen). Man möchte zuweilen dem Dichter gegen sich selbst zu Hilfe kommen 3 ) ! *) Pierson, Métrique naturelle du langage 227. Noch die Ausführungen von Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus (1923), sind stark bestimmt durch den natursüchtigen, formsprengenden Überdruß am'Metronom'. *) Boehringer, Jahrbuch für die geistige Bewegung 1911, 77 ff. Atkins, German versification 15 : Coleridge begründete sein singendes Verselesen mit: 'a poet writes in measure, and measure is best made apparent by reading with a tone'. Tennyson und Swinburne lasen ihre Verse scharf rhythmisch (Arkiv 29, 209). s ) Boehringer I.e. 79: der wahre Hersager kann dem bei der Geburt des Gedichtes tätigen Urrhythmus näher kommen als der Dichter selbst. Aber das letzte Urteil steht darum nicht minder dem Dichter zu.

R E A L E R UND IDEALER

ZEITFALL.

45

57. Was soll denn nun der Versbeobachter als metrische Form auffassen ? — Die Frage erhebt sich beim gesungenen wie beim gesprochenen Verse. Die Antwort kann nur lauten: sein Ziel ist, die Rhythmen zu erschließen, die der Schöpfer gemeint hat. D i e sind das Feststellenswerte und — im günstigen Falle — Feststellbare (§ 8). Die 'idealen Rhythmen', die sachliche, dauernde Form, die jeder Vortrag mit so und so viel Abzügen und Zutaten widergibt. Wollte man all diese Dehnungen und Pausen und Beschleunigungen buchen, so wäre es mit dem Aufstellen umfassender Versmaße vorbei; nicht einmal dem Einzelverse könnte man eine bleibende, angestammte Form zuerkennen. Entsprechendes gilt von den T o n s t u f e n des Gesanges. Vollkommen rein singt nicht der Zehnte. Bei Kunst- wie Natursängern stellt man eine ansehnliche 'Schwankungsbreite der Intonation* fest 1 ). Und doch hört man die Melodie richtig heraus — wo die Schwankungen nicht übers Maß gehen! Es unterscheiden sich da also die 'realen' Tonstufen, die der Apparat auffängt, von den 'idealen', die der Hörer in sich herstellt. Das läßt sich anwenden auf die realen und die idealen Rhythmen. Wir hören im vorgetragenen Verse physikalisch ungenaue Zeitverhältnisse: der formsinnige Hörer vermag daraus die genauen herzustellen. Ohne dieses Vermögen gäbe es keinen Genuß an rhythmischer Kunstform. Als im Jahr 1871 der Physiolog Ernst Brücke die Rhythmen neudeutscher Verse mit Hilfe einesApparats in welligen und zackigen Linien darstellte 2 ), da begrüßte man diesen Schritt, dem Versbau auf naturwissenschaftlichem Wege beizukommen; als war es nun erst möglich, tiefer in die metrische Form einzudringen. Damit überschätzte man das exakte Verfahren: es kann der Verslehre nur mittelbar verwendbaren Stoff zuführen, denn es bringt die einzelne Vortragsform mit einem Teil ihrer Zufälligkeiten und vielleicht Verstöße aufs Papier; das innere Rhythmenbild, die idealen Rhythmen, müssen wir uns nach wie vor erst herausschälen. Brückes Versuch fand zahlreiche Nachfolger mit den so viel genaueren phonographischen Werkzeugen. Sie haben der Lautlehre und der exakten Seelenkunde mehr eingetragen als der Versforschung 3 ). l ) Stumpf, Anfänge der Musik 73. *) Die physiologischen Grundlagen der nhd. Verskunst. 3 ) Eines der neueren Werke ist das von Behn, Rhythmus und Ausdruck in deutscher Kunstsprache 1921. Treffendes bei Wm. Thomson, The rhythm of speech (1923), u. a. S. 64: . . . no mechanical results can take the place of tests making a direct appeal to the human ear.

46

DAS

SKANDIEREN.

58. Wie soll man vortragen ? Welche Linie soll man innehalten zwischen marschmäßiger Genauigkeit und formbedrohender Freiheit? Der Metriker schuldet darauf keine Antwort. Er will nicht Gesetzgeber sein. Als Beschreiber kann er auch freierem Vortrage seinen Reiz nachfühlen — solange man 'es noch merkt', daß es Verse sind und was es für Verse sind. Der Dichter soll nicht umsonst seine Silben geordnet und gewogen haben. Und der Hörer, soweit er nicht formenstumpf ist, muß die vielen einmaligen, persönlichen Freiheiten noch verarbeiten können zum idealen Rhythmenbilde. Wo sich der Metriker für seine Zwecke Verse vorspricht oder singt, wird er das 'Skandieren1 nicht scheuen. Es fragt sich nur, was man darunter versteht! Wenn Herder und Schiller von 'Skandieren' sprachen, dachten sie sich dabei nichts Schlimmes. Neuere Forscher haben einen wahren Kinderschreck daraus gemacht. Skandieren, das ist ein ins Lächerliche ziehendes Geklapper mit absichtlich unnatürlicher Sprachmelodie und übertreibendem Hämmern der Ikten, besonders der Ikten auf schwächeren Silben. . . Wir verstehn unter Skandieren einen Vortrag, der in Melodie, Schallfarbe, auch Stärkegrad der Silben nichts Gekünsteltes hineinträgt, der einzig die Zeitwerte liebevoller herauswölbt, als es in dem üblichen freien Vortrag zu geschehen pflegt. D i e s e s Skandieren ist nicht kunstwidrig, nicht ausdruckslos. Man glaube doch nicht, daß Ausdruck und rhythmische Plastik einander feind seien! Auch nach dem Metronom kann man seelenvoll geigen; eine so vom Rhythmus lebende Schöpfung wie das Scherzo des Beethovenschen Großen F-Dur-Quartetts, was würde aus ihr, wenn sie vom Metronom gar zu merkbar abrückte! Ein besonderer Fall ist der, daß t o n b e u g e n d e deutsche Verse zu sprechen sind; Verse mit Widerstreit zwischen Iktus und Sprachton. Da wird das Skandieren den Widerstreit hervorkehren : der Vortragende, dessen Ziel der Kunstgenuß, nicht die zergliedernde Beobachtung ist, wird die Härte tunlich verschwinden machen. Er steht vor der Wahl, ob er dem Sprachton oder der kunstrhythmischen Linie mehr Recht gönnen will (§ 66). Wie er sich da entscheiden soll; welche Mittel der Verschleierung ihm zu empfehlen sind: dies ist wieder Sache des Vortrags-, nicht des Verslehrers. Als vornehmstes Mittel der Verschleierung genießt die schwebende Betonung in den Lehrschriften hohes Ansehen. Man versteht darunter ganz Verschiedenes. Z. T. soll dynamische Ausgleichung (Ebnung) die sprachliche Härte mildern: anstatt eines

SCHWEBENDE

BETONUNG.

DIE

VORBESTIMMTE F O R M .

47

schwach sprechen (sterben) — daher eben das 'Schweben'! Z . T . soll man die gebeugte Silbe durch T o n h ö h e entschädigen (sierben); u . a . m . Eine einheitliche Artbestimmung darf man nicht erwarten, denn die schwebende Betonung ist keine einmal geschaffene und dann weitervererbte Größe, gleich einer metrischen Form: sie ist eine F o r d e r u n g und als solche vom Geschmack des einzelnen eingegeben. Daran beirre nicht, daß manche Bücher — nicht nur Vortragslehren — mit gründlichem Ernst die 'Gesetze' dieser Forderung entwickeln. Gesetze gibt es hier ebensowenig als in der Frage, wie man unreine Reime behandeln solle: ob man das Schillersche könige : höh als kenige : he oder anders zu sprechen habe u. dgl. m. Fest steht das eine: schwebende Betonung kommt überhaupt nur in Frage bei k r a n k e n Versen, d. h. tonbeugenden, sprachwidrigen. Unser Leser mache sich darauf gefaßt, daß diese Größe nur selten vor ihm auftauchen wird: nicht weil wir sie dem Vortrag, wo er in Versnot ist, verwehren möchten, sondern weil wir sie zu den Kunstgriffen d e s V o r t r a g s rechnen und damit zu dem Nichtfeststellbaren — so wie die Behandlung von könige: höh. Normalerweise k e n n t der Vortragende die metrische Absicht des Urhebers, d. h. er hat sie erschlossen; er ist sich über das gewollte Versmaß im klaren. Folglich ist sein Vortrag eine Wiedergabe v o r h e r b e s t i m m t e r Rhythmen. Er liest, schulmeisterlich ausgedrückt, das Versschema in den Vers hinein. Kommt nur alles drauf an, d a ß er das richtige Schema, nämlich den vom Dichter gemeinten Rhythmus, hineinlese! Das Wort 'Schema', recht verstanden, braucht so wenig ein Popanz zu sein wie das Wort 'Skandieren': es meint die im Bilde festgehaltene rhythmische Linie. Da der duftigste Vers seine rhythmische Linie hat, kann er sich auch sein Schema gefallen lassen, nur eben — das richtige! Eine Ausnahme machen die 'vielgestaltigen' Maße mit ihren rhythmisch mehrdeutigen Zeilen, vor allem die Freien Verse (§84). D a ist die Form nur zum Teil 'vorher bestimmt'. Man kann über die Versart im klaren sein und dennoch beim einzelnen Verse mehrere Wege vor sich haben. Denn da ist mit der bestimmten Silbenreihe noch kein bestimmter Kunstrhythmus gegeben. Die Versart läßt Spielraum, und der Vortragende muß auf eigene Verantwortung die Wahl treffen. Im übrigen ist die natursüchtige Forderung abzuweisen: man müsse das sogenannte Schema aus dem Verse heraus lesen. Gewiß, wo wir einer nur schriftlich übermittelten Zeile ihre Form erst abfragen müssen, da gibt es keinen andern Weg als das Heraus-

48

GESPROCHENER

UND GESUNGENER

VERS.

lesen! Aber dieses Geschäft hat der Vortragende — sofern er nicht unbekannte Formen aus dem Stegreif liest — hinter sich, und nun ist er seinem Stoffe gegenüber keine unbeschriebene Wachstafel mehr, der rhythmischen Eindrücke aus dem T e x t gewärtig. Er kommandiert nun den Rhythmus — soviel als möglich im Geiste des Schöpfers! 59. Jeden unserer Schritte trägt der Boden: daß metrische Ordnung dem gesprochenen wie dem gesungenen Verse zukommt. Unterschiede der beiden Lager sind uns schon begegnet (§ 28f. 35. 38f. 46) und werden uns noch oft begegnen. Wir werden u. a. sehen, daß unsangliche Stabreimverse amorphe Stücke enthalten, Stücke ohne gemessenen Zeitwert (§218.247). Bei Rhythmen wie in § 44, 8. 9 versteifen wir uns nicht darauf, daß diese Teilung in Achtel und Sechzehntel rechnerisch genau zu nehmen sei. Noch dieses Zugeständnis machen wir: daß über das T a k t g e s c h l e c h t beim gesprochenen Verse leichter Zweifel bleiben kann; manchen neudeutschen Gruppen wird man beide Möglichkeiten, zwei- und dreiteiligen Takt, offen lassen. Daß jedoch der Begriff des Taktgeschlechts dem Sprechverse überhaupt fremd sei, ließe sich nicht halten; z. B. die sprachliche Behandluhg des deutschen Hexameters, eines entschiedenen Sprechverses, versteht man nicht ohne die Annahme eines Taktgeschlechts. Mit alledem erkennen wir den beiden Lagern, dem unsanglichen wie dem sanglichen, 'geordneten Rhythmus' zu in dem bestimmten Sinne: gleiche Zeitspannen (Takte) und, davon nicht zu trennen, rationale Zeitverhältnisse. Die bedeutsame Grenze zwischen geordnetem und ungeordnetem Rhythmus hat nicht links den Gesangsvers, rechts den Sprechvers samt der Prosa; sondern sie trennt die beiden Massen: Vers und Prosa. Gesang findet sich hüben und drüben: es gibt gesungene Verse und gesungene Prosa ('Rezitativ' § 62). D a ß Singen als solches auf genaue Zeitrechnung dränge, ist ein bei musikfremden Metrikern beliebter Aberglaube. Wir werden uns nicht einreden lassen, die Rhythmen im Heidenröslein oder 'Ich hatt' einen Kameraden' seien von Seelengrund aus andere Größen, je nachdem wir sie singen oder sprechen. Man hat versucht, das Merkmal des vershaften R h y t h m u s in anderm zu finden als im Takt und den einfachen Zeit Verhältnissen 1 ) : ohne Erfolg! man brachte keine Eigenschaften bei, die nicht auch dem Prosarhythmus zukämen. D i e Frage muß fest im Auge behalten, wer den gesprochenen Vers vom gesungenen unterscheiden will: was bleibt mir, um den gesprochenen Vers v o n d e r P r o s a zu unterscheiden? l ) Wundt, Grundzüge 5 3, 105. 156; Scripture, The elements of experimental phonetics (1902) 551; Tenner, Zschr. f. Ästhetik 8, 262. Vgl. Vf., ebd. 1, 28of.

D I E L E H R E VOM T A K T F R E I E N

SPRECHVERS.

49

60. Seit etwa 1870 haben namhafte Forscher die Ansicht bekannt: geordneten Rhythmus (in unserm Sinne) habe nur der eine Teil der Verse; der andere Teil — bisweilen sagte man kurz: der Sprechvers — sei taktfrei. Diese Anschauung zog von Anfang an sachliche Gründe herbei (man berief sich u. a. auf altgriechische Sätze); ihre Wurzeln aber lagen zweifellos im persönlichen Erlebnis, in den eigenen Gewöhnungen und Schönheitsansprüchen. Bei diesen redet mit das eigene Idiom: man weiß, wie ungleich die deutschen Mundarten mit rhythmischem Mark gesegnet sind1). Aber das Entscheidende ist doch wohl die angeborene Sprache nicht; es stehn ihr gar viele persönliche Bildungseinflüsse gegenüber. Eine Hauptsache war, daß man sich dem natursüchtig freien Vortrag, als dem 'sinn- und stilgemäßen', ergab und nicht einsah: das verpönte 'Skandieren* unterstreicht ja nur die Rhythmen, die man auch aus bewegter Deklamation heraushört 8 ). Dazu kam die von Vetter, dann namentlich von Sievers verfochtene Meinung, der germanische Stabreimvers trotze jeder takthaltigen Formgebung. Dies begründete man damit, er sei ausschließlich Sprechvers, und als solcher vertrage er keine meßbaren Zeitwerte. Vom Stabreimverse aus gewann diese ganze Lehre überhaupt erst Kraft und Einfluß: früher, bei Westphal z. B., ließ sie die tatsächliche Behandlung und Abbildung der Sprechverse noch ungeschoren3). Eine Auseinandersetzung mit dieser Lehre wäre heute entbehrlicher als in den 1890er Jahren 4 ). Mancher dürfte mittlerweile, wie Sievers, von ihr abgekommen sein6). Ein Widerlegungsversuch müßte schon darum umständlich geraten, weil es nicht e i n e geschlossene Lehre ist: man hat die Formlosigkeit des Sprechverses in sehr ungleicher Art und Ausdehnung behauptet. Brücke und Stolte haben die Taktgleichheit anerkannt und nur die innere Gliederung der Takte, das Taktgeschlecht, geleugnet. Oder man hat gewisse Gattungen der Sprechverse, auch der buchhaften, noch zum takthaltigen Lager geschlagen6). So weit gingen wohl die Wenigsten, daß sie den Begriff des Zeitwertes überhaupt ausschalteten aus der Beschreibung deutscher Verse, die Verssilben als zeitlich gleichgültige Größen nahmen und demgemäß Formeln wie diese gebrauchten 7 ): wizzöd sinän k X Pentameter ^ X X ' X X X ^ II ^ X X - ^ X X ^ Joniker X X ^ ' X X X ^ • • • ' Da ist aus dem rhythmischen Gerippe (§22f.) noch einmal die zeitliche Größe ausgelaugt: es bleibt übrig, außer der Zahl, die H e u s l e r , Deutsche Versgeschichte.

4

50

DIE

L E H R E VOM T A K T F R E I E N

SPRECHVERS.

Stärke. Gehörgrößen haben wir da nicht mehr vor uns; der Zeitfall ist zu einem A b s t r a k t u m geworden . . . Im Grunde ein Mißverständnis des Schlagworts v o m 'akzentuierenden Versbau' (§97)Eine ernsthafte, tiefdringende Begründung seiner Lehre hat nur Saran versucht 8 ). Sie steht und fällt mit seinem Glauben, metrische Ordnung verliere ihren Grund und werde stilwidrig, w o der Vers (vom T a n z und dann) v o m Gesang loskomme; vgl. o. § 27. Doch redet auch Saran von 'Sprechmetra, die dem orchestischen R h y t h m u s nahe bleiben', und meint, 'in manchen Gedichten wird beinahe noch (!) eine A r t (!) metrischer Proportion beibehalten'. Mit derart bänglichen Klauseln m u ß man sich u m das Anerkennen der schlichten Tatsachen herumdrücken. Gelegentlich bekommen Sprechverse auch ein Taktgeschlecht zugestanden (DVersl. 186. 341) — was notwendig in viel weiterm U m f a n g geschehen mußte, wäre die Spondeenfrage mit Zubehör eingehend behandelt worden. Taktgeschlecht ohne T a k t geht aber nicht g u t a n ! — Die Hauptsache i s t : auch Saran stellt die Taktfreiheit der Sprechverse nicht als Beobachtungstatsache f e s t ; sie ist i h m eine Geschmacksforderung. E r leugnet uns anderen nicht unser rhythmisches Erlebnis, er erklärt es nur für sinnund stilwidrig. Er w a r n t wiederholt davor, Verse im T a k t zu sprechen, denn der Skansionsvortrag, meint er, töte alle Poesie. D a stehen wir wieder beim persönlichen Erlebnis und Schönheitsgefühl ! l ) Eine beachtenswerte Bemerkung darüber bei Sievers, Beitr. 13, 1 4 7 1 : das Nord- und Mitteldeutsche habe weniger 'scharf und reinlich quantitierenden R h y t h m u s ' (im Sinne von § 97 1 )- Im einzelnen gäbe es da viele A u s n a h m e n ; man denke an das Baltische I Und sogar an Berlinern fehlt es nicht, die sich in die rhythmische Zackenlinie altgermanischer Verse vollkommen einleben. Felix Genzmer als Eddaübersetzer hat dies schöpferisch bewährt. 2 ) Treffend und klar f a ß t dies Beckman, Grunddragen a v den svenska 3 ) Auch v e r s l ä r a n 3 (1918) § 2 A n m . für außergermanische Verse ferner Jahrhunderte hat man nach B e d a r f , wenn z. B. die Silbenlängen nicht glatt aufgingen, den Grundsatz der Taktfreiheit als einen deum ex machina angerufen; aber da mußten es keine Sprechverse, es durften so sangliche Zeilen sein wie die von Alcaeus und Sappho. Unter Umständen verwies man auf die Taktfreiheit im Gregorianischen Gesang und in Freien R h y t h m e n der Neuzeit (Meillet, Metres grecs 29 f.). Gebilde wie die äolischen Strophen gehören nicht in diese Nachbarschaft; es gibt doch etwas wie metrischen Stil! Man müßte sich fragen, ob Rezitative wie das Gregorianische vereinbar sind mit Silbenzählung und quantitierenden Regeln, und ob nicht das F e h l e n 4) solcher Schranken die modernen Freien R h y t h m e n kennzeichnet. Der Vf. hat GermVb. 2-20 (1894) die damalige Sieverssche Lehre v o m taktfreien Sprechvers bekämpft. Eine Erwiderung darauf ist ihm nicht bekannt geworden. E) In seinen Metrischen Studien 4 (1918/19), dann in der Schrift 'Die E d d a lieder' (1923) 175 f. nimmt Sievers auch für Sprechverse strenges Takthalten und bestimmtes Taktgeschlecht in Anspruch. In der Streitberg-Festschrift

DAS

RHYTHMIZOMENON.

5i

1924, 90 bekennt er sich d a z u : ' T a k t m ä ß i g e Gliederung ist das einzige Merkm a l , welches die Poesie eindeutig v o n der Prosa abhebt.' Spät k o m m t ihr, doch ihr k o m m t ! 6 ) Minor, Nhd. Metrik 2 11 ff. 2 ö f f . : Knittelverse, Freie R h y t h m e n , Hexameter, Odenmaße sollen die T a k t d a u e r beachten. Vgl. Vf., A n z A l t . 21, 1 7 9 f f . ' ) K a u f f m a n n , Deutsche Metrik 3 (1912); 'der Reimvers ist f ü r gesangsmäßigen (aber taktfreien) V o r t r a g bestimmt' (S. 34), daher gehen auch die sanglichen Verse ohne R h y t h m e n b i l d e r aus. Die drei Zeichen beim Stabreimvers: X, und J, meinen, wie bei Sievers, keine Zeitwerte. 8 ) U . a. D Verslehre passim.

