Samuel Beckett und die deutsche Literatur [1. Aufl.] 9783839420676

Samuel Becketts Interesse für die deutsche Literatur und Kultur ist unbestritten. Dieser international besetzte Band erg

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Samuel Beckett und die deutsche Literatur [1. Aufl.]
 9783839420676

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
I. GESELLSCHAFT: SAMUEL BECKETT LIEST DEUTSCHE LITERATUR
Beckett liest deutsche Literatur 1945-1989. Eine Übersicht
»Ich habe mal davon geträumt, so etwas Ähnliches zu schreiben«. Beckett und deutsche Literatur in den deutschen Übersetzungen
Fisch und Fleisch. Übersetzen in und von frühen Texten Becketts
»Ich saz ûf eime Steine«. Beckett, Walther und die Troubadourlyrik
II. WAS WO: SAMUEL BECKETT UND DIE DEUTSCHE KULTUR
Beckett, Kant und Kognition. »Kritik des reinen Quatsches«
Beckett, der expressionistische Film und Kleists Marionetten
Unseld/Beckett. Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung
III. IMMER NOCH NICHT MEHR: SAMUEL BECKETT UND DIE DEUTSCHE GEGENWARTSLITERATUR
Zu einer Literatur des Unworts. Kafka, Beckett, Sebald
Scharfsinnige Sturzfluten bei Beckett und Bernhard
»Punkt in Bewegung«. Schreiben und Gehen bei Beckett und Handke. Eine Skizze
»Was man Liebe nennt, ist Verbannung«. Liebe und Ausweg bei Samuel Beckett und Michael Lentz
Autorinnen und Autoren
Personen- und Werkregister

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Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur

Lettre

für K. und N. J.W.

in memoriam Tikka M.N.

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.)

Samuel Beckett und die deutsche Literatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: SWR/Hugo Jehle Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2067-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung Jan Wilm und Mark Nixon | 9

I. GESELLSCHAFT: SAMUEL BECKETT LIEST DEUTSCHE LITERATUR Beckett liest deutsche Literatur 1945-1989 Eine Übersicht Mark Nixon | 19

»Ich habe mal davon geträumt, so etwas Ähnliches zu schreiben« Beckett und deutsche Literatur in den deutschen Übersetzungen Marion Fries-Dieckmann | 33

Fisch und Fleisch Übersetzen in und von frühen Texten Becketts Kathrin Schödel | 47

»Ich saz ûf eime Steine« Beckett, Walther und die Troubadourlyrik Thomas Hunkeler | 61

II. WAS WO: SAMUEL BECKETT UND DIE DEUTSCHE KULTUR Beckett, Kant und Kognition »Kritik des reinen Quatsches« Dirk Van Hulle | 75

Beckett, der expressionistische Film und Kleists Marionetten Ulrika Maude | 89

Unseld/Beckett Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung Friedhelm Rathjen | 105

III. IMMER NOCH NICHT MEHR: SAMUEL BECKETT UND DIE DEUTSCHE GEGENWARTSLITERATUR Zu einer Literatur des Unworts Kafka, Beckett, Sebald Shane Weller | 123

Scharfsinnige Sturzfluten bei Beckett und Bernhard Mark Byron | 139

»Punkt in Bewegung« Schreiben und Gehen bei Beckett und Handke. Eine Skizze Gaby Hartel | 157

»Was man Liebe nennt, ist Verbannung« Liebe und Ausweg bei Samuel Beckett und Michael Lentz Jan Wilm | 167

Autorinnen und Autoren | 185 Personen- und Werkregister | 189

Danksagung

Dem vorliegenden Band ging eine Konferenz voraus, die im September 2011 an der Technischen Universität Darmstadt mit dem Titel »Samuel Beckett and German Culture/Samuel Beckett und die deutsche Kultur« stattfand. Diese Konferenz wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung von Julika Griem, deren Rat und Ermutigung zu jeder Zeit eine unersetzliche persönliche wie wissenschaftliche Hilfe war. Vielen Dank, Julika! Die Herausgeber möchten sich bei allen Beteiligten der Konferenz herzlich bedanken sowie ganz besonders bei Michael Lentz und Tim Parks. Unser großer Dank gilt darüber hinaus der Samuel Beckett Gesellschaft in Kassel, Falko Korn (http://www.kakooooom.info), Ruth Knepel, Renate Soltysiak und Rhys Tranter (http://www.apieceofmonologue.com). J.W. und M.N. Frankfurt a.M. und Reading im Januar 2013

Einleitung Jan Wilm und Mark Nixon Geben Dir meine Schriften nur Anlass, Dich mit einem hohlen Gespenst von Verstehen und Nichtverstehen herumzuschlagen, so lege sie noch bei Seite. F RIEDRICH S CHLEGEL , B RIEF AN S CHLEIERMACHER1

Während seines Aufenthaltes in Kitzbühel in Tirol im August 1962 nahm Beckett sich die Lektüre von Hans Magnus Enzensbergers Buch Einzelheiten vor, das einige Monate zuvor veröffentlicht wurde. Nach drei Tagen kam er zu dem Entschluss, das Buch wäre besser betitelt worden mit Kleinigkeiten, aufgrund der pedantischen Kämpfchen des Autors gegen die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2 und das Magazin Der Spiegel.3 Beckett zog es vor, sich stattdessen Walter Benjamins Deutsche Menschen zuzuwenden (Briefe an Barbara Bray, 13. und 16. August 1962).4 Benjamins Buch besteht aus 27 Briefen aus den 100 Jahren zwischen 1783 und 1883, und Benjamin beabsichtigte mit dem Buch, den Nationalsozialisten ein humanistisches Bürgertum entgegenzuhalten. Er veröffentlichte das Buch unter dem Pseudonym Detlef Holz in der Schweiz im Jahre 1936, und er rahmte es mit dem Motto: »Von Ehre ohne Ruhm/Von Grösse ohne Glanz/Von Würde ohne Sold«. In diesem Buch fand Beckett auch die oben angeführte Briefpassage zitiert. Wie er Barbara Bray schrieb, sah er in dem Zitat das perfekte Epigraph für die bei Suhrkamp bevorstehende Sammlung seiner Stücke (Brief vom 22. August 1962). Obschon er schließlich entschied, das Zitat nicht zu verwenden, ist es nicht verwunderlich, dass Becketts Leseaugen vor Schlegels Zitat aufleuchteten. Schließlich hatte Beckett seit beinahe drei Jahrzehnten eine Dichtungstheorie 1 | Schleiermacher 1861: 124. 2 | Man bemerke dennoch, dass Beckett selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung als »despicable« bezeichnet hat (Brief an Bray, 22. August 1962). 3 | Beckett bezieht sich auf die zweiten und dritten Essays der Sammlung: »Journalismus als Eiertanz. Beschreibung einer Allgemeinen Zeitung für Deutschland« (1962) und »Die Sprache des Spiegel« (1957). 4 | Beckett schreibt fälschlicherweise Bloch statt Benjamin in dem Brief.

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der Inkompetenz und des Nichtwissens vertreten, eine Poetik des Nichtverstehens. Es ist ein althergebrachtes Argument in der Forschung, dass Beckett sich von einem durch Joyce geprägten, dicht intertextuellen Schreiben hinbewegte zu Texten, die in komplexer Andeutung mit anderen Texten in einen heimlichen Dialog treten. Die Bewegung in Becketts Entwicklung führt von einer tiefen Auseinandersetzung mit literarischen, philosophischen, religiösen und wissenschaftlichen Texten hin zu einem Schreibgestus, der später gerade diese eklektische Wissensbeschaffung in Frage stellt. Verschiedenste Bemerkungen Becketts, die über die viel zitierten Aussagen zu Joyce hinausgehen, bezeugen genau diese Entwicklung. So erzählte Beckett Gabriel D’Aubarède im Jahre 1961, dass er überhaupt niemals irgendwelche philosophischen Texte lese, weil er sie schlicht und einfach nicht verstehe. Und an Aidan Higgins wandte er sich 1952 mit der Aussage: »I never read much Yeats. Never read much anything« (29. Oktober 1952; zit.n. Van Hulle/Nixon 2013: xvii). Es bedarf keiner Archivalien und keiner Biographien, um zu verstehen, dass man den Worten des Autors hier nur zur Hälfte trauen sollte. Zumindest darf die Aussage eingeschränkt werden. Natürlich stellen seine Werke, von Beginn an bis zum Schluss, eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit aller Art von Texten dar, seien sie literarischer, philosophischer, religiöser oder wissenschaftlicher Natur; zunächst, ab den 1930er Jahren, deutlich und explizit, später auf eine komplexere, gar verschüttete Weise. Dennoch suchte Beckett wiederholt und mit immer größerer Dringlichkeit nach einer ästhetischen Praxis, die seine Ideen von Inkompetenz und Versagen umfassen könnte, betreffend die Ratio, die Sprache, Identifikation, Literatur, Repräsentation, Bewegung und so fort. Seine Versuche, eine Poetik des Nichtverstehens zu formulieren, wurden häufig vorangetrieben gerade durch eine direkte Beschäftigung mit der deutschen Literatur, mit Schriftstellern, Denkern und Künstlern. Naturgemäß fußt ein solches Programm nicht ausschließlich auf der deutschen Kultur, und stattdessen sei lediglich die Angelrolle von deutschsprachiger Kultur betont, die sie für Becketts Werk darstellte. Hierbei muss aber auch ein politischer Aspekt berücksichtigt werden; Becketts direkteste Äußerungen zu seiner Präferenz für eine Literatur des Unworts im Angesicht rationalisierender Diskurse (im Brief an Axel Kaun im Juli 1937) erfolgen während und unmittelbar nach Becketts Reise durch Nazideutschland. Eine Passage in Becketts »German Diaries«, die er während seiner Wandermonate 1936-1937 führte, beleuchtet ganz deutlich diesen Aspekt: »I say I am not interested in a ›unification‹ of the historical chaos any more than I am in the ›clarification‹ of the individual chaos, & still less in the anthropomorphisation of the inhuman necessities that provoyke the chaos. What I want is the straws, flotsam etc., names, dates, births & deaths, because that is all I can know. […] I say the background & the causes are an inhuman & incomprehensible machinery & venture to wonder what kind of

Einleitung appetite it is that can be appeased by the modern animism that consists in rationalising them. Rationalism is the last form of animism. Whereas the pure incoherence of times & men & places is at least amusing. Schicksal = Zufall, for all human purposes« (15. Januar 1937; zit.n. Knowlson 1996: 244).

Becketts Empfindungen wurden noch weiter bestärkt – sofern sie Bestärkung brauchten – durch seine Relektüre Schopenhauers nach seiner Rückkehr ins heimische Dublin im Jahr 1937. Bereits 1930 hatte Schopenhauer für Beckett ein frühes Fundament geboten bei seinen Versuchen, die Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität auszutarieren, eine Spannung, die überschwappte in Becketts Verständnis der Gegenüberstellung von Literatur und Politik, eine Spannung, die er erneut aufgreifen würde bei seiner Lektüre von Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache im Jahre 1938. Und es war wohl ein weiterer deutscher Schriftsteller, der eine vitale Rolle auf Becketts Weg zu einer klaren ästhetischen Position spielte: Friedrich Hölderlin. Becketts Gesamtausgabe Hölderlins, die Sämtlichen Werke, heute im Bestand der Beckett International Foundation an der University of Reading, beinhaltet verschiedene Randnotizen und ist versehen mit dem Datum: »24/12/[19]37«. Doch Beckett fand bereits in den frühen 1930er Jahren zu Hölderlins Dichtung, und während seiner Lektüre von Robertsons History of German Literature notierte er, Hölderlin sei »[not] romantic like Richter, but combination of Sturm u. Drang & Hellenism. Insane from 1802 till his death«; er bemerkte weiter, Hölderlins Werk sei durchflossen mit der »melancholy of late 19th century« (TCD MS 10971/1, 31v). Die angestrichenen Passagen in Becketts Hölderlin-Ausgabe, datiert auf 1938 und 1939, beziehen sich häufig auf die Empfindungen der Nostalgie und Melancholie. Beckett berief sich auch auf den deutschen Dichter in seiner Besprechung von Denis Devlins Gedichtsammlung Intercessions von 1938. Beckett zitiert hier Hölderlins »Der Spaziergang«, das ihn auf eine Weise begeisterte, dass es sein eigenes Gedicht »Dieppe« im selben Jahr direkt beeinflusste. Wie die Rezension von Devlins Text verdeutlicht, war Beckett ganz besonders angezogen von Hölderlins später, fragmentarischer Dichtung, die er im Wahnsinn und der Isolation des Tübinger Turms zu Papier brachte. In einem Brief an Arland Ussher im Juni 1939 bezog sich Beckett auf diese Hölderlinbruchstücke als »terrific fragments of the Spätzeit« (Beckett 2009: 665). Beckett fand in Hölderlins Werk ästhetische Gedanken, die seine eigenen Überlegungen der 1930er Jahre frappierend widerspiegelten: Ideen von Sprachlosigkeit, Inkompetenz und der fragmentarischen Bruchstruktur, die auch in Becketts Werk zu finden ist. Wie Beckett 1955 gegenüber Patrick Bowles bemerkte: »[Hölderlin] ended in something of this kind of failure. His only successes are the points where his poems go on, falter, stammer, and then admit failure, and are abandoned. At such points he was most successful« (Bowles 1994: 31).

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Beckett betrachtete dieses offene Umarmen des Versagens als direkten Gegenpol zu Goethes Werk, das er zwei Jahre lang, bis zu seiner Deutschlandreise, gründlich studierte. Im Brief an Axel Kaun im Juli 1937 weist Beckett deutlich aus, dass Goethe für ihn der Dichter war, der sogar dann noch schrieb, wenn es nichts mehr zu schreiben gab. War Goethe der Dichter einer progressiven Ästhetik des »Vorwärts«, so war Hölderlin für Beckett der Künstler, der eine solche Vorstellung bewusst zurückwies und stattdessen die Tiefe der Stille und das Versagen umarmte. Die Beckett-Forschung verweist seit längerer Zeit auf die mannigfachen Bezüge in Becketts Werk auf die deutsche Kultur, und wie besonders die deutschsprachige Literatur stark zu Becketts künstlerischer Entwicklung beigetragen hat. Martin Esslin zum Beispiel war instrumentell im Aufspüren von Referenzen und Bezügen auf die deutschsprachige Literatur in Becketts Œuvre. Umgekehrt betrachtete die Kritik immer auch Becketts enorme Wirkung auf die Kultur und die soziopolitischen Diskurse im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg. Die literarische Einschätzung von Becketts Werk in den späten 1960er und 1970er Jahren könnte zusammengefasst werden als der Versuch, Becketts Œuvre in philosophische, soziologische und speziell politische Kontexte einzubetten. Das Ergebnis dieser kritischen Arbeiten war eine fortlaufende Marginalisierung der Beckett-Forschung in Deutschland, die nicht Schritt halten konnte mit der ungeheuren Fülle von angloamerikanischen und französischen theoretischen Zugängen zum Werk Becketts, vom Poststrukturalismus bis hin zum Feminismus (vgl. Voigts-Virchow 2009: 103-104). Wie Eckart Voigts-Virchow richtig betonte, litt die deutsche Beckett-Forschung sehr darunter, dass die bourgeoise Indignation bald abflaute und der Autor »ceased to be useful as a pawn in the aesthetic battle between antagonistic political systems« (ebd. 103). Doch die Übersetzung von James Knowlsons Biographie Damned to Fame, die als Samuel Beckett: Eine Biographie (übersetzt von Wolgang Held) 2001 bei Suhrkamp erschien, bewirkte ein heftiges Moment der Zündung und Beschleunigung der Beckett-Forschung in Deutschland. Wie Thomas Irmer in einer Sonderausgabe zu Beckett und der deutschen Kultur des Journal of Beckett Studies, welche selbst zum wachsenden akademischen Diskurs über die Grenzen hinaus beitrug, anmerkte: »The ›German Beckett‹ is, of course, no new phenomenon, as Beckett’s work as a director in German theatre is well known and documented while (West) Germany has also been one of the most receptive grounds for Beckett’s work since the early 1950s. Yet, a more complex ›German Beckett‹ has only recently emerged from the renewed scholarly interest ushered in by the ›biographical turn‹« (Irmer 2010: 277).

Und Irmer merkt an:

Einleitung »Knowlson’s extensive discussion of the unpublished German Diaries became a source for further investigations of Beckett’s journey across Germany in 1936/7, and also an inspiration for the examination of the background to Beckett’s artistic development in several fields« (ebd. 276).

Mit einem Wort, die Entdeckung der neuen Arbeiten und Auswertung der unbekannten Archivalien um Becketts Beziehung zu Deutschland und der deutschen Kultur öffneten den Blick auf zahlreiche neue Forschungsfelder. Becketts großes Interesse an Malerei und Musik sowie am Film, welches offensichtlich auf seine frühen Arbeiten wirkte, wurde schnell zum Kern einiger jüngerer Publikationen, zum Beispiel dem Sammelband von 2011 The Eye of Prey: Becketts Film-, Fernseh- und Videoarbeiten, herausgegeben von Gaby Hartel und Michael Glasmeier. Der erste große Schritt auf dem skizzierten Forschungsfeld war die interdisziplinäre Konferenz Samuel Beckett und die deutsche Kultur in Düsseldorf im März 2004, aus der die treffend betitelte Publikation Der unbekannte Beckett: Beckett und die deutsche Kultur hervorging, herausgegeben und eingeführt von Therese Fischer-Seidel und Marion Fries-Dieckmann.5 Im Jahre 2006, zu Becketts Hundertjahrfeier, fanden Konferenzen und Ausstellungen statt in Kassel, Hamburg und Berlin, welche besonders die Forschung zu den »German Diaries« weiter vertieften und ins Zentrum rückten. Der vorliegende Band, Samuel Beckett und die deutsche Literatur, erweitert und verschärft diese vorangegangenen Studien und konzentriert sich hauptsächlich auf die literarischen Aspekte von Becketts Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur. Das Buch ist untergliedert in drei Teile und versucht nach vorn zu schauen, zu den Seiten und zurück. Oder anders, der Sammelband untersucht Becketts Beschäftigung mit der deutschen Literatur selbst, kartiert die Schnittflächen zwischen seinem Schreiben und deutschsprachigen Autoren und betrachtet schließlich Becketts Vermächtnis im Werk von Nachfolgern, Gleichgesinnten und Sinnverwandten. Die vier Aufsätze des ersten Teils untersuchen Becketts deutsche Lektüren und in wieweit seine Lesebeschäftigung sich in seinen Arbeiten ausdrückt und fortinterpretieren lässt. Mark Nixon skizziert Becketts Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg auf Basis von Becketts bestehender Bibliothek, seiner Korrespondenz und seinen Manuskripten. Marion Fries-Dieckmann weitet diese Untersuchung aus durch eine Erforschung der Spuren deutschsprachiger Literatur in den deutschen Übersetzungen von Be5 | Marion Fries-Dieckmann schloss diesem Werk die erste extensive Studie zu Becketts Beziehung zur deutschen Sprache im Jahre 2007 an, Samuel Beckett und die deutsche Sprache. Eine Untersuchung der deutschen Übersetzungen des dramatischen Werks, Trier: WVT.

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cketts Texten durch Elmar und Erika Tophoven in Zusammenarbeit mit Beckett. Die Übersetzungsarbeit stellt auch den Kern der Arbeit von Kathrin Schödel dar, die in ihrem Aufsatz Transpositionen innerhalb und zwischen Becketts frühen Arbeiten untersucht. Schließlich befasst sich Thomas Hunkeler mit Becketts Interesse an der Troubadourlyrik, ganz besonders mit der Dichtung von Walther von der Vogelweide. Im zweiten Abschnitt wird das Augenmerk auf die deutsche Literatur ausgeweitet, um Becketts Auseinandersetzung mit anderen Medien, der Publikationsgeschichte sowie der Philosophie zu erforschen. Dirk Van Hulle kartographiert die Bedeutung der deutschen Philosophie für Becketts ästhetische Entwicklung, indem er untersucht, auf welche Weise Beckett auf Kants Denken reagierte und es für sein eigenes Schreiben absorbierte. Ulrika Maude nutzt Becketts Lektüre von Heinrich von Kleists Essay zum Marionettentheater, um zu zeigen, wie Becketts Fernseharbeiten auf den deutschen expressionistischen Film reagieren. Becketts Arbeitsfreundschaft mit dem Verleger Sigfried Unseld von Suhrkamp steht im Zentrum von Friedhelm Rathjens Aufsatz. Die dritte und letzte Sektion des Buches verfolgt zwei Ziele: erstens, Becketts Arbeit in Verbindung und ins Gespräch zu bringen mit deutschsprachigen Autoren. Mark Byron vergleicht die rhetorischen Figuren, die Beckett und Thomas Bernhard benutzen, während Shane Weller spezifisch modernistische Strategien des »unwording« bei Beckett, Franz Kaf ka und W.G. Sebald aufdeckt. Das zweite Ziel des dritten Teils ist es, den Indizien des Beckett’schen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur exemplarisch nachzuspüren. Gaby Hartel skizziert ein paralleles Interesse am Schreiben und Gehen bei Beckett und Peter Handke. Der abschließende Aufsatz von Jan Wilm erkundet die Liebessuche und Liebesflucht im Denken und Schreiben bei Beckett und Michael Lentz. Die Herausgeber hoffen, dass dieser Band durch seine verschiedenen theoretischen und historischen Ansätze zur Beckett-Forschung in Deutschland beitragen wird sowie neuen Raum schafft für Zwiegespräche nicht nur zwischen Becketts Arbeiten, sondern auch untereinander. Die hier versammelten Aufsätze richten ihren Blick auf Becketts Verbindung zur deutschen Literatur, doch sie tragen hoffentlich auch bei zur allgemeinen Untersuchung von Becketts vielschichtigen und komplexen literarischen Leistungen. »Wozu Dichtung in dürftiger Zeit?«, hat Hölderlin in seinem Gedicht »Brot und Wein« einmal gefragt, eine Frage, die Samuel Beckett, und vor ihm Paul Celan, beantwortet haben. Celan in seinem Gedicht »Tübingen, Jänner«: »Käme, käme ein Mensch käme ein Mensch zur Welt, heute, mit dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte,

Einleitung spräch er von dieser Zeit, er dürfte nur lallen und lallen, immer-, immerzuzu.« (»Pallaksch. Pallaksch.«) (Celan 2005: 133)

Celans Verweis auf Hölderlins »dürftige Zeit« ist verborgen im Wort »dürfte«, und der Dichter deutet speziell auf das Versagen der Sprache hin (»nur lallen und lallen«), ein Sprachversagen, die politische und existenzielle Schärfe der dürftigen Zeit auszudrücken und niederzudrücken. Dieses Versagen, diese Unfähigkeit der Sprache, wird unterstrichen durch das Aufklaffen des Wortes »Pallaksch«, ein Wort, das Hölderlin gerne benutzte, wenn er einer anderen Antwort müde war. Für Hölderlin stand dieses Wort zwischen dem ganzen Resonanzraum des Ja und des Nein (Celan 2005: 681n). Mit 150 weiteren Autoren beantwortete Beckett 1977 die Frage »Wozu Dichtung in dürftiger Zeit?« Auch in Becketts Antwort hängen die ganze Schwere und die ganze Möglichkeit einer Pallakschpoetik des Nichtverstehens fest. Auf seine unnachahmliche Weise antwortete Beckett: »I do not have the slightest idea.«

L ITER ATUR Beckett, Samuel (2009): The Letters of Samuel Beckett, 1929-1940, hg. v. Martha Dow Fehsenfeld, Lois More Overbeck. George Craig, Dan Gunn, Cambridge: Cambridge University Press. Beckett, Samuel: »German Diaries« [6 Notebooks], Beckett International Foundation, The University of Reading. — Briefe an Barbara Bray, Trinity College Library Dublin, MS 10948/1. — Notes on German Literature, Trinity College Library Dublin, MS 10971/1. Bowles, Patrick (1994): »How to Fail: Notes on Talks with Samuel Beckett«, in: PN Review 96, 20:4 (März-April), S. 24-38. Breuer, Rolf/Huber, Werner (1996): A Checklist of Beckett Criticism in German, Paderborn: Schöningh. Celan, Paul (2005): Die Gedichte: Kommentierte Gesamtausgabe, hg.  v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dittrich, Lutz/Veit, Carola/Wichner, Ernest (Hg.) (2006): Obergeschoss Still Closed – Samuel Beckett in Berlin; Texte aus dem Literaturhaus Berlin, Band 16, Berlin: Verlag Matthes & Seitz.

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Fischer-Seidel, Therese/Fries-Dieckmann, Marion (Hg.) (2005): Der Unbekannte Beckett: Samuel Beckett und die deutsche Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fries-Dieckmann, Marion (2007): Samuel Beckett und die deutsche Sprache. Eine Untersuchung der deutschen Übersetzungen des dramatischen Werks, Trier: WVT. Giesing, Michaela/Hartel, Gaby/Veit, Carola (Hg.) (2007): Das Raubauge in der Stadt: Beckett liest Hamburg, Göttingen: Wallstein. Hartel, Gaby/Glasmeier, Michael (Hg.) (2011): The Eye of Prey: Becketts Film-, Fernseh- und Videoarbeiten: Becketts Fernseh-, Film- und Videoarbeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hölderlin, Friedrich (o.D.[1926]): Sämtliche Werke, Leizpig: Insel. Irmer, Thomas (2010): »German Wanderings: New Approaches to Beckett’s Journey«, in: Journal of Beckett Studies 19.2, »Beckett and Germany« Special Issue, hg. v. Mark Nixon/Dirk Van Hulle, S. 276-283. Knowlson, James (1996): Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett, London: Bloomsbury. Nixon, Mark (2006): »›Scraps of German‹: Samuel Beckett Reading German Literature«, in: Samuel Beckett Today/Aujourd’hui 16, S. 259-282. — (2011): Samuel Beckett’s German Diaries 1936-37, London: Continuum. Schleiermacher, Friedrich (1861): Aus Schleiermachers Leben: in Briefen, hg. v. Wilhelm Dilthey, Berlin: Georg Reimer. Van Hulle, Dirk/Nixon, Mark (2013): Samuel Beckett’s Library, Cambridge: Cambridge University Press. Voigts-Virchow, Eckart (2009): »Shades of Negativity and Self-Reflexivity: The Reception of Beckett in German Literary Studies«, in: Nixon, Mark/Feldman, Matthew (Hg.), The International Reception of Samuel Beckett, London: Continuum, S. 97-107.

I. Gesellschaft: Samuel Beckett liest deutsche Literatur

Beckett liest deutsche Literatur 1945-1989 Eine Übersicht Mark Nixon

Samuel Becketts Bibliothek in Paris enthält die Studie Franz Schubert, sein Leben und Werk (1946), von Walter und Paula Rehberg geschrieben und im Jahre 1946 veröffentlicht.1 Beckett hat das Buch 1969 erworben mit der Erwartung, dass es sicherlich schwerfällig und langweilig sei (Brief an Barbara Bray, 2. September 1969). Sechs Wochen später teilte er Barbara Bray mit, dass sein erster Eindruck sich als richtig erwiesen hat; er fand das Buch schlecht, hatte es aber fast ausgelesen (17. Oktober 1969). Die Anziehung, die Schuberts Werk auf Beckett ausgeübt hat, wurde schon von einigen Kritikern besprochen (siehe zum Beispiel Lawley 2001). Es ist wahrscheinlich, dass Beckett in frühen Jahren durch Schuberts Lieder mit der deutschen Dichtung bekannt geworden ist. Wie sein Biograph James Knowlson bezeugt, war Beckett schon in den späten 1920er Jahren mit Schuberts Musikzyklen vertraut, so dass es naheliegt, dass die Fragmente deutscher Gedichte in seinem Frühwerk – sowohl in Lyrik wie in Prosa – auf Schuberts Einfluss zurückzuführen sind. Becketts Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur in den 1930er Jahren ist gut dokumentiert. Nebst verstreuten Notizen der Jahre 1929-1933 ist vor allem die Bedeutung von Becketts Lektüre von J.G. Robertsons A History of German Literature hervorzuheben, da Beckett über 71 Seiten Notizen zu diesem Buch gemacht hat. In seinen Notizen zu dem Werk reproduziert Beckett den geschichtlichen Abriss von Robertson, indem er die wichtigsten Entwicklungen der deutschen Literaturgeschichte zusammenfasst sowie die Lebensdaten, die markanten biographischen Details und Hauptwerke des Großteils der von Robertson besprochenen Schriftsteller festhält. In aller Wahrscheinlichkeit hat Beckett Robertsons Studie im Frühjahr 1934 gelesen, da von diesem Zeitpunkt an Zitate aus und Verweise auf deutsche Literatur vermehrt in seiner Korrespondenz und in seinem Schreiben auftauchen. Die Notizen zu den »Minnesängern« zum Beispiel können mit der Verfassung des Gedichts »Da Tagte Es« im Mai 1934 in Verbin1 | Für eine detaillierte Studie zu Becketts Bibliothek vgl. Van Hulle/Nixon 2013.

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dung gebracht werden (Brief an A.J. Leventhal, 7. Mai 1934). Wie sehr sich Beckett in dieser Zeit mit der deutschen Literatur und Sprache befasst hat, ist in einem Brief an A.J. Leventhal vom 14. März 1934 ersichtlich, in dem er auf Goethes Westöstlicher Divan (als »Westöstlicher Hymenium« bezeichnet), die Brüder Schlegel, Beethovens »schwer gefassten Entschluss« und die Brüder Grimm verweist, und eine Zeile von Walther von der Vogelweide sowie den Anfang der dritten Strophe von Wilhelm Hauffs Volkslied »Reiters Morgengesang« (»Ach wie bald, Schwindet Schönheit und Gestalt«) zitiert. Seine Kenntnisse der deutschen Literatur sind auch in seiner Rezension von Leishmans Übersetzung von Rilkes Dichtung sichtbar (Beckett 1983: 66-67). In den Jahren 1935 und 1936 hat sich Beckett tiefgründig mit dem Werk Goethes auseinandergesetzt; er las Dichtung und Wahrheit, Faust, Iphigenia in Tauris und Torquato Tasso und hat Auszüge dieser Texte in drei Notizbüchern gesammelt (UoR MS 5004; UoR MS 5005; TCD MS 10971/1). Während seiner Reise durch Deutschland zwischen Oktober 1936 und April 1937 hat er dann verschiedene zeitgenössische Autoren gelesen,2 bevor er sich ab 1938 dem Werk Hölderlins zugewendet hat (vgl. Nixon 2013). Becketts Lektüre deutschsprachiger Literatur in der Zeitperiode nach 1945 ist schwieriger zu erfassen, vor allem wegen der Tatsache, dass er, mit der Ausnahme des sogenannten »Sottisier« Notebook (1975-1984), nicht mehr die Gewohnheit hatte, Leseerfahrungen in Notizbüchern zu vermerken. Es ist jedoch möglich, mit Hilfe von Becketts Manuskripten, seiner Korrespondenz und vor allem der bestehenden Bibliothek seine Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur zu umreißen, obwohl das dadurch entstehende Bild sicherlich unvollständig bleibt.3 Ein guter Ausgangspunkt für die Ergründung von Becketts Lektüre der deutschsprachigen Literatur ist die oben bereits genannte Ausgabe von Rehbergs Schubert. Das Buch ist aufschlussreich, da es interessante Lesespuren aufweist; im Index hat Beckett spezifische Dichter und Liedtexte markiert. Des Weiteren hat er auf einem separaten Blatt (in die Seiten des Buches eingefügt) eine Liste von Texten aufgestellt, die Schubert vertont hat. Er notiert den Namen des Autoren, Gedichttitel und, in einigen Fällen, die Anfangsworte des jeweiligen Gedichts. Diese Liste ist wie folgt:

2 | Beckett las unter anderem Bücher von Paul Alverdes, Hans Carossa, Ernst Wiechert, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. 3 | Da Becketts Lektüre von Heinrich von Kleist und Franz Kafka in anderen Beiträgen dieses Buches diskutiert wird (vgl. Maude und Weller in diesem Band), werde ich meinen Fokus nicht darauf lenken.

Beckett liest deutsche Literatur 1945-1989: Eine Übersicht »Matthias Claudius:

Abendlied An die Nachtigall Der Tod und das Mädchen Wiegenlied

Goethe:

Heinrich Heine: Wilhelm Müller: Franz Rückert: Franz Schober:

Gesang des Harfners II Mignon Prometheus Wandrers Nachtlied 6 Lieder im Schwanengesang Die schöne Müllerin Winterreise Du bist die Ruh An die Musik«

›Der Mond ist aufgegangen.‹ ›Er liegt u. schläft an meinem Herzen‹ Schlafe schlafe holder süsser Knabe Wer nie sein Brot. Kennst du das Land Bedecke deinen Himmel. Über allen Gipfeln.

Dass Beckett hier diese vier Gedichte von Goethe verzeichnet, erstaunt natürlich nicht – schon in den 1930er Jahren hat er diese bestimmten Gedichte sehr bewundert und in seinem Frühwerk behandelt. Von Bedeutung ist die Verbindung zwischen Musik und Text, wie Beckett im kurzen Prosastück »First Love« verdeutlicht: »I did not know the song, I had never heard it before and shall never hear it again. It had something to do with lemon trees, or orange trees, I forget« (Beckett 2009a: 72). Das Lied, welches die Prostituierte Lulu (oder Anna) für den Erzähler singt, ist das in der Rehberg-Ausgabe verzeichnete »Lied der Mignon« aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, welches mit den Worten »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn« beginnt. Der Zusammenfluss von musikalischer Stimmung und Textaussage interessierte Beckett ganz besonders; 1981 hat er eine weitere Zeile von Mignons Gesang im »Sottisier« Notebook verzeichnet, zusammen mit einer Angabe der Vertonung: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiss was ich leide (W.M. [Wilhelm Meister] Mignon. Schubert. Wolf.)« (UoR MS 2901: 15r; zit.n. Nixon 2011: 202). Als Beckett die Schubert-Studie der Rehbergs 1969 las, hat er zwei weitere Gedichte von Goethe markiert, die in seinem Frühwerk der 1930er Jahre eine Rolle spielten, die er aber auch, wie Anne Atik schreibt, vielfach in den 1960er und 1970er Jahre zu zitieren pflegte. Das Gedicht »Prometheus« – mit seiner Revolte gegen die Götter – hat ihn schon derart beeindruckt, dass er es in Gänze in seine Notizen zur deutschen Literatur kopierte (TCD MS 10971/1, 72r-72v). Auch mit Goethes »Wanderers Nachtlied II« war Beckett schon seit Anfang der 1930er Jahre vertraut, und die Zeile »Die Vögelein schweigen im Walde« erscheint in verschiedenen Variationen in seinen frühen Texten. Im »Dream« Notebook (Eintrag 1091) notierte er die Zeile als »Die Bitchlein sweifen niemals im Wald« und verwendete es anschließend im Roman Dream of Fair to Middling Women: »the Bitchlein […] schweigen niemals im Wald« (Beckett 1992: 80). Die Zeile taucht

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auch auf im Brief an Axel Kaun; hier im Zusammenhang mit Becketts Kritik der Sprache: »Denn im Walde der Symbole, die keine sind, schweigen die Vöglein der Deutung, die keine ist, nie« (Beckett 2009c: 514). Die von Beckett markierten Gedichte Goethes sind nicht nur rückblickend von Interesse. Wie Marion Fries-Dieckmann anderswo in diesem Band aufzeigt, hat Beckett oft Zitate aus der deutschen Literatur in seinen Originaltexten (ob auf Englisch oder auf Französisch geschrieben) eingearbeitet und dann bei der Zusammenarbeit mit seinem deutschen Übersetzer Elmar Tophoven auf die Bedeutung der textlichen Genauigkeit hingewiesen. Becketts Verweis auf Goethes zweiten Gesang des Harfners, welcher mit den Worten »Wer nie sein Brot mit Tränen aß« beginnt,4 ist ein treffendes Beispiel für Becketts Vorgehensweise.5 Es ist unklar, warum Beckett nur diese vier Gedichte von Goethe markiert hat und nicht weitere Stücke, die ebenfalls in seinem Werk auftauchen, wie zum Beispiel »Der Erlkönig« oder »Gretchen am Spinnrade«. In jedem Fall hat sich Beckett bis zu seinem Tode mit dem Werk Goethes befasst, und in seiner Bibliothek finden sich einige Bände einer unvollständigen Gesamtausgabe. Im März 1960 hat er die Zeilen »Die Welt geht auseinander/Wie ein fauler Fisch,/Wir wollen sie nicht/balsamieren« in Briefen an Avigdor Arikha and Barbara Bray zitiert (beide 31. März 1960) und hat der Letzteren eine Schreibmaschinenabschrift des Gedichtes »Ginkgo Biloba« in einem Brief aus Berlin geschickt (September 1977). Es scheint, als ob Beckett den zweiten Dichter auf der »Rehberg-Liste«, Matthias Claudius, erst nach 1945 entdeckt hat. Er hat, wie wohl bekannt, die Todesfigur von Claudius als »Freund Hain« bezeichnet, in der Szene, in der Krapp im Stück Das letzte Band hinter sich in die Dunkelheit starrt. In der Ausgabe der Sämtlichen Werke von Claudius, die Beckett besaß, ist der »Hain« auf den ersten Seiten abgebildet; die Ausgabe wurde im selben Jahr veröffentlicht, in dem Beckett das Schauspiel verfasst hat, im Jahr 1958. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Beckett ursprünglich nicht an Claudius dachte, als er die Krapp umgebende Dunkelheit konzipierte, sondern erst später, als er Regie führte bei der Aufführung von Das letzte Band in Deutschland – in der Tat ist seine Lektüre von Claudius höchstwahrscheinlich auf März 1960 zu datieren. Am Ende dieses Monats teilte er Freunden mit, dass er im Zuge sei, Claudius »auswendig« zu lernen (Briefe an Avigdor Arikha, 30. März 1960, und Barbara Bray, 31. März 1960). In seiner Claudius-Ausgabe hat Beckett eine Karte zwischen die Seiten 884 und 885 eingefügt, das heißt genau an der Stelle, wo das Gedicht »Der Tod und das Mädchen« erscheint. Beckett war aber schon vorher mit diesem Gedicht vertraut, womöglich 4 | Das Gedicht trägt keinen Titel in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, aus dem es entnommen ist; in späteren Gedichtausgaben wird als Titel »Harfenspieler« aufgeführt; Schuberts Lied um Goethes Gedicht wird entweder als »Harfenspieler III« oder als »Gesänge des Harfners III« angegeben, da Schubert zwei verschiedene Versionen des Lieds angefertigt hat (1816 und 1822). 5 | Vgl. Marion Fries-Dieckmanns Aufsatz in diesem Band.

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in der Vertonung durch Schubert, und hat es im Hörspiel All That Fall (1956) verwendet. In der Rehberg-Studie hat Beckett, im Verzeichnis der Gedichte, die Schubert vertont hat, den Namen »Claudius« mit einer langen Linie markiert. Und, wie oben schon erwähnt, hat er sich die Titel der Gedichte »Abendlied«, »An die Nachtigall«, »Der Tod und das Mädchen« und »Wiegenlied« auf dem separaten Blatt Papier notiert. In seinem literaturgeschichtlichen Abriss hat J.G. Robertson darauf hingewiesen, dass Goethe nicht nur die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts definiert (vom Sturm und Drang bis zur Klassik), sondern auch, »as no other man of his generation«, eine neue Epoche beinflusst und inspiriert hat (Robertson 1935: 451). Goethe vertrat also auch, was Robertson »Young Germany« nennt, eine Literaturrichtung, die der aufstrebenden Romantik verbunden war. Einer der bedeutendsten Schriftsteller dieses neuen Zeitalters war Heinrich Heine, der nach 1945 auf Beckett eine starke Wirkung ausübte. Beckett war schon durch Robertsons History of German Literature auf Heine gestoßen, und noch früher hat er die Studie The Romantic Agony von Mario Praz gelesen, aus der er den Hinweis auf das »Marientotenkind« entnommen hat, das er im »Dream« Notebook eintrug (Eintrag 326). Es ist des Weiteren durchaus möglich, dass Beckett Heines Aufsatz »Die Romantische Schule« gelesen hat, da er in seiner 1934 geschriebenen Rezension von Moerike die Wendung »verkörperter Mondschein« benutzt (Beckett 1983: 61). Wiederum ist es aber schwierig, Becketts erste Bekanntschaft mit Heines Werk zu datieren – es könnte, wie in anderen Fällen, durch Schuberts Lieder gewesen sein. Dies würde den Umstand erklären, dass die meisten Verweise auf Heines Werk sowohl in Becketts Texten als auch archivalen und biographischen Materialien mit Musik in Verbindung gebracht werden; 1956 zum Beispiel schrieb Beckett an Thomas MacGreevy, dass er und Suzanne sich Schumanns Dichterliebe, auf Gedichten von Heine basierend, angehört hätten (30. Juli 1956). In Becketts Bibliothek befindet sich aber eine Ausgabe von Heines Buch der Lieder, im Insel Verlag in Leipzig erschienen. Beckett hat das Buch wahrscheinlich in einem Antiquariat erworben, da es zwei verschiedene Arten von Lesespuren aufweist. Einige Gedichte wurden mit einem Kreuz mit lilafarbenem Stift markiert, doch eine Verbindung mit Becketts Texten kann nicht nachgewiesen werden. Es gibt aber auch zwei Marginalien in schwarzer Tinte, die sicherlich Beckett zugeordnet werden können. In der ersten Randnotiz hat Beckett das Wort »Nacht« neben dem Gedicht, das mit der Zeile »Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen« beginnt, geschrieben, dann aber durchgestrichen. Besser bekannt unter dem Titel »Der Doppelgänger«, ist das Gedicht der Abteilung »Die Heimkehr« im Buch der Lieder zugeordnet und ist eines der sechs Gedichte, die Schubert in seinem Liederzyklus Schwanengesang vertont hat. In seiner Ausgabe von Walter und Paula Rehbergs Franz Schubert, sein Leben und Werk hat Beckett neben den Titeln dieser sechs Gedichte das Wort

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»Schwanengesang« geschrieben. Wie Rosemary Pountney zeigt (vgl. Pountney 1988: 42), hat Beckett auf Heines Gedicht in der ersten Manuskriptversion von Film (April 1963) verwiesen: »If music unavoidable, Schubert’s Doppelgänger – with perhaps Ich bin nicht wild, komme nicht zu strafen?« (Beckett macht aber einen Fehler hier und zitiert eine Zeile des Gedichts »Der Tod und das Mädchen« von Matthias Claudius; UoR MS 1227/7/6/1, 6v). In diesem Fall ist es unmöglich zu sagen, ob Beckett eine Anspielung auf Schuberts Lied oder Heines Gedicht im Sinne hatte, doch die Kongruenz von Ton und dem Thema des Verlusts hatte ihm sicherlich zugesprochen. Die zweite Lesespur in Becketts Ausgabe von Heines Buch der Lieder besteht aus einer handschriftlichen Linie neben den ersten zwei Zeilen eines weiteren Gedichts in der Sektion »Die Heimkehr«: »Teurer Freund! Was soll es nützen,/ Stets das alte Lied zu leiern?« (Heine [o.D.]: 162). Ebenfalls hat Beckett dieselben Zeilen ins »Sottisier« Notebook kopiert, zusammen mit einer weiteren Linie und dem Verweis zu Dantes Inferno: »›Singende Flammen‹/(D[ante]’s Inf. Heine: Deutschland: Ein Wintermärchen)« (UoR MS 2901, 10v; zit.n. Van Hulle/Nixon 2013: 95). Diese Einträge datieren von der Zeitperiode 18. Januar bis 8. Februar 1978, also zu der Zeit, in der Beckett am Prosawerk Company – im Mai 1977 begonnen – arbeitete. Elmar Tophoven berichtet, dass Beckett ihn auf eine Anspielung zu Heine während ihrer Zusammenarbeit an der deutschen Übersetzung dieses Texts aufmerksam gemacht hat. Wiederum hat Beckett in der Übersetzung auf textliche Genauigkeit beharrt, so dass die Frage des Originaltexts, »What does this mean?« (Beckett 2009b: 14) als »was soll es bedeuten?« wiedergegeben werden soll, um die erste Zeile von Heines Gedicht »Die Loreley« wiederzuspiegeln – »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« (vgl. Tophoven 1984: 289).6 Becketts Interesse an der Vertonung von Heines Gedichten wird deutlich in einem Gespräch mit Anne Atik, welches am 19. April 1981 stattfand. Nachdem sie sich die Winterreise and den Schwanengesang angehört hatten, sagte Beckett: »Heine is a great poet.« Zur gleichen Zeit, im April oder Mai 1981, notierte sich Beckett eine weitere Zeile Heines, wieder aus dem Zyklus Die Heimkehr, in das »Sottisier« Notebook, wiederum mit Angabe des Komponisten: »Ich grolle nicht u. wenn das Herz auch bricht. (Heine. Schumann. Dichterliebe)« (UoR MS 2901, 15r; zit.n. Van Hulle/Nixon 2013: 96). Außer Goethe, Claudius und Heine führt Beckett in der »Rehberg-Liste« seine liebsten Zyklen und Lieder an. Er markiert daher Schuberts Vertonung von Franz Schobers Gedicht »An die Musik«, welches er, mit Partitur, in sein »Whoroscope« Notebook eingetragen hatte (46v). Eine Anspielung auf das Stück findet sich in der Kurzgeschichte »Walking Out«, als Belacqua und Lucy sich »An die Musik« auf dem Grammophon anhören (Beckett 2010: 105). Des Weiteren notierte er sich das Lied »Du bist die Ruh« von Franz Rückert, welches er oft in Gesprächen mit Anne Atik und Avigdor Arikha in den 1960er Jahren gepriesen hatte 6 | Vgl. auch Marion Fries-Dieckmanns Aufsatz in diesem Band.

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(Atik 2001: 67). Zudem verweist er in der Liste auf die beiden großen Liedzyklen Schuberts, Die schöne Müllerin und Winterreise. In beiden vertont Schubert Texte von Wilhelm Müller, der im jungen Alter von 33 starb, als Schubert an der Winterreise arbeitete. Schubert selbst hat die Veröffentlichung des zweiten Bandes mit 24 Liedern der Winterreise (1828) nicht mehr erlebt. Becketts Interesse an der deutschen Dichtung war natürlich nicht ausschließlich mit Musik verbunden. Der wohl wichtigste Dichter für Becketts Werk war, lebenslang, Friedrich Hölderlin. Ich habe den Einfluss, den Hölderlin auf Beckett in den 1930er Jahren hatte, anderswo erörert (vgl. Nixon 2013; vgl. außerdem die Einleitung zu diesem Band), doch ich möchte hier anhand zweier Beispiele zeigen, wie der deutsche Dichter auch nach 1945 eine bedeutende Rolle in Becketts Schreiben hatte. In der Tat haben nur wenige Schriftsteller einen derart tiefen und nachhaltigen Einfluss auf Becketts kreatives Wirken gehabt. In seinem Regiebuch zur Inszenierung von Damals am Schiller-Theater in Berlin hat Beckett im August 1976 die folgende Anmerkung, unter der Überschrift »B«, notiert: »Alles war nun Stille. Wir sprachen kein Wort, Wir berührten uns nicht, wir sahen uns nicht an ... Hölderlin Hyperion-Fragment« (UoR MS 1976, 6r; zit.n. Ackerley/ Gontarski 2004: 254). Das Zitat stammt, wie Beckett angibt, aus Hölderlins Hyperion-Fragment und wird in den zwei ersten Äußerungen der Figur B eingewoben: »vowing every now and then you loved each other just a murmur not touching or anything of that nature you one end of the stone she the other long low stone like millstone no looks just there on the stone in the sun with the little wood behind gazing at the wheat or eyes closed all still no sign of life not a soul abroad no sound […] all still just the leaves and ears and you too still on the stone in a daze no sound not a word only every now and then to vow you loved each other« (Beckett 1990: 388-389; m. Herv.).

Es handelt sich hier nicht nur um ein Textecho, sondern vielmehr um die Integration einer Stimmung. Dasselbe ist der Fall, als Beckett auf ein Gedicht zurückgreift, das er schon 1938 in seiner Hölderlin-Ausgabe annotiert hat. Wie Dirk Van Hulle gezeigt hat (vgl. Van Hulle 2011: 63), beinhaltet die Manuskriptsammlung des »Fonds John Calder« am IMEC zum Spätwerk Stirrings Still Photokopien der Seiten 88-89 und 90-91 von Becketts Hölderlin-Ausgabe. Dort hat Beckett eine Strophe des Gedichts »Ehemals und Jetzt« mit einer vertikalen Linie markiert: »In jüngren Tagen war ich des Morgens froh, Des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin, Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch Heilig und heiter ist mir sein Ende« (Hölderlin [o.D.]: 88).

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Während des Schreibprozesses an Stirrings Still, ein Werk, das von der Unmöglichkeit handelt, sein eigenes »Ende« in Worte zu fassen (»No words for his end« [UoR MS 2935/1/1f. 1r; Beckett 2011b]), muss Beckett sich an Hölderlins Gedicht erinnert haben. Becketts Lektüre der deutschen Literatur nach 1945 beschränkte sich nicht auf Poesie. Seine Bibliothek enthält zum Beispiel Georg Büchners Novelle Lenz in der ersten englischen Übersetzung von Michael Hamburger (1969). Vielleicht der wichtigste Romanschriftsteller für Beckett war aber Theodor Fontane, dessen Werk er vielfach erwähnt und oft wiedergelesen hat. Deirdre Bair schrieb in ihrer Beckett-Biographie, dass Beckett Fontanes Roman Effi Briest (1895) zusammen mit (einer tränenvollen) Peggy Sinclair in Kassel in den späten 1920er Jahren gelesen hat (Bair 1990: 91), und Bair benutzt dabei eine Anspielung auf das Buch in Das letzte Band, um einen biographischen Beweis aufzustellen: »Scalded the eyes out of me reading Effie again, a page a day, with tears again. Effie . . . . [Pause] Could have been happy with her, up there on the Baltic, and the pines, and the dunes« (Beckett 2006: 222). Doch wie Knowlson argumentiert hat (vgl. 1996: 443), ist der biographische Hintergrund des Stücks eher auf Becketts Beziehung mit Ethna MacCarthy, die zur Zeit der Entstehung von Das letzte Band schwer erkrankt war, zurückzuführen. Beckett benutzt Fontanes Themen des Ehebruchs und der vergangenen Liebe, um ein allgemeineres, doch allgegenwärtiges Gefühl des Verlustes hervorzurufen. Effi Briest wird auch im Hörspiel All That Fall erwähnt, in der Szene, in der Mr. Rooney sich darauf freut, dass Maddy ihm aus dem Buch vorlesen wird: »I think Effie is going to commit adultery with the Major« (Beckett 1990: 189). Die Kopie von Effi Briest in Becketts Bibliothek trägt kein Erscheinungsdatum, doch die Ausgabe (Leipzig: Insel Verlag) wurde erstmals 1936 gedruckt. Es ist daher wahrscheinlich, dass dies die Kopie ist, die ihm 1937 von dem deutschen Buchhändler Günter Albrecht zugeschickt wurde; in einem Brief vom 30. März 1937 bedankt sich Beckett bei Albrecht und teilt ihm mit, dass er das Buch weder besitze noch gelesen habe (vgl. Beckett 2009c: 477). Wenn man bedenkt, dass der Roman vom Realismus von Flaubert und Zola beeinflusst war, ist Becketts Bewunderung für Effi Briest etwas erstaunlich. Dennoch kehrte Beckett immer wieder zurück zu diesem Buch. In einem Brief an Jacoba van Velde im Jahre 1952, in dem er Bücher mit dem Thema »Liebesunglück« auflistet, bezeichnete er Fontanes Roman als »formidable« (Beckett 2011a: 342). Vier Jahre später empfahl er seinem amerikanischen Verleger Barney Rosset die Publikation Effi Briests, sollte sich ein guter Übersetzer finden (»first-rate translator up [his] sleeve«, 26. Mai 1956 [Beckett 2011a: 621]). In diesem Brief schreibt er an Rosset: »read it for the fourth time the other day with the same old tears in the same old places«. Der Verweis greift voraus auf die obengenannte Szene in Das letzte Band, das zwei Jahre später geschrieben wurde. Zeitnaher ist natürlich das Hörspiel All That Fall (im Juli 1956 begonnen, im September beim BBC abgeliefert), in dem, wie gesehen, Effi Briest genannt wird.

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Becketts Verweise auf Fontane suggerieren, dass die zweibändige Werkausgabe von Fontane in der Bibliothek entweder die von 1955 oder von 1958 ist (beide wurden ohne Datum veröffentlicht). Das spätere Datum scheint plausibler, da Das letzte Band nicht nur auf Effi Briest anspielt, sondern auch auf Fontanes Roman Unwiederbringlich.7 Beckett hat Unwiederbringlich in Berlin 1975 erneut gelesen und zitierte die letzten Zeilen des Gedichts am Ende des Buches in einem Brief an Bray (2. Februar 1975): »Wer hasst, ist zu bedauern,/Und mehr noch fast, wer liebt« (Fontane 1958: 1051). Beckett hat auch andere Texte Fontanes gelesen, unter anderem Unterm Birnbaum und, erstaunlicherweise, die eher konservativen Kunstbriefe Fontanes, die Briefe aus London. Wie Michael Haerdters Eintrag für den 9. September 1967 in den »Proben-Notate[n] zum Endspiel« (Schiller Theater Berlin) schreibt, hat Beckett auch Irrungen, Wirrungen (Völker 1986: 96) bewundert. Dieser Roman ist enthalten in der zweibändigen Ausgabe von Fontanes Werken, die Beckett besaß, und nachdem er das Buch 1960 gelesen hatte, fand er, dass es »wunderbare Dinge« beinhalte, doch schlussendlich nicht so gut wie Effi Briest sei (Brief an Barbara Bray, 1. Oktober 1960). Bei wiederholter Lektüre des Buches in Berlin im Jahr 1978 hat er den Titel benutzt, um die schwierigen Proben des Stücks Spiel zu beschreiben (vgl. Brief an A.J. Leventhal, 24. September 1978). Becketts Beziehung zur deutschen Literatur repliziert eine Tendenz, die auch in seiner Auseinandersetzung mit anderssprachiger Literatur bemerkbar ist: Wenige deutschsprachige Bücher des 20. Jahrhunderts befinden sich in seiner Bibliothek. Und einige Autoren sind vollständig abwesend – Brecht zum Beispiel. 8 Dies ist nicht auf eine bewusste Vermeidung potenzieller zu nahestender Einflüsse zurückzuführen (mit der Ausnahme von Kafka; vgl. Weller in diesem Band); Beckett hat scheinbar einfach weniger deutschsprachige Nachkriegsliteratur gelesen. Während er deutlich und zum Teil aktiv im französischen Literaturzirkel mitwirkte, war dies in Deutschland nicht der Fall. Dies bedeutet nicht, dass er keine Kenntnisse der kulturellen Entwicklungen und Geschehnisse hatte, denn seine Freunde, und vor allem Sigfried Unseld, haben ihn auf dem Laufenden gehalten. Zudem erschienen einige Beckett-Texte in literarischen Zeitschriften; die »Faux Départ«, aufgegebene Werke zu All Strange Away und Imagination morte imaginez, wurden zum Beispiel von Hans Magnus Enzensberger in den ersten Seiten der ersten Ausgabe seines Heftes Kursbuch unter dem Titel »Falsch anfangen« veröffentlicht (Juni 1965); Auszüge der Romane Molloy und Watt folgten in den Heften 8 (März 1967) and 15 (November 1968). Des Weiteren wurden einige der Texte um Nichts in Suhrkamps Hausmagazin Merkur im Februar 1962 7 | Vgl. auch Marion Fries-Dieckmanns Aufsatz in diesem Band. 8 | Beckett kannte jedoch Brechts Werk, beurteilte es aber meist ohne Begeisterung. In einem Brief an Bray schreibt er zum Beispiel, dass er endlich Brechts Verfremdungstheorie verstehe: »Quatsch« (11. September 1967).

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gedruckt. Weniger bekannt ist, dass Beckett eins seiner kurzen, französischen Gedichte, »pas à pas« (den mirlitonnades zugehörig), Herbert Marcuse widmete, es wurde in einer Festschrift anlässlich des 80. Geburtstags des Philosophen im Magazin Akzente veröffentlicht (Juni 1978). Inwiefern Beckett sich bewusst war, was in der deutschsprachigen Literatur vor sich ging, geht aus einem Brief an Barbara Bray hervor, in dem er ihr mitteilt, dass Nelly Sachs verstorben sei und dass Paul Celan Selbstmord begangen habe. Obwohl sich keine Bücher von Celan in Becketts Bibliothek befinden, ist klar, dass Beckett das Celan’sche Werk kannte.9 Die Mehrzahl der deutschsprachigen Bücher in Becketts Bibliothek weisen keine Marginalien auf, wohl aber Lesespuren; zudem wurden die meisten ihm von Verlegern, Autoren oder Freunden zugeschickt. Vorhanden sind zum Beispiel Widmungsexemplare von Heinrich Böll (Entfernung von der Truppe, 1964; Geschichten aus zwölf Jahren, 1969 [ohne Widmung]), Franz Wurm (In diesem Fall, 1989) und Nelly Sachs (Späte Gedichte, 1965 [mit der Widmung »O du Drama schwarze Zeit«]; Die Suchende, 1966). Die Bibliothek enthält auch Bücher von Erich Fried and Günther Eich, dem Beckett die Kurzgeschichte »As the story was told« gewidmet hat, und den er in Frankfurt im Frühmärz 1961 kennenlernte. Doch Becketts Bibliothek ist nicht mehr vollständig. David Gulette zum Beispiel berichtet, dass er Brecht-Ausgaben in Becketts Wohnung gesehen hat, die heute nicht mehr vorhanden sind. Becketts Korrespondenz zeigt weiter, dass die vorhandenen Bücher in der Bibliothek nur einen kleinen Teil seiner wirklichen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur darstellt. Ein gutes Beispiel hierfür ist Gottfried Benn; schon in den 1930er Jahren hatte Beckett Benns Gedichte gelesen, wie ein Eintrag – Zeilen des Gedichts »Hergelaufene Söhne« – im »Whoroscope« Notebook zeigt (67v). 1960 hat er dann einen Aufsatzband von Benn gelesen – mit ambivalenten Gefühlen. Er fand einige Texte »insufferable«, andere gefielen ihm wiederum, vor allem der Aufsatz »Altern als Problem für Künstler« (1954). Dass Becketts Bibliothek nicht vollständig ist, kann auch am Beispiel von Max Frisch erörtert werden (vgl. auch Nixon 2010b). Zur Zeit seines Todes 1989 besaß Beckett vier Bücher von Frisch: Die chinesische Mauer; Biographie: Ein Spiel; Ausgewählte Prosa und Erzählungen des Anatol Ludwig Stiller. Archivmaterialien sowie Becketts Korrespondenz zeigen jedoch, dass Beckett zu gewissen Zeitpunkten auch Ausgaben von Andorra, Biedermann und die Brandstifter und Homo Faber besessen und gelesen hatte (im Falle von Homo Faber gleich zweimal). Das Max Frisch Archiv in Zürich enthält einen Brief, den Beckett am 28. November 1972 geschrieben hat und in dem er dem Schweizer für die Übersendung einer Ausgabe des Tagebuch 1966-1971 dankt. Die beiden Schriftsteller trafen sich mehrfach; eines dieser Treffen hat am 23. Januar 1964 stattgefunden, als Frisch Proben zu 9 | Celan hat, wie Beckett vor ihm, an der École Normale Supérieure unterrichtet und wurde, nachdem sich sein Geisteszustand verschlechtert hatte, vom Beckett-Übersetzer Elmar Tophoven ersetzt (vgl. Nixon 2007).

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Endgame in London besuchte. Beckett berichtete Bray von diesem Treffen – ein Abendessen mit dem Verleger John Calder – am nächsten Tag. Vier Tage später, am 28. Januar, spielten Beckett und Frisch Schach gegeneinander (Beckett verlor), und am selben Abend war Beckett bei der englischen Premiere von Frischs Stück Andorra in London anwesend. Frisch hat dieses Treffen auch dokumentiert; in einem Brief an den Schriftsteller Alfred Andersch vom 20. Februar 1964 schrieb er: »Die Begegnung mit Beckett, das war aber eine Belohnung; das ist ein grosser Mann« (Max Frisch Archiv, Zürich). In der Nachkriegsperiode in Deutschland stand Becketts Werk zunehmends im Zentrum der philosophischen und soziokulturellen Debatten. Adorno zufolge waren lediglich Beckett und Paul Celan imstande, Auschwitz literarisch zu bewältigen – zum Teil wegen der Undurchdringlichkeit ihrer Werke, das heißt ihrer Verneinung von expliziter Referenzen auf historische und politische Bezüge. Natürlich ist es nicht der Fall, dass historische Kontexte nicht vorkommen – Irland bei Beckett, verschiedene Ereignisse vom Holocaust zum Vietnam-Krieg bei Celan –, doch sind diese Anspielungen im Werk beider Schriftsteller meist nicht explizit. In den 1950er und 1960er Jahren wurden sowohl Celan wie Beckett für die Produktion von poésie pure statt poésie engagée kritisiert. Georg Lukács hat bekannterweise Becketts Werk als »dekadent« bezeichnet. Peter Weiss hat, in einem Gespräch mit Alvarez im November 1964, Beckett als unpolitisch abgetan. Weiss meinte, ähnlich wie Lukács, dass Beckett die schlechten politischen Zustände akzeptierte, anstatt gegen die Hoffnungslosigkeit der Menschheit anzukämpfen; kurzum, er agiere »wie eine Art Embryo in einer Welt, die zu stark und zu groß für ihn ist« (Weiss 1965: 89). Mit der Zeit hat Peter Weiss seine Kritik an Beckett gemildert; Beckett hingegen hat sich, wie gewohnt, dazu nicht öffentlich geäußert, und es bleiben, ganz wie in seinem Werk, nur die Spuren zurück, aus denen man seine eigene Interpretation über ein mögliches Verhältnis herauslesen könnte. Zur Zeit seines Todes im Jahr 1989 befand sich in Becketts Bibliothek eine Ausgabe von Peter Weiss’ Roman Abschied von den Eltern (1961).

