Mit Ritalin® leben: ADHS-Kindern eine Stimme geben 9783666451867, 9783525451861, 9783647451862

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Mit Ritalin® leben: ADHS-Kindern eine Stimme geben
 9783666451867, 9783525451861, 9783647451862

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© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau Band 13 Rolf Haubl / Katharina Liebsch (Hg.) Mit Ritalin leben ADHS-Kindern eine Stimme geben

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Rolf Haubl / Katharina Liebsch (Hg.)

Mit Ritalin leben ADHS-Kindern eine Stimme geben

Mit 11 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525- 45186-1 eISBN 978-3-647-45186-2

 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: process media consult GmbH Druck & Bindung: l Hubert & Co, Göttingen

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Inhalt

Rolf Haubl und Katharina Liebsch Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rolf Haubl Psychodynamik medikalisierter Beziehungen . . . . . . . . . . . . .

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Tanja Brand »Ha, jetzt stell ich die Fragen!« Beziehungsdynamik in der Interviewführung mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elke Salmen Gegenübertragungen als Hilfe des Verstehens. Eine Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eva Sänger »Dann arbeiten die Männchen da drin, dass ich dann weiß, dass ich nicht sofort hinschlagen soll«. Vorstellungen medikamentierter Jungen über die biomedizinische Wirkungsweise von Medikamenten gegen AD(H)S . . . . . . . .

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Sebastian Jentsch Beziehungsgestaltung unter Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erica Augello »Schule« in den Aussagen medikamentierter Jungen . . . . . . . . 107 Sarah Kirsch und Maria Wischnewski Medikation als Aufgabe geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung

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Inhalt

Eva Sänger Biomedizinisches Wissen zur AD(H)S in Kinderzeichnungen

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Daniela Otto Vom Zappelphilipp zum Normalo? AD(H)S-Symptomatik, Diagnose und Medikation als Stigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Inge Schubert »Und nachts, da arbeiten die Männchen im Kopf«. Affektkontrolle und Männlichkeitsvorstellungen bei ADHS-medikamentierten Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Katharina Liebsch Passung und Anpassung. Zur Herstellung von Zugehörigkeit und Teilhabe durch AD(H)S-Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Rolf Haubl und Katharina Liebsch Medikament und Medikation: Eine Typologie positiver und negativer Repräsentanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

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Rolf Haubl und Katharina Liebsch

Einführung

Schätzungen zufolge zeigen 3 – 5 % der Kinder und Jugendlichen eines jeden Jahrgangs eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivität (AD[H]S) mit den Leitsymptomen einer Unkonzentriertheit, Impulsivität und motorischen Unruhe (Biederman, 2005). Über keine Diagnose der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie ist in den letzten Jahren weltweit so viel, so heftig und so kontrovers diskutiert worden wie über die AD(H)S – und das gleichermaßen in der fachlichen und außerfachlichen Öffentlichkeit. Obgleich die AD(H)S inzwischen als eine genetisch bedingte chronische hirnorganische Krankheit gilt, verstummen die kritischen Stimmen nicht, die diese biomedizinisch-psychiatrische Deutung in Zweifel ziehen (Timimi, 2002, 2005). In der Kritik steht nicht zuletzt die Behandlung der Kinder mit Psychopharmaka, am häufigsten mit dem Wirkstoff Methylphenidat, den Präparate wie Ritalin, Medikinet oder Concerta enthalten (Pelz, Banaschewski u. Becker, 2008). Ein Großteil der Kinder mit einer AD(H)S-Diagnose bekommen solche Präparate – als Bestandteil einer multimodalen Therapie, wie sie heute Standard sein sollte (Remschmidt, 2005), oder aber ohne anderweitige Förderung. Bezogen auf den Lebenslauf erfolgen die meisten Verordnungen für das Alter zwischen neun und zwölf Jahren. Insgesamt liegt die Zahl der medikamentös behandelten Kinder und Jugendlichen weltweit bei über zehn Millionen. Während die Medikamente 1993 lediglich in 13 Ländern eingesetzt wurden, sind es inzwischen weit mehr als fünfzig Länder. Gleich, wo man sich in dieser leidenschaftlich, oft sogar feindselig geführten Kontroverse auch positioniert, eines verbindet die Kon© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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trahenten: Sie versäumen oder vermeiden es, den betroffenen Kindern und Jugendlichen eine eigene Stimme zu geben. Anders als es die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen fordert (Liebel, 2007), erhalten sie kein oder nur ein begrenztes Mitspracherecht, obgleich ihr Leben von den Entscheidungen der Erwachsenen gravierend und dauerhaft beeinflusst wird. Deshalb haben wir vom Frühjahr 2007 bis Herbst 2008 als Kooperation des Sigmund-Freud-Instituts mit dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und finanziell unterstützt von der Lotte-KöhlerStiftung ein empirisches Forschungsprojekt durchgeführt, das in einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschungsgruppen untersucht, was Jungen im Alter von sieben bis 14 Jahren selbst über ihre Diagnose und ihrer Medikation denken.

Forschungsgruppe Das Projekt ist als Lehrforschung konzipiert gewesen. In diesem Typus von Forschung sind in die Forschungsgruppe neben den in Forschung erfahrenen Projektleiter/-innen und den Nachwuchswissenschaftler/-innen auch Studierende integriert.1 Studierenden bietet dieser Forschungstypus eine intensive Lehrbeziehung in einer Kleingruppensituation, wie sie in sonstigen Seminaren in der Regel nicht entstehen kann. Die Leiter/-innen stellt Lehrforschung vor besondere Herausforderungen, da sie bei den Studierenden nicht auf erprobte Qualifikationen zurückgreifen können, vielmehr müssen sie nicht selten dafür sorgen, dass im Verlauf des Projekts erst die notwendigen Qualifikationen erworben werden. Genau darin liegt aber auch eine Chance, denn der erhöhte Reflexionsbedarf beugt blinden Flecken vor, die bei allzu großer Routine leicht entstehen. Das vorliegende Buch, das die bisherigen Publikationen (Haubl, 2007, 2008, 2009; Haubl u. Liebsch, 2008a, b, 2009a, b) flankiert, ist Ausdruck dieser Philosophie. Deshalb enthält es neben professionell 1

An der Arbeitsgruppe waren Erica Augello, Simon Dechert, Sebastian Jentsch, Sarah Kirsch, Armin Nikodemus, Daniela Otto, Dr. Eva Sänger, Elke Salmen, Dr. Inge Schubert, Benjamin Vogt und Maria Wischnewski beteiligt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Einführung

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geschriebenen Beiträgen auch Beiträge von Studierenden, die sich mit einer Darstellung der Ergebnisse ihrer Teilprojekte erstmals einer interessierten Öffentlichkeit publizistisch präsentieren. Wir hoffen, dass alle Beiträge zusammengenommen beredtes Zeugnis für den fruchtbaren und befriedigenden Forschungsprozess ablegen, der er gewesen ist.

Stichproben Im Verlauf des Projektes sind sechzig Interviews durchgeführt worden. Die Kontakte mit den Jungen kamen über verschiedene Aufrufe und über Hörensagen zustande, wobei geregelt war, dass sich die Eltern bei uns melden mussten, wenn sie an der Untersuchung teilnehmen wollten. Wir sind nicht offensiv an sie herangetreten, um so viel Freiwilligkeit wie möglich zu gewährleisten. Die teilnehmenden Eltern, bis auf wenige Ausnahmen die Mütter, haben wir gebeten, uns nur zuzusagen, wenn sie das Einverständnis ihrer Kinder erhalten, sich interviewen zu lassen. Vor Ort ist das Einverständnis der Jungen dann noch einmal eingeholt worden. Hätten sie es nicht gegeben, wären die Interviewer/-innen wieder gegangen. Um die Kinder nicht unnötig zu verunsichern, haben alle Interviews in vertrauten Umgebungen stattgefunden: die meisten im Elternhaus, etliche in der Schule. Als erkennbare Motivation der Mütter, uns zu unterstützen, ergab sich: mehr wissenschaftliches Wissen über die AD(H)S und deren medikamentöse Behandlung zu erlangen, nicht selten verbunden mit der Hoffnung, Wege für zukünftige Generationen zu finden, um auf Psychopharmaka verzichten zu können. Und spezieller: Die einen wollten sich bestätigen lassen, dass sie richtig handeln, wenn sie ihren Kindern Tabletten geben, oder dass sie gar keine andere Wahl haben, wenn sie den Familienfrieden und die Zukunftschancen ihres Nachwuchses retten wollen; die anderen suchten eine Gelegenheit, um ihre Ambivalenzen darzustellen. In allen Fällen war es den Müttern sehr wichtig, das sichere Gefühl zu haben, dass wir sie wegen der Medikation ihrer Jungen nicht vorverurteilen. Eine Bedingung für das Interview war, mit den Kindern alleine zu sprechen und auch nachher die Eltern nicht darüber zu informieren, was gesprochen worden ist. Manche Eltern haben damit Schwierig© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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keiten gehabt. Lieber wäre es ihnen gewesen, bei dem Interview dabei zu sein, einige aus der Befürchtung heraus, ihre Kinder könnten etwas Falsches sagen, wobei »falsch« gelegentlich »kritisch gegenüber den Eltern« meinte. Auch gab es Eltern, die sich sorgten, ob nicht während des Interviews die Wirkung des Medikaments nachlassen könnte und dann kein Gespräch mehr möglich sei. In einem Fall bot die Mutter sogar eine Nachdosierung an.

Interviewführung Die Interviews sind als themenzentrierte Interviews konzipiert worden. Themenzentriert heißt: Es wird vorab eine Liste von Themen entwickelt, die der Interviewer alle abarbeiten soll, aber in einer Reihenfolge, die sich nach der Relevanzstruktur des jeweils interviewten Jungen richtet: – Wie erlebt er selbst sein symptomatisches Verhalten? – Hält er sich für krank? – Auf welche Ursachen führt er selbst sein symptomatisches Verhalten zurück? – Von wem hat er welche Informationen über seine AD(H)S und das Medikament, das er einnimmt, erhalten? – Wie verarbeitet er diese Informationen? – Was verspricht er sich selbst von der Einnahme des Medikaments? – Wie erlebt er dessen Wirkung und Nebenwirkungen? – Wie integriert er seine Medikation in seinen familiären und schulischen Alltag? – Was bedeutet es für sein Selbstverständnis, auf das Medikament angewiesen zu sein? Die Interviewdauer ist sehr unterschiedlich gewesen: von zwanzig Minuten bis über eine Stunde. Viele der Jungen haben sich viel länger konzentrieren können als erwartet. Bei wenigen haben wir im Nachhinein den Eindruck, dass sie überfordert gewesen sind. Die Meisten haben das Interview nicht nur pflichtschuldig absolviert, sondern es erkennbar genossen, so viel Aufmerksamkeit von einem Erwachsenen für ihre Gedanken und Gefühle zu erhalten. Auf das Vorhaben, qualitative Interviews mit Kindern zu führen, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Einführung