7. Abschnitt: Die deutsche Sprache als Versstoff. 61. Gleiche Rhythmen, wie sie der Dichter in Versen schafft, werden hörbar auch in Flöten weisen oder Trommelmärschen. Die rhythmische Ordnung besteht schon außerhalb der Sprache: die Nerven des Dichters durchzittert sie, eh er diese körperlose Linie in Sprache einkörpert. Bald ist es nur der metrische Rahmen, d a s ungemischte Grundmaß (§ 42), das sich dem Dichtenden in Ohr und Gliedern rührt; bald sind es einzelne Versprofile, Füllungstypen, die ihn in Schwingung setzen. 1 . . . Innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches vorzuflüstern, so d a ß ich mich beim Wandern jedesmal im T a k t b e w e g e . . (Wanderjahre I I I 1, W . A. 25, 66). Die Tanzableitung des musischen R h y t h m u s (§ 27) brauchen wir nicht zu bejahen, um einzusehen, daß die musische Form an die Sprache herantritt: die Sprache ist das zu Formende. Wie der Raumkünstler in dem S t o f f , dem knetbaren, behaubaren dem < X

7 8 9 X -Z- X

b) v w y • Man sieht und hört den Widerstreit der beiden Rhythmen. Die Stärkestufen widerstreiten einander bei Silbe 4 : 5 und bei Silbe 8 : 9. Sprechen wir Rhythmus a, so beugen wir die natürliche Betonung; wer getröst fortgehet, der kömmt an. Sprechen wir Rhythmus b, so hören wir keinen Vers, jedenfalls keinen Hexameterschluß. Diese Zeile ist sprachwidrig oder verswidrig. 67. Sprach- und versgerechte germanische Verse entstehen, w e n n I k t u s und B e t o n u n g i m E i n k l a n g sind. Dieser Grundsatz gilt als Eckstein des germanischen Versbaues, genauer: der Sprachbehandlung im germanischen Verse. Es ist die prosodische Hauptregel germanischer Dichtung. Im Hinblick auf diesen Grundsatz nennt man den germanischen Vers akzentuierend (§88). Der Grundsatz muß so alt sein wie der germanische Stärketon, also unseren frühesten Sprachzeugnissen vorausliegen. In gotischer oder althochdeutscher Zunge wären nichtakzentuierende Verse so sprachwidrig gewesen wie in neudeutscher (Vf., D. ant. Vers 5 f.). Der Einklang von Iktus und Sprachton ist kein 'Gesetz'; keine unerläßliche Bedingung. Es gibt Myriaden deutscher Verse, die den Einklang entbehren; doch, wohlgemerkt, n o c h k e i n e im altgermanischen Zeitraum, als unsre Verskunst noch ganz heimisch war! — Man kann jene Verse schadhaft, fehlerhaft nennen; nicht alle fanden und finden sie unschön; Verse sind es jedenfalls. Gesungene Dichtung, in alter und neuer Zeit, k a n n sich freier über den Einklang wegsetzen als unsangliche. Die Weise kann 1

1

58

HEBUNGSFÄHIG UND HEBUNGHEISCHEND.

das Ohr ablenken von dem Widerstreit ; man wird weniger empfindlich für den Anspruch des Sprachrhythmus. 68. Der 'Einklang' von Iktus und Sprachton läßt sich genauer bestimmen. Zu viel sagt der beliebte Satz: die beiden müssen sich decken. Was darauf hinausliefe: jede betonte Silbe gibt eine Hebung, jede unbetonte eine Senkung. Verse wie: sumun te falle, sùmun te fröbrü 1 ) guoten morgen, gùoten abènt2) heiße magist er, hèifie dóctor gàr

w

w

w i X X IX X !

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w

I X x I

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X I X X ! k

machen deutlich: genau gleichwertige Satzglieder kommen beim Dichter zu ungleichem Range. Das erste su-, guo-, hei- war hier ebenso hebungsfähig wie das zweite. Verse wie: die verlorne fand er nicht; willst du àbsolùtión; nùn in traurigèr gestält; und nistetè sich in das leere verwenden unbetonte Silben, vor- und rückgeneigte, als Hebungen. Noch entschiedener tut dies die Messung: wie liebè mit léidè, die sich heute aufs Gesangliche zurückgezogen hat (wir hàttèn gebàuèt), aber auch uns noch keineswegs sprachwidrig berührt. Endlich die Silbenreihe: angenehm vor vielen, die als getreue dämonen würde in ungesuchtem Prosarhythmus etwa so, vierhebig, klingen : X w >< X > kommt an wurde zu y / y . Es gibt härtere und gelindere Umdrehungen in reicher Abschattung. Wir heben hervor: Es kommt an auf die Stärkestufe der zwei vertauschten Silben: 1. ö vater uns^r. .; verlacht, verhöhnt und verspeit, |] wie denn die schrift säget: ein Hauptton erniedriget unter einen Schwachton. 2. ist ntin der größvater zugleich mit dir gestörben; wenn dir das herz zum grausamen entschlüß: Nebenton gegen Schwachton.

6o

A R T E N DER TONBEUGUNG.

3. des r&chs zukünftige höffnung; kehrt er zurück, weh ¿uch: Hauptton gegen Nebenton. An der Grenze des Sprachwidrigen: die tür aufschließen; den zwäng abwirft; wenn nöt eintrat und ähnliche mit sprachlichem Übergewicht der ersten Hebungssilbe. Einen Unterschied macht es, ob die Umdrehung ein oder zwei Silbenverhältnisse ergreift. Man stelle gegeneinander einerseits: deines geschl&hts ahnhirrn für 1 d&in kennt jemand den herrn für - 1 1 anderseits: . . ¿ngel und erz^ngel für 1 1 \ _; s6in leiblfed zu bldsen für _ 1 \ _ 1 döm die mitternächt aufhörcht für 1 _ 1

1;

Ii.

Besonders empfindlich gegen Umdrehung ist der Versschluß (auch die Pentametermitte): dem düsteren himmel entsank nacht für . . - \ 1 \ des Weltgerichts wagschal hält f ü r . . . 1 - 1 ; bleiben der stölz Deutschlands f ü r . . 1 1 — 71. Tonbeugung entsteht ferner, wenn von zwei benachbarten ebenbürtigen Starktönen der eine in die Senkung kommt. Hier also keine Umdrehung wie bisher, aber eine ohrenfällig ungleiche Behandlung sprachlich gleicher Werte. Eine hebungheischende Silbe wird als senkungsfähig genommen. st£hl stehl riefen sie aus. .; blieb, sank, neigte sein jhaupt; so wärd vollendet des Zeus rat für . . - 1 1 . Hierher die vollgestopften Aufzählungsverse, die schon die ritterliche Kunst zuließ und die im 1 6 . 1 7 . Jahrh. offenbar gefielen ; z. B. bei Fischart: so wächst freud, fried, ehr, preis und rühm. Man halte daneben Verse wie: vieh, manschen, städt und feldör; herz harzen zugekehrt; warm, fröhlich schau umher. Hier ist ein ebenbürtiger Starkton in den A u f t a k t gestellt. Das empfinden wir nicht als Tonbeugung. Und gleiches gilt von den häufigeren Fällen, die sich an § 70, 3 anreihen: ein Hauptton im Auftakt, ein Nebenton im ersten Iktus: taup6rlen In dem haar; neugierig schnell, wie es geziemt. . ; Die wenigsten unserer Dichter scheuen solche Eingänge. Der Stabreimvers kannte derartiges noch nicht, aber der Reimvers von Anfang an (§498). Man darf die Erscheinung als formgerecht ansehen. Der Silbe im Auftakt kann man ihr gebührendes Tongewicht geben, ohne im weiteren die Stärkestufen zu verwirren; die Zeitwerte bleiben die gewohnten. Also

DIE

VORGENEIGTE

SILBE.

61

Auftakt gleichsam ersetzt durch eine Hebung, die für die Taktzahl nicht mitrechnet. Selbst das Goethische: gut!!! rief er sich zum meisterlöhn kann man ruhig so behandeln. (Ist die 2. Silbe sprachlich schwach, dann steht auch die Formung | x w w | x . . zur Wahl: laß den gesang vor unserm ohr.) Auch im Versinnern kommt man leichter über die Beugung von L 1 oder 1 \ zu x x hinweg, wenn ein Einschnitt davor liegt und damit die erste der zwei Silben einem (innern) Auftakt gleicht: unendlich größ und klein: z e i t , räum, bew^gung, zähl; w&n von Ilios feld 1 rückköhr nach hause bestimmt sei. 72. Tonbeugung ist es, wenn man d i e v o r g e n e i g t e S i l b e (§ 65) überanstrengt. Dies geschieht, wenn sie mehr als eine Mora, wenn sie Hebungs- + Senkungsteil zu füllen hat. Von Umdrehungen, wie in § 70 (verlacht; dfe schrift), ist hier nicht mehr die Rede. Die Zeile: süßer friede in Wandrers Nachtlied hat diese Versform : j_ | j_ oder: fc/s I fc ^ Die rückgeneigte Silbe -ßer trägt ohne Anstoß die zwei Viertel. Hieße es: süß gedenken, dann stände da die vorgeneigte Silbe ge-; die würde in der Messung j_ \_ | _r_ fühlbar überlastet. Sprachgemäß wäre dann: ,_/_ x ! J_ >) und der Sprachtöne: äkkd (Tiör|peir| KOpüvrj prprvucTKe (pdXctfTas >

>

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scribendi recte sapere est et principium et fons Dieses Auseinanderfallen gab so wenig Anstoß wie etwa die Tonfigur : .

•i

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wo die beiden Hebungen des ersten Taktes auf tiefere Töne treffen. Als Tonbeugung' konnte es auf die Sprachgenossen nicht wirken, so wie ein deutsches: wer getrost fortgehet, der kömmt an (§ 66); verlacht, verhöhnt ünd verspeit (§ 70). Ob Sprachen mit nur-melodischer Betonung jemals Zusammenfall von Iktus und Sprachton fordern ? Vorstellbar war es. Vielleicht gibt es doch ein Wägen nur da, wo das Gewogene sprachliche S t ä r k e s t u f e n sind. 91. Folglich: der germanische Vers wägt, der antike wägt nicht. Beides aus triftigem Grunde: weil der germanische Sprachstoff Stärketon hat, der antike nicht.

D A S MESSEN.

G R A D E DES MESSENS.

77

D i e s e r Gegensatz der beiden Lager darf u n b e d i n g t heißen, nicht gradmäßig. Trotzdem so viele deutsche Verse gegen das rechte Wägen sündigen! Ein vkrlacht, virhöhnt. . . tritt nur scheinbar zu dem antiken Grundsatz über. Denn dieser Grundsatz heißt nicht: Betonung und Iktus dürfen im Streit stehen; sondern: sie können einander gar nichts anhaben. Anders verhält es sich mit dem zweiten Teil der berühmten Formel: der Vers der Alten mißt. 92. Messen meint: der Vers stellt Forderungen an die sprachliche Dauer der Silben; für gewisse rhythmische Werte will er sprachlich lange, für andere Werte sprachlich kurze Silben. Oder vom Standpunkt des Sprachstoffs: lange und kurze Silben wollen im Verse ungleich behandelt sein, sie verlangen ungleiches Maß. Man weiß, wie dieser Grundsatz den antiken Vers beherrscht. Aber der germanische Vers, kennt er kein Messen? — In § 72ff. haben wir gesehen: auch dem germanischen Verse ist die sprachliche Länge und Kürze der Silben nicht gleichgültig. Die verschiedene Wertung von sägen : lägen usw. zeigt dies besonders deutlich. Zusammen gehen germanische und antike Prosodie in dem einen Punkte : die sprachliche Kürze erhält nicht mehr als eine Mora (§72.74). Aber die Rücksichten des germanischen Verses auf die sprachliche Silbendauer sind viel begrenzter. Sprachliche Länge und Kürze gelten meist gleichviel, wo e i n e Mora zu füllen ist (§ 75D); auch halbe und Viertels-Morae — die den Alten fremd sind — können, zumal im Auftakt, eine Länge bergen; die Menge der Endsilben ist überhaupt der Teilung k u r z : lang selten unterworfen. 93. In all dem ist das Messen der Griechen viel strenger, durchgreifender. Kennt man ein griechisches Rhythmenschema, so weiß man ohne weiteres, wo sprachlich kurze, wo lange Silben stehen müssen. Germanische Versbilder ließen dies an manchen Punkten offen. Bei den Alten hängen Versrhythmus und sprachliche Silbendauer so innig zusammen, daß man die Zeichen _ und w zu Sinnbildern der sprachlichen Länge und Kürze gemacht hat und nun aus diesen grammatischen Sinnbildern die Versformeln aufbaut. Bleiben auch noch die Iktenzeichen weg, so entstehen freilich gar unvollkommene, mehrdeutige Bilder; man denke an die chorische Lyrik! doch immerhin noch Schattenbilder rhythmischer Formen. Auf germanischer Seite wäre es untunlich, ein Versschema nur nach den Silbenquantitäten zu zeichnen. Man nehme etwa aus § i r die K. Gislasonsche Formel für die

78

G R A D E DES M E S S E N S .

V O S S UND DAS

QUANTITIEREN.

beiden Zeilen: vasa pat beert und bana Gobiaugs: vom Rhythmus verrät uns diese Formel nichts! Anders ist es mit den bekannten Schablonen unsrer Odendichter: deren _ und w meinen ja in Wirklichkeit nicht lang und kurz, sondern stark und schwach, wennschon nicht folgerecht! Es sind keine auf die Silbendauer gestellten Sinnbilder. Also beim Messen handelt es sich um eine Gradfrage — während vorhin beim Wägen ein unbedingter Gegensatz bestand. Der germanische Vers wägt und mißt; Rücksicht auf die natürliche Silbendauer ist ihm nicht in gleicher Weise fremd, wie dem antiken Verse Rücksicht auf den natürlichen Ton. Es geht zu weit, wenn man den germanischen Vers 'nichtquantitierend' nennt. Aber das Akzentuieren ist ihm wichtiger (§ 82). Weil seine Sprache in den Dauerverhältnissen schmiegsamer, anspruchsloser, weniger verletzlich ist. Darin kann er sich freier bewegen. E s g i b t m e h r Stellen im germanischen Versrhythmus, die gegen das sprachliche Lang-Kurz gleichgültig sind als gegen das sprachliche StarkSchwach. 94. Auch innerhalb des germanischen Bereichs kann man von einem Mehr oder Weniger des Messens reden. Die alternierenden Arten, überhaupt der zweisilbige Takt | )< x I unempfindlich gegen die sprachlichen Dauerunterschiede, weil beide Glieder dieses Taktes von deutschen Silben beliebiger Dauer gefüllt werden können. Bei den Takttypen I J _ l> I ii w ^ l> l ^ w u u l i I 1 . X I' I w X I. aber auch I X X I ist das anders 1 ). Nur erinnern wir daran, daß bei sprachgerechter Füllung dieser Takte immer die Silbenstärke das erste Wort hat (§79). Griechennachahmer, Voß und seine Gefolgen, waren des Glaubens: sie hätten dem deutschen Verse das Quantitieren gelehrt. Die Unterschiede von | _ w | und | |, von | _ ^ ^ | und | ^ ^ w |, also Dauerunterschiede, habe der deutsche Volksvers mißachtet; das Studium der Alten habe unsrer Dichtung diese Unterschiede erobert. Demgemäß hat man später, als man von der Sprachwissenschaft die Wichtigkeit des Starktons gelernt hatte, erklären können: zu dem altererbten 'bloß accentierenden' Verse habe die neudeutsche Dichtung eine zweite Grundart hinzugewonnen: den 'accentierenden und zugleich streng quantitierenden' Vers2). Dies wären eben die Verse Vossischer Richtung. Man hat die Lehre bis auf unsre Tage wiederholt3). Sie fließt aus dem Grundirrtum der Titz-Minckwitzischen Verstheorie. Wir werden dies an seiner Stelle zu beleuchten haben. Für jetzt begnügen wir uns mit der schlichten Frage: schmiegen sich die

G R A D E DES W Ä G E N S .

W E D E R W Ä G E N NOCH MESSEN.

79

s t r e n g griechelnden Zeilen den D a u e r s t u f e n der d e u t s c h e n S p r a c h e enger a n als z. B . f o r m g e r e c h t e K n i t t e l v e r s e ? D i e s e F r a g e m u ß man bestimmt verneinen. J e n e Z w e i t e i l u n g ist p a p i e r e n . B e i keiner V e r s a r t h a t der d e u t s c h e D i c h t e r die W a h l : soll ich sie m e s s e n d oder n i c h t m e s s e n d h a n d h a b e n ? G e s e t z t n ä m l i c h , d a ß er d e u t s c h e Verse, sprachg e m ä ß e , zu b a u e n d e n k t ! D a n n m u ß er in A s k l e p i a d e e n g e n a u so viel u n d so w e n i g messen w i e i m K n i t t e l v e r s . E i n Mehr v o n Messen k o m m t d e m V o s s i s c h e n V e r s e n i c h t z u . W o h l aber ein W e n i g e r v o n W ä g e n . D e n n er b e u g t j a m i t A b s i c h t d e n T o n . U n d w e i l er m i t d e m T o n e o f t a u c h die D a u e r v e r z e r r t , l a u t e t d a s U r t e i l s o g a r : dieser a n g e b l i c h ' s t r e n g q u a n t i t i e r e n d e ' V e r s m i ß t s c h l e c h t e r als ein g e s u n d e r V o l k s v e r s . A m a u f f ä l l i g s t e n da, w o er d i e v o r g e n e i g t e S i l b e ü b e r a n s t r e n g t (§ 7 2 ) : m i t f u c h s p e l z e v e r b r ä m t . . . Mit als L ä n g e ! (denn d i e H e b u n g i m zweisilbigen H e x a m e t e r t a k t ist w i r k l i c h , n i c h t b l o ß auf d e m P a p i e r , eine L ä n g e ) . U n s r e S p r a c h e b e d a n k t sich f ü r dieses Quantitieren! *) S . o . § 7 9 und A n z A l t . 21, i 8 l f . ( 1 8 3 9 ) 2 5 . 2 8 . 5 6 . Das Genauere später.

2) 3)

Dilschneider, Deutsche Saran, DVersI. 211.

Verslehre 2

9 5 . A u c h d a s W ä g e n der Silben aber k e n n t G r a d e . D e m rom a n i s c h e n V e r s e darf m a n ein bedingtes, b e s c h r ä n k t e s W ä g e n z u e r k e n n e n (§ 102). W o d i e P r o s a ihre S t ä r k e s t u f e n so scharf a b s e t z t w i e bei den G e r m a n e n (§ 63), d a ist v o m V e r s e ein s t r e n g e s W ä g e n zu e r w a r t e n . L e h r r e i c h zeigt der V e r s der F i n n e n u n d E s t e n , w i e sich Messen u n d W ä g e n in d i e H e r r s c h a f t teilen k ö n n e n . A u f der a l t e r t ü m lichsten S t u f e ü b e r w i e g t d a s e r s t e ; in den estnischen R u n e n neuerer Z e i t n i m m t d a s W ä g e n ü b e r h a n d ; die R e i m v i e r z e i l e r der F i n n e n ' b e f o l g e n ausschließlich die F o r d e r u n g e n d e s A k z e n t e s ' ( K . K r o h n , K a l e v a l a s t u d i e n 1, 2 2 f f . 5 5 f f . ) . D a g e w a h r e n wir nicht nur die z w e i E n d p u n k t e , w i e in der griechischen und der römischen V e r s g e s c h i c h t e , sondern ungleiche M i s c h u n g s g r a d e , und z w a r an der einen K u n s t f o r m , d e m trochäischen V i e r h e b e r . V o r k o m m t aber auch ein V e r s b a u , der k e i n e s von b e i d e m k e n n t : w e d e r W ä g e n noch Messen. D e r Meistersingervers mit seinen V e r w a n d t e n gehört sozusagen per nefas hierher ( § 8 2 . 9 1 ) . Der m i t t e l l a t e i n i s c h e ' R i t m u s ' ersetzt d a s Messen der A l t e n l a n g e nicht i m m e r d u r c h ein W ä g e n , d. h. d u r c h E i n k l a n g v o n I k t u s und S p r a c h t o n ; es begegnen in Menge Zeilen, die weder messen noch w ä g e n . 'Messer ohne K l i n g e , denen der Griff f e h l t ' , n a n n t e sie W i l h e l m Meyer (Ges. A b h . 2, 8). A b e r V e r s e waren es doch

8o

EMPHATISCHE

SPRACHBEHANDLUNG.

und sogar von genau gleichen Rhythmen, auf dieselben Weisen singbar wie die messenden und wägenden! magnüs erit clangör tubäe; quid miraris partum virgineüm;

paterna in mai^state; örganicö cum modülamine.

Ungemessene, nur in der Schlußhälfte gewogene Verse (§ 102) kennen die Griechen seit dem 4. Jahrh. unserer Rechnung: 5

>>

>

>>

Ö05 dvu|nveiv, böq deiöetv > > > > TÖV dvaKta, TÖV öcffTrörriv. Eine innere Notwendigkeit ist es nicht, daß solcher Versbau die Silben zähle: Verse mit freier Silbensumme und ohne Rücksicht auf natürliche Dauer und Wucht kann es recht wohl gegeben haben. Es hat einiges für sich, daß der indogermanische Urvers von dieser Art war. 96. Mit dem Wägen und Messen hängt ein wichtiger Unterschied zwischen Antike und Germanen zusammen. Bei den Alten konnte ein Wort von Gehalt, wenn es z. B. aus zwei kurzen Silben bestand, mit schlechten Taktteilen des Verses vorliebnehmen, während sich Formwörter breit über Ikten und ganze Takte dehnten. >

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^ fif)v Kai veoq effcri, ¿IUÖ? öe K€ Kai i r a i s efr)s tot m a r i a intravi d u c e te penitusque repostas. Diese Eigentümlichkeit des antiken Verses folgt notwendig daraus, daß der Wortton nicht dynamisch ist und der Vers ihn nicht wägt. Klopstock wurde nicht müde, sich über diese, wenn man will, mechanische Sprachbehandlung zu entrüsten 1 ). Bei den Germanen sind die gehaltstarken Silben zugleich die schallstarken, die 'betonten': sie kommen daher gewohnterweise in die Gipfel der Verse. Damit beherrschen sie mehr die rhythmische Figur. Sie sind wichtiger genommen als in jenen Zeilen Homers und Virgils. Insofern ist die germanische Sprachbehandlung emphatischer und gefühlvoller. Nur verbinde man damit nicht den Glauben, das 'sinnliche Messen nach derZeit* eigne nur dem antiken Verse 8 ). Wenn in dem Beispiel von § 79: die ich in söel und sinn, himmlische gestält die gehaltvolle Silbe sinn zwei Morae zugeteilt bekommt, ist das doch auch Zeitmessung! Noch zwei Punkte sind hier zu beachten.