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»Ich habe mal davon geträumt, so etwas Ähnliches zu schreiben« Beckett und deutsche Literatur in den deutschen Übersetzungen Marion Fries-Dieckmann

Im November 1932 schreibt Beckett an MacGreevy: »I am reading German and learning a little that way« (zit.n. Nixon 2006a: 260). Im Licht seiner späteren Karriere kann man dieses Statement als heillose Untertreibung bezeichnen. Nicht nur verbesserte er seine Deutschkenntnisse durch das Lesen deutschsprachiger Literatur; sie spielt vielmehr eine ganz entscheidende Rolle in Becketts Entwicklung zum Schriftsteller (vgl. Nixon 2006a). In seinem Werk finden sich zahlreiche Verweise auf Goethe, Fontane, Hölderlin und andere, und in den letzten Jahren hat die Forschung viel in dieses Terrain, das lange Zeit unbeachtet blieb, investiert.1 Gleichzeitig arbeitete Beckett sehr eng an den deutschen Übersetzungen seines Werks mit, die von Elmar und Erika Tophoven geleistet wurden, und vielfach änderte er Worte und Phrasen oder arrangierte sie neu. Interessant ist, dass Beckett in jene deutschen Übersetzungen gelegentlich Zitate aus deutscher Literatur einfließen ließ und dadurch eine Resonanz schaffte, die allein den deutschen Fassungen seiner Werke eigen ist. Dies eröffnet eine Reihe an Fragen: Was zeigt die Auswahl deutschsprachiger Literatur? Auf welche Werke greift Beckett zurück und welche Bedeutung haben diese? An welchen Stellen finden sich solche Zitate und mit welcher Bewandtnis? Zeit seines Lebens war Beckett an deutscher Literatur interessiert. Während der Deutschlandreise 1936/1937 las er durchaus zeitgenössische Unterhaltungsliteratur, welche er jedoch meist schnell abtat (vgl. Nixon 2005). Mit echtem Interesse und Ernsthaftigkeit studierte er Rilke, Kafka oder auch Trakl, den er sehr bewunderte, und später machte er sich etwa auch mit Celan oder Brecht vertraut. Zeit seines Lebens aber schlugen ihn »the old chestnuts« (Knowlson 1996: 653) in den Bann, wie Chaucer und Shakespeare, Dante, Mallarmé oder eben Goethe und 1 | Exemplarisch seien an neueren Publikationen etwa zu nennen Nixon 2011 und 2006a; Love 2006; Fries-Dieckmann 2005; Frost 2005.

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Heine, und die Lektüre dieser »alten Kamellen« fand am intensivsten in den umtriebigen 1930er Jahren statt, in denen Beckett seine eigene Poetik zu entwickeln trachtete. Eine erste Sichtung direkter Zitate aus deutscher Literatur in Becketts deutschen Übersetzungen ergibt zweierlei: Sie gehen primär auf Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zurück, das heißt Schriftsteller der Klassik und Romantik sowie des Realismus. Und: Von ein paar Ausnahmen abgesehen, sind sie kaum wahrnehmbar, sondern nahtlos eingepasst in die deutsche Diktion Becketts. Dies liegt auch daran, dass Becketts Deutsch durchaus poetisch zu nennen ist. Das eine bedingt das andere: Beckett lernte Deutsch im Wesentlichen durch die Lektüre deutscher Literatur (vgl. Fries-Dieckmann 2005), und so springen auch intertextuelle Verweise, die aus vergangenen Epochen stammen, in den deutschen Übersetzungen nicht zwingend ins Auge (vgl. Nixon 2006c). Dies ist sicherlich auch im Licht der schriftstellerischen Entwicklung Becketts zu sehen. Während etwa Dream of Fair to Middling Women eine Unmenge an Zitaten aus abendländischer Literatur aufweist, kehrt Beckett wenige Jahre später – auch um sich von Joyce abzugrenzen – von allzu offener Gelehrsamkeit ab, welche die Identität des eigenen Schreibens nicht oder zu wenig zu Tage treten lässt (vgl. Nixon 2006b).2 Jene Gelehrsamkeit der frühesten Werke tritt immer mehr zurück zugunsten der eigenen Empfindung und Empfindsamkeit. Beckett ist auf der Suche nach einem eigenen Stil, der sich bewusst zurücknimmt und durch Unmittelbarkeit überzeugt. Einen solch unausgeschmückten Stil sucht er während der Deutschlandreise im geplanten »Journal of a Melancholic« umzusetzen; im Tagebuch avisiert er dafür »simple elegance & absence of comment« (»German Diaries«, 28. Dezember 1936; vgl. Nixon 2006b). Formal scheint es tatsächlich jene schlichte Eleganz zu sein, die Beckett an seinen favorisierten deutschen Schriftstellern fasziniert; aber auch inhaltlich fällt eine Gemeinsamkeit auf: Die Zitate sind allesamt einem Kontext der Traurigkeit entnommen und in einen entsprechenden Kontext bei Beckett transferiert (vgl. Nixon 2011: 66). Beckett fühlte sich in den 1930ern offenbar vor allem von Aspekten der Verlusterfahrung und der Melancholie ausgewählter deutscher Literatur angesprochen (vgl. Ders. 2006a: 262); dies nimmt angesichts der damaligen Unsicherheit Becketts über seine Arbeit nicht wunder.3 Jenen Zitaten, die Beckett in seine eigenen Werke einfließen lässt, scheint eine besondere Akzentuierung zu eigen: Sie zeigen tendenziell weniger die düs2 | Auch aus diesem Grund finden sich vergleichsweise wenige direkte Zitate aus einer weiteren deutschen »Lieblingsepoche« Becketts, der mittelhochdeutschen Literatur um Walther von der Vogelweide, in den Werken wieder: Die deutsche Literatursprache des 19. Jahrhunderts ist sozusagen kompatibler mit der zeitgenössischen Becketts. Zur Auseinandersetzung Becketts mit der mittelhochdeutschen Literatur vgl. Thomas Hunkeler im vorliegenden Band. 3 | Auch biographische Aspekte wie der Tod seines Vaters spielen hier sicherlich eine Rolle (vgl. auch Nixon 2011: 42).

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tere, nihilistische Seite der Melancholie, welche die Gegenwärtigkeit als sinnlos erachtet. Vielmehr kommt in ihnen etwas zum Ausdruck, was im Deutschen der Begriff »Wehmut« bezeichnet: ein Gefühl zarter Traurigkeit, hervorgerufen durch Erinnerung an Vergangenes, das durchaus von bitter-süßer Freude geprägt sein kann. So heißt es im Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe von 1907: »Wehmut heißt der Affekt der Traurigkeit, der entweder der Erinnerung an eine vergangene Lust, an ein verlorenes Gut oder der Einsicht in die Unmöglichkeit, ein ersehntes Gut zu erlangen, entspringt. Es mischt sich in jene Traurigkeit auch ein Gefühl der Lust […], weshalb man von süßer Wehmut spricht« (Kirchner/Michaëlis 1907: 691).

Als Beispiele werden Goethes Gedichte »Wonne der Wehmut«, »An den Mond« und »Trost in Tränen« genannt – übrigens allesamt vertont von Franz Schubert, einem der Lieblingskomponisten Becketts (vgl. Maier 2007). Eine wichtige Quelle für Becketts Bezüge zur deutschen Literatur, zumindest in den 1930er Jahren, sind in der Tat Schuberts romantische Lieder, welche neben Gedichten Goethes auch solche Heines, Hölderlins und anderer vertonen (vgl. Nixon 2011: 60). So verwundert es nicht, dass Becketts Zitate aus deutscher Literatur, die er in den deutschen Übersetzungen vorkommen lässt, denn auch primär aus deutscher Lyrik stammen. Auch Beckett versteht Melancholie eher als eine Stimmung denn als Funktionsstörung (vgl. Nixon 2011: 44). Und in diesem Zusammenhang kann das Erinnern auch Trost oder sogar Glückseligkeit spenden. Während des Spazierengehens etwa, so schreibt Beckett am 8. November 1931 an MacGreevy, habe das Gemüt »a most pleasant & melancholy limpness, is a carrefour of memories« (Beckett 2009: 93), und nach einem langen Spaziergang in Berlin 1936 notiert Beckett in seinem Tagebuch: »feel most happily melancholy« (»German Diaries«, 7. November 1936; zit.n. Nixon 2011: 44). Dass Beckett neben dieser Wehmut auch die düstere Schwermut kennt, und zwar auch die Begriffe, beweist nicht zuletzt sein Vokabelheft aus der Zeit der Deutschlandreise, in dem er »Trübsinn« und »Schwermut« als Synonyme notiert (UoR MS 5006). Der Begriff »Schwermut« taucht auch in dem Stück Das letzte Band wieder auf. Krapps Rückschau »Spiritually a year of profound gloom and indigence« (Beckett 1990: 220) wird im Deutschen nicht überraschend übersetzt mit »Spirituell ein Jahr tiefer Schwermut und Not« (Beckett 1995b: 161; m. Herv.). Diese Schwermut ist für Beckett mit schöpferischem Stillstand verbunden. In diesem Zusammenhang sei auf die ambivalente Diskursgeschichte der Melancholie verwiesen, welche neben der Melancholie als lähmende Krankheit auch ihre inspirierende Wirkung kennt, vor allem seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Ritter/Gründer 1980: 1038-1044). Mit jener Gemütsstimmung sind für Beckett verbunden Alleinsein, ein Sich-Versenken, Erinnern und Auseinandersetzung mit der Erinnerung. All dies ist Voraussetzung für den künstlerischen Akt, wie Beckett ihn in Proust beschreibt, die Versenkung des Künstlers in sein Innerstes, »the hölder Wahnsinn« (Beckett 1965: 91) – der Ver-

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weis auf Hölderlin ist wohl kaum ein Zufall. Becketts Auffassung von »melancholy« muss sicherlich auch vor einem komplexen Hintergrund gesehen werden, etwa seinem Interesse an quietistischen Positionen oder seinem grundsätzlichen Faible für die Romantik und ihrem Streben nach einer – gleichwohl unerreichbaren – Harmonie. Diese Seite der Melancholie ist nicht nur Mitvoraussetzung für den künstlerischen Akt, sie ist auch Folge in der bitteren Erkenntnis, dass das romantische Projekt zum Scheitern verurteilt ist. Für Beckett ist in den 1930ern längst klar, »the longing for love or immortality or spiritual transcendence will always remain unfulfilled. The result is a kind of melancholy anguish« (Nixon 2007: 71). Ungeachtet begrifflicher Finessen bleibt mit Blick auf die vorliegende Fragestellung festzuhalten, dass es in Becketts Werk nicht nur die (fast schon) pathologisch konnotierte Melancholie als Grundstimmung gibt, sondern auch eine Ergriffenheit – still, sanft und innig –, welche eher einem konkreten Anlass zu entspringen scheint. Und auch im Laufe seiner schriftstellerischen Entwicklung stellen sich bei Beckett eine Empfindsamkeit, Innerlichkeit und Ausgeglichenheit ein, die besonders im Spätwerk spürbar wird. Maßgeblich ist, dass 1) der Kontext der deutschen Zitate ein wehmutsvoller ist und dass 2) diese Wehmut auch über den Text hinaus reflektiert bzw. auch auf einer Metaebene spürbar wird, indem sie sich auf eben jenes Erzählen des 19. Jahrhunderts erstreckt. Die gemeinsame Arbeit Tophovens und Becketts an den deutschen Übersetzungen gestaltete sich derart, dass Tophoven die entworfene Fassung vorlas und Beckett entsprechende Anmerkungen einwarf. Eine frappante Stelle, welche sich explizit auf deutsche Literatur bezieht, findet sich in Malone meurt/Malone stirbt. Es geht um die Stelle, an der die Rede ist von »feuilles […] qui ont connu les longues joies de l’été« (Beckett 1951: 106f.). Tophovens Übersetzung lautete: »Blätter […], die die langen Freuden des Sommers erlebt haben«. Hier unterbrach Beckett ihn; er habe beim Schreiben dieses Satzes an die Hero in Franz Grillparzers Drama Des Meeres und der Liebe Wellen gedacht. Somit müsse das Zitat als solches auftauchen (vgl. Tophoven 1975: 172). Gemeint ist Heros Totenklage über ihren Geliebten Leander, welcher durch ihr Mittun ertrunken ist: »Nie wieder dich zu sehn, im Leben nie! Der du einhergingst im Gewand der Nacht Und Licht mir strahltest in die dunkle Seele, Aufblühen machtest all, was hold und gut; Du fort von hier an einsam dunkeln Ort, Und nimmer sieht mein lechzend Aug dich wieder. Der Tag wird kommen und die stille Nacht, Der Lenz, der Herbst, des langen Sommers Freuden, Du aber nie. Leander, hörst du? nie! Nie, nimmer, nimmer, nie!« (Grillparzer 1925: 206f.).

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Die chronologisch falsche Reihenfolge der Jahreszeiten suggeriert Heros Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber nach Leanders Tod. Dabei sind die »Freuden«, die der Sommer mit sich bringt, antithetisch gesetzt zur Trauer über Leanders Nichtwiederkehr; der Ausblick in die Zukunft birgt Trauer, während die Freuden wehmütig konnotiert sind in der Rückschau. Forciert wird die Antithese durch den altertümlichen Genitiv »des Sommers […] Freuden«, der den Fokus auf die Freuden am Versende legt.4 Diese Kompaktheit, gepaart mit dem poetischen Klang, birgt wohl den Reiz jener Phrase für Beckett, der Grillparzers dramatische Dichtung von 1831, speziell Heros Totenklage, als »superb« betrachtete (zit.n. Nixon 2011: 75). Die eingängigen Blankverse zeigen eine hohe sprachliche Dichte, gleichzeitig sind sie aber einfach und schlicht in Form und Sprache. Auch thematisch ist Grillparzer Beckett nicht unverwandt: Er zeigt Figuren im Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Tat, für die die Möglichkeit des Seins und erst recht der Wahl eines solchen Seins unmöglich ist. Dieser Zwiespalt findet seine Analogie auch sprachlich: Wie Pavlova nachweist, lässt bei Grillparzer »das Wort […] absichtlich Lücken im Text entstehen, strebt nicht nach letzter Klarheit, maßt sich kein Urteil an. […] Auf seiner Bühne entsteht eine beabsichtigte Spannung zwischen dem […] ausgesprochenen Wort und dem Ereignis, das es nicht umfasst« (Pavlova 2005: 114).

Zweifellos ein Kommentar, der ohne weiteres der Beckett-Forschung entstammen könnte. Wie sieht nun der Kontext in Becketts Malone stirbt aus? Die Textstelle lautet: »Oder es ist vielleicht ein Herbstabend, und diese Blätter, die in der Luft wirbeln, wer weiß, woher sie gekommen sind, denn hier gibt es keine Bäume, sind nicht mehr die ersten des Jahres, die gerade grün gewordenen, sondern alte, die des langen Sommers Freuden hinter sich haben […]« (Beckett 2005: 317).

Diese Textstelle leitet die zentrale Vision vom Altern und Sterben ein, unmittelbar bevor der Ich-Erzähler die Erlösung fühlt, »daß es kommt« (ebd. 319). Solange man lebe, sei man verdammt zum »[K]ommen und [G]ehen« (ebd. 317). Dieses Thema der unaufhaltsamen Vergänglichkeit wird durch den Gang der Jahreszeiten, speziell des eintretenden Herbstes und der verwelkten Blätter, sinnbildlich veranschaulicht. Eine seltsame Mischung wird in dem Roman spürbar, der ja als eine Parodie des Erzählens gilt: Einerseits parodiert das Grillparzer-Zitat

4 | Überraschenderweise bezieht Beckett im französischen wie im englischen Text – »long joys of summer« – das Adjektiv nicht auf den Sommer, wie bei Grillparzer, sondern auf die Freuden. Ein für Beckett ungewöhnlicher Fauxpas, der vermutlich mit dem unüblichen Genitiv zusammenhängt.

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die vorherrschende Endzeitstimmung; gleichzeitig schwingt aber auch ein wenig aufrichtig-resignative Wehmut mit angesichts der Poesie, die einst möglich war. Dies lässt sich auch an einer Stelle im Prosatext Gesellschaft beobachten. Hier zunächst die ursprüngliche Übersetzung Tophovens: »In einem anderen Dunkel oder im selben, ein anderer alles erträumend, um sich Gesellschaft zu leisten. Auf den ersten Blick scheint dieser Satz klar zu sein. Aber wenn das Auge dabei verweilt, wird er immer unklarer. Ja, je länger das Auge dabei verweilt, um so unklarer wird er. Bis das Auge sich schließt und der vom Hinstarren befreite Kopf sich fragen kann, Was bedeutet das?« (Tophoven 1984: 289).

Beim Vorlesen der Übersetzung drang Beckett beim letzten Satz auf die Formulierung: »Was soll das bedeuten?« (Beckett 1986: 187).5 Dadurch »ergab sich eine Anspielung auf Heinrich Heine« (Tophoven 1984: 289f.). Gemeint ist Heines berühmtes Gedicht von der Loreley (1824). Es beginnt mit den Worten: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn« (Heine 1981: 105f.).

Es folgen fünf weitere Strophen, in denen das Lyrische Ich die Loreley-Sage schildert: Der Gesang der schönen Loreley, die ihr langes blondes Haar auf dem hohen Felsen kämmt, lenkt die Schiffer auf dem Rhein ab. Sie prallen gegen den Felsen und müssen sterben. Heine gilt als »letzter« Dichter der Romantik und gleichzeitig als deren Überwinder. Seine Gedichte sind scheinbar einfach und rühren mit ihrem romantischen, oft volksliedhaften Ton das Gemüt an; gleichzeitig zeichnen sie sich durch elegante, kunstvolle Leichtigkeit aus, welche mitunter auch für scharfe Polemik eingesetzt wird. So straft auch das Loreley-Lied seine Etikettierung als Inbegriff deutscher Romantik Lügen. Heine benutzt zwar Motive und Darstellungsmittel der Romantik und des Volkslieds, er ironisiert sie jedoch und distanziert sich dadurch. Jaspersen zufolge »ist dies Gedicht kein romantisches Kunstwerk, sondern […] Ausdruck rückgewandter Sehnsucht nach der Romantik« (Jaspersen 1956, 133). Beckett bewunderte Heine sehr, vermutlich für den Wohlklang, Scharfsinn und Stil seines Schreibens; noch im hohen Alter sprach Beckett im Brustton der Überzeugung: »Heine is a great poet« (Atik 2001: 105). Wie ist all dies nun in Relation zu setzen zu Becketts Text Gesellschaft? Es geht darin um eine Figur, die im Dunkeln auf dem Rücken liegt und sowohl Stimme wie Hörer generiert; um den »erträumte[n] Erträumer, das alles erträumend, um sich Gesellschaft zu leisten« (Beckett 1986: 200). Neben Kindheits5 | Im englischen Ausgangstext heißt es: »What does this mean?« (Beckett 1996a: 15).

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erinnerungen besteht Gesellschaft vor allem aus Reflexionen über das Erträumen, das heißt also auch das Erzählen. Dabei ist eine ständige Unbestimmtheit zu spüren: Die Identitäten verschmelzen miteinander, und die Stimme stellt wiederholt Fragen zur Befindlichkeit der Figur. Somit ist die Frage »Was soll das bedeuten?« eine Grundfrage, welche den gesamten Text umfasst. Sie spiegelt eine ähnliche Unsicherheit wie die Frage des Lyrischen Ichs bei Heine. Jenes Ich sucht den Grund für seine Traurigkeit, und dabei kommt in ihm die Erinnerung an das Märchen von der Loreley auf. Abgesehen von Deutungen, wonach die Loreley als Bild der unerreichten Geliebten gilt, kann die Erinnerung an die Loreley auch auf einer Metaebene als Abschied an das romantische Projekt gesehen werden. Das Ich kann sich nur schwer davon lösen, »das kommt mir nicht aus dem Sinn«. Auch die reflektierende Instanz in Becketts Gesellschaft wird heimgesucht von Erinnerungen; aber auch hier steht nicht die Erinnerung als solche im Fokus, sondern ihre Darstellung. Aufschlussreich ist die Aussage, die sich anschließt an »Was soll das bedeuten?«: »Was soll das, was auf den ersten Blick klar zu sein schien, eigentlich bedeuten?« (Beckett 1986: 200). Längst hat der Abschied stattgefunden an eine Zeit, in der Ausdruck noch möglich war; es bleibt nur noch, wie Beckett Tom Driver gegenüber äußerte, »to find a form that accommodates the mess« (Driver 1979: 219): dem Scheitern Ausdruck zu verleihen. Bei Heine wie bei Beckett ist eine gewisse Wehmut zu spüren angesichts überkommener Darstellungskonventionen. Wie bei Heine die Loreley und damit romantische Poesie schlechthin als gewissermaßen verlockend, aber aussichtslos gelten, so ist auch für Beckett ein Schreiben, in dem Form und Inhalt ineinander fallen, nicht mehr denkbar. Was liegt da näher, als den von ihm bewunderten Heine sprechen zu lassen mit den Worten »Was soll das bedeuten?« und durch diesen romantischen bzw. antiromantischen Ausruf an seine eigene Ästhetik zu erinnern? Goethe ist sicherlich der deutsche Schriftsteller, mit dem Beckett sich am intensivsten auseinandergesetzt hat und zu dem er die ambivalenteste Haltung einnimmt. Beckett ist stark beeindruckt von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit, die er Mitte der 1930er Jahre liest (vgl. Frost 2005); über den Dramatiker Goethe hingegen fällt er ein vernichtendes Urteil (vgl. Nixon 2011: 71), und dem Faust etwa steht er in seiner Idee des stetigen Vorwärtsstrebens kritisch gegenüber. Was Beckett hingegen nachhaltig beeindruckt, ist Goethes Lyrik. Er war »never tired of reciting […] Goethe and his Wandrers Nachtlied II (also called Ein Gleiches), beginning ›Über allen Gipfeln/Ist Ruh‹)« und »he spoke of Goethe’s poems in old age the way he spoke of Yeats’ – as examples to read and study« (Atik 2001: 66f.). Der Reiz der Lyrik Goethes scheint in einer bestimmten Grundstimmung zu liegen (vgl. Nixon 2011: 65); dies ist – im Vergleich mit Goethes früheren Gedichten – eine stärkere Gewichtung der inneren Wahrnehmung, der rückschauenden Reflexion; eine Stimmung der Stille, Abgeschiedenheit, Innerlichkeit und mitunter auch der Melancholie. Gleichzeitig sind für Beckett aber auch die Kürze und die Prägnanz der Gedichte wohltuend, denn nach seinem

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Empfinden tendiert der Romancier Goethe dazu, »lieber NICHTS zu schreiben als nicht zu schreiben« (vgl. ebd. 82). In He, Joe macht sich ein Zitat bemerkbar aus dem Lied des Harfners in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1794-1796). Joe wird heimgesucht von einer weiblichen Stimme, offenbar einer ehemaligen Liebe, welche ihm eindringlich den gewissenlosen Umgang mit Menschen vorwirft. Die Heimsuchung gipfelt in der Episode um das Mädchen, das sich Joes wegen das Leben nimmt. Der Selbstmord ersteht vor seinem geistigen Auge neu, auch wenn er die Stimme in seinem Kopf am liebsten töten möchte; gleichzeitig generiert er, der Künstler, aber selbst diese Stimme, und die Stimme ist eine poetische mit Wortschöpfungen wie »Lichtgewordener Geist« sowie mit Referenzen zur Bibel oder auch zu Edgar Allan Poe (vgl. Ackerley/Gontarski 2004: 162ff.). Trotz des Angriffs der Stimme strengt Joe sich an, die geflüsterten Worte zu vernehmen, denn sie sind auch Ausdruck seiner eigenen Kreativität. Solange sie spricht, ist er – zumindest künstlerisch – lebendig. Die Natur kommt vermeintlich romantisch daher: »laue Sommernacht«, »Mondschein […] Holunder«, »Der Mond […] hinterm Hügel« (Beckett 1995b: 133f.). Sie hat als Quelle der Inspiration jedoch ausgedient und ist nur noch schauerliche Kulisse, nicht für den imaginären Selbstmord, sondern für die dichterische Beschreibung des Selbstmords. Der letzte Zoom, durch den Kamera und Stimme Joe auf den Leib rücken, gibt den Auftakt: »Gut … Laue Sommernacht … Alles schläft … Nur sie nicht … Sitzt auf ihrer Bettkante in ihrem lila Unterrock … Du weißt schon, welchen … Ah, sie kannte euch, ihr himmlischen Mächte! … Leises Plätschern der See durch das offene Fenster … Steht schließlich auf und schleicht hinaus, so wie sie ist …« (ebd. 133).

Das Bild des Mädchens auf der Bettkante evoziert eindeutig die ersten Zeilen aus Goethes Lied des Harfners: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr lasst den Armen schuldig werden, Dann überlasst ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden« (Goethe 1948: 146).

Im englischen Ausgangstext Eh Joe heißt es: »Sitting on the edge of her bed in her lavender slip … You know the one … Ah, she knew you, heavenly powers!« (Beckett 1990: 365). So lautete auch lange Zeit die deutsche Übersetzung: »Sitzt auf ihrer Bettkante in ihrem lila Unterrock … Du weißt schon, welchen … Ah, sie kannte

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euch, himmlische Mächte« (ebd. 1968: 59). Erst während der Inszenierung beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart 1979 änderte Beckett selbst das Drehbuch und überschrieb »auf ihrer Bettkante« mit »auf ihrem Bette« und »himmlische Mächte« mit »ihr himmlischen Mächte« (UoR MS 3626, 59) 6 – unverkennbar ein später Tribut an Goethe. Zum Kontext des Lieds in Wihelm Meisters Lehrjahre: Der Harfner betrauert in seiner Dachkammer das eigene Schicksal. Seine Geliebte hat sich als eigene Schwester entpuppt, und im Gesang gibt er sich nun seiner Seelenqual hin. Wilhelm, der herantritt, ist tief ergriffen von dieser wehmütigen Klage; er deutet jedoch die Einsamkeit des Harfners als schöpferische Abgeschiedenheit und erinnert damit an die positive Bewertung der Melancholie innerhalb ihrer Diskursgeschichte. Beide Auffassungen, Seelenqual und Inspiration, finden sich auch in He, Joe wieder. Interessant ist die Gestaltung der Verszeile bei Beckett: Die Verneinung (bei Goethe) weicht einer ausdrücklichen Bejahung, die noch durch ein Ausrufezeichen bekräftigt wird. Zusammen mit der Interjektion »Ah«, die als Ausdruck der Überraschung oder des plötzlichen Verstehens dient, entsteht der Eindruck, dass der Stimme die Parallele zu Goethes Lied erst auffällt, als sie das Mädchen auf der Bettkante beschreibt. Dies akzentuiert die Unmittelbarkeit des Geschehens. Es zeigt aber auch, dass sich hinter der Stimme Joes eigenes Gewissen (und auch Wissen) verbirgt. Damit kommt dem einfachen, schnörkellosen Goethe-Zitat bei Beckett zweierlei Funktion zu. Es ist genuiner Ausdruck der Melancholie oder Wehmut, wie bei Goethe, es spottet aber auch über deren schöpferisches Potenzial für Stimme bzw. Joe. Und auf der Metaebene schließlich zeigt die Formulierung »sie kannte euch, ihr himmlischen Mächte!«, welch komplexen Hintergrund sie aufzurufen imstande ist. Ich möchte schließen mit dem Zitat eines deutschen Schriftstellers, der in Becketts Rangliste ganz oben steht. Michael Haerdter, der 1967 die Proben zu Endspiel in Berlin begleitete, fragte Beckett nach seinen deutschen Lieblingsautoren, wohlwissend, dass Theodor Fontane mit Bestimmtheit dazuzählte. Verblüfft berichtet er: »Ich war auf Becketts Bekenntnis zu dem preußischen Rationalisten gefaßt. Nicht auf einen schwärmerischen Ausbruch.« Beckett habe ausgerufen: »Effi Briest und Irrungen, Wirrungen und die Briefe aus London!« (Haerdter 1968: 87f.). In Becketts Stück Das letzte Band wird Effi Briest (1895) namentlich vom alten Krapp erwähnt: »Sah mir die Augen aus dem Kopf, als ich wieder einmal E f f i las, eine Seite pro Tag, wieder einmal unter Tränen. Effi« (Beckett 1996: 19). Aber auch ein anderer Roman Fontanes schlägt sich in dem Stück nieder, allerdings fast unmerklich, und zwar ganz am Ende, als man den jungen Krapp auf Band resümieren hört: »Hier beende ich diese Rolle. Schachtel – Pause – drei, Spule – Pause – fünf. Pause. Vielleicht sind meine besten Jahre dahin. Da noch eine Aussicht auf Glück bestand. Aber ich 6 | Vgl. auch Van Hulle/Nixon 2009: 68.

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Marion Fries-Dieckmann wünsche sie nicht zurück. Jetzt nicht mehr, wo dies Feuer in mir brennt. Nein, ich wünsche sie nicht zurück« (ebd. 21; Herv. i.O.).

Die (eher ungewöhnliche) Formulierung »Ich wünsche sie nicht zurück« (im Englischen »I wouldn’t want them back«) erinnert an das Ende von Fontanes Roman Unwiederbringlich (1892) (vgl. Tophoven 1988: 30). Christine, die betrogene Ehefrau, ist von einem in kleiner Gesellschaft vorgetragenen Volkslied erschüttert und zieht sich zurück. Jenes Lied lautet: »Denkst Du verschwundener Tage, Marie, Wenn Du starrst ins Feuer bei Nacht? Wünschst Du die Stunden und Tage zurück, Wo du froh und glücklich gelacht? Ich denke verschwundener Tage, John, Und sie sind allezeit mein Glück, Doch die mir die liebsten gewesen sind, Ich wünsche sie nicht zurück« (Fontane 2003: 289; Herv. i.O.).

Die beiden letzten Zeilen wiederholt Christine noch einmal in ihrer Kammer. Tags darauf verübt sie Selbstmord, indem sie ins Wasser geht. Die Erinnerung an die glücklichen Zeiten ist hier gepaart mit der Einsicht, dass jene Zeiten »unwiederbringlich« sind, in ihrem Wieder-Erleben aber auch zu schmerzhaft wären. In diesem Volkslied ist, ähnlich wie in Das letzte Band, eine Art resignative, überraschend nüchterne Wehmut zu spüren. Der junge Krapp aber verabschiedet sich scheinbar leichthin von der Liebe, mit der Hoffnung vor Augen, woanders sein Glück zu finden, nämlich in der Erfüllung als Künstler. Doch schon die Wiederholung samt der Bekräftigung »Nein, ich wünsche sie nicht zurück« straft den jungen Krapp Lügen. Außerdem wird sein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft durch den sichtbar abgetakelten 69-jährigen Krapp nachhaltig konterkariert, der nach diesen Worten vom Band »bewegungslos vor sich hin« (Beckett 1995b: 165) starrt. Bei Fontane wirkt Christines Akt der Erinnerung an die liebsten Tage und der Abschied von der Erinnerung unumwunden, selbstbestimmt, fast abgeklärt; bei Beckett wird der »Abschied von der Liebe« (so ist das abgespielte Band gekennzeichnet im Register) ironisch gebrochen durch die mehrfachen Identitäten Krapps. Das sachliche, schlichte Formulieren Fontanes und seine skeptische Zurückhaltung eröffnet hier weit mehr als ausschweifendes Beteuern. Sein Stil ist durch und durch realistisch, jedoch keinesfalls emotionslos; er ist gefühlvoll, aber nicht »gefühlsduselig«. Wenige Jahre vor seinem Tod wurde Beckett von Antoni Libera gefragt, was er an Fontane so schätze. Die lange überlegte Antwort lautete: »Ich habe mal davon geträumt, so etwas Ähnliches zu schreiben. Und etwas von diesem Traum ist immer noch übrig. Aber ich habe es nie getan. Ich habe es nie geschrieben. […]

Beckett und deutsche Literatur in den deutschen Überset zungen Weil […] ich zu spät geboren wurde. Heutzutage schreibt niemand mehr so. Heutzutage schreibt man viel schlechter« (Knowlson 2006: 322).

Dies ist ein Abschied an ein Schreiben, wie es einst möglich war. Wenn Martin Esslin berichtet »Beckett greatly admired Fontane’s straight-forward, unadorned way of telling this sad story« (Esslin 1995: 46), dann kommen darin zwei Aspekte zum Ausdruck, die besonders wichtig sind. Es geht Beckett um die Frage: Wie kann »sentiment« ausgedrückt werden, ohne dass sich zwangsläufig »sentimentality« einstellt (vgl. »German Diaries«: 6. Dezember 1936)? Und eine Antwort scheint er in jenen deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts zu finden, die auf Pathos verzichten und einen zurückhaltenden Stil pflegen; die nicht lauthals leidenschaftlich expektorieren, sondern sich in Stille und Wehmut bescheiden (vgl. Nixon 2007: 71). Wo in den deutschen Übersetzungen bei Beckett Zitate aus deutscher Literatur vorliegen, liegt thematisch Wehmut vor; es sind Reflexionen über die Unausweichlichkeit des Lebens, über die Unzulänglichkeit von Sprache, über Liebe und Schuld, über die schmerzhafte Seite des Erinnerns. Diese Wehmut ist aber nicht nur Mündung, sondern auch Quell des schöpferischen Akts, des Erzählens. Gepaart ist sie mit einer gewissermaßen stilistischen Wehmut: sprachliche Bescheidenheit, Schlichtheit, Konzentration; schon als Student war Beckett der Ansicht: »The highest poetry has been written in simple language and with a simple constructed system« (zit.n. Nixon 2011: 101). Gleichzeitig eröffnet sich auch eine metatextuelle Ebene: Wehmut bedeutet neben der Erinnerung an ein verlorenes Gut auch die Einsicht in die Unmöglichkeit, jenes Gut wiederzuerlangen. Bei Beckett ist jenes Gut ein Schreiben, wie es vor der Moderne noch möglich war, ein gewissermaßen intaktes Schreiben, gekennzeichnet von Kohärenz und Kontinuität. Für Beckett ist ein solches Schreiben seit langem undenkbar, aber nicht automatisch indiskutabel. Vielmehr bewundert er an den deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts die schlichte, elegante Ausdrucksweise, welche sich in der Kunst des Andeutens, weniger in der des Ausführens übt. Ihre Lektüre ist für Beckett Wegbereiter für seine eigene Poetik der Verknappung. Im hohen Alter äußerte er: »All writing is a sin against speechlessness. Trying to find a form for that silence. Only a few, Yeats, Goethe, those who lived for a long time, could go on to do it, but they had recourse to known forms and fictions. So one finds oneself going back to vieilles compétences – how to escape that« (Atik 2001: 95).

Dass ein solcher Rückgriff auch durchaus fruchtbar sein kann, zeigt Becketts Werk zur Genüge. Der Standort des Wehmütigen ist aber eindeutig im Hier und Jetzt, und so ist Wehmut auch ein Gefühl ruhender Innerlichkeit und eines Versöhntseins mit der Welt und impliziert damit im Humboldt’schen Sinn ein erhebendes Moment.

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Fisch und Fleisch Übersetzen in und von frühen Texten Becketts Kathrin Schödel

Die Frage nach Becketts Ort in der deutsch(sprachig)en Kultur ist eng verbunden mit der Frage des Übersetzens. Dieser Beitrag stellt daher zunächst die literarische Gestaltung des Problems der Übersetzbarkeit in einer frühen Erzählung Becketts vor, um sich dann spezifischen Fragen der Übersetzung von frühen Texten Becketts ins Deutsche zu widmen. Diese Texte, der Roman Dream of Fair to Middling Women, geschrieben 1931/1932, veröffentlicht erst postum 1992, und der Erzählungsband More Pricks than Kicks, der 1934 publiziert wurde und teilweise Material aus dem unveröffentlichten Roman aufgreift, stellen insbesondere durch Becketts Verwendung von mehrsprachigen Einsprengseln und die Fülle intertextueller Bezüge, gerade auch für die Übersetzung, eine Besonderheit dar.1 In der bekannten ersten Erzählung von More Pricks than Kicks, »Dante and the Lobster«, ist Übersetzbarkeit, sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne, ein zentrales Thema: Der Protagonist nimmt Italienischunterricht und liest und übersetzt Dantes Divina Commedia; zugleich geht es in »Dante and the Lobster« um ein allgemeineres Übersetzungsproblem, auf das der Titel der Erzählung verweist, um die Korrespondenz zwischen sprachlich-geistiger und körperlicher Welt,2 die Übersetzung – wenn man so will – von »Hohe[m]« in »Niedriges« und umgekehrt, um die Formulierungen von Michail Bachtin, des Theoretikers der »Mesalliancen« von Körper und Geist, Religiösem und Profanem etc., aufzugreifen (Bachtin 1985: 138).3 1 | Vgl. dazu auch Rathjen 2009: 146. 2 | Für die hier zu diesem Text Becketts angestellten Überlegungen ist Gerhard Neumanns Aufsatz »Inszenierung und Destruktion. Zum Problem der Intertextualität in Samuel Becketts Erzählung Dante and the Lobster« eine wichtige Grundlage und Anregung. Neumann analysiert die »Konfrontation der Rede von der Sprache mit der Rede vom Körper« (Neumann 1987: 279). 3 | Vgl. in »Dante and the Lobster« zum Beispiel die Vorbereitungen des Protagonisten für sein Mittagessen (Beckett 1993: 10ff.; vgl. dazu auch Neumann 1987: 290), wo das

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Schon im ersten Absatz der Erzählung klingen diese beiden Aspekte des Übersetzens an. Der Protagonist Belacqua hat »sich« in der Divina Commedia im Paradiso »festgelesen« (Beckett 1976: 7). Er übersetzt – zum Teil erfolglos – aus der Fremdsprache Italienisch wie auch aus der fremden, metaphysischen Welt Dantes. Hier verbinden sich zwei Formen der intertextuellen Bezugnahme: zum einen das zitierende Aufgreifen des Namens Belacqua, einer Figur aus dem Purgatorio in der Divina Commedia, zum anderen die explizite Bezugnahme auf das Werk Dantes als Text, in dem wiederum der lesende Protagonist nahezu körperlich »feststeckt«. Wenn Becketts Belacqua selbst in dem Werk liest, aus dem sein Namensvetter stammt, hat das zunächst einfach einen komischen Effekt. Der doppelte Bezug zur Divina Commedia ermöglicht es Beckett aber zugleich, die Probleme einer intertextuellen »Übersetzung« von Dantes Jenseitsordnung in die Welt seines Textes zu thematisieren, etwa durch die Verständnisschwierigkeiten des Protagonisten bei seiner Lektüre. Während der Pilger Dante nach einer Erklärung Beatrices eine frühere falsche Ansicht »widerrufen«4 kann, bleibt die Textstelle für Becketts Belacqua ein »Rätsel« (Beckett 1989: 7). Das ist insofern nicht verwunderlich, da Belacqua als Figur aus dem Purgatorio auch bei Dante zunächst keinen Zugang zum Paradies hat; parallel dazu ist Becketts Belacqua der Zugang zu Dantes Text Paradiso verwehrt. Becketts Wahl von Dantes Belacqua als Namensgeber für seinen Protagonisten ist nicht ohne Bedeutung. Bei Dante sitzt die Figur wartend auf der Schwelle zum Zwischenreich des Purgatoriums. Belacquas Situation kann auf den irdischen Zustand des Menschen bezogen werden, etwa den Status als »horrible bordercreature« (Beckett 1992: 123), wie Beckett es in Dream of Fair to Middling Women formuliert, wo der Protagonist ebenfalls Belacqua heißt. Die bei Beckett dargestellte irdische Welt ist mit ihrer Mischung aus Geist und Körper, Tod und Leben eine »purgatoriale« Welt (vgl. Beckett 1972: 22) – jedoch ohne die Aussicht auf das Paradies. Die metaphysische, teleologische Ordnung Dantes lässt sich mit der Welt in Becketts Texten nicht vereinbaren, was in »Dante and the Lobster« über das Problem des Verstehens und Übersetzens von Dantes Text deutlich gemacht wird. Doch Becketts Protagonist selbst legt in dem ersten Absatz der Erzählung überhaupt keinen Wert darauf, die Erklärung Beatrices in ihrer ursprünglichen Bedeutung nachzuvollziehen. Er ist an dem Wahrheitsgehalt, den ihre Worte für Dante besitzen, nicht interessiert, sondern würde sich damit zufriedengeben, »niedrige« Essen durch intertextuelle Anspielungen zu einem »hohen« Zeremoniell wird, so dass zugleich umgekehrt die »hohen« Texte, zum Beispiel Shakespeares Hamlet in der Formulierung »it would be like smiting the sledded Polacks on the ice« (Beckett 1993: 12; vgl. Shakespeare 1957: 871 [I.i]), in einen »niedrigen« Kontext der Körperlichkeit übersetzt werden. 4 | Beckett 1989: 7 (siehe unten zu den beiden hier verwendeten deutschen Übersetzungen von »Dante und der Hummer«); vgl. Paradiso III, 1-6. Dantes Divina Commedia wird mit der Angabe des jeweiligen Teils, des Gesangs und des Verses zitiert nach Dante 1988.

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die logische Abfolge der Worte innerhalb des Textes nachvollziehen zu können: »[H]e would understand at least the meanings of the words, the order in which they were spoken and the nature of the satisfaction that they conferred on the misinformed poet« (Beckett 1993: 9). Sein Interesse gilt der sprachlichen Seite der Divina Commedia; sein Wunsch ist nicht, die Aussage des Textes in seine eigene Sprache »hinüberzutragen« – der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »translate« (von lateinisch »transferre«) entsprechend –, sondern er will lediglich die Oberfläche des Textes verstehen, die einzelnen »Worte«, ihre »Reihenfolge« (Beckett 1976: 7) und ihren Effekt auf Dante, ohne dass er diesen Effekt der »Genugtuung« (ebd.) auch für sich selbst erwartete. Diese Einstellung Belacquas zu seiner Lektüre der Divina Commedia wird auch deutlich in dem Gespräch des Protagonisten mit seiner Italienischlehrerin: Sie empfiehlt ihm, diejenigen Stellen im Inferno zusammenzutragen, an denen Dante Mitleid empfindet, die Belacqua-Figur dagegen ist interessiert an einem »exquisite[n] Wortspiel« (ebd. 17). Dabei handelt es sich um eine Stelle, an der Virgil Dante das Mitleid mit den Bewohnern des Inferno verbietet. Er sagt: »Qui vive la pietà quando è ben morta« (Inferno XX, 28). Das bedeutet, dass es in der Hölle der Frömmigkeit (»pietà«) entspricht, wenn das Mitleid (ebenfalls »pietà«) »erstorben« ist, weil die Bestrafung der Seelen in der Hölle der Gerechtigkeit Gottes entspringt und die Seelen so kein Mitleid verdienen (vgl. Inferno XX, 29f.). Belacquas Interesse richtet sich auch hier wieder auf das Übersetzungsproblem als Problem der Sprachstruktur. Er überlegt, wie man das Wortspiel im Englischen erhalten könnte (vgl. Beckett 1993: 18). Die Lehrerin bezieht sich dagegen mit ihrer zögernden Frage »Do you think it is absolutely necessary to translate it?« (ebd.) eher auf die Übersetzung als Problem der Bedeutungsübertragung in die andere Sprache;5 darauf, dass eine solche ohne den Kontext von Dantes Jenseitsordnung kaum sinnvoll stattfinden kann: Außerhalb eines streng moralisch geordneten, »absoluten« Universums, an dessen Gerechtigkeit geglaubt wird, ist Virgils Diktum der Mitleidlosigkeit geradezu brutal. Die Möglichkeit des Übersetzens im Allgemeinen beruht, wie Derrida es formuliert, auf der »Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat« (Derrida 1990: 144). Wenn von einer Sprache in die andere eine Bedeutungsübertragung ohne Veränderung der Bedeutung möglich wäre, dann würde dies, so Derrida, die Existenz »reiner Signifikate« (ebd.), die unabhängig von den sprachlichen Formen bestünden, voraussetzen. Nach Derrida gibt es diese jedoch nicht, so dass eine Übersetzung nie eine »›Übertragung‹ reiner Signifikate von einer Sprache in die andere« (ebd.) sein kann, bei der die Bedeutung »durch das Mittel oder die ›Vermittlung‹ (›véhicule‹) der Signifikanten unangetastet bliebe« (ebd.). Im Gegensatz dazu scheint der Lehrerin Belacquas gerade die Möglichkeit einer Übertragung der »reinen« Bedeutung in Bezug auf Virgils Mitleidsverbot Angst zu machen. Sie will den Satz Dantes nicht übersetzen, weil die Möglichkeit, die 5 | Vgl. dazu auch Neumann 1987: 293.

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Aussage auch in einer anderen Sprache zu machen, affirmieren würde, dass sie sich tatsächlich auf eine Bedeutung bezieht, die vom Wortlaut der einen Sprache abgetrennt werden kann. Die Lehrerin wehrt das Signifikat des Dante’schen Satzes ab: Die Rechtfertigung von Leid als Strafe Gottes erscheint ihr, jedenfalls außerhalb des Textes von Dantes Inferno, äußerst zweifelhaft. Ohne Übersetzung bleiben der Satz und seine Bedeutung sozusagen gebunden an die Beschaffenheit einer Sprache, in der beide Begriffe, Mitleid und Frömmigkeit, mit dem gleichen Wort ausgedrückt werden können. In anderen Sprachen wäre der Satz, ohne eine Bedeutungsaufspaltung in der Übersetzung, ein leeres Paradox. Die bekannte deutsche Übersetzung der Divina Commedia von Hermann Gmelin etwa macht die Phrase in der Tat unverständlich – oder zu einem fast Beckettianischen Paradox: »Hier lebt das Mitleid, wenn es recht erstorben« (Inferno XX, 28). In einer englischen Übersetzung ist das Problem besser zu lösen, weil die Ähnlichkeit von »pity« und »piety« der Übersetzung ins Englische entgegenkommt: »In this place piety lives when pity is dead« (Dante 1984: 252). Auch Becketts Belacqua übersetzt »pietà« im letzten Teil von »Dante and the Lobster« mit den Wörtern »pity« und »piety«, verneint aber schon, während er übersetzt, die Gültigkeit der wiedergegebenen Bedeutung, indem er fragt: »Why not piety and pity both […]?« (Beckett 1993: 20). Damit übersetzt Belacqua zwar das Wort »pietà«, stellt aber zugleich die Gültigkeit von Dantes Aussage in Frage. Die religiöse Ordnung, in der gilt, dass Mitleid und Frömmigkeit einander widersprechen, kann nicht in das moderne Dublin von Becketts Belacqua übersetzt werden. Der Protagonist hat sich damit am Ende des Textes der Position seiner Lehrerin angenähert: Er interessiert sich jetzt auch für die Bedeutung des »Wortspiel[s]« (Beckett 1976: 17) und lehnt sie zugleich ab – er bemerkt beim Übersetzen der »Wörter« (vgl. Beckett 1993: 9) die Unübersetzbarkeit ihrer Bedeutung. In »Dante and the Lobster« wird das Problem des intertextuellen Bezugs auf Dante somit explizit thematisiert als ein Problem der doppelten Übersetzbarkeit: der auf der Ebene der sprachlichen Form und der des Inhalts. Bei der Übersetzung von Becketts englischem Text ins Deutsche stellen sich vorrangig Probleme der Sprachstruktur, weniger der Übertragung von verschiedenen kulturellen Zusammenhängen, wie sie sich bei der Übersetzung von Dantes religiösem, mittelalterlichen System ins sprachlich und weltanschaulich moderne Englisch stellen. Der Schluss der Erzählung Becketts aber wirft bei der Übersetzung ins Deutsche ein sprachliches Problem auf, das dem eben diskutierten Problem der Übersetzung des »pietà«-Wortspiels nahekommt. Die letzten beiden Sätze von »Dante and the Lobster« sind ähnlich konstruiert wie das Paradoxon Dantes.6 Als sich der vorher vom Protagonisten besorgte Hummer im kochenden Wasser befindet, heißt es: »Well, thought Belacqua, it’s a quick death, God help us all. It is not« (Beckett 1993: 21). Vor dem Hintergrund der Beschäftigung der Belacqua-Figur damit, dass Hummer lebendig gekocht werden, sowie 6 | Vgl. dazu auch Carey 1992: 112f.

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der Reflexion auf das sterbliche Leben überhaupt, kann »quick« doppelt verstanden werden, einerseits als »schnell«, andererseits in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes als »lebendig« (vgl. Carey 1992: 113). Der Schluss der Erzählung könnte so bedeutungsaufspaltend etwa folgendermaßen übersetzt werden: »Gut, dachte Belacqua, es ist ein schneller Tod – bei quicklebendigem Leibe, Gott helfe uns allen. Es ist kein schneller Tod.« Doch eine solche Ausformulierung der bei Beckett lediglich anklingenden Ambiguität würde, im Gegensatz zu der klärenden Bedeutungsaufspaltung in Dantes »pietà«-Vers, zu weit gehen. Dantes Wortspiel ist ein Paradoxon, das aufgelöst und religiös interpretiert werden soll, der Widerspruch zwischen Becketts »It’s a quick death« und »It is not« lebt davon, dass am Schluss der Erzählung die einfache Rundum-Verneinung stehen bleibt. Jede Konkretisierung des letzten Satzes der Erzählung kann seine Tragweite nur einschränken. Die zwei vorliegenden Übersetzungen ins Deutsche, von Elmar Tophoven und Christian Enzensberger,7 bieten hier unterschiedlich überzeugende Lösungen. Bei Christian Enzensberger endet der Text vereindeutigend mit: »Er [der Tod des Hummers] ist nicht rasch« (Beckett 1989: 20), so dass die Urverneinung von Becketts lapidarem »It is not« verloren geht. Die Lösung Tophovens dagegen, der »Eben nicht« (Beckett 1976: 20) übersetzt und so sogar das vereindeutigende Pronomen »er« vermeidet, führt durch das fast trotzige »eben« einen Ton ein, der zu Becketts charakteristischer Mischung von Negativität und Komik passt und die Allgemeinheit des »Nicht« am Ende der Erzählung beibehält. Die Doppeldeutigkeit von »quick« muss bei der Übersetzung ins Deutsche fast notwendig verloren gehen, worin sich das Problem der Übersetzung des Dante’schen »pietà«-Wortspiels spiegelt. Das Übersetztwerden des Textes in eine andere Sprache trägt damit sozusagen zu der im Text geführten Diskussion über das Thema des Übersetzens zusätzliche Argumente bei – oder regt zumindest zu weiteren Fragen an. Zwei andere Stellen in »Dante and the Lobster«, an denen die Problematik des Übersetzens thematisiert wird, werfen zugleich bei der Übersetzung ins Deutsche interessante Probleme auf. Eine falsche Schlussfolgerung Belacquas in der Konversation mit dem Verkäufer des Hummers führt dazu, dass dem Protagonisten nicht deutlich wird, dass er ein lebendiges Tier gekauft hat (vgl. Beckett 1993: 17): Belacquas intralinguale Fehlübersetzung, dass »lepping fresh« – »lepping« ist ein altes Wort und schottischer Ausdruck für »leaping« (»zappelnd«, »springend«) – bedeute, »that the lobster had very recently been killed« (ebd.). Dies wird in der Übersetzung von Tophoven zu einem Problem der Verwechslung von übertragener und konkreter Bedeutung: Er übersetzt »zappelnd«, doch der Protagonist ist so wenig darauf gefasst, dass er sein Abendessen in noch leben7 | Elmar Tophoven übersetzte nur die eine Erzählung aus More Pricks than Kicks (Beckett 1976), von Christian Enzensberger liegt eine Übersetzung des ganzen Bandes vor, die zum Teil in studentischen Arbeitsgruppen entstanden ist (vgl. Beckett 1989: Impressum). Vgl. zu dieser Übersetzung, Mehr Prügel als Flügel (Beckett 1989), Rathjen 2009.

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dem Zustand besorgen muss, dass er davon ausgeht, es sei nicht wörtlich gemeint (vgl. Beckett 1976: 16). Enzensberger versucht dagegen durch die Wortbildung »Japsnoch« (Beckett 1989: 16) wiederzugeben, dass es sich bei dem Missverständnis sozusagen um ein Übersetzungsproblem innerhalb der eigenen Sprache, zwischen verschiedenen Sprachvarianten handelt. Beide deutschen Versionen knüpfen damit an zentrale Themen des Textes an. Tophovens Version passt zu der Frage nach dem sprachlichen Ausdruck von konkreter, körperlicher Realität versus einer »nur« bildhaften, übertragenen Bedeutung. Hierauf werde ich später noch zurückkommen. Enzensbergers Variante hingegen schließt deutlicher an die Thematik des Übersetzens an. Auch an der zweiten Stelle, an der ein Übersetzungsproblem thematisiert wird, bleibt Belacqua die Lebendigkeit des Hummers verborgen, diesmal, weil er das Wort »Hummer« falsch übersetzt (vgl. Beckett 1993: 19). Das Tier ist in Packpapier eingeschlagen, deshalb ist es als konkretes Objekt abwesend und muss sprachlich benannt werden.8 Zugleich aber ist es unter der Hülle präsent, ja sogar lebendig; der Hummer hat »heimlich geatmet« (Beckett 1976: 20), wie es am Ende heißt. Indem er ihm seinen richtigen Namen verweigert, macht Belacqua, ohne es zu wissen, aus dem lebendigen Hummer einen toten Fisch. Belacqua antwortet auf die Frage der Französischlehrerin nach seinem Päckchen, dass es einen »fish« (Beckett 1993: 19) enthalte, weil – »[e]r […] das französische Wort für Hummer nicht [kannte]« (Beckett 1976: 18). Es ist anzunehmen, dass die Französischlehrerin, wenn sie erfahren hätte, dass es sich um einen Hummer handelte, gefragt hätte, ob der Hummer denn schon tot sei, da Hummer ja bekanntermaßen lebendig gekocht werden, wie Belacquas Tante den Protagonisten am Schluss auch belehrt (vgl. Beckett 1993: 21). Nimmt man Belacquas Mitleid mit dem Hummer am Ende der Geschichte ernst und geht davon aus, dass er das Tier seiner Tante nicht zum Kochen gegeben hätte, wenn er gewusst hätte, dass es noch lebendig ist, so sind die beiden Übersetzungsfehler Belacquas schuld am Tod des Hummers. Dem entspricht auch, dass der Protagonist das Tier durch die Umbenennung in »Fisch« mit Jesus in Verbindung bringt: »Fish had been good enough for Jesus Christ, Son of God, Saviour. It was good enough for Mlle Glain [die Französischlehrerin]« (ebd. 19). Belacqua nimmt damit die Opferrolle des Hummers am Ende der Erzählung, wo er durch das Wort »cruciform« (ebd. 21) auf Christus bezogen ist, vorweg.9 Das Wort »fish« aber ist an dieser Stelle aus drei Gründen falsch: Es ist nicht die richtige Bezeichnung für den tatsächlichen Hummer, es ist auch nicht das französische Wort für Fisch, und es verweist nur durch eine Rückübersetzung ins Griechische als Akronym »Ichthys« auf »Jesus Christ, Son of God, Saviour«. Wohl unabsichtlich potenziert an dieser Stelle die deutsche Übersetzung von Enzensberger die Reihe der »falschen« Worte noch einmal, indem sie durch eine Umstellung von »Heiland und Gottessohn« (Beckett 1989: 17) den eindeu8 | Vgl. dazu Neumann 1987: 293f. 9 | Vgl. zu der Hummer-Fisch-Ersetzung auch ebd. 294.

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tigen Bezug zum griechischen Akronym kappt.10 In Becketts Text ist das Fehlen sowohl des französischen als auch des griechischen Wortes insofern auffällig, als er in More Pricks than Kicks, wie erwähnt, häufig fremdsprachliche Ausdrücke verwendet. Das Fehlen des richtigen Signifikanten macht hier Belacquas Desinteresse an dem Signifikat seiner Äußerung deutlich: Ohne Notwendigkeit, denn die Französischlehrerin spricht Englisch, macht er den Hummer zum Fisch und den Fisch in einem weiteren Übersetzungsvorgang zu Jesus. Diese Übersetzung erweist sich am Ende des Textes als bedeutsam: Sprachlich hat Belacqua durch die Gleichsetzung von Hummer, Fisch und Jesus das Tier schon getötet, bevor es lebendig gekocht wird. Mit dem letzten Satz der Erzählung wird jedoch die Gültigkeit der Gleichsetzung von Hummer und Jesus verneint. Der Tod des Hummers ist eben nicht ein mit der Hilfe Gottes (vgl. Beckett 1993: 21) »rascher Tod« (Beckett 1976: 20), der erlösend wirkt. Analog zum ersten Absatz der Geschichte, wo Belacqua gar nicht versucht, die theologisch-metaphysische Erklärung, die Beatrice Dante für ein Phänomen der physischen Welt gibt, nachzuvollziehen, wird durch die lakonische Aussage »It is not« die Möglichkeit, den Tod mit Sinn zu belegen, verneint. Die metaphysische Deutung des physischen Endes, für die der Tod Jesu steht, wird als rein sprachliche Operation offengelegt, das Wort »cruciform« macht den Tod des Hummers ebenso wenig zu einer Erlösungstat wie die Aussage »It’s a quick death« an der Realität seines Sterbens – wie auch des Sterbens der »bordercreature« Mensch – etwas ändert. Vielmehr führt die sprachliche Übertragung in scheinbar höhere Gefilde, die der Protagonist mit der Bezeichnung »Fisch«/Jesus vornimmt, erst zu dem körperlichen Leid des Hummers, der letztlich deswegen lebendig im Topf der Tante landet. Die religiöse Umdeutung, die zumindest sprachlich artikulierte Frömmigkeit, verhindert hier, was Belacquas Mitleid ihm wohl diktiert hätte, nämlich den Hummer vor seinem langsamen Tod im kochenden Wasser zu bewahren. Das religiöse Symbol schiebt sich vor die körperliche Realität. Darin lässt sich eine komische Variante der Frage nach den problematisch beschönigenden Wirkungen von »Sinnstiftung« (Neumann 1987: 286) gegenüber der konkreten, leidenden Existenz sehen. Neumann, der den »Grundkonflikt zwischen Organismus und Zeichen« (ebd. 290) in Becketts Text insbesondere in der Verbindung von »Eßakt und Sprechakt« (ebd. 289) untersucht, beschreibt, wie dort die »materialen Erfahrungen in die Zeichenordnung der Kultur zurückgedrängt [werden]« (ebd. 290). Besonders bei der Hummer-Fisch-Übersetzung wird dieser Vorgang als Verfälschung der materiellen Existenz durch die überhöhende Sinngebung vorgeführt. Diese verschleiert die reale Erfahrung des sterblichen Körpers, ohne sie mildern zu können, und verdeckt die Wahrnehmung des Leids des Anderen: 10 | Auch in seiner Übersetzung von »good enough« scheint Enzensberger eher an Fisch als Speise zu denken denn an eine Bezeichnung, die »gut genug« ist. Er übersetzt: »Jesus Christus, Heiland und Gottessohn, hatte sich mit Fisch begnügt, warum sollte Mlle Glain es besser haben?« (Beckett 1989: 17f.).

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»piety and pity« (Beckett 1993: 20) schließen sich auch auf Erden aus, jedoch ohne dass dies, wie bei Dante, zu bejahen wäre. Die falsche Übersetzung des Wortes »Hummer« durch Belacqua scheint zunächst eine funktionierende Bedeutungsstiftung vorzuführen: das Tier als JesusSymbol. Dies aber wird am Ende wieder aufgehoben: Der symbolische Fisch wird zum realen leidenden und sterbenden Fleisch. Dieses Verfahren von Bedeutungsstiftung und -aufhebung (vgl. Neumann 1987: 301) kann wiederum auf die Übersetzung der Werke Becketts übertragen werden. Die Hummer-Fisch-Ersetzung steht paradigmatisch für das Problem des Übersetzens: Jede Übersetzung, auch eine möglichst fehlerlose und adäquate, führt zu einer Bedeutungsverschiebung. Andererseits aber ist die Möglichkeit des Übersetzens die Affirmation der Existenz einer Bedeutung, die, wenn auch verändert, in eine andere Sprache transferiert werden kann, kein »reines Signifikat«, aber doch ein übertragbares (vgl. ebd. 280). Damit ist Übersetzen stets von einer Gleichzeitigkeit von Scheitern und Gelingen geprägt. Becketts bekannte Definition von Kunst als »Scheitern« (Beckett/ Duthuit 1949: 24f.) beschreibt den künstlerischen Akt als paradoxes »Handeln eines Menschen, der hilflos, unfähig zu handeln, dennoch handelt« (ebd. 18f.). Dieser Auffassung des künstlerischen Schaffens entspricht das Verfahren, in den Texten Bedeutungen zu erzeugen, nur um sie wieder aufzuheben, so zum Beispiel in dem berühmten Schluss von Molloy: »Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb ›Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.‹ Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht« (Beckett 1976a: 243). Ähnlich funktioniert das Ende von »Dante and the Lobster« (vgl. Carey 1992: 115): Die im literarischen Schreiben gesetzte Bedeutung wird gleich wieder zurückgenommen. Nachdem dies für Becketts Texte generell typisch ist,11 kann man sagen, dass der Übersetzungsvorgang mit den Bedeutungsverschiebungen, die er notwendigerweise mit sich bringt, ein Verfahren ist, das für Becketts Texte als Ganzes besonders angemessen ist – wie ja auch Becketts häufige Selbstübersetzungen nahelegen. Das Übersetzen ist, in Anlehnung an Becketts Beschreibung des künstlerischen Schaffens formuliert, die Tätigkeit eines Menschen, der unfähig zu übersetzen dennoch übersetzt. So potenziert sich das in den Texten angelegte »Scheitern«, das wiederum ganz allgemein die Frage stellt nach dem Scheitern sprachlich-ästhetischer Deutungen der körperlichen Welt – und der gleichzeitigen Unvermeidlichkeit und Vielfalt solcher sich immer wieder verschiebender Deutungen. Mit der von mir gewählten Titelmetapher ausgedrückt ist das Objekt der Wahrnehmung stets nicht allein »Fleisch« – das hier für konkrete Materialität stehen soll –, sondern auch »Fisch«, das heißt gedeutete, kulturell codierte Wirklichkeit. Dass 11 | Besonders ausgereift ist das Verfahren in L’Innommable: Häufig widerspricht sich der Namenlose selbst, nimmt seine Aussagen wieder zurück oder schränkt sie ein. Die Erzählerfigur beschreibt ihr Vorgehen: »[W]ie verfahren? Mittels reiner Aporie oder aber mittels Affirmationen und Negationen, die von Fall zu Fall, oder früher oder später, entkräftet werden« (Beckett 1976b: 397).