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haben wir uns in der Forschungsgruppe vorbereitet: zum einen durch eine Aufarbeitung der Forschungsergebnisse über die kognitive Entwicklung von Kindern, insbesondere was ihre Krankheitskonzepte betrifft (Johnson u. Wellman, 1982; Lohaus, 1993; Dreher u. Dreher, 1999); zum anderen durch den Einsatz von Interviewer/-innen, die im Umgang mit Kindern geübt sind. Aufgrund der großen Variationsbreite des kognitiven Entwicklungsstands bei gleichaltrigen Kindern ist das Wissen um eine altersgemäße Kompetenz nur annäherungsweise hilfreich. Als sehr viel wichtiger hat sich die Feinfühligkeit der Interviewer/-innen erwiesen, ihre Interviewführung flexibel den aktuellen Verständigungsmöglichkeiten anzuschmiegen. Die Erwachsenen haben eine freundliche und bestätigende Haltung gegenüber den Kindern eingenommen: Die befragten Jungen werden als Experten ihrer selbst und ihrer Lebenswelt angesprochen. Deshalb erklären ihnen die Interviewer/-innen, dass die Erwachsenen noch viel zu wenig wissen, was betroffene Kinder über die AD(H)S und deren medikamentöse Behandlung denken. Sie, die Erwachsenen, müssen deshalb dumme Fragen stellen und die Kinder bekommen Gelegenheit, ihnen alles zu sagen, was sie ihnen sagen möchten. Da es für Kinder generell nicht leicht ist, handlungsentlastet zu sprechen, bedarf es auf Seiten der Interviewer/-innen einer großen Toleranz für assoziierte körperliche Bewegungen. Sie dürfen sie nicht als störend markieren, sondern müssen sie als notwendige Bedingung des Gesprächsverhaltens der Kinder akzeptieren. Hilfreich ist eine Interviewführung, die spielerische Ablenkungen und Pausen erlaubt. Auch der Einsatz von Zeichnungen, deren Anfertigung die Kinder durch lautes Denken begleiten, hat sich bewährt. Alles in allem haben die Interviewer/-innen viel Haltearbeit zu leisten gehabt. Forschungen, in denen qualitative Interviews mit Kindern durchgeführt werden, gestalten sich schwieriger als bei Jugendlichen und Erwachsenen, weil die Kompetenz, einem Fremden eigene Erfahrungen zu berichten, noch nicht voll entwickelt ist (Heinzel, 1997; Fuhs, 2000). Deshalb ist die Bereitschaft des erwachsenen Interviewers, sich auf eine Statusumkehr einzulassen, eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Interview: Während es üblicherweise die Erwachsenen sind, die Kindern die Welt erklären, verlangt es die besondere Interviewsituation, eine Atmosphäre herzustellen, welche die Kinder davon überzeugt, dass sie die Wissenden sind. Es ist kei© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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neswegs selbstverständlich, dass dies gelingt (Fuhs, 1999). So sollen sich die Fragen der Interviewer/-innen an die Sprache und den Kommunikationsstil der Kinder anpassen, ohne Kindlichkeit zu imitieren. Vor allem sind sie knapp und präzise zu stellen. Hinzu kommt, sich als Erwachsener klar zu machen, dass Kinder, je jünger sie sind, umso kürzere und stärker kontextgebundene Antworten geben, als es Jugendliche und Erwachsene tun, auch dann, wenn die Kinder gebeten werden, ihre Erfahrungen frei zu erzählen. Mit zunehmendem Alter und zunehmender narrativer Kompetenz ändert sich das, so dass die Interviewer/-innen weniger zu strukturieren brauchen (Bouke, Schülein, Büscher, Terhorst u. Wolf, 1995).

Auswertung Die Auswertung der Interviews erfolgt fallrekonstruktiv. Sie werden transkribiert und anschließend sowohl vertikal als auch horizontal interpretiert. Während sich die vertikale Interpretation jedes einzelne Interviewtranskript unter zusätzlicher Berücksichtigung der szenischen Beobachtungen, die eine Interviewerin oder ein Interviewer vor, während und nach der Durchführung des Interviews gemacht und protokolliert hat, sinnverstehend vornimmt, vergleicht die horizontale Interpretation die verschiedenen Interviewtranskripte. Dabei werden die Äußerungen der Jungen über die Interviews hinweg zu folgenden hermeneutischen Feldern gebündelt: – Vorstellungen über die eigene Person (Selbstbild), – Vorstellungen über die eigene Familie und die familiären Beziehungen (Familienbild), – Vorstellungen über die Schule (Schulbild), – Geschlechtsrollenvorstellungen (Männer- und Frauenbild), – Normalität und Devianz (Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen), – Emotionsregulation, – (phantasmatische) Bedeutung des Medikaments, – zentrale Kategorien des jeweiligen individuellen Denksystems (Leit- und Verdichtungsbegriffe), © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Einführung

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– Erzählmuster (lebensgeschichtliche Transformation: vor der Medikation, seit der Medikation und in Zukunft). Nachdem die ersten Interviews von der ganzen Forschungsgruppe durchgearbeitet worden sind, um ein Verständnis der einzelnen hermeneutischen Felder zu entwickeln, das alle teilen, wird für alle weiteren Interviews ein sparsameres Verfahren angewendet: Jedes Mitglied der Forschungsgruppe arbeitet alleine eine Reihe der Interviews durch, die es selbst nicht geführt hat, und erstellt eine Gesamtinterpretation, rubriziert nach den verschiedenen hermeneutischen Feldern. Jede dieser Gesamtinterpretationen wird von einem anderen Mitglied der Forschungsgruppe, das das Interview ebenfalls nicht geführt hat und auch das Interviewtranskript nicht kennt, auf interpretatorische Evidenz hin gegengelesen. Interpretationspassagen, die nicht als evident erscheinen, werden markiert und mit Verständnisfragen versehen. Diese Verständnisfragen versucht der Interpret dann in einem zweiten Durchgang durch das Interviewtranskript zu beantworten, was dazu führt, dass er seine Interpretation überarbeitet. Nur noch diejenigen Fälle, bei denen Interpret und Gegenleser den Eindruck gewinnen, eine Verständigung sei nicht möglich, werden der ganzen Forschungsgruppe übergeben, die in besonderen Sitzungen versucht, die kontroversen Lesarten zu klären. Auf diese Weise entsteht im Laufe der Zeit ein Korpus von sechzig als gültig anerkannten Einzelinterpretationen, die dann vergleichend weiter interpretiert werden können. Eines der Ziele ist eine typologische Reduzierung des Korpus. Im Unterschied zu pädagogischen oder psychotherapeutischen Forschungsansätzen geht es uns nicht darum, Empfehlungen zu erarbeiten, wie die AD(H)S effektiver zu behandeln ist. Vielmehr steht im Mittelpunkt unseres Interesses, welchen subjektiven Sinn die Jungen ihren Erfahrungen mit ihrer »Störung« mehr oder weniger bewusst geben. Dabei gehen wir in unserer Rekonstruktion von der Vorannahme aus, dass dieser Sinn überwiegend keine idiosynkratische Schöpfung ist, sondern aus sozialen Repräsentationen (Moscovici, 1981) hervorgeht: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen erhalten ihre Informationen von Erwachsenen, seien es medizinische Laien oder Experten. Sie müssen sich deren Deutungen aneignen, wobei manche von ihnen sie gehorsam zu übernehmen versuchen, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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andere sie eigensinnig umarbeiten, nach Maßgabe dessen, was sie verstehen, aber auch danach, was sie nicht akzeptieren wollen. Dass uns die sechzig interviewten Jungen ihr Vertrauen geschenkt und Einblick in ihre Innenwelt gewährt haben, dafür danken wir ihnen sehr.

Literatur Biederman, J. (2005). Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A selective overview. Biological Psychiatry, 57, 1215 – 1220. Bouke, D., Schülein, F., Büscher, H., Terhorst, E., Wolf, D. (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink. Dreher, E., Dreher, M. (1999). Konzepte von Krankheit und Gesundheit in Kindheit, Jugend und Alter. In R. Oerter, C. von Hagen, G. Röper, G. Noam (Hrsg.), Klinische Entwicklungspsychologie (S. 623 – 653). Weinheim: PVU. Fuhs, B. (1999). Die Generationenproblematik in der Kindheitsforschung. Zur methodischen Relevanz von Erwachsenen-Kind-Verhältnissen. In: M.-S. Honig, A. Lange, H. R. Leu (Hrsg.), Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung (S. 153 – 161). Weinheim: Juventa. Fuhs, B. (2000). Qualitative Interviews mit Kindern. Überlegungen zu einer schwierigen Methode. In F. Heinzel (Hrsg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 87 – 103). Weinheim: Juventa. Haubl, R. (2007). Krankheiten, die Karriere machen: Medizinalisierung und Medikalisierung sozialer Probleme. In C. Warrlich, E. Reinke (Hrsg.), Auf der Suche. Psychoanalytische Betrachtungen zum AD(H)S (S. 159 – 187). Gießen: Psychosozial-Verlag. Haubl, R. (2008). Die Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörung als kulturgeschichtliches Phänomen. Psychotherapie Forum, 16, 85 – 91. Haubl, R. (2009). Medikamentierte Wut. Wie Jungen mit einer AD(H)S um Selbstkontrolle ringen. Forum der Psychoanalyse, 25: 255 – 268. Haubl, R., Liebsch, K. (2008a). Mit Ritalin leben. Zur Bedeutung der ADHSMedikation für die betroffenen Kinder. Psyche – Z Psychoanal., 62 (7), 673 – 693. Haubl, R., Liebsch, K. (2008b). Psychopharmakologisches Enhancement: Der Gebrauch von Ritalin in der Leistungsgesellschaft. sozialer sinn, 9 (2), 173 – 195. Haubl, R., Liebsch, K. (2009a). »Wenn man teufelig und wild ist.« Funktion und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Bedeutung von Ritalin aus der Sicht von Kindern. In R. Haubl, F. Dammasch, H. Krebs (Hrsg.), Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse (S. 129 – 163). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, R., Liebsch, K. (2009b). »My mother thinks that this is the case, and so does my teacher. I, for my part, do not notice any difference«: methodological reflections on intersubjectivity in the research process with children. Journal of Social Work and Practice, 23 (2), 229 – 243. Heinzel, F. (1997). Qualitative Interviews mit Kindern. In B. Friebertshäuser, A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 396 – 413). Weinheim u. München: Juventa. Johnson, C. N., Wellman, H. M. (1982). Children’s developing conceptions of the mind and brain. Child Development, 53, 222 – 234. Liebel, M. (2007). Wozu Kinderrechte. Grundlagen und Perspektiven. Weinheim u. München: Juventa. Lohaus, A. (1993). Krankheitskonzepte von Kindern: Ein Überblick zur Forschungslage. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie, 41, 117 – 129. Moscovici, S. (1981). On social representations. In J. P. Forgas (Eds.), Social cognition (pp. 181 – 209). London: Academic Press. Pelz, R., Banaschewski, T., Becker, K. (2008). Pharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit ADHD. Eine Übersicht. Monatsschrift Kinderheilkunde, 156 (8), 768 – 775. Remschmidt, H. (2005). Global consensus on ADHD/HKD. European Child and Adolescent Psychiatry, 14, 127 – 137. Timimi, S. (2002). Pathological child psychiatry and the medicalization of childhood. New York: Brunner-Routledge. Timimi, S. (2005). Naughty boys. Anti-social behavior. ADHD and the role of culture. Hamphshire: Palgrav.