81

PROSODIE UND VERSRHYTHMUS.

Der besprochene Gegensatz mildert sich, wenn man die germanischen Sprachen auf früheren Stufen nimmt, wo ihre Formsilben noch mehr in die Breite gingen. Ein gotisches faginödedeima < laetaremur > würde den altgerm. Zweitakter so füllen: | ^ y \ | / y y • Hier fiele der Wurzel fagin- ein Vierteil, den Formsilben -ödedeima drei Vierteile der Zeitstrecke zu. Den Höhepunkt des Verses freilich, die (stabende) erste Hebung, hätte auch hier die Gehaltsilbe inne. Das zweite ist: diese gefühlvolle Prosodie folgt noch nicht aus dem bloßen Wägen und dem sprachlichen Stärketon. Es gehört dazu, daß die Starktöne auf den gehaltvollen Silben ruhen; daß der Nachdruckston W u r z e l t o n sei. Das Neugriechische hat Nachdruckston und demzufolge wägenden Versbau; aber weil die Akzente und Ikten großenteils auf Formsilben liegen, bleibt jene gefühlssteigernde Wirkung aus. *) Z. B . S p r a c h w . Sehr, i , 3 0 1 ff. 3 , 1 2 9 « . 1 7 5 . 1 7 7 . 2 5 0 ; Gelehrtenrepublik, 8. A b e n d . Ähnliche K l ä n g e neuerlich bei Blümel, Streitberg-Festgabe 1 9 2 4 , 2 1 5 ff. ( Schlottern und E i n z w ä n g u n g ' im antiken Verse). ) Hehn, GoetheJ a h r b u c h 6, I 7 7 f . ; dazu V f . , D . a n t V s . 1 7 7 . E i n e ausgezeichnete B e m e r k u n g bei A m e l u n g , Beitr. z. d. Metr. 50. H a l b r i c h t i g Stolte, Volkslied 57 f.

97. Schärfen wir uns dies noch ein: bei dieser ganzen Frage nach dem Wägen und Messen handelt es sich um die S p r a c h b e h a n d l u n g im Verse; um die Art und Weise, wie man den Sprachstoff in den metrischen Rahmen-legt und zu kunstrhythmischen Figuren formt (§ 87. 89). Es handelt sich n i c h t um die Versrhythmen selbst. Über Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der antiken und der germanischen Versrhythmen ist noch nichts entschieden, wenn wir den Alten das Messen, uns das Wägen zuerkennen 1 ). Die Meinung: dem Verse der Germanen, weil er nicht quantitiere, fehle der Begriff der Zeitdauer; seine rhythmischen Figuren, seine Füllungstypen unterschieden kein Länger und Kürzer: dieser hoffnungslosesten Verwechslung brauchen wir wohl nicht mehr zu wehren (§ 60). Daß anderseits die Alten im Verse Stark und Schwach unterschieden, d . h . den Begriff des Iktus kannten, haben w i r nicht zu erhärten 2 ). Nach den Ausführungen von § 68 u. ö. werden wir das germanische Wägen nicht in den einfachen Satz schließen: aus den sprachlich starken Silben bildet man die Hebungen, aus den sprachlich schwachen die Senkungen. Noch schiefer wäre die Formel: das Messen der Alten besteht darin, daß die sprachlich lange Silbe eine Hebung, die sprachlich kurze eine Senkung ergibt. Aus dem Hexameter und aus dramatischen Strophen kennt man die Ketten von lauter Längen, von lauter Kürzen. Mag man H c u i l e r , Deutsche Versgeschichte.

6

82

PROSODIE UND VERSRHYTHMUS.

da von 'Zusammenziehung* und von 'Auflösung* reden: solche allzeit bereiten Kunstausdrücke zaubern die Tatsache nicht weg, daß formgerechte griechische Verse die sprachlich lange Silbe als Senkung, die kurze als Hebung verwenden. 1 ) Man hat auch 'accentierende und quantitierende R h y t h m e n * scheiden wollen (so Apel, Metrik x, 152ff.; 2, 1 ff.): die ersten beständen aus lauter gleichlangen, nur dynamisch gesonderten Gliedern ( | X X I X X I • • • oder I A X X I X X X I • • •)> die zweiten bauten mit mehrerlei Zeitwerten. Eine Zweiteilung, die auf ganz anderer Fläche liegt als die übliche. Für die Versgeschichte trägt sie wenig ab; Apel selbst vermochte sie nicht durchzuführen. — Auch Stolte, Volkslied 54, nannte die deutsche Volksdichtung 'quantitierend', weil sie die Zeitdauer der Silben innerhalb des Taktes ordne. Auch dies eine Eigenschaft des Kunstrhythmus (nicht bloß in der Volksdichtung!) — die Prosodie steht da beiseite. Zum Quickborn von Unklarheiten wurde die Sache in Minors Nhd. Metrik. Von 'quantitierenden und akzentuierenden Rhythmusarten' spricht noch Blümel, Streitberg-Festgabe 17 f. Vielsilbig, vielsinnig 1 2 ) Den Beweis führte Von der Mühll, Der Rhythmus im antiken Vers, Aarau 1918. Gutes mit Schiefem gemischt bei Thomson (§ 57 3 ) passim. Meillet, Metres grecs (1923) 9 f., leugnet wieder die dynamische Größe im antiken (und vedischen) Verse, kann aber nicht umhin, fortwährend von 'temps fort' und 'temps faible' zu reden, und zwar nicht nur als Gleichnis.

98. Nennt man das Wägen das 'Versprinzip' oder das 'metrische Grundgesetz' der Germanen, so vergesse man doch nicht: einmal, daß auch das Messen dem germanischen Verse nicht kurzweg abgeht (§ 92); sodann, daß der Grundsatz des Wägens nur auf die eine Seite am Verse zielt, die Sprachbehandlung, die Prosodie. Nicht weniger wichtig ist die zweite Seite, die rhythmische Schallform. Genau gleiche Versrhythmen kann man nach dem einen u n d dem anderen Grundsatz bauen, messend oder wägend. Ein Beispiel genüge für den Augenblick. Der Versrhythmus, den die Griechen jonisch nannten und so abbildeten: den wir Ländler nennen und so abbilden: ^ X l Z - ^ X ^ X l - L :

diesen Versrhythmus verwirklicht messend diese griechische, wägend diese bayrische Zeile: biaveu^axa x^piriuv aber mei diandle bist du nit. Wo wir die deutsche Nachahmung antiker Maße erzählen, werden wir uns wieder und wieder vor der Frage sehen: wieweit die Nachahmung das Vorbild trifft oder von ihm abweicht. Dabei vergleichen wir e i n z i g die rhythmische Schallform, n i c h t die Sprachbehandlung, die durch das Wortpaar Wägen und Messen

NACHAHMBARKEIT

ANTIKER VERSE.

SILBENZÄHLUNG.

83

•unterschieden wird. D i e s e r Unterschied ist ein für allemal gegeben — oder sollte es sein! Was wir vernünftigerweise nachahmen wollen, ist nur der antike Versrhythmus; es ist nicht die antike Sprachbehandlung, es sind nicht antike Silbenreihen mit ihren sprachlichen Eigenschaften. Aus anderm Sprachstoff und nach andrer Prosodie strebt der Deutsche gleiche Rhythmenfiguren wie im Vorbilde zu schaffen. E s ist nicht wahr, daß dieses Streben überhaupt nach Unmöglichem griff. Auf Schranken stößt es allerdings. Nur bestehen die Schranken nicht darin, daß w i r wägen und die Alten maßen. Sie bestehen darin, daß manche Rhythmen der Griechen unserem Ohr und Bewegungsgefühl fremdartig sind. An dem Gegensatz von Akzentuieren und Quantitieren hängt das nicht: die Schwierigkeit wäre die gleiche, sollten wir diese Formen außersprachlich, in reinen Musikklängen, nachahmen. 99. Man spricht auch von silbenzählendem Versbau. Gegen den Namen ist nichts einzuwenden, wenn er nur besagen soll: die Verse haben starre Silbensumme (§53, 3-6). Mit diesem und keinem andern Sinne gebrauchen wir das Wort. Solche Gattungen gab es bei den Alten und gibt es bei den Germanen seit dem 9. Jahrh. (Skaldenvers); unsre Jambenmasse gehört hierher. Ob die Dichter die feste Silbenzahl triebhaft hinstellen oder darauf achten, vielleicht mit den Fingern nachhelfen, kann dem Metriker gleich sein. Aber wie an das Wägen und Messen, so haben sich auch an das Zählen Unklarheiten gehängt. Westphal und nach ihm viele stellten den silbenzählenden Grundsatz als dritte Art neben den messenden und den wägenden 1 ). Das ist so, als wollte ein Zoologe einteilen: 1. Wirbeltiere, 2. Wirbellose, 3. Wassertiere. Die Silbenzählung geht auf den R h y t h m u s : gewisse Versarten binden die Gliederzahl ihrer Füllungstypen. Messen und Wägen gehn auf die S p r a c h b e h a n d l u n g : sie fragen nach sprachlichen Eigenschaften der Silben. Eine silbenzählende Versart kann man messend o d e r wägend handhaben; die sapphische Strophe z. B. zählt ihre Silben sowohl bei den messenden Griechen wie bei den wägenden Deutschen. Den entsprechenden logischen Fehler begeht man, wenn man dem Messen und Wägen das Alternieren gleichordnet 2 ). Auch das Alternieren, das ebenmäßige Auf und Ab, ist eine v e r s r h y t h m i s c h e E i g e n s c h a f t , die sich mit dieser oder jenerSprachbehandlung verträgt. Westphal, Theorie der nhd. Metrik X V I U ; richtiger ist die Fassung bei Roßbach-Westphal 3 I 37. W e i t geht die Verwirrung bei W h . Meyer, Ges.

6*

84

SILBENZÄHLUNG. ROMANISCHER V E R S B A U .

Abh. 2, 138 f. *) Saran, Rhythmus des französischen Verses 315 f., DVersl. 211, Streitberg-Festgabe 317.

100. Regelung der Silbenzahl macht noch keinen Vers. Kann man an schriftlich überlieferten Zeilen, so den avestischen, nur die feste Silbensumme, keine prosodischen Regeln beobachten, so darf man nicht folgern: hier wurde nur gezählt. Damit wäre ja zu der Frage: wie klang es? keinerlei Beitrag geleistet. Die Zahl, dieses unhörbare Abstraktum, vermag Rhythmus nicht zu schaffen, auch nicht zu ersetzen! . . . Man hat sich dabei zu bescheiden, daß der Dichter seine Silben weder maß noch wog; irgendein Metrum kann dennoch in diesen sprachlich unbestimmten Silben stecken. Bewiesen ist das für die gleichfalls ungemessenen und ungewogenen Mönchsverse wie: magnüs erit clangör tubäe (§ 95). Die stehen gleichwertig neben wägenden wie: ard^bis cüm diabolö, und an ihrer metrischen Gesangsform ist kein Zweifel. Ebenso, wenn altirische, mittellateinische, französische Zeilen nur am Versende wägen und den Sprachton der vorangehenden Silben freigeben, ist die Folgerung nicht: der Versanfang ist unrhythmisch, er zählt nur die Silben1). Namen wie Sinrhythmische silbenzählende Dichtung' entspringen der alten Verwechslung von Rhythmus und Sprachbehandlung. Rhythmus haben diese Zeilen sehr wohl und beweisen es aktenmäßig, wo ihre Melodien vorliegen. Aber diesen Rhythmus stellen sie ohne Wägen und Messen her. *) Die Fassung bei Kuno Meyer, A primer of Irish metrics (1909) 5: There is no rhythm (regulated stress), except in the rhyming words at the end' zeigt gut die unklare Gleichsetzung von Rhythmus und Regelung der Sprachtöne (also 'Wägen'). Eine besonders üble Artbestimmung bei Traube. Vorlesungen und Abhandl. 2, 105.

101. Bindung der Silbensumme kann die Kunst ganzer Völker beherrschen und ist dennoch eine äußerliche Regelung, die zu dem metrischen Bau hinzutritt und durch ihn aufs Ohr wirkt. Nur auf dem Wahne, das Abzählen von Silben genüge für einen Vers, ruht der Glaube: die allerkunstlosesten Verse seien die mit starrer Silbensumme. Dieser Satz ist von A. W. Schlegel (Berliner Vorlegungen 1, 317, a. 1801/2) auf Westphal und von ihm auf so viele übergegangen. Das einfachere, innerlich älte;e ist es, selbstverständlich, wenn der Versemacher jetzt mehr, jetzt weniger Silben, nach dem Bedarf des Augenblicks, in seinen Rahmen legen kann (GermVb. I24ff.). 102. Silbenzählend ist der volkstümliche l a t e i n i s c h e Reimvers und sein Nachkomme, der Vers der romanischen Völker. Da diese Kunst seit dem 9. Jahrh. in wiederholten Wellen auf unsere Dichtung eingeflossen ist, müssen wir Stellung zu ihr nehmen. Genaueres erst in den geschichtlichen Abschnitten.

ROMANISCHER VERSBAU.

85

Mit der Bezeichnung silbenzählend läßt man Rhythmus wie Sprachbehandlung dieser Versfamilie noch offen. Nach den Arbeiten von Saran und J. B. Beck scheint über die Hauptsachen kein Streit mehr möglich 1 ). Auf den lateinischen Ritmus und den französischen Vers trifft d i e Artbestimmung zu, die der Opitzianer bis heute dem deutschen Verse, ja dem 'Vers' überhaupt aufdrängt (§ 13): regelmäßige Abwechslung gehobener und gesenkter Silben. Meist sind es zwei Silben auf den Innentakt, Auf und Ab 2 ): (_) L _ 1 _ L . . . Seltener drei Silben auf den Innentakt: ( ) 1 1 1 ... Dieser Versbau gehört zur Klasse 5 in § 53: starre Silbenzahl aller Versglieder, und zwar einförmige Füllung: kein Wechsel zwei- und dreisilbiger Takte wie in Odenmaßen. Die Sprachbehandlung läßt sich auf Messen nicht ein; nach ihrer Dauer gelten alle Silben gleich. Der lateinische Vers kann sich auch vom W ä g e n entbinden (§95.100); gewöhnlich aber befolgt er wie der romanische den Grundsatz: die letzte Hebung vor der Zäsur und vor dem Versende heischt eine sprachlich betonte Silbe; der übrige Vers befiehlt keinen Einklang zwischen Hebung und natürlicher Silbenstärke. Dieser prosodische Grundsatz ist zu bezeichnen als bedingt wägend ('partiell akzentuierend'). Er paßt zu dem romanischen Prosarhythmus. Der wölbt die Starktöne nur am Schluß von Sätzen oder längeren Kola heraus; was vorangeht, ist mehr unabgestufte Silbenkette (vgl. § 63). So braucht der Vers keinen durchgehenden Zusammenfall von Hebung und grammatischem Tone zu fordern. 1 ) Saran, Rhythmus des franz. Verses 1904; J . B. Beck, Die Melodien der Troubadours 1908. Von den Abweichungen ist die wichtigste, daß Beck Verse mit dreisilbigen Innentakten erweist. 2 ) Wir setzen das grammatische, zeitlose Silbenzeichen, weil Taktgeschlecht und Takttypen (| J _ X | gegen | X I! I ^ X X f gegen | J _ X X I) offen bleiben sollen.

103. Durch all diese Eigenschaften stand der lateinisch-romanische Versbau in scharfem Gegensatz zum heimisch-germanischen. Sprachstoff, Kunstrhythmus und Prosodie: alles war so verschieden als möglich. Mit wenig Ausnahmen — im 13. und 16. Jahrh. — hat sich die deutsche Nachbildung nur auf den Kunstrhythmus gerichtet; dies gebot die Vernunft, hier wie beim antiken Verse (§ 98). Auch hatten von der Sprachbehandlung der Welschen unsre Verslehrer Opitzischer Zeit verworrene Begriffe. Wie sich die deutschen Dichter mit dem fremden Vorbild auseinandersetzten, haben die geschichtlichen Abschnitte zu zeigen.

86

KLEINKUNST.

INSCHRIFTVERSE.

TEIL

II:

Der altgermanische Vers. 9. Abschnitt: Quellen. 104. Die schlichtesten Vertreter altgermanischen Versbaues sind Denkmäler der Kleinkunst: Formeln, Sprichwörter; Denkinschriften; Zaubersegen und Verwünschungen; rituale und andre Rechtsverse. Vieles davon in Prosatexte eingesprengt1). Zu diesem untersten Stockwerk tragen alle germanischen Literaturen bei. Von den Zauberversen setzt einiges urindogermanische Stufe fort, und der deutsche Wurmsegen ist erst mit einem Fuß in der germanischen Form. Von den Zwillingsformeln sind manche gemeingermanisch, führen uns auf Verse in urgermanischer Gestalt zurück und leben bis heute mündlich fort; z . B . freunde und feinde: urgerm. *frijöndiz andi fijandiz. Auch die urnordischen Runenverse, kaum mehr als 15, stehen noch ziemlich vor dem einzelsprachlichen Endsilbenschwund2). Die zahlreicheren aus dem 9. bis 12. Jahrh., etwa 40 Kurzverse aus Dänemark, vielleicht dreimal soviel aus Schweden, haben schon ungefähr die Wortformen der nachmaligen Schriftsprachen. Dies gilt auch von den wenigen englischen Inschriftversen (8. Jahrh.). Diese urtümlichen Gebilde mit mancherlei metrischen Freiheiten sind einer versgeschichtlichen Betrachtung unentbehrlich. Sie nach den feineren Regeln 'bessern' zu wollen, wäre geschichtswidrig. 1 ) Zur Ergänzung dieser Paragraphen sei hingewiesen auf AgDicht. § 17, 2 9 a und die Kapitel V I I - X I . ) Die urnord. Inschriften bei A. Noreen, Altnord. Gramm. I 4 3 7 4 f f . ; AI. Jöhannesson, Gramm, der urn. Runeninschriften ( 1 9 2 3 ) 75ff., dazu Mogk-Festschrift 1924, 380. Annehmbare stabende Verse bieten die Inschriften von: Gallehus (Goldenes Horn), nach 400, 1 Langzeile ( § 2 2 3 ) ; Tune, 5. Jahrh., 3 zusammengestabte Kurzverse (§ 3 3 5 ) ; Kjö'evig (Strand), um 500, 2 unpaarige Kurzverse: ek HagustaldaR hiaiwiftö [j magu mininö; Noleby (Fyrunga), um 600, 1 Langzeile: runö fähi || raginakundö; Stentofta, 7. Jahrh., 2 Langzeilen (mehrdeutig, vgl. § 1 8 7 1 ) . In synkopierter Sprachiorm: Eggjum, um 700, 1 Langzeile: ni s Solu söt ¡j uk ui sakse stain skorin. Weiteres ist noch fraglicher.

C^DMONISCHE

FAMILIE.

SKOPVERS.

87

1 0 5 . A u f höherer S t u f e stehn die e i g e n t l i c h e n Gedichte. D i e Ü b e r l i e f e r u n g f ä n g t in E n g l a n d a n : u m 700. D i e d e u t s c h e n R e s t e liegen u m 800 h e r u m . Z u eben dieser Z e i t setzen die nordischen W e r k e ein, u n d z w a r nur b e i d e m w e s t n o r d i s c h e n (norrönen) S t a m m e : z u n ä c h s t in N o r w e g e n , seit 900 auch a u f I s l a n d ; v o n 1000 a b ist H e r v o r b r i n g u n g u n d Ü b e r l i e f e r u n g w e s e n t l i c h isländisch. In E n g l a n d h ö r t d a s s t a b r e i m e n d e D i c h t e n erst n a c h 1500 auf, bei d e n Isländern s t e h t es n o c h h e u t e in K r a f t . A b e r d e n Zeitr a u m d e s ' a l t g e r m a n i s c h e n 5 V e r s e s k a n n man in E n g l a n d mit der N o r m a n n e n z e i t (1066) abschließen, auf Island mit d e m 1 4 - J a h r h . , d e m A u f k o m m e n der n e u a r t i g e n R i m u r . A u s D e u t s c h l a n d h a b e n wir n a c h 900 kein S t a b r e i m g e d i c h t mehr, Unser erster Z e i t r a u m h a t m i t h i n auf den drei Gebieten sehr ungleiche Erstreckung. Die altenglischen Stabreimgedichte belaufen sich auf gegen 30 000 Langzeilen. A n Masse stehen die altnordischen dahinter zurück, haben aber den ungleich größeren Formreichtum. Der deutsche Bestand zählt rund 6500 Langzeilen, wovon mehr als elf Zwölftel auf e i n Werk, den niederdeutschen Heliand, entfallen. In hochdeutscher Sprache haben wir nur zweihundert Langzeilen des alten Maßes.