Fisch und Fleisch – Überset zen in und von frühen Texten Becketts

das Symbol für Geistig-Religiöses in Becketts Text mit dem Wort »Fisch« auf zwei Arten wiederum konkret ist, erstens, indem es ein Tier benennt, und zweitens, indem die arbiträre Folge der Buchstaben – Ichthys – ihm erst zu seiner höheren Bedeutung verhilft, zeigt die Abhängigkeit sprachlich-geistiger Operationen von konkreter Materialität. Die »Übersetzung« der Realität in »hohe« Bedeutung ist auf die »niedrige« Körperlichkeit zurückverwiesen. Auch hier möchte ich nun noch einmal auf konkrete Probleme einer Übersetzung der Werke Becketts ins Deutsche zurückkommen und einen weiteren Text aus More Pricks than Kicks betrachten. Die Erzählung, oder vielmehr der Brief, »The Smeraldina’s Billet Doux« (Beckett 1993: 161-168) stellt – trotz des halb französischen Titels – vor allem durch deutschsprachige Elemente im englischen Text ein interessantes Problem beim Übersetzen ins Deutsche dar. Nach Becketts Biographen Deirdre Bair und James Knowlson hat der Autor mit diesem Text einen Brief seiner Kusine und damaligen Freundin Peggy Sinclair wörtlich in seinen Band von Erzählungen eingefügt.12 Man merkt dem englischen Text an, dass Becketts Kusine lange in Deutschland gelebt hatte, oder sie spielt ganz bewusst mit der Vermischung von Deutsch und Englisch: Es finden sich typisch deutsche Fehler und Stellen auf Deutsch in dem Brief. Damit gehen die beiden von diesem Text vorliegenden Übersetzungen – von Christian Enzensberger und Wolfgang Held, dem Übersetzer von Dream of Fair to Middling Women, das den Brief auch beinhaltet (Beckett 1992: 55-61) – unterschiedlich um. Held gibt den Text in fehlerhaftem, dialektal gefärbtem Deutsch wieder, wobei zwar sprachliche Komik zum Teil adäquat übersetzt wird, aber die Besonderheit der Sprachvermischung verloren geht. Enzensberger gelingt es, die Zweisprachigkeit dadurch in den deutschen Text hinüberzuretten, dass er die deutschen Elemente ins Italienische überträgt. Friedhelm Rathjen thematisiert diese Entscheidung Enzensbergers in seinem Aufsatz zu der Übersetzung von More Pricks than Kicks, der ebenfalls auf die Problematik der Übersetzung bzw. mangelnden Berücksichtigung von intertextuellen Anspielungen eingeht, die im Folgenden noch betrachtet wird. Für Enzensbergers italienische Lösung spricht demnach, dass auf diese Weise eine »in der Wirkung […] adäquate« (Rathjen 2009: 150) Übersetzung der Beckett’schen Sprachvermischung gefunden wurde. Dennoch ist es bedauerlich, dass Enzensberger auf diese Art – er ersetzt auch an anderen Stellen in More Pricks than Kicks Becketts deutsche Phrasen konsequent mit italienischen – den konkreten, ja auch biographisch vorhandenen Bezug zur deutschsprachigen Kultur und deutschen Sprache wegfallen lässt.13 Dass gerade bei der Übertragung von Becketts Texten 12 | Vgl. Bair 1990: 155 und Knowlson 1996: 148. Durch die wörtliche Übernahme eines fremden Textes wird die Vorstellung vom originalen Werk erschüttert, die auch durch Becketts Praxis der Selbstübersetzung, durch die ein doppeltes Original existiert, in Frage gestellt wird (vgl. dazu Schödel 2006: 375f.). 13 | Rathjen erwähnt diesen möglichen Einwand (Rathjen 2009: 150), hält es aber für wichtig, die »Fremdsprachenkenntnisse« (ebd.) der Figuren zu kennzeichnen, was durch

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ins Deutsche der Bezug zur deutschen Sprache, der schon in ihnen vorhanden ist, verloren geht, erscheint mir als eine wenig befriedigende Lösung. Offenbar scheut man vor Hinweisen wie »im Original Deutsch« eher zurück, um die Leser die Übersetztheit der Texte vergessen zu machen; es soll wohl das Gefühl entstehen, es würde ein Original gelesen. Doch ist dies sprachlich so hoch selbstreflexiven Texten wie denen Becketts überhaupt angemessen, Texten, die immer wieder Vorstellungen einer aus sich selbst schöpfenden Autorschaft und einmaligen Originalität in Frage stellen? In seiner eigenen Übersetzungspraxis hebt Beckett, etwa durch die Verwendung von Anglizismen im Französischen und Gallizismen im Englischen, den Zusammenhang der beiden Textversionen eher hervor.14 Den Text so als einen übersetzten zu markieren, wäre, bei sparsamer Anwendung, auch bei der Übersetzung ins Deutsche durchaus möglich. Im englischen Text von »The Smeraldina’s Billet Doux« findet sich gar ein ganzer Satz auf Deutsch, dessen intertextuelle Herkunft in Enzensbergers italienischer Version sicherlich nicht mehr erkannt werden kann: »Der Tag wird kommen und die stille NACHT!!!« (Beckett 1993: 167). Der Satz stammt aus dem Trauerspiel Des Meeres und der Liebe Wellen von Franz Grillparzer, wo Hero über der Leiche Leanders sagt: »Der Tag wird kommen und die stille Nacht, Der Lenz, der Herbst, des langen Sommers Freuden, Du aber nie, Leander, hörst du? – nie! Nie, nimmer, nimmer, nie!« (Grillparzer 1951: 77).

Durch diesen Bezug hat der hoffnungsvolle, fröhliche Liebesbrief der Smeraldina einen hoffnungslosen Unterton, der zu den vielen anderen scheiternden Liebesbeziehungen in More Pricks than Kicks passt und auch mit der Verwendung des Grillparzer-Zitates in späteren Texten Becketts korrespondiert.15 Daher wäre eine Übernahme des deutschen Satzes – mit dem Vermerk »im Original deutsch« – hier sicher angebracht. Doch die Übersetzung von intertextuellen Bezügen stellt generell eine eigene Schwierigkeit dar, insbesondere bei Texten, die mit so vielen Zitaten und Anspielungen gestaltet sind wie Becketts frühe Werke.

eine Übersetzung in Richtung einer deutsch-englischen Vermischung seines Erachtens nicht gegeben wäre, nachdem die Figuren eindeutig als englischsprachig erkennbar sind (vgl. ebd.). Dies hätte durch den Hinweis »im Original Deutsch« allerdings vermieden werden können, zumal eine Sprachmischung, auch die mit dem Englischen, ja ohnehin auf die Kenntnis von zwei Sprachen verweist. 14 | Vgl. dazu Schödel 2006: 378f. 15 | Vgl. den Hinweis auf Becketts Verwendung des Zitats in Malone meurt bei Tophoven (Tophoven 1988: 29f.). Vgl. dazu auch den Aufsatz von Marion Fries-Dieckmann in diesem Band.

Fisch und Fleisch – Überset zen in und von frühen Texten Becketts

Dieses Problem möchte ich nun abschließend anhand zweier weiterer Beispiele kurz betrachten. In »Dante and the Lobster« steht im Zusammenhang mit dem Tod des Hummers am Ende der Erzählung der Satz »Take into the air my quiet breath« (Beckett 1993: 21), bei dem es sich um ein Zitat aus dem Gedicht »Ode to a Nightingale« des englischen Romantikers John Keats handelt (Keats 1989: 352). In Keats’ Ode verbinden sich eine romantische Sehnsucht nach Auflösung des Ich und die Verneinung der Möglichkeit, dass das lyrische Ich, während die Nachtigall singt, »ohne Schmerz« (ebd. 353) einen »erleichternden Tod« (ebd. 351) sterben kann. Letzteres passt zu der Verneinung des erlösenden Todes am Ende von Becketts Erzählung. Zugleich aber hat der Bezug zu dem Gedicht eine komische Wirkung: Der zum Verzehr bestimmte, stumme Hummer wird mit der Nachtigall, dem poetischen Tier schlechthin, assoziiert. Damit ist das Zitat der Ode von Keats ein Beispiel für die oben erwähnte gleichzeitige »Übersetzung« von »Hohem« in »Niedriges« – der romantischen Todesreflexionen beim Gesang der Nachtigall in das Sterben des Hummers im Kochtopf – und von »Niedrigem« in »Hohes«: Der Tod des Hummers erhält durch die intertextuellen Bezüge eine allgemeinere Bedeutung, das Tier verkörpert das sterbliche Leben schlechthin. Sowohl Tophoven als auch Enzensberger deuten in ihren Übersetzungen die Herkunft des Satzes aus einem älteren Gedicht an: Tophoven durch Wortstellung und Rhythmus – »Nimm auf in die Luft meinen leisen Atem« (Beckett 1976: 20) – und Enzensberger durch das Wort »Odem« (Beckett 1989: 20). Vielleicht hätte man in einem Text, der so viele Zitate in fremden Originalsprachen enthält wie More Pricks than Kicks, sogar im Deutschen das englische Original beibehalten können, wodurch der intertextuelle Bezug noch stärker betont worden und die Quelle des Zitats eher auffindbar wäre. Als Grenzfall der Übersetzung intertextueller Verweise kann ein weiterer Bezug erwähnt werden, der weniger eindeutig zu belegen ist. Im Gespräch mit der Französischlehrerin in »Dante and the Lobster« bezeichnet diese den in Papier verpackten Hummer, an dem sich ihre Katze zu schaffen macht, auffälligerweise als »bag« und verwendet erst später das naheliegendere Wort »parcel« (Beckett 1993: 19). »To let the cat out of the bag« existiert im Englischen, wie im Deutschen, als geläufige idiomatische Phrase; zudem gibt es einen intertextuellen Bezug dieser Phrase, zu dem auch die Aufregung der Französischlehrerin, deren Jungfräulichkeit mehrmals betont wird (vgl. ebd.), passen würde. Im »Oxen of the Sun«-Kapitel in Joyces Ulysses heißt es: »[O]nce a woman has let the cat into the bag (an esthetic allusion, presumably, to […] the act of sexual congress) she must let it out again« (Joyce 1992: 550). Diese Anspielung wäre nicht der einzige JoyceBezug in More Pricks than Kicks.16 Tophoven und Enzensberger übersetzen »bag« als »Tüte« (vgl. Beckett 1976: 17; vgl. Beckett 1989: 17), wohingegen mit dem Wort 16 | Belacquas Mittagessen in »Dante and the Lobster«, zum Beispiel, ist eine Anspielung auf das Mittagessen Leopold Blooms (vgl. Joyce 1992: 219): Belacqua isst, wie Bloom, ein Sandwich mit Gorgonzola-Käse und Senf (vgl. Beckett 1993: 13); und der Schluss der

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»Sack« die Verbindung zur deutschen Phrase »die Katze aus dem Sack lassen« hätte hergestellt werden können und der intertextuelle sexuelle Unterton erhalten geblieben wäre. Becketts Texte sind durch die von ihnen vorliegenden Übersetzungen, die ja auch teilweise in Zusammenarbeit mit dem Autor entstanden, in die deutsche Literatur eingeschrieben. Eine Analyse »seiner« deutschen Texte ist deshalb sowohl aus übersetzungskritischer Perspektive interessant als auch für ein Verständnis von Becketts Werk, nicht nur im deutschen Kontext. Wie es hier anhand von Beispielen unternommen wurde, lässt sich dabei fragen, inwieweit »Fisch« und »Fleisch« der Texte in der Übersetzung Berücksichtigung finden: ihre konkrete, sprachliche Beschaffenheit, das »Fleisch«, und ihr »fischiger« Bedeutungsgehalt. Wie Belacquas Hummer in der »Übersetzung« als Ichthys sind die Texte »fishy«, das heißt fischartig, aber auch zweifelhaft, verdächtig, ambivalent. Daher entspricht, gerade bei Becketts frühen Werken, eine experimentelle, spielerische Übersetzung ihrem Spiel mit intertextueller Bedeutungsaufladung und der gleichzeitigen Verneinung kultureller Sinnstiftungen.

L ITER ATUR Alighieri, Dante (1984): »Inferno«, in: Ders., The Divine Comedy, aus dem Italienischen von Mark Musa, 3 Bde., New York u.a.: Penguin, Bd. 1. — (1988): Die Göttliche Komödie, Italienisch und Deutsch, übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin, 6 Bde., München: dtv. Bachtin, Michail (1985): Probleme der Poetik Dostoevskijs, aus dem Russischen von Adelheid Schramm, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein. Bair, Deirdre (1990): Samuel Beckett: A Biography, London: Vintage. Beckett, Samuel (1967): »Dante … Bruno. Vico. Joyce«, in: Ders., Auswahl in einem Band, Deutsch von Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-29. — (1972): »Dante… Bruno. Vico. Joyce«, in: Ders. et al., Our Exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress, London: Faber and Faber, S. 3-22. — (1976): »Dante und der Hummer«, aus dem Englischen von Elmar Tophoven, in: Ders., Werke, in Zusammenarbeit mit S.B., hg. von Elmar Tophoven und Klaus Birkenhauer, übertragen von Elmar Tophoven, Erika Tophoven und Erich Franzen, 10 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Bd. 10, S. 7-20. — (1976a): Molloy, aus dem Französischen von Erich Franzen, in: Ders., Werke, in Zusammenarbeit mit S.B., hg. von Elmar Tophoven und Klaus Birkenhauer,

Erzählung »A Wet Night« (vgl. ebd. 86f.) ist eine Parodie auf das Ende von Joyces Dubliners (vgl. Cohn 1962: 33f.).

Fisch und Fleisch – Überset zen in und von frühen Texten Becketts

übertragen von Elmar Tophoven, Erika Tophoven und Erich Franzen, 10 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Bd. 6. — (1976b): Der Namenlose, aus dem Französischen von Elmar Tophoven, in: Ders., Werke, in Zusammenarbeit mit S.B., hg. von Elmar Tophoven und Klaus Birkenhauer, übertragen von Elmar Tophoven, Erika Tophoven und Erich Franzen, 10 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Bd. 8. — (1989): Mehr Prügel als Flügel, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1992): Dream of Fair to Middling Women, hg. von Eoin O’Brien and Edith Fournier, Dublin: Black Cat. — (1993): More Pricks than Kicks, London: Calder. — (1996): Traum von mehr bis minder schönen Frauen, aus dem Englischen von Wolfgang Held, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beckett, Samuel/Duthuit, Georges (1949): »Three Dialogues«, in: transition fortynine 5 (1949), S. 97-103, zit.n.: Dies., »Three Dialogues. Drei Dialoge«, I und II aus dem Englischen von Dieter Mettler und Hartmut Engelhardt, III aus dem Englischen von Elmar und Erika Tophoven, in: Engelhardt, Hartmut/Mettler, Dieter (Hg.), Materialien zu Samuel Becketts Romanen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 10-27. Carey, Phyllis (1992): »Stephen Dedalus, Belacqua Shuah, and Dante’s Pietà«, in: Dies./Ed Jewinski (Hg.), Re: Joyce’n Beckett, New York: Fordham University Press, S. 104-116. Cohn, Ruby (1962): Samuel Beckett: The Comic Gamut, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press. Derrida, Jacques (1990): »Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva«, übersetzt von Dorothea Schmidt und Astrid Wintersberger, in: Engelmann, Peter (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart: Reclam, S. 140-164. Grillparzer, Franz (1951): Des Meeres und der Liebe Wellen. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Stuttgart: Reclam. Joyce, James (1992): Ulysses, London u.a.: Penguin. Keats, John (1989): »Ode to a Nightingale. Ode an eine Nachtigall«, in: Borgmeier, Raimund (Hg.), Gedichte der englischen Romantik. Englisch und Deutsch, übersetzt von Raimund Borgmeier, Stuttgart: Reclam, S. 348-353. Knowlson, James (1996): Damned to Fame. The Life of Samuel Beckett, London: Bloomsbury. Neumann, Gerhard (1987): »Inszenierung und Destruktion. Zum Problem der Intertextualität in Samuel Becketts Erzählung Dante and the Lobster«, in: Poetica 19, Heft 3-4, S. 278-301. Rathjen, Friedhelm (2009): »Dubliner Zentralklosett. Zu Christian Enzensbergers Übersetzung von Samuel Becketts Prosasammlung More Pricks than Kicks«, in: Ders., Quadratur des Kreises. Zum Übersetzen, Scheeßel: Edition ReJOYCE, S. 145-154.

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»Ich saz ûf eime Steine« Beckett, Walther und die Troubadourlyrik Thomas Hunkeler

E INLEITUNG Die eigenartige, fast phantomartige Präsenz des Walther von der Vogelweide in Becketts Werk ist von der Kritik zwar schon mehrfach erwähnt worden, eine systematische Analyse dieses intertextuellen Bezugs und seiner Bedeutung steht aber noch weitgehend aus. So wird der deutsche Minnesänger von Beckett zwar jeweils nur sehr punktuell erwähnt, fast en passant, dafür aber immer wieder – von den Anfängen bis zu den späten Prosatexten. Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Eckdaten zu Walther von der Vogelweide bei Beckett zusammengefasst werden: 1. Walther von der Vogelweide taucht ein erstes Mal in Becketts Poesie der frühen 1930er Jahre auf, genauer 1934 im Gedicht »Da Tagte Es«, dem zweitletzten Text seiner Gedichtsammlung Echo’s Bones and Other Precipitates. Wie Mark Nixon gezeigt hat, verweist der Titel von Becketts Gedicht allerdings – wie so häufig in Becketts Frühwerk – nicht auf eine direkte Leseerfahrung der Lyrik Walthers, sondern auf John G. Robertsons A History of German Literature, erstmals 1902 publiziert (Nixon 2006: 261-263). In Becketts Notizen zu Robertsons Übersicht über die Deutsche Literatur1 figuriert Walthers Gedicht allerdings nicht, wie Mark Nixon zu Recht anfügt; dafür ein Satz zum fast ebenso bekannten Minnesänger Heinrich von Morungen, der als Dichter eines »famous Tagelied with each verse closing: Da Tagte Es« vermerkt wird (zit.n. Nixon 2006: 263; Herv. i.O.). In der Tat steckt hinter Becketts Gedichttitel von 1934 wohl nicht Walther von der Vogelweides Vers »dô taget ez und muos ich wachen« aus dem Liebesgedicht »Nemt, frowe disen Kranz«, wie die Kritik in großer Einmütigkeit schreibt, sondern Heinrich von Morungens Tage- bzw. Klagelied »Owê, soll aber mir iemer

1 | Diese Notizen befinden sich heute im Trinity College Dublin, TCD MS 10971/1. Siehe Frost/Maxwell 2006: 113-123.

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mê« (O weh, soll mir denn nie mehr), dessen vier Strophen, wie Beckett richtig vermerkt, alle auf »Dô tagte ez« (wie in Becketts Titel im Imperfekt) enden. Seinen Ursprung findet der kleine, aber hartnäckige Irrtum der Kritik in der von Beckett selbst annotierten Kopie des Gedichtbandes Echo’s Bones, die sich im Harry Ransom Humanities Research Center in Austin, Texas befindet und wo Beckett selbst neben sein Gedicht »Walther von der Vogelweide« schrieb – allerdings mit einem Fragezeichen versehen (vgl. Nixon 2011: 63). Offensichtlich wusste Beckett zu jenem Zeitpunkt selbst nicht mehr genau, von wo bzw. von wem er sich den Vers ausgeliehen hatte; und offensichtlich ging es ihm mehr um eine generelle Tonalität denn um philologische Genauigkeit. Diese Erkenntnis ist insofern von Bedeutung, als Walther von der Vogelweides Präsenz in Becketts Werk sich damit nur mehr auf genau ein Syntagma beschränkt: auf das berühmte Incipit von Walthers erster Strophe im sogenannten »Reichston«: »Ich saz ûf eime Steine/und dahte bein mit beine«. Dieses Incipit hat Beckett, wie man es bei Nixon (2011: 63-64) nachlesen kann, ebenfalls in sein Notizbuch übertragen; allerdings auch hier wieder aus Robertson und nicht aus den Gesammelten Werken Walthers, die er erst Mitte November 1936 in Deutschland kaufen sollte. Und natürlich ist es auch dieses Incipit, das den berühmten Abbildungen Walthers in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (auch Codex Manesse genannt) sowie in der Weingartner Liederhandschrift zugrunde liegt, welche der kunsthistorisch versierte Beckett zweifelsohne kannte. 2. Damit ist auch schon der zweite, eher kunsthistorisch orientierte Moment von Becketts Auseinandersetzung mit Walther von der Vogelweide bezeichnet: sein Besuch, Ende Februar 1937, an Walthers Grabstätte im Lusamgärtchen, dem ehemaligen Kreuzgang des Kollegiatsstiftes Neumünster in Würzburg (vgl. Knowlson 2008). Der dort aufgestellte Gedenkstein wurde allerdings erst kurz vorher, nämlich 1930, vom Bildhauer Fried Heuler gefertigt, nachdem eine ältere Grabstätte vermutlich im 18. Jahrhundert bei Bauarbeiten beseitigt worden war. Ebenfalls wissen wir, dass Beckett bereits auf der ersten Station seiner Deutschlandreise, in Hamburg, am 14. November 1936 eine Ausgabe von Walthers Werken in Urtext und Prosaübertragung erworben hatte und nach Hause hatte schicken lassen. 3. Damit kommen wir zum dritten und bedeutendsten Moment von Becketts Auseinandersetzung mit Walther von der Vogelweide: zu der mehr oder minder expliziten und rekurrenten Wiederaufnahme des oben erwähnten Verses »Ich saz ûf eime Steine« und des damit verbundenen Bildes eines in melancholischer Positur mit gekreuzten Beinen auf einem Stein sitzenden Walthers, wie es in der Manesse-Handschrift abgebildet ist. In der Novelle Le calmant/The Calmative, dessen französisches Original Beckett 1946 verfasste, wird Walther, notabene nur unter seinem Vornamen, in genau dieser Position erwähnt; oder genauer: Der Protagonist erwähnt sich selbst in der bekannten Position Walthers, allerdings nicht auf einem Stein, sondern einer Bank: »Voyant un banc au bord du trottoir je m’y assis et croisai les jambes,

Beckett, Walther und die Troubadourlyrik

comme Walther« (Beckett 1958: 60). In der englischen Version von 1967 findet sich interessanterweise keine Bank mehr: »Seeing a stone seat by the kerb I sat down and crossed my legs, like Walther« (Beckett 1995: 71). Im 1947 verfassten Molloy findet sich eine ähnliche Passage, nun allerdings ohne die explizite Erwähnung Walthers, dafür in sehr viel detaillierterer Wiederaufnahme seiner bekannten Positur: »assis […] sur une borne, les jambes croisées, une main sur la cuisse, coude dans cette main, menton dans l’autre, yeux fixés sur la terre […]« (Beckett 1988: 170). Die dritte und meines Wissens letzte Erwähnung findet sich viele Jahre später im 1988 publizierten Stirrings Still, also einem von Becketts letzten Texten. Ich zitiere hier die englische Version: »To this end [to take thought] for want of a stone on which to sit like Walther and cross his legs the best he could do was stop dead and stand stock still which after a moment of hesitation he did and of course sink his head as one deep in meditation which after another moment of hesitation he did also« (Beckett 1995: 263). 2

Walthers Präsenz in und für Becketts Werk steht also, wie eingangs festgehalten, unter fast paradox anmutenden Vorzeichen. Einerseits scheint Walther von der Vogelweide in Becketts Werk durchaus nebensächlich, ja fast unbedeutend im Vergleich zu anderen deutschen Schriftstellern und Denkern wie etwa Goethe, Schopenhauer oder auch Grillparzer und Rilke. Andererseits aber scheint sich das Bild Walthers »auf einem Steine« mit überkreuzten Beinen fest in Becketts kulturelles Gedächtnis eingebrannt und ihn über mehr als 50 Jahre begleitet zu haben. Mehrere Kritiker, unter ihnen auch Mark Nixon, haben Becketts Wiederaufnahme von Walthers nachdenklicher Positur auf seinem Stein in Zusammenhang mit Becketts Interesse für Melancholie gestellt und daran erinnert, dass er sich 1936 mit einem (nicht erhaltenen) Buchprojekt unter dem Namen Journal of a Melancholic beschäftigte (vgl. Nixon 2011: 121-125). Auch scheint es sinnvoll, Becketts Walther neben andere Figuren in Posituren der Nachdenklichkeit, der Melancholie oder des Verzweifelns zu rücken. Man denke etwa an die Figur Belacqua, wie sie Beckett von Dante übernimmt (besonders in der Nachfolge von Botticellis Illustration der Divina Comedia), oder auch an Füsslis oder Blakes Bilder tief in sich versunkener Menschen.

Von der Lyrik der Troubadours zu Becketts arte povera Im Folgenden möchte ich aber einer anderen Spur nachgehen, die nach dem literarhistorischen Ort der Troubadourpräsenz in Becketts Werk fragt. Denn erstens 2 | Die französischsprachige Version des betreffenden Satzes befindet sich in Beckett 1989: 21-22.

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sind Walther von der Vogelweide und Heinrich von Morungen nicht die einzigen Referenzen an dieser Lyrik in Becketts Werk, und zweitens ist Beckett bei weitem nicht der einzige Modernist, der sich in den 10er, 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts für Troubadourlyrik interessiert. Es soll also im Folgenden darum gehen, Becketts Walther-Wiederaufnahme in einen weiteren kulturgeschichtlichen Rahmen zu stellen, um mögliche Gründe für Becketts Interesse an mittelalterlicher Lyrik sichtbar zu machen. Becketts Beschäftigung mit dieser Lyrik nimmt, wie so häufig bei ihm, ihren Ursprung im Unterricht. In der Tat haben die Vorlesungen seines Professors Thomas Rudmose-Brown zu provenzalischer Lyrik in Becketts Werken der frühen 1930er Jahre so manche Spuren hinterlassen: in seinem ersten Roman Dream of Fair to Middling Women, vor allem aber in den Gedichten von Echo’s Bones. Lawrence Harvey (1970: 78-98) hat in seiner grundlegenden Studie von 1970, Samuel Beckett Poet and Critic, darauf hingewiesen, wie präsent die provenzalische Lyrik in Becketts früher Dichtung ist. Thematische Elemente wie Leiden, unerfüllte und unerfüllbare Liebe sowie eine melancholische Grundtonalität hat Beckett in zum Teil explizitem Rückgriff auf provenzalische Modelle in seine frühen Gedichte eingearbeitet. Im sogenannten »Dream« Notebook, einem Notizbuch aus den frühen 1930er Jahren, hat Beckett einige Exzerpte aus Jean Becks 1910 erstmals erschienener Studie La musique des troubadours notiert, unter anderem den Begriff des »trobar clus« (hermetische Dichtung), eine Liste von provenzalischen Gedichtformen sowie einen Ausschnitt aus der berühmten vida Jaufré Rudels, Dichter der »amor de lonh« (Liebe aus der Ferne). Das kopierte Zitat lautet: »fetz de lieis mains bons vers ab bons sons ab paubres motz« (zu Deutsch etwa: »er verfasste für sie viele gute Gedichte mit guten Melodien und einfachen – wörtlich: armen – Worten«) (Beckett 1999: 72-73 sowie Pilling 1998: 11-12). Diese knappen, unkommentierten Ausschnitte aus Becks Studie lassen meines Erachtens bereits ein interessantes Spannungsfeld für Becketts frühe ars poetica erkennen, die zwischen einem von Joyce inspirierten Hermetismus und dem Wunsch nach Einfachheit, sozusagen einer »arte povera« avant la lettre oszilliert. Die provenzalische Lyrik nimmt in diesem Spannungsfeld eine interessante Position ein. Das sogenannte »trobar clus«, das verschlossene bzw. hermetische Dichten, unterscheidet sich nämlich sowohl vom »trobar leu« genannten einfachen Stil als auch vom sogenannten »trobar ric«, dem formal und stilistisch reichhaltigen, rhetorisch beladenen Dichten. Insofern kann das Prinzip des »trobar clus« also sehr wohl als gangbarer Weg verstanden werden: als eine Kunst, die – um einen anderen Satz Becketts aus jener Zeit aufzugreifen – zugleich »gänzlich verständlich und gänzlich unerklärlich« (»perfectly intelligible and perfectly inexplicable«) sei. Dieser Ausdruck figuriert sowohl in Becketts ProustEssay von 1930 als auch, auf Französisch, im Vortrag »Le concentrisme«, den Beckett im gleichen Jahr zu seinem Alter Ego Jean du Chas hielt (Beckett 1987: 92 und 1983: 42). Die meisten der in die Sammlung Echo’s Bones eingegangenen Gedichte –

Beckett, Walther und die Troubadourlyrik

von denen nicht weniger als sieben im Titel auf die Troubadourlyrik bzw. den Minnesang anspielen – dürften allerdings eher als »gänzlich unerklärlich« denn als »gänzlich verständlich« gelten. Mit ihrer Fülle von intertextuellen Verweisen und gelehrten Anspielungen sind etwa die beiden »Enueg« sowie die drei »Serena« (Klagelieder) noch stark jener Ästhetik verpflichtet, die der junge Beckett aus Joyces Finnegans Wake übernimmt und in seinem Essay »Dante… Bruno.Vico..Joyce« beschreibt. Anders aber steht es mit den Gedichten »Alba« und »Da Tagte Es« sowie »The Vulture« und »Echo’s Bones«. In diesen Texten, die schon auf Becketts späteres Schreiben verweisen, sucht der Dichter durch einfache Worte jene »sinnliche unordentliche Kunst des Auffassens« (»sensuous untidy art of intellection«) zu erzeugen, die er bei Joyce zu finden glaubt; jenes ganzheitliche Erfassen (»apprehension«), das er einem rein intellektuellen Verstehen (»comprehension«) jederzeit vorzieht (Beckett 1983: 27-28). Die mittelalterliche Lyrik darf für diese Art des Schreibens durchaus als Modell gelten; nicht nur aus den genannten stilistischen Gründen, sondern auch, weil bereits die Sprache, in der Beckett sie in seine eigenen Texte übernimmt – okzitanisch bzw. mittelhochdeutsch – für den modernen (englischsprachigen) Leser nicht immer einfach verständlich ist. Der Prozess der Verfremdung, den Beckett durch den wörtlichen Rückbezug auf die okzitanische und deutsche Troubadour- und Minnedichtung in seiner Poesie auslöst, hält potenzielle Leser zunächst einmal auf Distanz; in einem zweiten Moment aber hat er zum Ziel, den herkömmlichen intellektuellen Verstehensprozess durch ein sinnliches Erfassen des Gedichts zu ersetzen und dadurch im Gegenteil Nähe zu produzieren.

Von der Provence nach Irland Dieses Spiel zwischen Distanz und Nähe scheint mir charakteristisch für Becketts frühen Stil, auch was die autobiographische Dimension seines Schreibens anbelangt. Denn die provenzalische Tradition der unerfüllbaren Liebe hat bei Beckett stets auch eine sehr persönliche Dimension. So steht »Alba«, das Tagelied, auch als Chiffre für Becketts Jugendliebe Ethna MacCarthy – einerseits wegen der platonischen Liebesbeziehung zwischen ihr und Beckett, andererseits aber auch wegen Ethnas Interesse für provenzalische Lyrik. Noch im Januar 1936, lange nach seinem Abschied von Trinity College, half Beckett Ethna bei ihren Vorbereitungen für eine Vorlesung zu provenzalischer Poesie, die sie zu jener Zeit anstelle des aus gesundheitlichen Gründen dispensierten Professors Rudmose-Brown gab. Wie wir aus einem Brief Becketts an McGreevy (Beckett 2009: 303-311) wissen, war Beckett ihr zu jener Zeit dabei behilflich, die moderne provenzalische Lyrik der Félibrige-Dichter zu lesen – einer regionalistisch orientierten Bewegung zur Wiedergeburt der okzitanischen Kultur, zu der neben Frédéric Mistral, dem Literaturnobelpreisträger von 1904, auch Joseph Roumanille und Théodore Aubanel gehörten. Letzterer scheint Beckett am besten gefallen zu haben. Die Hauptquelle für Becketts Lektüre war offensichtlich Gaston Paris’ Penseurs et poètes von

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1896, angereichert mit Exzerpten aus der Encyclopaedia Britannica, wie aus seinen ebenfalls erhaltenen Notizen hervorgeht.3 Auch Becketts Gedicht »Da Tagte Es« von 1934 muss vor dem Hintergrund einer unglücklichen Liebeserfahrung gelesen werden, diesmal allerdings in Deutschland. Es erinnert an seine unglückliche Liebe zu Peggy Sinclair, die im Jahr zuvor gestorben war. Es ist übrigens durchaus aufschlussreich, dass sowohl Ethna als auch Peggy nicht nur in Echo’s Bones, sondern auch in Krapp’s Last Tape von 1958 wieder auftauchen, wie James Knowlson (1996: 442-443) in seiner Biographie gezeigt hat. Doch nicht nur aus biographischen Gründen ist es aufschlussreich, noch einmal auf Becketts Beschäftigung mit der Félibrige-Bewegung zurückzukommen, die ja aus irischer Sicht nicht ganz unbelastet ist. So schreibt Beckett im Februar 1936, offensichtlich als Antwort auf einen nicht erhaltenen Brief seines Freundes McGreevy: »Parallel by the way between Felibres & Gaels very exact« und fügt, in Anspielung auf Mistrals Bewegung, bei: »I wonder what is the present state of ›notre beau parler de Saint-Remi‹« (Beckett 2009: 312). Nun wissen wir aus Becketts Aufsatz zu »Recent Irish Poetry« von 1934, den er unter dem Pseudonym Andrew Belis publizierte, wie viel bzw. wie wenig er von der Idee eines gälisch-irischen Revivals und dessen poetischer Umsetzung hielt. Nur Spott hat er übrig für jene als »antiquarians« bezeichneten Dichter, die mit der hochmütigen Selbstgefälligkeit des Victorianischen Gälen ossianisches Dichtgut zum Besten geben (vgl. Beckett 1983: 70-76). Für Beckett darf der Rückbezug auf die mittelalterliche Lyrik daher keinesfalls mit jener romantisch verbrämten Mittelaltermode gleichgesetzt werden, wie sie im neunzehnten Jahrhundert in ganz Europa gepflegt wurde und im sogenannten »style troubadour« in der Malerei und Architektur ihren Niederschlag fand. Auch in der Literatur – man denke etwa an Verlaines Portrait als Troubadour (1868) – hat die idealisierte und antikisierende Troubadourästhetik im Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts durchaus ihre Anhänger, wie etwa Remy de Gourmont, und auch der von Beckett geschätzte Rimbaud lässt sich in Gedichten wie »Chanson de la plus haute tour« oder »Ô saisons, ô châteaux« von mittelalterlich anmutenden Themen, Formen und Klängen inspirieren.

Mittelalterliche Lyrik und Modernismus bei Pound und Beckett Mit der Nennung Rimbauds stellt sich nun aber auch die Frage, inwiefern der Modernismus selbst sich von der Troubadourlyrik hat beeinflussen lassen. In diesem Zusammenhang ist es durchaus sinnvoll, Becketts Rückgriff auf die mittelalterliche Lyrik mit jenem eines Ezra Pound zu vergleichen. Als Ausgangspunkt dazu soll eine weitere Rezension Becketts dienen, die ebenfalls 1934 unter dem 3 | Zu Becketts Notizen zu Frédéric Mistral und den Félibrige-Dichtern siehe Frost und Maxwell 2006.

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spöttischen Titel »Ex Cathezra« (Beckett 1983: 77-79) erschien. Die Rezension war einer Sammlung von Essays gewidmet, die Pound unter dem provokativen Titel Make It New im gleichen Jahr veröffentlicht hatte. Gleich mehrere der in diesem Band versammelten, zum Teil schon weit früher erschienenen Aufsätze beschäftigen sich mit mittelalterlicher Literatur, namentlich mit den Werken von Guido Cavalcanti und Arnaut Daniel, deren Gedichte Pound bekanntlich ins Englische übersetzt hatte (vgl. McDougal 1972). Besonders interessieren soll uns aber hier Pounds Aufsatz unter dem Titel »Troubadours – their sorts and conditions«, der ursprünglich bereits 1913 erschienen war. Wie der Titel schon anzeigt, handelt es sich bei Pounds Aufsatz weniger um einen literaturkritischen Text als um eine Einführung in das Leben und Werk der provenzalischen Dichter, wobei alternierend Ausschnitte aus den sogenannten vidas der Troubadours und aus deren Poesie zitiert bzw. paraphrasiert werden. Der Slogan des »Make it new« – »it« bezieht sich generell auf die dichterische Tradition Europas – steht bei Pound am Anfang einer Rückbesinnung auf die Wurzeln der modernen Lyrik: »[If] we are to understand that part of our civilization which is the art of verse, we must begin at the root, and that root is medieval« (Pound 1934: 33). Pounds Annäherung an die mittelalterliche Troubadourlyrik – seine Suche nach »emotional, as well as intellectual, acquaintance« (ebd. 24), wie er sagt – besteht darin, die alten Texte im wörtlichen Sinn wieder aufleben zu lassen, indem man sie zitiert oder übersetzt oder auch, indem man sie – bzw. sich – imaginär in ihren Produktionskontext zurückversetzt. Pound schreibt einleitend: »No student of the period can doubt that the involved forms, and the veiled meanings in the ›trobar clus‹, grew out of living conditions, and that these songs played a very real part in love intrigue and in the intrigue preceding warfare« (ebd.).

Oder aber man hört die Gedichte mit ihrer damaligen Musikbegleitung. Ich zitiere nochmals, und diese Passage scheint mir für uns doch recht interessant: »Or he may try listening to the words with the music, for, thanks to Jean Beck and others, it is now possible to hear the old tunes« (ebd.). Dieser Satz lässt Beckett-Leser in zweifacher Hinsicht aufhorchen. Einerseits, weil er möglicherweise Beckett auf die Spur von Jean Becks Werk gebracht hat (sofern Beckett Pounds Aufsatz bereits vor dessen Wiederaufnahme in Make It New gelesen hatte); vor allem aber, weil er gleich mehrere spätere Beckett-Titel anklingen lässt: »Words and Music«, aber auch »The Old Tune«. In seiner Rezension von Pounds Buch pflegt Beckett allerdings, wie schon erwähnt, einen eher spöttisch-herablassenden Ton – kein Wunder, wenn man weiß, dass das einzige Treffen der beiden 1929 im Kreis um Joyce sich denkbar unglücklich abgespielt hatte. Noch viele Jahre später sollte sich Beckett an Pounds aggressives und verächtliches Verhalten ihm gegenüber erinnern.4 Umso interes4 | Vgl. Bair 1991: 126-127; Cronin 1996: 112; Atik 2003: 118.

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santer ist allerdings Becketts Meinung zu Pounds Troubadouressay, den er ganz offensichtlich nicht uninteressant findet: »The opening essay has a penetrating account of the deterioration of Provençal poetry after the crusade of [1208]. 5 This would have been the very place for a pronunciamento on that most fascinating question, the Minne modification of amour courtois, but it cannot have seemed to Mr Pound at the time. Heinrich von Morungen is invoked in a much later context, his famous Tagelied coming as a great relief after lashings of [Jammes] 6« (Beckett 1983: 77).

Der Aspekt, den Beckett in Pounds Essay am meisten hervorhebt, ist jener des Weiterlebens der Troubadourpoetik nach dem Katharer-Kreuzzug von 1208. Pound sieht in der Tat nach 1208 eine gewisse Neuorientierung der provenzalischen Poetik, die er in drei Traditionen zusammenfasst: »The three devices tried for poetic restoration in the early thirteenth century were the three usual devices. Certain men turned to talking art and aesthetics and attempted to dress up the folk-song. Certain men tried to make verse more engaging by stuffing it with an intellectual and argumentative content. Certain men turned to social satire« (Pound 1934: 34).

Doch die Frage, die Beckett wirklich interessiert, jene »most fascinating question«, wie er schreibt, bringt uns nun zum Verhältnis zwischen Troubadourlyrik und Minnesang zurück: nämlich das Problem, das Beckett elliptisch als die »Minne modification of amour courtois« bezeichnet, und das von Pound nicht beantwortet worden sei. Was genau meint Beckett damit? Abschließend kann ich hier nur über diese Frage spekulieren, da Beckett meines Wissens diese Idee nirgends ausgeführt hat. Wenn man Heinrich von Morungens Tagelied als Beleg einer solchen Veränderung nimmt, wie Becketts Kommentar es nahelegt, ist es denkbar, dass Beckett hier an den Übergang von einer stark idealisierten, platonisch überhöhten und asymmetrischen Liebeskonzeption der fin’amor bzw. der amour courtois, wie sie die Troubadourlyrik des 11. und 12. Jahrhunderts vor dem Katharerkreuzzug prägt – und wie sie etwa Denis de Rougemont in seinem berühmten, aber wissenschaftlich umstrittenen Buch zu L’amour et l’occident beschreibt – hin zu einem weniger überhöhten, in Anführungszeichen »unadligen« Liebes- und Poesiebegriff denkt. So liest man etwa auch in Robertsons History of German Literature, Walther habe die halbprovenzalische Kunst seiner Vorgänger zwar beherrscht, sie aber in einem zweiten Schritt 5 | Nicht 1298, wie man in Disjecta fälschlicherweise liest. 6 | Nicht James, wie man in Disjecta liest. Der Bezug geht hier auf den Essay »French Poets« in Make It New, in dem unter anderem Francis Jammes’ Gedichte vorgestellt werden und – nicht unbedingt zu ihrem Vorteil – mit Heinrich von Morungens oben erwähntem Klagelied verglichen werden (Pound 1934: 202).

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zerstört, um anstelle einer aristokratischen Kunst eine neue Nationalkunst zu setzen. Und Robertson fährt fort: »Not only is he great enough as a lyric poet to rise above the conditions imposed upon him by his time, but his best lyrics are in such intimate touch with nature, they have broken so completely with all purely literary traditions, that he speaks to the modern world almost as a contemporary« (Robertson 1902: 126-127).

Die Kritik hat in der Tat lange in Walter von der Vogelweides Minnesang eine neue Form des Dichtens, eine sogenannte »niedere Minne« gesehen, in der eine neue, gegenseitige Liebesbeziehung besungen wird, so wie das ja auch in Heinrich von Morungens Tagelied der Fall ist, obwohl dieser Dichter eigentlich eher der »hohen Minne« zugerechnet wird.7 Auch in diesem Kontext steht also »Walther«, wie Beckett ihn familiär-freundlich zu nennen pflegt, für einen einfachen, ungekünstelten Stil, wie Beckett ihn in einem anderen seiner frühen Gedichte, in »Casket of Pralinen for a Daughter of a Dissipated Mandarin« 8, folgendermaßen anklingen lässt: »Oh I am ashamed of all clumsy artistry I am ashamed of presuming to arrange words of everything but the ingenuous fibres that suffer honestly« (Beckett 2012: 236). 9

Auch hier, in diesem wiederum unter deutschen Vorzeichen stehenden Gedicht – darauf verweist das deutsche Wort »Pralinen« sowie die Tochter des Mandarin, in der man durchaus Peggy Sinclair erkennen darf – 10 bringt Beckett die deutsche Kultur mit einer ungekünstelten, authentischen Dichtung in Verbindung – so wie auch Walther von der Vogelweide in seinem Werk für eine einfache Haltung des stillen, in sich selbst versunkenen Leidens steht. An die Stelle des »trobar 7 | Gerade die gegenteilige Lesart ist allerdings nicht ganz auszuschließen, wenn man einer anderen Passage bei Robertson (1902: 116) folgt, in der der (hohe) deutsche Minnesang als Spiritualisierung und Idealisierung der laut Robertson eher persönlich geprägten Troubadourlyrik interpretiert wird. 8 | Das Gedicht erschien erstmals 1931 in The European Caravan. Es ist abgedruckt in Harvey 1970: 278ff. 9 | Die hier zitierte Version des Gedichts ist die Originalversion in ihrer ersten Veröffentlichung in The European Caravan. Eine weitere Version aus den Leventhal-Papieren ist zum ersten Mal 2012 erschienen in The Collected Poems of Samuel Beckett (vgl. Beckett 2012: 32-34). 10 | Vgl. Knowlson 1996: 149, der im Mandarin aus Dream of Fair to Middling Women Peggys Vater Boss Sinclair erkennt.

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clus«, des hermetisch-verschlossenen Dichtens der Troubadours, wie es etwa Ezra Pound wiederaufzunehmen sucht, tritt damit bei Beckett unter dem Vorzeichen von Walther, aber auch von Heinrich von Morungen, langsam aber sicher eine neue Dichtung der Einfachheit, wie er sie später in seiner Nachkriegsprosa pflegen wird. »Da tagte es«: Auch in diesem Sinne steht der deutsche Minnesang ganz am Anfang von Becketts Schaffen.

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II. Was wo: Samuel Beckett und die deutsche Kultur

Beckett, Kant und Kognition »Kritik des reinen Quatsches« Dirk Van Hulle

Samuel Becketts Zugang zum notorisch schwierigen Werk Immanuel Kants war ein allmählicher und könnte beschrieben werden als eine langsame Bewegung der Umgehung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben verschiedene Studien1 zu einer Erfassung dieser allmählichen Umgehung beigetragen. Im folgenden Essay soll Becketts Faszination mit Kants Auffassung von der Vernunft in Verbindung gebracht werden mit jüngsten erkenntnistheoretischen Entwicklungen sowie mit Becketts Interesse an den Vorgängen des Geistes. Diese Verbindung soll beleuchtet werden durch die Betrachtung von Becketts Lesenotizen und Marginalien in seiner Ausgabe Immanuel Kants Werke, allen voran Becketts Notiz »Kritik des reinen Quatsches«.

V ERMESSUNG DES K ANTISCHEN G EL ÄNDES Die Notiz »Kritik des reinen Quatsches« in Becketts »Whoroscope« Notebook (UoR MS 3000, 22r) könnte beliebig interpretiert werden als Plan eines größeren literarischen Unterfangens bis hin zu einer lediglich scherzhaften Reaktion auf Kants Philosophie. Als Beckett seine Notiz vornahm, hatte er wahrscheinlich Kants Kritik selbst noch nicht gelesen und kannte lediglich Zusammenfassungen in Texten zur Geschichte der Philosophie, wie etwa die von Wilhelm Windelband.2 Dreizehn Seiten später in Becketts Notizbuch vollzieht eine weitere Anmerkung eine ähnliche Verzerrung Kants erster Kritik: »der Krit[z]el der reinen Vernunft [etc]« (35r). Diese zweite Anmerkung zu Kant wurde wahrscheinlich niedergeschrieben, während Beckett sich in Deutschland aufhielt. Sie ist die erste Eintragung auf Seite 35r, geschrieben in derselben blauen Tinte wie die Eintragungen 1 | Vgl. Pilling 1992; Murphy 1994; Feldman 2006; Murphy 2011; Rabaté 2011. 2 | Für eine ausführliche Betrachtung von Becketts Notizen zu Kant, welche er im Jahre 1933 zu Windelbands A History of Philosophy im British Museum vornahm, vgl. Feldman 2006 sowie Rabaté 2011.

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auf der unteren Hälfte der vorigen Seite (34r), neben die Beckett geschrieben hat: »Germany, 2/10/36« (33v). Diese Kantischen Kritzeleien könnten auf eine kritische Distanz hinweisen, die korrespondieren würde zu dem, was P.J. Murphy einen postkantischen Zugang nennt: »Beckett read Kant in two distinct ways: the first might be termed ›post-Kantian‹ insofar as it pursues a historic-contextualist approach that goes against Kant’s own fundamental principle of philosophy as a supratemporal activity […]. The second way in which Beckett read Kant might be termed ›neo-Kantian‹ in that it is predicated upon a careful study of Kantian principles and proceeds toward a series of innovative and imaginative speculations of Beckett’s own devising« (Murphy 2011: 207).

Trotz Becketts kritischer Distanz deuten frühe Notizen im »Whoroscope« Notebook auf Becketts Faszination für anspruchsvolle philosophische Arbeiten, und gewissermaßen bereiten sie schon die Ankunft der elf bändigen Reihe von Kants Werken im Beckett’schen Haushalt vor, die nach seiner Deutschlandreise dort eintreffen werden. Im Vergleich zu anderen Büchern, die Beckett gelesen hat, ist der Kontext seiner Leseerfahrungen mit Kant relativ gut dokumentiert.3 Am 5. Januar 1938 schreibt Beckett an Thomas MacGreevy: »The entire works of Kant arrived from Munich« (Beckett 2009a: 581). Beckett meint hier eben jene elf Bände Immanuel Kants Werke, herausgegeben von Ernst Cassirer und publiziert von Bruno Cassirer in Berlin (1921-22). Beckett schreibt weiter: »I haven’t had time to open them, two immense parcels that I could hardly carry from customs to taxi« (ebd.). Kaum hatte er die Sendung ausgepackt und begonnen in den Werken zu blättern, wurde seine Lektüre unterbrochen durch die Messerattacke am folgenden Tag. Nach seiner Genesung nahm Beckett seine Lektüre von Kants Werken wieder auf, doch nur der letzte Band weist Spuren einer intensiven Lektüre von Anfang bis Ende auf. Dieser elfte Band der Werkausgabe beinhaltet keinen von Kants eigenen Texten, sondern stellt Ernst Cassirers Einführung »Kants Leben und Lehre« dar. Beckett bemerkte nicht nur einiges am Rand des Textes, sondern nahm auch eine Reihe von Lesenotizen in seinem »Whoroscope« Notebook vor. So zum Beispiel: »Bacon’s ›De nobis nobis ipsis silemus‹ taken by Kant as epigraph to KRITIK der R.V.« (UoR MS 3000, 44r).4 Auf Seite 49r des »Whoroscope« Notebooks (direkt nach den ersten Exzerpten aus Fritz Mauthners Beiträge zu 3 | Vgl. Pilling 2005; Van Hulle/Nixon 2013. 4 | Am 12. Mai 1938 schrieb Beckett an Arland Ussher: »I read nothing and write nothing, unless it is Kant (de nobis ipsis silemus) and French anacreontics« (Beckett 2009a: 622). Der lateinische Satz in Klammern ist die erste Passage, die Beckett in Band XI markierte: »Das Wort ›De nobis ipsis silemus‹, das er aus Bacon entnimmt, um es der ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Motto voranzusetzen, tritt nun mehr und mehr in Kraft« (Cassirer in Kant 1921-1922, XI: 5). Dasselbe Motto notierte Beckett am Ende des ersten der zwei Notiz-

Beckett, Kant und Kognition: »Kritik des reinen Quatsches«

einer Kritik der Sprache, III. 615-616; UoR MS 3000, 46r; 47r-48r) machte Beckett weitere Notizen zu Cassirer. Auf Seite 140 von Cassirers Analyse notierte Beckett im linken Rand: »The what of object [&] the how of judgment«; die Notiz korrespondiert mit der Passage »Wenn alle vorhergehende Metaphysik mit dem ›Was‹ des Gegenstandes begonnen hatte, so beginnt Kant mit dem ›Wie des Gegenstandsurteils‹« (Cassirer in Kant 1921-1922, XI: 140). Hierzu zitiert Cassirer eine Passage aus der Kritik der reinen Vernunft: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (zit.n. ebd.).

Die dazugehörige Fußnote bezieht sich auf Band III, Seite 49, wo dieselbe Passage im Rand von Beckett markiert und unterstrichen wurde. Beckett exzerpierte diese Passage zwei Mal in sein »Whoroscope« Notebook (auf den Seiten 65r und 133v). Dieses wiederholte Markieren und sorgfältige Kopieren derselben Passage deutet hin auf Becketts Interesse an Kants Beharren auf der Idee der »Erkenntnisart«, welche eng verbunden ist mit den Konzepten »Selbstbewusstsein« und »Erfahrung« in einigen weiteren Passagen, welchen ebenfalls Becketts Aufmerksamkeit galt. Beckett schien vorgesehen zu haben, Kants Werke intensiv zu studieren, und er exzerpierte lange Teile der Einleitung von Band III der Kritik der reinen Vernunft. Das obige Zitat stellt das dritte und letzte Exzerpt der Seiten 133v bis 135r des »Whoroscope« Notebooks dar und korrespondiert mit den Seiten 40, 45-46 sowie 49 der Einleitung. Beckett drang weiter vor in die Kritik der reinen Vernunft, doch nicht sehr weit: Er markierte lediglich eine einzige Passage des Abschnitts »§18 Was objektive Einheit des Selbstbewusstseins sei«: »Die transszendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heisst darum objektiv und muss von der subjektiven Einheit des Bewusstseins unterschieden werden, die eine Bestimmung des inneren Sinnes ist […]« (Kant 1921-1922, III: 119).

Apperzeption und Erfahrung sind ebenfalls wichtig in Cassirers Text. Auf Seite 97 markierte Beckett eine Passage zur Tiefe der Erfahrung, welche korrespondiert mit seinem Exzerpt am Ende der Seite 51v im »Whoroscope« Notebook:

bücher, die das Manuskript von L’Innommable umfassen (HRC SB, Box 3, Folder 10), und er integrierte das Motto in den Text von L’Innommable auf Seite 44v desselben Notizbuches.

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Dirk Van Hulle »das fruchtbare Bathos der Erfahrung (Kant) _________ Bathos = deep (Gr.) !« (UoR MS 3000, 51v; zit.n. Pilling 2005: 45).

An sich ist es vermutlich unbedeutend, dass das 31. Addendum zu Watt (»das fruchtbare Bathos der Erfahrung«) wohl nicht direkt auf Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können zurückzuführen ist (vgl. Ackerley 2005: 215) und dass es lediglich indirekt zur Aufnahme in Watt führte, durch die Mediation von Cassirer. Bedeutend jedoch ist der direkte Kontext der Passage in Cassirers Text, auf den das Addendum zurückzuführen ist. Cassirer expliziert nicht nur die Bedeutung von »Bathos« als »Tiefe«, sondern erklärt zudem, wie Kant zunehmend feststellt, dass seine Tiefe der Erfahrung auf etwas auf baut, das nicht im sinnlichen Empfinden begründet ist. »So nimmt auch dort, wo Kant sich durch Hume zum Kampfe gegen die Metaphysik und zur Bestreitung jeglicher ›Transszendenz‹ angeregt fühlt, sein Gedanke alsbald Hume gegenüber eine neue und selbständige Wendung; denn je reiner er sich nunmehr bestrebt, sich ausschliesslich innerhalb des ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ zu halten, um so deutlicher wird ihm zugleich, dass diese Tiefe der Erfahrung selbst in einem Moment gegründet ist, das nicht in der sinnlichen Empfindung als solcher, sondern im mathematischen Begriff wurzelt. So führt gerade die schärfere Erfassung des Erfahrungsbegriffs selbst dazu hin, die verschiedenen Bedingungen, auf denen er beruht, genauer zu unterscheiden und sie ihrer spezifischen Geltung nach gegeneinander abzugrenzen« (Cassirer in Kant 1921-1922, XI: 97; Unterstreichung nach Beckett).

Kants »schärfere Erfassung des Erfahrungsbegriffs« wird weiter ausgeführt in Cassirers Anmerkung zu Kants Andeutung, »dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind« (ebd. 208). Beckett markierte diese Passage am Rand durch ein Ausrufezeichen und übersetzte sie in seinem »Whoroscope« Notebook, wo er drei Ausrufezeichen anführt: »Kant’s [proof] that the conditions of the possibility of experience can also [be] the conditions of the possibility of the objects of experience!!!« (UoR MS3000, 59r). P.J. Murphy weist hin auf diese wichtige Notiz als ein Indikator für Becketts neokantische Interpretation (vgl. Murphy 2011: 203).

Kant und Kognition Die Passagen, die Becketts Interesse weckten, besitzen alle eine kognitive Dimension; zehn Seiten später in Cassirers Text beispielsweise merkte Beckett am Rand an: »Vernunft/Verstand« (Beckett in Kant 1921-1922, XI: 218). Cassirer zitiert eine Passage aus der Kritik der reinen Vernunft (Kant 1921-1922, III: 250), wo Kant den Unterschied zwischen »Vernunft« und »Verstand« definiert:

Beckett, Kant und Kognition: »Kritik des reinen Quatsches« »Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heissen mag und von ganz anderer Art ist als sie von dem Verstand geleistet werden kann« (Cassirer in Kant 1921-1922, XI: 218).

Später paraphrasiert Cassirer wie folgt: »Die Kategorien des Verstandes sind sämtlich nur Mittel, uns von einem Bedingten zum anderen zu führen, während der transszendentale Vernunftbegriff jederzeit auf die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen geht« (ebd. 218).

Zumindest ein Teil von Becketts Interesse an Kant bezieht diese kognitive Dimension von Kants Philosophie mit ein. »Vernunft« ist schließlich jenes Element, welches Beckett durch »Quatsch« ersetzt: »Kritik des reinen Quatsches«. Später, im »Whoroscope« Notebook, fungiert »Quatsch« als das Gegenteil von »Kunst« (engl. »art«): »Art: ›Zweckmässigkeit ohne Zweck‹/(Kant) Quatsch: ›Zweck ohne Zweckmässigkeit‹/(?)« (UoR MS 3000, 60r)

Die erste Zeile basiert auf Cassirers Analyse von Kants wichtigem Konzept: »Auch der Gedanke der ›Zweckmässigkeit ohne Zweck‹, durch den Kant das Gesamtgebiet des Ästhetischen bezeichnet und umgrenzt, ist jetzt der letzten Paradoxie, die ihm etwa noch anhaftete, entkleidet. Denn Zweckmässigkeit bedeutet, wie sich gezeigt hat, nichts anderes, als die individuelle Formung, die eine Gesamtgestalt in sich selbst und ihrem Aufbau aufweist, während der Zweck die äusserliche Bestimmung meint, die ihr zugewiesen wird. Ein zweckmässiges Gebilde hat seinen Schwerpunkt in sich, ein zweckhaftes hat ihn ausser sich; der Wert des einen ruht in seinem Bestand, der des anderen in seinen Folgen« (Cassirer in Kant 1921, XI: 334).

Zum Ende von Cassirers Text zeigen einige von Becketts Annotationen einen wachsenden Enthusiasmus betreffend Kants ästhetische Reflexionen. Zur Erklärung der Idee von »subjektive Allgemeinheit« (ebd. 340; unterstrichen von Beckett), zitiert Cassirer zunächst eine lange Passage aus Kants Kritik der Urteilskraft, §7 (Kant 1921-1922, V: 281-282), neben die zwei große Ausrufungszeichen in Bleistift an den Rand gezeichnet wurden: »Es wäre lächerlich, wenn jemand, der sich auf seinen Geschmack etwas einbildete, sich damit zu rechtfertigen gedächte: dieser Gegenstand […] ist für mich schön. Denn er muss

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Dirk Van Hulle es nicht schön nennen, wenn es bloss ihm gefällt. Reiz und Annehmlichkeit mag für ihn vieles haben, darum bekümmert sich niemand; wenn er aber etwas für schön ausgibt, so mutet er andern eben dasselbe Wohlgefallen zu: er urteilt nicht bloss für sich, sondern für jedermann und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge« (zit.n. Kant 1921-1922, XI: 339).

Becketts Faszination für diese Passage über die Beurteilung von Kunst ist kaum überraschend, wenn man sein jähes Interesse für die Kunst in Betracht zieht und sich zu Bewusstsein ruft, dass sein Hauptinteresse der Kultur galt, während er von 1936-1937 durch Deutschland reiste. Seine Auffassung von Cézannes Bildern ist besonders aufschlussreich. Am 8. September 1934 schrieb er an Thomas MacGreevy: »Cézanne seems to have been the first to see landscape & state it as material of a strictly peculiar order, incommensurable with all human expressions whatsoever. Atomistic landscape with no velleities of vitalism, landscape with personality à la rigueur, but personality in its own terms, not in Pelman’s, landscapality« (Beckett 2009a: 222; Herv. i.O.).

Der Ausdruck »landscape with no velleities«, den Beckett kontrastiert mit »anthropomorphized landscape« vieler anderer Maler, scheint auf einen Aspekt der Kantischen Philosophie hinzudeuten, den Beckett 1934 vielleicht noch nicht vollkommen wahrnahm, jedoch später in der Lektüre von Cassirer entdeckt zu haben scheint. Nach Kant solle man ein Kunstwerk als etwas betrachten, was Bjorn K. Myskja wie folgt umschreibt: »[N]ot completely determined by human intention« (Myskja 2002: 237). Kunst wird intentional erzeugt. Insoweit ist es möglich, den kreativen Prozess dahinter zu untersuchen. Jedoch spielen immer auch nichtintentionale Faktoren in der Entstehung eines Kunstwerks mit, welche Kant in Verbindung bringt mit einem Genieethos. Ein Merkmal des Genies ist nach Kant, dass »der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiss, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmässig auszudenken« (Kant, Kritik der Urteilskraft §46; zit.n. Myskja 2002: 242).5 Die kreativen Faktoren sind durch den Künstler nicht planbar; so paraphrasiert Myskja: »[W]e have to judge the creative element of a work of art as a purposive product of nature while recognizing that this judgement is only valid for human judgement; it does not have objective validity. In this sense, the judgement of art is part of our judgement of nature, and accounts for the claim to subjective universality for our feeling when cognising the object« (242; m. Herv.). 5 | Einige relevante Passagen in Bezug auf den Geniebegriff in Kants Kritik der Urteilskraft (Kant 1921-22, V) sind in Becketts Ausgabe markiert (auf den Seiten 384-385, 417 und 420), allerdings versehen mit Avigdor Arikhas und Anne Atiks Initialen »AA«.

Beckett, Kant und Kognition: »Kritik des reinen Quatsches«

Kognition ist nach dieser Ansicht ein entscheidender Faktor, eine Auffassung, die das scheinbare Paradox in Becketts Wertschätzung von Cézanne zu erklären hilft. Einerseits wird Cézanne gelobt für seinen nicht anthropomorphisierenden Ansatz, andererseits wird er deutlich von den Impressionisten unterschieden, denn: »[Cézanne] could understand the dynamic intrusion to be himself« (Beckett 2009a: 223). Diese nur vorgeblich paradoxe Ansicht bedeutet den Kern von Cézannes revoltionärem Ansatz, als er begann, die Subjektivität der Betrachtung in der Malerei auszudrücken. Wenn Beckett anmerkt, dass Cézanne »the dynamic intrusion to be himself« verstand, so korrespondiert seine Meinung mit Jonah Lehrers neurologisch begründeter Erörterung von Paul Cézannes »process of sight«: »›The eye is not enough,‹ he declared. ›One needs to think as well.‹ Cézanne’s epiphany was that our impressions require interpretation; to look is to create what you see. […] Reality is not out there waiting to be witnessed; reality is made by the mind« (Lehrer 2008: 97).