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Rolf Haubl

Psychodynamik medikalisierter Beziehungen

Konsensuskonferenzen in der Medizin tragen das zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbare Wissen über eine Krankheit zusammen, um Empfehlungen zu formulieren, wie sie erfolgreich diagnostiziert und therapiert werden kann. Für die Aufmerksamkeitsund/oder Hyperaktivitätsstörung bei Kindern und Jugendlichen haben entsprechende Bemühungen dazu geführt, einen aufwendigen Diagnoseprozess zu verlangen, der die gesamte Lebenswelt der auffälligen Kinder und Jugendlichen in die Beobachtung einbezieht und Vorsicht walten lässt, um Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität nicht vorschnell als Symptome einer psychischen Störung zu beurteilen (Remschmidt, 2005). Ein solcher Aufwand ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die Symptomdiagnose einer AD(H)S auf Urteilen sozialer Wahrnehmung beruht, die immer Normalitätsvorstellungen enthalten, die unterschiedlich ausfallen können. Eine andere Möglichkeit der Objektivierung gibt es nicht. Was die Therapie der AD(H)S betrifft, so gilt es inzwischen als Behandlungsstandard, sich nicht auf die Verordnung von Medikamenten zu beschränken, weil eine solche Beschränkung die Ätiologie der Symptome ignoriert. Wenn eine Medikation nach sorgfältiger Prüfung indiziert erscheint, sollte sie gegebenenfalls von psychotherapeutischen, psychoedukativen, ergotherapeutischen, logopädischen, pädagogischen oder anderen geeigneten nichtmedikamentösen Unterstützungen flankiert werden. Ohne eine solche Flankierung wird den Betroffenen die Entwicklung eines angemessenen Selbstverständnisses vorenthalten. Die Empfehlungen der Konsensuskonferenzen versuchen zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche therapiert werden, deren © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Psychodynamik medikalisierter Beziehungen

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AD(H)S-Diagnose nicht sicher ist, und dass Kinder und Jugendliche mit einer sicheren Diagnose lediglich Medikamente und keine multimodale Therapie erhalten. Wie weit diese Standards in der Praxis tatsächlich erfüllt werden, ist nicht systematisch untersucht. Unter den sechzig Jungen, mit denen wir in unserer Untersuchung gesprochen haben, erhält der größte Teil ausschließlich Medikamente. Gelegenheitsbeobachtungen lassen vermuten, dass Diagnose und Therapieindikation in unbekannt vielen Fällen laxer als empfohlen ausfallen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer der Gründe mag der Druck sein, der von Eltern ausgeht, die sich auf eine medikamentöse Behandlung ihrer Kinder beschränken wollen, weil sie – mehr oder weniger bewusst – einen Kurzschluss ziehen, der sie von Schuldgefühlen entlastet: Medikamente bestätigen ihre Vorstellung, dass die AD(H)S eine genetisch bedingte hirnorganische Störung ist, für die sie keine Verantwortung tragen. Dagegen haben sie nichtmedikamentöse, vor allem psychotherapeutische Maßnahmen im Verdacht, sie dafür verantwortlich zu machen, dass ihre Kinder sich auffällig verhalten (Pozzi, 2002). Anders gelagert sind Fälle, in denen Eltern mit unauffälligen Kindern nach den Medikamenten fragen, weil sie deren Leistung steigernde Wirkung für den schulischen Erfolg ihres Nachwuchses nutzen möchten. Darüber, wie Ärzte mit solchen Fällen umgehen, ist wenig bekannt. Die Diskussion um eine »Wunsch erfüllende Medizin« (Buyx, 2008) legt allerdings nahe, sie in der Versuchung zu sehen, zu schnell von den Diagnose- und Therapiestandards abzurücken. Mag sein, dass unterschiedliche ärztliche Professionen unterschiedlich anfällig sind. So ist einer US-amerikanischen Untersuchung zu entnehmen, dass sich Pädiater im Vergleich mit Kinder- und Jugendlichenpsychiatern ungleich schneller bereit finden, Kinder und Jugendliche mit einer AD(H)S-Diagnose medikamentös zu behandeln (Salmon u. Kemp, 2002).

Ritalin: Von der Therapie zum Enhancement Rekonstruiert man die Geschichte der AD(H)S-Diagnose (Rothenberger u. Neumärker, 2005; Reh, 2008), dann fällt auf, dass in gewisser Weise die Medikation der Diagnose vorausging. Bereits © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Mitte des 20. Jahrhunderts ist in den USA mit Methylphenidat experimentiert worden. Überhaupt sind die Jahre zwischen 1950 und 1960 eine erste Blütezeit der Psychopharmakologie gewesen, was sich an einer rasanten Vermehrung von Präparaten ablesen lässt, die damals auf den US-amerikanischen Markt kamen. Diese Präparate haben die Hoffnung begründet, nach und nach alle psychischen Krankheiten bessern, wenn nicht gar heilen zu können. Als Methylphenidat seine Zulassung unter dem Markennamen Ritalin erhält, wird es zunächst am häufigsten als Antidepressivum für Erwachsene eingesetzt. Eine überzeugende Indikation ist das aber nie gewesen. Dann entdeckt man, eher beiläufig, dass Ritalin, obgleich ein Psychostimulanz, die Wirkung hat, Kinder und Jugendliche, die unkonzentriert, impulsiv und hyperaktiv sind, zu »normalisieren«. Die Betroffenen haben zwar ganz verschiedene Diagnosen, alle reagieren aber annährend gleich auf das Medikament. Deshalb werden sie schließlich unter der Bezeichnung AD(H)S zu einer einzigen Diagnose zusammengefasst. Es trifft den Punkt, wenn Ritalin in diesem Zusammenhang als »Lackmustest« für AD(H)S beschrieben wird (Diller, 1998, S. 112): »Eine positive Reaktion [eines mit Ritalin behandelten Kindes] bedeutet, dass es ADHS ›hat‹.« Lange Zeit gilt dieses Verfahren als gültiger Beweis. Dessen Aussagekraft wird aber bereits Ende der 1960er Jahre erschüttert, als der Nachweis erfolgt, dass auch unauffällige Kinder und Jugendliche auf gleiche Weise von der Einnahme des Medikaments profitieren (Conners u. Eisenberg, 1963). Es folgt eine Reihe von Untersuchungen, die diesen Effekt bestätigen. Zu einer neuerlichen Dekonstruktion der Diagnose hat diese Erkenntnis aber nicht geführt. Im Gegenteil: Obgleich widerlegt, bleibt der Beweis weiterhin in Geltung und fördert Forschungen über die neurochemische Wirkung von Methylphenidat. Diese Forschungen bringen die – inzwischen ebenfalls modifizierte – Theorie eines Dopaminmangels auf (Hüther, 2008). Populär wird sie, weil sie den vermeintlichen Mangel an diesem Neurotransmitter nach dem Modell eines Insulinmangels erklärt, was für Laien eine hohe Evidenz hat und es ihnen als lebensbedrohlich erscheinen lässt, auf Ritalin zu verzichten.

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Soziokulturelle Unterschiede im Gebrauch von Ritalin Nimmt man an, dass alle Kinder und Jugendlichen, die Medikamente gegen eine AD(H)S einnehmen, den Standards entsprechend diagnostiziert und indiziert sind, dann müsste man, eingedenk genetischer Theorien der AD(H)S, geringfügige soziodemografische und nationale Unterschiede erwarten dürfen, es sei denn, man würde, was aber unhaltbar ist, verschiedene Genpools unterstellen. Die festgestellten Unterschiede sind aber alles andere als geringfügig, wofür es in den USA, der »Ritalin-Nation« (DeGrandpre, 1999) schlechthin, auf die 85 % des weltweiten Verbrauchs an Methylphenidat entfallen (UNINCB, 1999), gute Belege gibt. Zunächst lassen sich markante soziodemografische Unterschiede benennen (Olfson, Gameroff, Marcus u. Jensen, 2003). So wird in Hawaii nur ein Fünftel der Menge an Ritalin pro Kopf verbraucht, die in den Staaten mit dem höchsten Verbrauch, das sind die Staaten des mittleren Westens, zu Buche schlägt. Werden die Verbrauchszahlen nach Stadt und Land aufgeschlüsselt, sind Verschreibungen auf dem Land seltener als in der Stadt. Und ethnisch betrachtet, wird in afroamerikanischen oder hispanisch-amerikanischen Familien (Zito, Safer, dos Reis, Gardner, Boles u. Lynch, 2000; Buermeister, Canino, Bravo, Ramirez, Jensen, Chavez, 2003) nur die Hälfte der Menge verbraucht, die weiße Familien mit demselben ökonomischen Status verbrauchen. Alles in allem belegen die verfügbaren Statistiken eine Ritalin-Konzentration in der weißen städtischen mittleren und oberen Mittelschicht. Allerdings nimmt der Verbrauch auch in den unteren Schichten signifikant zu. Im Vergleich mit den USA gehörte Deutschland bislang zu den gemäßigten Ländern (UNINCB, 2005). Den neuesten Berichten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind jedoch unglaubliche Steigerungsraten zu entnehmen: So hat der Verbrauch zwischen 1993 und 2006 von 34 auf 1221 Kilogramm zugenommen (zit. n. Spiegel-online 22/2007). Eine solche Steigerungsrate lässt selbst dann, wenn man Unterversorgung in Rechnung stellt, kaum einen anderen Schluss zu als den, dass eine Ausweitung von Diagnose und/oder Indikation stattgefunden hat. Einzurechnen sind dabei auch Verordnungen für Kinder im Vorschulalter (Rappley, Mullen u. Alvarez, 1999; Kratochvil, Grenhill, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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March, Burke u. Vaughan, 2004). Zwar erachten viele Kliniker die Diagnostizierung einer AD(H)S zu einem so frühen Zeitpunkt als höchst problematisch (Sonuga-Barke, Daley u. Thompson, 2003), weil die normalen entwicklungspsychologischen Schwankungen von Aufmerksamkeit, Affektkontrolle und motorischer Aktivität erheblich sind (Sonuga-Barke, Auerbach, Campbell, Daley u. Thompson, 2005), die Grenzziehung ist aber alles andere als unantastbar. So wird berichtet, dass in den USA die Rate der Erstverschreibungen bei unter Fünfjährigen zwischen 2000 und 2003 um 50 % gestiegen ist (zit. n. Moynihan u. Cassels, 2005, S. 79). Auch in Deutschland wird man mit einem großen Dunkelfeld rechnen müssen. Gerade, wenn man einen hirnorganischen Erklärungsansatz favorisiert, ist aber maximale Vorsicht geboten. Denn die Neuroplastizität des menschlichen Gehirns ist in den ersten sechs Lebensjahren besonders ausgeprägt (Sterr, 2008). Welche Auswirkungen eine kontinuierliche Zufuhr von Methylphenidat auf die neuronale Entwicklung hat, bleibt ungewiss.