1 0 6 , N a c h d e m V e r s b a u k a n n m a n diese höhere D i c h t u n g so einteilen. E i n e v e r h ä l t n i s m ä ß i g g l e i c h f ö r m i g e F a m i l i e bildet die H a u p t masse der e n g l i s c h e n W e r k e : n i c h t n u r die g r o ß e n E p e n (metrisch w i c h t i g der B e o w u l f , w o h l n a c h 730), sondern a u c h k ü r zere E r z ä h l s t ü c k e , L y r i k , R ä t s e l , L e h r h a f t e s . E s ist der v o n Caedmon, v o r 700, b e g r ü n d e t e B u c h s t i l der schreibenden Geistlichen. E n g schließt sich i h m a n die s ä c h s i s c h e B i b e l d i c h t u n g , H e l i a n d u n d Genesis. K e n n t l i c h w e i c h e n ab, n a c h V e r s f ü l l u n g oder G r u p p e n b a u : in E n g l a n d die Merkreihen d e s W e i t f a h r t , die G n o m i c a , die z w e i Elegien Sängers Trost und Wulfklage, das späte zeitgeschichtliche E p o s B y r h t n o t h (992), d a s B r u c h s t ü c k des Hengestliedes ( F i n n s b u r g ) ; — in D e u t s c h l a n d d a s H i l d e b r a n d s l i e d (dem F i n n s b . n ä c h s t v e r w a n d t ) , a u c h d a s kleine W e s s o b r u n n e r G e b e t . D i e s e W e r k e h a b e n die T e c h n i k der w e l t l i c h e n , schriftlosen D i c h ter, d e r S k o p e , o d e r sind v o n ihr s t ä r k e r b e s t i m m t als die Caedmonische Familie. U n t e r E i n f l u ß d e s geistlichen R e i m v e r s e s s t e h t d a s b a y r i s c h e Muspilli. Dieser g a n z e n englisch-deutschen Menge k a n n m a n doch noch e i n Versmaß z u s p r e c h e n ; n u r a n w e n i g Stellen w i r d es d u r c h b r o c h e n : Stellen, die der V e r s g e s c h i c h t e m e h r b e d e u t e n als z u -

88

E D D I S C H UND SKALDISCH.

D I E ZWEI EDDISCHEN M A S Z E .

fällige Fehler. Es ist das 'epische Maß', die in der Füllung geregelten fortlaufenden Langzeilen. Wir zitieren Beowulf, Waldere, Finnsburg, Weitfahrt (Widsiö), Sängers Trost (Deors Klage) nach Holthausen, Beowulf nebst den kleineren Denkmälern der Heldensage 6 1921; die übrigen engl. Werke nach Grein-Wülcker, Bibliothek der ags. Poesie 1883-98 (Gr.-W.); Heliand und Genesis nach Behaghel 1 1922; die hd. Denkmäler nach Braune, Ahd. Lesebuch 8 1921; ein paar kleinere Stücke nach Möllenhoffs und Scherers Denkmälern 8 1892 (MSD.); die ae. Rechtstexte nach Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen 1903-16. (Der erste Merseb. Segen, eine Übergangsform zum Reimvers, bleibt in diesem Teile fern; s.

§ 437-)

107. Anders steht es um die n o r d i s c h e (norwegisch-isländische) Dichtung: die kennt tiefschneidende metrische Grenzen. Keine Rolle spielt hier die Zweiheit: weltlich-mündlich gegen geistlich-schriftlich. Der große Gegensatz: eddische und skaldische Dichtung (kürzer: Edda und Skalden) bedeutet auch im Versbau eine Zweiteilung, wenngleich mit Übergangszonen. Die metrischen Unterschiede kreuzen sich manchmal mit denen der dichterischen Gattung, der Überlieferungsart und des sprachlichen Stiles. Gemeinsam ist beiden Massen d e r Unterschied von den Südgermanen: sie sind in Strophen gegliedert. Doch gibt es auch da Übergänge von beiden Seiten: freie Gruppenbildung und freistrophische Anlage (§ 39)Der skaldische Versbau ist kunstvoller und von den gemeingerm. Formen abgerückt, eine höchst eigenartige westnordische Erscheinung. Wir behandeln ihn in einem besondern Abschnitt. Bis dahin bleibt er, wo nicht ausdrücklich einbezogen, außer Rechnung. 108. Innerhalb der eddischen Familie spaltet es sich noch einmal in zwei deutlich verschiedene Versgattungen (oder Strophenmaße). Die eine hat lauter Langzeilen; es ist das epische Maß wie im Süden, wenn auch mit nordischen Besonderheiten, auch mit manchen Spielarten. Ein isländischer Name für diese Gattung ist fomyrbislag1). Wir sagen gewöhnlich 'der epische Vers' oder 'das Langzeilenmaß'. Eine seiner Spielarten heißt mdlahdttr. Wir rechnen diesen nicht als besondere, dritte Hauptklasse der Eddakunst, sondern als Unterabteilung der epischen Klasse (§ 278). Viel weiter vom Westgerm, ab liegt das zweite Maß, das zwei Siebentel der Eddadichtung beherrscht; vermutlich eine norwegische Schöpfung. Es verbindet mit den Langzeilen unpaarige Verse, tVoUzeilen>; meistens so: 1 Langzeile + 1 Vollzeile, dies zweimal gesetzt. Auch die Versfüllung ist eigenartig. Der isl. Name ist Ijötahdttr. Sachlich zutreffende Bezeichnungen sind, je nach dem Zusammenhang, Spruchton und Redeton (das 'gno-

ZERSINGEN UND UMSCHREIBEN. BRAGARMÄL.

89

misch-dialogische Maß'). Um dem mdlahdttr, zu deutsch Redeton, nicht ins Gehege zu kommen, wählen wir 'Spruchton'. Für die Vergleichung mit dem engl.-deutschen Verse kommt also in erster Linie das epische Maß der Edda in Betracht. 1 ) Diese Namen erläutern wir § 292. 309. 315. Die skaldischen Texte sind gedruckt in dem vierbändigen Werke: Den norskislandske Skjaldedigtning udg. ved F. Jönsson 1912-15 (Skjald.). Die eddischen Texte zitieren wir nach: Edda hg. v. Neckel 1914; Eddica minora hg. v. Heusler und Ranisch 1903 (EM.). Eddischen Versbau haben auch, von kleinerem abgesehen, die Merkvershaufen der Snorra Edda, die S61arlj6Ö und die zwei umfänglicheren Übertragungswerke: die Merlinrede und die Disticha Catonis (13. Jahrh.): Skjald. B 1, 635. 658; 2, 10. 185 (später bei den statistischen Angaben ausgeschlossen). Diese Denkmäler mitgerechnet, belaufen sich die eddischen Verse im Langzeilenmaß auf 7300 Langzeilen, die im Spruchton auf 2700 (die Vollzeile als halbe Langzeile gezählt).

109. Unsere H a n d s c h r i f t e n führen uns lange nicht immer zu dem Versbau der Dichter hinan. Die englischen sind bis zu 300, die isländischen bis zu 500 Jahren jünger als die Gedichte selbst. Diese Zeiträume hat teils schriftliche, teils mündliche Wiedergabe durchmessen; in England mehr das erste, auf Island mehr das zweite. In der mündlichen Überlieferung gab es das 'Zersingen'; auch die Versbetrachtung hat damit zu rechnen. Es muß nicht kurzweg Entstellung gewesen sein; aus anderm Geschmack konnte man Teile um- oder zudichten. Zu der metrischen Buntheit gewisser Eddalieder hat dies beigetragen. Von den eigentlichen Änderungen abgesehen, haben die Vortragenden, auch die Schreiber ihre jüngeren Sprachformen eingesetzt: ae. /rät für frega; an. muri eigi für munat usw. In England kam dazu der mundartliche Gegensatz: anglische Dichter des 7.-9. Jahrh., sächsische Schreiber des 10. und 11. Manches davon hat die Silbenzahl, damit den feineren Versbau angetastet. Eben die Metrik gibt Handhaben, die älteren Formen herzustellen und so die Zeilen rhythmisch zu reinigen. Die isl. Poetiker des 13. Jahrh. waren sich dessen bewußt: bei Snorri und seinem Neffen Olaf finden wir den besondern Kunstausdruck bragarmäl 'dictio poeseos' für das Verstummen schwacher enklitischer Vokale, wie in varbak aus varta ek] pars aus ßar es (SnE. 1, 610; IgL. 2, 87). Unsre deutschen Denkmäler fordern solche Umschrift nicht; der Zeitabstand zwischen Dichter und Schreiber ist hier kürzer (abgesehen von der Kleindichtung § 104). Die zwei sächsischen Werke zeigen im großen den Versbau ihrer Verfasser. Die hd. Gedichte kranken an tieferen Verderbnissen: während im Hild., auch im Wess., ein von Hause guter Vers durch Lücken und

go

SANGBARKEIT.

HARFENLIED.

anderes entstellt ist, kann man die vielen Freiheiten des Musp. schwer auf Dichter, Bearbeiter und Schreiber verteilen (§ 435). Weil nun auf deutscher Seite die unverd erbten Texte, die sächsischen, eine entschiedene Spätform des Stabreimverses darstellen, braucht es die Hilfe der engl, und nord. Masse, um von unserer ältesten Verskunst ein Bild mit geschichtlicher Anlage zu gewinnen (§ i). 110. Auf die Frage 'sangbar oder unsangbar? 5 wird uns der Stabreimvers öfter führen. Man kann folgendermaßen einteilen (vgl. § 29. 38. 59): 1. Verse, die nach äußerem Zeugnis oder inneren Merkmalen gesungen wurden. Hierher nur vereinzelte Stücke. 2. Verse, die nach dem metrischen Bau wiederkehrende Weise zuließen, aber nach äußeren oder inhaltlich-stilistischen Fingerzeigen im Sprech Vortrag lebten. Hierher der größere Teil der nordischen Dichtung. 3. Verse, die schon nach ihrem metrischen Bau (Gruppenbildung, Taktfüllung) unsangbar waren. Hierher die große Masse der wgerm. Denkmäler, auch solche außerhalb der Caedmonischen Familie (§ 106); auch manches Skaldische und Eddische. Dazu käme noch die Gruppe der Fraglichen: metrisch sangbare Verse, bei denen kein Zeugnis über die Vortragsart entscheidet. Hierher etwa die Zaubersprüche, die Wulfklage, das Wess., ein Teil der Eddafamilie. Über die Schallwirkung des agerm. Sprechvortrags können wir nur aussagen, was der Rhythmus an die Hand gibt. Tempo, Stimmaufwand, Höhe und Tiefe, Klangfarbe bleiben unbekannt. Die Höhestufen der Prosa konnte der Vers mehr oder weniger festigen, stilisieren; es gibt da — wie im Rhythmischen — fließende Übergänge von Sprechen zu Singen. Gesang wäre es von dem Punkte ab, wo die wechselnden Satzmelodien in der einen, wiederkehrenden Liedmelodie erlöschen. 111. Nach sittengeschichtlichen Aussagen gab es bei Südgermanen seit dem 6. Jahrh. Gesang zur Harfe 1 ). Ein paarmal ist es die bescheidenere Kleinlyrik, meistens sind es die zwei jüngeren und höfischen Dichtgattungen, Preis- oder Heldenlied. Beide aber kannten auch das Sprechen, das Preislied gleich bei seinem ersten Erscheinen (nach Priskos a.448). Einzelgesang ohne Harfe wird im Süden eigentlich nirgends eindeutig bezeugt. Der Irrtum, der südgerm. Vortrag zur Harfe sei Melodram gewesen (Sprechstimme mit akkordischen Griffen), geht von einer musikgeschichtlichen Unmöglichkeit aus und ruht auf der unbegründeten Annahme: man habe unsangbare Texte, wie

CHORGESANG.

TANZVERSE.

9i

etwa den Beowulf oder das Hild., mit Harfe begleitet. Ein Text, der keinen Gesang, vertrug auch keine Harfenweise. Den alten Nordländern ist das Lied zur Harfe unbekannt. Von Singen ist einigemal die Rede, aber in Verbindung mit niederen Dichtarten (Zauberlied u. ä., Arbeitslied): bei den Vorträgen der Hofdichter verlautet nichts von Sangeskunst. Für Chorgesang haben wir im Süden spärliche, z. T. unbestimmte Zeugnisse. Im Norden versagen sie vollends. In den Bereich der isl. Saga tritt Singen als gesellige Unterhaltung, verbunden mit Tanz, erst um 1100: es ist die welsche Carole (Reihentanz) mit Kleinlyrik. Tanzdichtung aus altgerm. Wurzel wird nirgends wahrscheinlich. Verse zu Marsch, Umzug, Arbeitsbewegung hat es gegeben: Reste davon sind die nordischen Heereslosungen und ein norweg. Vierzeiler zum Schmieden. Das zählt zu der kunstlosesten Schicht. l)

Zum folgenden vgl. AgDicht. § 32 ff. und passim.

112. Es fällt auf: für England sind Gesang und Harfe am reichsten bezeugt — und unsre ags. Dichtung ist, im großen genommen, noch mehr Sprechpoesie als die des sangfremden Skandinavien! Das macht, die Werke in Csedmons Linie sind eine buchmäßige, schriftstellerische Weiterbildung der weltlichen, z. T. gesungenen Gattungen. Doch ist auch das weltliche Heldenlied, Finnsburg, wie sein deutscher Bruder, Hild., unsanglicher als die meisten nordischen Vettern. Würdigt man die Zeugnisse mitsamt Inhalt und Form der bewahrten Dichtung, so erscheint der Glaube tatsachenfremd: Tanz und Gesang hätten einst, vor der Zeit unsrer Denkmäler, das germanische Dichten beherrscht und ihm seinen Vers anerzogen (§ 27). Ebenso künstlich ist die gewissermaßen entgegengesetzte Meinung: wie der gesungene Stabreimvers ausgesehen habe, davon wüßten wir gar nichts; was wir kennten, das vertrage sich nur mit Gesprochenem1). Ob man dies im Ernst auf Rhythmen wie in § 186 ausdehnen möchte? . . . Aber den Satz erzwang ja nur die gedankliche Forderung: der Stabreimvers in globo duldet keinen Takt und darf daher in keiner Zeile Gesangsvers sein; sieh § 60. Nur hat man in keinem Schrifttum eine so unbedingte Zweiheit von sanglichem und unsanglichem Versstil nachweisen können. x)

Sievers, AgMetr. § 5 , 5 ; Saran, DVersl. 223; Unwerth-Siebs 38.

Vgl. u.

§ 378.

113. Auch seine V e r s l e h r e r hat der agerm. Zeitraum gefunden. Zuerst da, wo isländischer Formenreichtum zusammentraf mit der alten Schulung der Iren (§ 427): auf den Orkaden nach

9 2 H Ä T T A L Y K I L L UND H Ä T T A T A L . D A S GERMANISCHE AM STABREIM.

1140. Diesen 'Schlüssel der Töne', Jarl Rögnvalds Hdttalykill1) — einige vierzig Formen in je zwei Beispielstrophen — , überbot nach 1220 Snorri Sturluson mit seiner Mustertafel von hundert Nummern nebst einem Prosakommentar. Dieses Hdttatal, die 'Tönereihe', bildet den dritten, den metrischen Teil von Snorris Skaldenlehre 2 ). Ein paarmal kommt auch Snorris Neffe Olaf in seinem grammatisch-stilistischen Abriß auf Verskunst zu reden 3 ). Aus diesen Arbeiten hat die Verswissenschaft einen Teil ihrer Kunstwörter geschöpft: Ausdrücke, von denen wenig gemeinwestnordisch, noch weniger gemeingermanisch gewesen ist. Auch sonstige Belehrung erhalten wir, namentlich von Snorri. Aufhört dessen Verständnis, wo das Ohr, der Rhythmus anfängt. So sicher er unbewußt die schwierigen Formen meistert: bewußt wird ihm fast nur die Zahl: Zahl der Silben, der Stäbe, der Reime, der Verse. Auch von dem geschichtlichen Nacheinander ahnt er nichts . . . In beidem ist der scharfsinnige Planmacher ein mittelalterlicher Mensch 4 ). Mit beidem hat er auf die neuzeitliche Forschung mehr hemmend als klärend gewirkt. l ) Gedruckt Skjald. B 1, 487ff. 2 ) SnE. 1, 594ff.; mit Erläuterungen: Hattatal hg. v. Möbius 1879. 81; die Strophen auch Skjald. B 2, 61 ff. ®) IgL. 2, i f f . 33 ff. 4 ) Vgl. Thurneysen, MiVersl. 109: 'die Regeln (einer irischen Verslehre) beziehen sich durchaus auf die Silbenzahl der Verse und auf die Versausgänge'.

10. Abschnitt: Der Stabreim. 114. Hat der Endreim die deutsche Dichtung mit den Romanen verschwistert, so war der Stabreim Hausmarke der germanischen Familie. Zwar kennen den 'Reim des Anlautes' viele Literaturen, in Prosa und Versen, gelegentlich und planmäßig. Aber zum Stabreim der agerm. Dichtung gehört eine Reihe besondrer Eigenschaften: 1. E r ruht auf sprachlich starktonigen Wurzelsilben. 2. E r verlangt eine Hebung im Verse. 3. Er fließt nur selten aus Wortwiederholung oder gar Wortspiel (Paronomasia, Adnominatio). 4. Die höhere Dichtung führt ihn lückenlos durch. 5. Man zielt nicht auf Häufung der Stabsilben; man befolgt eine durchsichtige Stellungsregel, die dem einzelnen Verstypus wenig freie Wahl läßt. 6. Der Stabreim greift über die kürzeste, zweigliedrige Periode nie planmäßig hinaus. 7. Von dem Stabreim hängt der Rhythmus ab; der Stabreim p r ä g t den gemeingermanischen Versstil. Wohl konnte man ihn in andersartige Metra verpflanzen (Skalden; Engländer des Spät-

A L T E R DES

STABREIMS.

93

mittelalters; Isländer der Neuzeit), aber wo er schwand, da ging auch seinem angestammten Versmaß der A t e m aus. Einige dieser Züge teilt der irische und der finnische Stabreim: vereint kehren sie draußen nicht wieder. Ein kleiner lateinischer Dreizeiler veranschauliche uns widergermanischen Gebrauch von Stabreim; der Gegensatz trifft Punkt 3, 5-7: Veni, virgo virginum, Veni, vena veniae.

Veni, lumen luminum,

Zu Punkt 3 sieh § 119. 384. — Manches in diesem Abschnitt Übergangene steht in dem Artikel 'Stabreim' RLex. 4, 231 ff.

115. Im Vers zeigen uns den Stabreim zuerst die Runen des Goldenen Horns, nach 400 (§ 223). Höher hinauf führen Eigennamen : mythische, heroische und namentlich geschichtliche. Auch die geschichtlichen können für stabende Verskunst zeugen, sofern die Namenwahl bestimmt wurde durch Dichterbrauch, vor allem das Preislied, mittelbar Heldenlied und Merkpoesie. Das Stäben der Sippennamen — in Sagen sind es auch sonstige: Helgi: Hundingr: Hqbbroddr u. ä. — blüht im 4. bis 6. Jahrh., und eben damals kamen die höheren Dichtarten auf. Aber stabende Namengruppen fangen schon früher a n ; die älteste bietet Plinius: Inguaeones: Erminones: Istuaeones. Bei Erwägung aller Umstände wird man glauben, daß der Stabreim als metrisches Mittel nicht zu den gotischen Neuerungen um 400 gehört; daß er schon der urgerm. Kleindichtung eignete — in den freieren Stellungen, die dem damaligen kunstlosen Gruppenbau entsprachen (§ 333 f f-)116. Ohne den dynamischen Wurzelton der Sprache wäre der germ. Stabreim nicht zu denken. Wieviel jünger er ist als die Einführung dieses Tones, ahnen wir nicht; aber er bestimmt den Vers in dem Grade, daß eine Dichtung noch o h n e Stabreim gleichsam noch vorgermanisch erschiene. Die Frage nach dem Ursprung streifen wir später noch, z u sammen mit der Vorgeschichte des germ. Verses (§384). Von welchem Stamme der Stabreim ausging und wann er zu den übrigen drang, ist dunkel. Unsre splitterhafte Überlieferung spricht dafür, daß er Jahrhunderte hindurch bei allen Germanen in K r a f t stand. Bei allen uns näher bekannten Stämmen hat er die heidnische Zeit überdauert. Den wnord. Skalden wurde er auch für ihre neugeschaffenen Maße unerläßlich, z. T. neben Silbenreim. Verse vorgermanischer Erbschaft, die dem Stabreim widerstanden, darf man in dem deutschen Wurmsegen erblicken (MSD. 1.

94

STABLOSE V E R S E .