Lehrer legt nahe, dass Cézanne nicht so sehr das Was, sondern das Wie des Sehens (ebd. 104) ausdrückte. Cézannes »atomistic landscape« (Beckett 2009a: 222), besonders seine Mont Sainte-Victoire-Reihe, wurde allmählich dominiert von mehr und mehr leeren Flecken auf der Leinwandfläche. Diese Blindflecken nannte Cézanne »nonfinito«. Um zu erklären, weshalb diese »Nonfinito«-Bilder weniger vakant wirken, als sie es tatsächlich sind, zieht Lehrer eine Verbindung zu den Gestaltpsychologen und zu Immanuel Kant als deren philosophische Vorgänger; Beckett war mit beiden gut vertraut. Über ein Jahrhundert vor der Gestaltpsychologie schrieb Kant: »Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht« (Kant 1993: 898 [A121]6). Jüngste neurowissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen diese Annahme. Zum Beispiel bemerkt Antonio Damasio: »[M]inds are not just about images entering their procession naturally. They are about the cinemalike editing choices that our pervasive system of biological value has promoted« (Damasio 2012: 72). Damasio sieht den Verstand (»mind«) als Folge des fortwährenden Mappings des Gehirns (ebd. 70). Die Fähigkeit, Karten zu kreieren, ist ein besonderes Merkmal des menschlichen Gehirns, und »when brains make maps, they are also creating images, the main currency of our minds« (ebd. 63). Manche dieser Bilder entsprechen den Vorgängen außerhalb des Gehirns, manche sind Rekonstitutionen von Bildern, die aus der Erinnerung abgerufen werden.7 Der visuelle Cortex 6 | A bezieht sich auf den Text der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1781; B bezieht sich auf die zweite Fassung von 1787. 7 | »The process of mind is a continuous flow of such images, some of which correspond to actual, ongoing business outside the brain, while some are being reconstituted from memory in the process of recall. Minds are a subtle, flowing combination of actual images and recalled images, in ever-changing proportions« (Damasio 2012: 71).

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(Sehrinde) besteht aus fünf individuellen Bereichen. Im primären, neuralen Bereich erscheinen die Informationen der Netzhaut zum ersten Mal zur weiteren Verarbeitung im Gehirn. Im sekundären Bereich reagieren Neuronen nicht nur auf tatsächliche, sondern auch auf illusionäre Bilder.8 Lehrer fasst zusammen: »From this point on, we can’t separate our own mental inventions from what really exists. The exact same neurons respond when we actually see a mountain and when we just imagine a mountain. There is no such thing as immaculate perception« (Lehrer 2008: 117).

Gerade eine solche nicht makellose Wahrnehmung (»non-immaculate perception«) ist unentbehrlich für den Menschen, da unsere Sicht ohne sie zerfressen wäre von Löchern, würde der Verstand diese blinden Flecken nicht kontinuierlich füllen. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die toten Winkel, die wir alle haben durch das Fehlen von farbempfindlichen Zapfen, wo der Sehnerv mit der Netzhaut verbunden ist. Durch den ununterbrochenen Abbildungsprozess des Gehirns werden die blinden Flecken dieses toten Winkels ständig vom Verstand gefüllt und ergänzt. Mit seinen »Nonfinito«-Bildern machte Cézanne aufmerksam auf die Fähigkeit des Gehirns, die Blindflecken auf der Leinwand auszufüllen – und auf die Tatsache, dass die Einbildung ein notwendiger Bestandteil der Wahrnehmung ist. Beckett war bereits fasziniert vom musikalischen Equivalent dieser Blindflecken in Beethovens siebenter Sinfonie, die er als wichtiges Element in Belacquas Plan für ein Buchprojekt darstellte. Doch als Beckett denselben Hinweis auf Beethoven verwendete, um seine entstehende Poetik in seinem Brief an Axel Kaun im Juli 1937 zu formulieren, bringt er die in der Musik beschriebenen Löcher noch nicht in Verbindung mit der Funktion des Verstandes. Obwohl Beckett vom Beginn seiner Karriere an ein großes Interesse an Kognition zeigte, glaube ich, dass seine Auseinandersetzung mit Mauthner und Kant im Jahr 1938 eine »kognitive Wende« für seine Poetik bedeutete: Während Murphy (besonders Kapitel 6) noch explizit vom Verstand handelte, entwickelte Beckett allmählich subtilere Formen, seine Literatur zu gestalten, die diese Löcher oder Blindflecken mit der Idee des Verstands in Verbindung brachte. Die Hohlräume in Becketts Texten, wie zum Beispiel der Hinweis »hiatus in MS« in Watt, sind die ersten Manifestationen die8 | Lehrer beschreibt den Prozess wie folgt: »The visual cortex is divided into distinct areas, neatly numbered 1 through 5. If you trace the echoes of light from the V1, the neural area where information from the retina first appears as a collection of lines, to the V5, you can watch the visual scene acquire its unconcscious creativity. Reality is continually refined, until the original sensation – that incomplete canvas – is swallowed by our subjectivity. The first area in the visual cortex where neurons respond to both illusory and actual imagery is the V2. It is here that the top part of the mind begins altering the lower levels of sight. As a result, we begin to see a mountain where there is only a thin black line« (Lehrer 2008: 117).

Beckett, Kant und Kognition: »Kritik des reinen Quatsches«

ser Blindflecken. Später arbeitete Beckett seine eigene »Nonfinito«-Technik weiter aus zu weniger auffälligen und abstrakteren Äquivalenten von Cézannes Stellen nackter Leinwand, besonders durch den Einsatz von Lakunen, die Wolfang Iser Leerstellen nennt. Isers Konzept, abgeleitet von Roman Ingardens Theorie der Unbestimmtheit oder »indeterminacy« (Voigts-Virchow 2009: 100), wurde entwickelt in Isers Werk Der Akt des Lesens aus dem Blickwinkel der literarischen Rezeption; die Theorie weist hin auf Lakunen, die den Leser zum Denken anregen. Aus der Perspektive der literarischen Produktion können diese Leerstellen bewusste Auslassungen darstellen oder die Ergebnisse von Becketts Intention zu verundeutlichen (»vaguen«) sein, wie er einmal an den Rand eines Manuskripts von Happy Days schrieb (Pountney 1988: 149); jene Leerstellen können jedoch auch auf Grenzmomente hindeuten, an denen Beckett in die entlegensten Tiefen des Aussprechlichen vorgedrungen ist und dasjenige erreichte, »what has so happily been called the unutterable or ineffable« (Beckett 2009b: 52). Aus diesem genetischen Blickwinkel werfen die Leerstellen Fragen auf, ob sie eine kognitive Funktion9 im kreativen Prozess erfüllen (neben ihrer Rezeptionsfunktion, der Provokation von geistiger Aktivität im Leser) und welche Bedingungen und Situationen den Autor dazu führten, überhaupt eine Leerstelle einzufügen. Sofern das Mapping eine distinkte Eigenschaft des menschlichen Verstandes ist, so sind die Leerstellen in Becketts Evokationen der Funktion des Verstandes das Gegenstück zu jenen unvermessenen Gebieten, welche die Kartographen des Mittelalters freudig überschrieben mit »hic sunt dracones« (»hier sind Drachen«/»here are dragons«) oder »hic sunt leones« (»hier sind Löwen«/»here are lions«).

»Here are lines« Rückblickend mag die Praxis der alten Kartographen unwissenschaftlich anmuten, doch mit Bezug auf das Vermessen des Gehirns oder einem Mapping des Verstands befinden wir uns wohl heutzutage noch im neurologischen Mittelalter. Darüber hinaus könnten die unvermessenen Gebiete – wie bei den mittelalterlichen Kartographen – eine ganz eigene kognitive Funktion besitzen. Nach Antonio Damasio ist das Mapping ein kontinuierlicher Vorgang: »Maps are constructed when we interact with objects, such as a person, a machine, a place, from the outside of the brain toward its interior. I cannot emphasize the word interaction enough. It reminds us that making maps, which is essential for improving actions as noted above, often occurs in a setting of action to begin with. Action and maps, movements and mind, are part of an unending cycle« (Damasio 2012: 63-64).

9 | Ich danke Axel Gellhaus und Karin Herrmann für die intellektuell stimulierenden Gespräche über kognitive Funktionen des Schreibens bei unseren Treffen und Kolloquien in Aachen und Antwerpen.

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Die Idee eines endlosen Vorgangs wird auch explizit ausgedrückt in Molloy, wo Beckett den Ausdruck »finalité sans fin« (Beckett 1951: 173) benutzt. Hier wird Kants Ausdruck »Zweckmässigkeit ohne Zweck« selbst in eine Leerstelle verwandelt. Beckett übersetzt die Phrase nicht als das eindeutigere »purposiveness without purpose«, sondern als die bewusst ambige Formulierung »finalité sans fin« (Beckett 1951: 173) sowie »finality without end« (Beckett 2009c: 115). So gelingt es Beckett, unvermessenes Territorium textuell zu kartographieren. Einerseits erlaubt die Formulierung eine Interpretation wie die Badious, der Becketts Werk im Lichte des »élément de la beauté« (Badiou 1995: 80) sieht.10 Andererseits könnte man Beckett selbst als einen Kartographen des 20. Jahrhunderts bezeichnen, wenn er seine Formulierung als Aporie präsentiert und somit die weiteren Bedeutungsdimensionen von »sans fin«/»without end« offenlässt. Darüber hinaus weist Beckett auf unerforschtes Gebiet hin, ohne es nennen zu können/wollen – Leerstellen, die man nur annähernd, mit dem Wortspiel »here are lines« kartographieren könnte. Dieses literarische Äquivalent der kartographischen Bezeichnung »here are lions« ist weit komplexer, als das Wortspiel vermuten lässt. Das Aufzeichnen von Zeilen, der Schreibakt selbst, ist eine Form der Kognition oder der Schlussfolgerung. In dem grundlegenden Artikel »The Extended Mind« von David Chalmers und Andy Clark verwenden die Autoren das Beispiel eines Notizbuches, um die Interaktion zwischen Gehirn und der Außenwelt zu illustrieren.11 Auch Richard Menary betrachtet »Writing as Thinking« in seinem Artikel mit diesem Titel. Und in Supersizing the Mind bezeichnet Andy Clark die Sprache als ein prothetisches Hilfsmittel12, als ein »cognitive scaffolding« (Clark 2008: 43). Diese Betrachtung von Sprache im Sinne kognitiver Erweiterung stimmt überein 10 | Kants »Zweckmässigkeit ohne Zweck« ist wahrhaftig »the main principle by which Beauty is known to man«, wie Jean-Michel Rabaté anmerkt, jedoch hinzufügt: »We should not downplay the ironic ring given to the formulation of a principle that basically asserts that there is meaning in the world […]. What the phrase means, ultimately, is that a reflective judgment (a judgment based on the perception of any beautiful object in nature) leads one to deduce that the world has the form of a teleology, even if that object itself is not necessarily teleological« (Rabaté 2011: 715). 11 | »Now consider Otto. Otto suffers from Alzheimer’s disease, and like many Alzheimer’s patients, he relies on information in the environment to help structure his life. Otto carries a notebook around with him everywhere he goes. When he learns new information, he writes it down. When he needs some old information, he looks it up. For Otto, his notebook plays the role usually played by a biological memory« (Clark/Chalmers 2010: 33). 12 | Beckett lässt seine Figuren häufig Halt suchen in prothetischen Hilfsmitteln, um die Funktion des (erweiterten) Verstands zu illustrieren. In der bekannten Passage über Molloys Steinelutschen zum Beispiel können Molloys Taschen als prothetische Erinnerungssysteme interpretiert werden, was Andy Clark »Principle of Ecological Assembly« nennt: »The canny cognizer tends to recruit, on the spot, whatever mix of problem-solving resources will yield an acceptable result with a minimum of effort« (Clark 2008: 13; Herv. i.O.).

Beckett, Kant und Kognition: »Kritik des reinen Quatsches«

mit einer Reihe von Ludwig Wittgensteins philosophischen Untersuchungen und Ideen in seinen Zetteln, wie etwa die folgende: »255. Wie kann man durch Denken die Wahrheit lernen? Wie man ein Gesicht besser sehen lernt, wenn man es zeichnet« (Wittgenstein 1967: 48). David Blair interpretiert diese Idee folgendermaßen: »For Wittgenstein, we formulate our thoughts using the tools of language, in the same way that we might say that an artist (e.g., a painter) formulates her images through the tools of her trade – paints, brushes, canvases. The artist need not develop a mental image of what she wants to paint in any detail before she paints – or even while she paints. She creates the artistic image through the use of her artistic tools. It is even the case that painting or drawing can help us to see things better« (Blair 2006: 32-33).

Auf ähnliche Weise scheint Beckett, sein ganzes Schriftstellerleben lang, versucht zu haben, den Verstand besser sehen zu lernen, indem er seine unerforschten Gebiete nachzeichnet, Strich um Strich, »line by line«. In diesem Sinne besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Becketts »lines« und den »lions« der Inschrift der mittelalterlichen Kartographen (»here are lions«), da Beckett auf die Materialität des Schreibaktes hinweist. Zum Beispiel ist die unablässige Textproduktion des L’Innommable kein einfacher Ausweg, kein Trick, das gefährliche Territorium unerforscht zu lassen; die Zeilen selbst sind die Erforschung. Becketts Modell des Verstandes ist eines des »extended mind« avant la lettre. Ob Beckett diese kognitiven Aspekte der reinen Vernunft im Sinn hatte, als er seine Notizen »Kritik des reinen Quatsches« sowie »Art: ›Zweckmässigkeit ohne Zweck‹/(Kant)/Quatsch: ›Zweck ohne Zweckmässigkeit‹/(?)« (UoR MS 3000, 60r) vornahm, bleibt unmöglich zu ergründen. Dennoch wird die zweite Notiz weitaus reicher an Bedeutung, wenn man die Formulierung »Zweck ohne Zweckmässigkeit« nicht übersetzt als »purpose without purposiveness«, sondern als »fin sans finalité« oder »end without finality« nach Becketts Übersetzung in Molloy. Wie bereits erwähnt, gelang es Beckett, durch diese Übersetzung Kants Phrase »Zweckmässigkeit ohne Zweck« selbst in eine Leerstelle zu verwandeln. Kants deutscher Ausdruck ist weit weniger vieldeutig: »What the phrase means, ultimately, is that a reflective judgment (a judgment based on the perception of any beautiful object in nature) leads one to deduce that the world has the form of a teleology, even if that object itself is not necessarily teleological. If I can perceive beauty, then I will sense that the world is not absurd even if it is full of absurd people, absurd tasks, absurd commands, absurd objects« (Rabaté 2011: 715).

Durch die Inversion der Formulierung wird man mit einer Welt und einem Leben konfrontiert, welche die Form einer Dysteleologie annehmen, obwohl dieses Leben und diese Welt zwangsläufig teleologisch aufgebaut sind: »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei«, wie Beckett in seinem »German Vocabulary« Notizbuch festhielt (zit.n. Nixon 2011: 87).

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Während Kant andeutet, dass die Imagination ein grundlegendes Element der Wahrnehmung an sich darstellt, (»[d]aß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei« [Kant A121]), experimentiert Beckett mit der Idee von einem Vorstellungsmodell, das der Wahrnehmung ohne die Imagination entspräche (»Imagination Dead Imagine«). In diesem Falle wären die »absurd objects« (Rabaté 2011: 715) lediglich Objekte, losgelöst von jeglicher »anthropomorphisation of the inhuman necessities that provoke the chaos«, wie Beckett es in den »German Diaries« ausdrückte.13 Die absurden Objekte wären nicht mehr absurd, denn es würde keine Spannung herrschen zwischen dem, was Camus einst beschrieb als die unvernünftige Stille der Natur, und dem menschlichen »appétit d’absolu« (Camus 1942: 32) oder »soif de savoir« (ebd. 35). Jene Spannung ist es, die das Absurde bedingt. Camus schreibt: »L’absurde naît de cette confrontation entre l’appel humain et le silence déraisonnable du monde« (ebd. 44). Wäre man ein Baum unter Bäumen, bestünde nicht die beschriebene Spannung und deshalb keinerlei Absurdität: »Si j’étais arbre parmi les arbres, chat parmi les animaux, cette vie aurait un sens ou plutôt ce problème n’en aurait point car je ferais partie de ce monde. Je serais ce monde auquel je m’oppose maintenant par toute ma conscience« (ebd. 74; Herv. i.O.).

In diesem Falle hätte die Welt vielleicht eine Bedeutung (»cette vie aurait un sens«), aber das Problem des Absurden hätte keinen Sinn (»ce problème n’en aurait point«); es wäre reiner Un-sinn, reiner Quatsch. In diesem »Sinn« könnte man En attendant Godot als eine »Kritik des reinen Quatsches« lesen, und der wahre Protagonist des Stückes wäre der dysteleologische Baum, der Baum ohne Zweckmäßigkeit, der nirgendwo hingeht und lediglich weiterwächst. Wenn Didi und Gogos »échange d’injures« (Beckett 2003: 186) in der englischen Version zu mehr als einer Regieanweisung wird, kulminiert dies im schlimmsten aller Schimpfwörter: »crritic« (ebd.). Und wenn dieser Ausdruck in der deutschen Version schließlich übersetzt wird als »Oberforstinspektor« (ebd. 187), wird durch den Kontext des Baumes deutlich, weshalb dieses Wort ein so furchtbares Schimpfwort bedeutet: Wenn einer kein Baum unter Bäumen ist (Camus 1942: 74), dann ist es der Forstinspektor, geschweige denn der Oberforstinspektor, die Inkarnation dessen, was Beckett bezeichnete als »the modern animism that consists in rationalizing [the straws, flotsam etc.]«. Denn Beckett schreibt: »Rationalism is the last form of animism. Whereas the pure incoherence of times & men & places is at least amusing. Schicksal = Zufall, for all human purposes« (zit.n. Nixon 2011: 178). Im Lichte dieser menschlichen Zwecke (»human purposes«), kann Becketts

13 | Beckett schrieb dies in Verbindung mit dem bekannteren Satz derselben Passage: »What I want is the straws, flotsam etc., names, dates, births & deaths, because that is all I can know« (zit.n. Nixon 2011: 178).

Beckett, Kant und Kognition: »Kritik des reinen Quatsches«

Zuwendung zu »pure incoherence« der »demented particulars« interpretiert werden als wahrhaftige »Kritik des reinen Quatsches«. Aus dem Englischen von Jan Wilm

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Beckett, der expressionistische Film und Kleists Marionetten Ulrika Maude

Im März 1936 bezeichnete Beckett sich in einem Brief an Sergei Eisenstein als »a serious cinéaste« (Beckett 2009: 317). Becketts Brief an den berühmten russischen Regisseur bestand hauptsächlich aus einem Curriculum Vitae und wurde als Bewerbung für ein Studium an der Moskauer staatlichen Filmhochschule verfasst. Obwohl Beckett keine Karriere als Filmemacher machte, versichert James Knowlson, Beckett »had always been very interested in cinema« (Knowlson 1996: 226). Knowlson berichtet: »From his youth, Beckett went regularly, often with his brother Frank and his Uncle Howard, to various cinemas in Dublin and to a little cinema in Kingstown (the present Dun Laoghaire)« (Knowlson 2003: 118). Während seiner Studienzeit am Trinity College Dublin sah Beckett weiter regelmäßig Filme. Ihm gefielen besonders die Stummfilme von Buster Keaton und Charlie Chaplin.1 Beckett war auch ein Fan der Komiker Ben Turpin und Harry Langdon (Knowlson 1996: 57), und vom Stummfilm her rührt zum Teil seine Liebe zu »Konzertsaal- und Zirkusaufführungen«, da diese Filme einen Großteil ihrer ästhetischen Inspiration von diesen beliebten Unterhaltungsgenres nahmen und viele Konzertsaal-Komödianten zu erfolgreichen Karrieren beim Film übergingen.2 Während seiner Zeit an der École Normale Supérieure, von 1928 bis 1930, sah Beckett mehrere Avantgardefilme, deren Ikonographie gut dokumentierte Spuren in seiner Prosa und seinem Drama hinterließ. 1 | James Knowlson zufolge mochte Beckett besonders gerne Buster Keatons Sherlock Jr., The Navigator, Go West, Battling Butler und The General. Becketts liebste Filme von Chaplin waren The Kid, The Pilgrim und The Gold Rush (vgl. Knowlson 1996: 57). 2 | Ein Beispiel wäre der deutsche Kabarett- und Filmkomödiant Karl Valentin, geboren 1882 und oft als Deutscher Charlie Chaplin bezeichnet, den Beckett 1937 im Kabarett Benz in München sah und den er vor seiner Rückkehr nach Irland mit Eichheim traf. Am 30. März 1937 schrieb Beckett an Günter Albrecht: »I saw that Munich legend Valentin and found him a comedian of the very first order but perhaps just beginning his decline« (Beckett 2009: 480).

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Ein frühes Beispiel für den Einfluss des Films auf Becketts Ästhetik war »a burlesque of Pierre Corneille’s seventeenth-century four-act tragedy, Le Cid«, an dem Beckett 1931 mit Georges Pelorson kollaborierte, als er Dozent für Französisch am Trinity College Dublin war. Auf Becketts Vorschlag wurde der »Cornelian nightmare«, wie das Programm es beschrieb, Le Kid genannt – in Anspielung auf Chaplins berühmten Film The Kid von 1921, der zu Becketts Lieblingen gehörte. Das Skript dieser Persiflage ist nicht erhalten, aber Beckett beschrieb das Stück als »a blend of Corneille and Bergson« (Knowlson 1996: 124). Die Kritik der Produktion in der Irish Times charakterisierte das Stück als eine Mixtur von »classicism held up in the distorting mirror of expressionism. The heroes of Corneille suddenly assumed grotesquely comic shapes.«3 Der Einfluss des Varietés und der stilisierten Schauspielkunst des Stummfilms scheint in dieser Produktion besonders prominent gewesen zu sein, wobei Beckett selbst die Rolle des Don Diègue spielte. Er trug einen Regenschirm und einen Wecker und bewegte sich zu den hektischen Diktaten einer schneller laufenden Uhr, wie in Antizipation von Chaplins Modern Times (1936), dessen Protagonist, gespielt von Chaplin selbst, zwischen den beschleunigten Zahnrädern einer Fabrik eingesperrt ist und alle Zeichen nervöser Erschöpfung zeigt, insbesondere in seinem idiosynkratischen und merkwürdig mechanischen Gang. Becketts Schauspielstil in Le Kid antizipiert womöglich die Charaktere und Spieler, die er selbst später kreieren würde. Auch in theoretischer Hinsicht galt Becketts Interesse dem Film. Am 29. Januar 1936, als seine Mutter ihn nötigte, einen Beruf zu finden, schrieb Beckett an seinen Freund, den Dichter und Kritiker Thomas MacGreevy: »I borrowed a lot of works on cinema […]: Pudovkin, Arnheim & back numbers of Close Up with stuff by Eisenstein. How I would like to go to Moscow and work under Eisenstein for a year. Then one would be perfectly qualified for the execrations on another plane« (Beckett 2009: 305).

Das Buch von Pudovkin war höchstwahrscheinlich eine Sammlung der Vorlesungen des Regisseurs mit dem Titel Film Acting, die gerade auf Englisch erschienen war. Später schrieb Beckett an MacGreevy aber, die Sammlung habe ihm nicht gefallen – vermutlich wegen eines starken Fokus auf den Realismus und wegen einer »didactic, propagandistic perspective« (Knowlson 2003: 119).4 Rudolf Arnheims bahnbrechendes Buch Film als Kunst war 1932 in Deutschland erschienen, und die englische Übersetzung, die Beckett las, war 1933 unter dem Titel Film erschienen. Das Buch könnte man als Kompendium der modernistischen Filmtheorie betrachten, die sich Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre in verschiedenen Ländern entwickelt hatte, obwohl Arnheims Hauptaugenmerk 3 | Irish Times, 20. Februar 1931. 4 | Am 25. März 1936 schrieb Beckett an Thomas McGreevy: »I read Pudovkin’s new book and disliked it« (Beckett 2009: 324).

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eher darauf lag, wie Film entsteht, denn wie er wahrgenommen wird. Für Arnheim war der ästhetische Wert des Films vor 1927 auf seinem Höhepunkt mit dem späten Stummfilm, und die Kraft des Films als Medium hing gerade von seinen Grenzen ab. Die physischen Einschränkungen des Films als Medium konstituieren für Arnheim – und für Modernisten im Allgemeinen – die Basis seines künstlerischen Werts. Obwohl der Realismus ein relativ gewöhnliches Filmgenre der ersten vier Jahrzehnte der Filmgeschichte war, blieb er bis in die späten 1930er und frühen 1940er Jahre untergeordnet. Einige der Gründe dafür scheinen offensichtlich: Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts entfernten sich Malerei, Musik, Literatur und andere Kunstformen von der wirklichkeitsgetreuen Abbildung und gelangten zum formalen Experimentieren. Zu einer Zeit, da der Status des Films als Kunstform regelmäßig und anhaltend in Frage gestellt wurde, waren Filmemacher darauf erpicht, ihre Techniken als ebenso komplex und anspruchsvoll wie die der Malerei, Literatur und des Tanzes zu beweisen, was sich besonders deutlich am expressionistischen Film zeigt. Arnheim setzte sich daher, gemeinsam mit anderen modernistischen Denkern, technologischen Entwicklungen wie Ton, Farbe und Breitbild entgegen und wollte Kunst und Handwerk der filmischen Repräsentation mehr als ihren Anspruch des Realismus in den Vordergrund rücken. Dies war für Arnheim der Schlüssel zur formalen und inhaltlichen Ästhetik des Films. Je näher der Film sich einer Reproduktion von »Realität« annäherte, desto weniger gab es Gelegenheit für den Künstler, seine Effekte zu kreieren, und desto weniger signifikant erschien das Medium Film an sich. Am 6. Februar 1936, etwa eine Woche nachdem er Arnheims Buch über das Kino ausgeliehen hatte, schrieb Beckett an MacGreevy: »What I would learn under a person like Pudovkin is how to handle a camera, the higher trucs [special effects] of the editing bench, & so on, of which I know as little as quantity surveying« (Beckett 2009: 311). Beckett eröffnete auch seinen Wunsch »that the industrial film will become so completely naturalistic, in stereoscopic colour & gramophonic sound, that a back water may be created for the two-dimensional silent film that had barely emerged from its rudiments when it was swamped. Then there would be two separate things and no question of a fight between them or rather of a rout« (ebd. 312).

Mit anderen Worten, Beckett schien Arnheims Bedenken über die Bedrohung für die künstlerische Integrität des Films, die von technologischen Fortschritten wie Ton und Farbe ausging, übernommen zu haben und wie Arnheim ein eigenes Genre des stummen Programmkinos zu befürworten. Diese Bedenken wurden auch von den meisten Mitwirkenden der Filmzeitschrift Close Up (1927-1933) geteilt, deren ältere Ausgaben Beckett gelesen hatte. Dorothy Richardson, H.D. und Gertrude Stein schrieben regelmäßig Beiträge, und zwischen 1929 und 1931 gab es in der Zeitschrift auch wegweisende Essays von Sergei Eisenstein, unter anderem »New Language of Cinematography«, »Fourth Dimension in the Kino« und

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»The Principles of Film Form«, die Beckett wahrscheinlich las und auf die er sich in seinem Brief an Thomas MacGreevy bezieht.5 James Knowlson deutet die Bedeutung von Arnheims Buch für Becketts Theaterarbeit heraus und schreibt einfühlsam über Becketts Verwendung von »montage« und dem »principle of intercutting« und »flashback sequences« in Stücken wie Krapp’s Last Tape, Play und That Time (Knowlson 2003: 120f.). Matthijs Engelberts Essay »Film and Film: Beckett and Early Film Theory« stellt eine Analyse einiger ästhetischer Prinzipien dar, die Beckett von Arnheims Buch übernommen hatte und später (1964) auf Film übertrug. Dazu zählen die Verwendung von Schwarzweiß anstatt Farbe, die Wahl des Stummfilms, die hervorstechende Verwendung von Nahaufnahmen sowie die Betonung einer ausdrücklich monokularen statt stereoskopischen Sicht. Gaby Hartel lenkte die Aufmerksamkeit zuletzt auf Arnheims Hervorhebung von Film als poetisches Medium und die Affinitäten, die er zwischen »Wortkunst« und Film zieht (vgl. Hartel 2005: 302). Allerdings möchte ich zeigen, dass Arnheims Buch noch größeren Einfluss auf Becketts Denken hatte, als diese drei aufschlussreichen Essays nahelegen, und dass es eine umfangreichere Wirkung auf seine Arbeit hatte, die seine Werke in Prosa, Theater und Medien umfasst. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines Buches, das 1957 auf Englisch unter dem Titel Film as Art erschien, fasst Arnheim die Argumentation seiner ersten Ausgabe folgendermaßen zusammen: »I undertook to show in detail how the very properties that make photography and film fall short of perfect reproduction can act as the necessary molds of an artistic medium« (Arnheim 1957: 3). Becketts eigenes, reifes und spätes ästhetisches Prinzip war es, unabhängig vom Genre, genau an den Grenzen und mit den Einschränkungen statt mit den Stärken seines Mediums zu arbeiten. Das betrifft beispielsweise die Sprache seiner Prosa,6 die Bühnenkunst in seinen Stücken, die radikale Untergrabung von Realitätstreue in seiner Radioarbeit und sein Strapazieren von Augen und Ohren der Zuschauer beim Fernsehen. Beckett war sich der Auswirkungen der neuen Technologie des Films auf die Sinneswahrnehmung bewusst, denn 1934 hatte er in Woodworths Contemporary Schools of Psychology über Wertheimers Studien zur Psychologie der bewegten Bilder gelesen und recht ausführliche Anmerkungen zu diesen Studien in seinen »Psychology Notes« (TCD MS 10971/1)7 vorgenommen. Arnheim selbst hatte in Berlin Gestaltpsychologie unter Wertheimer und 5 | Wichtige filmtheoretische Essays wie Eisensteins »Fourth Dimension in the Kino« wurden in Close Up erstmals auf Englisch veröffentlicht. Das Essay erschien in zwei Teilen, in den Ausgaben VI:3 und VI:4, im März und April 1930. 6 | Vgl. Shane Wellers Essay in diesem Band. 7 | Becketts »Psychology Notebook« enthält beispielsweise die folgende Notiz: »Wertheimer studied conditions under which motion does or does not appear. Two simple lines, presented at an interval of 1 sec, were seen according to fact, one line & then the other. Reducing this interval the appearance of motion began. At 1/15 sec a clear motion ensued,

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Wolfgang Köhler studiert, und sein Buch nimmt Bezug auf ihre Arbeit – allerdings nicht auf die spezifische Studie, auf die sich Becketts Notizbuch bezieht. Mein Kernargument ist, dass Arnheims Buch für den jungen Beckett prägend war, weil seine Theoretisierung des Films ihm möglicherweise half, sein eigenes, weiter gefasstes ästhetisches Prinzip des Scheiterns zu formulieren – eines, das Beckett seit der Vollendung von Murphy 1936, die mit seiner Lektüre von Arnheims Buch zusammenfiel, durchgehend verwendete. Infolge der Lektüre von Arnheims Film, Essays von Eisenstein in Close Up und einiger Arbeiten von Vsevolod Pudovkin entwickelte Beckett ein relativ ausgereiftes Verständnis von der Syntax des Films. In seinem Brief an Eisenstein im März 1936 verdeutlicht Beckett sein Interesse und technisches Verständnis für die formalen Aspekte des Filmemachens in folgender Aussage: »It is because I realise that the script is function of its means of realisation that I am anxious to make contact with your mastery of these« (Beckett 2009: 317). Arnheim hatte in seinem Buch geschrieben: »The plot, whatever its genre, does not particularly matter, but it is essential to observe how an individual picture or an individual scene is mounted, photographed, acted, cut« (Arnheim 1933: 8). Dementsprechend enthalten Becketts »German Diaries«, die seine Reisen durch Deutschland von Ende September 1936 bis April 1937 dokumentieren, einige technisch fortgeschrittene und informierte Notizen zu einigen der 16 Filme, die Beckett während dieser Reisen gesehen hatte. Zum Beispiel schrieb Beckett über den Film Wenn wir alle Engel wären (Carl Froelich, 1936) »film best I have yet seen of Ufa’s latest, quite well acted, & directed, rather obviously but inoffensive[ly?] cut, in part excellently photographed« (»German Diaries« 7. Dezember 1936, zit.n. Veit 2009: 47). Etwas kritischer war er zu Der lachende Dritte (Georg Zoch, 1936), und er bemerkt in seinem Tagebuch: »E. [Eicheim] acts well & the film is quite amusing, though rather badly directed & cut« (»German Diaries«, 5. Januar 1937, zit.n. Veit 2009: 64). Andere Filme, wie Der Hund von Baskerville von Carl Lamac, werden lediglich als »Kitsch« erwähnt (»German Diaries«, 17. Februar 1937, zit.n. Veit 2009: 82).8 Beckett war nicht bloß vertraut mit der 1917 gegründeten Filmproduktionsfirma UFA (Universum Film Aktiengesellschaft), deren Filme regelmäßiges Lob in Close Up erhielten, sondern verfolgte aufmerksam die formalen Qualitäten des Mediums Film, deren Wichtigkeit Arnheim betont hatte. Beckett hatte zu diesem Zeitpunkt außerdem seine Intention, an Eisensteins Filmakademie in Moskau zu studieren, nicht aufgegeben.

one line seeming to move across to second. At 1/30 sec no apparent motion, but simultaneous juxtaposition« (TCD MS 10971/1, zit.n. Maude 2009: 117-118). 8 | Mit herzlichem Dank an Mark Nixon für die Transkription der Filmreferenzen in Becketts »German Diaries«.

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Wir wissen nicht, welche deutschen expressionistischen Filme Beckett sah, aber es wäre einem cinéaste mit Interesse an der Avantgarde schwergefallen, Klassiker wie Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (erschienen 1919, uraufgeführt 1920) zu verpassen, der als erster expressionistischer Film und als Paradebeispiel für das Genre gilt. Dasselbe gilt für Murnaus Nosferatu (1922) sowie für einige von Fritz Langs Filmen. Wie James Knowlson bestätigte, war Beckett »very familiar with Expressionist and Surrealist cinema« (Knowlson 2003: 91) und sah während seiner Zeit in der École Normale Supérieure in Paris Filme wie Un Chien andalou (1928) und L’Age d’or (1930) von Luis Buñuel und Salvador Dalí, und es ist wahrscheinlich, dass er in dieser Zeit auch einige deutsche Filme sah. Beckett hatte Kenntnis von der Ikonographie des deutschen expressionistischen Films, und nach einem Spaziergang unter der Elbe in Hamburg am 3. November 1936 schrieb er in sein Tagebuch: »Then by foot to Landungsbrücken & through Elbtunnel. Impressive & nightmarish, especially the Fahrschächten, pits of steel with 6 lifts each & german expressionist film screw stairs. Whole thing somehow kinematic. Hords of dockers homeward bound on far side, pouring into lifts & clattering down stairs« (»German Diaries«, 3.November 1936, zit.n. Veit 2009: 102).

Die »german expressionist film screw stairs«, die Beckett erwähnt, sind wahrscheinlich eine Anspielung auf Das Cabinet des Dr. Caligari, zumal die beiden markantesten Szenen des Films eine Art Wendeltreppe aufweisen, die auf für den Expressionismus typische Weise stilisiert ist. Becketts Werk enthält einige der stilistischen Merkmale des deutschen expressionistischen Films: Das ist erstens die auffällige Verwendung von chiaroscuro, bekannt aus Filmen wie Caligari, die beispielsweise in Becketts Verwendung eines starken Spots auf einer verdunkelten Bühne in Stücken wie Krapp’s Last Tape, Play, That Time und Nacht und Träume zu sehen ist. Zweitens zeigen deutsche expressionistische Filme eine starke Tendenz zu Nahaufnahmen, die man auch in einigen von Becketts Fernsehschauspielen beobachten kann – besonders markant in He, Joe (Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart, 1966). Die neun progressiven Kamerabewegungen, von denen jede näher an das Gesicht des Protagonisten Joe zoomt, erinnern auch an das genretypische Interesse an der Textur des menschlichen Gesichts. In der neunten und letzten Nahaufnahme von He, Joe kann man gar die einzelnen Poren von Joes Gesicht ausmachen, und die merkwürdige Hautlandschaft erinnert an expressionistische Szenen wie die Nahaufnahmen vom Gesicht des Schlafwandlers Cesare in Caligari. Drittens sind expressionistische Filme auch charakterisiert durch »the use of a flat, theatrical mise en scène that attempted to copy the distorted, abstract style of the Expressionist painters of Die Brücke and Der Blaue Reiter« (Cooke 2002: 15). Die Verwendung einer matten, theatralen mise en scène zeichnet auch Becketts He, Joe aus, mit seiner vorsichtigen Betonung von Künstlichkeit, Theatralität und

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Stilisierung, die besonders in der unverhältnismäßigen Dimensionierung des Zimmers, der Fenster, der Tür und des Bettes zum Tragen kommt. Die Szene erinnert insgesamt mehr an eine Theaterbühne als an das Set eines Fernsehschauspiels. Ähnliche Effekte erreicht Beckett auch in den Fernsehschauspielen Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, und Nacht und Träume, die er für den SDR 1976, 1977 und 1982 produzierte. Was den deutschen expressionistischen Film weiterhin auszeichnet, ist ein höchst stilisierter Schauspielstil, der an Kabarett- und Varietévorstellungen erinnert. Diese Filme enthalten auch auffällige medizinische Verweise, beispielsweise auf Mesmerismus und Probleme wie Schlafwandeln, Hysterie, Bewegungsstörung, Amnesie und Nervenzusammenbruch. Drittens repräsentieren sie eine beherrschende thematische Sorge und Nervosität über den Verlust von Autonomie: in anderen Worten, dass das Selbst (Körper und Verstand) nach den Vorgaben von Mächten jenseits seiner Kontrolle handelt. Die Gegenwart des Schlafwandlers Cesare in Dr. Caligari attestiert die Idee vom Verlust der Handlungsfreiheit: eine zwanghafte Neigung, die nicht eindeutig dem Charakter selbst gehört. Cesare wird vom Mesmeristen Caligari manipuliert, und auch die Motive des Nervenzusammenbruchs und der Hysterie stechen hervor in dem Film, dessen Schlussszene in einer Nervenheilanstalt spielt. Cesares Kontrollverlust reduziert ihn auf den Status einer Marionette, kontrolliert vom finsteren Puppenspieler Caligari. Fritz Langs Dr. Mabuse-Filme sind ebenfalls voll von Figuren, die die bewusste Kontrolle über sich selbst verloren haben und stattdessen unter dem Diktat von Dr. Mabuse, einem weiteren mesmeristischen Puppenspieler, stehen. Die mechanische Art zu gehen in Filmen wie Ernst Lubitschs Die Puppe (1919) verbindet explizit das Menschliche mit dem Mechanischen, bis beide zu einem Ganzen kollabieren. Hilarius, der Puppenmacher in dem Film, ist eine Art Physiologe, der auf wundersame Weise, Glied für Glied, Puppen zusammensetzt, die so lebensecht erscheinen, dass es unmöglich ist, sie von ihren Vorbildern zu unterscheiden, wobei Puppe und Modell von derselben Schauspielerin, Ossi Oswalda, gespielt werden. Obwohl Die Puppe an sich kein expressionistischer Film ist, antizipiert er viele der thematischen und stilistischen Merkmale des Genres, wie zum Beispiel das Zickzackmuster, das in Filmen der Zeit häufig als Bild für Hysterie verwendet wurde, da Zickzackmuster im Sichtfeld von hysterischen Patienten erschienen und angeblich hysterische Anfälle ankündigten. Besonders die Protagonisten in Becketts Fernsehschauspielen ähneln in ihrer merkwürdig »abwesenden Anwesenheit« oft Schlafwandlern: Schauspieler, die sich wie in einer tiefen hypnotischen Trance den Diktaten von Mächten jenseits ihrer Kontrolle fügen. Dies kann man als Merkmal von Becketts Fernsehschauspielen sehen, welche bemerkenswerte Parallelen zu deutschen expressionistischen Filmen der 1920er und 1930er Jahre, die wiederholt und auf eindringliche Weise diese abwesende Anwesenheit des Schlafwandelns inszenieren, aufweisen. Der Protagonist von He, Joe wird von einer weiblichen

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Stimme aus der Vergangenheit (»[l]ow, distinct, remote, little colour, absolutely steady rhythm, slightly slower than normal« [Beckett 1990: 361f.]) verfolgt, die ihn dazu verleitet überall vergeblich nach ihrem Ursprung zu suchen. Ghost Trio (1976) und … but the clouds … (1977) sind He, Joe nicht unähnlich, doch die Protagonisten F und M verhalten sich noch mechanischer, als würden sie von Uhrwerken gesteuert. Die Stimmsynchronisationen in diesen späteren Stücken haben darüber hinaus eine »agential function, determining what takes place within the frame«, und ähneln den Befehlen eines Mesmeristen oder Hypnotiseurs (Sheehan 2009: 159). Becketts späte Stücke für Bühne und Bildschirm werden von einer akusmatischen Stimme beherrscht, einer Stimme, die man hört, ohne sie zu sehen, einer »Stimme ohne Ort«. Ein besonders markantes Merkmal der Fernsehschauspiele ist, dass diese Stimme, da sie sich nicht in die Diegese einbinden lässt, eine Art technologische Mediation zwischen Anwesenheit und Abwesenheit bereitstellt und ein akustisches Äquivalent für die Phänomenologie des Schlafes (vgl. ebd. 166). Sheehan vertritt, dass »by confounding the distinction between diegetic and non-diegetic sound, Beckett is also charting an in-between state that disturbs the division between presence and absence, just as sleep does« (ebd. 168). Für Sheehan ist Becketts Vorbild für seine Fernsehschauspiele eindeutig »the silent cinema of the 1910s and 1920s, with its air of distant, yet deep-rooted melancholia« (ebd. 165): »Ronald Pickup as F, the male figure [in Ghost Trio], seems to have wandered in from a German Expressionist film« (ebd. 168). Obwohl die akusmatische Stimme, die hier durch einen hypnotischen Rhythmus ersetzt wurde, fehlt, scheinen sich die vier Schauspieler in Quadrat I und II (1982) ebenfalls einem Zwang zu fügen, der nicht nachvollziehbar von ihnen selbst ausgeht. Diese Fernsehschauspiele erinnern an Klassiker wie Wienes Caligari, in dem der Schlafwandler Cesare unter Caligaris mesmeristischem Diktat zum Verbrecher wird. Sie ähneln auch Fritz Langs Dr.-Mabuse-Filmen, und zwar in der Art, wie die Protagonisten unter fremder Kontrolle zu handeln scheinen. Becketts Filmfiguren (man zögert, sie als Charaktere zu bezeichnen) sind von Trauer und Reue gequälte Schlafwandler. Sie wiederholen die selben Handlungen immer und immer wieder, ohne aus ihrer »abwesenden Anwesenheit« zu entkommen. Bühnenstücke, die ein ähnliches Muster aufweisen, sind unter anderem Footfalls (1975) und Rockaby (1980), die man als Becketts Tiefschlafdramen bezeichnen kann. Wie V in Footfalls zu Amy sagt: »I heard you in my deep sleep. There is no sleep so deep I would not hear you there« (Beckett 1990: 399) – wiederum eine Anspielung auf hypnotische Trance. Die Schlafwandler dieser Stücke entbehren jeglichen freien Willens, was sie effektiv zu Marionetten des Theaters macht. Laura Marcus hat gezeigt: »The concern with tropes and figures of marionettes, puppets, automata, and mechanical figures ran throughout the discussion and representation of film from its inception« (Marcus 2007: 40). Arnheim selbst bemerkt in seinem Buch:

Beckett, der expressionistische Film und Kleists Marionetten »The latest development […] towards […] using the actor as one of the ›properties‹ to be chosen for his typicalness, and allowed to make his effect simply by his presence, by being introduced in the proper setting« (Arnheim 1933: 155). 9

Kurzum, Arnheim kommentiert die dehumanisierende Tendenz des Films, Schauspieler als bloße Requisiten zu benutzen.10 Walter Benjamin greift diese Bemerkung in seinem bahnbrechenden Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1936) auf. Für Benjamin ist eine der Besonderheiten des Films, dass der Schauspieler für die Kamera und nicht für ein Publikum spielt: »[Die] Leistung [des Schauspielers] ist durchaus keine einheitliche, sondern aus vielen einzelnen Leistungen zusammengestellt[,] […] die das Spiel des Darstellers in eine Reihe montierbarer Episoden zerfällen« (Benjamin 2007: 29f.). Die technischen Installationsarbeiten bedingen, dass »die Darstellung eines Vorgangs, der auf der Leinwand als einheitlicher geschwinder Ablauf erscheint, in einer Reihe einzelner Aufnahmen […] bewältig[t] […] [werden muss] […], die sich im Atelier unter Umständen über Stunden verteilen« (ebd. 30).

Der Filmschauspieler beherrscht also nicht auf dieselbe Art und Weise seinen Auftritt wie der Bühnenschauspieler. Seine Arbeit hängt auch ab von materiellen Umständen wie »Ateliermiete, Verfügbarkeit von Partnern, Dekor usw., […] [und] vor allem [von der] Beleuchtung [und] deren Installation« (ebd. 29f.). Diese Bedingungen für die Leinwand untergraben die Handlungsfreiheit (oder in Benjamins Worten die »Aura«) des Filmschauspielers, und man kann wie Arnheim sagen, dass sie ihn auf den Status einer Requisite herabsetzen. Ein Filmschauspieler hat, laut Benjamin, mit dem Publikum so wenig Kontakt wie ein »Artikel, der in einer Fabrik gemacht wird« (ebd. 31), mit seinem Markt. Diese besonderen Umstände der Filmschauspielerei machen den Darsteller selbst letztlich zu einem ebensolchen Artikel, zu einem Objekt: zur Marionette. Das Marionettentheater selbst florierte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, und es gab eine große Faszination für Marionetten unter Modernisten wie Ezra Pound und Wyndham Lewis. Eines der wichtigsten Beispiele im Theater ist der modernistische englische Bühnenautor Edward Gordon Craig, für den der 9 | Siehe auch Gaby Hartels Essay »›No Stone Unturned‹: Samuel Beckett sucht und findet ästhetische Anregungen im frühen deutschen Film«, welches dieselbe Passage in Arnheims Buch behandelt (vgl. Hartel 2005: 311-312). 10 | Bei Benjamin lautet dieses Zitat von Arnheim: »›Die letzte Entwicklung‹ sieht Arnheim darin, ›den Schauspieler wie ein Requisit zu behandeln, das man charakteristisch auswählt und … an der richtigen Stelle einsetzt‹« (Benjamin 2007: 28f.). Arnheim schreibt: »[S]chließlich [wird] der Mensch […] als ein Requisit unter Requisiten, ebenso wie eine Kaffeekanne oder ein Hund nichts weiter beizusteuern brauchen als sein bloßes Aussehen und Dasein« (Arnheim 2002: 150).

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Regisseur der Künstler der Bühne war und die Aufgabe der Schauspieler darin lag, das zu werden, was Craig die »über-marionette« nannte. Er schreibt: »There is only one actor – nay, one man – who has the soul of the dramatic poet, and who has ever served as true and loyal interpreter of the poet. This is the marionette« (Craig 1983: 24). Für Craig sollte der ideale Schauspieler seinen Körper und seine Stimme wie Materialien, und weniger als Teile seiner selbst, benutzen (vgl. Bablet 1981: 109). Er schreibt außerdem: »The über-marionette will not compete with life – rather will it go beyond it. Its ideal will not be the flesh and blood but rather the body in trance – it will aim to clothe itself with a death-like beauty while exhaling a living spirit« (Craig 1980: 84-85).

Diese Beobachtung erinnert an die Schlafwandler im Stummfilm und in Becketts spätem Drama. Hier könnte man viele Fragen stellen, wie Laura Marcus schreibt, »about the perception, at this time, of the relationship between theatrical marionettes and the automatic figures represented on the screen and, more broadly between theatre and film in this period« (Marcus 2007: 41).

James Knowlson stellt fest: »There is, as yet, no real evidence to prove that Beckett read Edward Gordon Craig’s The Art of Theatre, although this seems very likely. There is much in Craig’s writings on the theatre that finds either an echo or a parallel in Beckett’s own practice as a director« (Knowlson 2003: 106).

Schauspielerinnen wie Billie Whitelaw, Eva Katarina Schultz und andere haben Becketts Beharren auf Monotonie in der Artikulation (»less colour«) und auf einer unterschwelligen, aber technisch fehlerfreien physischen Darbietung beschrieben. Knowlson schreibt: »Many actors and directors who worked with Beckett spoke of his personal dislike of what is so often thought of as acting and of his tendency to dehumanise the actors in his plays« (ebd. 109). Wir wissen zwar nicht, ob Beckett Craigs Arbeit zur Über-Marionette gelesen hat, aber wir wissen, dass er Heinrich von Kleists berühmten Essay »Über das Marionettentheater« (1810), der auch Craig inspiriert haben muss, gelesen und bewundert hat (vgl. Ackerley/Gontarski 2004: 470). Kleist vertritt in dem Aufsatz den Standpunkt, dass die Selbstwahrnehmung die Anmut im Menschen zerstöre, da sie »Ziererei« hervorrufe. Kleists berühmte Schilderung der Marionetten und des fechtenden Bären zeigen, »daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt« (Kleist 1985: 15). Beckett besaß ein Exemplar von Über das Marionettentheater: Aufsätze und Anekdoten (Leipzig: Insel-Verlag, 1968 [1954]), das ihm die deutsche Schauspielerin

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Nancy Illig, mit der Beckett an Spiel und He, Joe gearbeitet hatte, als Geschenk machte (vgl. Van Hulle/Nixon 2013: 97). In einem Brief an Barbara Bray vom 3. Oktober 1969 bezeichnet Beckett das Buch als »extraordinary«, und in einem weiteren Brief an sie vom 13. Oktober 1969 erwähnt er das »marvellous essay on Marionetten theatre with unforgettable anecdote of duel with bear« (ebd.). Das Buch befand sich bis zu Becketts Tod in seiner Bibliothek, und er hatte folgende Passage des Essays markiert: »Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraus haben würde? Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung« (Kleist 1985: 10).

Kleists Einfluss zeigt sich deutlich in Becketts Arbeit als Regisseur, zumal er extrem auf Rhythmus, Anmut und Präzision von Gestik und Aussprache achtete, so dass diese in fertigen Produktionen als gewohnheitsmäßig und automatisiert erscheinen. Weit weniger, wenn überhaupt, beschäftigte ihn das Verstehen seiner Arbeit durch den Schauspieler. Das wird ersichtlich an seiner wiederholten Anweisung an Billie Whitelaw, nicht zu schauspielern, da Schauspiel, das Selbstwahrnehmung impliziert, der anmutvollen Gestik und Haltung der habituellen, mechanischen Darstellung und Aussprache abträglich sei, die Beckett seinen Schauspielern antrainieren wollte. Als Beckett in Berlin mit Eva Katharina Schultz für die Rolle der Winnie in Glückliche Tage probte, konzentrierte er sich auf »the rhythm, pace, pitch, and volume of her voice and the rhythm and timing of her movements. […] He argued that precision and economy would produce the maximum of grace, quoting Kleist’s essay on the Marionette theatre to reinforce his argument. His aim was to achieve a musicality of gesture […]« (Knowlson 1996: 584).

Ähnlich verwies Beckett einige Jahre später, 1976, während der Proben für die BBC-Produktion des Fernsehschauspiels Ghost Trio in den Ealing Filmstudios in London sowohl den Schauspieler Ronald Pickup als auch seinen Biographen James Knowlson auf Kleists Aufsatz mit der Absicht »to illustrate what he [Beckett] said about the relations between economy and the grace and harmony that he wanted to see in the movements of the protagonist« (ebd. 632). Diese Reduziertheit, Anmut und Harmonie gehen perfekt aus der Implikation hervor, dass F, die männliche Figur in Ghost Trio (1975), dieselben Handlungen so lange schon wiederholt, dass sie automatisiert wurden, übergegangen in Fleisch und Blut, oder, mit anderen Worten, eine unaffektierte Angewohnheit. Die Choreographie von … but the clouds …, das Schwesterstück zu Ghost Trio, zeigt ihre eigene (und eigenartige) Anmut: Die exakte Anzahl (fünf Schritte) und präzise Ausrichtung (nach Norden, Osten, Süden und Westen) der Bewegungen von M ist akribisch

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festgelegt. Die Produktion des Süddeutschen Rundfunks, … nur noch Gewölk …, die unter Becketts Regie 1977 in Stuttgart entstand, ähnelt mit ihrem unheimlichen Wandeln11 einem Clownsballet oder Vaudeville-Repertoire, jedoch stets mit Becketts charakteristischer Art des Unbehagens. In Ghost Trio und … but the clouds … (1976) werden die Protagonisten F und M von dem Verlangen geplagt, von einer verstorbenen Geliebten heimgesucht zu werden, und dieses Verlangen treibt jede akribische Bewegung an, die wir auf der Leinwand sehen. V, die Stimme von M in … but the clouds …, sagt: »[C]rouching there, in my little sanctum, in the dark, where none could see me, I began to beg, of her, to appear, to me. Such had long been my use and wont. No sound, a begging of the mind, to her, to appear, to me« (Beckett 1990: 420). Trauer ist hier eine parasitäre Entität geworden, eine »obscure and unreflective tendency« (Ravaisson 2008: 53), die Félix Ravaisson als Gewohnheit identifiziert, ein Ersatz für den tierischen Instinkt, den Kleist in seinem Beispiel vom fechtenden Bären so anmutig findet und der in den Menschen schon lange verloren ist (vgl. ebd.; vgl. Kleist 1985: 14f.). Eine ähnliche Betonung von gewohnheitsmäßiger, mechanischer Bewegung sieht man in diversen anderen Stücken. Beispiele sind Come and Go (1965), Footfalls (1976) und Rockaby (1980). In Quadrat (1982, SDR, Regie: Beckett) absolvieren die vier Schauspieler, die vorzugsweise »some ballet training« mitbringen und daher die Art von Anmut, die Kleist in seinem Aufsatz fordert, eine streng choreographierte Reihe von Permutationen, wobei sie stets die »danger zone« im Zentrum des Vierecks vermeiden (Beckett 1990: 453). Im Skript erinnert Becketts Diagramm für die Choreographie an Origami-Anleitungen, während die fertige Darbietung an das Kinderspiel »Himmel und Hölle« oder die Manöver eines antiken Rituals erinnert (Albright 2003: 137). What Where (1983), Becketts finales Stück, ist Marionettentheater, allerdings mit echten Schauspielern auf der Bühne. Die maschinenhaften Äußerungen der Spieler – Beckett nennt sie nicht einmal mehr Charaktere oder Schauspieler12 – erinnern an Permutationen eines Computercodes. Was Wo, die Fernsehversion des Stückes, die Beckett 1985 im SDR inszenierte, liegt ebenfalls dicht am deutschen expressionistischen Film, denn sie ist reine Nahaufnahme, chiaroscuro und schlafwandlerische Trance. In einem Brief vom 1. Januar 1984 an Reinhart Müller-Freienfels, dem damaligen Direktor des SDR, spezifiziert Beckett für Bam, Bem, Bim und Bom: »Attitudes and movements strictly identical. Speech mechanical and colourless« (zit.n. Maude 2009: 132). Er fügt hinzu: »All four to be made as alike as possible by means of costume and make-up however excessive« (zit.n. ebd.: 130), was die maskenartigen Gesichter aus Filmen des deutschen Expressionismus ins Bewusstsein ruft.13

11 | Anm. d. Übers.: Maude schreibt »uncanny traipsing«. 12 | Anm. d. Übers.: Maude schreibt »players […] no longer […] characters or even actors«. 13 | Samuel Beckett an Reinhart Müller-Freienfels, 1. Januar 1984, Paris, SWR MS20 /27587, Südwestrundfunk Historical Archives, Stuttgart, Maude 2009: 132; 130.

Beckett, der expressionistische Film und Kleists Marionetten

Die Affinitäten zwischen Marionettentheater, frühem Film und der »dehumanisierenden« Tendenz, Schauspieler als Requisiten zu benutzen, die sowohl Arnheim als auch Benjamin bemerken, leistet einen gewissen Beitrag zur Erklärung der stilisierten, nahezu mechanischen Gesten, Haltungen und Gangarten des Stummfilms, die ihren Weg in Becketts Werk gefunden haben. Dies ist ein Merkmal von Charlie Chaplins Filmen und der amerikanischen Tradition der Periode und ebenso von der stummen französischen Komödie (wie den Filmen von Méliès) und von Filmen des deutschen Expressionismus.14 Während allerdings in amerikanischen und französischen Traditionen diese Mechanisierung und Vergegenständlichung in erster Linie als Quelle von Humor betrachtet wird, ist die Stimmung im Film des deutschen Expressionismus radikal anders, und wir finden uns oft in einer melancholischen und unheilvollen Atmosphäre wieder. Anders gesagt sind amerikanische und französische Stummfilme der Periode weitaus positiver als die Tradition deutscher expressionistischer Filme. Beim frühen Beckett wird Automatismus, ähnlich wie im amerikanischen und französischen Stummfilm, auch häufig als Quelle von Humor präsentiert. Dies ist der Fall bei Watts Gang und bei der eigenartigen Gangart der beiden Landstreicher in Waiting for Godot, wobei man hinzufügen sollte, dass dieser Humor stets mit Becketts eigener Art von Unbehagen gefärbt ist. Beim späteren Beckett, der den Einfluss des deutschen expressionistischen Films durch die Verwendung von chiaroscuro, Spots und Nahaufnahmen und der viel radikaler stilisierten mise en scène deutlicher zeigt, ändert sich die Stimmung, und das Mechanische wird regelmäßig als melancholisch, zwanghaft und zeitweise bedrohlich präsentiert. Die humorvollen Aspekte des frühen und mittleren Beckett scheinen schlussendlich im späten Beckett zu schwinden, worüber viele Kritiker gerätselt haben. Abschließend ist der seltsame Verlust der Handlungsfähigkeit, die Arnheim und Benjamin im frühen Film beobachten, im deutschen Stummfilm weitaus präsenter als in den amerikanischen oder französischen Traditionen. Während amerikanische und französische Stummfilme den subjektiven Kontrollverlust als komisches Element behandeln, ist er in der deutschen Tendenz eher eine Ursache für Klage oder sogar Horror. Becketts Arbeit der 1940er und 1950er hält sich eher an die komischen, also amerikanischen und französischen Traditionen; aber ab den späten 1950er Jahren weicht die Komödie nach und nach einer dunkleren, posthumanistischen Vision, in der Gestik, Haltung und Sprache selbst auf mechanische Reproduktion reduziert scheinen. Heinrich von Kleists Einfluss wird in Becketts Theater- und Fernseharbeit ab 1969 bemerkenswert spürbar. In 14 | Für eine Abhandlung über den Einfluss von amerikanischen und französischen Filmen auf Becketts Werk siehe meinen in Kürze erscheinenden Aufsatz »Convulsive Aesthetics: Beckett, Chaplin and Charcot«, in The Edinburgh Companion to Samuel Beckett and the Arts, hg. von S.E. Gontarski. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2014.

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Stücken wie Happy Days (1961), Play (1963); Come and Go (1965), Footfalls (1976), Rockaby (1980), Quad (1982) und What Where (1983) wird das Motiv des posthumanistischen, mechanischen Subjekts, das Beckett erstmals im Film des deutschen Expressionismus angetroffen hatte, auf eine ganz eigene, anmutige Weise reproduziert. Aus dem Englischen von Daniel Lawler

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Modern Times (1936) (USA, R: Charles Chaplin). Nosferatu (1922) (Deutschland, R: F.W. Murnau). The Pilgrim (1923) (USA, R: Charles Chaplin). Die Puppe (1919) (Deutschland, R: Ernst Lubitsch). Un Chien andalou (1928) (Frankreich, R: Luis Buñuel/Salvador Dalí). Wenn wir alle Engel wären (1936) (Deutschland, R: Carl Froelich).

Unseld/Beckett Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung Friedhelm Rathjen

Als Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld noch in seinem Haus in der Klettenbergstraße in Frankfurt residierte, in das er einmal jährlich zur Buchmesse zum »Kritikerempfang« einlud, konnte man an prominenter Stelle des Wohnzimmers über eine Stellage mit hintereinanderstehenden großformatigen Fotos stolpern, die alle das gleiche Motiv zeigten: den Hausherrn Unseld mit jeweils einem Autor seines Verlags. Beim Kritikerempfang 1991 zeigte das vorderste Foto Unseld mit dem in jenem Jahr verstorbenen Max Frisch; in allen anderen Jahren, zumindest soweit ich anwesend war und mich von der Anordnung überzeugen konnte, stand ein anderes Foto vorn, und zwar ohne Unterschied immer dasjenige, das Siegfried Unseld an der Seite Samuel Becketts zeigte. Ein Zufallsarrangement war das natürlich nicht. Die bevorzugende Hochschätzung Becketts durch Unseld, die sich in der stolzen Präsentation des gemeinsamen Fotos ausdrückt, ist auch in schriftlichen Zeugnissen vielfach belegt. Beispielsweise notiert Unseld Ende April 1971 nach einem Treffen mit Beckett: »Das Gespräch mit ihm zählt zum Schönsten, was es für mich überhaupt gibt. Beckett ist für mich als Mensch wie als Autor vorbildlich und vollkommen« (Johnson/Unseld 1999: 684). Die Formulierung »als Mensch wie als Autor« legt nahe, dass die Hochschätzung weit über das hinausgeht, was mit Unselds professionellem Interesse an Becketts Werk zu tun hat – aber für den Verleger ist dieses professionelle Interesse natürlich nie nachrangig. Schon 1968 – also vor der Vergabe des Nobelpreises an Beckett, die dessen Stellenwert immens erhöhte – schreibt Unseld an seinen neuen Verlagsautor Thomas Bernhard: »Sie wissen, daß im Suhrkamp Verlag Beckett als Nummer 1 aller Autoren rangiert und daß wir uns um ihn wirklich bemühen« (Bernhard/Unseld 2009: 79). Anlass der Bekundung ist Bernhards Gejammer, der Verlag verkaufe nicht genug Bücher von ihm; Unseld kann ihm entgegenhalten, von Becketts 1954 erschienenem Prosa-Verkaufsschlager Molloy seien zu diesem Zeitpunkt erst 2554 Exemplare abgesetzt worden (ebd.). Damit ist dann auch klar, dass für den verlagsinternen Ehrentitel »Nummer 1 aller Autoren« keineswegs der wirtschaftliche Erfolg ausschlaggebend ist.