Enthemmung des Ritalingebrauchs Eine Ausweitung der Diagnose erfolgt schleichend über die Veränderung der Beobachtungskriterien, die der Symptomdiagnose zugrunde liegen. Verändern sich die Kriterien, zieht das eine Veränderung der Anzahl diagnostizierter Kinder und Jugendlicher nach sich. So stellt eine US-amerikanische Untersuchung fest, dass zwischen 1980 und 1987 die Kriterien so verschoben worden sind, dass 50 % der Kinder und Jugendlichen, die 1980 noch als unauffällig gelten duften, 1987 als gestört zu diagnostizieren waren (Searight u. McLaren, 1998). Eine vergleichbare Ausweitung der Diagnose findet eine deutsche Untersuchung: Zwischen 1980 und 1994 sind aufgrund veränderter Kriterien 60 % mehr AD(H)S-Diagnosen gestellt worden (Baumgaertel, Wolraich u. Dietrich, 1995). Aber es wird nicht nur die Diagnose ausgeweitet, gleichzeitig kommt eine Verschreibungspraxis für Psychostimulanzien in Gang, die sich von der Diagnose löst (LeFever, Dawson u. Morrow, 1999; Angold, Erkanli u. Egger, 2000). Zwar haben die Anstrengungen des Medizinsystems zugenommen, einer inflationäre Diagnostizierung der AD(H)S entgegenzuwirken, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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gleichzeitig muss aber auch mit gegenläufigen Interessen gerechnet werden. So ist der Pharmaindustrie an einer Ausweitung der Diagnose gelegen, weil das ihre Profite steigert. Um das zu erreichen, wird systematisch versucht, vor allem besorgte Eltern für eine Medikation ohne aufwendige Diagnostik und Therapieindikation zu gewinnen. Ihnen wird glauben gemacht, dass medikamentenkritische Stellungnahmen unverantwortlich seien, weil sie ihren Kindern die bestmögliche Behandlung verweigerten (Moynihan u. Cassels, 2005, Kap. 4). In einer der ersten Kritik der ausufernden Verschreibungspraxis von Ritalin, die eine öffentliche Debatte über diese Praxis anmahnt, zitiert der Autor (Maynard, 1970) einen Kinderarzt mit Worten, die etwas von dem moralischen Druck ahnen lassen, unter die man die Eltern setzen will: »Wir wissen, dass diese Kinder erfolgreich werden. Sie gewinnen mehr Selbstvertrauen. […] Sie sind definitiv glcklicher. Eine meiner Mtter kam von einem Meeting nach Hause und fand die Hausaufgaben ihres Kindes auf dem Tisch vor. Und das Kind hatte einen Zettel geschrieben, auf dem stand: ›Ich danke Dir Mutter, ich fhle mich sehr viel glcklicher‹.«

Diese Szene, die der Arzt beschreibt, ist wie aus der Pharmawerbung und stammt vielleicht auch daher. Sie unterstellt eine harmonische Konvergenz zwischen den Wünschen der Kinder und den Interessen der Erwachsenen, die aber gerade nicht vorausgesetzt werden kann (zu Unterschieden in der Symptomwahrnehmung: Klassen, Miller u. Fine, 2006; und in der wahrgenommenen Medikamentenwirkung: Efron, Jarman u. Baker, 1998; McNeal, Roberts u. Barone, 2000). Denn primär sind es die Erwachsenen, die ein bestimmtes Verhalten der Kinder als nicht tolerierbar definieren, und nicht die Kinder. Zudem lehnen sie eine medikamentöse Behandlung spontan eher ab, selbst dann, wenn sie ansonsten auch mit den Behandlungszielen ihrer Eltern übereinstimmen (Traywick, Lamson, Diamond u. Carawan, 2006; Sleator, Ullmann u. von Neumann, 1982). Wie selbstverständlich stehen in der beschriebenen Szene eine Mutter und ihr Sohn im Mittelpunkt. Es sind die Mütter, an die sich die Pharmawerbung wendet. Und auch in der Fachliteratur kommen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Väter so gut wie nicht vor. – »Ist schon das Kind als ›Patient‹ vorbestimmt, dessen Mutter sich wegen seines Verhaltens sorgt, das eine Normtabelle als durchschnittlich bestimmt?« (Eisenberg, 1971, S. 374). Auch in dieser empört tönenden rhetorischen Frage findet die weitgehend unreflektierte Erfahrung ihren Niederschlag, dass es innerhalb der Familie die Mutter ist, der die gesellschaftliche Anpassung ihrer Kinder obliegt und damit auch das Monitoring der Medikamente, die dieser Anpassung dienen (Singh, 2004). Zumindest für die USA gibt es Hinweise, dass der Siegszug von Ritalin zur Medikation von unaufmerksamen, impulsiven und hyperaktiven Kindern und Jugendlichen auch etwas mit dem eigenen Medikamentengebrauch der Frauen zu tun gehabt hat. Denn bevor Ritalin in den USA zu einem AD(H)S-Medikament geworden ist, sind bereits zahllose US-Amerikanerinnen daran gewöhnt gewesen, Antidepressiva zur alltäglichen Stimmungsaufhellung einzunehmen, darunter auch Ritalin, das ja zunächst als Antidepressivum galt. Folglich mag es sein, dass Mütter, »selbst daran gewöhnt, Psychopharmaka bei vergleichsweise gewöhnlichen Probleme zu gebrauchen, sich leichter damit getan haben, Ritalin für die Probleme ihrer Söhne zu akzeptieren« (Singh, 2002, S. 592).

Psychopharmaka in der Erwachsenenkultur Die Bereitschaft, »gestörte« Kinder und Jugendliche psychopharmakologisch zu therapieren oder Psychopharmaka für ein Leistungssteigerung »normaler« Kinder und Jugendlicher einzusetzen, hängt nicht zuletzt von der Praxis ab, die in der jeweiligen Erwachsenenkultur besteht, Psychopharmaka als Enhancement (Juengst, 1998) zu gebrauchen (Hoberman, 2008). Für Deutschland hat in diesem Zusammenhang der DAK-Gesundheitsreport 2009 interessante Daten vorgelegt (DAK, 2009). Der Report geht der Frage nach, ob zutrifft, was in den Massenmedien bereits als gegeben behauptet wird: Dass immer mehr Arbeitnehmer/-innen verschreibungspflichtige Psychopharmaka einnehmen, nicht aus therapeutischen Gründen, sondern weil sie eine Steigerung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und damit eine Verbesserung ihrer beruflichen Erfolgsaussichten erwarten. Der Report © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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spricht von einem »Doping am Arbeitsplatz«. Um eine empirisch fundierte Antwort auf diese Frage zu geben, hat die DAK Arzneimitteldaten ausgewertet, Experten befragt und Einstellungen in der Bevölkerung ermittelt. Die gute Nachricht zuerst: Insgesamt betrachtet stützen die Befunde nicht die Annahme, dass psychopharmakologisches Enhancement bereits ein weit verbreiteter Tatbestand wäre. Es sind 1 – 5 % der Erwerbstätigen im Alter von zwanzig bis fünfzig Jahren, die sich nach eigenen Angaben auf verschiedenen Wegen die entsprechenden Medikamente besorgen, um sie als Enhancer einzusetzen. Dagegen die schlechte Nachricht: Nahezu jeder Fünfte nennt mindestens eine Person, die derart handelt, was im Vergleich mit den Selbstaussagen ein ungleich größeres Dunkelfeld vermuten lässt. Immerhin sagt auch mehr als jeder Fünfte von sich, er habe die Erfahrung gemacht, dass ihm von Familienmitgliedern oder Kolleg/-innen schon einmal empfohlen worden sei, seine kognitiven Leistungen auf diese Weise zu steigern. So gesehen mag die soziale Akzeptanz für die Einnahme psychopharmakologischer Enhancer größer sein als die Bereitschaft, sie tatsächlich einzusetzen. Dafür spricht auch die weit verbreitete Meinung, die entsprechenden Medikamente seien nicht sicher genug. Im Umkehrschluss könnte das heißen, dass die Verringerung oder Maskierung von unerwünschten Nebenwirkungen die Medikationsbereitschaft erhöht. Da die Pharmaindustrie daran arbeitet, Medikamente zu produzieren, die sich wie Nahrungsergänzungsmittel konsumieren lassen, ist mit einem weiteren Anstieg von Erwerbstätigen zu rechnen, die sich nicht länger nur auf ihre individuellen Fähigkeiten verlassen – zumindest solange nicht, wie der Konkurrenzdruck unter ihnen weiter steigt. Eine solche Steigerung hält der Report aber für wahrscheinlich und kritisiert den daraus resultierenden erzwungenen Raubbau der Erwerbstätigen an ihrer Gesundheit mit ungewöhnlich scharfen Worten. Denn die als Enhancer eingesetzten Anxiolytika (44 %), Antidepressiva (35 %) und Psychostimulanzien (13 %) sind vor allem bei langfristiger Einnahme niemals frei von unerwünschten Nebenwirkungen, und sei es nur die unerwünschte Nebenwirkung, die Abhängigkeit von einem Medikament in ein Selbstbild autonomer Lebensführung, wie sie die moderne Gesellschaft als Ideal vorgibt, integrieren zu müssen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Psychostimulanzien als Konkurrenzvorteil Wenn Erwachsene »Mind-Doping« betreiben, um im Konkurrenzkampf bessere Chancen zu haben, ist mit ähnlichen Effekten auch bei Heranwachsenden zu rechnen, zumal dann, wenn Kindheit und Jugend nicht länger Schutzräume und Moratorien sind, sondern immer mehr Kinder und Jugendliche unter einem vergleichbaren Leistungsdruck stehen wie ihre Eltern. So hatten in einer US-amerikanischen Untersuchung (McCabe, Knight, Teter u. Wechsler, 2005), an der über 10.000 Studierende an 119 Colleges teilnahmen, 4,1 % der Studierenden im letzten Jahr und 2,1 % der Studierenden im letzten Monat nach eigenen Angaben verschreibungspflichtige Psychostimulanzien eingenommen, ohne dafür eine medizinische Indikation zu haben. Mehr noch: Der Gebrauch der Stimulanzien als psychopharmakologische Enhancer variiert mit der Wettbewerbsorientierung, die in den Herkunftsmilieus der Studierenden besteht: So geben 1,3 % der Studierenden aus wenig kompetitiven Milieus, 4,5 % der Studierenden aus durchschnittlich kompetitiven Milieus und 5,9 % der Studierenden aus sehr kompetitiven Milieus an, zu entsprechenden Medikamenten gegriffen zu haben. Dieser Befund unterstreicht die Befürchtungen des referierten DAK-Gesundheitsreports: Eine Verbreitung der Wettbewerbsorientierung könnte die Hemmschwelle senken, sich psychopharmakologischer Enhancer als Konkurrenzvorteil zu bedienen. Tritt diese Situation ein, ist über kurz oder lang mit einem indirekten Enhancement-Zwang zu rechnen: Wer mithalten will, muss »Mind-Doping« betreiben. Schärfer formuliert: Nicht nur diejenigen, die einen Konkurrenzvorteil anstreben, müssen »dopen«, sondern bereits diejenigen, die sich vor einem Konkurrenznachteil zu schützen suchen. Unterstellt, dass es keinen psychopharmakologischen Enhancer gibt, der ohne negative Nebenwirkungen ist, dann entsteht auf diese Weise die ethisch kaum legitimierbare gesellschaftliche Nötigung, sich selbst mehr oder weniger gravierend zu schädigen.