17, vgl. AgDicht. §48). Gelegentliche Zeilen ohne Stäbe hat man auch später gebaut: der Stabreim war nicht dermaßen unentbehrlich, daß sie nicht den kennzeichnenden Zeitfall der übrigen teilen konnten. Neben den stabenden Zwillingsformeln stehn stablose von gleichem Bau : hände und füße wie freunde und feinde. Nordische Sprichwörter zeigen gleichen Rhythmus mit und ohne Stäbe : meö Iggum skal land byggia; I Jxjrf skal vinar neyta. Jliöö Veit, J>at er |>rir vitu; ferr orö, er um munn liör. blindr er betri, en brendr sé; bü er betra, f>5tt litit se. 117. Folgen stabloser Verse begegnen nur in kunstloser Kleindichtung : die 5 Romulusverse des engl. Runenkästchens um 700 (zweie mit Binnenstäben) ; eine engl. Interdiktsformel um 10001) : 20 gut metrische Langzeilen mit nur spärlichen Gelegenheitsstäben. Von den 47 Zweitaktern der engl. Rechtsformel 'Anspruch auf Land' 2 ) sind 15 stablos. Unter den engl. Zaubersegen hat der gegen Geschwulst (Gr.-W. 1, 326) zur Hälfte stablose Verse, im Reisesegen (ebd. 328ff.) sind es 5 Zeilen auf 42. Von den deutschen besteht der gegen Spurihalz aus 7 Zweitaktern im alten Rhythmus, wovon nur der vorletzte stabt 3 ). In den jüngeren Fällen kann es sich schon um Erlöschen des alten Versschmuckes handeln. Oft, so in Inschriften und Rechtsversen, bleibt fraglich, ob Stellen ohne Stäbe als Verse gemessen sein wollen. Z. B. der Wahrspruch einer ostn. Inschrift auf der Insel Man (A. Noreen, Aschwed. Gramm. 489), umschrieben: Baetra aes lseiva 11 föstra göjan 11 pan son illan, gäbe drei rhythmisch gute Zweitakter. Der gepflegteren Dichtung läuft höchstens einmal ein stabloser Vers unter, was den Forschern unbesehen als Verderbnis gilt 4 ). So trifft das Wort des isl. Poetikers Olaf, um 1250, nicht nur auf seinen Stamm zu: der Stabreim 'ist die Grundlage der Versform, er hält die nordische Dichtung zusammen, so wie die Nägel das Schiff zusammenhalten, das der Zimmermann fertigt, und fallen sonst die Planken auseinander: so hält auch diese Figur die Versform in der Dichtung zusammen mit den Stäben (Buchstaben), welche Stollen heißen und Hauptstäbe' (IgL. 2, göf.). Ähnlich entschieden äußerte sich über den neuisländischen Vers Jón Olafsson d. J. a. D. 1786. l) 4)

2 ) Ib. 1, 400. s ) Sieh in Band 2 § 436. Bei Liebermann I, 4385. Rieger, ZsPhil. 7, 15 f. Eine Ausnahme macht Wilken, Germ. 24, 279 f.

LAUTFORM DES STABREIMS.

95

Der Vf. erinnert sich an ein Gespräch mit seinem verewigten Lehrer Hermann Paul. Paul sprach dagegen, daß man Verstöße usw. immer auf die Überlieferung abschiebe; nur freilich, Verse ohne Stab: d a komme man, Lutherisch zu reden, nicht aus ohne der Mäuse Mist im Pfeffer.

118. Im Gegensatz zum Reime, der Silbenreim ist, ist der Stabreim Lautreim: er fordert Gleichklang in e i n e m Sprachlaute. Eine Ausnahme machen die Lautverbindungen sk, st, sp : die muß man irgendwie als Einheiten empfunden haben, denn sie staben nur je mit sich selbst. Einer der festesten Grundsätze; auf Island bricht ihn erst ein kirchliches Gedicht des 14. Jahrh. 1 ). Alle Vokale staben durcheinander: ubil arbedi,

inwidrädo.

Snorri erklärt dies für 'schöner 1 als die Bindung gleicher Vokale. Das war nicht nur skaldischer Geschmack; zwei Proben: Von den 207 Heliandzeilen mit 3 vokalischen Stäben haben 147 drei ungleiche Vokale, nur 7 drei gleiche 8 ), wie z. B. ald mid is armun, || al antkende. Und gar im Beow. kommt auf 121 Zeilen mit drei ungleichen Vokalstäben nur eine mit drei gleichen (835): earm ond eaxle, || J>£r w a s eal geador 3 ). Danach hat w: a:i gleichklingend gewirkt so wie b\b\b oder st: st: st. Auch der irische und der finnische Vers kennt dies. Man hat an scharfen Vokaleinsatz gedacht: dann würde die Gleichheit für Sprecher und Hörer vermehrt durch Stimmbandverschluß und -lösung. Die agerm. Prosa hatte wahrscheinlich weichen Einsatz 4 ); aber zur Auszeichnung stabender Vokale fällt man beinah von selbst auf den scharfen. Ohne den würde der Stabreim kaum hörbar z. B. in Wessobr. 6 dö dar nluwiht ni was || enteo ni wenteo. Man spreche: därn iuwiht. *) Jönsson, Lit. 3, 18. Die ae. Psalmen erlauben sich nur sc. s: Rieger, ZsPhil. 7, 16; Schipper 1 , 5 1 . Gruppen wie: aisl. skipa ok stiörna; aschw. spoth ok skadhi; staar eller sether in Formeln spricht Vendell als stabend an (Lagspräk S. V). 2 ) Nach Mayer, ZsAlt. 47, 411 f., doch mit Scheidung der Vokale ungleicher Herkunft; z.B. östar : ööil: öSran (Hei. 718) hat dreierlei ö. ' ) Lawrence, Chapters 58 ff., wieder mit Scheidung der etymologischen Stufen. Die Statistik bei Classen, On vowel alliteration (1913), steht im Dienste der künstelnden Theorie, eine bessere Vorzeit habe lauter gleiche Vokale gebunden. 4 ) Zu RLex. 4, 237 sieh Ed. Hermann, Gott. Gel. Nachr. 1918, I l 9 f . ; Hoffmann-Krayer, Behaghel-Festschrift 1924, 40.

119. Aber auch konsonantische Stäbe verbinden, wie der Silbenreim, mit der Gleichheit eine Ungleichheit: da wo dem übereinstimmenden Anlaut abweichende Laute folgen. Auf uns wirken, wie Rudolf Hildebrand bemerkt hat, die Stabreime unter a) wohllantpnHpr alc ^ i a n n t o r 'M •

96

LAUTFORM DES

STABREIMS.

a) thiu mödar, thurh minnea, managaro drohtin; snelle tesamne, thea swäsostun mest. b) so manag mid mannon mahtig drohtin; an seli settean, that thea gesehan mugin. Wieweit die Dichter die Ungleichheit neben der Gleichheit erstrebten ? Kaum irgendwo als Gesetz. Sogar als besondere Zierde kann durchgreifender Gleichklang gesucht sein, wie in der skaldischen Zeile (Ynglingatal 35): firöttar prös 11 of firöazk haföi. Mehr will sagen, daß die verschiedenen Arten des rührenden Reims beim Stabreim Gegenstücke haben. Darunter die 'identische' Art, der sog. grammatische Stabreim: ahd. ben zibena; fries. morth möt morthe kela; ae. drihtna drihten; an. orö mer af oröi||oraet feoh and fere pset feoh.

Ein wenig öfter begegnen a a -Abverse mit sprachlich schwächerer Endhebung. Da ist zu fragen, ob der Vortrag diesen Anlaut zum Reimstab erhob oder als 'überschüssig' behandelte (§ 122). Der Beow. zeigt auch diese Freiheit nur in ein paar leicht heilbaren Fällen (Klasber, Beowulf 264). 132. S t e i g e r u n g der gewohnten drei Stabformen sind die beiden Arten von zwiefachem (doppelpaarigem) Stabreim: der gekreuzte a b | a b und der umschließende b a | a b: Hild. 40 spenis mih mit dinem wortun, wili mih dinu speru werpan; Vkv. 2, 9 varöi hvltan hals V^lundar. Hier stellen sich die drei Fragen: 1. waren diese Formen verpönt ? 2. waren sie gesucht ? 3. wurden sie dem Dichter als Kunstform bewußt, oder achtete er nur auf den Gleichklang a ? (so daß die erste Form = a x | a x, die zweite = x a | a x wäre). Die erste Frage wird im allgemeinen zu verneinen sein. Aber auch die zweite; sonst müßten diese zwiefachen Stabreime häufiger begegnen, drängen sie sich doch dem stabenden Übersetzer nur so auf als bequemes Mittel, die Satzgipfel in den Stab zu bringen (Jordan, Der epische Vers 47). In den 6000 Heliandzeilen fand man 77 gekreuzte, 41 umschließende Fälle (Ries, Subjekt 125); von der zweiten Zahl ist viel zu streichen. Auf 3013 eddische Langzeilen berechnet Wenck eine viel höhere Bruchzahl: 103 gekreuzte, 43 umschließende Stäbe (Beitr. 31, 227).

Zu der vielerörterten dritten Frage sei folgendes bemerkt. Man muß hier wieder nach der sprachlichen Stärke der b Silben fragen ; vgl. das zweite und dritte Beispiel in § 122, wo fürs Ohr wohl einfacher Stabreim bestand. Mitunter kann das eine Anlautpaar iktuslos sein und damit für den Stabreim ausscheiden. Vkv. 25, 7 slö hann briöstkringlur,

sendi Bcjövildi:

104

UMSCHLIESSENDER

STABREIM.

hier kann slö kann und sendi Auftakt sein. den beiden Kurzverseingängen in Hild. 18: forn her östar giweit,

Sicher gilt dies von

flöh her Otachres nid.

Zeilen wie: Bw. 2976 äc he hyne geWyrpte, 11 fieah Jje him wund hrine; Hei. 1075 thö bigan eft niuson || endi nähor geng konnte man nur auf Grund schlechter Messung hierher rechnen; die r. Hebung liegt nicht auf hyne und -gan (s. § 270). Ausnahmsweise erlaubt die Verwertung der b-Stäbe eine formgerechtere Messung der Zeile. A k v . 25, 7: er litt bifaz, er ä biööi liggr: nehmen wir dies als x a | a x , so kommt der einzige Stollen (bi-) in stumpfen. Schluß, und litt müssen wir entweder der Partikel er unterordnen oder es füllt stablos den ersten T a k t (gegen § 205). Diese Mängel vermeiden wir, wenn wir auch litt : liggr zu Stäben erheben: er litt bifaz, 11 er ä biööi liggr. Am bemerkenswertesten sind die seltenen Zeilen, die der Beugung eines voranstehenden Nomens — diesem Hauptverstoß gegen den Satzton (§ 139) •— nur dadurch entgehen, daß sie umschließenden Stabreim geltend machen. Zwei einwandfreie Beispiele : Sig. sk. 12, 1 lätum son fara feör 1 sinni. Hei. 19 Lücas endi Johannes, sia wärun gode lieba. Die Nomina son wie febr, Lücas wie gode heischen einen Stab. Dem genügt der Stabreim b a | a b. Den zwei Evangelisten lasse man nur ihre kanonische Ordnung! In dem eddischen Falle kämen bei X a | a X noch hinzu die rhythmischen Übelstände des vorigen Akv.-Beispiels. Den Satz, daß a auch im Anvers stärker sein müsse als b, widerlegen beide Zeilen. Weitere Stellen dieser Art sind gesammelt RLex.4, 239; sieh auch u. § 244 1 . 268. 270 3 . 290. 293 1 .

133. Diese ungewöhnlichen Stabformen, die Freiheiten und die Steigerungen, § 130-32, treten auf dem ganzen Gebiete so handgreiflich zurück, daß zunächst einmal dies über allem Zweifel steht: die gemeingerm. höhere Dichtung des 5. 6. Jahrh. hatte sich für die drei gewohnten Formen (§ 128) entschieden; also die 'Regel vom Hauptstab 5 (: der Abvers stabt nur mit dem ersten Iktus) ist alt und gemeingermanisch, wenn auch nicht als unverbrüchliches 'Gesetz'. Aber wir dürfen weitergehen. Im Blick auf die Zaubersprüche, Rechtsverse, Inschriften usw. wird es mehr als wahrscheinlich, daß schon die Langzeile der urgerm. Kleinkunst den Abvers a x vorzog, wenn auch nicht durchführte.

D I E R E G E L VOM H A U P T S T A B .

GEBUNDENHEIT DER W A H L .

105

Eine Zeit, wo die Stabformen a a | a a und a b | a b geherrscht hätten, also kunstvollere, schwerer durchzuführende Formen, ist weder für die höhere noch die niedere Dichtung irgend glaubhaft zu machen 1 ). Man braucht sich nicht um die Frage zu bemühen, ob aus diesem Zustande durch Verarmung oder Entartung die tatsächlich vorliegende, sinnvolle Stabstellung erwachsen konnte. Vgl. Läffler, Ljh. i , 75; Boer, Studien 38. Ehrismanns Betrachtung über die heilige Dreizahl (DLit. i , 76) vergißt, daß e i n e i n z i g e s Gedicht in außerskaldischer Versform (§ 400) drei Reimstäbe verlangt. Das Wesentliche trifft man nicht mit dem Satze: Von den 4 Ikten der Langzeile bleibt einer stablos; sondern: Der Abvers hat e i n e n Stab an unbeweglicher Stelle.

134. Halten wir uns im folgenden an die drei üblichen Stabformen. Beim Abvers ist der Dichter an die eine Form gebunden; wir werden sehen, auch in den Füllungstypen ist der Abvers beschränkter (§ 253 u. ö.). Die Freiheit des Anverses besteht darin, daß keiner Stelle des Gedichtes eine der drei Formen vorbestimmt ist; sie dürfen beliebig wechseln. Im übrigen aber ist die Freiheit stark begrenzt. Die Wahl unter den drei Formen hängt ab: 1. von den jeweiligen Füllungstypen; 2. von der sprachlichen Stärke der Iktussilben. Punkt 1 können wir uns erst klar machen, wenn wir den Versrhythmus kennen (§267). Auch da spielen dynamische Bedürfnisse des Sprachstoffes. Der Stab als Kraftspender hält gewisse Taktfüllungen aufrecht; sie wären ohne ihn zu schlaff. Und wiederum andere, gewichtigste Taktinhalte verlangen den Stab als Stempel ihrer Fülle. Das zweite, die Abhängigkeit der Stäbe vom Satzton, ruht auf dem Gedanken: die sprachlich stärkeren Hebungen haben mehr Anrecht an Stabreim als die sprachlich schwächeren; in gewissen Stellungen m ü s s e n sie staben. Eben weil der stabende Iktus der stärkere ist (§ 125). E s ist ein Sonderfall der prosodischen Hauptregel (§ 67): Iktus und Sprachton sollen im Einklang stehen; die Nachdruckslinie des Verses prägt die des Satzes aus. II. Abschnitt: Stabreim und Satzton. 135. Im stabreimenden Zeitraum (§ 105) hatten die germanischen Sprachen andern Satzton als heute. Nachgewiesen haben das Rieger aus der westgermanischen, Karl Hildebrand aus der nordischen Dichtung. Gegeben war die Lagerung der Reimstäbe; daraus folgerte man den Satzton. Weil in: te them godes barne das g staben muß, in: an them barne godes ebenso unweigerlich

io6

ALTGERMANISCHER SATZTON.

das b, schloß man: vorangehendes Nomen ist stärker als was folgt, usw. usw. Das Recht zu diesem Schlüsse haben einige Sprachforscher bezweifelt 1 ). Anders erklären aber konnten sie die Stabregeln nicht; 'mechanische' Verslaune ohne sprachlichen Grund wird man in diesen Regeln doch schwer sehen. Der Einwand war der: der aus den Stäben gefolgerte Satzton ist nicht der heutige. Ja, wenn die heutigen Stärkestufen nur auf allgemein seelischen Bedingungen ruhten! Aber sie ruhen auch auf äußerlichem Herkommen, bis zum Sinnwidrigen: im günstigsten fälle; das kind mit dem bade . . . 2 ). Daß dieses Herkommen schon Csedmon oder die Tuistoverse binden mußte, will nicht einleuchten; in wichtigen Punkten weist die Kompositabetonung eine ältere Spur: freihen gegen freier herr; städtrecht gegen der städt recht; mdnnesalter gegen des männes älter. Weiter spannt d i e Abweichung, daß der alte Satzton — wie der Stabreim ihn spiegelt — starrer ist, dem Nachdruck und Gegensatz des Augenblicks wenig gehorcht. Sollte dies kurzweg unvereinbar sein mit Gefühls- und Sprechweise der Altvordern ? . . . Wie immer, in d i e s e m Punkte gäbe man am ehesten eine 'mechanische' Versregel zu. Also wenn in Gu. I 4, 7 : priggia doetra, 11 firiggia systra die gegensätzlichen Töchter und Schwestern stablos bleiben, könnte dies, unbekümmert um den Prosaton, dem Versbrauch folgen, der den nicht gegensätzlichen Fall verallgemeinerte (z.B. Sig. sk. 17, 7 eiöa svarna, || unnar tryggöir). 1 ) Behaghel, S y n t a x des Heliand 107f.; Gesch. d. d. Sprache 1 1 7 f . ; Streitbeig, Urgerm. Gramm. 165; Curme, E G P h i l . 14, 164(1915). Gegen "Auseinandergehen von Prosa- und Versrhythmus' Ries, AnzAlt. 39, 9; Neckel, ib. 32, i o f . ; Wenck, Beitr. 31, 91. 236. Die 'Fülle der sprachlichen Tonabstufungen lehrt der Stabreim allerdings nicht, nur 'die Verschiedenheit gewisser Tonwerte' ( S y n t a x des Hei. 107). A u c h Behaghel nennt es ziemlich sicher, daß Betonungen wie: das haus ist siin; das haus verfällt; schmerzlich überrascht der alten Sprache nicht lägen. Das wissen wir aber n u r aus dem Stabreim. 2 ) Gleiches betont Nordling fürs Schwedische: den rike mannen; tredje man (im Kartenspiel): Studier i nord. Filol. 1923, 14 Nr. 4, 1. Fürs Dänische sieh B y s k o v , D a S t u d . 1907, 232; fürs Norwegische und Englische: Western, On sentence rhythm . . . in modern English 1908, 5 ff.

136. Wir glauben also an Zusammenhang zwischen Stabreim und Satzton und dürfen die Stabregeln als F o l g e der Tonschwere hinstellen. Aber die Tonschwere äußert sich nicht nur in der Lage der Reimstäbe: bei stablosen Silben lehrt uns oft erst der Satzton, ob sie in Hebung oder Senkung (Auftakt) gehören. Man sehe die Gruppen in § 146-48.

FORMWÖRTER.

STÄRKERE UND SCHWÄCHERE R E D E T E I L E .

107

Textreiniger, die über der Silbenzahl den Satzton aus dem Ohre ließen, sind dadurch zu argen Schlimmbesserungen gelangt. Exempla sunt odiosa. Das Folgende — immer noch ein Auszug aus den Tatsachen! —• mag zunächst verwickelt scheinen. Nur durch aufmerkendes Lesen der Gedichte, womöglich lautes Lesen, macht man sich diese Regeln vertraut; dann wird man den nähern oder fernem Einklang zwischen Stabform und Satzton gefühlsmäßig nacherleben. 137. Für sich stehn die F o r m w ö r t e r (f). Die waren im allgemeinen zwar hebungs-, aber nicht stabfähig. In Zeilen wie: Wess. 7 enti dö was der eino 11 almahtlco gof; Oddr. 28, 7 en 1 ormgarÖ 11 annan lQgöu; Bw. 1661 ac me geööe 11 ylda waldend hatte die Partikel zu Anfang, wiewohl in Hebung, schwerlich die Kraft eines Stabes (also keinen scharfen Vokaleinsatz § 118). Auch in Bdr. 14, 1: heim riö f>ü, ÖÖinn, || ok ver hrööigr wagen wir nicht, das ok zum Stabreim heranzuziehen, obwohl wir damit den Hauptstab an ordentlicher Stelle erzielten. Etwas öfter stabt eine Präposition, wenn in der anschließenden Nebenhebung oder im nächsten Iktus das abhängige Pronomen steht: Ae. Segen IV in fine: of öe gebläwe; VII 9 ofer Öe staeppe; HHu. II 20,8 und sik £rungit; — Rats.41, 86 nis under me; Hei. 2425b that wl it aftar thi; 3195 b thö geng aftar thiu. (Dagegen Musp. 79b uper stablos; eine Reimzeile!) Augenblicksnachdruck bringt Formwörter selten in den Stab. Ein neuerer Dichter würde für das 'ich' und 'ihm' in Hild. 54: eddo ih imo ti banin werdan zwei Versgipfel verlangen; dem alten genügt der Auftakt dafür! Wenn manche Eddastücke Formwörter staben lassen, wird es öfter Stabnot als logische Berechnung sein (vgl. § 289). Im Hymirlied mit etwa 16 Fällen derart wirkt das skaldische Beispiel (§424). Gewisse Betonungen aber, die sehr erregt anmuten, so die des Possessivs und Demonstrativs vor seinem Hauptwort, scheinen zur Ruhelage gehört zu haben: HHu. II 16, 7 hefi ek m!ns fgöur ||munräö brotit; Bw. 197 u. ö. on f>£m daege || j>ysses lifes; vgl. 736.1395.1797; Hei. 2407 an themu dage, ähnlich 4600; Judith 307 |>egnas on J>ä tid 11 {learle gelyste. 138. Unter den volleren, stabfähigen Redeteilen kann man eine Z w e i t e i l u n g vornehmen: Nomen und gehaltvolles Adverb bilden die stärkere Klasse, die anderen Wortarten: Verbum finitum, Gradadjektiv, steigerndes und Zeitadverb, die schwächere.

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ABSTEIGENDER SATZTON. VORANSTEHENDES N.