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Friedhelm Rathjen

Was aber ist dann ausschlaggebend? Mitte der 1970er Jahre formuliert Unseld über jenen Autor, der den Verlag in seinen Anfangsjahren wirtschaftlich entscheidend gestärkt hat: »Hesse war – neben Samuel Beckett – der bescheidenste Autor, dem ich begegnet bin. ›Geld und Macht‹, Vermögen und Einfluß galten ihm nichts […]« (Unseld 1975: 220). Auf Beckett gemünzt wiederholt Unseld das ein Jahrzehnt später: »Dieser Dichter ist der bescheidendste [sic!], den ich kenne. Ihm geht es um sein Werk, seine Fürsorge gilt anderen« (Unseld 1990: 23). Der »Fürsorge« des Werks von Beckett hat Unseld sich und seinen Verlag verschrieben; für Beckett scheint dabei zu sprechen, dass er dem Fürsorger sein Amt relativ leicht macht: »[J]ede Begegnung mit einem Autor ist ein diffiziler Vorgang. Nicht mit Beckett« (ebd.). Wenn Unseld an Beckett vornehmlich die Bescheidenheit rühmt, so müssen wir hinzusetzen, dass Unseld selbst gerade nicht der bescheidenste aller Verleger war. In einem Versuch, Unselds Wesen als Verleger (und womöglich auch als Mensch) auf den Punkt zu bringen, beschrieb die österreichische Autorin Marianne Fritz ihn mir gegenüber einmal als »Panzer«, eine Charakterisierung, die durchaus positiv gemeint war: Unseld verfolge unbeirrt den Weg, den er sich gesetzt habe, und räume alles zur Seite oder mache alles platt, was sich ihm in diesen Weg stelle. Diese Methode, Macht und Dominanz auszuüben, ist das Gegenteil dessen, was Unseld nach eigenem Eingeständnis an Beckett schätzte; gleichwohl hat er seine Panzerhaftigkeit virtuos so eingesetzt, dass gerade der bescheidene, machtlose, ungepanzerte Beckett und sein Werk davon profitierten. Basis dieser symbiotischen Beziehung zweier ungleicher literarischer Akteure sind die vor allem seitens des Verlags zielstrebig erweiterten, vertieften und unauflöslich verknüpften Bindungen geschäftlicher und persönlicher Natur – »als Mensch wie als Autor« begriff Unseld in Beckett sein ideales Gegenüber, also suchte er selbst ihm »als Mensch wie als Verleger« stets hilfreich zu begegnen. Damit erhält die Verleger-Autor-Beziehung einen Freundschaftsaspekt, den beide Seiten sorgsam pflegen; und dieser Aspekt geht offenbar schon auf Unselds Vorgänger in der Verlagsleitung zurück, also auf Peter Suhrkamp. An die Situation nach dem Tod Suhrkamps am 13. März 1959, der für Unseld die Übernahme des Verlegeramtes bedeutete, erinnerte er sich sehr viel später folgendermaßen: »Suhrkamp war 1953 zur Uraufführung von Samuel Becketts ›En attendant Godot‹ gereist. Er war beeindruckt, er traf Beckett, und er entschied sich sofort für diesen ja nicht einfachen Autor. Die Übersetzung vertraute er seinem Freunde Erich Franzen an, es gab Schwierigkeiten wegen dieser Übersetzung, so dass es mir nach Suhrkamps Tode auch aufgegeben war, mit der definitiven Übersetzung Elmar Tophoven zu betrauen« (Unseld 2002a: 12f.). 1 1 | Zu Peter Suhrkamps ersten Kontakten zu Beckett unmittelbar nach der Uraufführung von Warten auf Godot, der Suhrkamp beiwohnte, vgl. auch Sievers 2005: 225f. Sievers betont die Rolle der persönlichen Sympathie bei der Entscheidung Suhrkamps, sich des Beckett’schen Werks anzunehmen; offen bleibt, ob diese Einschätzung womöglich zumin-

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung

Dies ist eine etwas rätselhafte Darstellung, denn als Beckett-Übersetzer kam Elmar Tophoven keineswegs erst ab 1959 ins Spiel, sondern er übersetzte bereits Warten auf Godot, das 1953 bei Suhrkamp erschien, und auch alle weiteren dramatischen Texte; Erich Franzen übersetzte nur Molloy (die Übersetzung erschien 1954), der nächste Roman Malone stirbt folgte 1958 in Tophovens Übersetzung. Kein Zufall aber ist wohl, dass Unseld in seiner nicht ganz korrekten Erinnerung das Thema Freundschaft mit ins Spiel bringt; untergründig schwingt mit, in Sachen Beckett habe zunächst die Freundschaftsachse Suhrkamp/Franzen agiert und dann womöglich eine Freundschaftsachse Unseld/Tophoven. Entscheidend allerdings wurde schnell die übergeordnete Freundschaftsachse Unseld/Beckett. Unselds erste Tat zugunsten der Verlagsbindung Becketts war 1956 – noch zu Zeiten Peter Suhrkamps – die Sicherung der Verlagsrechte am Endspiel.2 Dieses Wirken trägt Unseld im August ein erstes Schreiben Becketts ein, das den Ton für viele weitere setzt: »[I]ch war sehr glücklich, über Sie Neuigkeiten von Elmar Tophoven zu erhalten. […] Vertrauen Sie, lieber Monsieur, auf meine treue Freundschaft« (Bürger/Hack 2010: Exponat 1/30). Das, was Unseld im Gegenzug für diese »treue Freundschaft« zu bieten hat, schreibt er Beckett nach einer ersten persönlichen Begegnung am 8. August 1958: »Uns liegt viel daran, mit Ihnen in enger und lebendiger Verbindung zu stehen und Ihnen immer wieder zu bestätigen, wie intensiv und leidenschaftlich wir uns bemühen, für Ihr Werk im deutschen Raum ein Echo zu erzielen« (ebd. 3). In seinen Briefen an Unseld verwendet Beckett anfangs noch die Anrede »Cher Monsieur«; irgendwann zwischen Oktober 1961 und August 1965 geht er aber zu »Cher ami« über, womit die Freundschaft als Leitmodus der Verbindung gleichsam besiegelt ist; spätestens nach einem folgenreichen Treffen in Paris am 14. März 1969 unterschreibt er zudem vertraulich als »Sam«, und Unseld geht zu diesem Zeitpunkt vom vorherigen »Sehr geehrter Herr Beckett« zu »Lieber Sam« über (man siezt sich allerdings weiterhin) (vgl. Hartel 2011: 132f.; Datierung des Treffens ebd. 137, Anm. 7). Wie man weiß, hatte Beckett die Angewohnheit, seine Freundschaften nach Möglichkeit separat voneinander zu pflegen und Treffen mit Freunden, Kollegen und Bewunderern so zu arrangieren, dass er es möglichst nur mit einem Gegenüber gleichzeitig zu tun hatte. Siegfried Unseld hat diese Gewohnheit entweder nicht zur Kenntnis genommen oder ignoriert. Bekannt ist Unselds Maxime, nicht einzelne Bücher, sondern Autoren zu verlegen; hinzu kommt allerdings noch das Bestreben, diese Autoren miteinander zu vernetzen und so eine Art SuhrkampFamilie zu organisieren, deren Mitglieder sich gegenseitig gut behandeln, notdest teilweise eine Rückprojektion von Suhrkamps Nachfolger Unseld gewesen sein mag, auf dessen Darstellung die Information zurückgeht 2 | Vgl. Bürger/Hack 2010: 1: »Der junge Siegfried Unseld befasste sich zum ersten Mal drei Jahre später intensiv mit Beckett, als es darum ging, die deutschen Rechte an dessen Endspiel für den Verlag zu sichern; das Stück erschien im Suhrkamp Verlag 1957 in der Übersetzung von Elmar Tophoven.«

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falls auch helfen und gegenseitig Glanz verleihen. Beckett profitiert von dieser Tendenz, weil Unseld namhafte Verlagsautoren für ihn einspannt – erinnert sei nur an Theodor Adorno, der Beckett zu Ehren eine große Rede hält, oder an Uwe Johnson, der zusammen mit Hans Mayer und dem Verlag eine Beckett-Tagung organisiert und leitet. Auf Beckett kommen dadurch allerdings auch Gegenleistungen zu, die er wohl kaum erbracht hätte, hätte es sich nicht um Dienstleistungen für den ihm so sehr verbundenen Verlag gehandelt: Er erträgt es, bei Adornos Vortrag anwesend zu sein; er stellt unveröffentlichte Werke für einen Band zum Gedenken an Günter Eich und auch für eine Festschrift zu Ehren von Hans Mayer zur Verfügung. Und er erträgt es eben auch, dass Unseld zu ihren Treffen häufig andere Mitglieder der Suhrkamp-Familie mitbringt. Als Unseld im April 1960 in Paris Beckett trifft, lässt er sich beispielsweise von Walter Boehlich und Uwe Johnson begleiten (Johnson/Unseld 1999: 81). Wie wohl von Unseld beabsichtigt, überträgt Beckett sein dem Verlag gegenüber bestehendes Wohlwollen auf alle Personen, die Unseld mitbringt oder die für ihn erkennbar eng mit dem Verlag verbunden sind. In einem Aufsatz zu Becketts letztem runden Geburtstag 1986 schreibt Unseld: »Es gibt ein Ritual für diese Begegnungen, einleitende Gesprächsfloskeln, wie geht es Ihnen, wie geht es Madame Unseld, wie geht es dem Sohn Joachim; wie geht es Hermann Hesse (so fragte er vor 1962), und (nach 1962) findet Hermann Hesse bei der Jugend immer noch so großen Anklang?« (Unseld 1990: 23).

Bemerkenswert an dieser Darstellung Unselds ist, dass hier die Suhrkamp-Familie – also der Verlag samt Autoren – und die Familie Unseld – also der Privatclan des Verlegers – tendenziell vermischt oder jedenfalls gleich behandelt werden. Früh ist Beckett über private Entwicklungen im Hause Unseld im Bilde, so die Krise der Unseld-Ehe und Unselds private Verbindung mit einer Verlagsautorin. Mitte Mai 1988 setzt Beckett auf einer Briefkarte an Unseld vor den Abschiedsgruß »Herzliche Grüße an Sie + Joachim« noch den Satz »Freundliche Grüße an Ulla« (Bürger/Hack 2010: Exponat 26/30); einen Monat später wird er noch etwas konkreter und schreibt: »Herzliche Grüße an Euch beide + alles Gute für Euer Glück« (ebd. Exponat 27/30).3 Einer nicht zu verifizierenden Quelle zufolge soll Beckett sogar »als Erster« erfahren haben, »dass Siegfried Ulla heiraten wird, und überrascht angeblich mit dieser Nachricht Joachim Unseld, den Sohn« (Posche 2004: 101). Soweit zur Rubrik »Klatsch und Tratsch« – in jeder Hinsicht wichtiger sind natürlich die Kontakte zu anderen Autoren, die Unseld stiftet und die von Beckett fügsam gutgeheißen werden. So schreibt Beckett am 24. Oktober 1961 im Vorlauf eines Treffens an Unseld: »Es freut mich sehr, dass Max Frisch Sie am

3 | Auf den noch späteren Karten beschränkt Beckett sich dann auf Grüße an den Sohn Joachim und erwähnt Ulla Berkéwicz nicht mehr.

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung

Sonntag begleiten kann. Ich freue mich darauf, ihn sowie Ingeborg Bachmann zu treffen« (Bürger/Hack 2010: Exponat 3/30). Nicht immer allerdings führen solche Versuche Unselds, Beckett mit anderen Verlagsautoren zu verkuppeln, zu den gegenseitigen Befruchtungen, die Unseld sich wohl erhofft. Im Kontext des allerletzten Treffens mit Beckett in Paris erinnert er sich: »Am Abend sprechen wir, Ulla Berkéwicz, E.M. Cioran, Paul Nizon und ich, noch lang über den erwarteten, den verpaßten, über den wieder zu erwartenden Beckett. […] Paul Nizon ist begeistert von dem, was Beckett einst Peter Handke auf die Frage, was er im Fernsehen sehe, zur Antwort gab: Football […]« (Unseld 2002b: 17).

Unseld erwähnt es hier nicht, aber die Anekdote, über die sich Nizon hier »begeistert« zeigt, ist unzweifelhaft eine, die Unseld bei dieser Gelegenheit auftischt – und auch bei etlichen anderen Gelegenheiten. Von dieser Anekdote existieren mehrere Fassungen, und es lohnt sich, ihnen einmal kurz nachzugehen. Eine recht nüchterne Version hat Unseld 1991 an nüchternem Ort festgehalten, nämlich in seinem Buch Goethe und seine Verleger: »Samuel Beckett empfing auf meinen Wunsch in kurzen Abständen Edward Bond und Peter Handke; beide redegewandten Schriftsteller versanken aus Respekt vor der poetischen Autorität und unter dem Eindruck von Becketts Erscheinung in Schweigen, und so entstanden sehr einseitige Unterhaltungen, nach denen Beckett wünschte, keine Schriftsteller mehr treffen zu müssen« (Unseld 1991: 489).

Die Schlussformulierung – Becketts Wunsch, »keine Schriftsteller mehr treffen zu müssen« – verrät mehr, als Unseld bei den meisten Gelegenheiten verraten wollte, dafür lässt er hier den Clou unter den Tisch fallen, den er sonst wohl besonders gern ausbreitete. An »die von Siegfried Unseld oft erzählte Anekdote über das Zusammentreffen von Beckett mit Handke, bei der keinerlei Gespräch aufkommen wollte, die sich nichts zu sagen hatten« (Schütz 2004: 252), erinnert sich Klaus Reichert in seinem Unseld-Nachruf 2002 folgendermaßen: »Unseld redete gerne und viel, meist über den Verlag und über Autoren, und oft war er ein guter Anekdotenerzähler. Unvergesslich die Schilderung der Begegnung Handkes mit Beckett: Die beiden hatten einander nichts zu sagen, das Gespräch kam nicht in Gang, da fragte Handke plötzlich: ›Do you watch television?‹ Beckett: ›Only sports.‹ Und Handke: ›You are my man‹« (Reichert 2002). 4 4 | Vgl. auch ebd.: »Unseld redete gerne und viel, aber er hörte nicht so gern zu. Redete einer für seinen Geschmack zu lang – das habe ich gegenüber Adorno und Gershom Scholem erlebt – wurde er unruhig auf seinem Stuhl, runzelte die Stirn, schob das Kinn vor wie ein Condottiere und schaute in die Ferne. Entweder wechselte er das Thema, oder er brach-

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Vermutlich hat Reichert die Anekdote selbst bei Gelegenheit von Unseld privat oder halbprivat erzählt bekommen; erzählt hat Unseld sie allerdings auch öffentlich, nämlich in einem Stern-Interview, und zwar folgendermaßen: »Beckett war geradezu bemüht um Handke. Der junge Handke dagegen schwieg voller Scheu vor diesem auch für ihn großen Mann. Beckett war irritiert, stand früh vom Tisch auf und wollte gehen. Beim Abschied gab es dann noch einen überraschenden Dialog. Handke: ›Beckett, jetzt habe ich doch eine Frage: Sehen Sie fern?‹ ›Ja.‹ ›Was sehen Sie denn?‹ ›Nur Fußball.‹ Da schlug ihm Handke auf die Schulter und sagte: ›Beckett, das finde ich prima!‹« (Michaelsen 2002). 5

Erzählt hat Siegfried Unseld die Anekdote also – und zwar durchaus zur Mehrung des Ruhms seines Verlags und zweier seiner Verlagsautoren – so, dass Handkes Frage nach Becketts Fernsehkonsum die zuvor etwas prekäre Situation gerettet und ein allseitiges wohlwollendes Vergnügen bewirkt habe. Dass das eine nachträgliche Stilisierung ist, ergibt die Gesprächsnotiz, die Unseld sich im Februar 1970 im direkten Anschluss an das betreffende Pariser Treffen gemacht hat: »Am nächsten Tag hatte ich die Idee, Handke zu dem Mittagessen mit Beckett dazuzuladen. Ich werde so etwas nicht mehr tun, denn Handke […] gab sich in der Unterhaltung nicht die geringste Mühe, sondern saß da und schwieg. Das geht eben nicht. Beckett versuchte mehrmals, mit ihm über seine Stücke ›Publikumsbeschimpfung‹ und ›Kaspar‹ zu sprechen, aber Handke war wenig gerührt und erkundigte sich seinerseits weder nach Beckett noch nach dessen Arbeit. In der ganzen Unterhaltung hatte Handke nur zwei Fragen an Beckett gerichtet: Haben Sie ein Fernsehgerät?, und als Beckett dies bejahte: Was sehen Sie da? – und darauf antwortete Beckett, er sähe prinzipiell nur Sportdarbietungen: Rugby, Cricket, Tennis und Fußball« (Unseld 2011: 22f.).

Der springende Punkt beim Vergleich der diversen Versionen ist nicht (oder nicht nur), dass sich in der Erinnerung mit größer werdendem Abstand zum Geschehen etwas verschiebt; der springende Punkt ist vielmehr, dass das, was ursprünglich als unglückliche und unangenehme Situation erlebt wurde, späterhin umgedeutet wird zu einer Begebenheit, die den Ruhm sowohl Becketts als auch Handkes (und zumindest indirekt auch den Ruhm von Verlag und Verleger) mehrt. Dies alles gehört durchaus zu Siegfried Unselds Selbstverständnis als Verleger: Er springt für seine Autoren in die Bresche, bringt sie ins und hält sie im Gespräch, fördert das Interesse an ihnen – eben auch durch Umdeutungen und te die Rede seines Gegenübers auf den für ihn brauchbaren Punkt: ein Buch, eine Ausgabe, wenigstens ein Projekt. So oder so blieb er immer bei sich: bei seinen Zielen.« 5 | Zitiert werden hier Worte, die Siegfried Unseld bei früherer Gelegenheit im Stern »erzählt« habe. – Handke hat seine eigene Erinnerung an das Treffen in einem Interview ebenfalls zu Protokoll gegeben; vgl. Becker 1992: 16.

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung

Stilisierungen. Wenn wir über das stilisierte Bild, das Unseld selbst von der Verleger-Autor-Beziehung zeichnet, hinauskommen wollen, heißt das allerdings, dass wir Unselds öffentlichen und halböffentlichen Schilderungen grundsätzlich mit Skepsis begegnen müssen. Instruktiver sind die Gesprächsnotizen und Aufzeichnungen, die Unseld unmittelbar nach seinen Treffen mit Beckett macht und die für seine eigenen wie für verlagsinterne Zwecke, aber nicht für die Öffentlichkeit gedacht sind. Hier zeigt sich, dass die Treffen mit Beckett in der Regel projektbezogen sind. Am Vortag jenes Treffens, zu dem Unseld Handke mitnimmt, geht es beispielsweise um die projektierte Beckett-Werkausgabe, ein ambitioniertes Unternehmen, das Becketts Bindung an den Suhrkamp Verlag weiter konsolidiert. Ich zitiere Unselds Gesprächsnotiz aus dem Februar 1970: »Wir, Tophoven, Spies und ich, berieten lange über die Anlage der Gesamtausgabe. Beckett verhielt sich sehr dezidiert bei den Dingen, die er nicht wollte. Er hatte sich sehr lange überlegt, was er dafür freigibt und was nicht. Der entscheidende Punkt ist ›Eleutheria‹, ein Stück, das 1947 entstanden ist, das er aber partout verleugnen möchte. An viele seiner Gedichte erinnere er sich gar nicht mehr. Entweder müsse ein Dichter diese Übertragungen machen, oder aber eine exakte wörtliche Übersetzung müsse erfolgen, dazu aber den Originaltext. Die Rezensionen will er alle als Jugendarbeiten bzw. als Jugendsünden verstanden wissen und möchte sie nicht in der Ausgabe seiner Werke sehen. Auch nicht Rilke, bei dem ihm damals der Zugang sehr schwergefallen sei« (Unseld 2011: 22).

Das sind alles eher sachbezogene Notizen, abgesehen vielleicht von der leichten Andeutung von Differenzen, die in dem Satz steckt: »Beckett verhielt sich sehr dezidiert bei den Dingen, die er nicht wollte.« Der Euphemismus »dezidiert« taucht in jener Passage von Unselds »Reisebericht« 1970, die dasselbe Arbeitstreffen beschreibt, ebenfalls auf: »Es war gut, daß ich mich für das Gespräch vorbereitet hatte, indem ich auf jeweils verschiedenen Bogen die einzelnen Texte Becketts in der Gliederung Stück, Prosa, Kritik, Lyrik aufgeführt hatte. An sich sollten Tophoven und Spies eine Anlage entworfen haben, aber das geschah nicht. Beckett hat nun auf meinen Blättern eingezeichnet, was aufgenommen werden kann und was nicht. Wichtig ist die Freigabe der Erzählungssammlungen ›More Pricks than Kicks‹ – ›Mercier et Camier› – ›Premier amour‹. Beckett hat nicht gestattet: die Aufnahme der drei unveröffentlichten Dramen, einiger Gedichte und einiger Rezensionen. Er hatte hier ganz dezidierte Auffassungen. Ich werde jetzt den definitiven Plan aufstellen« (Unseld 2011: 18f.; auch in Unseld 2010: 118f.).

Bemerkenswert ist hier das entschiedene »Ich« des letzten Satzes: Unseld macht die Planung der Ausgabe zur Chefsache, dies seiner Darstellung zufolge auch,

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weil andere Beteiligte sich als unzuverlässig erweisen. Bei den »drei unveröffentlichten Dramen« handelt es sich übrigens um »The Possessed«, »Le Kid« und »Eleutheria«,6 also drei ausgesprochen unterschiedliche Arbeiten, von denen Unseld mit Sicherheit nicht mehr weiß als eben diese Titel. Natürlich hat Unseld sich für seine Zusammenstellung veröffentlichter und unveröffentlichter BeckettTexte keineswegs mühsamer Archivstudien unterziehen können, für die der Leiter eines Großverlags schwerlich Zeit und Gelegenheit haben kann, sondern er hat in die nächstbesten Suhrkamp-Bände geschaut – Quellen der Werkübersicht sind ganz offensichtlich die von John Fletcher zusammengestellte Beckett-Bibliographie in dem 1966 bei Suhrkamp erschienenen Bändchen Über Beckett von Jean-Jacques Mayoux und ergänzend die knappere, aber aktuellere »Chronologie der Werke Samuel Becketts (1929-1967)« in dem 1969 erstmals bei Suhrkamp erschienenen Fletcher-Band Die Kunst des Samuel Beckett (vgl. Fletcher 1966: 121143; Fletcher 1969: 172-174). Wenn das Arbeitstreffen zur Vorbereitung der Werkausgabe (die tatsächlich erst sechs Jahre später, in deutlich anderer Gestalt und ohne direkte editorische Beteiligung Unselds erscheint) ein Schlaglicht auf Beckett »als Autor« wirft, so gerät in den weiteren Notizen Unselds vom selben Tage doch wieder Beckett »als Mensch« in den Blick: »Wir gingen dann zum Abendessen und fuhren dazu mit der Métro. Ich glaube, Beckett ist der einzige Nobelpreisträger, der als Transportmittel die Métro benützt« (Unseld 2011: 22). Die Betonung liegt hier auf »Nobelpreisträger«; mit der Verleihung des Preises wenige Monate zuvor ist Becketts Rang »als Autor« für Unseld und seinen Verlag noch weiter gestiegen, und die Art und Weise, wie Beckett mit der Ehrung umgeht, scheint gleichzeitig seinen Rang »als Mensch« zu erhöhen. Im nächsten Satz notiert Unseld: »Von seiner Nobelpreissumme hat er einen Scheck mit einer namhaften Summe an Tophoven gegeben mit dem Hinweis, er soll das Geld anlegen für seinen Sohn« (ebd.). Nun sind gerade die Umstände der Nobelpreisvergabe und ihre Auswirkungen für den Autor einerseits und den Verlag andererseits ein sehr diffiziles Thema, anhand dessen sich das keineswegs widerspruchsfreie, aber im Effekt höchst erfolgreiche Zusammenwirken der Bemühungen Becketts und Unselds besonders schön zeigen lässt. 1986 benennt Unseld als einen der persönlichen Vorzüge Becketts, dass »er nie über mangelnde Ehrungen und Preise klagte; den Nobelpreis lehnte er bekanntlich nicht ab, er ging aber nicht nach Stockholm, und er verteilte die Preissumme großzügig, unter anderem auch an seinen deutschen Übersetzer« (Unseld 1990: 23). Hinter dieser Formulierung verbirgt sich die Erinnerung an einen Eiertanz, den Unseld seinerzeit vollführen musste, was er auf bravouröse Weise tat. Der Nobelpreis war zwischen Beckett und Unseld schon Thema, bevor Beckett ihn erhielt. Am 22. März 1969, nachdem er von Unseld sowohl besucht 6 | Vgl. die Faksimiles der von Unseld erstellten und von Beckett kommentierten Werkausgabenpläne in Unseld 2010: 136.

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung

worden ist als auch einen Brief erhalten hat, schreibt Beckett seinem Verleger: »Zwei Dinge beunruhigen mich: der drohende [Nobel-]Preis und die Frage nach unveröffentlichten Werken. Sie erfordern es – das fühle ich ganz deutlich –, sehr schwierige Entscheidungen zu treffen, die meine ganze kleine problematische Zukunft als Schriftsteller beeinflussen – die im Begriff ist, zu Ende zu gehen, wenn sie nicht sogar schon zu Ende ist. Wenn es nur um mich ginge, wäre es leicht. Ich weiß noch nicht, was ich machen werde. Ich halte Sie natürlich auf dem Laufenden« (Bürger/Hack 2010: Exponat 6/30).

Das Schreiben endet mit dem Gruß »In Freundschaft« (»Bien amicalement«), und zusammen mit dem Satz »Wenn es nur um mich ginge, wäre es leicht«, ist die Problemlage klar umrissen. Es geht nicht nur um Becketts eigenes Wohl, sondern auch um das des ihm freundschaftlich verbundenen Verlags; für den Verlag wäre die Preisvergabe an Beckett ein Segen, und wenn es zu einem solchen Preisentscheid käme, bräuchte der Verlag rasch unveröffentlichte Beckett-Texte zur Befriedigung des Käuferinteresses – beides hat Unseld Beckett offensichtlich in hinlänglicher Deutlichkeit vermittelt, und damit ist nun Becketts Loyalität und Solidarität gefragt. Wie wir wissen, hat Beckett seinen Verleger in dieser Hinsicht nicht enttäuscht. Am 6. November 1969, nach der Preisvergabe, schreibt Beckett von seinem Zufluchtsort in Tunesien an Unseld: »Ich weiß, was Sie alles für meine Arbeit getan haben und bin davon sehr gerührt. Leider, wie Sie wissen, wollte ich so etwas wie diesen [Nobel-]Preis nicht. […] Ich erinnere mich mit Rührung an Ihre Freundlichkeit mir gegenüber in und zwischen Berlin und Frankfurt. Es versteht sich von selbst, dass ich Top[hoven] nicht vergesse« (Bürger/Hack 2010: Exponat 7/30).

Der Schlusssatz klingt sehr danach, dass Unseld Beckett explizit oder zumindest durch die Blume aufgefordert hat, Tophoven zu unterstützen, was Beckett dann ja durchaus tut und von Unseld später als besonders edle Tat Becketts auch öffentlich benannt wird. Wenn wir der Darstellung und Bewertung von Wiebke Sievers folgen, die darauf hinweist, wie branchenüblich knapp der Suhrkamp Verlag den Übersetzer an Becketts Erfolg beteiligt habe (vgl. Sievers 2005: 229), so erkennen wir, dass Tophoven nach der Preisvergabe, die ihn selbst quasi zum Nobelübersetzer machte, allen Grund gehabt hätte, etwas einzufordern – beim Verlag. Auch Beckett hätte für seinen geschätzten Übersetzer beim Verleger etwas einfordern können; stattdessen fordert der Verleger bei Beckett etwas ein, und das mit Erfolg. Hier liegt ein Fall von Loyalität vor, von zumindest indirekt eingeforderter Loyalität, und Beckett ist derjenige, der sich wunschgemäß loyal verhält. Aber Unseld hat auch seinen Anteil an dem, was alle Welt außer dem Hauptbetroffenen als Erfolg begreift. Am selben 6. November 1969 schreibt Unseld

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an Beckett, versichert ihm, er sei der würdigste aller denkbaren Preisträger und werde nun in aller Welt noch mehr Anerkennung als ohnedies erfahren; aber Unseld schreibt auch, Beckett wisse ja sicherlich, dass er – Unseld – die Preisvergabe nicht unwesentlich beeinflusst habe (vgl. Hartel 2011: 136). Es ist einigermaßen paradox: Beckett will den Preis nicht und macht Unseld dies vorab klar; Unseld will den Preis für Beckett, macht Beckett vorab klar, wie wichtig das für der Verlag wäre, und fädelt im Hintergrund gleichzeitig die Preisvergabe an Beckett ein; als Beckett dann zu seinem Verdruss tatsächlich den Preis erhält, dankt er Unseld für dessen unermüdlichen Einsatz; für Unseld wiederum ist fortan die Tatsache, dass Beckett den von allen anderen Autoren erstrebten Preis gar nicht haben wollte, eine der Begründungen dafür, dass Beckett für ihn »als Mensch wie als Autor vorbildlich und vollkommen« sei – oder vielleicht ist die eigentliche Begründung doch eher, dass Beckett den Preis trotz alledem angenommen hat. Und hier liegt in der Tat der Kern der so erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Beckett und Unseld: Unseld schafft es durch verschiedene Beweise besonderer Wertschätzung (beispielsweise schöne mehrsprachige Ausgaben und die Aufnahme komplexer Texte in eigentlich eher massenkompatibler Literatur vorbehaltene Reihen), Beckett die Erlaubnis abzuringen, für ihn Dinge zu bewirken, die Beckett eigentlich gegen den Strich gehen, die seinen Ruhm aber unaufhörlich mehren – und Beckett findet sich am Ende nicht nur damit ab, dass Unseld all das treibt, sondern er ist dafür auch noch dankbar und fühlt sich seinem deutschen Verleger in besonderer Weise verbunden. Eine solche eigentlich paradoxe Folge seines Einsatzes für den von Beckett nicht gewollten Nobelpreis vermerkt Unseld in seinem Reisebericht von Mitte Februar 1970 nach seinem ersten Treffen mit dem nobelpreisgekrönten Autor: »Beckett möchte einen Revers unterschreiben, wonach alle seine Werke im Deutschen ausschließlich und für alle Zeiten beim Suhrkamp Verlag erscheinen sollen. Wir sollen ihm eine entsprechende Formulierung zuschicken. Er wird dann die Vertragspartner verständigen. An den Verträgen selbst kann oder will er nichts ändern. An Honorarabsprachen ist er nicht interessiert. Aber sollten Differenzen auftreten, wird er sicherlich auf unserer Seite sein« (Unseld 2011: 17; auch in Unseld 2010: 116f.).

Und Unseld fügt dann auch noch hinzu, was eigentlich keiner besonderen Erwähnung mehr bedarf: »Insgesamt verlief die Unterhaltung mit Beckett sehr, sehr freundlich. Er hat ein großes Wohlwollen dem Verlag gegenüber« (Unseld 2011: 21; auch in Unseld 2010: 121). Ähnliche Formulierungen notiert Unseld nach seinen diversen Treffen mit Beckett immer wieder, beispielsweise am 20. November 1975: »Er war wie immer ungemein freundlich, eher freundschaftlich, sympathisch. Er erkundigte sich nach Frisch, Handke, Hildesheimer, nach der Resonanz der Eich-Ausgabe, nach Hesses Wirkung […]« (Bürger/Hack 2010: 2). Wie wir sehen, verübelt Beckett seinem Verleger also auch nicht, seinerzeit den Schweiger Handke zu ihm mitgeschleppt zu haben, sondern fügt sich willig in

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung

die illustre Suhrkamp-Familie ein. An seine Grenzen stößt der Familienfriede höchst selten, und wenn, dann eher behutsam – nachzulesen beispielsweise in Unselds Reisebericht vom 11.-14. Juli 1978, in dem der uns bereits bekannte Euphemismus für Meinungsverschiedenheiten wieder auftaucht: »[D]ezidiert wird Beckett immer dann, wenn es um sein Werk geht, hier schwindet Freundlichkeit, hier wird er unerbittlich« (ebd. 3).7 Echte Probleme zwischen Autor und Verlag sind selten; eine rare Ausnahme ergibt sich aus Becketts Beteiligung an dem Gedächtnisband des Verlags für Günter Eich – am 24. August 1973 schreibt Beckett an Unseld: »Es ist eine Ehre für mich, von Wolfgang Hildesheimer, den ich herzlich grüße, übersetzt zu werden, aber ich hatte angenommen, dass Sie den Text Tophoven geben würden, und kann nur bedauern, dass Sie es nicht getan haben. Er kennt meine Manien und ich bin es gewohnt, mit ihm zu arbeiten. Ich fürchte, dass er aufgebracht sein wird. Ich halte zu ihm« (ebd. Exponat 11/30).

Es ist bemerkenswert, dass Beckett hier die Bestallung eines anderen als des gewohnten Übersetzers nicht mit der Rücksicht auf sein Werk begründet, sondern mit der Rücksicht auf seinen angestammten Übersetzer – Tophovens Leistung und Tophovens Loyalität, so deutet Beckett seinem Verleger gelegentlich an, würden von diesem nicht immer hinreichend gewürdigt. Aber mag Beckett auch »dezidiert« erklären, er halte zu Tophoven: Am Ende erscheint sein Text im EichGedächtnisband dann eben doch in der Hildesheimer-Übersetzung. Die Pflege seiner Verlagsautorenfamilie ist für Unseld im Zweifel immer wichtiger als die Qualität von Übersetzungen. Damit kommen wir zu den Grenzen, die sich in Unselds Verständnis für Becketts Wesen und Becketts Werk durchaus finden lassen. Im Februar 1970 schildert Beckett seinem Verleger auch das spezielle Problem, das er mit seiner Beteiligung an Kenneth Tynans New Yorker Revue Oh! Calcutta! hat; Unseld teilt Becketts Empörung und notiert sich das Problem folgendermaßen: »Eines Tages besuchte ihn Kenneth Tynan. Er erzählte ihm von einem großen Plan, bei dem alle bedeutenden Schriftsteller und Musiker mitmachen sollen. Beckett wußte aber nicht, daß es sich um eine Revue handelt, bei der alle Texte anonym vorgetragen wurden. Nach

7 | Anlass war ein Arbeitsgespräch in Paris am 11. Juli 1978, bei dem es – wie wohl auch schon am 13. April 1978 – um die Übersetzung der Mirlitonnades ging. Vgl. dazu die in Details widersprüchliche, womöglich beschönigende Darstellung bei Unseld 1990: 23. Der Verdacht der Beschönigung betrifft vor allem Becketts Urteil über Bestallung und Arbeitsergebnisse von Unselds Freund Karl Krolow als Übersetzer.

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Friedhelm Rathjen der Aufführung in den USA protestierte Beckett und verlangte, daß sein Text gezeichnet würde« (Unseld 2011: 18; auch in Unseld 2010: 117). 8

Dies ist natürlich ein krasses Missverständnis. In Wahrheit war es bekanntlich so, dass Beckett empört war, weil Tynan sein minimalistisches Kurzdrama Breath gerade nicht wie versprochen anonym in die Revue einbaute, sondern im Programmheft gesondert hervorhob. Trotz seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit Beckett scheint Unseld nicht imstande gewesen zu sein, sich vorzustellen, dass Beckett sich die Anonymität gerade wünschte. Unselds Maxime war es, mit möglichst viel Wirkung und möglichst viel Widerhall öffentlich zu handeln; dass Beckett fundamental nach dem Gegenteil strebte, hat Unseld zwar als Zeichen höchster Bescheidenheit öffentlich bewundert und belobigt, aber wirklich begriffen und akzeptiert hat er diese Tugend offensichtlich nicht. Aber auch damit tat er natürlich seinen Dienst an Beckett; hätte der Verleger seinen Autor bescheiden im stillen Kämmerlein hocken lassen und niemandem davon erzählt, so hätte Becketts Werk ebenso wenig wie Beckett selbst überlebt; indem Unseld aber Beckett seine Texte abrang und – notfalls gegen den Willen des Autors – öffentlich für diese Texte und den bescheidenen Menschen, der sie geschrieben hatte, trommelte, machte er Beckett für alle wahrnehmbar zu jener Figur, die »als Mensch wie als Autor vorbildlich und vollkommen« war. Und die Faszination für Beckett »als Mensch wie als Autor« sowie der daraus resultierende Umgangsmodus einer ebenso zielgerichteten wie nutzorientierten professionellen Freundschaft waren wohl das Geheimnis des Umgangs dieses Verlegers mit diesem speziellen Autor – wenn es denn dabei ein Geheimnis gab. Ob Unseld Beckett und sein Werk wirklich so gut kannte, wie er glauben machte, ist damit verglichen eine müßige und unerhebliche Frage. Insofern passt es, dass jener Text, mit dem Unseld von Beckett Abschied nahm, nämlich der pathostriefende Nachruf »Das letzte Mal Beckett«, zwar die Freundschaft zwischen Autor und Verleger feiert, aber in seinem abschließenden Versuch, zum Wesen des Beckett’schen Werks vorzudringen, katastrophal scheitert. Die Schlusssequenz des Nachrufs lautet folgendermaßen: »Seine Abschiedsworte werde ich nicht vergessen, ich habe sie aufgeschrieben, aber sie sind jetzt nicht mitteilbar. In anderer Form sind sie nachzulesen in Becketts englisch geschriebenem Roman Watt, auf jenen Seiten, in denen ein Grundgeheimnis seines Werkes aufscheint. ›Gott möge Sie segnen, Mr. de Baker, sagte Louit. Und Sie, Mr. Louit, sagte Mr. Baker. Nein, nein, Sie Mr. de Baker. Sie, sagte Louit. Warum eigentlich mich, Mr. Louit, na, wenn es denn unbedingt sein muß, jedenfalls auch Sie, sagte Mr. de Baker. Sie meinen, 8 | Vgl. die Herausgeberanmerkung in Unseld 2010: 118: »Der Ärger zwischen Tynan und Beckett entstand, weil Beckett – anders als S.U. es beschreibt – davon ausgegangen war, sein Beitrag werde anonym, wie alle anderen, in den Gesamttext montiert. Tynan hatte aber Breath als einzigen Text mit Nennung des Autors im Programmheft aufgeführt […].«

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung Gott möge uns beide segnen, Mr. de Baker? sagte Louit, Diable, sagte Mr. de Baker‹« (Unseld 2002b: 22).

Bemerkenswert an diesem Passus sind keineswegs die raunenden Andeutungen von tiefsinnigen Abschiedsworten, die »jetzt nicht mitteilbar« seien; bemerkenswert scheint mir eher, dass Unseld hier aus den Tiefen eines der umfänglichsten und unzugänglichsten Texte Becketts eine seines Erachtens treffende Stelle zu zitieren verstand. Als ich seinerzeit den Nachruf las (er erschien am 5. Januar 1990 in der Wochenzeitung Die Zeit), zog ich den Hut vor Unseld, denn so gründliche Beckett-Werkkenntnis hatte ich ihm nicht zugetraut. Schon wenige Tage später allerdings setzte ich den Hut wieder auf, als mir nämlich der Nachruf zur Kenntnis gelangte, den Werner Spies, über Jahrzehnte hinweg einer der wichtigsten Gewährsleute Unselds für die französische Literaturszene allgemein und Beckett im Speziellen, bereits am 27. Dezember 1989 in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlicht hatte. Gegen Ende des Beckett-Nachrufs von Spies findet sich folgende Passage: »Jeder sollte hier einmal ›Watt‹ in die Hände nehmen, den noch auf englisch verfaßten Roman, in dem der Held die Dialektik der Aufklärung mit der Wucht an seinem Leibe erfahrt, mit der Voltaires ›Candide‹ die Leibnizsche prästabilierte Harmonie ertrug: ›Gott möge Sie segnen. Mr. de Baker, sagte Louit. Und Sie, Mr. Louit, sagte Mr. de Baker. Nein, nein. Sie, Mr. de Baker, Sie, sagte Louit. Warum eigentlich mich, Mr. Louit, na, wenn es denn unbedingt sein muß, jedenfalls auch Sie, sagte Mr. de Baker. Sie meinen, Gott möge uns beide segnen, Mr. de Baker? sagte Louit. Diable, sagte Mr. de Baker‹«. 9

Es besteht kein Zweifel daran, dass Unseld sich hier bediente, im Nachruf seines Freundes Spies auf Beckett, und keineswegs über eine hinreichende eigene Beckett-Werkkenntnis verfügte, um für einen kurzfristig zu verfassenden Artikel ein solches Zitat aufspüren zu können. Mit bösem Willen könnten wir hinzufügen: Unseld renommiert mit einer Nähe und Vertrautheit, über die er in Wahrheit keineswegs verfügte. Zweifel seien im Übrigen auch daran erlaubt, dass die von Unseld angeblich aufgezeichneten tiefsinnigen Abschiedsworte wirklich solche waren. Walter Asmus hat in seinem Nachruf auf Beckett etwas beschrieben, was er als übliches »Abschiedsspiel« bei Beckett-Besuchen bezeichnet, und zwar handelt es sich um folgenden Wortwechsel, der doch sehr an die von Unseld zitierte Watt-Stelle erinnert:

9 | Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Dezember 1989. Das Watt-Zitat ist – vollständiger als in der FAZ-Version und damit auch vollständiger als in Unselds Nachruf – auch enthalten in Spies 1979: 232.

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Friedhelm Rathjen »›God bless you. Thank you for all.‹ ›No, thank you …‹ ›I’m obliged to you.‹ ›No, I’m obliged to you […]‹« (Asmus 1990: 2).

Sollte es möglich sein, dass Unseld, der Beckett mehr als dreißig Jahre lang persönlich kannte, am Ende ein kleines Scherzritual fälschlich für eine geheimnisvoll tiefsinnige Botschaft gehalten hat?

L ITER ATUR Asmus, Walter D. (1990): »Lieber Sam. Fünfzehn Jahre Arbeit und Freundschaft mit Beckett, bis zum Tod am 22. Dezember 1989 – Walter D. Asmus schreibt einen letzten Brief zum langen Abschied«, in: Theater heute (Februar), S. 2-6. Becker, Peter von (1992): »Ich mag die Menschen nicht anfassen beim Schreiben …«, in: Theater. Bilanz und Chronik der Saison (= Theater heute, Jahrbuch 1992), Seelze: Friedrich, S. 11-21. Berg, Günter/Fellinger, Raimund/Weiss, Rainer (2002): 50 Jahre Siegfried Unseld im Suhrkamp Verlag 1952-2002, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried (2009): Der Briefwechsel, hg.  v. Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bürger, Jan/Hack, Magdalena (2010): Zur Ausstellung Suhrkamp-Insel 2: »Becketts Botschaften«, Pressemappe des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Fletcher, John (1966): »Eine Bibliographie, zusammengestellt von John Fletcher«, übers. v. Rolf Dornbacher, in: Mayoux, Jean-Jacques, Über Beckett, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 121-143. — (1969): Die Kunst des Samuel Beckett, übers. v. Karin Reese, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hartel, Gaby (2011): »›Cher ami‹ – ›Lieber Samuel Beckett‹. Beckett and his German Publisher Suhrkamp Verlag«, in: Nixon, Mark (Hg.), Publishing Samuel Beckett, London: The British Library, S. 131-137. Johnson, Uwe/Unseld, Siegfried (1999): Der Briefwechsel, hg. v. Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Michaelsen, Sven (2002): »›Ungehörige Sachen machen mir Spaß‹. Er hat sein Opus Magnum geschrieben – und die Titelseiten der Klatschpresse erobert: Peter Handke über schlaflose Nächte und die Liebe zu Katja Flint«, in: Stern (25. Januar). Posche, Ulrike (2004): Weibliche Übernahme. Wie Frauen in Deutschland sich die Macht nehmen, Frankfurt a.M.: Campus. Reichert, Klaus (2002): »Stufen zum Glück. Über den Verleger Siegfried Unseld, der heute in Frankfurt a.M. beerdigt wird«, in: Der Tagesspiegel (2. November).

Unseld/Beckett: Fußnoten zu einer Verleger-Autor-Beziehung

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III. Immer noch nicht mehr: Samuel Beckett und die deutsche Gegenwartsliteratur

Zu einer Literatur des Unworts Kafka, Beckett, Sebald Shane Weller

Eine der wichtigsten Äußerungen Samuel Becketts über die poetologische Funktion seiner späteren (postjoyceanischen) Werke findet sich in Becketts bekanntem Brief vom 9. Juli 1937 an Axel Kaun. In dem auf Deutsch verfassten Brief schlägt Beckett eine »Literatur des Unworts« 1 vor, die zu erreichen wäre, indem die Sprache gegen sich selbst gerichtet wird mit dem Ziel der Selbstnegation der Sprache. Wie ich in diesem Essay zu zeigen hoffe, ist es kein Zufall, dass Beckett dieses Konzept linguistischer Selbstzersetzung auf Deutsch formuliert hat. Teilweise kann Becketts Sprachwahl für die Artikulation einer neuen, antijoyceanischen Konzeption der Literatur natürlich auf die deutsche Herkunft seines Adressaten sowie auf das Bedürfnis, sein geschriebenes Deutsch nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland zu üben, zurückgeführt werden. Doch seine Sprachwahl hat einen weiteren wichtigen Grund: In Becketts Verständnis von einer »Literatur des Unworts« und in seinen späteren Bemühungen, sie hervorzubringen, entsteht eine »Literatur des Unworts« für Beckett vor allem durch die Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur und Philosophie. Seit seinen frühesten kritischen Arbeiten setzt Beckett den Schwerpunkt in seinem Konzept von Literatur auf die Rolle des Negativen. Bereits in seiner 1931 erschienenen Monographie über Prousts A la recherche du temps perdu argumentiert er: »[T]he artist is active, but negatively« (Beckett 1931: 48). Allerdings sieht er in seinen Kommentaren in den frühen 1930ern das Negative in der literarischen Arbeit als Vermittler der Lücke zwischen Geist und Welt, während er im Brief an Kaun beginnt, das Negative als Öffnung eines Raumes innerhalb der Sprache selbst zu verstehen – eine Öffnung, durch die eine extralinguistische Realität zum Vorschein kommt: Im Brief an Kaun wird Sprache als »Schleier« dargestellt, der negiert werden muss, um das Dahinterliegende zu enthüllen. Das Negative betrifft also weniger das Verhältnis zwischen Geist und Welt als das zwischen Sprache und Welt. Diese Entwicklung sowie der Eindruck, dass damit 1 | Becketts Verständnis von »Unwort« ist nicht mit dem heute in Deutschland verbreiteten Sinn – dem jährlich gekürten »Unwort des Jahres« – zu verwechseln.

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ein kritischer Zustand erreicht wird, sind in Becketts einleitenden Bemerkungen zu seinem Dilemma im Brief an Kaun ersichtlich: »Es wird mir tatsächlich immer schwieriger, ja sinnloser, ein offizielles Englisch zu schreiben. Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreissen muss, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende Nichts) zu kommen. […] Ein Loch nach dem andern in ihr zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt – ich kann mir für den heutigen Schriftsteller kein höheres Ziel vorstellen« (Beckett 2009a: 513-514).

Um zu verdeutlichen, was er mit einer selbstnegierenden »Literatur des Unworts« meint, die enthüllt, was jenseits des Sprachschleiers liegt – »sei es etwas oder nichts« – verweist Beckett Kaun auf das philosophische Konzept des »Nominalismus (im Sinne der Scholastiker)«. Dazu erläutert er: »Auf dem Wege nach dieser für mich sehr wünschenswerten Literatur des Unworts hin, kann freilich irgendeine Form der nominalistischen Ironie ein notwendiges Stadium sein« (ebd. 515). Becketts philosophisches Interesse am Nominalismus reicht mindestens bis zu seinen Notizen zur westlichen Philosophie aus den frühen 1930ern 2 zurück und erreicht in den »German Diaries« von 1936-1937 eine explizit politische Färbung: »I am not interested in a ›unification‹ of the historical chaos any more than I am in the ›clarification‹ of the individual chaos, and still less in the anthropomorphisation of the inhuman necessities that provoke the chaos. […] the expressions ›historical destiny‹ and ›Germanic destiny‹ start the vomit moving upwards.« 3

Mit seiner Identifikation von Nominalismus als vielleicht »notwendiges Stadium« auf dem Weg zu einer radikal neuen Form von unwording hebt Beckett dieses philosophisch-politische Interesse am Nominalismus in eine ästhetische Sphäre und formuliert somit eine Ästhetik des Negativen, die seinen eigenen zukünftigen Schaffensprozess deutlich von Joyces unterscheiden wird. Becketts Aufruf zum Nominalismus in seinem Brief an Kaun ist nicht zuletzt bedeutend, weil er manche Kritiker dazu verleitet hat, die Idee von einer »Literatur des Unworts« als Ergebnis seiner Lektüre von Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901-1903) zu betrachten. Beispielsweise ist Mauthners Arbeit Chris Ackerley und S.E. Gontarski zufolge eine »entscheidende Station« auf dem Weg zu Becketts Konzeption einer Literatur des Unworts. Den Absatz in Band 3 der Beiträge, der mit den Worten »Der reine und konsequente Nominalis2 | Für eine Analyse dieser Bemerkungen vgl. Matthew Feldmans Beckett’s Books: A Cultural History of Samuel Beckett’s »Interwar Notes« (2006), besonders Kapitel 3. 3 | Samuel Beckett, »German Diaries«, Notizbuch 4, 15. Januar 1937 zit.n. Knowlson 1996: 244f. Für eine genaue Analyse der »German Diaries«, vgl. Mark Nixons Samuel Beckett’s German Diaries 1936-1937 (2011).

Zu einer Literatur des Unwor ts: Kafka, Beckett, Sebald

mus«4 beginnt und den Beckett in das sogenannte »Whoroscope« Notebook übertragen hat, identifizieren Ackerley und Gontarski als »a passage underlying the arguments made by Beckett in his 9 July 1937 letter to Kaun« (Ackerley/Gontarski 2004: 359). Die Autoren erwähnen aber nicht, dass Geert Lernout zehn Jahre zuvor einen Essay veröffentlichte, in dem er die These vertritt, dass Becketts Notizen zu Mauthner nicht früher hervorgebracht worden sein können als im Sommer 1938, mindestens ein Jahr nach dem Brief an Kaun.5 Selbst wenn Beckett Mauthner nicht vor der Theorisierung einer »Literatur des Unworts« im Brief an Kaun gelesen hat, kann allerdings kaum Zweifel daran bestehen, dass seine Schritte zur Praxis einer solchen Literatur in den Nachkriegsjahren stark von seiner Lektüre Mauthners beeinflusst waren. Wie aber verhalf Mauthner Beckett nach Murphy (im Sommer 1936 vervollständigt, jedoch erst 1938 veröffentlicht) zu einer neuen Art des Schreibens? Im Brief an Kaun stellt Beckett Joyce Gertrude Stein entgegen, deren »Logographen« sich für ihn in Richtung einer Literatur des Unworts bewegen, im Kontrast zu der »Apotheose des Wortes« von Joyce in dem Werk, das zwei Jahre später unter dem Titel Finnegans Wake (1939) erscheinen würde (vgl. Beckett 2009a: 515). Dieser Gegensatz wird von Beckett mit dem zwischen »Realismus« und »Nominalismus (im Sinne der Scholastiker)« (ebd.) verglichen. Die erste von Mauthner in das »Whoroscope« Notebook übertragene Passage stammt aus Band 3 und handelt vom »reinen Nominalismus«: »Der reine Nominalismus macht ein Ende mit dem Denken« (Mauthner 1923, Bd. 3: 616.). Zusätzlich zu diesem Eintrag über Nominalismus im »Whoroscope« Notebook existiert auch ein maschinenschriftliches wörtliches Transkript von Material aus dem Kapitel über Metaphern in Band 2 der Beiträge;6; dieses spätere Transkript ist besonders wichtig, da es Mauthners Interpretation der Geschichte der Philosophie als »eine langsame Selbstzersetzung des Metaphorischen« enthält (Mauthner 1923, Bd. 2: 473). Diese Selbstzersetzung ist de facto eine Reihe von Fehlschlägen, eine tatsächliche Kritik der Sprache zu erreichen, da Philosophen wieder und wieder lediglich eine alte Metapher mit

4 | Vgl. Mark Nixons Samuel Beckett’s German Diaries 1936-1937 (2011). 5 | Vgl. Lernout: 1994: 21-27. Wenngleich Van Hulle und Nixon die Datierung von Becketts Lektüre Mauthners nach dem Brief an Kaun akzeptieren, weisen die Autoren auf Gemeinsamkeiten zwischen einigen von Becketts Formulierungen im Brief an Kaun und Mauthners Beiträgen hin. Nixon b e s c h r e i b t Mauthners Kommentare zu Goethes Ironie in Band 2 der Beiträge und Becketts Anmerkungen im Brief an Kaun zur nominalistischen Ironie als »strikingly similar« (vgl. Nixon 2011: 70). Van Hulle deutet nicht nur die Gemeinsamkeiten zwischen Mauthners und Becketts Kommentaren zum Realismus und scholastischen Nominalismus an, sondern beschreibt Becketts Vermeidung der Nennung des Namens Mauthner im Brief an Kaun gar als »an act of camouflage, emphasizing the enormous impression this philosopher seems to have made on the young writer« (Van Hulle 1999: 147). 6 | Trinity College Dublin MS 10971/5/1-4.

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einer neuen ersetzen, anstatt über die Sprache als Metapher hinauszugehen zu einer tatsächlichen »Welterkenntnis«. Der erste entscheidende Schritt auf dem Weg zu einer tatsächlichen Kritik der Sprache innerhalb der philosophischen Sphäre erfolgte, laut Mauthner, im mittelalterlichen Nominalismus.7 Diese Form des Nominalismus konnte sich allerdings nicht von der Theologie befreien und nennt letztlich Gott »die oberste Metapher« (Mauthner Bd. 2: 474). Den mittelalterlichen Nominalisten folgend war der nächste wichtige Schritt Kants Kritik der reinen Vernunft, die darauf beharrt, dass wir kein Wissen vom »Ding-an-sich« haben können, weil, wie Mauthner Kant auslegt, unser Denken immer zugleich »metaphorisch« und »anthropozentrisch« ist (Mauthner Bd. 2: 476). Die Kant’sche Kritik ist ein »negative[s] Denken«, und, so Mauthner: »In seinem negativen Denken ist Kant bereits der Alleszertrümmerer« (ebd.). Wie die Nominalisten vor ihm schafft Kant es jedoch nicht, dieses negative Denken zu seiner notwendigen Konklusion zu bringen, und setzt stattdessen auf eine neue Metapher: Anstelle von »Gott« setzt er »die reine Vernunft« (ebd. 477). Somit bleibt Kant trotz all seiner kritischen Energie »vor den Pforten der Wahrheit« und erfüllt seinen Ruf als »Alleszertrümmerer« nie vollständig. Nach Mauthners Ansicht ist es nicht die Kritik der reinen Vernunft, sondern nur eine konsequente »Sprachkritik«, die »diese Pforten [der Wahrheit] aufschließen und mit lächelnder Resignation zeigen [kann], daß sie aus der Welt und dem Denken hinaus ins Leere führen« (ebd. 478). Die letzte Schlüsselfigur in Mauthners Geschichte der Philosophie (in der Dokumentation Becketts) ist Schopenhauer, dessen Bedeutung vor allem in seiner ausdrücklichen Opposition zu Hegel liegt. Mauthner schreibt hierzu: »[I]n Hegels erstaunlich scharfsinniger Dialektik feiert der alte Wortaberglaube die tollsten Orgien« (ebd.). Schopenhauer jedoch, als Hegels »wilder und mächtiger Gegner« (ebd.), »hat den Weg Kants wiedergefunden und rüttelt oft und stark an den Pforten der Sprachkritik. Aber auch sein System gipfelt schließlich in Wortaberglauben, in einer mythologischen Person, in dem Willen, der nachher von Eduard von Hartmann den selbstverräterischen Namen ›das Unbewußte‹ erhalten hat« (ebd.).

In dieser kurzen Geschichte der Philosophie als eine Reihe von Fehlschlägen, metaphorisches Denken zu überwinden, erwähnt Mauthner in keinem Zug Nietzsche, der in seinem Essay »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn« (verfasst 1873, jedoch nur posthum veröffentlicht) bekanntermaßen behauptet, Wahrheit sei ein »bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen« (Nietzsche 1999: 880) und somit Mauthners Konzeption der essentiell metaphorischen Natur der Sprache sowie die linguistische Natur aller bisherigen 7 | »Der mittelalterliche Nominalismus ist der erste Versuch der wirklichen Selbstzersetzung des metaphorischen Denkens« (Mauthner 1923, Bd. 2: 474).

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Konzeptionen von Realität vorwegnimmt (vgl. Van Hulle 1999: 144f.). Nietzsche wird in Band 1 der Beiträge erwähnt, allerdings in einem Abschnitt, zu dem Beckett keine Notizen gemacht hat (oder zumindest keine, die erhalten sind); in diesem Abschnitt präsentiert Mauthner Nietzsches Philosophie als einen weiteren Fehlschlag, die Höhen der Sprachkritik zu erreichen, da Nietzsche insbesondere im Bann der Macht seiner eigenen Sprache bleibt: Er ist, wie Mauthner es formuliert, ein Opfer der philosophischen Perversion des »Wortfetischismus« (Mauthner 1923, Bd. 2: 368). Im Hinblick auf die Idee im Brief an Kaun, dass eine Form nominalistischer Ironie möglicherweise einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu einer Literatur des Unworts darstellt, enthalten Becketts Mauthner-Transkriptionen die folgende wichtige Passage über Goethes Stil: »[I]n seiner bewunderungswürdigen Prosa scheint er sich wirklich mehr als irgend ein anderer Schriftsteller vor und nach ihm über alle möglichen Grenzen der Sprache zu erheben, weil er die Worte in einer unnachahmlichen Weise gewissenmaßen ironisch gebraucht, das heißt mit der deutlich verratenen Klage darüber, daß er einfach dem Sprachgebrauche folgen müsse« (ebd. 506).

Mauthner zufolge erreicht dieser ironische Umgang mit Sprache seinen Gipfel in Goethes großem autobiographischen Werk Dichtung und Wahrheit (verfasst zwischen 1808 und 1831), das geprägt ist von einer laut Mauthner »überlegene[n] Art, die Worte als bloße Worte zu gebrauchen« (ebd. 507). Mauthners Analyse Goethes ist hier entscheidend, da sie suggeriert, dass Goethe durchaus eine bestimmte Form des literarischen Schreibens erreichen kann, die eine Sprachkritik beinhaltet, die in der Geschichte der Philosophie unerreicht bleibt. Somit kann man Mauthners eigene Sprachphilosophie mit Schellings, Schopenhauers und Nietzsches vergleichen, die sich ebenfalls durch eine Privilegierung des Literarischen innerhalb des philosophischen Unterfangens auszeichnen. Genauer gesagt platzieren Mauthners Kommentare zu Goethes ironischem Gebrauch der Sprache die Kritik der Sprache im literarischen Stil. Es überrascht nicht, dass Beckett – der sich trotz seiner philosophischen Interessen stets vor allem als Schriftsteller und nicht als Philosoph betrachtete – solch ein Argument attraktiv gefunden hat. Gegen Ende seiner Monographie von 1931 über Proust schreibt er: »The rhetorical equivalent of the Proustian real is the chain-figure of the metaphor« und dass Prousts Stil sich auszeichnet durch »the crest and break of metaphor after metaphor« (1931: 68).8 Kurzum, Beckett bewegte sich lange vor seinen extensiven Notizen zu Mauthner in die Richtung einer Konzeption von einer Literatur, welche die Kraft hat, die essentiell metaphorische Gestalt des Denkens zu enthüllen, und zwar nicht bloß durch den Inhalt, sondern 8 | Für eine Analyse der Bedeutung für Becketts Werk von Mauthners Anmerkungen zu Goethe vgl. Nixon 2011: 70f.

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auch und vor allem durch die Form oder den Stil. Mauthners Einfluss auf Beckett war es, diese Privilegierung der Literatur und die Verbindung zu einer bestimmten nominalistischen Art des Schreibens zu verstärken sowie einen philosophischen Unterbau für Becketts Übergang von einem Geist/Welt-Modell zu einem Sprache/Welt-Modell bereitzustellen. In diesem Kontext fällt auf, dass Beckett gegen Ende der 1930er Jahre literarische Modelle für die Praxis einer Literatur des Unworts vorrangig in der deutschen Literatur fand. Erste Beweise hierfür finden sich im Postskriptum seines Briefs an Kaun, in dem er fragt: »Gibt es eine englische Uebersetzung von Trakl?« (Beckett 2009a: 516). Diese Frage deutet an, dass Beckett nicht nur bereits mit Georg Trakls Œuvre vertraut war, sondern auch hinreichend große Stücke darauf hielt, um es übersetzen zu wollen, ohne von einem Herausgeber oder Verlag angesprochen worden zu sein (wie es bei vielen seiner Übersetzungen in den 1930er und 1940er Jahren der Fall gewesen war). Des Weiteren zieht Beckett in seiner Rezension von Denis Devlins Intercessions (veröffentlicht in der April-Mai Ausgabe von transition, 1938) einen Vergleich zwischen Devlins »The Statue and the Perturbed Burghers« und »a late poem by Hölderlin« wegen seiner »extraordinary evocation of the unsaid by the said« (Beckett 1983a: 94). Hier identifiziert Beckett schließlich Friedrich Hölderlins späten Stil, der einen ebenso profunden Einfluss auf Paul Celan hatte, als Umsetzung des Negativen durch eine Form des unsaying. Obwohl Beckett bereit gewesen sein mag, die Bedeutung von Goethe, Hölderlin und Trakl in seinem Streben nach einer »Literatur des Unworts« anzuerkennen, war er weit weniger bereit, die Bedeutung eines anderen großen Schriftstellers der deutschen Sprache anzuerkennen: Franz Kafka. Becketts dokumentierte Bemerkungen zu Kafka lassen, pace Adorno, jeglichen Einfluss Kafkas auf Beckett höchst fragwürdig erscheinen. In einem 1956 in der New York Times erschienenen Artikel beispielsweise zitiert Israel Schenker Beckett folgendermaßen: »Kafka’s form is classic, […] almost serene. It seems to be threatened the whole time – but the consternation is in the form. In my work there is consternation behind the form, not in the form« (zit.n. Graver/Federman 1979: 148). Die Unterscheidung, die Beckett hier vornimmt, ist alles andere als klar. Glücklicherweise wird sein Verständnis der Relation zwischen Form und Inhalt bei Kafka in einem Brief an Hans Neumann vom 17. Februar 1954 deutlicher formuliert. In diesem Brief schreibt Beckett zur Lektüre Kafkas: »Je me rappelle avoir été gêné par le côté imperturbable de sa démarche. Je me méfie des désastres qui se laissent déposer comme un bilan« (Beckett 2011: 462). Allerdings lässt Beckett dieser Bemerkung ein bedeutendes Geständnis vorausgehen, in dem er erklärt, wieso er (im Deutschen) nur drei Viertel von Kafkas letztem, unvollendetem Roman Das Schloß (1926) gelesen hat: »Je m’y suis senti chez moi, c’est peut-être cela qui m’a empêché de continuer« (ebd. 463). Und neben seiner gefühlten Verwandtschaft mit Kafka gesteht Beckett eine Nähe zu Mauthner und dass er von den Beiträgen »très fortement impressionné« (ebd. 462) gewesen sei.