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Erfolgserwartungen Die Verschiebung einer Einnahme von Psychostimulanzien aus dem Bereich der Therapie in den Bereich des psychopharmakologischen Enhancements wird nicht zuletzt durch Leistungsversprechen begünstigt. Anders als in Europa werden solche Versprechen in den USA sehr viel expliziter formuliert. So kann man in entsprechenden Sachbüchern lesen, dass Ritalin die geistige Leistung von CollegeAnwärtern so weit verbessere, dass auch viele von denen, die die Aufnahmetests ansonsten nicht bestehen würden, diese Hürde problemlos nehmen (Gazzaniga, 2005). In Anbetracht der Vollmundigkeit solcher Versprechen wären wissenschaftliche Untersuchungen zu erwarten, die sie stützen. Die aber fehlen. Dennoch lassen sich Wirkungserwartungen feststellen, die dazu führen können, sich eine Medikation zu erschleichen, indem etwa interessierte Studierende die bekannten AD(H)S-Symptome zu simulieren versuchen und damit, wie eine kanadische Untersuchung zeigt (Harrison, Edwards u. Parker, 2007), selbst Experten ziemliches Kopfzerbrechen bereiten. Ob und unter welchen Bedingungen die Einnahme von Ritalin tatsächlich zu einer Verbesserung kognitiver Leistungen führt, ist eine offene Frage. So gibt es Untersuchungen, die belegen, dass die Verabreichung von Methylphenidat zwar nicht die kognitiven Leistungen steigert, aber diejenigen, die das Medikament eingenommen haben, glauben lässt, ihre Leistungen hätten sich verbessert (Bray, Cahill, Oshier, Peden, Theriaque, Flotte u. Stacpoole, 2004). Eine solche Fehlwahrnehmung mag unterschiedliche Folgen haben: Man vertraut der Substanz und übersieht, dass sie nur die Möglichkeit verbessert, eine bessere Leistung zu erbringen, ohne sich aber für die Realisierung dieser Möglichkeit anzustrengen, was zu keiner verbesserten Leitung führt. Oder aber die Überschätzung erzeugt einen Motivationsschub, der dann tatsächlich zu einer besseren Leistung führt. Skepsis ist auch angebracht, wenn es um den schulischen Erfolg geht, der medikamentös herbeigeführt werden soll. Eine groß angelegte Untersuchung (Barbaresi, Kabuic, Coligan u. Weaver, 2007) bestätigt dies. Die Kinder in dieser Untersuchung haben die Medikamente im Durchschnitt fast drei Jahre eingenommen. Die medikamentös behandelten Kinder schneiden in Lesetests etwas besser ab als Kinder mit einer nicht behandelten AD(H)S. Ihre Fehlzeiten sind © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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geringer, ebenso ihr Risiko, eine Klasse wiederholen zu müssen. Der Einfluss auf den Schulabschluss ist geringfügig. Die Abbruchquote liegt bei den medikamentös behandelten Kindern mit 22,2 % nur wenig niedriger als bei den unbehandelten Kindern, von denen es 25,8 % nicht geschafft haben. Verglichen mit den 10 % Abbrechern der Kinder ohne eine AD(H)S fällt der schulische Erfolg durch Medikation also recht bescheiden aus. Wenn von Erfolgen berichtet wird, dann sind die eher kurzfristig und betreffen eher die Noten als die kognitiven Fähigkeiten (Walter, 2001). Denn Noten haben einen mehrdimensionalen Entstehungshintergrund. Wenn ein Lehrer weiß, dass ein schwacher Schüler – vielleicht auf seine Intervention hin – ärztlich untersucht wird, die AD(H)S-Diagnose erhält und Ritalin einnimmt, mag allein dieses Wissen den – vorübergehenden – Effekt haben, den Schüler anders zu behandeln und ihn mit besseren Noten zu belohnen – zum Beispiel dafür zu belohnen, dass er dem Lehrer weniger auf die Nerven geht als zuvor.

Risiken und Nebenwirkungen Obgleich Ritalin zum Symbol der Kontroverse um die medikamentöse Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einer wie auch immer den Standards entsprechenden AD(H)S-Diagnose geworden ist, hat die psychopharmakologische Forschung inzwischen eine ganze Reihe funktional äquivalenter Medikamente zu bieten (Breggin, 1999; Banaschewski, Coghill, Santosh, Zuddas, Asherson, Buitelaar, Danckaerts, Döpfner, Faraone, Rothenberger, Sergeant, Steinhausen, Sonuga-Barke u. Tylor, 2008a, b). Zwei Ziele lassen sich ausmachen: Zum einen geht es darum, Medikamente mit immer geringeren Nebenwirkungen zu entwickeln, zum anderen um die Entwicklung von Medikamenten mit einer lang anhaltenden Wirkung pro Einnahme. Berichtete Nebenwirkungen reichen von Appetitlosigkeit über Wachstumsstörungen bis hin zu plötzlichen kardiovaskulären Todesfällen. Je intensiver Prüfungen von der medizinischen Forschung zur Unbedenklichkeit eines potenten Wirkstoffes durchgeführt werden, desto mehr Nebenwirkungen findet sie, über die dann die Me© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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dien umgehend berichten. Was fangen Eltern damit an, wenn sie lesen, dass neuesten Studien zufolge bei der Behandlung mit Psychostimulanzien mit einem Auftreten von Halluzinationen zu rechnen ist oder Ritalin nach nur dreimonatiger Behandlung zu einer Häufung von Chromosomenschäden in Blutzellen geführt hat? Systematisch sind derartige Zusammenhänge nicht erforscht. Gelegenheitsbeobachtungen lassen aber vermuten, dass sich gerade für die bestens informierten Eltern immer wieder neue Anlässe für Bedenken ergeben können. Zudem greift eine Konzentration auf die Nebenwirkungen, die der Beipackzettel auflistet, zu kurz. Streng genommen gehören auch alle nicht intendierten psychosozialen Auswirkungen der Medikation dazu. Angenommen, die Einnahme des Medikaments führt bei einem Kind zu einer Steigerung seiner kognitiven Leistungen, es schreibt sich diese Steigerung aber nicht selbst zu, sondern dem Medikament; oder angenommen, die tägliche Einnahme des Medikaments wird zu einem Kampf der Eltern mit ihrem Kind, der allen Beteiligten an die Nerven geht; oder angenommen, ein Kind schämt sich vor seinen Freunden dafür, dass es das Medikament nehmen muss, und hat ständig Angst, die anderen erfahren davon: Solche Belastungen gehen in die Risikokalkulation eines Medikaments erst gar nicht ein.

Konfliktreiche Selbstmedikation Jedes Medikament hat bestimmte Auswirkungen auf die Gestaltung des familiären Lebens, weil Kinder und Eltern lernen müssen, ihre aktuellen Handlungspläne mit dieser Wirkungsweise abzugleichen: So wirkt Ritalin in seiner häufigsten Verabreichungsform nach dreißig bis sechzig Minuten und dann für drei bis vier Stunden. Es muss also mehrmals am Tag eingenommen werden. Üblicherweise erhalten die Kinder das Medikament am Morgen, zur Mittagszeit und am Spätnachmittag. Andere Verabreichungsformen werden einmal pro Tag für eine Wirkungsdauer von acht bis zwölf Stunden gegeben. Der Nachteil solcher Retard-Präparate ist ein schwer kalkulierbares Nachlassen der Wirkung, das sich nur durch eine exakte individuelle Einstellung der Medikation wettmachen lässt. Um sicher zu gehen, verabreichen manche Eltern ihrem Kind nachmittags eine zusätzliche © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Dosis mit Kurzzeitwirkung, allerdings auf die Gefahr hin, dass es dann nicht einschlafen kann. Gleiches kommt vor, wenn sie ihr Kind auf eine besondere Situation vorbereiten, in der es sich unter allen Umständen »normal« verhalten soll. Denn lässt die Wirkung unkalkuliert nach, können unliebsame Rebound-Effekte auftreten. Da Ritalin als Kurzzeitpräparat mehrmals am Tag eingenommen werden muss, ergibt sich auch mehrmals am Tag in der Familie eine Situation, die an die Behandlungsbedürftigkeit des Kindes erinnert. Wenn empfohlen wird, die Verabreichung zu ritualisieren, dann vorderhand, um das Risiko zu senken, die Einnahme des Medikaments zu vergessen. Gleichzeitig sorgt eine Ritualisierung aber dafür, dass die Einnahme selbstverständlich und damit dem Bewusstsein entzogen wird. Vor allem in Familien, in denen keine Einigkeit über die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung besteht, ist jede Einnahme ein kritisches Ereignis, an dem bestehende Ambivalenzen offen sichtbar werden können. Wenn die Pharmaindustrie an der Erfindung von Langzeitpräparaten arbeitet, deren Ultima Ratio ein Depot mit einer zeitlich nicht begrenzten Abgabe des Wirkstoffes ist, arbeitet sie auch an der Beseitigung der Möglichkeit, die einmal getroffene Entscheidung täglich zu überprüfen. Dass die Medikation aus einer Entscheidung resultiert, die prinzipiell anders ausfallen kann, wird auf diese Weise unsichtbar. So sind denn unter den – gut 10 % – Kindern, die in einer Untersuchung (Bowen, Fenton u. Rappaport, 1991) das Medikament am liebsten absetzen würden, ausschließlich solche, die ein Kurzzeit- und kein Langzeitpräparat erhalten. Selbstmedikation ist üblich (Kauffman, Smith-Wright, Reese, Simpson u. Jones, 1981; Swanson, 2003; Wilens, Gignac, Sweezey, Monuteaux u. Biederman, 2006). Diskreditiert man sie nicht sofort als irrationales Verhalten, mit dem ein Patient mehr oder weniger bewusst von den Verordnungen seines Arztes abweicht, was er besser nicht getan hätte, sondern als notwendige Anpassung einer Verordnung an das Alltagsleben des Patienten, von dem sein Arzt in der Regel nichts oder zu wenig weiß, dann hat sie ihre eigene Rationalität, die nicht selten emotional fundiert ist (Singh, 2005): So gibt es Eltern, die an Wochenenden und während der Schulferien die Dosis verringern oder das Medikament sogar ganz absetzen. Warum tun sie das? Es mag in manchen Fällen ein Ausdruck von Verunsicherung, wenn nicht gar © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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von Schuldgefühlen sein, dass sie ihren Kindern eine Behandlung zumuten, deren vor allem langfristige Risiken sie nicht wirklich abschätzen können. In anderen Fällen mag es eine Strategie anzeigen, die Medikation auf eine Verbesserung der schulischen Disziplin und damit schulischer Leistungen zu begrenzen. Wie auch immer: Ein Medikament, von dem sich die Kinder ab und an »erholen« sollen, ist sicherlich keines, das ambivalenzfrei erlebt wird. Folglich verwundert es nicht, wenn Eltern von Kindern mit einer AD(H)S-Diagnose in einer Interviewstudie (Hansen u. Hansen, 2006) von sich aus vorrangig ihre alltäglichen Dilemmata thematisieren, in die sie ihr Medikamenten-Monitoring stürzt. Ärztliche Aufklärung über das Pro und Kontra einer medikamentösen Behandlung kann dabei eine gute Entscheidungshilfe sein (Bennet, Power, Rostain u. Carr, 1996), die elterliche Verantwortung schmälert sie nicht.