Bezeichnen wir die Glieder der ersten Klasse mit n (nomen), die der zweiten mit v (verbum). Dann ist der oberste Grundsatz in die einfachen Worte zu fassen: ein n kann sich nur vorausgehendem Gliede unterordnen, ein v auch nachfolgendem. Anders als der neugermanische Satz, neigt der altgermanische, von den Formwörtern abgesehen, zum A b s t i e g der Stärkestufen. Was weiter vorn steht, hat ein Prae. Paare aus genau gleichwertigen Hälften kann man als 1 2, nicht leicht als 1 2 abstufen. Wir nennen dieselbe Katze beliebig schwarz und wiiß oder weiß und schwärz: nach dem älteren Satzton hätte sie beliebig schwärz und weiß oder wiiß und schwarz geheißen. Darum muß dödun endi quikun mit d staben, quikun endi dödun mit q (Hei. 4291. 4307).

Ein: enteo ni wenteo (Wess. 6) wäre, a u c h als Anvers, eine Unmöglichkeit (vgl. § 118). Im einzelnen stellt sich die Lage so dar. 139. Voranstehendes n ordnet sich nicht unter. Folglich: ein n kommt nicht in den Auftakt, und im ersten Iktus muß es staben; Der Versinhalt n n oder n v schließt die Stabform x a aus. Zwei Widersprüche: Mers. 6 dü wart demo b a l d e r e s Volon || sin vuoz birenkit; Hei. 5552 J e s u s fan Nazarethburh, || thie thar neglid stuod. Die Hauptwörter ahd. as. man (auch mit bestimmtem Artikel), an. mabr\ ae. mcel, an. mal 'Zeit'; an. fiqlt 'Menge' (wohl Ersatz für *fiql = got. filu) können herabsinken zur Stärke eines v und dann stablos (auch im Auftakt) voranstehen. Die Muspilliverse 16a. 27a. 70a, der man im Auftakt, sind einwandfrei. Verhältnismäßig oft steht altnord. ein V e r w a n d t s c h a f t s n o m e n stablos vor dem abhängigen Eigennamen: Bdr. 6, 2 sonr em ek Valtams; Her. 9 , 6 ; Har. 4, 6; SnE. 2, 301 dcetr GeirraSar; Vkv. 15, 2 borin var Hlä Freyia; Am. 100, 3 strängt var angr ungri. Hunn. 13, 5 k6nna (Inf.) Htinum; Akv. 14, 6 at vekia gram hfldi. HHu. I 14, 7 farit haföi hann Ällri; Akv. 7, i c kominn ör h£ll Kiärs; Ghv. 4, 9 roönar 1 v£rs dr^yra, || folgnar i välbloöi.

V O R A N S T E H E N D E S V.

109

Sig. sk. 42, 1 üpp reis Günnarr; H. Hu. II 42, 5 upp er häugr lökinn. Weitere Beispiele GermVb. 97 f. Auch das Hild. stellt einen Beleg: 44a tot ist Hiltibrant (anders Bw. 1323b dead is äschere). Möglich, daß die Erscheinung nach § 142 zu beurteilen ist: eine einst gemeingerm. Freiheit der weltlichen Dichter. Im Heliand der einsame harte Fall 5127b, der sich zu den Prosavorspielen in § 219 stellen mag; wogegen man das stablose ginähid aus dem Eingang von 879 in den Schluß von 878 setze. Das stablose näh sind . . . 2825 b war wohl sprachlich schwächer. Die holprigen Schwellverse Hei. 903a ( = m o a , j. Gen. [ae.] 544a). 1973 a schmeidigt man, wenn man up, uppe in den Auftakt zu stellen wagt; wie oben in HHu. I I 4 2 und in Har. 10, 7 letu upp stiijlu stüpa.

141. Voranstehendes v kann sich folgendem n unterordnen oder gleichordnen. Es kann somit in den Auftakt treten (a) oder in die erste Hebung ohne oder mit Stab (b und c), auch in die Senkung (Nebenhebung) des ersten Taktes (d). (Beispiele mit bloßer Zahl = Heliand.) a) 5328 hietun flitlico; b) 4636 sägde them 6lat; c) 3641 sätun an sundiun; d) 2392 thät it thar mahti wähsan (§ 270). Demgemäß kann man in Anversen wie 1388 gihet im hebenrxki das voranstehende v als Auftakt oder als ersten Stab messen: Stabform a X mit überschüssigem A-Anlaut oder a a. Ein Fall von cVielgestaltigkeit> (§ 84), wie nachher § 147. Für den Abvers käme nur die erste Messung in Betracht. 142. Ü b er Ordnung des v über folgendes n: Versinhalt v n mit Stabform a x : dies ist in der Edda alltäglich. Drei Doppelbeispiele : Grott. 5, 5 siti hann ä au0i, sofi hann ä düni; Hym. 27,1 gekk HlörriÖi, greip ä stafni; Rfgsth. 40, 3 giptu iarli, gekk hon und lini. Westgerm, begegnet es im Hild. zweimal (5 b. 33a) 1 ), in dem kurzen Finnsb. fünfmal (1 Anvers), im Byrhtn. neunmal (1 Anvers); im Neunkräutersegen sechsmal, auch Mers. 5 b. Das geistliche Musp. schließt sich mit fünf Fällen an (3 Anversen). Die weltliche Technik hat damit einen alten freieren Brauch festgehalten2). Die geistliche Gefolgschaft Caedmons ist hierin strenger geworden: Anverse dieses Baues sind verschwindend selten (Hei. 952. 4705. 4867), auch Abverse spärlich3). Herausfällt die sächsische Genesis mit neun Belegen, einem im Anvers

(243)-

110

GRUPPE

N N.

G R U P P E V V.

Also der Abvers, der die Stabform x a meidet, meidet auch den Inhalt v n (außer wo n zwei Ikten trägt und v in den Auftakt kommt: 1032b he Consta is mödsebon). Bei vn-Anversen mit ungleich anlautenden Ikten, wie: 1647 samnod iu an himile; 226 ni gibu ic that te räde; 5506 hietun sia thuo wirkian, darf man, noch eh der Abvers in Sicht ist, dem zweiten Anlaut so gut wie sicher den Reimstab geben. J ) Betont In Z. 40 nehmen wir gekreuzten Stabreim an: § 132. von 3 ) Fünf Fälle beisammen im K ö g e l , Lit. 1, 87. 229. 288p, Ergänzungsband 32. Seesturm 29o8ff. D a ß auf dem stabenden Verbum 'der Hauptnachdruck ruht", versteht sich; aber das ist die subjektive Betonung und Stabwahl des Dichters: der Sprachstoff, der Satzton zwang ihn nicht dazu.

143. Gruppe n n verfügt im Anvers über die zwei Stabformen a a und a x. Die erste, also Gleichordnung der Glieder, beliebt im ganzen mehr da, wo auch der Satz beiordnet, nicht unterordnet. Doch ist auch die zweite, a X, Substantiv- und Adjektivpaaren ganz geläufig: 2478 regin endi sunne; 5709 that thanan bluod endi water; — 30 mildean endi guodan; 3272 ne niöin ne hatul. Vgl. die Zeitwortpaare in § 144. Fällt n n auf zwei Verse, dann staben naturgemäß beide n: 3942 ef sie im thero manno || menigi ni andredin; HHu. II 14, 3 heim nam hon Helga || hgnd at soekia. Außer den versrhythmischen Umständen, die für den Versinhalt n n Doppelstab begünstigen oder erzwingen (§ 267), spielt noch ein sprachlicher: Ist das zweite n ein Kompositum von 'doppelter begrifflicher Kraft', so fordert es Stab: 1396 hö holmklibu; 2238 släpan slöwörig. Steht an dieser Stelle ein Kompositum von 'einfacher begrifflicher Kraft', so kann es auf Stab verzichten; die Gruppe ist dann auch dem Abvers zugänglich: god alomahtig; 2585 b barno mancunnies. Dieser Grundsatz, von Fuhr für den Beowulf festgestellt (WgAll. I7f.), scheint auch im Heliand leidlich befolgt zu werden. 144. Der Versinhalt v v läßt alle drei Stabformen zu; doch mit Einschränkungen. Regierendes Verb pflegt sich dem des folgenden Substantivsatzes unterzuordnen: 5520 hiet, that sia ni wepin; 3974 bädun, that tharod quämi. Diese Satzformen sind eine der Quellen für das im Süden seltenere x a. Bei andern Nebensätzen ist die Abstufung umgekehrt: 659 sie frumide, the mähte; 3296 quaÖ it thö, thar he weide; 5889 dädun all, so sia bigunnun. Zwei gleichlaufende Verba im Anvers ziehen entschieden Gleichordnung vor, also a a : 2413 thö sätun endi swigodun (1291 s a t . . . swlgoda), aber nach thähtun nicht swigodun, sondern das stabende thagodun (1284. 1386. 1583. 3872). Überordnung des

DREIGLIEDRIGE

GRUPPEN.

III

ersten Gliedes (4805 släpiad gi endi restiad) ist seltener als in gleichlaufenden Nominalverbindungen (§ 143). Unterordnung (Stabform x a) widerspräche dem allgemeinsten Grundsatz (§138), auch bei andern Redeteilen der schwächern Klasse; in einem: hwat ist mi endi thf (2025 a) muß m Stab sein. 145. Unter den d r e i g l i e d r i g e n Gruppen stehn für sich die seltenen Kurzverse mit drei beigeordneten, syntaktisch ebenbürtigen Gliedern, wohl immer n (besonders in nordischen Namenlisten). Hier muß eines der n mit Nebenhebung vorlieb nehmen, in der Regel das mittlere (GermVb. 104): Gr.-W. 1, 314 Erce, Erce, firce (a a); Vsp. 30, 7 Gunnr, Hildr, Ggndul; Rth. 25, 5 Fliöö, Sprund ok Vif (a x). Im Abeced. Nordm. 8 erzwingt die gegebene Wortfolge Unterordnung des d r i t t e n Nomens: Ts, är endi söl | j[_ ^ |^ w w (ein Zeitfall wie in § 124 Hei. 3117). Im allgemeinen aber treten die drei oder mehr Glieder zu ein- + zweigliedrigen Gruppen zusammen, und für deren Anrecht auf Iktus und Stab gelten die besprochenen Grundsätze. 146. In n n_n erhalten das erste und zweite, in nji n das erste und dritte Glied den Iktus; die Stabform beidemal a x oder a a: 1440 sälig fölc godes; 3070 hölag htis godes; — 3 9 5 gödes engil cüman; 3483 güod lön at göde. Ein Widerspruch 5371 (Cott.) so m i k i l (h)warf Werodes. Die spärlichen Fälle mit zwei beigeordneten Gliedern in nji verlangen Doppelstab: ae. Gen. 2887 faxler fyr and sweord; Hei. 4633 Waldand, Win endi bröd; 599 giboran, bald endi sträng. — Akv. 7, 9 hialm ok ski^ld hvltastan. Die Gruppen n n_v und n_n v erfahren dieselbe Behandlung. Der Umstand, daß in n j i v der schwächere Redeteil v den zweiten Iktus und evt. den zweiten Stollen erhält (3668 godes riki fargaf), bedeutet keine sprachwidrige Unterordnung des zweiten n, denn dieses lehnt sich an das erste n und will nur an ihm gemessen sein; die Kolongrenze liegt vor v. 147. Anders bei der Gruppe v n_n (und ebenso v n v): die läßt drei Möglichkeiten. Das v zu Anfang ordnet sich unter, es bleibt ohne Stab und tritt damit in den Auftakt: 1670 thoh gibid im dröhtin göd (a x); 1457 tögeat im hlüttran hugi (aa). Auch mit zwei Verba finita im Auftakt: 692b quäöun that sea ti im habdin giwendit hugi (ähnlich as. Gen. 98b). Oder das v ordnet sich dem ersten n gleich, beide bekommen den Stab: 1400 lätad iuwa lioht mikil; 3603 fargätun godes rlkies; 2279 dref thea diublas thanan. Statt des ersten Stollens dürfte

112

DREIGLIEDRIGE GRUPPEN.

man da auch A u f t a k t mit überschüssigem Anlaut sprechen ; also die Gewichtsverteilung wie vorhin in Fall i . Es äußert sich hier die rhythmische Schmiegsamkeit des Sprachstoffes (vgl. GermVb. ioif.). Die beiden Arten entsprechen denen bei der zweigliedrigen Gruppe v n , sieh § 141. Und der d r i t t e n Möglichkeit, in § 142, entspricht es, daß sich v dem folgenden n_n oder n_y ü b e r ordnen, d. h. allein staben kann. Westgerm, ist das wohl seltene Ausnahme: 2908b skréd lioht dages; Musp. 22b; Hild. 5 b gurtun sih irò swért ana; Hei. 1085 a skrld thï te érôu hinan; 2944b Mon.; 2467b endi hórid thar mid is örun tö. Die nord. Dichtung erlaubt es sich öfter: Bjark. 1, 2 d^nia hâna fiaÖrar; HHu. II 40, 4 riöa ménn dauöir; Her. 11, 8 vékr ménn dauöa; Gât. 25, 2 er drépr fé manna; A k v . 2, 8 sât hann ä békk häum ; Sig. sk. 23, 4 hné ä ânnan veg ; — Vsp. 66, 6 tl^gr vijll yfir; Grott. 23, 6 skâutz löör ofan. Dies sind Abverse; ein Anvers : V k v . 20, 5 drifu üngir tveir. Der Prosabetonung näher lag gewiß die Messung nach der ersten Art, also v im A u f t a k t : a x : Hamd. 30, 2 stçndum ä vai gótna; Vsp. 55, 5 laetr hann mégi hveörungs; a a : V k v . 29, 9 tregÖi t$r friÖils ; Hym. 30, 5 drep viö hâus Itymis. Formverstoß ist das vereinzelte v n j i : H H j . 12, 6 kenniÖ mër nafn konungs. 1 4 8 . Auch in der Gruppe v j i n zeigt sich die nordische Neigung, voranstehendes v zu belasten. Abverse wie diese: H H j . 9, 8 vérpr naÖr hâla; Thr. 21, 6 brânn içrÔ Ioga; Am. 53, 6 llóòi vçllr blööi; Vsp.57, 2 sigr fold ï mar; Männ. 1, 8 vâ sigr kónungr; Gu. I 13, 6 léggÔu munn viÖ gr^n ; Hâk. 4, 2 hrâtt ä vçll bryniu. Angrenzen die absonderlichen f j i n und f j i v mit Hauptstab auf dem Formwort; besonders in der H y m . : 3, 6 sér fœra hvér; 3 8 , 6 hânn laun um fékk, u. ö.; Sig. sk. 28, 8 hâns kvänar vinr. Die natürlichere, d . h . prosanähere Formung war wieder die mit v als A u f t a k t : Stabform a x : Oddr. 7, 3 gekk mild fyr kné; Hamd. 10, 7 er her sitium féigir ä m^rum; Helr. 8, 5 gaf ek tìngum sigr; Stabform a a : Vsp. 3 9 , 9 sleit vârgr véra; 52, 7 troöa hâlir hélveg; Reg. 11, 5 fä Jm méy mann; Oddr. 8, 1 knätti m é r ok mtfgr.

DREIGLIEDRIGE GRUPPEN.

GRÜNDE DER ABSTUFUNG.

113

D i e s e F o r m u n g d ü r f t e i m S ü d e n die allein übliche sein. Z . B . 4 7 5 6 t h ö s a g d a h e Waldande t h ä n c ; 2282 g a f i m wiö thie t f u n d friöu. D e r V e r s 2243 s w ä n g giswérc a n g i m a n g w ä r e in dieser Messung sehr h a r t ; d e n n der F a l l liegt a n d e r s a l s bei 3 1 1 7 a in § 1 2 4 : die K o l o n p a u s e f ä l l t n i c h t n a c h swang, sondern n a c h giswerc; dies k o m m t m e t r i s c h z u m A u s d r u c k , w e n n w i r swang in d e n A u f t a k t stellen (mit ü b e r s c h ü s s i g e m A n l a u t ) : s w a n g giswérc 1 a n g i m ä n g

(a x).

N a c h n o r d i s c h e m A n s p r u c h f o r m g e r e c h t sind V e r s e w i e : A k v . 34, 6 g é n g u inn h v ä r i r ; Sig. sk. 23, 6 téli a p t r ì s t ä 5 ; H H u . I 26, 8 snaru u p p viÖ t r é ; T h r . 30, 3 bériò inn h à m a r ; 22, 3 ständiö u p p , icjtnar; Sig. sk. 53, 1 sétztu niÒr, G ü n n a r r . E s ist die i m N o r d e n g e w o h n t e E r h e b u n g des Z e i t w o r t s über f o l g e n d e s S u b s t a n t i v : § 142. D e r Hei. stellt die F ä l l e 4 8 6 7 a wéll i m i n n a n h ü g i ; 5 6 3 3 b t h u o h r é o p u p p t e g o d e . (Ae. S e g e n I V 1 7 b weorpeö ü t attor.) D a s O r t s a d v e r b s t e h t hier z u seinem Z e i t w o r t r ü c k g e n e i g t , in Nebenhebung. E s kann auch den zweiten, schwächern Iktus b e k o m m e n : F à f . 43, 3 o k léikr ^fir u n d v o r h i n vielleicht : s é t z t u niör, G u n n a r r u s w . V g l . Hei. 3364 b h r f o p ü p t h a n e n oder h r l o p u p t h ä n e n ; ä h n l i c h 5 9 7 4 b ; 3 8 2 2 b sähun m a n a g e tó. A b e r a u c h Ü b e r o r d n u n g , w i e meist bei v o r a u s g e h e n d e m A d v e r b , k o m m t v o r : V k v . 4, 5 g e n g u üt o k inn ; 7, 3 g e n g u inn |>äöan ; Hei. 4448 b lèdid üp t h ä n e n , ähnlich 4 6 2 8 a ; 2 6 3 1 b tiuhid tìp t e staÖe. 1 4 9 . W i r sprachen von ' G l e i c h o r d n u n g ' zweier Glieder, d a w o beide d e n S t a b b e k o m m e n . A l s o a u c h in v n - u n d n v - G r u p p e n : Wisde m i d w o r d u n ; bittres brengit. D i e M ö g l i c h k e i t soll d o c h o f f e n bleiben, d a ß die Unterschiede d e s S a t z t o n e s n a c h w i r k t e n a u c h an s t a b e n d e n S t e l l e n ; d a ß es i n n e r h a l b d e r Stabsilben, a u c h der S t o l l e n , sprachlich b e d i n g t e N a c h d r u c k s s t u f e n g a b . Sehen w i r e i n m a l a b v o n d e r p h o n e t i s c h e n U n g l e i c h h e i t der A n l a u t e , d a n n h a t j e d e s S a t z g a n z e 1 . s t a b h e i s c h e n d e , 2. s t a b fähige, 3. s t a b u n f ä h i g e Silben. (Die l e t z t e n zerfallen noch einmal in i k t u s f ä h i g e und - u n f ä h i g e , § 188.) D i e A b s t u f u n g r i c h t e t sich, w i e w i r sahen, n a c h der W o r t k l a s s e : n, v, f ; n a c h d e r W o r t f o l g e : N e i g u n g z u m A b s t i e g ; n a c h dem syntaktischen Verhältnis: Beiordnung gegen Unterordnung. N e b e n diesen d r e i G r ö ß e n spielt der logische oder rednerische A u g e n b l i c k s n a c h d r u c k eine s c h a t t e n h a f t e Rolle. In k e i n e m u n s rer vielen Beispiele g l a u b t e n w i r a u s d i e s e m B e d ü r f n i s die S t a b w a h l erklären z u sollen. D e m ersten B l i c k m a g o f t solche E r k l ä r u n g g e f a l l e n ; bei weiterer U m s c h a u erscheint sie f r a g w ü r d i g — u n d überflüssig. H e u s l e r , D e u t s c h e Versgeschichte.

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U4

SPIELRAUM DER

STABWAHL.

150. Gebunden ist der Dichter nicht nur von Seiten der Versregel: für jeden Abvers hat er die Stabform a x, für den Anvers eine der drei bekannten Stabformen herzuschaffen. Daneben immer die feinen Rücksichten auf die Taktfüllung; ein Punkt, den wir noch außer Rechnung lassen mußten (§ 267). Eine starke Bindung liegt ferner im Sprachstoff. Jene Stabformen muß der Dichter mit Silben von bestimmtem Satzton verwirklichen. a a, a x, x a bedeuten von vornherein eine Auswahl unter den syntaktischen Möglichkeiten. Dieses dritte Band aber läßt einigen Spielraum. Viele Wortfolgen erlauben — wieder abgesehen von den jeweiligen Anlauten! — mehr als eine metrische Messung und insbesondre mehr als eine Stabform. Und zwar ist Form a a gleichsam neutral, d. h. überall im Anvers statthaft, wo mindestens zwei stabfähige Silben da sind: bei n n, n v, v n , v v und allen dreigliedrigen. Form a x steht in der Edda mit wenig Beschränkung zu Diensten; der Süden meidet sie im allgemeinen bei v n, beigeordnetem v v, sowie bei f n, f v. Am sprödesten ist Form x a: nicht nur unbrauchbar, sobald ein n voransteht (in der Edda wieder mit Ausnahmen), sondern auch bei v v beschränkt durch die allgemeine Neigung, das erste Glied über- oder gleichzuordnen. Den Stoff für x a stellen im ganzen die Gruppen v n, f n, f v (sieh auch § 144)Betrachten wir es von seiten der Sprache. Einige Nominalverbindungen nötigen zu a a (§ 143); die meisten mit voranstehendem n lassen im Anvers die Wahl zwischen a a und a x; desgleichen die meisten v-Gruppen. Am freiesten ist der Dichter bei voranstehendem v : dieses kann er, je nachdem, als Auftakt oder Binnensenkung, als stablose oder als stabende Anfangshebung verwenden (§ 141. 147). In diesem Falle greift die Freiheit über die Stabwahl hinaus und ins eigentlich Rhythmische hinüber. 151. Den Spielraum des Dichters gegenüber dem Satzton kann man mit folgender Probe ermessen. Man sehe in einer Versstrecke von den stabenden Anlauten weg und frage, welche Stabformen mit diesen Satzgefügen vereinbar waren. Der im Stabreim so kunststrenge Heliand würde in einer großen Menge von Zeilen die Spannweite lassen, daß der Anvers statt a a auch a x, statt a x auch a a wählen könnte ohne Verstoß gegen des Dichters Grundsätze. Seltener könnte man a a mit x a oder x a mit a a vertauschen. Die Ikten blieben meist unverrückt, ausgenommen d i e Anverse, deren v aus der stabenden Anfangshebung in den Auftakt verpflanzbar wäre (§ 141. 147).