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Es ist überaus bedeutend, dass Beckett nicht bloß Mauthner und Kafka im selben Brief erwähnt, sondern auch zugibt, sich in Kafkas spätem Werk zuhause zu fühlen. Denn obwohl er Kafkas späten Stil als »imperturbable« beurteilt, zeigt sich genau in seiner späten Prosa (insbesondere in den Jahren 1922-1923), dass Kafka Beckett deutlich vorausgreift, indem er seinen Weg zu einem Schreibstil findet, der ihm erlaubt, Störungen auf inhaltlicher Ebene zu inszenieren und eine Syntax, eine Lexis und eine Morphologie zu erreichen, die sehr eng mit Becketts Theorie einer »Literatur des Unworts« sowie mit seiner Praxis einer solchen Literatur in L’Innommable (verfasst 1949-1950; veröffentlicht 1953) korrespondieren. Kafkas eigene Artikulation einer Theorie, die Becketts Idee einer »Literatur des Unworts« vorwegnimmt, findet sich in den sogenannten Zürau-Aphorismen von 1917-1918. Dort schreibt Kafka: »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt, das Positive ist uns schon gegeben« (Kafka 1992: 47). Auf stilistischer Ebene führt diese Verpflichtung, »[d]as Negative zu tun«, zu einer Form von linguistischem Negativismus, der durch negative syntaktische Konstruktionen und die häufige Verwendung von Wörtern mit den Präfixen »ab-«, »un-«, und »ver-« arbeitet – Wörter, die in ihrer Negativität als »Unworte« beschrieben werden können, in genau dem Sinn, den dieser Begriff für Beckett hat. Die zentralen »Unworte« in Kafkas Lexikon schließen »Unglück«, »Unruhe«, »Unschuld«, »Ungeduld«, »unsicher«, »ungeheuer«, »unmöglich« und »unsauber« ein. In diesem Essay werde ich mich auf eine kurze Betrachtung des Unwortes »Unruhe« beschränken. Der späte, unvollendete Text »Der Bau« (verfasst November-Dezember 1923) – über eine unterirdische Kreatur, die sich von einem undefinierten Feind bedroht fühlt und sich durch die Konstruktion eines komplizierten Baus zu schützen sucht – ist eine Geschichte von radikaler »Unruhe«, die durch einen immer extremer werdenden linguistischen Negativismus gekennzeichnet ist. Variationen über »Ruhe« und »Unruhe« treten im gesamten Text auf und lassen sich stark zusammengefasst wie folgt lesen: »es beruhigt mich […] falsche Beruhigung […] das beruhigt mich ein wenig […] Es deutet auf unruhigen Sinn […] alles verwandelt meine Müdigkeit in Unruhe […] Endlich werde ich ruhen dürfen. Alles ist unverändert […] Diese Gewißheit wird mir entweder Beruhigung oder Verzweiflung bringen […] inner[e] Unruhe […] die Unruhe zittert in mir […] es soll nicht heißen, daß ich, der ich um seine Ruhe kämpfe, selbst sie gestört und nicht gleich wiederhergestellt habe […] unruhig war ich gewesen, aber Unruhe innerhalb des Glücks führt zu nichts […] ich wäre schon zufrieden, wenn ich nur den inneren Widerstreit beruhigte […] wenn ich nur hier oben ein wenig Ruhe habe […] ich konnte noch kühl und ruhig sein […] Dort drüben gehen keine Veränderungen vor sich, dort ist man ruhig […] wenn ich Ruhe habe […] aber alles blieb unverändert […]«. 9

9 | Kafka 1992: 591; 593; 599; 603f.; 614f.; 617; 620-622; 627; 629; 631f.; alle folgenden fettgedruckten Worte meine Hervorhebungen.

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Derartig oszillierende Prosa ist alles andere als ruhig – so Becketts ungerechte Kritik an Kafka in den 1950ern. Des Weiteren generiert der linguistische Negativismus in »Der Bau« einen ironischen Stil im Sinne Mauthners, in dem die Negationen selbst wiederum negiert sind. Diese Negation zweiten Grades ist vor allem bei »Unruhe« in Gegenüberstellung mit »unverändert« zu erkennen. Letzteres tritt häufig im Zusammenhang mit »Ruhe« auf, wie zum Beispiel im Satz: »Dort drüben gehen keine Veränderungen vor sich, dort ist man ruhig« (Kafka 1992: 629). Letztendlich negiert der linguistische Negativismus durch das Pendeln zwischen »Ruhe« und »Unruhe« diese Opposition zwischen »Unruhe« auf der einen Seite und dem, was »unverändert« bleibt, auf der anderen: Paradoxerweise ist es genau die »Unruhe«, die sich als unveränderlich erweist – und als unausweichlich. Kurzum, Kafkas linguistischer Negativismus ist an sich die Erfahrung der Unmöglichkeit irgendeiner wahrhaftigen »Ruhe«. Diverse Kritiker haben im Hinblick auf Becketts Praxis des unwording festgestellt, dass die erste wirkliche Frucht seiner durch Mauthner beeinflussten Konzeption einer »Literatur des Unworts« der Roman Watt (verfasst in der ersten Hälfte der 1940er, aber erst 1953 veröffentlicht) darstellt. Zum Beispiel ist Watt nach Ansicht von Matthew Feldman »a wholly Mauthnerian exercise, one largely recasting Beckett’s earlier scepticism and angst into linguistic terms« (Feldman 2006: 138). Ähnlich stellt Mark Nixon über Watt fest: »With Mauthner’s critique of language possibly at the back of his mind, Beckett set about dismantling coherence through language itself rather than through concepts« (Nixon 2011: 187). Zweifelsohne fokussiert Beckett in Watt das Problem der Sprache – besonders in der berühmten Passage über den Topf (vgl. Beckett 2009c: 67-69) – auf eine andere Art und Weise als in seinem früheren Werk. Wie Van Hulle bemerkt, sind die Mauthner’schen Ideen, die in Watt zu zentralen Themen werden, »the impossibility of anything beyond language, the inevitable failure of communication, the metaphorical nature of language, and the emptiness of words« (Van Hulle 1999: 150). Allerdings erreicht Beckett erst mit L’Innommable die Art Literatur des Unworts, die im Brief an Kaun skizziert wird und von Kafka bereits in Spätwerken wie Das Schloß, »Der Bau« und »Eine kleine Frau« praktiziert wurde. Anders ausgedrückt, Mauthners Ideen werden erst in L’Innommable vollständig auf dem stilistischen Niveau von Becketts Prosa performativ vollzogen. Bei aller Seltsamkeit ist die kombinatorische Kunst von Watt nicht mit Becketts Vision einer Literatur des Unworts gleichzusetzen, da der linguistische Negativismus in L’Innommable von einer anderen Art ist und auffällige Ähnlichkeit zu jenem Negativismus aufweist, den man im späten Kafka findet. Dies betrifft vor allem die Passagen über die Kreatur namens »Worm«. Sowohl bei Kafka als auch bei Beckett sind »unruhig« und »unverändert« besonders wichtige Unwörter. Nach meiner radikalen Reduktion von »Der Bau« zur Demonstration der Rolle von »Unruhe« in der Pendelbewegung des Textes und der nicht dialektischen Negation der Negation, die darin auftritt, könnte man die folgende, noch radikalere Reduktion von Becketts 60.000 Wörter umfassendem Roman vorschlagen:

Zu einer Literatur des Unwor ts: Kafka, Beckett, Sebald »je suis inquiet. Rien ne change ici depuis que je suis ici. […] Si un jour un changement devait intervenir […] Mais non, ici tout changement serait funestre […] N’y a-t-il vraiment rien de changé depuis que je suis ici? Franchement, la main sur le cœur, attendez, à ma connaissance, rien. […] incompréhensible inquiétude […] le cri n’a rien changé […] Je n’a donc pas d’inquiétude à avoir. Cependant je suis inquiet […] puisque je ne sens rien, ni quiétude ni changement […] Pourtant il y a quelque chose de changé. […] Alors je saurai qu’il n’y a rien de changé […] Ils espèrent qu’un jour ça changera, c’est normal. […] la chose reste là, rien ne change, en elle, autour d’elle, apparemment, apparemment […] Il y’a quand même quelque chose de changé […] Mais n’y-a-il vraiment rien de changé, depuis le temps?«10

In der von Beckett autorisierten deutschen Übersetzung lautet dieser radikale Sprint durch den Roman folgendermaßen: »ich bin unruhig. Nichts ändert sich hier, seit ich hier bin […] Wenn sich eines Tages eine Veränderung ergeben sollte […] Ach was, hier würde jede Veränderung verhängnisvoll sein […] Hat sich hier wirklich nichts verändert, seitdem ich hier bin? Offen gestanden, Hand aufs Herz, Moment mal, meines Wissens nichts. […] unbegreifliche Unruhe […] Der Schrei hat nichts geändert […] Ich habe also keinen Grund zur Beunruhigung. Und doch bin ich unruhig. […] da ich nichts spüre, weder Ruhe noch Wechsel […] Und doch hat sich etwas geändert. […] Dann werde ich wissen, daß sich nichts geändert hat. […] Sie hoffen, daß es eines Tages anders wird, das ist normal. […] die Sache bleibt da, wo sie ist, nichts ändert sich, in ihr, um sie herum, augenscheinlich, augenscheinlich […] Es hat sich immerhin etwas geändert. […] Hat sich denn wirklich nichts geändert, die ganze Zeit?« 11

Das Wechselspiel zwischen der Idee der Veränderung und des Unveränderten in L’Innommable ist vergleichbar mit dem Pendeln zwischen »Ruhe« und »Unruhe« in »Der Bau« – und auch hier ist es ein bestimmtes Unwort – »nichts geändert«/»nichts verändert« (»unchanged« und »unchanging« in Becketts englischer Übersetzung des Romans) –, welches das Geschehen bestimmt. Dieses Unwort kehrt in einem von Becketts letzten Prosawerken, Worstward Ho (1983), wieder. Als die beiden in diesem Text imaginierten Figuren plötzlich wieder erscheinen, liest man: »Unchanged? Sudden back unchanged? Yes. Say yes. Each time unchanged. Somehow unchanged. Till no. Till say no. Sudden back changed. Somehow changed. Each time somehow changed« (Beckett 1983b: 14). Dieser Ausschnitt aus Worstward Ho liest sich als noch radikaleres Destillat des unwording in »Der Bau« und in L’Innommable. Bei Beckett, wie auch zuvor bei Kafka, folgt das unwording gewöhnlich nicht einem Pfad der Negation und Affirmation, sondern eher der Negation und Kontranegation. Reine Negation wird gesucht, ein selbst-konsumierender Diskurs im Interesse von tatsächlicher »Ru10 | Beckett 1971: 11; 13f.; 16; 25; 33; 96f.; 111; 139; 173; 184. Für die Ausgabe von 1971 wurde der ursprüngliche Text von 1951 neu gesetzt und leicht modifiziert. 11 | Beckett 2005: 400-402; 404; 411; 418; 470; 482; 505; 533; 542.

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he«/»calme«, und doch bleibt diese reine Negation unerreicht, und eben ihr Versagen ist es, welche die Äußerung vorantreibt. Die unwording-Bewegung all dieser Texte wirkt jedem wirklichen Fortschritt entgegen, während sie gleichzeitig eine Laufbahn von immer extremerem Negativismus markiert. In jedem Fall arretiert die versuchte Negation der Negation den Text in einem Muster, das paradoxerweise »unruhig« und »unverständlich« ist. Becketts literarische Praxis des unwording entlarvt ihn nicht nur als Erben Kafkas, sondern dieses Erbe wird außerdem an einen weiteren Schriftsteller der deutschen Sprache weitergereicht (auch wenn dessen Werk in einem anglophonen Kontext entstanden ist): W.G. Sebald. In Sebalds Œuvre findet man ein vergleichbares unwording-Projekt, welches ein explizit politisches ist. Da er am Ende der hier aufzuzeigenden Tradition steht, greift Sebald diese Tradition hauptsächlich in Hinsicht auf ihren Widerstand gegen die dunklen Mächte der Modernität auf – ein Widerstand, der von Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrer Dialektik der Auf klärung (1947) analysiert wird. Dieser Widerstand wird umgesetzt durch ein Verweilen im Negativen, das mit Adornos späterer Auffassung von radikal verdunkelter Kunst übereinstimmt, wie er sie besonders umfassend in dem posthum veröffentlichten Werk Ästhetische Theorie (1970) artikuliert. Sebalds Absicht, sich in die literarische Tradition einzuordnen, zu der Kafka und Beckett zählen, in der es die Pflicht des Schriftstellers ist, »[d]as Negative zu tun«, wird in seinem Essay über Jean Améry (1988) deutlich, in dem er argumentiert, dass Amérys Werke von ihrem Einsatz für ein »bedingungslos negativ[es]« 12 Schreiben geprägt sind. Sebald verschreibt sich einer so kompromisslosen Negativität besonders offensichtlich auf inhaltlicher Ebene: Sebalds Welt verdunkelt sich radikal durch Ruinen, Verlust, Trauma und Isolation, gebrochen in einem melancholischen Prisma, das zeitweise so übertrieben ist, dass es wie bei Kafka und Beckett geradezu komische Effekte hervorruft. Und genau wie bei Kafka und Beckett vor ihm, wird Sebalds Schreiben des Negativen auch in seiner Sprache umgesetzt – in seiner Verwendung bestimmter Wörter und Phrasen, in seiner Syntax und sogar im Rhythmus seiner Prosa. Becketts entscheidender (wenn auch verborgener) Einfluss auf Sebald offenbart sich nicht nur in Sebalds regelmäßigem Gebrauch von Passagen aus Molloy als Epigraphen für kritische Essays in den 1970ern, sondern auch in einer Passage seiner Monographie über Alfred Döblin (1980). In einem kritischen Urteil, das an Ideen von Mauthner und Goethe sowie Beckett in Bezug auf die für eine authentische »Literatur des Unworts« erforderliche »nominalistische Ironie« erinnert, schreibt Sebald, dass der ironische Stil in Döblins Roman Berlin Alexanderplatz 12 | »Bedingungslos negative Denker wie Bataille oder Cioran hat es eben in der deutschen Nachkriegsliteratur nicht gegeben. Und so ist Améry auch der einzige geblieben, der die Obszönität einer psychisch und sozial deformierten Sozietät denunziert hat und den Skandal, daß Geschichte, als sei das alles nicht gewesen, danach so gut wie störungsfrei ihren weiteren Verlauf nehmen konnte« (Sebald 2003: 157f.).

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(1929) von Beckett aufs Äußerste getrieben wird und dass dieser Stil genau die Art Pendelbewegung zwischen Extremen bringt, die wir in »Der Bau« und L’Innommable gesehen haben: »Beckett hat diesen [ironischen] Stil, der eine heuristische Wahrheit der Oszillation der Gegensätze abgewinnt, wohl am weitesten entwickelt« (Sebald 1980: 116). Sebald zitiert die englische Übersetzung von Molloy und argumentiert, dass Beckett den »Mythos des Todes« – also den Tod als Erlösung (oder »Ruhe«) – zum explodieren bringt, indem er sich vorstellt, wie Molloy sagt, es existiere womöglich »a state of being even worse than life« (zit.n Sebald ebd.). Der »kritische Sinn« von Becketts Œuvre liegt für Sebald in der Offenbarung, dass »Regression« kein wirkliches Refugium bietet; vielmehr ist sie bloß das dialektische Gegenstück zu »Fortschritt« – genau wie »Ruhe« das dialektische Gegenstück zu »Unruhe« ist. Aus diesem Grund bezieht sich Sebald auf Beckett stets mit Blick auf Beweglichkeit und Unbeweglichkeit. In seinem Essay über Kafka (1972) vergleicht Sebald zum Beispiel die Repräsentation der »steife[n] und hilflose[n] Körper« von Amalias Eltern in Das Schloß mit der von Nagg und Nell in Fin de partie (1957) (Sebald 1972: 403). Dieses Thema spukt durch Sebalds Prosa, ebenso wie die häufige Wiederverwendung der Unworte »bewegungslos«, »unfähig« und »unmöglich«, aus der seine narratologischen Handlungen hervorgehen. Wie Kafka und Beckett zuvor strukturiert Sebald seine Texte gemäß einer Bewegung zwischen »Unruhe« und »Ruhe«,13 aber der mögliche Einfluss Becketts auf Sebalds Schreiben des Negativen lässt sich auch im Verhältnis zwischen der Passage aus Molloy, die Sebald 1972 als Epigraph zu seinem Essay über Kafka verwendet, und verschiedenen Stellen in Sebalds Prosawerken nachvollziehen. Jene Passage betrifft eine reisende Figur, die Molloy im französischen Original »B« nennt (»C« in der englischen Übersetzung, »B« in der deutschen). Kurz vor den von Sebald zitierten Zeilen sagt Molloy von diesem Reisenden, »il avançait d’un pas mal assuré« – »he went with uncertain step« – »er bewegte sich mit unsicheren Schritten«.14 In Teil drei von Sebalds erstem Prosawerk, Schwindel. Gefühle (1990), wird von der Abreise eines italienischen Mädchens erzählt, in das Dr. K. (ein fiktionalisierter Kafka) verliebt ist, und wie »sie mit unsicheren Schritten über die kleine Gangway an Bord des Schiffes hinüberging« (Sebald 2001b: 174). Am Anfang von Sebalds letztem Werk, Austerlitz (2001), bemerkt sein Erzähler: »Ich entsinne mich noch, mit welch unsicheren Schritten ich kreuz und quer durch den inneren Bezirk gegangen bin« (2001a: 5). Später im selben Werk, als Austerlitz auf Tschechisch zu erzählen beginnt, beschreibt er seinen Gemütszustand als »wie einer, der mit unsicheren Schritten hinausgeht aufs Eis« (ebd. 230).

13 | Für eine detaillierte Analyse dieser Bewegung und von unwording in Sebalds Œuvre an sich vgl. meinen in Kürze erscheinenden Aufsatz »Unquiet Prose: W.G. Sebald«, in: Baxter, Jeannette/Henitiuk, Valerie/Hutchinson, Ben (Hg.), A Literature of Restitution: Essays on W.G. Sebald (Manchester: Manchester University Press, 2013). 14 | Beckett 1996: 11; Beckett 2009b: 5; Beckett 2005: 10.

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Hier kann man auch sehen, wie Sebald eine Anspielung auf Beckett mit einer auf die Pflasterstein-Episode in Prousts Le Temps retrouvé (1927) kombiniert. Trotz der offensichtlichen stilistischen Unterschiede zwischen Sebald und Beckett – nicht zuletzt Becketts Mauthner-geprägte Verfolgung einer minimalistischen literarischen Sprache, die die radikalste Form der Sprachkritik sein sollte –, teilt Sebalds Schreiben des Negativen mit Beckett gewissermaßen ein Insistieren, dass diese »unsicheren Schritte« die von Figuren sind, für die es keine Möglichkeit wirklicher »Ruhe« gibt. Wie Sebald auf dem Inneneinband seiner Ausgabe von Prousts A la recherche du temps perdu notiert: »Der Augenblick der Ruhe in der Vollendung der Zeit kann nicht bleiben; es geht weiter« (zit.n. Hutchinson 2009: 165). Der Ausdruck »in der Vollendung der Zeit« führt uns zu einem viel früheren deutschen »Unwortler« zurück – Meister Eckhart, der in einer Predigt über die Bedeutung der Aussage von Paulus »In der Fülle der Zeit sandte Gott seinen Sohn« reflektiert. Eckhart zitiert Augustinus zu Paulus: »Sankt Augustinus erklärt, was da »Fülle der Zeit« sei: »Wo es nimmermehr Zeit gibt, da ist ›Fülle der Zeit‹« (Eckhart 1999: 166). Eckhart fügt eine weitere Bedeutung hinzu: Die Fülle, die Vollendung, der Zeit ist das »Nun« einer ewigen Gegenwart (vgl. ebd. 167). Sebalds »es geht weiter« artikuliert – vielleicht in Anspielung auf »je vais continuer« (»ich werde weitermachen«) am Schluss von Becketts L’Innommable und auf das »on« an Anfang und Ende von Worstward Ho – die Zeit eines unquiet text. Mit beißender Ironie bemerkt der Erzähler in Sebalds Austerlitz, dass die Nationalsozialisten in Theresienstadt den Besuchern des Roten Kreuzes 1944 »ein alles in allem beruhigendes Schauspiel« (Sebald 2001a: 341) boten. In einer solchen Welt, so scheint es, kann Hoffnung nur dort existieren, wo es »Unruhe« gibt, wobei ein Adorno-Anklang hier offensichtlich ist. Diese »Unruhe« steht nicht einfach im Gegensatz zu »Ruhe«; vielmehr ist es die Hin-und-her-Bewegung zwischen »Ruhe« und »Unruhe«; es ist die Negation einer Negation, die aber zu keiner dialektischen Aufhebung führt. Obwohl es wichtige Unterschiede gibt, kann daher das unwording bei Kafka, Beckett und Sebald als eine Form der Negativität in der Wildnis beschrieben werden, die sich stets weiterentwickelt, vom explizit Psychologischen bei Kafka zum explizit Philosophischen bei Beckett, zum explizit Politischen bei Sebald, wobei die Abgrenzung zwischen dem Psychologischen, dem Philosophischen und dem Politischen an sich im Werk dieser drei Schriftsteller aufgebrochen ist. In jedem Fall liegt die Widerstandskraft des Textes genau in seinem Verweilen im Negativen oder sozusagen in seiner »Un-Kraft«.15 Es ist eben diese in der Sprache einer Literatur des Unworts artikulierte »UnKraft«, die einerseits den Spätmodernismus vom Hochmodernismus und andererseits vom Postmodernismus abgrenzt. Nach dieser Auffassung von Spätmodernismus kann Beckett in der Umgebung deutschsprachiger Autoren wie Paul Celan, Thomas Bernhard und W.G. Sebald eingeordnet werden. Für sie alle spielt Kafka eine entscheidende Rolle, nicht zuletzt in seinem literarischen Stil, der in 15 | Anm. d. Übers.: Weller schreibt »power of resistance« und »un-power«.

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seinen späten Werken bereits eine ausgereifte Literatur des Unworts ausdrückt. Der Spätmodernismus sollte wohl weniger zwischen den Weltkriegen, sondern vielmehr nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere nach dem Holocaust – eingeordnet werden und kann deutlich in Inhalt und Form von seinem zeitgenössischen Postmodernismus und dem Hochmodernismus der Vorkriegsära unterschieden werden. Der europäische Spätmodernismus zeichnet sich hauptsächlich durch seine Entwicklung von Formen des linguistischen Negativismus aus. Dieser linguistische Negativismus war die einzige ästhetisch und ethisch vertretbare Reaktion auf eine Modernität, die sozial und politisch als katastrophal erschien. Obwohl der europäische Spätmodernismus sich weiterhin dem »hohen« modernistischen Ideal einer kritischen Distanzierung von der Modernität verschreibt, zeichnet er sich aus durch eine weitaus pessimistischere Sicht auf die Macht der Sprache, das Erleben von Modernität oder eine Alternative von Modernität zu kommunizieren. Während der Hochmodernismus dazu tendiert, sich an Mythisches zu wenden, um zu verstehen, was T.S. Eliot (in einem 1923 veröffentlichten Essay zu Joyces Ulysses) als »the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history« (Eliot 1975: 177) beschreibt, glaubt der Spätmodernismus mit seinem schmerzlichen Bewusstsein der politischen Zwecke, für welche die Mythen von den totalitären Regimen der 1930er und 1940er benutzt wurden, nicht an irgendeine klare Alternative zur instrumentellen Vernunft. Vielmehr sieht sich der Spätmodernismus gezwungen, ins Negative zu flüchten; er ist also ein Versuch, eine Literatur des Unworts umzusetzen.16 Im Kontrast zur hochmodernistischen »Revolution des Wortes« – die auf dem Glauben basiert, es sei die Aufgabe des Schriftstellers, wie sowohl Stéphane Mallarmé und T.S. Eliot es formulieren, »to purify the dialect of the tribe«,17 und dass Sprache, in einer entsprechend erneuerten und wiederbelebten Form, die menschliche Wahrnehmung verwandeln kann – sieht der Spätmodernismus, zu dem Beckett gehört, Sprache an sich als einen Teil des Problems, zumal Sprache unvermeidlich von historisch-kulturellen Kräften geformt wird und daher eng mit der Moderne verwoben ist, von der sich die Spätmodernisten gerade zu distanzieren bemühten. Aus diesem Grunde ist der Spätmodernismus direkt konditioniert durch seine Ausformungen von linguistischem Negativismus. Die verschiedenen 16 | Für eine alternative Theorie des Spätmodernismus vgl. Tyrus Millers Late Modernism: Politics, Fiction, and the Arts Between the World Wars (1999). Weitere Theoretiker der angloamerikanischen Tradition, die zu dieser Debatte beigetragen haben, sind unter anderem: Fredric Jameson, A Singular Modernity (2002); J.M. Bernstein, Against Voluptuous Bodies: Late Modernism and the Meaning of Painting (2006) und Edward W. Said, On Late Style (2006). 17 | In »Le Tombeau d’Edgar Poe« schreibt Mallarmé von »un sens plus pur aux mots de la tribu« (Mallarmé 1945: 70). Im zweiten Teil von Little Gidding spielt Eliot auf dieses ästhetisch imperative Schreiben an: »Since our concern was speech, and speech impelled us/To purify the dialect of the tribe« (Eliot 1969: 194).

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im europäischen Spätmodernismus angewandten Formen des unwording sind einerseits aggressive Handlungen gegen eine Sprache (oder Sprachen), die einer Versachlichung unterzogen wurde; andererseits stellen sie einen Versuch dar, ein linguistisches Refugium von der Zwangsgewalt der instrumentellen Vernunft zu erschaffen. Durch den Versuch, eine Literatur des Unworts aus Gründen, die nicht bloß ästhetisch, sondern auch ethisch und politisch sind, zu erreichen, lässt sich der Spätmodernismus ebenso vom Postmodernismus unterscheiden, in dem das Konzept des linguistischen und konzeptuellen »Spiels« dominiert. Wenn Kafka in seinen Spätwerken ein Vorbote des Spätmodernismus ist, ist Becketts L’Innommable im Kern verwandt mit Paul Celans Die Niemandsrose (1963), Thomas Bernhards Korrektur (1975) sowie Sebalds Die Ringe des Saturn (1995). Bei jedem kann man die »unsicheren Schritte« von Schriftstellern auf der Suche nach einem literarischen Stil erkennen, in welchem das Negative auf syntaktischer, lexikalischer und morphologischer Ebene agiert, wobei die Gründe dafür niemals ausschließlich rein ästhetische sind. Aus dem Englischen von Daniel Lawler und Jan Wilm in Zusammenarbeit mit dem Autor

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E INLEITUNG Samuel Becketts und Thomas Bernhards Erzähler und Figuren geben sich leidenschaftlichen sprachlichen Ausbrüchen in Form von ausgedehnten Wortschwällen und Abhandlungen hin, welche von schonungslosen Angriffen zu ausgedehnten Monologen und ganzen Erzählungen reichen. Kritische Vergleiche von Beckett und Bernhard tendieren dazu, die essentiell monologische Welt ihrer Erzähler und dramatischen Figuren zu beobachten (vgl. Esslin 1985: 68), die im Falle Bernhards gegen den Strom des deutschsprachigen Modernismus – Hofmannstahl, Rilke, Trakl, Celan – und dessen gequälten Ringens um linguistischen Eigensinn (vgl. Sharp 1995: 205-206) verläuft. Es existiert ein großer Interpretationsraum für Lacan’sche Lesarten in Bezug auf Konzepte des Subjekts, wenn der eindringliche Monolog als Behauptung des Selbst vor einem (vorzugsweise) stillen Zeugen ausgedrückt wird, wie Sharp angibt (ebd. 206). Diese Episoden oder Erzählungen zeugen von mehr als ausführlichen Darstellungen von Narzissmus; sie eröffnen überraschende hermeneutische Möglichkeiten, wenn sie primär als rhetorische Performanz gelesen werden, die im Besonderen der Form der Tirade entsprechen. Zwei solcher Episoden erfordern eine genaue Analyse ihrer Strategie, Struktur und Tragweite sowohl für die Deklamatoren als auch die Rezipienten: Arsenes Wortschwall im ersten Teil von Becketts Watt und der durchgehende Monolog des Erzählers in Bernhards Wittgensteins Neffe: Eine Freundschaft. Diese Beispiele können als bissige Komödie betrachtet werden, wie sie eng verwandt ist mit der Schmähschrift oder der Satire, aber sie operieren auch als Modus kathartischer Befreiung. Die Struktur, das Timing und die Funktion der Tirade liefern einen präzisen Blick auf die Motivation der Sprecher und Erzähler. Indem sie ihre dogmatischen Behauptungen einem notwendigen, aber duldsamen Publikum zuteilwerden lassen, nutzen diese Sprecher ihre kontinuierlichen Ergüsse nicht nur als Modi der Beschimpfung, sondern auch als Mittel, um bestimmte Themen oder Probleme zu durchdenken: die Paradoxa des Seins, die Affinitäten zu und Abneigungen gegen

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das Andere, das Verhältnis zu Gesellschaft und Kultur und so weiter. Die Tirade wird zu einer Form der Meditation, die oftmals in ihren rhetorischen und narratologischen Texturen komisch wirkt, aber sehr bedeutsam in ihrer Fähigkeit ist, einen Modus des kritischen, selbstreflexiven Denkens auszuweiten, welcher sonst womöglich verborgen bliebe. Becketts und Bernhards Tiraden führen die Entfremdung von Ideenfindung, Identität und Sozialität auf, die ihre Erzähler und Figuren zu einer Rhetorik der Verteidigung anregt, indem diese mächtige, unterschätzte rhetorische Form geschickt neu funktionalisiert wird.

Leidenschaftliche Rhetorik Durch den Bezug auf die rhetorische Form der Tirade in ihren Romanen schreiben sich Beckett und Bernhard in illustre literarische und kirchliche Traditionen ein. Die Geschichte der Literatur, heilig und profan, ist voll von Beispielen des ungezügelten, maßlosen oder übermäßigen Diskurses. Oft werden solche narrativen Ausbrüche indirekt oder summarisch wiedergegeben – so wie der Ausstoß der Geldverleiher aus dem Tempel durch Jesus in Matthäus 21,12-13 –, aber in einigen Fällen umfasst die Erzählung auch direkte, ausführliche Episoden leidenschaftlicher Rede, ob von einer Figur im Dialog (das Buch Hiob) oder durch die Erzählerstimme selbst (die Klagelieder des Jeremia). Sprachliche Hemmungslosigkeit ist eine durchaus verbreitete Markierung des Literarischen, und verschiedenste Formen und Modi haben sich aus solchen Mustern diskursiver Ausschweifungen entwickelt. Einige dieser Formen stechen in der Geschichte der Rhetorik hervor. Die Philippika entpuppte sich als eine Gattung der anhaltenden Kritik, welche den Reden von Demosthenes gegen Philipp II. von Makedonien folgte, und wurde von Cicero (14 Mal) gegen Markus Antonios nachgebildet: Sie nahm die Form einer Warnung vor den Gefahren der bevorstehenden kriegerischen Handlung oder eines Staatsstreiches an. Die Moralpredigt – mit ihren Ursprüngen in der antiken griechischen Rekrutierungsgattung des Protreptikos (vgl. McGehee 1993: 144) – entwickelte sich im späteren Mittelalter zu einem rhetorischen Modus kriegerischer Motivation. Die Jeremiade, welche nach der berühmtesten Klagestimme im Alten Testament (und reichlich ausgewiesen in Jesaja) benannt ist, florierte im 17. Jahrhundert in England, aber etablierte sich vor allem energisch in den Vereinigten Staaten in einer Vielzahl von Gattungen: von puritanischen Predigten der frühen Kolonien über Sklavenerzählungen bis hin zu zeitgenössischen Romanciers wie Philip Roth, nicht zu vergessen die Predigten von Martin Luther King und die Musik von Bob Dylan (vgl. Bercovich 1978). Schließlich spielt die Tirade als eine Strategie des Sprechens mit einem realen oder imaginierten Gesprächspartner eine große Rolle in der klassischen Pädagogik, vor allem der Sophisten, Zyniker und Stoiker, sowie in biblischen Texten wie den neutestamentlichen Briefen des Paulus (vor allem Römer).1 1 | Rudolf Bultmann setzte in seiner maßgeblichen Studie Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (1910) wegweisend den Predigerstil von Paul in Beziehung zu dem der Tirade, welche von den Zynikern als rhetorische Gattung des öffent-

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Zu diesem Katalog könnten vielleicht noch mehr generische Formen von leidenschaftlichen Reden hinzugefügt werden, wie etwa der Wortschwall (beispielhaft durch den Bürger in der Zyklopen-Episode in James Joyces Ulysses), die Invektive, Ermahnung, Apostrophe und andere, die alle leicht in den Romanen und Dramen von Beckett und Bernhard identifiziert werden können. Die Tirade als eine spezifische Art literarischen Ausbruchs liefert ein klares Schema, in dem die Kraft und Wirkung der beiden längeren Erzählungen aus Watt und Wittgensteins Neffe zu untersuchen sind. Die Texte unterscheiden sich oberflächlich auf vielfache Weise, aber sie verdeutlichen tiefe Affinitäten als Modelle für die kritische Offenbarung des Selbst, eine Art reflexive Autoapokalypse, verursacht durch die leidenschaftliche Ermahnung und eine kontrollierte, aber radikale Weltkritik. Die in der Tirade entstehende Leidenschaft liefert den nötigen Katalysator für die Entmystifizierung des Selbst, das durch die Stadien des anhaltenden narrativen Ausbruchs geht. Die Prüfung jeder Tirade wird ihre Tragweite und ihren Erfolg oder Misserfolg in der Möglichkeit zur Erlangung der Erleuchtung ermitteln, sowohl für den Redner als auch den Zuhörer/Leser.

Arsene der Bekenner Becketts Roman Watt zeigt einen einzigartigen Fall nachhaltiger Einschüchterung in der ganzen Prosa Becketts: nämlich Arsenes Tirade gerichtet an Watt in Teil I. Dies geschieht innerhalb eines Romans, der sonst im Verruf steht, aus umfangreichen Abschweifungen und narrativen Kaskaden zu bestehen, insbesondere in Bezug auf die langen permutativen Sequenzen in den Teilen II und III. Die Logik dieser späteren Passagen und ihre Beziehung zum frühen Ausbruch Arsenes sind in der Struktur und in den thematischen Entwicklungen des Romans auszumachen. Watt, ein geknechteter »university man« (Beckett 1959: 23), reist an den Ort seiner künftigen Arbeit, Knotts Haus (Teil I). Er tritt sein erstes Dienstjahr an und wird sich langsam über seine wachsende Unkenntnis der Menschen und Ereignisse in dem Haus bewusst (Teil II). Er stürzt in eine tiefe Unkenntnis in seinem zweiten Jahr der Beschäftigung, welches von langen Erinnerungsabschweifungen unterbrochen wird (Teil III). Schließlich kehrt er vom Haus zurück zur Bahn und dann zum »end of the line« (ebd. 244) (Teil IV). Dieser Begriff erscheint als institutionelle Rahmung von Teil III, dem Schauplatz, an dem Watts Erzählung dem Schreiber Sam in immer aufwendigeren Wechseln von Klängen, Wörtern und Sätzen nacherzählt wird. Dieses Erzählschema wird durch die Behauptung des Erzählers zu Beginn von Teil IV weiter verkompliziert: »As Watt told the beginning of his story, not first, but second, so not fourth, but lichen »Marktplatzes« genutzt wurde. Malherbe stimmt dieser Ansicht nicht zu, sondern sieht Pauls rhetorische Verpflichtung näher ausgerichtet an Epiktet und seinem beratendem »Klassenzimmer«-Argumentationsmodus (vgl. Malherbe 1989: 4-6). Vgl. auch Stowers 1988 für eine kritische Geschichte der Tirade in klassischen und neutestamentlichen Studien.

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third, now he told its end« (ebd. 215). Die vier Teile folgen tatsächlich einer grob chronologischen Reihenfolge, aber der Erzähler, der sich in Teil III als Sam identifizieren lässt, gibt die Geschichte in dieser chiastischen Ordnung wieder. Das Treffen zwischen Sam und Watt in Teil III ist chronologisch gesehen das letzte, da es auf Watts abgeschlossene Beschäftigung im Hause Knott folgt, während dessen verschachtelte Geschichte (Watts zweites Jahr der Beschäftigung) das übergeordnete Gefühl von Linearität aufrechterhält. Watts Reise nach und sein Eintritt in Knotts Haus sind im Hinblick auf seine abnehmenden Fähigkeiten der Wahrnehmung und des rationalen Verständnisses gerahmt und laden damit zu Vergleichen mit Bunyans Pilgrim’s Progress und dem mittelenglischen spirituellen Führer The Cloud of Unknowing ein. Watt tritt in den erzählerischen Rahmen augenblicklich ein und taucht bei der Straßenbahnhaltestelle gegenüber von »Hunchy« Hackett und Goff und Tetty Nixon auf, die ihr Gespräch unterbrechen, um über die Art seiner Anreise und seine künftigen Absichten zu spekulieren. Zunächst kann Mrs Nixon nicht erkennen, ob die Figur an der Haltestelle ein Mensch ist oder ein aufgerollter Teppich. Diese Unsicherheit in der Wahrnehmung lässt sich auf Watts Weiterreise übertragen: Er kollidiert mit dem Rollwagen des Stationsvorstehers auf dem Bahnsteig, findet sich auf dem schnell abfahrenden Zug wieder, beteiligt sich an einem kurzen und verwirrenden Gespräch mit Dum Spiro zu kirchlichen Fragen, als sie an der Leopardstown Rennbahn vorbeifahren, steigt aus dem Zug, wird von einer Steine werfenden Mrs McCann angegriffen, verliert das Bewusstsein (und sein halbgares Mittagessen) in einem Graben bei engelsgleicher musikalischer Untermalung und findet sich dann zuerst außerhalb von Knotts verschlossenem Haus wieder, dann auf wundersame Weise darin. Watt beobachtet, wie die Asche im Herdrost im Lampenlicht die Farbe wechselt. Nachdem er seine selva oscura navigiert hat, trifft er seinen Vergil: Arsene betritt die Küche und überrascht damit Watt, der »neither saw, nor heard, the door open and a gentleman come in« (ebd. 38). Arsene verlässt kurz den Raum und kehrt dann »dressed for the road« (ebd. 39) zurück. Da Watts Reise zum Haus als parodistische Pilgerreise gerahmt ist, ist es daher angebracht, Arsenes »short statement« als Schein-Katechismus sowie als ein Versatzstück der Big-House-Tradition zu lesen: Die Einarbeitung des neuen Dieners durch den leitenden Butler (vgl. Ackerley 2005: 57).2 Dieser unerbittliche verbale Angriff erstreckt sich über 25 Seiten und durchläuft eine Vielzahl von rhetorischen Figuren und Funktionen: Parabel, Tirade, Moralpredigt, Invektive, kombinatorische und typologische Abhandlung, serieller Exkurs, Geschichtsschreibung, spekulative Fiktion, Elegie, Psalm und Apologie.3 Die verbinden2 | Vgl. Wolff 1995-1996 und Boxall 2010 für zwei Studien zu Watt innerhalb (und gegen) die irische Big House-Romantradition. 3 | Arsene bietet zwar eine unaufrichtige Entschuldigung am Ende der Rede, aber er interessiert sich mehr für die Verteidigung seiner Weltsicht, so wie sie ist, innerhalb der traditionellen Form des ߕ›‫(އ޸މޔސޔ‬apologia). Zu den bekanntesten Apologiae in der westlichen

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de Logik dieser Figuren und Funktionen erfährt starke Variationen: Sie wechselt zwischen seriellen Abschweifungen, abrupten Ausbrüchen, unlogischen Schlussfolgerungen, Rahmenerzählungen und stillen Verschiebungen zwischen dem Hypothetischen, dem Fiktiven und dem Realen. Zu dieser rhetorischen Fülle kommt die Variation im Ton hinzu: von schmeichelnd zu fragend, abstrahierend zu leidenschaftlich, pedantisch zu gleichgültig und gebieterisch zu flehend. Diese verwirrende Vielfalt von Stilen und Techniken erinnert am unmittelbarsten an die Techniken von Joyces Ulysses, vielleicht besonders an »Cyclops« (Episode 12) und »Oxen of the Sun« (Episode 14). Becketts frühes literarisches Nacheifern von Joyce ist deutlich erkennbar in dieser Rede (und im Roman allgemein), aber Arsenes Tirade zeigt auch eine Wendung weg von der expliziten, parodistischen Hyper-Referentialität, die mit Joyce assoziiert wird, hin zu subtileren und teilweise verschütteten Anspielungsfäden, die charakteristisch für Becketts spätere Romane und Stücke wurden. Die Rede erfordert eine genauere Analyse, um dies zu bestätigen, nicht zuletzt wegen ihrer expliziten, wenn auch ironischen Rahmung innerhalb eines Diskurses zu gnostischer Mystik und mystischer Erleuchtung. »Haw! How it all comes back to me, to be sure. That look! That weary watchful vacancy! The man arrives!« (Beckett 1959: 39). Arsene beginnt seine Rede mit lächerlichen Ausrufen und der Erinnerung an seine eigene Ankunft in dem Haus unter ähnlichen Bedingungen von Ratlosigkeit, gefolgt von einer Reihe von ausrufenden Beteuerungen. Diesen spekulativen Modus fortführend, bietet er eine imaginierte Darstellung der zukünftigen Karriere Watts im Haus an, welche er sofort in den Diskurs einer spirituellen Suche einordnet. Dass das Licht der Morgendämmerung erst noch kommt – »The dawn! The sun!« –, bedeutet einen potenziellen spirituellen Fortschritt von den »dark ways all behind, all within« und verbindet sich mit einem anhaltend christologischen Wortschatz in der ganzen Tirade: Alles andere als eine Bedrohung darstellend, kündigen die Nachtklänge von nichts (vgl. 39); Angst ist »sponged away and forgiven« und »healed«, und die Bewegungen im Haus werden als »exitus and redditus«4 (ebd. 40) beschrieben. Arsene spekuliert auf die höchste Tugend des Nichtstuns (dem Aufruf zur AskeLiteratur gehört Sokrates Verteidigung in Platons Dialog mit dem gleichen Titel und Pauls Rede vor Agrippa in der Apostelgeschichte 26,2. John Pilling argumentiert, dass Beckett bewusst und systematisch eine Vielzahl von rhetorischen Figuren und Tropen in die französische Übersetzung von Arsenes Tirade einarbeitete, ganz im Stil von »Aeoleus« in Joyces Ulysses (vgl. Pilling 1996: 63). 4 | Die mytische Struktur von exitus und reditus (Ausgang und Wiederkehr) beschäftige solch zentrale christliche Theologen wie Augustinus und Thomas von Aquin. Der reditus im Besonderen als der Begriff, welcher der Wiederkehr der Schöpfung zur Gottheit, die auf die Auferstehung Christus folgt, zugeschrieben wird, wird zu einem definitiven Konzept neoplatonischer Tradition, besonders im Werk von Becketts irischem Landsmann, dem Karlingerschüler und Dichter Johannes Scottus Eriugena (c.815-c.877). In seinem Meisterwerk, Periphyseon oder De divisione naturae, beschreibt Eriugena den reditus als eschatologi-

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se), er erinnert sich an seine Wahrnehmung der Einheit aller Dinge, wenn er die Sonne auf der Gartenmauer betrachtet, an welcher Stelle er »felt [his] breast swell, like a pelican’s I think it is« (ebd. 42), und als abreisender Schein-Schmerzensmann muss er gehen, »before the cock crows« (ebd. 49). Diese christologischen Echos sind im ersten Drittel von Arsenes Rede verstreut, in der er seine Ablösung durch Watt durchführt, der jetzt den Pfad der via negativa hin zu einer Entleerung des Selbst auf der Suche nach Erleuchtung gehen muss. Alle, die im Hause Knott arbeiten, erfüllen die funktionelle Rolle sowohl des spirituellen Pilgers sowie des Pseudochristus, wobei Knott selbst die Funktion eines vielgestaltigen Gottvaters ausübt, der zugänglich ist nur durch eine negative Theologie. Pseudogöttlichkeit wohnt in jedem Menschen – eine Bedingung, die praktischerweise einen rhetorischen Raum für Arsenes kombinatorische und typologische Exkurse öffnet. Arsene stützt die christologischen Vokabeln in seiner Tirade mit einer Reihe von rhetorischen Tropen und Figuren, eingesetzt als ein Mittel zur Erlassung seiner physischen und kontemplativen Pflichten im Haus. Arsene gewährleistet seinen eigenen exitus und potenzielle metaphysische Befreiung, indem er Watt sich der seriellen Logik der Austauschbarkeit unterwerfen lässt und indem verschiedene Arten von Serialität oder kombinatorischer Logik innerhalb bestimmter Formen der Rede erprobt werden. Früh in der Tirade ergänzt er das Thema der Opfergabe mit dem der Vereinigung von Selbst und Universum durch asketische Disziplin. In einer längeren Sequenz von Metaphern – ein verschwindender Bereich innerhalb des Selbst, »Gliss –– iss –– iss –– STOP!« (ebd. 43), der ontologische Fehler wie das Verschieben von Sandkörnern in einer Düne am Ozean, eine Variante des Sorites Paradox (ebd.) – verfällt Arsene ungewollt in das Register der Moralpredigt: »The fool! He has learned nothing. Nothing« (ebd. 42). Hier spricht Arsene von sich selbst: Er ist der Narr, der aufgrund eines »distended« persönlichen Systems (ebd. 43) orientierungslos ist. Er versucht, diesen Stand der Dinge über einen Exkurs zu durchdenken (Tabakpfeife und andere oral verabreichte Objekte [ebd. 44]); über Paradoxa und Sequenzen von rhetorischen Fragen5 (»But in what did the change consist? What was changed, and how? […] And to what if any reality did it correspond?« [ebd.; Herv. i.O.]); über die wiederkehrende Trope des reditus (»the reversed metamorphosis. The Laurel into Daphne« [ebd.]); und über die Form der Invektive (»life begins to ram her fish and chips down your gullet until you puke, and then the puke down your gullet until you puke the puke, and then the puked puke until you like it« [ebd.]). Nachdem diese Taktik des verbalen Zwangs durchlaufen wurde, wechselt Arsene abrupt in zusammenhangslose Abschweifungen; eine Verschiebung, die im sche Erfüllung. Ackerley schreibt den Ausdruck Thomas à Kempis zu, besonders seinem De Imitatione Christi (vgl. Ackerley 2005: 59). 5 | Sequenzen von rhetorischen Fragen bestimmen die klassische Moralpredigt von Epiktet (vgl. Malherbe 1989: 25-26). Daher lässt sich Arsenes Ausbruch in dieser Hinsicht eindeutig zu rhetorischer Orthodoxie rechnen.

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Text durch einen einzigartigen Zeilenumbruch und einen neuen Absatz markiert wird. Sein Gleichnis von Mr. Ash auf der Westminster Bridge trägt eine negative ethische Valenz: Es beschreibt die Unmöglichkeit der zwischenmenschlichen Gemeinschaft, wo jeglicher Diskurs missverstanden wird und gute Absichten zu hermeneutischer Verwirrung und persönlichem Nachteil führen. Arsenes Schlussfolgerung – »Personally of course I regret everything« (ebd. 46) – öffnet den Weg für seine erste nachhaltige taxonomische Kaskade: gereimte Sequenzen von emotionalen Zuständen, verbale Reaktionen auf negative Stimuli, ausgerichtet an Tagen der Woche, und eine kombinatorische Liste der Vorfahren, von denen die lausige alte Erde geerbt wurde: »my father’s and my mother’s […] and fathers’ fathers’ fathers’ and mothers’ mothers’ mothers’« (ebd. 46-47). Betrachtungen über die Welt, die zunächst als »[a]n excrement« und dann »[a] turd« (ebd. 47) beurteilt wird, wenden sich dem Wechsel der Jahreszeiten mit einem auf den ersten Blick scheinbar bukolischen Lobgesang zu: »The crocuses and the larch turning green every year a week before the others […]« (ebd.). Der Ton von Arsenes Erinnerungen versinkt in einen Schwebezustand der Wiederholung, ein Paradox des stufenweise zunehmenden Stillstands: »[I]f I could begin it all over again a hundred times, knowing each time a little more than the time before, the result would always be the same« (ebd.). Dies führt zu einem kurzen Gesang und der berühmten Abhandlung über das Wesen des Lachens: das bittere oder ethische Lachen, das auf das gerichtet ist, was nicht gut ist; das hohle oder intellektuelle Lachen, das auf das gerichtet ist, was nicht wahr ist; und das freudlose oder reflexive Lachen, gerichtet auf das Lachen selbst (vgl. 48) und auf das, was unglücklich ist. Dieser Aufwand von Schein-Scholastik spielt an auf eine Bilderwelt des Schmerzensmannes. Arsene schweift von diesem Schauplatz seines Gethsemane ab und kehrt zum Thema serieller Dislokation zurück. Dies macht die zweite Hälfte seiner Tirade in zwei verwandten Formen aus. Die erste ist eine fiktive Reihe von Haus- und Stubenmädchen, um die zweite Reihe, die der persönlichen Diener, die im Hause Knotts arbeiten, zu veranschaulichen.6 Das erste hypothetische Beispiel übersteigt schnell Arsenes rhetorische Kontrolle, bei dem der kürzlich verstorbenen Mary eine rückblickende Geschichte von erstaunlicher Völlerei zugesprochen wird und ihr Status aus dem Hypothetischen ins Historische verschoben wird. Über die Ursache ihrer Mattigkeit wird in einer abschweifenden Reihenfolge von rhetorischen Fragen sinniert (vgl. ebd. 51), und ihre Ernährungsgewohnheiten werden in serieller Form beschrieben, wie auch die verschiedenen hypothetischen Gelüste – Vegetarismus, FKK, Kannibalismus, Koprophilie (vgl. ebd. 52) –, mit denen jene 6 | Serielle Anstellung hat ihre eigene logische Folge in den Addenda-Fragmenten, mit denen der Roman schließt. Arthur, Watts Nachfolger, erwähnt die Familie Knott ihm gegenüber zum ersten Mal: »There had been a time when [the words] would have pleased him, and the thought they tendered, that Mr Knott too was serial, in a vermicular series. But not now. For Watt was an old rose now, and indifferent to the gardener« (Beckett 1959: 253).

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von Mary in einer Teleskopsequenz von Rahmenerzählungen verglichen werden. Arsene spricht das (fiktive) Hausmädchen Jane im Präsens an (vgl. ebd.) und flacht somit alle Ebenen der Hypothese und Fiktivität in ein kollektives Publikum für seine Abhandlung ab. Er wechselt dann aus diesem undifferenzierten Gebiet heraus durch den Einsatz der Macht der Redekunst und stellt Mary in der Fiktion wieder her: »But to return to where we left her […]« (ebd. 54). Arsenes kombinatorische Besessenheit von Marys Ernährung und Essgewohnheiten geben geschickt ihre mechanischen Zwänge wieder, ihre Hände arbeiten »like piston-rods« (vlg. ebd. 55) zwischen ihren Schürzentaschen und ihrem Mund. Da er seine Tirade im metaphysischen Modus des Pseudo-Schmerzensmannes begann, findet Arsene nun seine Grundmaterialität in diesem weiblichen Gegenstück zu La Mettries L’homme machine (1748) wieder. Der Schock der Erkenntnis legt den Bruch in Arsenes Selbstkonzeption frei, die durch die spirituelle Reise im Hause Knott gerahmt ist; es verbleibt ein Bruch, den er nicht schließen kann. Dieser Moment veranlasst einen weiteren narratologischen Sprung, ausgelöst durch das Wort »summer«, von Marys Gewohnheiten zum Konzept seiner eigenen Sterblichkeit: »[w]hen I lie dying, Mr Watt, behind the red screen« (vgl. ebd. 5). Arsene kehrt zur Gattung der spekulativen Fiktion zurück und bringt ein Gefühl von Zukunft und dem täglichen Zyklus der Jahreszeiten zusammen in einer erzählten Dienstgeschichte im Haus: »[F]or the coming is in the shadow of the going and the going is in the shadow of the coming, that is the annoying part about it« (vgl. ebd. 57). Die rhetorischen und thematischen Anklänge an Kohelet – »To every thing there is a season, and a time to every purpose under the heaven« (King James Version, Koh 3,1) – durchdringen diese Überlegungen mit der moralischen Betrachtung von Arbeit: »So I saw that there is nothing better for a person than to enjoy their work, because that is their lot. For who can bring them to see what will happen after them?« (Koh 3,22).7 Arsenes nachfolgende Listen modulieren die Konzepte der Iterabilität und Variation im Haus: Die bevorzugte physiologische Konstitution von Knotts Dienern, die lange Liste der bisherigen Diener führt zurück zu »that other whose name even Vincent could not call to mind that other whose name even Vincent never knew, and so on, until all trace is lost, on account of the vanity of human wishes« (Beckett 1959: 60). Diese Anspielung auf Samuel Johnson fängt die Umkehrung und Umwandlung von rationalem Denken und irrationalem Handeln in Systeme von hyperrationalem Zwang im Hause Knotts geschickt ein. Arsene endet seine Moralpredigt in Bezug auf ihre Leitfunktion: »I think I have said enough to light that fire in your mind that will never be snuffed, or only with the utmost difficulty« (ebd. 62). Diese letzte Homilie zu den Geheimnissen 7 | Vgl. Law 1972 für einen ausführlichen Abgleich von Passagen zwischen Arsenes Tirade und Kohelet. Statt inadäquate Erklärungen für seine zukünftige Arbeit zu liefern, wie Law behauptet, übt Arsene den Prozess der kritischen Selbstoffenbarung früher als Watt, aber versagt, diese auszuführen. Vgl. auch Ackerley 2005: 57-86 für eine umfassende Annotation der Referenzen, Andeutungen und Echos in Arsenes Tirade.

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des Chiasmus – »Theseus kissing Ariadne, or Ariadne Theseus« (ebd. 63) – enthält Bezüge zum Everyman (»Erskine will go by your side, to be your guide« [ebd.]) und der nekyia und katabasis, der Reise in die Unterwelt in Buch XI der Odyssee (»you will travel alone, or with only shades to keep you company« [ebd.]). Arsene bittet Watt um Vergebung, bevor er Abschied nimmt, und lässt dabei die Formel des Confiteor im Bußakt der lateinischen Messe aufklingen: »[F]or what I have done ill and what I have done well and for what I have left undone, I ask you also to forgive me« (Beckett 1959: 63). Die Umkehrung vom Prediger zum Büßer zeichnet Arsene rhetorisch als einen wahren Bekenner aus im Sinne eines Märtyrers, der Verfolgung erleidet und aus dem Gehäuse endloser Wiederholung herausfällt. Watt hat die Aufgabe, seinen Platz einzunehmen und in die via negativa über die Tirade, die er erhalten hat, aufgenommen zu werden. Was sind die Folgen von Arsenes Tirade für die gesamte Erzählung und für Becketts literarische Ziele im Allgemeinen? Arsenes Rede fungiert als parodistischer »Führer der Unschlüssigen«, der Watt tiefer ins Mysterium hineinführt, anstatt einen Weg hindurch aufzuzeigen. Dies hat insofern narratologische Bedeutung, als dass dadurch der Weg für die erweiterte serielle Form der Teile II und III des Romans geebnet wird. Arsenes rhetorische Tendenzen übertragen sich auf den Erzähler, wogegen Watt jedoch immun scheint (außer in seiner Berichterstattung der gesamten Erzählung zu Sam auf dem Gelände der Institution). Watt wiederholt Arsenes Rede bezeichnenderweise nicht, wenn sie das Haus verlassen, weder im Ausmaß noch in der Art. Bei der Ankunft Micks verliert er sich »in the soundless tumult of the inner lamentation« (ebd. 217) und löst stummen Schrecken in Micks aus. Watts stiller Abschied entspricht den allgemeinen Anforderungen der Moralpredigt in einer Sequenz von rhetorischen Fragen, die mit dem Mysterium abschließen: »Or was it perhaps something that was not Watt, nor of Watt, or beneath Watt, or above Watt, or about Watt, a shade uncast, a light unshed, or the grey air aswirl with vain entelechies?« (Beckett 1959: 220). Bricht er somit die Kette der Serialität? Dieses Mysterium spiegelt das Problem der Hermeneutik wider, das Lesen der Erzählung als Leitfaden: Es gibt keine Aufklärung über das Wesen der Erfahrung in Knotts Haus oder die Tragweite der verschiedenen Rätsel und »sphinxes«, außer sie als Embleme eines bestimmten Seinszustands, von dem Watt summarisch und geheimnisvoll ausgestoßen wird, fungieren zu lassen. Die Erzählung selbst wird zum bleibenden Rätsel und fordert einen Prozess der Betrachtung, bei dem der Prozess und nicht die Auflösung das Ziel ist. Dies wird im fragmentierten Wesen der Textoberfläche, der Addenda und anderen Störungen erzählerischer Integrität des Romans widergespiegelt. Die physische Verkörperung der Erzählung verstärkt die Mysterien der Selbstoffenbarung oder Autoapokalypse der Figuren. Diesem Zustand wird eine weitere bibliographische Dimension verliehen durch die Beziehung zwischen dem angedeuteten Originalmanuskript und dem veröffentlichten Text.

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Schmähung als Reflexion in Wittgensteins Neffe Wittgensteins Neffe entwickelt eine Reihe von bemerkenswert konsistenten Themen im gesamten Schreiben Bernhards: eine vernichtende Verachtung für den Staat Österreich und dessen Einwohner, das Spießertum des Musik- und Theaterpublikums; die Sinnlosigkeit von Literaturpreisen (und die größere Dummheit, sie anzunehmen); die wesentliche Isolierung des menschlichen Subjekts und die tückische Gebrechlichkeit des Körpers und die Durchsetzung des Lebens mit Phasen oder sogar bloßen Momenten von wahrer Freundschaft mit einem seltenen Lebensmenschen. Das Wesen der Freundschaft zwischen dem Erzähler Thomas Bernhard und Paul Wittgenstein ist das spirituelle Zentrum der Erzählung, was bereits im Untertitel des Romans, Eine Freundschaft, angedeutet wird. Die vielfältigen Mittel, mit denen diese Freundschaft erforscht wird, beleuchten aber auch besonders die Reflexion über das Selbst des Erzählers Bernhard. Auf diese Weise überschneidet sich Bernhards Erzählung mit dem Kernpunkt von Arsenes Rede in Becketts Roman: Beide Erzählstimmen initiieren eine Reflexion über das Selbst und seine Beziehung zum Anderen durch eine spirituelle Übung, eine mit einer negativen Wertigkeit. Eigentümliche Affinitäten von Thema und Topographie sind ebenfalls deutlich sichtbar: Watt erzählt seine Geschichte seinem Schreiber Sam in Teil III des Romans auf dem Gelände einer medizinischen oder psychiatrischen Anstalt, während Bernhard seine Erzählung im Hermann Pavillon des Wilhelminenbergs beginnt, im Bewusstsein von Pauls Nähe im Pavillon Ludwig; der von Bernhard beschriebene stolze Menschenhass bringt ihn und Paul nahe zusammen, während Watt und Sam »[n]o truck with the other scum« (Beckett 1959: 153) haben; Musik, ob orchestraler oder himmlische Natur, läuft ebenfalls durch beide Erzählungen als Topoi der Befreiung. Während Arsenes Rede Watts Beschäftigungsweise im Zustand dürftiger Unklarheit initiiert, ist Bernhards Erzählung abgeschlossen, ein Zeugnis und eine Lobrede auf seine wertvollste Freundschaft.8 Die Art und Weise, wie sich die Freundschaft in diesem ungebrochenen Absatz des Romans entfaltet, liefert einen Schlüssel zum Wesen der Reflexion des Erzählers und der Wirksamkeit der Tirade, indem zu einer wesentlichen Wahrheit über das Selbst durchgedrungen wird. Die ersten Sätze von Wittgensteins Neffe etablieren Bernhards Erzähler im Hermann Pavillion. Er beschäftigt sich mit Aufzeichnungen (er macht Angaben zu seiner neuesten Veröffentlichung, Verstörung, die eine Entsprechung in der nicht narrativen Welt findet) und seriellen Abschweifungen, die sich um die Angelegenheit seiner letzten schweren Krankheit und Operation drehen. Durch diese Mittel führt der Erzähler einige Figuren ein: sich selbst, den Erzähler Bernhard, den Neffen des Chirurgen Professor Salzer und den »Neffen des Philosophen, dessen Tractatus Logico-philosophicus heute die ganze wissenschaftliche, mehr noch 8 | Neben der Freundschaft zu seinem weiteren Lebensmenschen Hedwig Stavianicek, der Bernhard ein Denkmal setzt in seinem Roman Alte Meister (1985).