Ritalin als Materialisierung bewusster und unbewusster Beziehungsvorstellungen Behandlungen mit Psychopharmaka unterliegen nicht selten einem objektivistischen Vorurteil, und das gleichermaßen bei allen Beteiligten, bei Ärzten ebenso wie bei Patienten und ihren Angehörigen: Das Medikament ist eine chemische Substanz, die auf den Organismus einwirkt und dessen Fehlfunktionen korrigiert; sein Erfolg oder Misserfolg hängt vermeintlich von nichts anderem ab, als von der Wirkung der verwendeten Substanz. Dass ein Medikament immer Teil einer sozialen Situation ist, bedarf so gesehen keiner weiteren Berücksichtigung. Freilich findet jede Medikation im Rahmen einer bestimmten Beziehungskonstellation statt: Ein Arzt verordnet es einem Patienten, damit der es einnimmt; der nimmt es ein – oder auch nicht. Gehört eine Verordnung in den Kontext einer professionellen Beziehung, in der sich ein Experte, der Arzt, und ein Laie, der Patient, in mehr oder weniger großen zeitlichen Abständen begegnen, findet die Einnahme des Medikaments unter den alltäglichen Lebensbedingungen des Patienten und seiner Angehörigen, mithin im Kontext einer Beziehung von Laien statt, die durchaus eigensinnig auf »Verordnungen« reagieren. Die Verordnung und Einnahme von Psychopharmaka ist immer © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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ein kommunikativer Akt. Das Medikament wirkt eben nicht nur als chemische Substanz, sondern auch als Bedeutungsträger. Es bedarf deshalb einer beziehungsdynamisch reflektierten Psychopharmakologie, die sich besonders für die Gedanken, Vorstellungen, Phantasien und Gefühle interessiert, die eine psychopharmakologische Behandlung hervorruft (Küchenhoff, 2005). Denn sie beeinflussen die Handhabung des Medikaments, vielleicht sogar seine Wirkung. Wird Ritalin als Bedeutungsträger verstanden, dann kommt es darauf an, welche Bedeutung das Medikament im Einzelfall hat, wobei damit zu rechnen ist, dass nicht alle Bedeutungen offen zu Tage liegen, sondern auch mit bewusstseinsferneren Bedeutungen zu rechnen ist. So kann einem Kind seine psychopharmakologische Behandlung nicht nur bedeuten, dass ihm die Erwachsenen helfen wollen, sich besser zu fühlen. Unter Umständen erlebt es den Gang zum Arzt, nachdem es zum wiederholten Male seinen Eltern großen Ärger gemacht hat, als Bestrafung. Oder es erlebt das Medikament von vornherein als Instrument zur Erreichung äußerer Ziele, wenn es die schlechten Noten sind, die bei der Begründung der Einnahme im Vordergrund stehen. Die Chance, solche Bedeutungen zu erfassen, haben die Erwachsenen, seien es Ärzte oder Eltern, freilich nur dann, wenn sie die Kinder von vornherein zu Wort kommen lassen, ihnen zuhören und sie ernst nehmen. Es ist geboten, ein betroffenes Kind über seine Diagnose und Therapie aufzuklären – es soll wissen, warum es die Erwachsenen für behandlungsbedürftig halten, warum die Behandlung medikamentös erfolgt, wie die Medikamente wirken und wie sie verantwortungsbewusst zu handhaben sind. Eine solche Aufklärung benötigt Zeit, um sie kindgerecht durchzuführen, weil sie den Bedeutungen folgen muss, die das Kind all dem zuschreibt, wie phantastisch sie den Erwachsenen auch vorkommen mögen. Nun ist eine Beteiligung der Kinder an allen Entscheidungen, die sie betreffen, wie sie die UN-Kinderrechtskonvention vorsieht, freilich leichter gefordert als angemessen realisiert. Denn sofort stellt sich die Frage, ob Kinder denn überhaupt in der Lage sind, zu beurteilen, was ihnen gegenwärtig und für ihre weitere Entwicklung gut tut und was nicht. Oder modifiziert: Ab welchem Alter und ab welchem Informationstand sind sie es? Solange Erwachsene, Ärzte und Eltern, es besser wissen, gebietet es ihnen ihre professionelle oder persönliche © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Fürsorgepflicht, stellvertretende Entscheidungen für die Kinder zu treffen, um Schaden von ihnen abzuwenden, auch wenn die Kinder selbst diese Entscheidungen nur widerwillig oder gar nicht akzeptieren. Kinder an den Entscheidungen zu beteiligen, heißt jedoch nicht, sie ihnen zu überlassen, solange sie damit überfordert sind. Nur darf das Argument der Überforderung den Erwachsenen nicht dazu dienen, sich von vornherein einen zeitaufwändigen Verständigungsprozess zu ersparen. Gelegenheitsbeobachtungen aber lassen vermuten, dass dies oft geschieht – nicht zuletzt deshalb, weil eine Verständigung die Erwachsenen überfordert. Besonders Eltern sind schnell überfordert, weil sie wissen oder zumindest ahnen, dass hinter vermeintlich pragmatischen Entscheidungen moralische Dilemmata lauern.

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»Ha, jetzt stell ich die Fragen!« Beziehungsdynamik in der Interviewführung mit Kindern

»Darüber möchte ich nicht reden« antwortet der zwölfjährige Erik an drei Stellen des Interviews. Zudem gebraucht er zahlreiche Wendungen der Antwortverweigerung. Erik ist kein Einzelfall. In vielen der sechzig Interviews wurden die Interviewer mit dem Problem der Antwortverweigerung konfrontiert. Es finden sich Wendungen wie »Ich weiß nicht«, »Das möchte ich nicht sagen«, »Das fragst du besser meine Mutter« oder »Das Thema verweigere ich« (vgl. Haubl u. Liebsch, 2009). Eine zweite Gruppe typischer Schwierigkeiten sind aggressive Antworten. Beispielsweise droht der neunjährige Bruno der Interviewerin »Noch so ein falsches Wort und ich werde wütend«, weil sie anstelle des Terminus »Kapsel« fälschlicherweise den der »Tablette« verwendet. Ein weiteres Beispiel ist der neunjährige Sylvester, der aufgrund seiner Wortkargheit gefragt wird, wie sich die Veränderung durch die Tabletteneinnahme konkret bemerkbar mache. In genervter Tonlage widersetzt er sich mit den Worten »Das habe ich Ihnen schon tausendmal gesagt«. Dann wiederum gibt es auch Passagen, in denen die Kinder den Interviewern im Sinne der sozialen Erwünschtheit nach dem Mund reden. Zum Teil ändern sie mehrmals ihre Meinung, sobald der Interviewer als Reaktion auf das kindliche Schweigen verschiedene Antworten vorschlägt. Dies verdeutlicht eine Sequenz aus dem Interview mit dem siebenjährigen Kurt: I: »Und meinst du, dass du die Tablette lange Zeit noch nehmen musst?« K: »Ja.« I: »Wie lange?« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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K: »Weiß ich nicht, hat mir noch nicht meine Mama erzhlt.« I: »Was wrdest du denken?« K: »Hm? (3) Ich weiß nicht, wie lange ich die Tablette noch-« I: (unterbricht) »So fnf Jahre?« K: »Ja, ich glaube schon, fnf Jahre.« I: »Oder immer?« K: »Ich glaube, immer.«

Kurt kann die Frage nach der Dauer der Medikation nicht beantworten und verweist auf seine Mutter. Die Interviewerin bietet ihm daraufhin zuerst fünf Jahre, dann eine dauerhafte Medikamenteneinnahme als Antwortalternativen an. Kurt, der sich im gesamten Interview stark an der Interviewerin orientiert, stimmt der ersten und sodann der zweiten Antwort zu. Kurt hat keine eigene Meinung zur Dauer der Medikation oder er vermag sie nicht zu äußern. Stattdessen sucht er Halt bei den Entscheidungen der Erwachsenen. Da seine Mutter im Interview nicht verfügbar ist, hält er sich an die Interviewerin. Das Problem der sozialen Erwünschtheit wird innerhalb der Kindheitsforschung aufgrund seines häufigeren Auftretens gegenüber der Erwachsenenforschung breit diskutiert. Die Erklärung für diesen Unterschied liegt nahe: Kinder nehmen den Forscher weit mehr als eine Autoritätsperson wahr, so der Soziologe Rudolf Richter (1997). Dabei wirken vor allem die Vorbereitungen der Kinder auf die meist in Institutionen stattfindenden Erhebungen durch die Betreuungspersonen in Richtung sozial erwünschter Antworten (Richter, 1997). Zudem hingen die Meinungen der Kinder stark von situationalen Faktoren ab und könnten sich rasch ändern, was man an Kurts Beispiel sieht. Ganz ähnlich erklärt Ines Graudenz (1975), die Fünf- und Sechsjährige mündlich befragte, dass Kinder ihre grundsätzliche Abhängigkeit von Erwachsenen auf die Interviewsituation übertragen, was Angst vor negativen Konsequenzen entstehen lässt. In der Folge geben Kinder Antworten, die der Interviewer gerne hört und die straffrei bleiben. Obgleich man heute, mehr als dreißig Jahre später, weniger autoritäre Generationenbeziehungen annehmen mag, treffen Graudenz’ Beobachtungen auf einige der im Rahmen unseres Forschungsprojekts entstandenen Interviewsituationen zwischen Kindern und Erwachsenen zu. Die Kinder scheinen den Interviewer zu© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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nächst als Lehrer oder Elternteil zu repräsentieren, wobei sich diese Repräsentanzen schwer verändern lassen. Die These der Lehrerrepräsentanz belegt auch der Erziehungs- und Kulturwissenschaftler Burkhardt Fuhs (1999, (S. 159). Ein Junge machte ihm beispielsweise das Kompliment, »daß er nicht viele Lehrer in der Schule habe, die so nett seien wie [er]«, oder ein Mädchen wollte wissen, »welche ›Aufgaben‹ es im Interview lösen solle«. Zu den genannten Schwierigkeiten des Nicht-antworten-Könnens oder -Wollens, des aggressiven Rollenaushandelns und der Überangepasstheit im Sinne der sozialen Erwünschtheit kommt eine weitere Erschwernis hinzu: Die Missverständnisse zwischen den interviewten Kindern und den erwachsenen Interviewern. Sie beinhalten weiteres Konfliktpotenzial und liefern für die Interpretation der Interaktionsdynamik im Interview einen aufschlussreichen Anknüpfungspunkt (vgl. Haubl u. Liebsch, 2009). Kinder, die sich in den Interviews von den erwachsenen Interviewern nicht verstanden fühlen, reagieren sehr unterschiedlich: vom enttäuschten Sich-Zurückziehen über die geduldige Erklärung der kindlichen Erfahrungswelt bis hin zu Kritiken an den erwachsenen Interviewern. Angesichts dieses Befundes erstaunt es, dass im Bereich der qualitativen Kindheitsforschung bisher kaum systematische Untersuchungen von Missverständnissen im Rahmen einer Interviewsituation vorliegen. Nichtsdestotrotz thematisieren einige Autoren die Problematik und entwickeln auf der Folie ihres wissenschaftstheoretischen Hintergrundes stark differierende Erklärungen. Entwicklungspsychologisch orientierte Forscher führen Missverständnisse größtenteils auf die von Erwachsenen differierenden sprachlich-kognitiven Fähigkeiten der Kinder zurück (z. B. Petermann u. Windmann, 1993). Hingegen sehen sozialwissenschaftlich orientierte Autoren die Ursachen der Missverständnisse eher in der Differenz einer Kinder- und einer Erwachsenenkultur (z. B. Fuhs, 1999). In der letzteren Perspektive deckt sich die Rolle des Forschers mit der des Anthropologen, der sich den Kindern wie den Mitgliedern einer fremden Kultur annähern soll (Richter, 1997). Wenn sich der Erwachsene nicht geduldig auf dieses Unterfangen einlässt, muss er sich die Frage gefallen lassen, ob qualitative Interviews mit Kindern nicht zu schwierig für ihn sind. Vor allem deshalb, weil er auf diese Weise Gefahr läuft, schweigsames, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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aggressives und sozial erwünschtes Antwortverhalten oder auch Missverständnisse hervorzubringen. Zumeist aber werden die ausgewählten Schwierigkeiten als von den Kindern verursacht angesehen. Das mag ein Grund dafür sein, weshalb das qualitative Interview mit Kindern gegenüber dessen Einsatz in der Erwachsenenforschung eine relativ junge Methode ist. Für den methodisch unkundigen Leser sei an dieser Stelle ein kurzer Exkurs über den Sammelbegriff qualitative Sozialforschung eingefügt. Qualitative Sozialforschung grenzt sich gegenüber der quantitativen Sozialforschung durch ihre besondere Erkenntnishaltung ab. Nach dem Prinzip des Verstehens erforscht sie subjektive Bedeutungsstrukturen von Untersuchungsteilnehmern, soziale und kulturelle Regeln in bestimmten Situationen oder deren Abläufe (Flick, 2007). Das ist zum Großteil möglich durch das Prinzip der Offenheit, das heißt, indem der Forscher nicht mit Vorannahmen ins Feld zieht und diese überprüft. Zum anderen lassen sich die Fragen nach der Konstruktion und Rekonstruktion von Wirklichkeit durch das Prinzip der Kommunikativität beantworten, das heißt einer Wechselbeziehung zwischen Forscher und Untersuchungsperson, die darauf zielt, Verständnis und Vertrauen herzustellen (Richter, 1997; vgl. auch Lamnek, 1995). Mit diesem Anspruch sollte das qualitative Interview die Methode der Wahl sein, um die subjektiven Sichtweisen von Kindern zu erforschen. Das war sie jedoch lange nicht, da der Stand und die Notwendigkeit von qualitativen Interviews mit Kindern nur zögerlich zum Gegenstand methodisch-methodologischer Auseinandersetzungen wurden. Die qualitative Methode im Bereich der Kindheitsforschung etablierte sich, abgesehen von einzelnen Vorreitern, frühestens ab den 1980er Jahren (vgl. Grunert u. Krüger, 2006). Innerhalb des deutschen Sprachraumes entstanden im April 1998 im Rahmen einer Tagung des Deutschen Jugendinstituts unter dem Titel »Aus der Perspektive von Kindern« zwei Grundlagenbände zur Methodologie und zu Methoden der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung (Heinzel, 2000; Honig, Lange u. Leu, 1999), in denen das qualitative Interview als eine adäquate Methode der Kindheitsforschung Beachtung fand. Fuhs (2000) kritisiert darin, dass der Methodendarstellung im Bereich der Interviews mit Kindern zu wenig Bedeutung beigemessen wurde, die Methoden zu wenig systematisch reflektiert © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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und die Erfahrungen mit ihnen kaum publiziert worden seien. Er erstellt daher eine erste Systematik von Interviews entlang der Art des Erinnerns von »situationsnahe[n] Interviewformen« (S. 94) bis zu »biografische[n] Interviews« (S. 98). Eine solche Einteilung ist jedoch obsolet, da beispielsweise in einem Leitfadeninterview verschiedene Erinnerungs- und Erzählkompetenzen abgerufen werden (vgl. Mey, 2001). Zwar fordert Fuhs (2000) eine Klassifizierung der Interviewformen weg von der Methodeneinteilung der Erwachsenen hin zur Berücksichtigung der beteiligten Kinder. Streng genommen reiht er sich aber mit seinem Rückgriff auf entwicklungspsychologische Maßstäbe wie kognitive Fähigkeiten und Sprachkenntnisse in eine Gruppe von Methodikern ein, die der Ansicht sind, mit Kindern könne man bestenfalls begrenzt qualitative Interviews führen. Denn nach Heinzel (1997) sind entwicklungspsychologische Befunde der häufigste Einwand gegen den Einsatz qualitativer Interviews bei Kindern. Unter anderem deshalb, weil Kinder ihre innere Welt noch nicht reflektieren und verbalisieren können (Heinzel, 1997). Allerdings gehen die Meinungen zum Mindestalter für den Einsatz qualitativer Interviews weit auseinander. Das Intervall der unteren Altersgrenze reicht von fünf bis zu zehn Jahren (vgl. z. B. Grunert u. Krüger, 2006; Heinzel, 1997; Keddi, Klinkhammer u. Sandmeir, 2008; Richter, 1997; Petermann u. Windmann, 1993). Diese Diskrepanz weist darauf hin, wie sehr anstelle einer einheitlichen Altersgrenze eine Einstimmung auf das individuelle Kind und sein Entwicklungsniveau vonnöten ist. Vor allem, weil andere Einflussfaktoren wie die Forschungsfrage, der soziale oder kulturelle Kontext gute Gründe sind, das Alter bei der Arbeit mit Kindern zu ignorieren (Solberg, 1996). Darüber hinaus wirft eine zeitgemäße generationenübergreifende Perspektive, die Kinder als soziale Akteure mit eigenen Stimmen und eigenen Rechten versteht (z. B. Honig 1996; Kelle u. Breidenstein, 1996; Liebel, 2007; Lipski, 1998; Zeiher, 1996), die Frage auf, ob die entwicklungspsychologische Argumentationslinie der Erwachsenen eine Art Selbstschutzfunktion einnimmt, da sie die Auseinandersetzung mit den potenziell konträren Stimmen der Kinder verhindert. Am Beispiel der ADHS-Medikation wird dies offensichtlich. Die Meinungen der Kinder zur Medikation und ihren Nebenwirkungen werden bislang erfolgreich aus der florierenden ADHS-Forschungslandschaft ausgeblendet. Dabei zeigen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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die Interviews unseres Projekts sehr wohl, dass auch die erst siebenjährigen Kinder die sprachlichen und kognitiven Voraussetzungen dazu erfüllen, ihre Sichtweise mitzuteilen (Haubl u. Liebsch, 2009). Dass einige Kinder zu bestimmten Themen nicht reden wollen, scheint vielmehr anderweitig motiviert zu sein. Beispielsweise wollten sich in den Interviews im Rahmen unseres Projekts einige Kinder mit der Fähigkeit, ihre subjektiven Vorstellungen zu verbalisieren, dann nicht äußern, wenn nach ihren Eltern gefragt wurde. Das NichtAntworten der Kinder könnte hier durchaus als eine Reaktion auf das Nicht-hören-Wollen der kindlichen Stimmen von Seiten der Erwachsenen verstanden werden. Die Kinder wissen, wann es für sie besser ist, sich lieber nicht zu äußern. Mit dieser Einschätzung beweisen die befragten Kinder einmal mehr ihre Fähigkeit, im Interview eine Subjektrolle einzunehmen, sofern sie diese für erlaubt halten. Die Probleme, mit denen erwachsene Forscher in der Interviewführung mit Kindern konfrontiert werden, sind daher entgegen aller entwicklungspsychologischen Argumentationslogik ein Indikator für die Produktivität und den Gehalt von qualitativen Interviews mit Kindern.