SPIELRAUM DER STABWAHL.

ii5

W e i t e r g e h t die F r e i h e i t z. B . in Zeile 5 d e s H i l d . : g ä r u t u n se iro güÖhamun,

g ü r t u n sih iro swert a n a .

H i e r e r l a u b t e d e r S a t z r h y t h m u s , d e n ersten I k t u s auf gut-, d e n d r i t t e n u n d v i e r t e n auf swert ana zu legen, also S t ä b e u n d H e b u n g e n wesentlich u m z u g r u p p i e r e n . In d e r E d d a sind solche F ä l l e h ä u f i g e r , d e n n sie h a n d h a b t d e n S t a b r e i m n a c h allen Seiten hin lockerer, v e r s - w i e s p r a c h r h y t h m i s c h . D e r K u r z v e r s V s p . 59, 6 f l y g r Qrn y f i r g ä b e einen g u t e n A n v e r s mit D o p p e l s t a b , so w i e 57, 7 leikr här hiti. A b e r der D i c h t e r w o l l t e ihn als A b v e r s d e m f a l l a forsar a n s c h l i e ß e n : f l y g r m u ß t e also d e n ersten I k t u s m i t d e m H a u p t s t a b ü b e r n e h m e n und d a m i t d a s f o l g e n d e n z u r stablosen H e b u n g h e r a b s i n k e n , d a s schließende v zur N e b e n h e b u n g : fl^gr ^ /\ 9 m y f i r . E i n e g r ü n d l i c h e U m k n e t u n g d e s S p r a c h s t o f f e s ; d a s G e w i c h t h a t sich n a c h v o r n , auf d a s Z e i t w o r t , v e r s c h o b e n . S p r a c h g e m ä ß sind b e i d e M e s s u n g e n ; die zweite ist, m i t Z a h l e n n a c h z u w e i s e n , die seltnere; sie b o g die prosaische Linie f ü h l b a r e r u m , sie w i r k t e g e w ä h l t e r (§ 147)M a n v e r g l e i c h e n o c h die A n v e r s e in Sig. sk. 19, 1 u n d 27, 5 : ek veit ggrla, ek v e i t ggrla,

h v a ö a n vegir s t ä n d a ; h v l gegnir nü.

D e r R o h s t o f f ist der g l e i c h e ; d e r Z u s a m m e n h a n g , die R ü c k s i c h t auf d e n A b v e r s — n i c h t logische V e r s c h i e d e n h e i t — b e w i r k t e zweierlei I k t e n s e t z u n g u n d S t a b f o r m (a x u n d x a ) . W i e d e r sind beide s p r a c h g e m ä ß ; s c h ä d i g e n d e ' R e i m n o t ' b e s t a n d n i c h t . Die erste F o r m m i t d e m h e r a u s g e h o b e n e n veit ist l e b h a f t e r ; sie h a t Ü b e r l ä n g e in A n - u n d A b v e r s : d a s f e h l t d e r z w e i t e n . M a n sieht a n diesen B e i s p i e l e n : die S t ä b e t r a g e n d e n mischen Bogen.

rhyth-

152. So l ä ß t die S t a b r e g e l m i t d e n A n s p r ü c h e n des S a t z t o n s d e m D i c h t e r eine gewisse F r e i h e i t . D e r S a t z t o n ist n i c h t so starr, d a ß i m m e r nur e i n e M ö g l i c h k e i t w ä r e . D e n n n i c h t j e d e s s t a b f ä h i g e S a t z g l i e d h e i s c h t einen S t a b — w i e nicht j e d e h e b u n g s f ä h i g e Silbe die H e b u n g (§68). D i e V e r t e i l u n g der S t ä b e w i r d in h o h e m G r a d e d u r c h die S t ä r k e k u r v e d e r S p r a c h e regiert. A b e r der Stabreim r i c h t e t sich n i c h t b l o ß n a c h d e m S p r a c h r h y t h m u s , er m o d e l t ihn a u c h ; er ist n i c h t n u r F o l g e u n d A b z e i c h e n d e s g e g e b e n e n R h y t h m u s , sondern r h y t h m i s c h e T r i e b k r a f t . Mit a n d e r n W o r t e n : der D i c h t e r w ä h l t aus, u n d die A r t , w i e er die S t ä b e setzt, w i r k t w i e d e r auf die sprachliche L i n i e ein. E i n e n baren A b d r u c k der P r o s a k a n n und will er n i c h t geben. 8*

n6

D I E ALTE Z W E I T A K T L E H R E .

12. Abschnitt: Deutungen des Rhythmus. 153. Über das Beweisbare mußten schon die Abschnitte vom Stabreim und vom Satzton hinaus; daher gab es auch schon Streit der Meinungen. Beides gilt noch viel mehr, wenn wir nun die Hauptfrage stellen: die nach dem Rhythmus. Wie haben wir diese Verse zu lesen? Kein zweites Gebiet der Verswissenschaft hat so viele und ungleiche Theorien erlebt wie der altgermanische Vers. Die Ursache ist: mit dem rhythmischen Stile dieses Verses haben alle germ. Literaturen, auch die isländische, einmal gebrochen, und unser Formgefühl, an anderen Stilen erzogen, tastet sich nicht so leicht zurück. Der Anschluß an Gehörtes und Erlebtes (§ 19) ist hier mittelbarer als anderswo; schloß man an Abwegiges an, oder verzichtete man ganz — auch dies kam vor — auf gehörte Gegenstücke, dann gab es die Fehlgriffe. Die Zahl der Theorien kann man auf etwa zehn schätzen. Vier oder fünf werden heute noch verfochten. Wir versuchen sie auf engem Räume zu kennzeichnen. Die sehr wechselnde Kunstsprache ersetzen wir nach Möglichkeit durch die unsere. Der Streit geht in erster Linie um den gemeingermanischen Vers: das 'epische Maß', die fortlaufenden Langzeilen (§ 106.108). Im folgenden ist immer diese Form gemeint, wo wir nicht ausdrücklich andere heranziehen. Die umstrittenen Schwellverse (§ 238ff.) bleiben noch fern. Manche hier übergangene Angaben findet man bei Sievers, AgMetr. 2 ff.; Saran, Ergebnisse und Fortschritte der germanist. Wissenschaft (1902) 158ff.; Kaluza, EMetrik (1909) 2off.; Bonnichsen, Metriske Studier (1915) 5ff. Es versteht sich wohl, daß jeder die Dinge von seinem Standpunkt sieht; nur geht der Eifer des Anwalts manchmal ziemlich w e i t . . .

154. Den nordischen Versforschern bis um 1880 klangen ihre alten Stabreimverse als Zweitakter. So unscharf sie definierten: sie dachten an wirkliche zwei Takte, nicht einfach zwei gehobene Silben (wie in §164). Dies erhellt bei Jön Olafsson 1786 aus der Art, wie er antike Füße vergleicht; ganz deutlich wird es bei Rask (1817), N. M. Petersen (1840) und bei späteren 1 ). Die 'vollkommene Übereinstimmung' mit dem altenglischen Verse betonte schon Jön Olafsson 2 ); auch Hickes, auf den er sich beruft, hatte im Csedmon, Heliand und im isl. Hervörlied ein 'metrum haud multum dissimile' gefunden (s. u.). Deutsche und englische Forscher standen zu dieser Ansicht. Auch als Grundlage des Heliandverses sprach Schmeller 1839 die Zweitaktigkeit an 3 ).

D I E ALTE ZWEITAKTLEHRE.

« 7

Diese a l t e Zweitaktlehre entsprang richtigem Versgefühl, und bei Rosenberg äußert sich auch die Empfindung für den kennzeichnenden Stil dieser Rhythmen (a. a. 0. 391). Nur hatte man sich noch nicht klar gemacht, daß die zwei Takte des Kurzverses Langtakte mit Nebenhebung sind. Daher blieb die Hauptaufgabe ungelöst: mit den knapperen nordischen Versen die silbenreicheren deutsch-englischen zu vereinigen; für ein viersilbiges: meÖ öss köminn und ein neunsilbiges: h^rde ic, fiset he f>one healsbeah die gemeinsame Formel zu finden. Weshalb denn Rosenberg zwei verschiedene Maße für Nord- und Südgermanen glaubte fordern zu sollen (S. 388). Man unterschätzte das Volumen des nordischen Zweitakters um die Hälfte, wenn man z. B. drei solche Verse dem Umfang des Hexameters gleichsetzte 4 ) oder zweie dem des finnischen Vierhebers 5 ), oder wenn man den nachmaligen Reimviertakter gleichwog einer stabenden Langzeile, statt einem Kurzvers 8 ). Ausdrücklich ein Grundm^ß für alle Germanen setzte G. Vigfüsson an 7 ), und es mochte ihm wohl etwas wie die zwei Langtakte vorschweben, da er silbenschwerste Zeilen, mit Vorliebe Schwellverse, in seinem Stammbaum obenan stellte. Gäbe er Rhythmenbilder und eindeutige Namen, so könnten wir in seine Vorstellung eindringen! Ähnliches gilt schon von dem Engländer Hickes (1705). Obwohl er begrifflich nicht über das Silbenzählen und Ausdrücke wie "dactylici numeri, Adonici' hinauskommt, muß er die Stabreimverse rhythmisch erlebt haben: er nennt sie 'maxime eöpuOna'; 'merus eorum incessus vel sensum verborum ignoranti usque adeo placet. . Er geht so weit, den stabenden 'poemata rhythmica' die reimenden < poemata pseudo-rhythmica' (Otfrid) entgegenzustellen, in denen 'rhythmi defectus* durch das Reimgeklingel 'quodam modo suppletur et resarcitur >8 ). Das schießt denn freilich übers Ziel hinaus! Aber Hickes hat den agerm. Vers als Einheit, als wahrhaft metrisch und als tief verschieden vom Reimvers empfunden: drei Einsichten, die den Späteren oft und auf lange verlorengingen. *) R a s k , Ags. sproglaere ( 1 8 1 7 ) 1 1 9 ; N . M . Petersen, Annaler 1840/41, 5 4 f f . ; Münch og Unger, D e t oldnorske sprogs g r a m m a t i k (1847) 107 f f . ; N y g a a r d , U d v a l g (1875) 2 7 o f f . ; Rosenberg, A a n d s l i v i , 386ff. (1878). *) D i g t e k o n s t 212. 221. Vgl. K e y s e r , E f t e r l a d t e skrifter 1, 8 7 : die ags. und ältesten hd. Gedichte gehen i m ' F o r n y r d a l a g ' . ' ) Über den Versbau in der allit. Poesie 216. 4 ) R a s k , a. a. 0 . 123 ff., Verslehre der Isländer (1830) 37. 6 ) J . Grimm, K l . Sehr. 2, 83. •) N . M . P e t e r s e n , a . a . O . 62t; Rosenberg, a . a . O . 2, 4 1 1 ; Mortensen, G a n s k v e r s b y g n i n g (1901) 104. 146f. (vgl. Vf., A n z A l t . 27, 310); G. Björnsson, Skirnir 1913, 348ff. (setzt das Langzeilenpaar der Folkevise gleich einer L j ö d a hättstrophe). ' ) Cpb. i , 432ff. (1883). 8 ) Thesaurus 1, i 8 o f . 1 8 9 . 1 9 3 ; 2, 101. 105. 109.

II8

LACHMANN.

155. Folgenreich wurden die Aufsätze Lachmanns aus den Jahren 1831-33 (Kleinere Schriften 358ff.). Lachmann unterschied d r e i e r l e i Formen. Für die nordischen, die kürzeren englischen und deutschen Verse übernahm er die herrschende Zweitaktlehre. Die silbenreicheren Verse der Engländer, des Heliand und Muspilli klangen ihm ungeregelt; wie es scheint, ohne feste Hebungszahl. In der Mitte lag ihm das eine Gedicht, das Hildebrandslied: dieses habe sehr strengen Rhythmus, und a u s seiner 'durchaus geregelten Kunstrichtigkeit' hätten die beiden erstgenannten Formen verwildern oder sich umbilden können. Der 'strenge ahd. Versbau' aber, den Lachmann im Hild. fand, war der des Otfridischen Reimverses, so wie er ihn faßte. Der Kurzvers hat v i e r H e b u n g e n , zwei stärkere und zwei schwächere in beliebiger Folge. Also nach unserm Sprachgebrauch (§ 49) ein monopodischer Viertakter. Auch zwei Sonderregeln übertrug Lachmann von seinem Reimvers auf das Hild.: das Verbot der mehrsilbigen Senkung und des Schlußtaktes 1 ^ (des 'klingenden' Schlusses nach Lachmanns Wortgebrauch). 156. Lachmanns andeutende Sätze lassen manche Frage unbeantwortet. Z. B. wo denn die Grenze laufen soll zwischen seiner ersten und zweiten Form (die ja in e i n e m Gedicht beisammen sind). Auch beim Hild. selbst bleibt die rhythmische Beschreibung unbestimmt, unhörbar: das Augenmerk sind Textkritik und Grammatik. Im Sprachlichen, im Unterscheiden namentlich von Länge und Kürze, schreitet Lachmann weit über die Zeitgenossen hinaus; noch viel später behandelten nordische Metriker fara gleich binda, konunga gleich Norbmanna. Die greifbaren Einwände gegen Lachmanns Lehre sind diese. Sie gibt die Einheit des gemeingerm. Kurzverses preis. Jene Umbildung der zwei ersten Formen aus der dritten ist nicht vorstellbar. Der einzige Vertreter der strengen Vierhcbigkeit, das Hild., fügte sich nur nach Änderungen im Wortlaut, unmöglichen Versgrenzen (welaga nu, waltänt || göt, wewürt skihit) und sonstigen sprachwidrigen Messungen. In Otfrids Reimvers, einer Nachbildung des lateinischen Hymnus, lebt ein von Grund aus andres Formgefühl als in dem selbwachsenen Verse der Germanen. Gleichsetzung der beiden bedeutet Verkennung eines Stilunterschiedes, der übers Metrische hinaus die germanische Dichtkunst von der halbrömischen abhebt (§ 519). 157. Von diesen Übelständen empfand man früh den ersten, den Verzicht auf Einheit. Schon Lachmann selbst, dann durchgreifender Müllenhoff und andere dehnten die Vierhebigkeit

D I E STRENGE VIERTAKTLEHRE.

irg

vom Hild. auf immer weitere Denkmäler aus. Müllenhoff zog 1861 die letzte Folgerung 1 ): das vierhebige Maß liege a l l e n Stabreimversen zugrunde, auch den nordischen und englischen, die Lachmann als zweihebig anerkannt hatte. Der viertaktige monopodische Reimvers, der in Deutschland seit Otfrid, später auch bei den anderen Germanen herrschte, wäre seinem Grundmaß nach keine Neuerung: er setzte den agerm. Vers fort. So stehen denn in Vilmar-Greins Lehrbuch (1870) unter 'Althochdeutscher Verskunst 1 stabende und reimende Gedichte brüderlich beisammen: nicht der Rhythmus, nur der Reimschmuck sondert sie2). Es konnte geschehen, daß man am römischen Saturnier unmittelbar den altdeutschen R e i m v e r s maß — als Vertreter des germ. Astes (Bartsch, Der saturnische Vers 1867). Man spricht von einer Lachmann-Müllenhoffschen Vierhebungslehre — oder Viertaktlehre, denn nicht taktfreie Rezitative sollten die Verse in dieser Messung sein, mochten nun die Rhythmenbilder klarer oder trüber ausfallen. Als 'strenge Viertaktlehre 1 bezeichnen wir d i e , die für jeden Kurzvers vier gehobene Silben verlangt, keine fehlenden oder pausierten Hebungen ansetzt. 2 ) Für den Stabreimvers verwarf *) D e carmine Wessofontano, bes. S. 15. Grein die eine der Lachmannischen Sonderregeln (§ 155 Ende), das Verbot des _/ Schlusses. E r las z. B . : sunü-fätariingo; chind in chüningrlhhe; spdnis mlh mit dinem w6rtun; eddo ih imo ti bänin werdan.

158. Bei den nordischen, auch den englischen Metrikern hatte diese vierhebige Messung kein Glück. Auch deutsche Forscher widersprachen ihr, nachdrücklicher seit 1872, und stellten ihr andere, unter sich ungleiche Anschauungen entgegen. Aber von 1894 ab erfuhr die strenge Viertaktlehre erneute Begründung mit viel genauerem Zergliedern der Silbenreihen, wie man es inzwischen von Sievers gelernt hatte. Bei Kögel wollte die Lehre auch für den nordischen Vers gelten; Kaluza, Trautmann und ihre Schüler hatten nur die wgerm., zumeist englische Dichtung im Auge, Martin nur die deutsche 1 ). Sowohl untereinander wie von Lachmann-Müllenhoff unterscheiden sich diese Forscher beträchtlich 2 ). Kögel und Trautmann haben sich später nach Amelung-Möllers Zweitaktlehre hinüber bewegt und werfen, wo Not an Mann geht, den Leitsatz über Bord, jede der vier Hebungen brauche ihre eigne Silbe. Unzulängliche Rhythmenbilder — oder gar keine! — lassen oft im Zweifel, was eigentlich den Urhebern im Ohre klang. x ) Kögel, Lit. passim, bes. 1, 288 ff. und Ergänzungsheft (1895), A n z A l t . 21, 3 1 8 f f . ; Kaluza, Englische Metrik (1909) 5 5 f f . i b . c i t . ; Trautmann, zuletzt E S t u d . 44, 303ff. (1912), vgl. seine Ae. Rätsel (1915) 62 und Anglia 43,259 (1919); Martin, Der Versbau des Heliand 1907. *)Vgl. Kaluzas Kritik an Trautmann, a. a. 0 . Ö4ff., Trautmanns an Martin, Bonner Btr. 23, 147ff.

120

D I E STRENGE VIERTAKTLEHRE.

159. Beschränken wir uns auf drei Einwürfe; ihnen unterliegen diese erneuerten Lachmannlehren alle, wenn schon in ungleichem Grade. 1. Die Grundregeln sind zu eng. Für Verse von drei und zwei Silben hat der Bauriß, nach seinen eigenen Voraussetzungen, keinen Raum. Darum mußte Kögel die germ. Sprichwörter mißverstehen ; ohne die vierhebigen Scheuklappen hätte er ihre Kurve triebhaft erfaßt. — Auch andre Freiheiten zerstören den Grundplan, zumal bei Kaluza und Trautmann, die einseitig auf den geistlichen Buchvers, Linie Caedmon, eingestellt sind und bei mehr wildwachsenen Formen, aber auch beim Heliand, nur über Regellosigkeit klagen können. So findet Trautmann in der kurzen Wulfklage mindestens achtmal 'falschen Rhythmus' (Anglia 36, 137), schiebt die versgeschichtlich so ausgiebigen Zaubersegen als 'nur Knittelverse* zur Seite und erklärt, der Heliand habe 'keinen geordneten, gesetzmäßigen Versbau'; etwa die Hälfte seiner Verse sei 'teils unklar, teils zerrüttet' (Bonner Btr. 23, I49f.). Eine Verurteilung nicht des Heliand, sondern der zu engen Doktrin. Grundgesetze muß der Metriker immer im Blick auf das Ganze entwerfen, lieber zu weit als zu eng; der engere Brauch einzelner Kunstrichtungen hat sich als Sonderfall, als Unterabteilung darzustellen (§ 20). 2. Das viertaktige Maß zwingt, die sprachliche Dauer und Stärke zu verletzen. Es begegnen die beiden prosodischen Hauptverstöße (§ 72. 74) : Dehnung der kurzen Starktonsilbe : Stiòdènà fòle ; güÖrinc mònìg usw. ; Dehnung und Betonung der vorgeneigten Silbe: gèdón wóldè; hèr fràgèn gistüont; sSébàt gèssi; géba ìnfàhàn. Beide Fälle in einem Vers: òn béarm scipès. Csedmons Hymnus verstößt in Kaluzas Messung sechsmal (Der ae. Vers 1,9). Die wundervolle Zeile des Wess. : dat ero ni was || noh üfhimil bringt es auf runde vier Sprachfehler: drei vorgeneigte Silben überlastet, die Kürze hi- überdehnt. (Den echten Zeitfall bringt § 186.) Diese zwei Arten Sprachverzerrung hätten also die stabreimenden Dichter, auch die gestrengen, unvergleichlich öfter verschuldet als die schlechtesten Reimer um 1100. Bei richtiger Messung entgeht die agerm. Kunst diesem Makel bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen (§ 197. 212). 3. Dem Sprachstoffe auch nach seiner rednerisch-stilistischen Seite sitzt das viertaktige Maß nicht. Die Gleichläufe, Gegensätze, die abgewogenen Satzglieder verrenkt und verbiegt es immerzu, d. h. sie erhalten nicht die Zeitwerte, die ihrem Gedanken wert entsprächen; der Rhythmus dissoniert mit dem Satzbau. Nach

D I E STRENGE

VIERTAKTLEHRE.