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die ganze pseudowissenschaftliche Welt kennt« (Bernhard 1982: 4). Bernhards unwiderstehliche Beleidigung gibt den Ton für seine allgemeine Verachtung für das geistige Leben der Menschen um ihn herum und in Österreich im Allgemeinen an. In einer einzigen Geste vereint er das Thema seiner Erzählung mit seiner eigenen Betrachtung zu lebhafter, ehrlicher intellektueller und kultureller Bewertung sowie mit dem vernichtenden Spott, mit dem er der Überheblichkeit, die er um sich herum wahrnimmt, einen Dämpfer versetzt. Diese satirische Linie – auch wenn sie stark juvenalisch ist – gibt der gesamten Tirade eine Beschaffenheit, die ihr sonst fehlen würde, und die Tiefe, die für ihre reflexive Last notwendig ist. Der Ton summarischer Ablehnung tritt häufig in den frühen Stadien der Erzählung auf: Der Erzähler Bernhard berichtet von »Pauls Geisteskrankheit, die nur als sogenannte Geisteskrankheit bezeichnet werden darf« (Bernhard 1982: 12; Herv. i.O.); es kümmern sich um ihn »sogenannte[] psychiatrische[] Ärzte« (ebd. 13), die ihn systematisch fehldiagnostizieren (vgl. ebd. 13-14); Bernhard beklagt sein langwieriges Eingesperrtsein auf der Station und beschreibt das Dasein des Kranken im Hermann Pavillon, der sich sehnt, auszubrechen: »[Er] gibt sich naturgemäß nicht mit seinen Paar Schritten auf den Gang zufrieden, nein, er tritt ins Freie und bringt sich selbst um« (Bernhard 1982: 16f.). Und selbst die scheinbare Ruhe des Abends wird in süßestem Sarkasmus formuliert: »Es war Juni und die Fenster des Pavillons waren offen und in einem tatsächlich kontrapunktisch genial entworfenen und schließlich auch komponierten Rhythmus husteten die Patienten aus diesen Fenstern in den beginnenden Abend hinaus« (ebd. 20).

Bernhards heftige Ungeduld mit seiner Unbeweglichkeit und der Bedingung seiner Gefangenschaft wird narratologisch Ausdruck durch serielle Abschweifung verliehen. Im Wechsel zwischen dem Kommentar zu seiner Umgebung (sein Stationsnachbar Herr Immervoll, »leidenschaftliche[r] Siebzehnundvierspieler« [ebd. 22]), bewertenden Bemerkungen (die Kataloge der »sogenannten« Phänomene) und einem durchdringenden Ich-Bewusstsein seines Modus der Kritik (z.B. der »wütende Vortrag«, den er einem weiteren Stationsnachbarn hält, weil dieser die Urinflasche gegen das Eisennachtkästchen neben dem Bett stieß [ebd. 23]) umkreist Bernhard das Thema seiner Freundschaft mit Paul Wittgenstein. Irina, eine gemeinsame Freundin, in deren Wohnung er Paul zum ersten Mal traf, besucht ihn inmitten des Bathos der Stationspolitik. Die Erzählung schweift an dieser Stelle in eine erweiterte Reminiszenz an die Begebenheit ihres Treffens ab und in eine Bekundung der Rolle der Musik als Bindeglied ihrer Freundschaft, vor allem Pauls Fähigkeit, einen scharfsinnigen Vergleich zwischen verschiedenen musikalischen Werken, Konzerten und Orchestern zu ziehen. Diese »Kunstbildung« des Philosophenneffen hatte der Erzähler als ein Zeichen der Authentizität angesehen (vgl. ebd. 29) und hatte den Erzähler »unschwer den Paul Wittgenstein als [seinen] neuen, ganz und gar außerordentlichen Freund erkennen und annehmen lassen« (ebd. 29). Die Unterstreichung des Konzepts

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der Authentizität ist entscheidend: Das ist der Wert, der durch alles andere durchschneidet, einschließlich Fragen des ästhetischen Geschmacks, und dies preist Bernhard am höchsten. Pauls vergleichende Fähigkeiten korrespondieren auch mit rhetorischen Figuren des Paralellismus, die in der ganzen Erzählung Bernhards eingesetzt werden und welche die beiden Freunde auf formaler, konzeptioneller Ebene verbindet. Um sich seinen Lebensmenschen Paul »mit diesen Notizen noch einmal deutlich [zu] machen« (ebd. 32), nutzt der Erzähler eine lange Reihe von Parallelismen: »Wie der Paul hatte ich, wie ich sagen muss, meine Existenz wieder einmal übertrieben und also überschätzt […]. Wie der Paul sich jahrelang mehr oder weniger fast zu Tode gerannt hat in seiner Verrücktheit, so hatte ich mich mehr oder weniger jahrelang zu Tode gerannt in meiner. […] [U]nd wir sind in immer kürzeren Abständen in die uns entsprechenden Anstalten gekommen, in Irrenanstalten der Paul, in die Lungenanstalten ich« (ebd. 32-37; Herv. i.O.).

Diese erweiterte Anwendung der reflexiven Argumentation dient als Kontrapunkt zu früheren schmähenden Ausbrüchen und baut eine Disziplin in die erzählte Lektion ein, die in der Figur des Paradoxon angemessen endet: »Wir waren gleich und doch völlig anders« (ebd. 40). Nachdem die symbolische Rolle seiner Freundschaft mit Paul etabliert wurde, fährt Bernhard mit einer erweiterten Lobrede fort, seine tadellose Beurteilung von und Leidenschaft für die Oper rühmend. Pauls leidenschaftliche, übermäßige Hingabe für die Kunst floss in sein Leben ein: »Im Grunde war sein Kopf ein Opernkopf und sein eigenes Leben, das ihm mehr und mehr […] zu einer fürchterlichen Existenz geworden war, zur Oper […], und ihr entsprechend, mit einem durchaus tragischen Ausgang« (ebd. 50). Pauls leichtgläubiger Großzügigkeit (vgl. ebd. 40; 42) wird eine missbilligende Darstellung der Barbarei seiner reichen und berühmten Familie gegenübergestellt, welcher »der Begriff der Gnade immer fremd gewesen ist« (ebd. 43). Bernhard vergleicht die Genialität des Neffen (für Wahnsinn) mit der seines berühmten Onkels (für Philosophie) in einem Chiasmus: »[M]öglicherweise glauben wir bei dem einen, philosophischen Wittgenstein nur deshalb, daß er der Philosoph sei, weil er seine Philosophie zu Papier gebracht hat und nicht seine Verrücktheit und von dem andern, dem Paul, er sei ein Verrückter, weil der seine Philosophie unterdrückt und nicht veröffentlicht und nur seine Verrücktheit zur Schau gestellt hat« (ebd. 45).

Diese Strategie bringt Onkel und Neffe näher zusammen und entfaltet sich an anderer Stelle in der Erzählung weiter: »In der ersten Lebenshälfte war es der Autorennsport, der [Paul] alles gewesen war, in der zweiten die Musik« (ebd. 64). »Über seine Familie redete er selten und wenn, nur darüber, daß er im Grunde

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mit ihr nichts zu tun haben will, wie umgekehrt seine Familie nichts mit ihm« (ebd. 100f.). Bernhards Lobrede erstreckt sich auf Pauls unübertroffene Lebensfreude – »das machte ihn ja liebenswert« (ebd. 58) –, und die Angst vor dem Tod bringt dem Erzähler zu Bewusstsein, »was meine Beziehung zu meinem Freund Paul wirklich wert ist« (ebd. 59). Er kehrt zu diesem Thema zu verschiedenen Momenten in der Erzählung zurück und reflektiert darüber, was Pauls Urteil und Geschmack in der Musik, Mathematik und Philosophie zu einem bleibenden Wert in seinem eigenen Leben macht. Pauls nur scheinbar »oberflächliche Existenz […] hatte kein oberflächlicher Mensch geführt, im Gegenteil« (ebd. 94). Die lange Geschichte von Pauls Begeisterung für den Motorsport und seine Leidenschaft für die Oper (vgl. ebd. 62-64) wird unterbrochen durch eine Rückkehr zu der Zeit im Pavillon Hermann sowie durch Bernhards komplizierte Versuche, Paul zu besuchen: »Eines Tages war es soweit« (ebd. 75). Nach einem Treffen auf halbem Weg zwischen ihren jeweiligen Pavillons empfinden sie die Erfahrung ihres Wiedersehens erschütternd, da es nie wiederholt werden kann. Bei der Rückkehr in die äußere Welt wechselt der Erzähler in eine schmähende Attacke der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber den Leidenden und Kranken: »Die Welt der Gesunden empfängt den […] Kranken nur mit einer scheinbaren Freundlichkeit, nur mit einer scheinbaren Hilfsbereitschaft, nur mit einem scheinbaren Opfermut; werden diese Freundlichkeit und diese Hilfsbereitschaft und dieses Opfertum aber einmal von dem Kranken wirklich auf die Probe gestellt, haben sie sich schon nur als scheinbare und also zur Schau getragene Bereitwilligkeiten herausgestellt, auf die der Kranke am besten verzichtet« (ebd. 77f.)

Der bedächtige Ton steigert sich langsam in der Tonhöhe in eine ausgedehnte Tirade, verschiedentlich zwischen Erinnerungen an vergangene Ausflüge wechselnd, welche Ansichten über das zerstörerische Übel der Natur und die kulturelle Wüste Österreich, ohne Zugang zum Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, auslösen: »Und an der Tatsache, daß wir in so vielen Orten die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen haben, selbst in Salzburg nicht, entzündete sich unser Zorn gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig geradezu abstoßend größenwahnsinnige Land« (ebd. 90).

Die Liste von Übeln läuft entgegen den Tugenden Paul Wittgensteins, als ob sich Lobrede und Beschimpfung die Waage hielten. Aber auch Pauls eigene Anstrengungen von kritischem Urteil und Beschimpfung finden die Bewunderung des Erzählers: »Da er ein unglaublich geschulter Beobachter […] gewesen ist, hatte er fortwährend allen Grund zur Beschuldigung« (ebd. 98f.). In den erinnerten Gesprächen komponieren Paul Wittgenstein und Thomas Bernhard damit ihr eigenes À rebours, insbesondere in den Wiener Kaffeehäusern. Dort finden sie Zer-

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streuung in kleineren ausgedachten Zumutungen, aus denen größere Missstände reflektiert werden konnten. Bernhard wird abhängig von den grüblerischen Befriedigungen der »Kaffeehausaufsuchkrankheit« (ebd. 139) und gibt deren Notwendigkeit bei der Definition seiner Identität zu, wenn auch in negativer Form: »Je mehr und je tiefer ich die Wiener Literatenkaffeehäuser gehaßt habe, desto öfter und desto intensiver bin ich in sie hineingegangen« (ebd. 140). Diese chiastische Ergänzung spiegelt die der beiden Protagonisten mit der Gesellschaft,9 miteinander und emblematisch mit der inneren Spaltung der Selbstdefinition wider. Die abscheulichsten Niederträchtigkeiten der österreichischen Gesellschaft beinhalten den Mörtel, durch den die Freundschaft täglich erneuert und wiedererringt wird (vgl. ebd. 105), eine Freundschaft, die »an ihre Freundschaftsbeweise angeklammert« war (ebd.; Herv. i.O.). Die Ausbrüche wiederum beinhalten das opportune Material für längere Tiraden gegen die österreichische Gesellschaft und bieten Gelegenheit, auf subversive Weise darauf zu reagieren – ein Modell verbalen Verhaltens direkt aus der antiken Rhetorik der Zyniker (vgl. Kennedy 1999: 26-27). Eine solche Episode ist die Veranstaltung, bei der Bernhard der Grillparzer-Preis verliehen wird, der renommierteste nationale Literaturpreis. Er betrachtet die Preisverleihung als »eine echt österreichische Perfidie« (Bernhard 1982: 106; Herv. i.O.). Bernhards Fehler ist es, stolz auf die Anerkennung zu sein, die die Vergabe bedeutet: »Jetzt zeichnen mich die Österreicher, meine Landsleute, die mich bis zu diesem Zeitpunkt immer nur mit den Füßen getreten haben, sogar mit dem Grillparzerpreis aus, dachte ich und ich glaubte tatsächlich, ich hätte einen Höhepunkt erreicht« (ebd.).

Und dies, obwohl sich Bernhard sicher ist: »Einen Preis anzunehmen, heißt nichts anderes, als sich auf den Kopf machen zu lassen« (ebd.). Ein chiastisches Verhältnis entsteht auch zwischen Preis-Geber und -Empfänger, wo der Missbrauch des Letzteren durch den Ersteren aufgrund der Annahme des Preises legitimiert wird: ein niederträchtiger Akt. Man könnte daraus schließen, dass Bernhards Beschimpfungen eine Projektion von Selbsthass sind. Doch Freundschaft verwandelt die Selbstsabotage seiner Dankesrede – eine Farce von Schuldzuweisungen und nationaler Beleidigung und in der Tat die reinste Verkörperung der Moralpredigt10 – zu einer Demonstration von Pauls Suche nach Klarheit des Sehens, 9 | Vgl. Konzett 2000, besonders S. 25-26. Konzetts Studie geht über die kritische Orthodoxie hinaus, die sich auf pathologische und epistemologische Destabilisierung in Bernhards erzählenden Subjekten konzentriert und dabei die Auswirkungen seiner Arbeit auf die Öffentlichkeit auslässt. 10 | Salazar zeichnet den Ursprung der Gattung der Moralpredigt bei der Vergabe der Lorbeeren nach, im Besonderen die Krönung Petrarcas zum ersten poeta laureatus im Jahre 1341. Petrarcas Rede, Collatio laureationis, zeigte »the inner combat […] between the public and the private, and this tension was to remain a hallmark of public intellectuals in their

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wenn er erklärt: »Einen Preis annehmen ist schon eine Perversität […], einen Staatspreis annehmen aber ist die größte« (ebd. 118; Herv. i.O.). Die Erzählung schweift in eine allgemeine Bedingung des Missbrauchs ab, wo Sitten, Kleidung und die bloße Existenz der Österreicher ausreichend sind, um größten Zorn zu erregen. Die verschiedenen rhetorischen Kategorien von Missbrauch werden schließlich zum Vehikel für Freundschaft selbst. Was wie ein beinahe tödlicher persönlicher Fehler beginnt, macht allmählich aus der Figur des Paul als Lebensmensch Bernhards eine Figur des Lebensretters, wenn Bernhard schlussfolgert, dass er »das Gefühl hatte, hier sei mein Retter« (ebd. 131). Die Jeremiade wird zu einer Erzählung von Verzweiflung und Erlösung, wenn sie sich verwandelt, von strenger Selbstkritik (»Ich war damals […] von allen verlassen, weil ich sie alle verlassen hatte« [ebd. 130; Herv. i.O.]) in eine Erzählung von Gnade, wo Freundschaft die Absicht inspiriert, sich nicht mehr »selbst zu belügen und etwas zu beschönigen« (ebd.). Bernhards Tirade gegen den Verrat des Burgtheaters, der Kaffeehaus-Kultur und der Gesellschaft im Allgemeinen, erzeugt einen reflexiven Raum, in dem der wahre Wert von Pauls ehrlicher Freundschaft zu verstehen ist als ein Weg, auf dem ein authentisches Ich-Bewusstsein erlangt wird durch einen Prozess, den Bianca Theisen als rekursive Beobachtung bezeichnet (vgl. Theisen 2006: 551). Bernhards letzter, fataler Fehler ist es, seinen Freund bei seiner Krankheit zum Tode zu meiden (»was ich mir nicht verzeihe« [ebd. 148]) – und seine Beerdigung zu verpassen, was seinen Höhepunkt in der Schlusserklärung findet: »Sein Grab habe ich bis heute nicht aufgesucht« (ebd. 164). Diese letzte Abwesenheit steht mit dem herrschenden Paradoxon der Lobrede im Einklang, bei der Paul die Natur, die Kunst und seine Mitmenschen sowohl liebt als auch hasst (vgl. ebd. 163). Die Gewissheit und Einmaligkeit der Vision, welche in der Gattung der Tirade impliziert sind, werden subtil durch die Annahme von gegensätzlichen Zuständen im Prozess der spirituellen Reflexion ersetzt. Die Tirade ist das reinigende rhetorische Feuer für das Paradoxon des Ich-Bewusstseins im literarischen Erzählen.

F A ZIT Die Tirade bietet ein Mittel, um nonkonformistischen Jähzorn in den Romanen von Beckett und Bernhard zu repräsentieren, entweder in der Form von Belehrungen der Figuren oder in der Erzählerstimme. Die Kritik hat die Art und Weise untersucht, wie solche narrativen Episoden fiktionale Autorfiguren bestätigen oder aber zu einer scharfzüngigen Sicht auf die Menschheit, wie sie in anderen Romanen und Stücken vertreten wird, beitragen. Solch erzählerische Pyrotechnik bietet reichlich Gelegenheit für die parodistische Nutzung von literarischen Gattungen und rhetorische Tropen und lädt im Falle von Beckett zu Vergleichen seeking of recognition from those who can confer any sort of laureatio on them« (Salazar 391).

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mit solchen Einflüssen wie Robert Burton und James Joyce ein. Aber es geht um mehr in diesen narrativen Strategien als um die Tröstungen durch Parodie oder Beschimpfung. Sowohl Beckett als auch Bernhard setzen Verletzlichkeit und Unsicherheit im Kern ihrer Tiraden ein. Das Ziel ist nicht, die düsteren Gewissheiten des Lebens zu verkünden: Erzähler und Figuren können solche Gefühle erproben, doch die narratologischen Konsequenzen stimmen nicht mit Pessimismus überein. Watt zeigt sich nicht direkt beeindruckt von Arsenes Tirade, außer in seiner Einführung in die tiefen Mysterien des Knott Haushalts, und vielleicht manifestiert sich deshalb die spirituelle Suche im Roman auf parodistische Weise. Stattdessen geht die Kraft der Tirade auf den Leser über, dem es überlassen wird, aus der rhetorischen Melange einen Wegweiser durch die Erzählung zusammenzutragen, und darüber hinaus eine Anleitung durch impliziten textlichen Apparat der Addenda sowie durch die vermittelte Instabilität des Manuskripts und der prekären Natur literarischer Komposition an sich. Arsenes Rede spiegelt eloquent die Notlagen und Unsicherheiten bei der Komposition an diesem Punkt in Becketts Karriere wider, in Paris und Roussillon, unter den Bedingungen der historischen, ästhetischen und existenziellen Gefährdung. Ebenso lässt Bernhard seinen Erzähler nicht bloß die Variationen von Beschimpfung und Tirade durchlaufen, um eine beißende Sicht der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft festzuhalten, obwohl sein Erzähler dies mit einer gefestigten, mürrischen Ironie durchaus tut. Doch vielmehr wird das tiefe Mitgefühl, das er mit Paul Wittgenstein teilt, in seiner bissigen Selbstkarikatur versinnbildlicht; sie bietet einen unwahrscheinlichen Kanal für authentische Zuneigung und ermöglicht es selbst diesem kaustischen Erzähler, den Verlust eines wahren Freundes aufrichtig zu betrauern. In Wittgensteins Neffe fungieren Tiraden als ein reflexiver Modus. Sie werfen ein klärendes Licht auf das wahre Wesen der Freundschaft – einschließlich ihrer Komplexitäten und Grenzen – und erzählen eine stringent ich-bewusste Elegie. In ihren Tiraden gebieten Beckett und Bernhard ihren Leser, auf der gleichen via negativa zu laufen, mit der der Prozess des Durchdenkens selbst das Ziel einer ich-bewussten Hermeneutik darstellt. Aus dem Englischen von Annika Eisenberg

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»Punkt in Bewegung« Schreiben und Gehen bei Beckett und Handke. Eine Skizze Gaby Hartel Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt […] ich halte den Gang für das Ehrenhafteste im Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. J OHANN G OT TFRIED S EUME1

E NTSCHLOSSEN VERIRRT Zwei Männer, nennen wir sie A und C, begeben sich auf Wanderschaft. Unbeirrbar und dennoch abschweifend, mäandernd ziehen sie ihre Bahnen durch fiktive und reale Landschaften: Ihr Weg steigt auf, senkt sich, je nach dem Verlauf der Hügel. Die beiden gehen nicht gemeinsam, denn sie sind zu unterschiedlichen Zeiten aufgebrochen: der eine 1906, der andere 1942. Wie im Fall der beiden Wanderer zu Beginn von Becketts Molloy, auf den ich hier anspiele, wird ihre Bewegung ab einem bestimmten Augenblick von Dritten beobachtet, in unserem Fall von Literaturwissenschaftlern. Das Werk der beiden Wanderer findet zusammen unter dem Dach eines Verlagshauses in Frankfurt a.M. Und irgendwann begegnen sie sich auch persönlich – nicht in der Molloy’schen Talsohle, sondern in einem Pariser Café. Der zuletzt Aufgebrochene, Peter Handke, ist befangen, wie er später erzählt: »nur natürlich, wenn man so einen trifft« (zit.n. Schweiger 2005: 219). Und das, obwohl er mit dem Werk des anderen, Samuel Beckett, »nichts Umwälzendes erlebt« habe, wie er sagt, »nichts Grundlegendes« (ebd.). Doch sei ihm der Roman Murphy »durch und durch gegangen«, und ein Stück wie Warten auf Godot hätte er »in seiner stilistischen Leichtigkeit, in dieser Frechheit, auch gerne geschrieben« (ebd.). Anerkennung auch für Glückliche Tage und Das letzte Band: »[D]ie späteren Stücke sind ja dann wirklich Materie des Lebens« (ebd. 220). Handkes Verhältnis zu Beckett ist charakteristisch für 1 | Zit.n. Drews 2010: 448.

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das eines Nachgeborenen gegenüber einer kanonisierten Schriftstellerfigur – er nimmt sie scheinbar nur wahr, weil er nicht um sie herumkommt. Ansonsten grenzt er sich ab: Beckett sei für ihn eine »Spielgröße« gewesen (ebd. 219). Eine Spielgröße, mit der sich der jüngere Autor allerdings immer wieder auseinandersetzt, zuletzt 2009 in seinem Theaterstück Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts – Ein Monolog. Interessant für meinen Zusammenhang ist in der Nachbemerkung zu diesem Stück die Selbstbeschreibung Handkes im Hinblick auf Das letzte Band – er sieht sich als einen »Verirrten« (Handke 2009: 52). Doch schon im nächsten Atemzug wertet er – in einer langen Tradition stehend2 – den Zustand des Verirrtseins als konstruktiv und produktiv: »Aber muss man sich nicht verirren, im Interesse der Szene, im Interesse des Theaters? So wie ich mir eines Tages gesagt habe: ›Ich werde mich entschlossen verirren‹« (ebd.; m. Herv.). Auch aus Becketts Werk kennen wir unzählige Beispiele der produktiven, scheinbaren wie tatsächlichen Verirrung, Ziel- und Richtungslosigkeit. Zum Einfluss Becketts auf Handke haben die Beobachter viel geschrieben, vor allem in Bezug auf die Sprachskepsis des Letzteren in seinen frühen Stücken. 3 Mir scheint jedoch im Fall eines Autors, der einen künstlerischen Einfluss lange Zeit so vehement herunterspielt wie Handke, der Ansatz Hannes Schweigers besonders unterstützenswert. Er empfiehlt, das Konstruieren von direkten Bezügen beiseite zu lassen und stattdessen den Beckett-Echos im Werk Handkes nachzuspüren (vgl. Schweiger 2005: 220f.).4 Andernfalls, so Schweiger, liefe man Gefahr, »die Eigenständigkeit des Handke’schen Werkes sowie die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den beiden Autoren aus dem Blick zu verlieren, und die Texte in ein eng geschnürtes Interpretationskorsett zu zwingen, dass ihnen ihre Eigenheit und ihr Spezifisches nimmt« (ebd. 222).

Auch mit Becketts Warnung im Ohr, dass Literaturkritik ja »keine Buchhaltung« sei, möchte ich mich darum kurz und skizzenhaft einem eher »weichen« Themenfeld nähern, das beiden Kritikern eines »vorsätzlichen« Schreibens – einer »zeilenschinderischen Literatur der Beschreibung« (Beckett) für die »Lesefutterknechte« (Handke) – am Herzen lag: mit dem Themenfeld des Gehens als einem Zusammenspiel von Körper und Imagination und dem daraus sich ergebenden Zusammenhang vom Provisorischen und Versuchsweisen der Skizze und Zeichnung, für die beide Männer eine Vorliebe hatten und noch haben. Folgt man als Publikum den Bewegungsbahnen der beiden Autoren und ihrer Figuren, so sieht 2 | Vgl. zum Beispiel: Solnit, Rebecca (2006): A Field Guide to Getting Lost, Edinburgh: Canongate. Außerdem: Dies. (2001): Wanderlust. A History of Walking, London: Verso. 3 | Vgl. zum Beispiel: Esslin, Martin (1985): Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. 4 | Auch Handke selbst bezeichnet 2009 Bis daß der Tag euch scheidet als »Echo« auf Das letzte Band. Vgl. Handke 2009: 52.

»Punkt in Bewegung«: Schreiben und Gehen bei Beckett und Handke. Eine Skizze

man diese nicht selten als eine Variante von Paul Klees Vorstellung der gezeichneten Linie als »Punkt in Bewegung«. Doch dazu später.

Warum geht ein Autor? Weil es kein Schreiben gibt ohne Gehen? Kein Denken ohne Gehen? Keine Selbstfindung? Weil das Gehen ein politischer Akt sein kann? Eine Erinnerungsund Assoziationsmaschine? Die Gründe, warum Schriftsteller zu Fuß unterwegs sind, sind weit gefächert und so vielfältig wie die Persönlichkeiten der Wandernden selbst, doch lassen sich einige Gemeinsamkeiten festhalten, die jahrhunderte- und bewusstseinsübergreifend sind und die mir bei den großen Wanderern Beckett und Handke pointiert aufzutauchen scheinen. Kleinster gemeinsamer Nenner bei allen gehenden Autoren ist eine geradezu physische Lust an der Bewegung und den mit dieser Beschäftigung einhergehenden Wahrnehmungsarten: subjektiv ausgerichtet und sprunghaft; unheroisch; fragmenthaft; assoziativ; unhierarchisch; alogisch; gleichermaßen aufs Kleine wie Große, Nahe und Ferne gerichtet; bildlich-graphisch.5 All das gepaart mit einer, wie auch immer motivierten, psychologischen Dringlichkeit, die in vielen Fällen geradezu an Sucht grenzt.6 Hier zwei Beispiele aus der Kulturgeschichte für zwei prototypische Arten von Bewegungsdrang unter Schreibenden, das erste aus einer positiven Genussgeste heraus geschrieben, das zweite eher aus einem Hang zur Selbsttherapie. Zunächst Jean-Jacques Rousseau: »Zu Fuß meinen Weg machen, bei schönem Wetter, in schöner Landschaft, ohne Eile, als Ziel meiner Reise vor mir etwas Angenehmes, diese Lebensweise ist am meisten von allen nach meinem Geschmack.« 7 Dann Søren Kierkegaard: »Vor allem verliere nicht deinen Wunsch, zu gehen. Ich erlaufe mir jeden Tag den Zustand des Wohlergehens und laufe jeder Krankheit davon, ich habe mich in meinen schönsten 5 | Zur genaueren Bestimmung der Spaziergängerliteratur vgl. etwa: Hummel, Volker Georg (2007): Die narrative Performanz des Gehens. Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte, Bielefeld: transcript; sowie: Gellhaus, Axel/Moser, Christian/Schneider, Helmut J. (Hg.) (2007): Kopflandschaften, Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Köln/Weimar/Wien: Böhlau. 6 | Vgl. zum Themenumfeld Gehen bei Beckett etwa: Lütgens, Annelie (2007): »Wohin gehen, wie gehen, warum gehen: Beckett und andere Künstler des Gehens im 20. Jahrhundert«, in: Giesing, Michaela/Hartel, Gaby/Veit, Carola (Hg.), Das Raubauge in der Stadt. Beckett liest Hamburg. Göttigen: Wallstein, S. 19-33. Außerdem: Hartel, Gaby (2006): »›Ein großer Fußgänger‹. Samuel Beckett ist viel gewandert – auch in Berlin«, in: Dittrich, Lutz/Veit, Carola/Wichner, Ernest (Hg.), »Obergeschoss still closed«. Samuel Beckett in Berlin 1936–1937, Berlin: Mathes & Seitz, S. 12-27. 7 | Rousseau, Jean-Jacques: Die Bekenntnisse, zit.n. Gellhaus/Moser/Schneider 2007: 6.

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Gaby Har tel Gedanken ergötzt und weiß von keinem so bedrückenden, dass ich ihm nicht entfliehen könnte. Aber beim Stillsitzen und je mehr man stillsitzt, desto näher ist man dem Gefühl der Krankheit. Daher, wenn man in Bewegung bleibt, wird alles in Ordnung sein« 8 .

Genuss und Therapie klingen also an, Entlastung in der Bewegung und absolute Freude daran, vor allem aber die Hinwendung der Schreibenden zur Beobachtung und zum sinnlichen Nachempfinden der Wirklichkeit und damit zur Rekonstruktion der »Materie des Lebens« (zit.n. Schweiger 2005: 220). Beide Motivationen finden sich auch als Movens in Becketts Wanderbiographie: Eigenen Aussagen zufolge beruhigte ihn das Gehen in einer Zeit, als er stark unter psychosomatischen Beschwerden litt, die sich unter anderem als Herzrasen manifestierten und in einem bedrohlichen Gefühl völliger Bewegungsunfähigkeit gipfelten. »Wenn der Fuß läuft, freut sich das Herz«, hatte er am 5. Mai 1935 in einem Brief an seinen Freund Thomas MacGreevy einen italienischen Merkspruch zitiert, den er allerdings im selben Brief mit der Bemerkung einschränkte, »beruhigt« sei in seinem Fall zutreffender. »The best days have been spent walking with the dogs« (Beckett 2009: 239), schrieb Beckett zu Beginn des Jahres 1935, als er vom Fehlschlag seiner Psychoanalyse überzeugt war und weiterhin unter Herzrasen litt. Dennoch gelang ihm folgende polysinnliche Nachdichtung eines Spaziergangs: »One was specially lovely, over the fields from here across 3 Rock & 2 Rock & back by Glencullan & the Lead Mines. It was so still that from the top of 2 Rock I could hear the solitary accordeon [sic!] played down near the Glencullan river, miles away. I thought of Xmas morning not long ago standing at the back of scalp with Father, hearing singing coming from the Glencullan Chapel. Then the white air you can see so far through, giving the outlines without the stippling. Then the pink and green sunset that I never find anywhere else and when it was quite dark a little pub to rest and drink gin in« (Beckett 2009: 239).

Wie eine mit Buntstiften gefertigte Zeichnung lässt sich diese Passage rezipieren, erlaubt sie doch neben den Hinweisen auf die Bedeutung des Gehens für Beckett – Eintauchen in Erinnerungsbilder; gesteigerte akustische Aufmerksamkeit; Genuss der Vielfalt psychoästhetischer Wirkungen; Empfänglichkeit für Licht und Temperaturen; sportliches Leistungsempfinden – einen Einblick in dessen ästhetische Praxis, Stimmungs- und Naturbilder mit einem Netzwerk von Linien zu unterfüttern und zu stützen. (Murphy, Molloy, Texts For Nothing, Embers, Footfalls, Ill Seen Ill Said, Stirrings Still, Ghost Trio – zahllos sind die Beispiele aus dem Gesamtwerk, in denen die Bewegungsmuster der Figuren wie ein optischer Grundton unter ihren reduziert gehaltenen Erlebnisbildern liegen).9 Dass Beckett von »outlines without the stippling« spricht, ist auffällig und weist ihn auch als Kenner Cézannes aus, den er sehr schätzte und für den die Umrisszeichnung, auch 8 | Kierkegaard, Sören: Briefe an Jette, zit.n. Hartel 2006: 12. 9 | Vgl. hierzu Hartel 2004.

»Punkt in Bewegung«: Schreiben und Gehen bei Beckett und Handke. Eine Skizze

in der Malerei, größte Bedeutung einnahm. Interessant auch, dass Beckett hier – wie in vielen seiner Briefe und Tagebuchaufzeichnungen – einen ästhetischen Raum heraufbeschwört, der archaisch das Empfinden des Gehenden bestimmt. Es ist das durch die Kontur- und Stützzeichnung erst richtig hervortretende Vage, das Beckett immer wieder fasziniert – hier sensorisch dargestellt durch das »white light«. Wir, die mitgehenden, zuschauenden Leser, befinden uns also wie der Autor in einem sinnlich wie ästhetisch empfundenen »smooth space«, so Steve Hardy in seiner Darstellung des nomadischen Raumkonzepts von Raum- und Gehtheoretiker Michel de Certeau (Hardy 2008: 36). Weiter heißt es bei Hardy: »It is a tactile space, or rather ›haptic‹, a sonorous much more than visual space. The variability, the polyvocality of directions, is an essential feature of ›smooth‹ space of the rhizome type, and it alters their cartography« (ebd.).

Wie für Beckett und Handke ist Wissen bei de Certeau vor allem intuitiv erfahrbar, ein Wissen an den unscharfen Rändern des Rationalen, das sich aus vorsprachlicher Körper-, Bewegungs- und Dingerfahrung ergibt (vgl. de Certeau 1988). Hier fühlt man sich erinnert an die scharfe Kritik des jungen Beckett an der Überbewertung des Rationalen, auf die Mark Nixon sehr eindrücklich hingewiesen hat (vgl. Nixon 2006: 103-123). Wie Wanderer, nachts in fremdem Terrain, sind Becketts Figuren auf ihre Sinne angewiesen und lauschen den Stimmen der Welt mit großem Erstaunen. »Damals«, heißt es in Malone Stirbt, »konnte ich […] aus dem Geheul von draußen den Anteil der Blätter, der Äste, der ächzenden Stämme, ja sogar des Grases und des mich bergenden Hauses heraushören […]. Und bis zum Sand der Allee gab es nichts, was nicht seine Stimme gehabt hätte« (Beckett 1986: 283).

Man könnte angesichts dieser überwachen Hellhörigkeit der Figur auch an sein Stück Footfalls denken, wie Ruby Cohn, die bei einer anderen Gelegenheit bemerkt, wie aufmerksam Beckett selbst die Stadt belauscht: »In einer Straße, einem Museum oder anderen Gebäuden blieb er manchmal plötzlich wie erstarrt stehen und horchte auf die Schritte der Menschen; erst im folgenden Jahr sollte ich begreifen, daß dieses Lauschen seinem Stück Footfalls Form und Information lieferte« (Cohn 2006: 159).

Dieses Lauschen als Zeichen erhöhter Zuwendung zu den Dingen während des Spazierens kennen wir auch von Handke, der ansonsten, vor allem die glückliche Müdigkeit während und nach dem Wandern schätzt. Carsten Rohde weist hin auf diesen erfüllten »Zustand der Müdigkeit, wenn alles Wollen weg-gewandert ist« (Rohde 2007: 68), den Handke so umreißt: »Dem ideal Müden wird Phantasie« (zit.n. ebd.). Beckett selbst spricht in frühen Jahren eher vom Laufen als Erinne-

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rungsmovens, wie in diesem Brief an MacGreevy: »Pelorson says he understands Rimbaud who used to compose poems walking. But for me, walking, the mind has a most pleasant & melancholy limpness, is a carrefour of memories, memories of childhood mostly, moulin á larmes« (Beckett 2009: 93). Einmal abgesehen davon, dass Handkes Wanderdarstellungen, wie die Becketts, von der stark sinnlich geprägten Naturnachzeichnung leben, liegt Handkes Texten häufig eine mit den Füßen gefertigte Bewegungsgraphik zugrunde. Beispielhaft, und weil es sich um skizzenhafte Texte, um »Essays«, handelt – also um die spaziergängerische literarische Form per se 10 – möchte ich hier auf den Versuch über die Jukebox verweisen oder, prägnanter noch für meine Argumentation, auf den Versuch über den geglückten Tag. Prägnanter, weil als Antrieb und Ausgangspunkt des Essays die psychophysische Erfahrung einer berühmten Linie der Kulturgeschichte vorm Auge des Lesers aufscheint, William Hogarths »Line of Beauty and Grace« (1753), im vorliegenden Versuch Handkes gleich mehrfach gezeichnet von der Wirklichkeit selbst. Hören wir eine Passage aus dem Text: »Ein Selbstbildnis des Malers William Hogarth, in London, ein Augenblick aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit einer Palette, auf dieser, sie zweiteilend, ungefähr in der Mitte, eine leicht geschwungene Linie, die sogenannte ›Line of Beauty and Grace‹. […] Und auf jener Fahrt in jenem Vorortzug zwischen den Seine-Hügeln westlich von Paris, zu jener Stunde des Nachmittags, da in der Regel Frischluft und -licht manch morgendlichen Aufbruchs verbraucht sind, nichts mehr natürlich ist und nur noch das Abendwerden, vielleicht, aus der Tagesklemme hilft, jenes plötzliche Ausscheren der Gleichstränge, zu einem weiten Bogen, fremdartig, zum Staunen, hoch über der unversehens sich in der Flußniederung frei wegdehnenden ganzen Stadt samt ihren, dort auf der Höhe von St. Cloud und Suresnes, so verrückt wie wirklich sich auftürmenden Wahrzeichen, mit welch unvorhergesehener Kurve, heraus aus der Enge, der Tageslauf, in einer Sekunde des Übergangs von Wimpernstarre zu Wimpernzucken, neu Richtung bekam und die fast schon abgetane Idee von dem ›geglückten Tag‹ wiederkehrte, begleitet von dem Schwung, der heiß macht, sich zusätzlich an einer Beschreibung, oder Aufzählung, oder Erzählung der Elemente und Probleme eines solchen Tages zu versuchen. Die Linie der Schönheit und Anmut auf Hogarth Palette scheint sich regelrecht den Weg durch die uniformen Farbmassen zu bahnen, wirkt zwischen diese eingegraben, und zugleich ist es, als werfe sie einen Schatten« (Handke 2001: 142).11

So wie der Autor Handke diese Linie auf dem Papier noch einmal nachzeichnet, indem er ihr wie einer Art Glückverheißung folgt, verfolgen wir, seine Leser, unsererseits die Bewegung des Autors mit den Augen. Im Verlauf des Essays 10 | Vgl. hierzu Gert Mattenklotts Ausführung in seinem sehr empfehlenswerten Nachwort zu Hugh Kenners Von Pope zu Pop. Kunst im Zeitalter von Xerox (1995), S. 198. 11 | Auch Beckett bezieht sich in seinem frühen Gedicht »Serena III« auf die Hogarth’sche »Line of Beauty and Grace«. Vgl. Beckett 2012: 306-307. Ich danke Mark Nixon für diesen Hinweis.

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blitzt die Linie immer wieder in Variationen auf. Ein aufregendes künstlerisches Verfahren, das den Leser über die aufgezeichnete Bewegung (des Körpers im Zug, der Augen, der Beine) in den Text einbindet, und das wir von Samuel Beckett her kennen. Theoretisch entwickelt wurde dieses Verfahren von Paul Klee, den Beckett sehr schätzte, und zwar ebenfalls anhand der Hogarth’schen »Line of Beauty and Grace«. Klees »Pädagogisches Skizzenbuch« von 1925 zeigt zu Beginn eine geschwungene S-Kurve mit dem Titel: »Spaziergang um seiner Selbst Willen ohne Ziel«. Darunter sieht man dieselbe Linie, umwoben von einer geradezu erratisch verspielten zweiten Linie. Hierzu heißt es später: dies sei der Spaziergang eines Menschen mit seinem Hund (vgl. Bonnefoi 2004: 6). Klee war der Meinung, der Künstler müsse solche Wege genauestens im Bild anlegen, um das Auge des Betrachters zu führen. Die Linie selbst sei bewegt: Sie ist mein titelgebender »Punkt in Bewegung«. In Handkes (und auch Becketts) Werk erleben wir keine Geschichten, keinen Plot, sondern ein Sich-Abzeichnen der Dinge in Sprache, das typisch ist für ein Schreiben in spaziergängerischer Aufmerksamkeit. Handke spricht in seiner »Geschichte des Bleistifts« von einem »Erzählen mit den Dingen«, nicht »von ihnen«. Gleichzeitig beschreibt er seine Technik als eine zeichnerische: »[D]iese Mimesis führt zum Schraffieren oder Durchpausen: die Schrift kommt unmittelbar von den Gegenständen« (Rohde 2007: 13). In diesen Zusammenhang gehört auch die künstlerische Strategie des Auslassens, der Andeutung, die die Figur und ihre Umgebung so fragmentiert darstellt, wie die rhythmische Kopf- und Augenbewegung eines Spaziergängers dies wahrnehmen würde. Oft bettet Beckett die von ihm gezeichnete Figur vollkommen ein in ihre Umgebung. Ein solch nicht hierarchisches Sehen beim Gehen erleben wir etwa in den Texts For Nothing: Beckett zeigt hier seine Figur in engster Verschmelzung mit der sie umgebenden Landschaft. Aus der »Großaufnahme« einer irischen Naturdarstellung nähert er sich, schrittweise fokussierend, der Erzählerfigur, die allerdings mit den Leseraugen erst gesucht werden muss, denn keine festen Konturen umgrenzen sie, die fast körperlos in einer Erdfurche eingegraben liegt: »The top, very flat, of a mountain, no a hill, but so wild, so wild, enough. Quag, heath, up to the knees, faint sheep tracks, troughs, scooped deep by the rains. It was far down one of these I was lying, out of the wind« (Beckett 1995: 100).

Eine ähnliche Technik des Verwischens und der Überblendung finden wir in Handkes Text »Bildverlust«, und es gelingt dem Autor, einen Kritiker der ZEIT mit dieser Technik gründlich zu verwirren: »Der Schluss«, schreibt Ulrich Greiner, »den Handke aus dieser Theorie zieht, geht dahin, die Fremdbestimmung dadurch aufzulösen, dass er die obligaten Bestimmungen in Frage stellt. Ein Beispiel: ›Unvergleichliches Geräusch des Granitsands unter den Sohlen, weniger ein Knirschen als ein Mahlen und

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Gaby Har tel Rauschen der groben Körnermassen, welche einem zugleich die Füße massierten: vordringliches Geräusch auf der iberischen Halbinsel – auch wenn dieses Geräusch einem ähnlich bei einer Alpenüberquerung hätte in den Ohren klingen können, oder in den Anden, oder ihretwegen im Himalaja.‹ Bis zum Doppelpunkt haben wir eins der für Handke typischen schönen Naturbilder. Danach folgt die Zerstörung des Bildes durch die Auflösung seiner Bestimmtheit. Wenn das Geräusch des Granitsands überall auf der Welt genauso klingt, ist es nicht mehr unvergleichlich.« 12

Beckett und Handke wandern in der Kulturgeschichte Wie die Kulturwissenschaft in den letzten fünfzehn Jahren zurecht hervorgehoben hat, ist die Form der psychoästhetischen, körperzentrierten »Geh-Sucht« ein Luxus der technikforcierten frühen Moderne, in der die Aktivität des Einen-Fußvor-den-anderen-Setzens nicht mehr nur Mittel zum Fortbewegungszweck ist, sondern kulturhistorisch betrachtet insofern mit der Entdeckung der »Freizeit« zusammenfiel, als sie losgelöst war vom pragmatischen Zwang, von A nach B gelangen zu müssen (vgl. Solnit 2001). Wie wir wissen, galt das Gehen in der Landschaft den Frühromantikern, die Beckett wie Handke interessierten, auch als gesellschaftliches Protestmittel: Geradezu aus ideologischen Gründen setzte man einen Fuß vor den anderen, auch wenn man sich eine Kutsche hätte leisten können. Ich möchte in dem Zusammenhang noch einmal Seume zu Wort kommen lassen, den Querkopf und Querdenker des frühen 19. Jahrhunderts, der geradezu trotzig und kulturkritisch in Richtung der sich über den Wanderer lustig machenden »Überfeinen und Unfeinen« feststellt: »[S]o wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll. […] Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren – und weil ich keinem Armen aus dem Wagen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann« (zit.n. Drews 2010: 448).

Diese Form des protestierenden Spazierens lässt sich in den letzten Jahren in einem perambulatorisch geprägten, ökokritischen Schreiben verfolgen (vgl. Hardy 2008), einer Form des Schreibens, die in der Geh-Schreibpraxis von Beckett und Handke nur punktuell einmal gestreift wird. Bei Beckett etwa, als er sich in seinen frühen Jahren als Schriftsteller und müßiger Spaziergänger zunehmend gegen das Diktat des Rationalen zur Wehr setzt und somit auch in seinen Texten das »vernünftige Gehen« so sehr stark parodiert. Es wäre interessant zu wissen, ob das Spazierengehen Beckett etwa ein körperliches Ausdrucksmedium der ästhetischen Simultanerfahrung bot, die er 12 | Online unter: http://www.zeit.de/2002/05/200205_l-handke.xml/seite-2 vom 24.01. 2002.

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beim Schreiben (im Gegensatz zu den Möglichkeiten der Musik) vermisste: »[…] because literature can no more escape from chronologies to simultaneities, from nebeneinander to miteinander [sic!], that [sic!] the human voice can sing cords« (Beckett, zit.n. Nixon 2006: 113f.). Wie Rebecca Solnit überzeugend dargestellt hat, ist ja der Spaziergänger zugleich in der Zeit und außerhalb der Zeit: Erinnerung, Assoziationen verschmelzen im Bewusstsein des Wanderers zum simultanen Eindruck mit dem Gesehenen und augenblicksweise entsteht aus den Fragmenten etwas Ganzes. Doch nicht nur in direkt physisch-thematischer Hinsicht scheint es sich bei Becketts und Handkes Schreiben um Spaziergängertexte zu handeln. Auch in einer leicht versetzten Art gehen sie Hand in Hand miteinander: So wird etwa der Spaziergang des Auges durch den Text zum bestimmenden Merkmal, mit dem beide Schriftsteller ihren Leser konkret zum Eintauchen in die atmende Textfläche einladen.

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»Was man Liebe nennt, ist Verbannung« Liebe und Ausweg bei Samuel Beckett und Michael Lentz Jan Wilm

LIEBESERKLÄRUNG. Neigung des Liebenden, das geliebte Wesen mit verhaltener Erregung und ausgiebig über seine Liebe, es selbst, ihn selbst und sie beide ins Bild zu setzen: die Erklärung bezieht sich nicht auf das Eingeständnis der Liebe, sondern auf die uferlos kommentierte Form der Liebesbeziehung.

ROLAND BARTHES1 AUSWEGE. Lösungsillusionen jeder Art, die dem liebenden Subjekt trotz ihres häufig katastrophenartigen Charakters vorübergehend Ruhe verschaffen; phantasmatische Handhabung möglicher Auswege aus der Liebeskrise.

ROLAND BARTHES 2

Liebe ist ein flüchtiges Wort: »die Liebe ist/nicht ausführlich genug« (Lentz 2010: 99), heißt es in einem Gedicht von Michael Lentz. »[L]iebe/das sind die dinge/von denen man nur die hälfte/sagen kann von dem was sie sind« (ebd. 137). Fortwährend zweigt sich das Wort »Liebe« ab und franst aus in Assoziationen, Erinnerungen, Hoffnungen, in Ängste und Klischees. Trotzdem bleibt der Drang groß, das Wort mit der Sprachforzeps in den Ausdruck zu verhelfen, das Phänomen einzukreisen, wenngleich man dabei weniger zu einer Sprache der Liebe findet als zu einer Sprachlosigkeit im Angesicht dieses Gefühls: »wovon ich fühle weiß ich genau/und kann es doch nicht sagen« (ebd. 27). Das Übermaß an Assoziationslast, die Suche nach einem festen Tritt im Gewirr der Unklarheiten, wenn das Wort

1 | Barthes 1988: 162. 2 | Ebd. 47.

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genannt wird, und die letztliche Sprachlosigkeit – all das teilt dieses Wort »Liebe« mit einem anderen Großwort des Vokabulars: mit »Tod«. In den Werken von Samuel Beckett und Michael Lentz treffen Liebe und Tod häufig aufeinander, sind durch eine grausame Nabelschnur miteinander verbunden.3 In Becketts »Love and Lethe« (1933) zum Beispiel werden, mit Hilfe eines Ronsard-Zitats, nach dem gescheiterten Doppelselbstmordversuch à la Heinrich von Kleist und Henriette Vogel die Liebe und der Tod direkt miteinander gleichgesetzt: »[C]ar l’Amour et la Mort […] n’est qu’une mesme chose« (zit.n. Beckett 2010b: 91; Herv. i.O.). In Lentz’ Gedichtband Offene Unruh: 100 Liebesgedichte (2010) mischt sich immer wieder der Tod zwischen die suchenden und verzweifelten Stimmen, die von der Liebe erzählen – beinahe wie Matthias Claudius’ Tod, der schrecklich beschwichtigend mit dem jungen Mädchen konferiert.4 In Becketts Erzählung »First Love« wird die Liebe als etwas dargestellt, was dem Tod gleichkommt: »What goes by the name of love is banishment« (Beckett 2009b: 67) [»Was man Liebe nennt, ist Verbannung« (Beckett 1995: 32)].5 Diese apodiktische Gleichsetzung der Liebe mit Verbannung6 ist kennzeichnend für Becketts Werk, in welchem direkte Gegensätze häufig in direkte Verbindung zueinander gesetzt werden. Das Zusammenfallen von Gegensätzen ist bei Beckett vielleicht am deutlichsten erkennbar im Zusammenhang von Geburt und Tod, von den beiden Buchstützen des Daseins, zwischen denen das Intervall des Lebens für einen Moment lang festgehalten scheint, während es gleichzeitig zerrinnt.7 A Piece of Monologue (1980) faltet Leben und Tod vielleicht am deutlichsten zusammen, wenn der Sprecher seinen ersten Satz formuliert: »Birth was the death of him« (Beckett 2006: 425). Ein weiterer Erzähler Becketts verkündet in seinem ersten Satz an den Leser: »I associate, rightly or wrongly, my marriage with the death of my father, in 3 | Vgl. zum Beispiel Eh Joe (1963), in dem Joes vergangene glückliche Liebe auf alle Zeit mit dem Tod der Geliebten durch ein obsessives Schuldbewusstsein verbunden scheint. 4 | In Offene Unruh: 100 Liebesgedichte heißt es beispielhaft: »also wann sehen wir uns wieder/dein vorschlag: nach dem tod« (Lentz 2010: 146). Im letzten Gedicht des Bandes wird die Liebe existenziell mit dem Beginn und dem Ende des Lebens verwoben: »die liebe kennt keinen fortschritt/alle fehler wiederholen wir/die totenuhr setzt mit uns ein/und aus« (ebd. 166). 5 | Titel und Zitate von Beckett-Werken werden einheitlich auf Englisch wiedergegeben, mit Ausnahme dieses Zitats aus »First Love«. 6 | Lentz’ Gedicht »in liebesdingen« begreift die Liebe als ein unwirtliches Gelände, aus dem man fortwährend fortgerissen wird: »in liebesdingen/ist jede entscheidung falsch/es reißt dich fort es spült dich hin/wir können uns glücklich schätzen/da sind wir da bleiben wir/nicht/ewig spielt die brandung/dasselbe lied/mit den räumen die geträumt sind/mit den träumen die geräumt sind« (Lentz 2010: 17). 7 | Ruby Cohn bemerkt: »Death for Beckett is associated with birth« (Cohn 2005: 147). Vgl. dazu auch Ackerley/Gontarski 2004: 126.

Liebe und Ausweg bei Samuel Beckett und Michael Lent z

time« (Beckett 2009b: 61). Mit diesen Worten beginnt Becketts Geschichte »First Love«, die, bereits im Jahr 1946 geschrieben, doch nicht bis 1970 veröffentlicht wurde (zuerst auf Französisch; auf Englisch 1973; von Elmar Tophoven ins Deutsche übertragen 1976) (vgl. Ricks 2009: x; vgl. Ackerley/Gontarski 2004: 197). Der Zusammenhang zwischen dem Tod des Vaters des Ich-Erzählers und dessen erster Liebe wird nicht expliziert und die Verbindung wird lediglich durch Parallelisierung angedeutet. Die Nähe des Ich-Erzählers zu seinem Vater wird verdeutlicht durch des Erzählers Festhalten am Ort, der mit dem Vater verbunden wird: das Haus, in dem die Familie lebte und aus dem der Erzähler von der restlichen, hinterbliebenen Familie ausgestoßen, verbannt wird. Der Erzähler zeigt seine Abhängigkeit vom Vater durch die Nähe zum gemeinsam bewohnten Raum: »My father and I alone, in that household, understood tomatoes« (Beckett 2009b: 63f.). Das triviale Detail verdeutlicht, wie groß die Isolation des Sohnes nach dem Tod des Vaters in dem vormals gemeinsamen Zuhause fortan sein wird – oder wäre, dürfte der Sohn dort verbleiben. Die Figur des Vaters stellt in »First Love« einen Moment der Ruhe dar, er bedeutet Schutz und Sicherheit. In der Vergangenheit hat der Vater dem Erzähler die Sternenbilder erklärt, ihm also Orientierung geboten in einem unerklärlichen Kosmos, eine Orientierung, die der Erzähler am Ende der Geschichte in Verlorenheit sucht und zu finden scheitert (Beckett 2009b: 79). Biographisch ist die Vaterfigur bei Beckett häufig erklärbar als eine Figur verbunden mit dem Heranwachsen des Subjekts und mit nostalgischen Momenten in ruhigen Landschaften.8 In »First Love« ist der Verlust des Vaters zu verstehen als besonders tiefer Bruch, der das Leben des Protagonisten in eine vollkommene Isolation und Verlorenheit wirft, in ein Ausgestoßensein und in einen Zwang nach Suche, nach Antworten, die möglicherweise die verlorene Vaterfigur hätte geben können. Die erwähnte Nähe des Vatertodes zur Heirat (und zur Liebe) für den Protagonisten bewirkt nach dem Tod des Vaters auch ein Ende der Sicherheit und der Ruhe, und auch ein Ende der Gelassenheit, zu vertrauen auf Orientierungshilfe. Von jetzt an heißt es Suche, heißt es Flucht. Diese Flucht wird in der Geschichte verdeutlicht durch das Motiv der Reise, die ihren Ausgang nimmt vom Haus der Familie, aus dem der Erzähler verstoßen wird, über den Friedhof (erneut sucht er die Nähe zu seinem Vater, »if his purpose 8 | Das Beckett’sche Motiv des Vaters bei friedvollen Wanderungen durch eine ruhige Landschaft findet Erwähnung in James Knowlsons Biographie Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett, wo Knowlson auch die obsessive Wiederholung von Einzelmotiven thematisiert: »In [an] interview with Beckett […] I said that although I understood perfectly well what he meant when he spoke of a separation between his life and his work, I could not agree that such a separation was as absolute as he claimed. I then quoted some of the images of his childhood in Ireland that appear often in his work, even in his late prose texts: a man and a boy walking hand in hand over the mountains […]. At this point, Beckett nodded in agreement: ›They’re obsessional,‹ he said […]« (Knowlson 1996: xxf.; m. Herv.).

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was really to go on protecting me from beyond the tomb« [Beckett 2009b: 63]), zum Fluss, in die Wohnung seiner Frau, und wieder raus, fort in eine ungewisse Zukunft, die durch das ortlose Ende der Geschichte einem ziellosen Treiben gleich wird, einem Treiben, das an das Dasein von Kafkas Jäger Gracchus erinnert, oder an den fliegenden Holländer, der die Liebe sucht, um aus dem ewigen Treiben der Unsterblichkeit befreit zu werden. Die Beckett’sche Reise in »First Love« ist das Gegenteil von Ruhe und ist ein scheinbar endloses Fortgerissensein durch Ort und Zeit, ein negativ konnotiertes Hin- und Herwandern, das zur existenziellen Ziellosigkeit anwächst. Jenes Fortgerissensein ist bedingt durch einen Moment der Flucht, nämlich die Flucht aus dem Schmerz über den Verlust des Vaters heraus und hin zu einem anderen Menschen: zu Lulu (später Anna). Dies wird in Becketts Erzählung nicht expliziert, ist jedoch psychologisch nachvollziehbar, und nur durch die Paarung von Tod und Liebe wird verständlich, warum diese unmögliche Liebe möglich wurde. Ob diese Liebe das Wort »Liebe« in einer positiven Konnotation verdient, ist fraglich, doch naturgemäß konnotiert der Text das Wort gerade nicht positiv. Die negative Besetzung von Liebe in der Erzählung kann erklärt werden durch ihre Nähe zum Tod des Vaters: Vielleicht ist diese Liebe nur so negativ, weil Gefühle der Trauer über den Vatertod in die Liebesbeziehung überschwappen und sie nachhaltig vergiften. Darüber hinaus lohnt es, das Gefühl Liebe in Becketts Gesamtwerk zu bedenken, als Gefühl, gegen das Becketts Figuren häufig einen enttäuschten oder wütenden Gestus aufweisen, vermutlich aus einem Reflex gegen das irrationale Empfinden, das man Liebe nennt.9 In »First Love« ist die Liebe als etwas Feindliches oder Peinliches zu betrachten, unter anderem, weil sie im Geiste des Erzählers zwar den Weg in eine gewisse Befreiung vom Vater (und dem Vatertod) bedeutet, ihn aber auch an den Schmerz über den Tod des Vaters bindet, solange die Liebe fortbesteht, und somit die psychologische Abhängigkeit zum Vater über den Tod hinaus fortführt oder durch den Tod des Vaters sogar so weit verstärkt, dass sie die Liebesbeziehungen des Protagonisten nachhaltig beeinflusst.10 Die Liebe wird als etwas betrachtet, 9 | Vgl. Ackerley/Gontarski 2004: 327-329. Die Autoren verdeutlichen die schließlich als irrational anzusehende Auffassung von Liebe in Becketts Werk und schreiben: »Love remains a bitter mystery« (ebd. 328). Sie argumentieren darüber hinaus, mit Blick auf »The Lost Ones«: »Love is polarized between ruthless cynicism that places no higher value on any other emotion, and sentimental compassion that is never quite denied« (ebd.). Vgl. auch John Fletchers Essay »Variationen über ein Thema von Beckett: Erste Liebe« sowie Martha C. Nussbaums detaillierten Essay »Narrative Emotions: Beckett’s Genealogy of Love« in Love’s Knowledge (1990). Nussbaum erkennt bei Beckett, besonders in der PostWar Trilogy, eine Weigerung gegen die Liebe und eine dezidierte Unterminierung des irrationalen Gefühls (vgl. Nussbaum 1990: 292ff.). 10 | Diese Befreiung vom Vater betrachtet Cohn wie folgt: »[T]he narrator’s association of his father’s death with his own marriage is an understandable denotation of coming to maturity« (Cohn 2005: 144). Naturgemäß ist selbst die Befreiung von einem guten Vater

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das mit einer Angst einherzugehen scheint, die der Angst vor dem Tod gleichkommt. Der Erzähler sagt: »I had to contend with a feeling which gradually assumed, to my dismay, the dread name of love« (Beckett 2009b: 69). Der Moment des Verliebens wird nicht erwähnt; wir erfahren nur, dass sich langsam etwas entwickelte, was mit dem Wort »Liebe« zu fassen versucht wird und dabei das Wort »Liebe« gegen üblich positive Bedeutungen umdefiniert wird; Letzteres sicherlich auch aus dem Grund, dass der Erzähler schlicht seinen Referenzrahmen für die Liebe als unzulänglich betrachtet und somit auch seine eigene Verlorenheit als eine Verlorenheit in der Sprache unterstreicht.11 Da die Entwicklung hin zur Liebe eine schleichende ist, wird nicht nur bewirkt, dass die Liebe, dieses »thing« (Beckett 2009b: 69), entgegen aller ätherischer Vorstellungen auch ein völlig gewöhnliches Gefühl sein kann, sondern dass sie ein Phänomen ist, das auch von einfacher Gewohnheit genährt wird. Der Ich-Erzähler scheint sich an seine Lulu gewöhnt zu haben, weil sie eine Lücke füllt, die sein Vater mit dem Tod aufgerissen hat. Wie jede Liebe, allein durch ihr Gefühl des Wohltuns, ist auch diese Liebe zunächst eine Bequemlichkeit. John Fletcher sieht die Liebe als eines der zentralen Themen in Becketts Werk; Fletcher bezeichnet sie als ein »Leitmotiv«, das Becketts gesamte Schriftstellerlauf bahn durchzieht (vgl. Fletcher 1975: 72). Fletcher begreift die Liebe bei Beckett allerdings als »eine[] erste[] und in den meisten Fällen einzige[] Liebesaffäre« (ebd.). Die Liebesaffäre wird bei Beckett somit zwingend mit Enttäuschung zusammengedacht, einer so tiefen Enttäuschung, dass der Gedankensprung zum Tod oft kein großer ist. Die Enttäuschung bewirkt aber auch, dass die Liebe nicht mehr als ausschließlich irrationales Gefühl verstanden wird und nach dem Ende der Liebe wieder nüchterner betrachtet werden kann. Die wieder einsame Figur ist buchstäblich ent-täuscht, im ursprünglichen Sinne des Wortes »aus einer Täuschung heraus[gerissen]« (Kluge 2002: 248). Der folgende nüchterne Blick wird häufig aber fortentwickelt und beeinflusst vom Schmerz der Enttäuschung (im negativen Sinne des Wortes) und des Verlassenseins, wendet sich der Fokus wieder auf die Liebe durch eine emotionale, ironische und sardonische Linse. Der Ton, der in die Sprache der Figuren kommt, wenn sie über Liebe sprechen, ist ein bitterer und führt gelegentlich ins Obszöne (vgl. Fletcher 1975: 7677). Fletcher argumentiert, dass die Liebe als notwendige Entwicklung des Sohnes zu betrachten. Allerdings wäre dem Ich-Erzähler Becketts zu wünschen gewesen, dass er seinen Vater auf eine Freud’sche, symbolische Weise hätte ermorden können, um seine eigene Reife zu initiieren, anstatt in diese Reife gezwungen zu werden durch den wirklichen Tod des Vaters. Nichtsdestoweniger sieht Cohn die Erzählung aufgrund des coming of age durch den Vatertod »as an abbreviated bildungsroman« (Cohn 2005: 144). 11 | »Yes, I loved her, it’s the name I gave, still give alas, to what I was doing then. I had nothing to go by, having never loved before, but of course had heard of the thing, at home, at school, in brothels and at church« (Beckett 2009b: 69).

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Jan Wilm »von Hoffnung[…] genährt [wird], die, so fühlt der Beckettsche Mensch, illusorisch [ist]; und so wird seine Enttäuschung, ganz natürlich, in sardonischen und sogar grausamen Formen zum Ausdruck gebracht« (Fletcher 1975: 83).