Analyse der Beziehungsdynamik: Ein Weg zur Entwicklung subjektorientierter Interviewmethoden Dass qualitative Interviews für Kinder notwendig, aber schwierig für Erwachsene sind, wirft die Frage auf, wie sich Interviewmethoden entwickeln lassen, die Kinder dazu motivieren, ihre Sichtweise offen zu äußern. Zunächst wird vor dem Hintergrund der dargestellten Schwierigkeiten deutlich, dass es in Anleitungen zur Durchführung qualitativer Interviews mit Kindern beispielsweise nicht ausreicht, zu erläutern, wie man die Kinder spielerisch zum Erzählen anreizt, sei es durch Bildkarten, durch Malen oder auch durch Erzählimpulse (vgl. z. B. Heinzel, 1997). Derlei spielerische Techniken regen zweifelsohne die Verbalisierung an. Die Reaktionen der Kinder auf die Aufforderung in den Interviews unseres Projekts, die Wirkweise der Tablette in ein Männchen einzuzeichnen, belegen dies. Um jedoch eine gelungene Kommunikation über den gesamten Interviewverlauf aufrechtzuer© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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halten, ist ein grundlegendes Umdenken nötig, das an der Ungleichheit in der Interviewsituation ansetzt und hinterfragt, weshalb Kinder Schwierigkeiten haben, die Expertenrolle einzunehmen, oder umgekehrt, was Kinder dazu motiviert, die Expertenrolle nicht einzunehmen. Wie bereits erwähnt, spielt hier die soziale Erwünschtheit eine wichtige Rolle: Die Kinder übertragen ihre Beziehungserfahrungen mit Autoritätspersonen auf die Interviewsituation. Auf allgemeine, aber anschauliche Weise lässt sich dieses Phänomen beispielsweise mit den von Mary Ainsworth im Fremde-Situations-Test entwickelten drei Typen sichere, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindung (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978) erklären. Diese Muster entwickeln Kinder in den frühen Interaktionen mit Bezugspersonen – in Abhängigkeit von deren Feinfühligkeit – und sie beeinflussen das Verhalten des Kindes in weiteren, nachfolgenden Interaktionen mit der Umwelt (Bowlby, 2006a). Obwohl der Einfluss von Beziehungserfahrungen keine neue Erkenntnis ist, haben bisher nur wenige Aufsätze die mit ihnen verknüpften problematischen Generationen-, Geschlechts- und Statusunterschiede oder das Vertrauen gegenüber einem Erwachsenen als eigene Forschungsproblematik behandelt (z. B. Fuhs, 1999; Mayall, 2008). Und selbst in diesen werden die genannten Schwierigkeiten nicht systematisch und mit Blick auf die Konsequenzen für die Interviewführung analysiert. Dazu ist es vielmehr erforderlich, die Beziehungsdynamik zwischen dem interviewten Kind und dem erwachsenen Interviewer in den Fokus der Analyse zu stellen und dabei vor allem die Übertragungsund Gegenübertragungsreaktionen und die Missverständnisse in der Interviewsituation in den Blick zu nehmen. Um die Reziprozität von Beziehungen und damit die Subjektivität von Kindern bereits auf konzeptioneller Ebene der Analyse zu berücksichtigen, werden Übertragung und Gegenübertragung hierfür entgegen der häufig verschiedenen Konstruktionen (beispielsweise nachzulesen bei Sandler, Dare u. Holder, 2001) nach Devereux (1973, S. 64) verstanden, das heißt als »verbundene und gleichermaßen elementare Phänomene« (S. 17), die »identische Quellen und Strukturen« (S. 65) aufweisen. Übertragung meint dann, dass das Kind gegenüber dem mehr oder weniger verzerrt wahrgenommenen Interviewer charakteristische Reaktionen zeigt, die es im Zusam© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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menhang mit emotional bedeutsamen Personen der Kindheit entwickelt hat. Analog verhält sich der Interviewer so, als ob er eine von dessen frühkindlichen Imagines sei, wobei er zugleich von seinen eigenen unbewussten Bedürfnissen beeinflusst ist, das heißt, im Kind sowohl eine unbewusste Projektionsfläche sieht als auch auf dessen Übertragung reagiert (vgl. Devereux, 1973). Bei der Gegenübertragungsanalyse der Interviewer sind vor allem jene Stellen aufschlussreich, an denen die Interviewer aus ihrer Haltung der Empathie heraustreten, die Money-Kyrle (1956) als die »normale« Gegenübertragung bezeichnet. Das geschieht dann, wenn der Interviewer sich seiner eigenen Projektionen und Identifikationen nicht bewusst ist, so dass er beispielsweise auf ein ängstliches Kind besonders ungeduldig und aggressiv reagiert, weil er sich aufgrund seiner eigenen Ängstlichkeit in der Kindheit mit dem Kind identifiziert und ihm diese Schwäche übel nimmt (Graudenz, 1975). Die Missverständnisse zwischen interviewtem Kind und erwachsenem Interviewer können aus der unterschiedlichen Sprache und Kognition, den verschiedenen kulturellen Erfahrungshintergründen oder den Verzerrungen durch Übertragung und Gegenübertragung resultieren. Davon abgesehen, dass Missverständnisse, die aufgrund von unüblichen Begriffsverwendungen entstehen, die subjektive Bedeutung des Kindes erschließen lassen, eröffnen sie, wie eingangs erwähnt, einen Zugang zur Interaktionsdynamik. So zeigt sich in den Interviews unseres Forschungsprojekts, dass ein Kind mit einem positiven Bild vom Interviewer konstruktiver mit Missverständnissen umgeht als ein Kind mit einer negativen Repräsentanz. Die drei Analysemomente Übertragung, Gegenübertragung und Missverständnisse eignen sich daher besonders zu einer Typenbildung (Glaser u. Strauss, 2005) von Interviewerrepräsentanzen. Dieses Vorgehen trägt der Forderung nach einer Berücksichtigung des Gemeinsamen von Kindheit und der Verschiedenheit der Kinder (Christensen u. James, 2008) bei der Entwicklung von Interviewmethoden Rechnung. Zugleich verlangt es jedoch anzuerkennen, dass einer von vielen Bestimmungsfaktoren für ein gelungenes Interview im Vorfeld dadurch begründet ist, ob ein Kind positive, negative, inkonsistente oder andere Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht hat. Die zweite Bedingung für eine erfolgreiche Interviewführung – gemessen am Ausmaß, in dem das Kind seine Sichtweise äußert – ist es © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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folglich, die Repräsentanz des Kindes vom Interviewer zu identifizieren. Schließlich wird daher auf der Basis der Befunde zum Einfluss der kindlichen Beziehungserfahrungen auf Begegnungen mit Erwachsenen und unter der Prämisse einer empathischen Interviewführung angenommen, dass sich das kindliche Interaktionsmuster in der Interviewsituation durchsetzt, ähnlich wie beispielsweise Argelander (2007) für das therapeutische Erstinterview zu einer Typisierung von Patienten gelangte. Die Typenbildung basiert folglich, aus der Sicht des Kindes formuliert, auf einem Kontinuum von einer positiven über eine (mittlere) ambivalente bis zu einer negativen Interviewerrepräsentanz. Es ließen sich neun Typen finden: Positive Interviewerrepräsentanz: (1) Der Gestalter, der gleichermaßen lebendig wie offen erzählt, mitdenkt und strukturiert und sich dabei nicht nur besonders für das Interview, sondern auch für eine Beziehung zum/zur Interviewer/-in interessiert, die über das Interview hinausreicht. (2) Der Empfängliche, der die Fragen des Interviewers als Denkanstoß begreift, sich einige Zeit zum Reflektieren einräumt und seine Sichtweise genauso kohärent, bestimmend und strukturiert vermittelt, wie er Verständnis und Interesse für andere Perspektiven zeigt. (3) Der Abschweifende, der aufgrund seines Redebedürfnisses von den Fragen des/der Interviewer/-in zu ihm viel bedeutenden Themen lenkt, die er zusätzlich mitteilen möchte und dabei schnell, diffus und in unvollständigen Sätzen spricht. Ambivalente Interviewerrepräsentanz: (4) Der Überwältigte, der von der Thematik des Interviews sehr betroffen ist und bei dem/der Interviewer/-in nach Rat sucht, obwohl er sich aufgrund mangelnden Vertrauens dagegen wehrt, seine Sichtweise preiszugeben. (5) Der Überangepasste, der extrem sozial erwünscht antwortet, sich aufgrund seiner Orientierung an dem/der Interviewer/-in in Widersprüche verstrickt, durch sein freundlich-braves Verhalten © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Aggressionen bindet und die Auseinandersetzung mit den Themen des Interviews umgeht. (6) Der Misstrauische, der heikle Fragen konsequent nicht beantwortet, obwohl er kognitiv dazu in der Lage ist und gegenüber dem/der Interviewer/-in austestet, ob er ihm/ihr vertrauen oder inwieweit er sich ihm/ihr widersetzen kann. (7) Der Schüchterne, der zunächst häufig antwortet, etwas nicht zu wissen oder betont, es nur zu glauben, aber zum Ende des Interviews auftaut und dem/der Interviewer/-in selbstbewusst und interessiert eine Reihe von persönlichen Fragen stellt. Negative Interviewerrepräsentanz: (8) Der Wütende, den die Fragen des/der Interviewer/-in, die er nicht differenzieren kann, nerven und langweilen, so dass er versucht, das Interview zu beschleunigen oder sich zu verweigern und seine aggressiven Affekte über die interviewende Person zu regulieren. (9) Der Verweigerer, der eine generelle Ablehnungshaltung einnimmt, kontinuierlich mit »Ich weiß nicht« antwortet, sich mit anderen Dingen im Raum beschäftigt, mehrmals aus der Interviewsituation heraustritt und den (zeitlichen) Rahmen des Interviews bestimmen möchte. Auf dem Weg zu dieser Typenbildung wurden ausgewählte Interviews zusätzlich zu den Topoi der Beziehungsdynamik – Interaktionsmuster des Kindes, des Interviewers und Missverständnisse zwischen Kind und Interviewer – anhand der Topoi des Projekts interpretiert und miteinander verglichen. Zum einen wurde so die Beziehungsdynamik in Auseinandersetzung mit den subjektiven Bedeutungen des Kindes rekonstruiert. Zum anderen wurde auf diese Weise ein positiver Zusammenhang zwischen der Interviewerrepräsentanz des Kindes und seinem Medikamentenbild sichtbar; das Medikament übernimmt die Funktion eines Bedeutungsträgers der Beziehungen zu Erwachsenen (siehe Haubl in diesem Band). Des Weiteren wurden jeweils drei Leitfragen an die ausgewählten Interviews angelegt: Welche unbewusste Motivation zeigt sich im kindlichen Interaktionsmuster des Interviews? Welcher Typus der Interviewerrepräsentanz lässt sich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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daraus ableiten? Welche Konsequenzen legt dieser Typus für die Interviewführung nahe? Im Folgenden soll die Bearbeitung dieser drei Fragen exemplarisch an Auszügen aus einer Interpretation des Interviews mit dem eingangs bereits erwähnten Erik veranschaulicht werden.