121

der richtigen Messung kommen die syntaktischen Figuren, auch die Variation, i m Rhythmus erst recht zu Gehör und Wirkung. Davon ist später zu sprechen. Hier ein einfaches Beispiel von gegensätzlichen Nominalpaaren, Beow. 1764: öö9e ff res feng öööe gripe möces ö5öe ätol yldö

ööße flödes wylm oÖÖe gärös fliht öööe ¿agenä bearhtm.

Die Iktenzeichen hier sind die der Vierhebungslehre. Man hört, wie im zweiten und dritten Anvers die Gipfel aneinanderstoßen, ihr Abstand sich halbiert: in den Schritt, den die erste Zeile kräftig angibt, kommt ein Hinken. Davon abgesehen, daß sich die wiederholte Partikel oööe in dem jedesmaligen Anfangstakt reichlich breit macht. Wie anders klingt das in den zwei Langtakten ! Erwähnen wir noch die ewigen Zerdehnungen der L \ ^-Wörter auf drei T a k t e : Scyldinga; gyldenne; c^mlfcör; mürnönde. Aus dem Reimvers ist das wohlbekannt, ein prosodischer Verstoß ist es nicht zu nennen, aber ein satzrhythmisches Mißverhältnis; denn im Prosarhythmus haben diese Wörter annähernd die Zeitgliederung 2 : 1 : 1 : dem wird die richtige Theorie ausnahmslos gerecht: sie formt entweder als I X I oder als 11 / i 1 ' ^ ^ . Die Messung I J - I A . I A . stilisiert ins Träge, Schleppende; die Formsilben drücken die Gehaltsilbe (§ 375). Der neunzeilige Hymnus Caedmons (§ 186) hat den Fall viermal. 160. Wer Stabreimverse laut und in metrischer Wölbung zu lesen gewohnt ist, weiß, was dieser dritte Einwand zu sagen hat. Auf dem Spiele steht, ob sprachlicher und rhythmischer Stil eine Einheit bilden dürfen. Nicht davon zu trennen ist die Gehörwirkung des S t a b r e i m s . Nach der Viertaktlehre wirkt er fahrig, unstet, weil die Stäbe zwischen sechs zu Gebote stehenden Versstellen herumirren; in ihren Abständen empfindet man allzuwenig Wiederkehr. Wo den Stäben die d r e i Langtaktikten offenstehn, d a vermögen sie die Zeile zu beherrschen. Es geht eben nicht an, agerm. Stil und Stabreim in dem Rahmen des Dimeter jambicus zur Geltung zu bringen. Die Anwendung dieser kirchlichen Form auf den Stabreimvers ist die große Verwechslung. Diese Dinge sind nicht reine Gefühlssache: man kann sie sprachlich begründen. Nicht weiter begründbar ist das Geschmacksurteil: der Rhythmus als solcher, ohne Silben angegeben, ist von einer lendenlahmen, am Boden kriechenden Armseligkeit. Man

122

D I E FREIERE VIERHEBUNGSLEHRE.

stelle sich nach den Lesehilfen bei Kaluza oder Trautmann für irgendein Beowulfstück die rhythmischen Figuren her und vergleiche sie mit denen der Zweitaktlehre. Da zeigen sich, schon eh man zum sinnvollen Worte kommt, zwei Grade von rhythmischer Ausdruckskraft! 161. Sobald man vier Hebungssilben im Kurzvers durchführte, setzte es Sprachbeugung. Um dem zu entgehen, milderte man schon zu Lachmanns Lebzeiten die strenge Vierhebungslehre: neben den vier ließ man drei, auch zwei Hebungen zu. Bei Ettmüller (1847) und Jessen (1863) stellt sich dies als Mittelding dar zwischen der alten Zweitakt- und der Lachmannischen Viertaktlehre1). Auf das einheitliche Grundmaß verzichten sie; Jessen liest neben einander: s^oltdänte ( = Lachmann), bärn unwahsän (dreihebig) und: dat inan wie furnäm ( = Zweitaktlehre). Der gesprochene Vers, nimmt Jessen an, sank öfter unter die 4 Taktschläge herab als der gesungene; Verse wie: hwite • skiltfe; b6n zi • binä; dat ¿ro ni • was gäben, gesungen, der Silbe vor dem Punkte noch eine Hebung (also auch den vorgeneigten zi, ni\). Dagegen hielten Holtzmann (1854) und Simrock (1858) die Einheit des Rahmens fest: Verse mit nur 3 Hebungen —• von zweihebigen sahen sie ab — pausieren den 4. Takt 2 ). Ettmüller, Handbuch der d. Lit.-Gesch. 4 o f . ; Jessen s. o. § 17. 2 ) Holtzmann, Unters, über das Nibelungenlied 77 ff.; Simrock, Nibelungenstrophe 46 ff. Beide wollen i. a. nur A b verse dreihebig messen.

162. Auch diese freiere Vierhebungslehre —• die z. B. Bartsch bis zu Ende (1888) in seinen Vorlesungen vertrat — wurde um 1890 herum genauer ausgestaltet. Den Theorien von Hirt, Fuhr und ten Brink-Heath ist gemeinsam, daß sie das Eintreten der vier- und der dreihebigen Verse klarer zu regeln streben und die von Sievers nachgewiesenen Füllungsschranken beachten1). In manchem trennen sie sich. Hirt und ten Brink gehen ausnahmsweise auf zwei Hebungen herab, ten Brink nähert sich, wie Kögel und Trautmann (§ 158), der neueren Zweitaktlehre, indem er gelegentlich eine Überlänge, d. h. eine Silbe mit zwei Hebungen, ansetzt: menh ne cünnön. Eigentümlich ist ihm die Annahme pausierter Eingangshebung: /\ gewaden hsefde (Engl. Lit. 1, 442). Den Sprachbeugungen, namentlich dem Überlasten der vorgeneigten Silbe, entgeht keine dieser Theorien. Auch die übrigen Einwände von § 159f. wären zu wiederholen, wenngleich mit einiger Beschränkung. Das Fernbleiben des nordischen Verses und der freieren wgerm. Formen erweist sich auch hier als verhängnisvoll. Hinter der strengen Viertaktlehre sind diese ge-

TAKTHAUFENLEHRE.

FREIE

ZWEIHEBIGKEIT.

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mäßigten Abarten im Nachteil darin, daß die Iktenzahl, die Messung von Fall zu Fall, viel unbestimmter bleibt. l ) Die Schriften sind angeführt und besprochen bei Kaluza, EMetr. 5off., z. T. auch bei Sievers, AgMetr. 6. 11 ff.

163. Bisher standen wir vor der zwei- und der viertaktigen Messung nebst ihren Abarten und Mischformen. Alle folgenden Lehren bringen greifbar andre Gedanken. Ganz für sich steht eine von Wilhelm Heims 1914 verfochtene Meinung (Der germ. Allit.-Vers und seine Vorgeschichte). Man kann sie die 'Takthaufenlehre' nennen. Sie findet im Stabreimvers f r e i e , stark wechselnde Taktzahl; sie neigt dazu, jeder Silbe einen Takt zu geben. Die Kurzverse des Beowulf bewegen sich zwischen vier und acht Takten; in der Edda kämen Drei- und Zweitakter dazu. Von Einheit in der Vielheit ist hier noch weniger die Rede als bei Jessen oder Hirt. Der Mangel an klaren Rhythmenbildern und zusammenhängenden Skansionsproben verhindert eine kritische Wertung. Doch ahnt man, daß die Sprachbeugung noch viel weiter geht, der Zeitfall noch viel schleppender und umrißloser ist als nach der Viertaktlehre. Mit irgendwelchen vertrauteren Rhythmen unsrer Volksfamilie hat das keine Fühlung mehr. Vgl. Baesecke, Forschungsberichte (1919) 118 f. 164. Am andern Ende der Möglichkeiten steht die f r e i e Z w e i h e b u n g s l e h r e , die 1864-76 von Rieger und Vetter aufgestellt wurde 1 ). Vorbereitet war sie durch Wh. Wackernagel, der als erster Forscher den vier Hebungen Lachmanns widersprochen hatte 'aus Gründen der Kritik und Akzentlehre'. Die freie Zweihebigkeit bedeutete den entschlossenen Bruch mit dem viertaktigen Messen. Aber zur alten Zweitaktlehre bog sie nicht zurück. Denn sie lehnte Taktgliederung ausdrücklich ab; sie dachte an ein 'einfaches taktloses Melodram'. Der stabreimende Kurzvers war kaum etwas anderes als eine Silbenkette mit zwei stärksten Silben. 'Die Anzahl der Füllsilben ist freigegeben'. Zwar fand Rieger für diese Füllsilben mehrere Regeln heraus; aber von einem Grundmaß, überhaupt einer metrischen Messung des Sprachstoffes, wollte man nichts wissen. Man kann verstehen, daß der Heliand zu solcher Anschauung lockte. Beim Beowulf ist es schon weniger begreiflich, am wenigsten beim Wessobr. oder einem durchschnittlichen Eddaliede. Sobald sich zeigte, daß der Stabreimvers — auch im Heliand — sehr feine Regeln der Silbenzahl und -dauer befolgte, war es nicht

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SIEVERS'

TYPENSYSTEM.

mehr möglich, an das freie Rezitativ mit den zwei stärksten Silben zu glauben. Gewaltsame Textkritik und Sprachbehandlung konnte sich diese lockere Zweihebungslehre sparen. Darin wirkte sie befreiend gegenüber dem Lachmann-Müllenhoffschen Zwange. Die Frage aber 'Wie ist zu lesen ?' kam der Antwort nicht näher. Den letzten Schritt in die Formlosigkeit taten die Metriker, die einem Teil der Kurzverse gar nur e i n e Hebung ließen 2 ). Einen Mittelweg zwischen Rieger-Vetter und Müllenhoff erwog im Jahr 1874 Karl Hildebrand: die Frage liege nun so, ob man Nord und Süd trennen solle: d o r t 'der Vers zu zwei Hebungen mit lockerem oder gar keinem metrischem Gefüge', h i e r 'vier Hebungen und metrische Gliederung' (ZsPhil. Ergänz. 78). Aber zu diesem Verzicht auf germanische Einheit hat man sich doch nicht entschlossen. l ) Rieger, Germ. 9, 295 ff. (1864); F.Vetter, Über die germ. Allit.-Poesie 1872; Rieger, ZsPhil. 7, iff. (1876). s ) C. R. Horn, Beitr. 5, 169ff. (1878); Wilken, Germ. 24, 257ff. (1879); Hinze, Zum ae. Gedicht Andreas 1890. Vgl. § 270 Ende. Erwähnt sei hier noch ein eigenartiger Versuch Fijn van Draats (Anglia 38, 377ff. 1914; dazu EStud. 48, 394ff.). E r will dem Stabreimvers von Seiten des (lat.) Cursus beikommen (§ 62). Die bekannten Klauseln wären erwachsen aus dem'Grundtypus' J_ X J__ X durch mannigfache Zusätze; z. B. Voranstellung von J_ X X ergab den 'velox': s6 j)e wiö Brican Wunne; m6dige miarcland tridan. Auf Silbendauer kommt es dabei gar nicht, auf Satzton und Stabreim wenig an. Die Formeln, gedanklich und unhörbar, fassen Ungleichstes zusammen: _ £ _ X J l X X _ Z _ X X _ ^ _ X dient für: wuldres wilboda wisdomes giefe wie für: {>one yldo bearn afre gefrunon. Zu den'Deutungen des Rhythmus' gehört dieser Versuch nicht.

165. Der höhere Stabreimvers war lange nicht so frei, wie es nach der freien Zweihebungslehre schien. Diesen Nachweis hat Eduard Sievers geführt (in den Jahren 1878 ff.). Sievers hat an Rieger und Vetter angeknüpft und aus ihrem Entwurf etwas Neues gemacht. Das Sieverssche 'Typensystem' hält uns länger fest: wegen des Einflusses, den es übte, und weil man es erst begreift, wenn man auf die Häutungen seines 15jährigen Wachstums blickt. Sievers selbst mißt heute ganz anders; tragende Voraussetzungen hat er seinem System entzogen. Aber damit sind das System und seine Wirkungen nicht weggeschafft... Da Sievers' spätere Schriften, seit 1918, dunkel lassen, wieviel von dem Alten stehenbleiben darf, und da das Neue noch auf prüfbare Begründung wartet, verfolgen wir die Sieverssche Lehre nur bis zur Stufe der 'Altgermanischen Metrik' 1893. An dieser Stufe oder einer noch früheren (§ 173) haften manche Anhänger bis heute. Die vorangehenden Schriften von Sievers sind: Beitr. 5, 449ff.; 6, 265ff.;

D A S VIERSILBLERSCHEMA.

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8, 54ff.; io, 209ff. 451 ff.; Proben einer metrischen Herstellung der Eddalieder 1885; Beitr. 12, 454ff.; 13, i 2 i f f . Goebels Aufsatz, Anglia 19, 499 ff. (1897), verdunkelt das Neue an der Sieversschen Lehre: Beachtung der Silbenzahl und -dauer, indem er einseitig die Folge stärkerer und schwächerer Glieder beleuchtet.

166. Von der S i l b e n z a h l der nordischen S k a l d e n v e r s e ging Sievers aus. Für die zahlreichen Ausnahmen von der festen Silbensumme fand er die Erklärung: z. T. durfte ^ ^ das _ ersetzen: 'gesetzlich gestattete Überschußsilben'; z . T . hatte man ältere Sprachformen einzuführen: 'metrische Korrektur*. Der Ertrag kam der Grammatik und Textkritik zugute; von Rhythmus war nur nebenher die Rede. Auf dieselben Fragen hin untersuchte dann Sievers den E d d a v e r s . Der gewöhnliche Kurzvers epischen Maßes erschien als Viersilbler. Auch die Eddadichtung, so betonte Sievers, ruhe 'zum größten Teil auf dem Prinzip der Silbenzählung' (Beitr. 6, 298); der eddische Viersilbler folge genau den Regeln des skaldischen (299f.). Das e i n e Schema ^ ^ |^^ liege allen Versen zugrunde. Die 'gestatteten Überschußsilben' muß man dazu denken. Uber die 'metrische Korrektur' hinaus brauchte es starke Textänderungen, um die Viersilbigkeit durchzuführen. Ein Vorläufer aus der Kindheit unsrer Wissenschaft war Jacob Grimms gereinigter Hildebrandstext: . . . want ar arme wuntane bouga | cheisuringu, so imo se chuning gap, | Huneo truhtin, dat ih bi huldi gibu! (Altd. Wälder 2, i i 3 f f . 1815). Eine viergliedrige Grundform L - L - hatte schon N. M. Petersen aufgestellt (Annaler 1840/41, 55f.); aber die war als metrisches Grundmaß gedacht: der Silbenzahl griff sie nicht vor. Bei Sievers war es ein sprachliches, ein prosodisches Schema: es forderte die vier Silben und sprachliche Länge der ersten Silbe. Darin gingen beide zusammen: das 'stark-schwach-stark-schwach' nahm keine Rücksicht auf den Sprachton; es sollte gelten auch für Verse wie: um ragna rgk; en Sigmundi. Danach wäre der eddische Vers zu bezeichnen als ein silbenzählender; die Sprachbehandlung bedingt messend, nicht wägend. Eine Verbindung, die bei den Germanen unerhört wäre. Schon 1880 gab Sievers, auf Edzardis Einspruch, den Widerstreit mit dem Sprachton preis: er ersetzte das eine Viersilblerschema vorerst durch viere mit wechselnder Iktenlage (Beitr. 8, 75)167. Als Sievers 1884 den w e s t g e r m . Vers heranzog, erkannte er, daß auch d e r nach Zahl und Dauer der Silben gebundener ist, als man bisher glaubte, und vieles gemein hat mit dem nordischen 'Viersilbler'.

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D I E FÜNF T Y P E N .

E r unterschied nun außer Hebung (_/_, ^¿J) und Senkung [ y ) noch Nebenhebung D a m i t gelangte er zu f ü n f Viersilblerformeln, die mit dem Wort- und Satzton in Einklang stehen. Nach diesen 'Grundtypen 1 oder < Normalformen > des gemeingerm. Kurzverses heißt seine Lehre das Fünflypensystem. Wir führen sie mit den wichtigsten Spielarten v o r ; Beispiele aus dem Heliand. Typus A A2k B

j _ x | j _ x folco craftu j _ \_ |

x hoscword manag

X

an bömin treo

C

X -L\-LX

an llf ewig

C3

X

an lioht godes

D1 D4

/ /

\J-1-X

fast foröwardes erl ellanruof

E stenwerco mest. ±-X\-L Nun ließ aber die westgerm. Dichtung keinen Zweifel, d a ß diese viersilbigen Grundtypen 'nur in einem Bruchteil der Fälle rein erscheinen' (Proben 3). Sievers ließ mannigfache Ausweitung zu (von den bekannten für _ abgesehen): 1. Vermehrung der X auf zwei, auch viel mehr Silben, namentlich in den ersten Hälften von A , B und C. 2. Einschub eines, auch mehrerer X vor A , D und E , nach der ersten Hebung von D, der letzten von E . Dies ergab die gesteigerten oder erweiterten Typen, die man folgerecht als fünf- und mehrsilbig verzeichnen mußte. Die feste Silbenzahl, der Ausgang des ganzen, hatte sich also verflüchtigt. Bewegen sich doch die Beowulf-Kurzverse zwischen vier und etwa zehn Silben; der Heliand geht noch ein g a n z Teil darüber. /

168. E s fragte sich nun, ob man nicht auch dem eddischen Verse mehr Spielraum zugestehen solle. Sievers entschied sich für eine mittlere Linie (Proben 5): den größeren Teil der ' A b weichungen vom Normalschema', von der Viersilbigkeit, legte er immer noch der Überlieferung zur L a s t ; in dem kleinern Teile sah er die 'Lizenz einer freiem Kunstübung'. A l s Norm schwebte eben immer der silbenzählende Skaldenvers vor. Die Eddaausgaben der nächsten Jahre, von F . Jonsson, Symons, Gering, traten auf diesen B o d e n ; sie gingen eher noch weiter im Textändern. Sehr frei behandelte auch Wisen die Fürstenlieder eddischen Maßes (Carmina norroena u f f . 15). Diese T e x t kritik stellte sich einseitig auf die Zahl ein (Silbenzahl des Verses,

UMDICHTUNG DER EDDA VERSES HALBER.

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Zeilenzahl der Strophe). Wenige Stellen der Weltliteratur dürften Gegenstücke bieten zu so durchgreifender Umdichtung Verses halber. Lachmann-Müllenhoffs Wagnisse waren daneben in der Tat ein Kinderspiel. Es ist manchmal so, als wollte man im 'Erlkönig' bessern: Ich lieb', mich reizt dein' schön' gestalt, Und bist nicht will'g, brauch ich gewalt. Nicht nur das Sprachgewand, den dichterischen Satzbau verschleiern diese Ausgaben: auch metrische Unterschiede der Zeiten und Arten wischen sie aus. Zwar liegt vor Augen, daG die aisl. Schreibezeit zu glatterem, beinah silbenzählendem Verse neigte; aber die Wirkung auf die älteren Texte soll immer nur die umgekehrte gewesen sein! (Vgl. § 2 0 . 3 5 5 . ) Die Eddaausgaben seit 1903, von Detter-Heinzel, HeuslerRanisch, Neckel und Boer, haben mit diesem Glatthobeln ('Normalisieren') des Verses gebrochen. Auf mittlerer Linie halten sich F. Jönssons eddische Texte in der 'Skjaldedigtning'. Summarisch hat Sievers dem Streichen entbehrlicher Wörtchen und den meisten andern Mitteln der 'metrischen Korrektur* gekündet (vgl. F. Jönsson, Arkiv 27, 364ff.). Ein Nachhall gewesener Zeiten ist die Statistik von Gering, Arkiv 40, iff. 176ff., ZsPhil. 50, i27ff. (1924), mit ihrem Vereinfachungsdrang und ihren vielen Schlimmbesserungen. 169. In der Altgerm. Metrik 1893 schlägt Sievers den Abstand zwischen Skaldisch und Eddisch noch etwas größer an als auf der vorigen Stufe (51 ff.). Jetzt nennt er die außerskaldische Stabreimdichtung — in einer Fußnote (S. 15) — 'eher alles andere als silbenzählend'. . . Den gemeingermanischen 'Normalvers' bezeichnet er nicht mehr als viersilbig, sondern als viergliedrig. Etwas ganz Neues, Wichtiges brachte das Buch von 1893 herzu: einen Abschnitt über den R h y t h m u s der agerm. Verse. Mit dem hatte sich die bisherige Typenlehre noch nicht befaßt. Sie war Augenphilologie in des Wortes strengstem Sinne (§ 14). Die drei Zeichen w X meinen bei Sievers die s p r a c h l i c h e B e s c h a f f e n h e i t der Silben: ist eine sprachlich lange Silbe, w eine sprachlich kurze, X eine nach der Dauer unbestimmte. Also diese Zeichen drücken nicht, wie bei uns (§ 43), Zeitwerte aus. Mithin sind die Typen keine Rhythmenbilder; denn ohne Zeitverhältnisse kein Rhythmus. Die Sieversschen Typen belehren über den Sprachstoff, nicht über seine vershafte Messung. Prosaperioden können wir in ebensolche Typen fassen: Ohthere ssde his hläforde .¿Elfrede cyninge, Jiaet he ealra NorÖm