Die Anwendung der Ironie und des Sardonischen bei der Beschreibung der Liebe ist also nur ein Instrument des Stürzens der Vormachtstellung eines Gefühls, das nicht einmal erfindlich ist, das als namenlos verbleiben muss. Der Ton, der in die Sprache der Figuren kommt, wenn sie über Liebe sprechen, lässt darauf schließen, dass sie eben noch nicht gänzlich von dem enigmatischen Gefühl befreit sind und dass sie die Liebe herabsetzen, weil sie sich unterlegen fühlen, wie der Zwerg, der den Riesen beleidigt. Die entthronende Kraft der Ironie in Anwendung auf die Liebe ist also ein Versuch des Auswegs aus der nachhaltigen emotionalen Betroffenheit, eine Flucht vor den Erinnerungen an die Liebe. Die Liebe bei Beckett ist eine »unwillkommene Ruhestörung« (ebd. 84), ein Totalausfall des Vernunftapparats. Die Liebe wird als etwas Flatterhaftes gesehen, als etwas rational Unbegreifbares und somit als etwas, das ununterbrochen dem liebenden Subjekt einen Erklärungszwang aufbürdet oder zumindest auf Distanz gehalten werden will durch Sprechen oder durch Geschichtenerzählen gegen die Liebe (vgl. Nussbaum 2004: 293f.). Gerade weil die Liebe etwas sprachlich Unfassbares ist, führt sie zu unendlich vielen Erklärungen und Redeflüssen, besonders in der Literatur.12 Indem literarisch die erinnerte glückliche Liebe in Rückblenden erzählt wird, wenn sie bereits lange vorbei ist, wird der glückliche Moment der Liebe gleichzeitig in Sprache eingefroren und weggestoßen. So gelingt es der Literatur, die Liebe als etwas Trügerisches zu zeigen, gerade so trügerisch wie der glückliche Moment rückblickend wirkt, wenn in Eh Joe der Protagonist und seine Geliebte in der Erinnerung glücklich Hände haltend die Enten am Fluss betrachteten (vgl. Beckett 2006: 363), während die Liebe in der Gegenwart längst vergangen ist. Gleichzeitig aber gelingt es der Literatur, die bereits beendete Liebe aus der Vergangenheit heraufzubefördern und stillzuhalten, wie die Photographie eines Mannes in der letzten Sekunde seines Todes, die den Mann gleichzeitig für immer als Toten und für immer als Lebenden festhält.13 12 | Vgl. Herbert Blaus einfühlsamen Essay »Barthes and Beckett: The Punctum, the Pensum, and the Dream of Love«, besonders S. 95. Vgl. auch ein Gespräch zwischen Michael Lentz und Sibylle Lewitscharoff, wo Lewitscharoff spricht vom »Redefluss […], in den der Verliebte gerät« (Lentz/Lewitscharoff 2012: 13). Lewitscharoff beschreibt »einen Rausch mit permanenten Monologen« im Kopf des Verliebten (ebd.). Dieser Rausch wird später wiederholt, auf umgekehrte Weise, sobald die Liebe verklungen ist und der innere Redefluss eine Ablenkung, eine Beruhigung, ein manisches Kreisen gegen die Stille zu werden scheint. Besonders auf diese Art der inneren Rede werde ich zurückkommen. 13 | Hubert Winkels schreibt über Michael Lentz’ Faszination eines Plakats in der Münchner U-Bahn, »auf dem unter der Photographie eines Fallschirmspringers geschrieben steht

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Naturgemäß muss jeder Vogel fallen, muss ein Seufzer einmal der letzte sein, und so muss auch jede Liebe enden. So wie die Geburt für Beckett zusammengedacht werden muss mit dem Tod, so ist der Beginn einer jeden Liebe unweigerlich verbunden mit ihrem Ende. Und in dem Intervall dazwischen ist somit oft auch eine Umdeutung der Begriffe der »Liebe« und des »Auswegs« angewiesen. Während in Becketts Erzählung die Liebe zunächst ein Ausweg aus einer einsamen Trauer darstellt, wird die Liebe ausgetauscht durch einen neuen Schmerz, durch neue Verlorenheit, und was schließlich gesucht werden muss, ist ein Ausweg aus der Liebe selbst. Im Dominosteinfall des Schmerzes geraten Becketts Figuren häufig von einer Katastrophe in die andere – es geht mit ihnen wahrlich aufs Schlimmste zu. In »First Love« heißt es: »[T]hings went from bad to worse, to worse and worse« (Beckett 2009b: 79). Und der Ausweg aus der Liebe ist noch schmerzhafter, als der Grund für den Ausweg in die Liebe es gewesen war: »It went to my heart to leave a house without being put out« (ebd.). All dies teilt Becketts Erzählung – dieses Stiefkind des Autors, das ihm ungewöhnlich unlieb war14 – mit Michael Lentz’ Roman Liebeserklärung (2005), ebenfalls ein Stiefkind des deutschen Autors.15 Die Parallelen zwischen Beckett und Lentz sind oft weniger ein direkter Einfluss Becketts auf Lentz16 und mehr als Gemeinsamkeiten zwischen den Werken der beiden Autoren zu sehen, gleich auf formaler wie inhaltlicher Ebene.17 Die Gemeinsamkeiten zwischen Becketts »First Love« und Lentz’ Liebeserklärung sind flagrant und schnell zu nennen: Beide Narrative werden erzählt durch ›Dieser Mann ist in dreißig Sekunden tot‹. […] Auf ewig wird der Mann auf dem Plakat vor seinem Tod verweilen, da die Zeitform der Behauptung mit der des Behauptens nicht kongruent ist: Die Schrift schiebt das Ereignis immer auf« (Winkels 2011: 560). 14 | Vgl. Ricks 2009: viii. 15 | In Textleben: Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt (2011) schreibt Lentz über seinen Roman Liebeserklärung: »Ich kann dieses Buch nicht mehr ausstehen, und das ist gut so« (Lentz 2011: 153). 16 | Ein direkter Einfluss Becketts auf Lentz’ Werk besteht durchaus; zum Beispiel beginnt Lentz’ Gedicht »gewesen« mit einem poetologischen Verweis: »bei beckett hat das wort eine andere bedeutung« (Lentz 2003: 112). Auch explizite Verweise kennzeichnen den Roman Liebeserklärung, wie zum Beispiel die Heraufbeschwörung von Becketts »The Lost Ones« (»Der Verwaiser«), wenn der Protagonist sich die Welt »in einigen Hundert Jahren« vorstellt als eine Landschaft, die an Beckett’sche Szenen erinnert: »Kontinente verwaist, Kontinente einbrechend, wegsackend, und hier gehen die Menschen auf und ab, vor und zurück, hier herrscht der Verwaiser« (Lentz 2005: 70; m. Herv.). 17 | Vgl. hierzu auch Hartel/Veit 2006, wo Lentz aus einem Telefongespräch mit Hartel zitiert wird und berichtet, dass »Becketts Werk für [Lentz] vollkommen ›einzigartig ist […]‹« (zit.n. Hartel/Veit: 135). Lentz merkt darüber hinaus an, dass Beckett einen bleibenden Einfluss auf ihn ausmacht: »[Ü]ber die Jahrzehnte wächst [Beckett mit], ohne sich aufzudrängen« (ebd.).

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ein namenloses Ich, das sich gelegentlich duzt und so seine eigene Identität problematisiert und eine universelle Verlorenheit ins Zentrum seiner Existenz rückt; beide Erzähler leiden an einer vergangenen Liebe, flimmern in ihrem Bericht zwischen den Zeiten hin und her und wissen um die schwierige Definitionsfrage nach der Liebe (sowohl des Wortes als auch des Phänomens); und beide sind auf der Flucht, kurzum, sie suchen nach Auswegen aus der Liebe sowie nach der Liebe als Ausweg. Lentz’ Roman nimmt, wie Becketts »First Love«, weniger das Verlieben ins Blickzentrum, sondern vielmehr den Diskurs, der auf das Liebesende folgt, in Abwesenheit des geliebten Menschen. Der Roman vollführt ein Liebesgefühl, das Roland Barthes in Verbindung mit dem Konzept des Diskurses wie folgt deutet: »Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ›Schritte‹, ›Verwicklungen‹. Der Liebende hört in der Tat nicht auf, in seinem Kopf hin und her zu laufen, neue Schritte zu unternehmen und gegen sich selbst zu intrigieren« (Barthes 1988: 15; Herv. i.O.).

Barthes’ Beschreibung des Liebesdiskurses trifft auf faszinierende Weise auch für eine Vielzahl von Becketts Werken zu, die nicht explizit Liebesdiskurse darstellen; auf Lentz’ Liebeserklärung angewandt, beleuchtet die Passage den Roman als Verwandten von Becketts Werk. Wenngleich der Roman eine anhaltende Deutschlandreise mit unzähligen und ewig verspäteten Deutschen Bahnen nachzeichnet, ist Handlungsort des Textes das Kopfinnere des Erzählers, der Text ein closed space narrative, und der Erzähler ein Beckett’scher talking head. Wie bei Barthes ist das Denken immer als Bewegung verstanden, und der gesamte Roman ist als Bewegung zu verstehen, da der Roman als Denkdiskurs verstanden werden muss: »[A]n dich denken, heißt in Bewegung zu sein« (Lentz 2005: 122). Besonders wenn Becketts Figuren die Liebe verspüren, folgen sie dem »zwingenden Beckettschen Ruf […], auf Reisen zu gehen« (Fletcher 1975: 78). Das Motiv der Reise in Lentz’ Roman wirkt wie ein performatives Ausdrücken dieses Herumirrens im Kopf, das Barthes den Liebenden attestiert. Der Text Liebeserklärung ist als Diskurs ein Hin-und-her-Laufen eines Liebenden in Barthes’ Sinne, mehr eine innerliche Bewegung als eine körperliche. Der Protagonist in Liebeserklärung spielt verschiedene Lösungsideen durch, er befindet sich auf der Suche nach einem Ausweg. Diese Auswegsuche ist verdeutlicht durch das bereits erwähnte Reisen in Zügen. Diese Zugreisemetapher ist allerdings paradox, denn der Erzähler bewegt sich durch die Zugfahrten weg von den Orten seiner Liebe(n), dann wieder auf sie zu, während er im Kopf in dieser Liebe stagniert ist (oder kontinuierlich um sie kreist). So aber ist er ihr vielleicht auf eine tiefere, wenngleich schmerzlichere Für Lentz’ kritische Auseinandersetzung mit Beckett vgl. seinen umfassenden, passionierten Essay »The Steps of Music. Samuel Becketts Fernsehspiele«, in: Textleben: Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt, S. 459-511.

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Weise nahe, als es ihm körperlich möglich gewesen war. Darüber hinaus wird, wie auch bei Beckett, eine existenzielle Verlorenheit symbolisiert, die sich durch eine körperliche Flucht ausdrückt, welche nicht an spezifische Lebensmomente gebunden ist, sondern die permanente Bedingung des Menschseins zu formulieren scheint. In Liebeserklärung heißt es: »und jetzt bist du wieder auf der Flucht, du fliehst ja, du bist eigentlich dauernd auf der Flucht« (Lentz 2005: 102). Der innere Monolog des Erzählers stellt ein fortwährendes Hin-und-her-Laufen dar, einen Redefluss, der sich hypotaktisch unterbricht, relativiert, der stillsteht, sich wiederholt, abbricht und wieder ansetzt, der das Pendeln zwischen Bewegung und Stillstand textlich ausgestaltet und inhaltlich wiederspiegelt durch eben die Züge der Deutschen Bahn, die fahren, dann wieder stillstehen, die verspätet sind, die man wechseln muss und so weiter. Dieses Wechseln zwischen Stillstand und Bewegung, dieses Hin und Her, nennt Mary Bryden in Bezug auf Becketts Werk treffend dynamic still. Diese paradoxe Figur vereint die beiden gegensätzlichen Phänomene von Stillstand und Bewegung als Paar18 und begründet somit die existenzielle Zerrissenheit von Becketts Figuren. Bryden schreibt: »I find the ambiguity of [the phrase dynamic still] useful. It draws into collocation two tendencies which, though potentially mutually exclusive, are in fact part of an uncomfortable continuum in Beckett’s scenic world« (Bryden 182; Herv. i.O.).

Das paradoxe Oszillieren zwischen Bewegung und Stillstand wird bei Beckett oft als grundlegender Seinszustand dargestellt, beispielsweise wenn Pozzo in Waiting for Godot klagt: »I don’t seem to be able […] to depart« (Beckett 2006: 46), was Estragon beantwortet mit: »Such is life« (ebd.). Oder wenn Hamm in Endgame sagt: »[I]t’s time it ended and yet I hesitate […] to end« (ebd. 93).19 Während aber die Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand bei Beckett auch Ausdruck findet durch Menschen in Schaukelstühlen und auf Fahrrädern sitzend, 20 ist das

18 | Diese oszillierende Figur ist ebenso Teil von Becketts späterer Arbeit Stirrings Still (1988), in der die Schwierigkeit von Bewegung und die Unmöglichkeit von Stillstand anklingen sowie die notwendige Bewegung hin auf den notwendigen Stillstand, auf den Tod. Die wechselwirkende Figur von Bewegung und Stillstand wird im Titel treffend kristallisiert. 19 | In Stirrings Still, in dem die oben erwähnte Problematik von Bewegung und Stillstand ausgeleuchtet wird, ist das Ende des Seins, also der Stillstand, als Idealzustand anzusehen, wobei das Ende der Erzählung die Zubewegung auf dieses Ziel abbricht (vgl. Beckett 2009a: 115). 20 | Friedhelm Rathjen schreibt zu Becketts Fahrrädern im Sinne der Figur des dynamic still, man müsse »Becketts Fahrrad als eine Art Unendlichkeitsmaschine betrachten. […] [D]er Radfahrer bewegt sich – in Relation zur Landschaft – kontinuierlich voran, aber er tritt – in Relation zur von ihm bewegten Maschine – immer auf der Stelle« (Rathjen 2005: 39).

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deutlichste Pendeln zwischen Bewegung und Stillstand als ein Hin und Her in Gedanken dargestellt, wie Barthes es in der Unruhe des Liebeskopfes sieht. Durch den vergleichenden Blick auf Becketts Figuren und Lentz’ Liebenden unter dem Gesichtspunkt von Barthes’ Diskursverständnis stellt sich die Frage, ob Becketts Figuren, die einem Moment des dynamic still unterliegen, die innerlich hin und her laufen, nicht im Grunde heimliche oder ehemals Liebende sind, und ob ihre reglosen Gedanken begründet sind in den »unbewältigte[n] Erinnerung[en]« (Fletcher 1975: 73) einer Liebesbeziehung. Die Figur des dynamic still, die Becketts Charaktere in anhaltender Unstetigkeit hält, wird häufig existenziell begründet,21 während die psychologischen Ursachen oft unklar bleiben. Bei Lentz taucht das Phänomen des dynamic still ebenfalls auf vielfältige Weise auf. In Offene Unruh: 100 Liebesgedichte heißt es: »man könnte liebe mit ruhe verwechseln« (Lentz 2010: 21); gleichzeitig scheinen Liebe und Ruhe nicht miteinander vereinbar (vgl. ebd. 17), und der Liebende muss sich paradoxerweise Ruhe verschaffen durch eine Auswegsbewegung im Sinne Barthes (vgl. Barthes 1988: 47). In Liebeserklärung schlägt sich das Phänomen des dynamic still nieder in den stillstehenden und sich bewegenden Zügen – »dass man manchmal nicht recht weiß, ob der Zug noch fährt oder still steht« (Lentz 2005: 153) – und in der paradoxen Beziehung des Erzählers zu seiner Geliebten: »[D]ass sich alles abnutzt, ist das Unerträgliche, vielleicht war ja genau das schon unsere beste Zeit, als wir beisammen nicht zueinander fanden, und danach war Bewegung im Stillstand« (Lentz 2005: 151; vgl. auch ebd. 163).

Schließlich aber ist das Phänomen des dynamic still in Lentz’ Roman auf eine ganz eigentümliche Weise vorzufinden, welche auch eine neue Sicht auf dasselbe Phänomen in Becketts Werk erlaubt. Bei Lentz ist das Konzept des dynamic still verstanden in der Liebe an sich: »[U]nsere Liebe ist ein Zug im Stillstand« (ebd. 85). Die Liebe, so scheint es, ist selbst eben diese Bewegung im Stillstand, ein Angekommensein in einem glücklichen Zustand, in dem man verweilen möchte, ohne zu stagnieren. Die Liebe wird gewissermaßen als eine Ankunft angesehen, als das Gegenteil der Reise, und dabei bringt sie paradoxerweise ein immanentes Problem mit, nämlich die notwendige Fortentwicklung. Der Erzähler von Liebeserklärung versichert seiner Partnerin: »[J]etzt reise ich nicht mehr viel, jetzt ha21 | Mary Brydens Figur des dynamic still dient einerseits zum Verständnis von Becketts individuellen Figuren an sich: »The Beckettian organism recurrently feels an impulse to move, if not progress. Yet there are invariably inhibitory factors which retard that impulse, which cast into doubt its advisability. […] Beckett’s people can neither rest easy nor move easy« (Bryden 2004: 180). Andererseits eignet sich die Figur als Analysemittel für Becketts Œuvre: Während seine frühen Werke häufig von scholastischen Auffassungen von Bewegung durchzogen sind, ist sein Spätwerk häufig beeinflusst von Konzepten von Homeostasis (vgl. Ackerley/Gontarski 2004: 384-386).

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ben wir uns, jetzt reise ich nicht mehr« (Lentz 2005: 47). Doch sofern der Seinszustand (und damit auch die Liebe) ein Fortentwickeln, also das Gegenteil von Stillstand ist, so scheint ein Sein mit der Liebe als ein Moment der Ruhe niemals kompatibel. Man ist erinnert an eine Theorie aus Woody Allens Annie Hall, die der Protagonist Alvy Singer ebenfalls in einem dynamisch stillen Moment, sitzend in einem fliegenden Flugzeug, wie folgt ausdrückt: »A relationship, I think, is like a shark. […] It has to constantly move forward or it dies. And I think what we got on our hands is a dead shark.«22 Die notwendige Fortentwicklung und Wegbewegung der Liebe führt kulturgeschichtlich oft dazu, dass die Liebe mit Hilfe der Literatur stillgehalten zu werden versucht oder rückblickend erklärt werden soll. Bei Beckett wie bei Lentz ist die Liebe von vornherein mit Literatur verknüpft, steht mit ihr in Verbindung und ist manchmal gar erst aus ihr hervorgegangen. Mit der steten Verbindung von Liebe mit Literatur ist die Liebe eben auch mit dem Wesen des Narrativen verbunden und so mit Temporalität, mit Fortentwickeln und Vergänglichkeit. Die verschrobene Einheit von Belacqua und Ruby in »Love and Lethe« ist einmal bezeichnenderweise von Belacqua enttäuscht mit ihrer Zeitlichkeit umschrieben: »›We‹ said Belacqua ›like twins—‹ […] ›Are slaves of the sand-glass. There is not room for us to run out arm in arm‹« (Beckett 2010b: 90). Doch so wie die Liebe als Motiv bei Beckett und Lentz als dynamic still begriffen werden kann, als etwas im Stillstand Vergehendes, so ist in der Verbindung von Liebe und Literatur eine Überführung ins Produktive zu erkennen, sofern die Liebe literarisch fruchtbar gemacht oder in ihrer Literarisierung ihre Überwindung generiert wird. John Fletcher sieht im Motiv der enttäuschten Liebe bei Beckett eine Analogie zur »Suche des Künstlers, der in einem sinnlosen Universum einen Sinn zu finden trachtet« (Fletcher 1975: 84). Während ich davon absehen würde, Becketts (oder Lentz’) Schreiben auf eine Sinnsuche durch Literatur zu reduzieren, so ist die ästhetische Suche dennoch im wiederholten Motiv des Geschichtenerzählens naturgemäß erkennbar; allerdings muss diese Suche nicht zwangsläufig auf Finden abzielen und kann im Gegenteil ihr Ziel auch haben in Auflösung oder Auslöschung. Bei Beckett und Lentz kann das Motiv des Geschichtenerzählens als ein Ausweg im Allgemeinen angesehen werden, und im Speziellen vielleicht häufig als eine Lösungsidee für die Liebe, als eine in Barthes’ Sinne angesehene »Lösung […] der Liebeskrise« (Barthes 1988: 47). Becketts »First Love« verdeutlicht den Zusammenhang von Liebe und Literatur auf direkte Weise, indem die Erzählung als geschriebener oder gesprochener Bericht präsentiert wird, auf dessen narrativen Charakter wiederholt hingewiesen wird.23 Fletcher argumentiert: »Im Geist des Erzählers hängt Liebe eindeutig mit Literatur zusammen« (Fletcher 1975: 84).

22 | Annie Hall (1977) (USA, B: Woody Allen/Marschall Brickman; R: Woody Allen). 23 | Vgl. S. Jean Waltons Essay »Extorting Love’s Tale from the Banished Son: Origin of Narratability in Samuel Beckett’s ›First Love‹«, besonders S. 558-560.

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Fletcher setzt hinzu, dass Becketts Erzähler seine Meinungen über die Liebe aus einem angelesenen Fundus von literarischem Material schürft (ebd.).24 Die so implizierte Bildung eines Liebesbegriffes aus der Literatur heraus sowie das Umkreisen des Begriffs mit Hilfe von literarischer Kenntnis ist in Lentz’ Liebeserklärung von Beginn an Bestandteil des Denkens seiner Erzählerstimme. Für den Erzähler sind das literarisierende Nachdenken und der intertextuelle Verweis Lösungsideen für die Liebeskrise, in die er gestürzt wurde. Der Erzähler monologisiert auf eine Weise, die an Becketts Erzähler erinnert: um sich Gesellschaft zu schaffen, um das Erlebte in einem Erzählrahmen abzuschließen und zu überwinden oder um sich zu beruhigen. Ruby Cohn erwähnt, dass der Erzähler von »Premier Amour«, im französischen Originaltext, beruhigend zu sich selbst spricht. Cohn schreibt: »Self-commands tend toward repetition (in French only)« (Cohn 2005: 144). Cohn nennt als Beispiele »Retardons, retardons« und »Du calme, du calme« (zit.n. ebd.).25 Während beide Aufforderungen zur Selbstbeherrschung erneut kinetisch gelesen werden können (sie verweisen beide auf Verlangsamung unruhiger Gedankenbewegungen), verdeutlicht diese Aufforderung im französischen Original ein Stilmittel, das Becketts (und Lentz’) Werk durchzieht und auch einen zentralen inhaltlichen Teil der Texte ausmacht: die Wiederholung. Das wiederholte Umwälzen der Liebeskrise in Liebeserklärung könnte somit als ein Mittel zur Beruhigung gedeutet werden. Der Roman integriert die Wiederholung auf formaler Ebene, indem sprachliche Versatzstücke sowohl satzimmanent direkt wiederholt als auch fugenartig im Laufe des Romans gegeneinander gespielt und erneut aufgenommen werden. Der Roman macht die Wiederholung allerdings auch zu einem inhaltlichen Motiv, das auf Beruhigung hindeutet. Der Erzähler liest auf seiner anhaltenden Reise in Søren Kierkegaards Die Wiederholung26 und zitiert Aphorismen über das Wiederholungsspiel in der Liebe. Dabei 24 | Fletcher nennt Parallelen zu Flauberts »Un Coeur simple« (vgl. Fletcher 1975: 84). Dem Leser Beckett war »Un Coeur simple« bekannt. Vgl. hierzu Ackerley/Gontarski 2004: 199; vgl. auch die dort genannte Passage in Malone Dies, die den Heiligen Geist mit Felicités Papagei vergleicht (Beckett 2010a: 77). Ackerley/Gontarski bemerken darüber hinaus eine direkte Verbindung zwischen »Un Coeur simple« und »First Love«: »The narrator’s speculation in First Love that death for Hagenbeck must have had the countenance of a lion echoes the ending of ›Un Coeur simple‹« (Ackerley/Gontarski 199). Fletchers Erwähnung von »Un Coeur simple« erlaubt einen weiteren literarischen Verweis zu Flauberts Madame Bovary, deren namengebende Figur ihre Vorstellungen von Liebe gänzlich aus der Literatur entwickelt hat. Man beachte, mit welchem Ausgang. 25 | Walton merkt an: »As in all the stories composed circa 1946, both wandering and storytelling are a means of ›calming‹ a subject who had been involuntarily forced out of a state of immobility« (Walton 1988: 562). 26 | Die Wiederholung, dieser erzählende Text, der 1843 unter dem norwegischen Titel Gjentagelsen. Et Forsøg i den experimenterende Psychologi af Constantin Constantius

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wird die Wiederholung auch gespiegelt in den scheinbar endlosen Bahnreisen, wo sich Unterbrechungen der Zugfahrten und erneutes Losfahren wiederholen wie das An- und Abschalten des Tonbandgeräts in Becketts Krapp’s Last Tape (1958). Aber auch wird die Wiederholung als Beruhigungsmoment dekonstruiert, da der Erzähler aus einer eben beendeten Ehe mit einer Frau namens Z. in eine neue Beziehung mit einer Frau namens A. flüchtet, um seine Liebesnot zu heilen. Dieser Help-me-Rhonda-Effekt, bei dem das Ende einer traurigen Beziehung geheilt wird durch die Flucht in eine neue Beziehung, verweist bei Lentz einerseits auf Becket, da die neue Beziehung, wie in »First Love«, ebenfalls keine Lösung darbietet.27 Andererseits wird diese Flucht in die neue Beziehung in ihrer Absurdität sogar noch um eine Stufe überhöht, da die Flucht aus der zweiten Beziehung nicht, wie bei Beckett, in eine ungewisse, wahrscheinlich einsame Zukunft führt, sondern wieder zurück an den Anfang, als wäre der Ich-Erzähler gefangen in einer Endlosschleife, aus der, einmal eingestiegen, kein Entkommen möglich ist: »Da brauche ich also sie, um von ihr loszukommen, da brauche ich also A, um von Z loszukommen, […] und jetzt brauche ich Z, um wieder von A loszukommen« (Lentz 2005: 49f.).28 Die Flucht wird somit nicht als linear, sondern als kreisförmige Wiederholung beschrieben. Während bei Beckett eher ein entropisches Zerrinnen der Qualität dieser Beziehungen verdeutlicht wird (oder ein Schopenhauer’sches Zerfließen ins Nichts), scheint bei Lentz das vorherrschende Motiv das der ewigen Wiederholung zu sein. Die an die späten Texte Becketts erinnernde Darstellung von Figuren durch ihre Initialen der Frauen Z und A impliziert bei Lentz eine deutliche Verbindung von Ende und Anfang. Wie bei Beckett der Tod eine umgekehrte Wiederholung der Geburt ist, so ist die umgekehrte Folge von Z zu A und zurück eine ebenso grausame, umgekehrte Wiederholung von Liebesbeziehungen im Leben des Erzählers, die ewig im selben Teufelskreis fortgeführt werden. So ist Lentz’ Roman Liebeserklärung am Ende auch wieder mit dem Anfang verbunden und verweist auf die Fortführung der Liebeskrise sowie auf den Zusammenhang von Gegensätzen, den Lentz und Beckett als Motiv durchspieerschien, berichtet ebenfalls von einer Liebesgeschichte, verwoben mit dem Versuch der Wiederholung einer Berlinreise. 27 | Naturgemäß ist hier zu bedenken, dass in Becketts »First Love« keine Flucht von einer erotischen Liebesbeziehung in eine andere vollzogen wird, sondern eine Flucht von der durch den Tod enttäuschten Beziehung zum Vater in eine Liebesbeziehung. Für eine Freud’sche Interpretation dieser Beziehung mit Auswirkung auf die Liebe zu Lulu (Anna) vgl. Walton 1988. 28 | Der zehnte und letzte Abschnitt von Lentz’ Offene Unruh: 100 Liebesgedichte ist überschrieben »da fängt das schon wieder an« und stellt so als Ende des Bandes einen Anfang dar, der zu einem vormaligen Beginn zurückführt, die Liebe ist ein Spiel, das in einem Kreis stattfindet: »die liebe/ist stumm im kreis gehen/und brachliegen/und immer wieder passiert dich dieselbe stelle« (Lentz 2010: 166). Durch gehen und liegen klingt hier zudem das Motiv des dynamic still mit an.

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len. Im ersten Teil von Kierkegaards gegensätzlich betiteltem Entweder/Oder heißt es einmal: »[S]o hat es den Göttern gefallen, die größten Gegensätze miteinander zu verknüpfen« (Kierkegaard 2005: 272). In einer erschreckenden Existenz, in der die größten Gegensätze, Geburt-Tod, Liebe-Ende, Liebe-Tod, A-Z, miteinander verknüpft sind, so scheint es, flüchten sich die Protagonisten zwar oft von einer Katastrophe in die andere, aber suchen auch einen Ausweg in der Literatur. Der Roman Liebeserklärung ist durch den ersten und letzten Satz gerahmt als eine Liebes-geschichte, ein Narrativ, das von Beginn an nur innerhalb des Systems der Literatur angesiedelt ist und das vielleicht nur aus diesem Grund als etwas Ablenkendes, Beruhigendes oder Überwindendes gedeutet werden kann. Kontinuierlich referiert der Erzähler über die Literatur, wälzt angelesenes Material im Kopf umher, prüft diesen oder jenen Satz nach seiner literarischen Tauglichkeit und vollführt durch intertextuelle Sprünge textlich das Hin-und-her-Laufen, das Barthes als den typischen Diskurs des Liebenden ansieht (und der auch den Charakter von Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe darstellt). Im Barthes’schen Sinne könnte dann eine intertextuelle Beschäftigung mit der Liebe in der Literatur einen Überwindungsversuch, eine Lösungsidee der Liebe darstellen. Das bei Barthes als Lösungsidee benannte Hin und Her wird bei Lentz direkt durch das Denken des Erzählers (und somit des Textes) dramatisiert. Mit deutlichem Echo auf Barthes bemerkt der Erzähler einmal: »[E]s ist ein Oszillieren, ein Hin- und Hergerissenes, Teil, Ganzes, ich, Scherbe, du« (Lentz 2005: 49). Durch dieses Hin- und Hergerissensein im Kopf führt der Weg zum Erzählen, zum Nacherzählen einer Beziehung, zum Fiktionalisieren von Erlebtem und zum Kampf gegen die Sprachlosigkeit. Walton argumentiert zum Erzählen bei Beckett: »[S]torytelling is a strategy adopted in the hope of allaying an unbearable affect. And yet the activity of telling is not a simple therapeutic gesture of expression« (Walton 1988: 562). In gleicher Weise trifft dies zu auf Lentz’ Figuren, die häufig ebenfalls durch eine tiefe Irritation zum Schreiben kommen und auf die Linderung eines Affekts durch die Literatur hoffen.29 Wie bei Barthes ist aber die Lösungsidee für die Liebe immer nur aus der Liebe heraus möglich, und besonders die Lösungsidee für die Liebe durch das Hin-und-her-Wälzen von literarischen Versatzstücken über die Liebe kann die Krise scheinbar nicht heilen, sondern allenfalls zeitweilige Ablenkung oder Beruhigung bewirken – es bleibt eine Lösungsillusion. Einen Resetknopf gibt es weder bei Lentz noch bei Beckett; die Literatur ist allenfalls das Methadon gegen die Krise, ein Beruhigungs-, kein Heilmittel. Durch die Bewegung von Z zu A und zurück von A zu Z ist bei Lentz eine Barthes’sche Lösungsidee angezeigt, die impliziert, dass auch für Lentz’ Figuren das Motto bestenfalls das Beckett’sche Diktum sein kann: besser scheitern. 29 | In Lentz’ Erzählung »Einige anmerkungen zum fliegen im flugzeug nach Rom 1 nebst Anmerkungen«, die von einer Flugreise unter größten Turbulenzen handelt, sucht der IchErzähler Beruhigung, indem er zu Papier bringt, was um ihn herum geschieht. Er berichtet erfolgreich: »All das zu beschreiben beruhigt mich« (Lentz 2004: 71).

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Durch die Wiederholung ist somit lediglich eine leichte Verbesserung des Scheiterns zu erwarten. Die paradoxe Figur des besseren Scheiterns beinhaltet bereits eine interne Entgegenstellung und deutet auf eines der Hauptmittel bei Lentz hin, durch das dieses bessere Scheitern angedeutet wird: die wiederholende, oft paradoxe Figur des Chiasmus.30 Durch den Chiasmus, der ebenfalls formal wie inhaltlich angewendet wird, wird in Liebeserklärung ein Entgegenstellen durch Wiederholung und Kreuzung vollzogen, das auf die gleiche Weise wie bei Becketts Texten motiviert ist. In der Wirksamkeit der verwandten Stilmittel Wiederholung und Chiasmus ist ein existenzieller Impetus zur Befreiung erkennbar, der ausschließlich literarisch zum Erfolg gebracht werden kann. Rathjen argumentiert: »Durch das fortgesetzte Ausdrücken eines Sachverhalts und seines Gegenteils kann [Beckett] beide auslöschen und dahinter zu gelangen hoffen« (Rathjen 1995: 40). Dies trifft gleichsam auf Lentz’ Schreiben zu, wo der Chiasmus und die Wiederholung ebenfalls auf eine Weise angewendet werden, die Martha C. Nussbaum (angewandt auf Becketts Werk) »radical unwriting« nennt (Nussbaum 1990: 294). Nussbaum sieht in Becketts Literatur eine scharfe Kritik des irrationalen Gefühls der Liebe (vgl. ebd.). Da nach Nussbaum Gefühle wie Liebe keine intrinsischen, menschlichen Intuitionen sind, sondern sozial und besonders durch Geschichten erlernt und konstruiert werden, sieht die Philosophin in Becketts »radical unwriting of stories« (ebd. 294) eine Kritik der Liebe an sich, einen Ausweg aus der Liebe durch Umschreiben (oder Zerschreiben, Kaputtschreiben). Während in Beckett eine Überwindung der Liebe an sich angestrebt zu sein scheint, deutet Lentz’ Werk eher auf das angestrebte Ziel hin, die Liebeskrise zu beenden, den plagenden Zirkel der Gedanken um ein Gefühl, um einen Menschen, zu überwinden. Paradoxerweise – und hier greift Lentz wieder auf Chiasmus und Wiederholung in Beckett’scher Manier zurück – paradoxerweise scheint diese Überwindung des Hin und Her nur möglich durch das Hin und Her selbst, so wie bei Beckett das Projekt der Sprachüberwindung nur möglich scheint durch die Sprache selbst (vgl. Beckett 2009c: 513-514). Die Mittel des Chiasmus und der Wiederholung können bei Beckett wie bei Lentz schließlich als Instrumente für dieses Projekt des »radical unwriting« betrachtet werden, indem sie durch kontinuierliches Herunterbrechen und Wiederholen die Geschichte aushöhlen und sie schließlich überwinden, als riebe man stets mit dem Finger über die Schrift auf einem Papier, bis die Schrift verschwindet – oder das Papier aufgelöst ist. Zu Becketts Werk schreibt Rathjen, »daß Ritualisierung und Wiederholung die perfekten Mittel dafür sind, das Leiden und die Grauen der Wirklichkeit zu bannen – daß also die Wirklichkeit sich dadurch neutralisieren und bewältigen läßt, daß sie in Sprache ausgedrückt wird« (Rathjen 1995: 40; vgl. ebd. 16, 30). 30 | Vgl. hierzu besonders Hubert Winkels’ Nachwort zu Lentz’ Textleben: Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt, S. 545-561.

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»Becketts Strategien des Überdrusses und der Abnutzung« (Rathjen 1995: 40) ermöglichen diesen Prozess des Bannens. Lentz’ schreibt in einer Tradition von Beckett, indem er formal wie inhaltlich dieses Projekt impliziert und umfunktioniert. Bei Lentz ist dieses Abnutzungsprojekt allerdings noch um eine Dimension erweitert, da der Erzähler die Abnutzung der Liebe beklagt (Lentz 2005: 151), aber gleichzeitig das Projekt durch seinen oft an den Namenlosen erinnernden Monolog voran und ins Leere treibt. Die Abnutzung wird als ein beklagenswerter Zustand der Liebe (und des Seins) abgelehnt, muss dann aber in ihrer Umkehrung nutzbar gemacht werden, um diese Abnutzung durch Abnutzung zu überwinden. Der für Lentz’ Schreiben so wichtige Chiasmus als Figur fungiert wie ein Aufbruch der kreisförmigen Wiederkehr der gleichen Fehler in Liebesdingen, als Unterbrechung der wiederholten Schritte aufs Falsche zu. Durch sein radikales Umschreiben (oder Un-schreiben) ist der Chiasmus verstanden als ein Schlag gegen das sich selbst perpetuierende Liebesscheitern, als Ausweg aus dem Liebeskäfig, dem Teufelskreis, der »Gewaltspirale« (Lentz 2005: 132). Die Gewaltspirale wird durch das Schreiben bei Lentz angehalten, das Fortgerissensein mit dem Strom der Zeit wird durch Versprachlichung verlangsamt, und somit wird experimentiert mit einem möglichen Ausweg aus dem Scheitern der Liebe. Wie Hubert Winkels zu Lentz schreibt: »Die Schrift schiebt das Ereignis immer auf« (Winkels 2011: 560). Die Schrift lässt so auch die Liebe fortdauern, indem sie ihr Ende aufschiebt. Die Abschweifungen und Wiederholungen des Erzählers von Liebeserklärung können gedeutet werden als ein solches Aufschieben des Endes.31 Um der Tatsache aus dem Weg zu gehen, dass das, was man Liebe nennt, Verbannung bedeutet, muss man die Liebe in die Literatur verbannen. Im Vergleich betrachtet, ermöglicht der Blick auf die Liebe bei Beckett und Lentz das Argument, dass viele von Becketts Figuren ehemals Liebende sind, dass ihre Bewegungen und ihre Suche ursprünglich durch dieses größte der irrationalen Gefühle angetrieben wurden, oder dass die Stimmen oft durch eine Liebesirritation zum Sprechen gekommen sind, so wie sie – nach Nussbaum – durch das Erzählen einst zur Liebe gekommen sind: Geschichten werden also durch Geschichten überwunden. Im Vergleich betrachtet, ermöglicht der Blick auf Beckett und Lentz das Argument, dass der Erzähler von Liebeserklärung nicht so sehr Erklärung sucht, und er vielmehr durch das Schaffen einer Geschichte diese Geschichte für alle Zeit in einen Erzählrahmen bannt. Wie der imaginierte Mensch kurz vor seinem Tod in der Photographie gefangen, sind das irrationale Gefühl Liebe wie die Liebesgeschichte selbst in der Literatur angehalten und somit verstehbar, wie das berühmte Insekt im Bernstein. So wie dieses geheimnis31 | Dies stellt eine weitere Parallele zu Beckett dar, wo der Erzähler ebenfalls abschweift und seinen Erzählfluss verlangsamt, um einem Höhepunkt aus dem Weg zu gehen, hier dem sexuellen. Walton schreibt: »If [the narrator’s] text is overladen with what seem to be unnecessary digressions it is because he wants to stave off the climax of his narrative for as long as possible« (Walton 1988: 555).

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voll eingeschlossene Wesen als sein eigenes Monument über die Ewigkeit hinweg sein totes Leben und seinen lebenden Tod bedeutet, so ist auch eine beendete Liebesgeschichte, eingefroren in der Literatur, ein Pars pro Toto für jene Liebe, aus der sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt.

L ITER ATUR Ackerley, C.J./Gontarski, S.E. (2004): The Grove Companion to Samuel Beckett, New York: Grove Press. Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beckett, Samuel (2006): The Complete Dramatic Works, London: Faber. — (2009a): Company/Ill Seen Ill Said/Worstward Ho/Stirrings Still, hg. v. Dirk Van Hulle, London: Faber. — (2009b): The Expelled/The Calmative/The End, with First Love, hg. v. Christopher Ricks, London: Faber. — (2009c): The Letters of Samuel Beckett, Volume I: 1929-1940, hg. v. Martha Dow Fehsenfeld und Lois More Overbeck, Cambridge: Cambridge University Press. — (2010a): Malone Dies, hg. v. Peter Boxall, London: Faber. — (2010b): More Pricks than Kicks, hg. v. Cassandra Nelson, London: Faber. Blau, Herbert (2003): »Barthes and Beckett: The Punctum, the Pensum, and the Dream of Love«, in: Ders., Sails of the Herring Fleet: Essays on Beckett, Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, S. 94-112. Bryden, Mary (2004): »Beckett and the Dynamic Still«, in: Samuel Beckett Today/ Aujourd’hui 14, S. 179-192. Cohn, Ruby (2005): A Beckett Canon, Ann Arbor, MI: The University of Michigan Press. Fletcher, John (1975): »Variationen über ein Thema von Beckett: Erste Liebe«, übers. v. Wulf Teichmann, in: Das Werk von Samuel Beckett: Berliner Colloquium, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 72-86. Hartel, Gaby/Veit, Carola (2006): Samuel Beckett, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kierkegaard, Søren (2005): Entweder/Oder, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Knowlson, James (1996): Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett, London: Bloomsbury. Lentz, Michael (2001): Muttersterben, Frankfurt a.M.: S. Fischer. — (2003): Aller Ding, Frankfurt a.M.: S. Fischer. — (2005): Liebeserklärung, Frankfurt a.M.: S. Fischer. — (2010): Offene Unruh: 100 Liebesgedichte, Frankfurt a.M.: S. Fischer. — (2011): Textleben: Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt, hg. v. Hubert Winkels, Frankfurt a.M.: S. Fischer.

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Lentz, Michael/Lewitscharoff, Sibylle (2012): »Ein Satz als Instrument: Michael Lentz und Sibylle Lewitscharoff im Gespräch«, in: Marbacher Magazin zur Ausstellung »Ich liebe Dich!«, Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, 20. September 2011-29. Januar 2012, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, S. 5-52. Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, Berlin/New York: de Gruyter. Nussbaum, Martha C. (1990): Love’s Knowledge: Essays on Philosophy and Literature, New York/Oxford: Oxford University Press. Rathjen, Friedhelm (2005): Weder noch: Aufsätze zu Samuel Beckett, Scheeßel: EDITION ReJOYCE. Ricks, Christopher (2009): »Preface«, in: Beckett, Samuel, The Expelled/The Calmative/The End, with First Love, London: Faber, S. vii-xxii. Walton, S. Jean (1988): »Extorting Love’s Tale from the Banished Son: Origin of Narratability in Samuel Beckett’s ›First Love‹«, in: Contemporary Literature 29.4, S. 549-563. Winkels, Hubert (2011): »Sinnflucht mit Fluchtsinn: Über Michael Lentz’ Essays«, in: Lentz, Michael, Textleben: Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt, Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 545-561.

F ILMVERZEICHNIS Annie Hall (1977) (USA, B: Woody Allen/Marschall Brickman; R: Woody Allen).

Autorinnen und Autoren

Mark Byron ist Lecturer in moderner und zeitgenössischer Literatur am Department of English der University of Sydney, Australien. Er arbeitet momentan am digitalisierten Manuskript von Becketts Watt sowie einer zugehörigen Monographie zur Genese des Texts für das Beckett Digital Manuscript Project. Sein derzeitiges Projekt, gefördert vom Australian Research Council Discovery Grant, ist eine Studie zu den editorischen Methoden und Theorien angewandt auf modernistische literarische Texte, besonders im Zusammenhang komplexer Manuskriptprovenienzen. Zahlreiche Veröffentlichungen im Journal of Beckett Studies und Samuel Beckett Today/Aujourd’hui. Sammelband zu Becketts Endgame (Rodopi, 2007). Marion Fries-Dieckmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie absolvierte den Diplom-Studiengang Literaturübersetzen und promovierte im Fach Anglistik über Samuel Beckett und die deutsche Sprache. Eine Untersuchung der deutschen Übersetzungen des dramatischen Werks (2007). Zu ihren Veröffentlichungen zählt auch (zusammen mit Therese Fischer-Seidel) der Band Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur (2005). Ihre Forschungsinteressen sind ferner Narratologie, Shakespeare, modernes Drama sowie der zeitgenössische Roman. Gaby Hartel ist freie Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als Kunstpublizistin, Radioautorin, Dozentin und Kuratorin in Berlin, London und Oslo. 2003 Promotion über Samuel Beckett als visueller Künstler. Zahlreiche Publikationen zum Werk Becketts, zuletzt: The Eye of Prey: Becketts Film-, Fernseh- und Videoarbeiten (mit Michael Glasmeier, Suhrkamp, 2011). Dirk Van Hulle, Professor für englische Literatur am Centre for Manuscript Genetics an der Universität Antwerpen, ist der amtierende Präsident der European Society for Textual Scholarship, ein Trustee der International James Joyce Foundation und Mitglied des Vorstands der Beckett Society. Er ist der Autor der Studien Textual Awareness (2004), Manuscript Genetics, Joyce’s Know-How, Beckett’s Nohow

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Samuel Beckett und die deutsche Literatur

(2008), The Making of Samuel Beckett’s »Stirrings Still« and »what is the word« (2011) und arbeitet derzeit mit Mark Nixon an Beckett’s Library (Cambridge UP, 2013) sowie mit Shane Weller an einer textgenetischen Ausgabe von L’Innommable/The Unnamable (2012). Van Hulle ist der Herausgeber von Becketts Company (Faber, 2011) und des ersten Moduls des Beckett Digital Manuscript Project, eine textgenetische Ausgabe von Becketts Manuskripten (http://www.beckettarchive.org).  Thomas Hunkeler ist ordentlicher Professor für französische Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Freiburg i.Ü. (Schweiz). Veröffentlichungen: Echos de l’ego dans l’œuvre de Samuel Beckett (Paris, 1997); Le vif du sens. Corps et poésie selon Maurice Scève (Genf, 2003); Place au public. Les spectateurs du théâtre contemporain (Genf, 2008); Metropolen der Avantgarde (mit Edith A. Kunz; Bern, 2011); Annie Ernaux. Se mettre en gage pour dire le monde (mit Marc-Henry Soulet; Genf, 2012). Eine Studie zum Thema Avantgarde und Nationalismus ist in Vorbereitung. Ulrika Maude lehrt moderne Literatur an der University of Bristol. Sie ist die Autorin von Beckett, Technology and the Body (Cambridge University Press, 2009) sowie Mitherausgeberin der Werke Beckett and Phenomenology (Continuum, 2009) und The Body and the Arts (Palgrave Macmillan, 2009). Darüber hinaus ist sie Mitherausgeberin der Sonderausgabe des Journal of Beckett Studies, »Beckett on TV« (Vol. 18, 2008). Derzeit arbeitet sie an der Herausgabe der Sammelbände The Bloomsbury Companion to Modernist Literature (mit Mark Nixon) und The Cambridge Companion to the Body in Literature (mit David Hillman). Darüber hinaus arbeitet sie an einer Monographie über Beckett und Medizin. Sie ist Review Editor des Journal of Beckett Studies. Mark Nixon ist Reader in Modern Literature an der University of Reading, wo er auch Direktor der Beckett International Foundation ist. Er ist einer der Herausgeber von Samuel Beckett Today/Aujourd’hui und dem Journal of Beckett Studies sowie Kodirektor des Beckett Digital Manuscript Project. Er ist zudem der amtierende Präsident der Samuel Beckett Society. Zahlreiche Veröffentlichungen über Becketts Werk; jüngste Arbeiten unter anderem die Monographie Samuel Beckett’s German Diaries 1936-37 (Continuum, 2011) und der Sammelband Publishing Samuel Beckett (British Library, 2011). Bücher in Vorbereitung unter anderem Samuel Beckett’s Library (mit Dirk Van Hulle; Cambridge UP, 2013) und die kritische Ausgabe der unveröffentlichten Kurzgeschichte Becketts Echo’s Bones (Faber, 2014). Darüber hinaus bereitet er derzeit kritische Ausgaben von Becketts Critical Writings (mit David Tucker; Faber, 2015) sowie Becketts German Diaries (Suhrkamp, 2015) vor. Friedhelm Rathjen lebt als Übersetzer, Literaturkritiker und Private Scholar in Nordfriesland. Über Beckett schreibt er seit dreißig Jahren; unter den daraus

Autorinnen und Autoren

hervorgegangenen Büchern sind die Rowohlt-Bildmonographie Samuel Beckett (2006), die Studie Reziproke Radien: Arno Schmidt und Samuel Beckett (1990), ein schmales Bändchen über Samuel Beckett & seine Fahrräder (1996) und eine Beckett-Werkeinführung, ursprünglich unter dem Titel Beckett zur Einführung (1995), erweitert als Beckett: Eine Einführung ins Werk (2007), außerdem die Aufsatzsammlungen weder noch: Aufsätze zu Samuel Beckett (2005), Irish Company: Joyce & Beckett and more (2010) und Doublin’ Dublin: Vorträge und anderes zu James Joyce und Samuel Beckett (2012). Kathrin Schödel ist Senior Lecturer am Department of German der University of Malta und arbeitet an einer Habilitationsschrift zum Thema »Revolution und Weiblichkeit«. Sie hat an der Universität Erlangen-Nürnberg zu Martin Walser promoviert. Dort und an der University of Glasgow hat sie neuere deutsche Literaturgeschichte, englische Philologie und germanistische Linguistik studiert. In ihrer Magisterarbeit beschäftigte sie sich mit Becketts Bezugnahme auf Dantes Belacqua.  Shane Weller ist Professor für Komparatistik und Kodirektor des Centre for Modern European Literature an der University of Kent. Seine Veröffentlichungen umfassen die Monographien A Taste for the Negative: Beckett and Nihilism (2005), Beckett, Literature, and the Ethics of Alterity (2006), Literature, Philosophy, Nihilism: The Uncanniest of Guests (2008), Modernism and Nihilism (2011), und (mit Dirk Van Hulle) The Making of Samuel Beckett’s »L’Innommable«/»The Unnamable« (2013). Sammelbände unter anderem: The Flesh in the Text (2007; mit Thomas Baldwin und James Fowler); die Ausgabe Samuel Becketts Molloy (2009); Archive, eine Sonderausgabe der Comparative Critical Studies (2011; mit Ben Hutchinson); und Modernist Eroticisms: European Literature after Sexology (2012; mit Anna Katharina Schaffner). Jan Wilm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für anglistische Literaturwissenschaft am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Wilm erreichte den Magistergrad in Amerikanistik und Anglistik an derselben Hochschule mit einer Studie zu Philip Roth. In der Vergangenheit lehrte er anglistische Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt und studierte Film in New York, USA. Derzeit promoviert er mit einer Arbeit über die Philosophie im Werk von J.M. Coetzee. Veröffentlichungen unter anderem zu Samuel Beckett und J.M. Coetzee sowie zahlreiche journalistische Arbeiten.

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Personen- und Werkregister

Ackerley, C.J.

124-125, 178FN24 Adorno, Theodor 29, 108, 128, 132, 134 Akzente 28 Albrecht, Günter 26, 89FN2 Allen, Woody 177 Améry, Jean 132 Andersch, Alfred 29 Arikha, Avigdor 22, 24, 80FN5 Arnheim, Rudolf 90-93, 96-97, 101 Asmus, Walter 117 Atik, Anne 21, 24-25, 80FN5 Aubanel, Théodore 65

Bachmann, Ingeborg

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Bachtin, Michail 47 Badiou, Alain 84 Bair, Deirdre 26, 55 Barthes, Roland 167, 174, 176-177, 180 Beckett, Jean 64 Beckett, Samuel Barclay Bibliothek 11, 19, 23, 28, 75 Deutschlandreise 1936-1937 10, 20, 33, 62, 75, 80 und Nobelpreis 105, 112, 114 Beckett, Samuel Barclay – Texte Ň Drama: All That Fall 23, 26 Breath 116 …but the clouds…/ … nur noch Gewölk … 95, 96, 99-100 Come and Go 100, 102

Eh Joe / He, Joe 40, 41, 94, 95-96, 99, 172 Eleutheria 111-112 Embers 160 Endgame / Endspiel / Fin de partie 29, 41, 107, 133, 175 Footfalls 96, 100, 102, 160, 161 Ghost Trio / Geistertrio 95, 96, 99100, 160 Happy Days / Glückliche Tage 83, 99, 102, 157 Krapp’s Last Tape / Das letzte Band 22, 26-27, 35, 41-42, 66, 92, 94, 157-158, 179 Play / Spiel 27, 92, 94, 99, 102 Quad / Quadrat 96, 100, 102 Rockaby 96, 100, 102 That Time / Damals 25, 92, 94, Waiting for Godot / Warten auf Godot / En attendant Godot 86, 101, 106, 107, 157, 175 What Where 100, 102 Words and Music 67 Ň Poesie: ›Alba‹ 65 ›Casket of Pralinen for a Daughter of a Dissipated Mandarin‹ 69 ›Da Tagte Es‹ 19, 61, 65, 66 ›Dieppe‹ 11 Echo’s Bones and Other Precipitates 61, 62, 64, 66

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Samuel Beckett und die deutsche Literatur

›Echo’s Bones‹ 65 ›Enueg I‹ 65 ›Enueg II‹ 65 Mirlitonnades 28, 115FN7 ›The Vulture‹ 65 Ň Prosa: ›A Piece of Monologue‹ 168 All Strange Away 27 ›As the Story Was Told‹ 28 ›Calmative, The‹ / ›Le Calmant‹ 62 Company / Gesellschaft 24, 38-39 ›Dante and the Lobster‹ 47-48, 5055, 57-58 Dream of Fair to Middling Women 21, 34, 47-48, 55, 64 ›Faux Départs‹ 27 ›First Love‹ / ›Premier amour‹ 21, 168-174, 177-179 Ill Seen Ill Said 160 Imagination Dead Imagine/ Imagination morte imaginez 27, 86 ›Love and Lethe‹ 168 Malone Dies / Malone meurt / Malone stirbt 36-37, 107, 161, 178FN24 Mercier et Camier 111 Molloy 27, 54, 63, 84, 85, 105, 107, 132, 133, 157, 160 More Pricks Than Kicks / Mehr Prügel als Flügel 47, 53, 55-57, 111 Murphy 82, 93, 125, 157, 160 ›Smeraldina’s Billet Doux, The‹ 55 Stirrings Still 25-26, 63, 160, 175FN18, 175FN19 Texts for Nothing / Texte um Nichts 27, 160, 163 Unnamable, The / L’Innommable 85, 129-134, 136 ›Walking Out‹ 24 Watt 27, 78, 82, 101, 116-117, 130, 139-148, 154 Worstward Ho 131, 134

Ň Andere Werke: ›Concentrisme, Le‹ 64 ›Dante…Bruno.Vico..Joyce‹ 65 ›Denis Devlin’s Intercessions‹ 11, 128 ›Dream‹ notebook 21, 23, 64 ›Ex Cathezra‹ [Rezension von Ezra Pound’s Make it New] 66-68 Film 24, 92 ›German Diaries 1936/37‹ 10, 13, 34, 35, 43, 86, 93, 94, 124 ›Journal of a Melancholic‹ 34, 63 ›Poems by Rainer Maria Rilke‹ 20 Proust 35, 64, 123, 127 ›Recent Irish Poetry‹ 66 ›Sottisier‹ Notebook 20, 21, 24 ›Whoroscope‹ Notebook 24, 28, 75-79, 125 Beckett International Foundation (Reading) 11 Beethoven, Ludwig van 20, 82 Benn, Gottfried 28 Benjamin, Walter 9, 97, 101 Bernhard, Thomas 105, 134, 136, 139154 Blair, David 85 Boehlich, Walter 108 Böll, Heinrich 28 Bond, Edward 109 Bowles, Patrick 11 Bray, Barbara 9, 19, 22, 27, 28, 29, 99 Brecht, Bertolt 27, 28, 33 Bryden, Mary 175 Büchner, Georg 26 Buñuel, Luis 94 Bunyan, John 142 Burton, Robert 154

Calder, John 29 Cassirer, Ernst 76-80 Cavalcanti, Guido 67 Camus, Albert 86 Celan, Paul 14-15, 28, 29, 33, 128, 134, 136, 139

Personen- und Werkregister

Certeau, Michel de 161 Cézanne, Paul 80-83, 160 Chalmers, David 84 Chaplin, Charlie 89-90, 101 Chaucer, Geoffrey 33 Cicero 140 Cioran, E. M. 109 Clark, Andy 84 Claudius, Matthias 21-24, 168 Cohn, Ruby 161, 168FN7, 170FN10, 178 Corneille, Pierre 90 Craig, Edward Gordon 97-98

Dali, Salvador

94 Damasio, Antonio 81, 83 Daniel, Arnaut 67 Dante Alighieri 24, 33, 47-54, 63 D’Aubarède, Gabriel 10 Demosthenes 140 Derrida, Jacques 49 Devlin, Denis 11, 128 Döblin, Alfred 132 Driver, Tom 39 Dylan, Bob 140

École Normale Supérieure (Paris) 28FN9, 89, 94 Eich, Günther 28 Eisenstein, Sergei 89-93 Eliot, T. S. 135 Enzensberger, Christian 51-53, 55-57 Enzensberger, Hans Magnus 9, 27 Esslin, Martin 12, 43

Feldman, Matthew

130 Flaubert, Gustave 26, 178FN24 Fletcher, John 112, 171-172, 177-178 Fontane, Theodor 26-27, 33, 41-43 Frankfurter Allgemeine Zeitung 9, 117 Franzen, Erich 106, 107 Fried, Erich 28 Frisch, Max 28-29, 105, 108, 114 Fritz, Marianne 106

Glasmeier, Michael 13 Gmelin, Hermann 50 Goethe, Johann Wolfgang von 12, 2023, 24, 33, 35, 39-41, 63, 125FN5, 127, 128, 132 Gontarski, S. E. 124-125, 178FN24 Gourmont, Rémy de 66 Grillparzer, Franz 36-38, 56, 63 Gulette, David 28 Haerdter, Michael 27, 41 Hamburger, Michael 26 Handke, Peter 14, 109-111, 114, 157-165 Hartel, Gaby 13, 92 Harvey, Lawrence 64 Hauff, Wilhelm 20 Heine, Heinrich 21, 23-24, 34, 35, 38-39 Held, Wolfgang 12, 55 Hesse, Hermann 106, 108, 115 Heuler, Fried 62 Higgins, Aidan 10 Hildesheimer, Wolfgang 114, 115 Hölderlin, Friedrich 11-12, 14-15, 20, 25-26, 33, 35-36, 128 Hofmannstahl, Hugo von 139 Hogarth, William 162-163 Horkheimer, Max 132 Hulle, Dirk Van 25, 125FN5, 130 Illig, Nancy 99 Irmer, Thomas 12-13 Irmgarden, Roman 83 Iser, Wolfgang 83 Johnson, Samuel

146 Johnson, Uwe 108 Joyce, James 10, 34, 57, 64, 65, 67, 124, 125, 135, 141, 143, 154

K afka, Franz

14, 27, 33, 128-136, 170 Kant, Immanuel 75-87, 126

191

192

Samuel Beckett und die deutsche Literatur

Kaun, Axel 10, 12, 22, 82, 123-125, 127, 128, 130 Keaton, Buster 89 Keats, John 57 Kierkegaard, Søren 159, 178, 180 King, Martin Luther 140 Klee, Paul 159, 163 Kleist, Heinrich von 98-101, 168 Knowlson, James 12-13, 19, 26, 55, 66, 89, 92, 94, 98, 99, 169FN8 Köhler, Wolfgang 93 Kursbuch 27

Lamac, Carl

93 Lang, Fritz 94, 95, 96 Langdon, Harry 89 Lehrer, Jonah 81 Lentz, Michael 167-183 Lernout, Geert 125 Leventhal, A. J. 20 Lewis, Wyndham 97 Libera, Antoni 42 Lubitsch, Ernst 95 Lukács, Georg 29

MacCarthy, Ethna

26, 65-66 MacGreevy, Thomas 23, 33, 35, 65, 66, 76, 90, 91-92, 160, 162 Mallarmé, Stéfane 33, 135 Marcus, Laura 96 Marcuse, Herbert 28 Mauthner, Fritz 11, 76-77, 82, 124-130, 132, 134 Mayer, Hans 108 Mayoux, Jean-Jacques 112 Menary, Richard 84 Merkur 27 Mistral, Frédéric 65 Morungen, Heinrich von 61, 64, 6870 Müller, Wilhelm 21, 25 Müller-Freienfels, Reinhart 100 Murnau, F.W. 94

Murphy, P.J. 76, 78 Myskja, Bjorn K. 80

Neue Zürcher Zeitung

151 Neumann, Gerhard 53 Neumann, Hans 128 Nietzsche, Friedrich 126-127 Nixon, Mark 61, 62, 63, 125FN5, 130, 161 Nizon, Paul 109 Nussbaum, Martha C. 181-182

Paris, Gaston 65 Pelorson, Georges 90, 162 Pickup, Ronald 99 Poe, Edgar Allan 40 Pound, Ezra 66-68, 70, 97 Pountney, Rosemary 24 Proust, Marcel 123, 127, 134 Pudovkin, Vsevelod 90, 91, 93 Rathjen, Friedhelm 55, 175FN20, 181 Ravaisson, Félix 100 Rehberg, Walter und Paula 19-24 Reichert, Klaus 109 Richardson, Dorothy 91 Rilke, Rainer Maria 20, 33, 63, 111, 139 Rimbaud, Arthur 66 Robertson, J.G. 11, 19, 23, 61, 62, 68-69 Rohde, Carsten 161 Rosset, Barney 26 Roth, Philip 140 Rougemont, Denis de 68 Roumanille, Joseph 65 Rousseau, Jean-Jacques 159 Rudels, Jaufré 64 Rudmose-Brown, Thomas 64 Rückert, Franz 21, 24 Sachs, Nelly 28 Schelling, Friedrich 127 Schenker, Israel 128 Schlegel, Friedrich 9, 20

Personen- und Werkregister

Schober, Franz 21, 24 Schopenhauer, Arthur 11, 63, 126, 127, 179 Schubert, Franz 19-25, 35 Schultz, Eva Katarina 98, 99 Schweiger, Hannes 158 Sievers, Wiebke 113 Sebald, W.G. 132-136 Seume, Johann Gottfried 157, 164 Shakespeare, William 33 Sharp, Francis Michael 140 Sheehan, Paul 96 Sinclair, Peggy 26, 55, 66, 69 Spies, Werner 111, 117 Stein, Gertrude 91, 125 Süddeutscher Rundfunk 40, 94, 95 Suhrkamp, Peter 106, 107 Suhrkamp Verlag 9, 12, 27, 105-118

Tophoven, Elmar

22, 24, 33, 36, 38, 51-52, 57, 106-107, 111, 112, 113, 115 Tophoven, Erika 33 Trakl, Georg 33, 128, 139 Trinity College Dublin 65, 89-90 Turpin, Ben 89 Tynan, Kenneth 115

Unseld, Siegfried 27, 105-118 Ussher, Arland 11, 76FN4 Velde, Jacoba van

26 Vogel, Henriette 168 Vogelweide, Walther von der 20, 34FN2, 61-70 Voigts-Virchow, Eckart 12

Walton, S. Jean

180 Weiss, Peter 29 Whitelaw, Billie 98 Wienes, Robert 94, 96 Windelband, Wilhelm 75 Winkels, Hubert 182 Wittgenstein, Ludwig 85

Wittgenstein, Paul 148, 149, 151, 154 Woodworth, Robert S. 92 Wurm, Franz 28

Yeats, W. B.

10, 39, 43

Zola, Émile

26

193