Erik, »Der Überwältigte« – ein Fallbeispiel Negatives Selbstbild und ambivalentes Medikamentenbild Erik ist zwölf Jahre alt und nimmt seit einigen Jahren verschiedene Medikamente. Er wohnt bei seiner Oma und verbringt nur wenige Wochenenden bei seiner Familie. Erik hat ein ambivalentes Medikamentenbild. Einerseits macht er sich große Sorgen um die Nebenwirkungen der Medikamente. Andererseits verknüpft er mit ihnen die Chance, sein »Benehmen« zu verbessern. Erik nimmt täglich vier verschiedene Medikamente, morgens, mittags und abends, am Wochenende und in den Schulferien. Er nimmt die Tabletten aufgrund der Diagnose ADHS: »Ja, ich habe ADHS und deswegen, ich mçchte mich verbessern, aber ich kriege es irgendwie nicht hin, ja, und deswegen helfen mir auch ein bisschen die Tabletten.«

Zunächst hat er sich geweigert, die Tabletten zu nehmen. Nun schluckt er sie, weil der Arzt und seine Mutter es vorgeben. Dabei findet Erik die Tabletten ungesund und berichtet von einigen Nebenwirkungen bei sich selbst. Vor allem ist ihm häufig schlecht, so dass er sich übergeben muss. Die Wirkung der Tablette verortet Erik vorwiegend in den Armen, teils auch in den Beinen. Als die Interviewerin ihn bittet, die Wirkweise der Tablette in ein Männchen einzuzeichnen, verdeutlicht er dies, indem er auf anschauliche Weise große Halbkreise um die Arme und die Beine des Männchens zieht. Erst wenn er die Tabletten genommen hat, werde er ruhiger, das heißt, seine Bewegungen in den Armen und den Beinen nehmen ab. In das Gesicht des Männchens schreibt Erik das Adjektiv »rot«. Es symbolisiert – so erfährt die Interviewerin auf ihre Nachfrage –, wie ihm heiß © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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wird und er aufgeregt ist, wenn ihm aufgrund der Tablette schlecht wird. Erik hat ein negatives Selbstbild. In Anlehnung an die Worte seiner ehemaligen Lehrerin beschreibt er sich als deviant: »In der (Grund ?-)Schule war ich unertrglich (I lacht), ja, ich wre beinahe runtergeflogen, weil meine Klassenlehrerin hat gesagt, ›Ja, wir kçnnen dich, wenn du so weitermachst, nicht mehr tragen, wir mssen dich auf eine Sonderschule geben‹.«

Erik stellt sich als einen stigmatisierten, vom Klassenverband ausgegrenzten Jungen mit ADHS dar, der nach Anerkennung sucht und sein ablehnendes Verhalten gegenüber Klassenkameraden schmerzlich bedauert: »Ja, klar, das tut einem weh im Herzen, wenn man dann Leute abweist, die man eigentlich sehr gerne hat.«

Er leidet sehr unter seiner Situation, in der Schule wie zu Hause. So antwortet er auf die Frage, was er sich von einem Zaubertrank wünschen würde: »Dass es zu Hause besser klappt.« Die Interviewerin fragt weiter, was denn klappen solle. Erik fängt daraufhin an zu weinen. Die Interviewerin tröstet ihn eine Weile, indem sie ihm über die Hand streicht, und fragt dann, was er den Erwachsenen mitteilen wolle. Erik antwortet nach einer kurzen Pause: »Dass ich mich bessern möchte.« »Bessern« bezieht Erik auf sein »Benehmen«, wie er auf Nachfrage konkretisiert. Sein Wunsch nach gutem Benehmen ist so zentral, dass Eriks Interview sich als eine Erziehungsgeschichte mitsamt ihren Schattenseiten wie all den großen Sorgen um die starken Nebenwirkungen lesen lässt. Das Medikament tritt dabei als Erziehungsmittel auf, das Wut und Ärger kontrollieren soll.

Interaktionsmuster von Erik Auf einem Kontinuum von einer positiven zu einer negativen Interviewerrepräsentanz lässt Erik sich in der Mitte einordnen. Bereits zu Beginn des Interviews macht Erik deutlich, dass er sein Recht, nicht zu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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antworten, verstanden hat: »Dann sage ich, dieses Thema verweigere ich.« Den Ausdruck des Verweigerns bringt Erik selbst ins Spiel, als ihn die Interviewerin fragt, ob er mit der Vorgehensweise beim Interviewen einverstanden sei. Erik macht nicht grundsätzlich von diesem Recht Gebrauch, sondern hauptsächlich dann, wenn er nach dem Grund der Medikamenteneinnahme und nach seinen Eltern gefragt wird. »Darüber rede ich sehr selten und sehr ungern«, antwortet Erik auf die Frage, ob er anderen erzählt, dass er die Tabletten nehmen muss. Die Interviewerin gibt sich damit nicht zufrieden. Erik erklärt ihr daraufhin, dass er es besten Falles jemandem erzähle, der »freundlich« aussehe und dem man vertrauen könne. Darauf die Interviewerin: I: »Und wenn du findest, jemand sieht ganz nett aus, dem kann man ein bisschen was erzhlen, was sagst du dann?« E: »hm, na ja gut, ich glaube schon, dass man dem dann vertrauen kann, aber (…) besser auch nicht zu viel vertrauen.« I: »Ja, glaubst du, das ist sicherer? Ja. Und wenn du dann so ein bisschen vertraust und der fragt, sag mal, warum nimmst du eigentlich vier Tabletten jeden Tag, was sagst du da?« E: »Ja, ich sage natrlich nicht (die Menge?), wie viel ich nehme, ich vertraue dann ja nur ein bisschen und nicht gleich alles.« I: »Okay. Und was ist ein bisschen?« E: »Ja, dass ich die Tabletten nehme, aber ich sage nicht, was genau.« I: »Und wenn der fragt, warum nimmst du Tabletten?« E: »Da sage ich auch einfach, darber (..) ich nicht.« I: »Also auch wenn du ein bisschen Vertrauen hast, sagst du dazu auch nichts?« E: »Ja.«

Die Passage lässt sich als Erklärung dafür interpretieren, weshalb Erik der Interviewerin nur auf bestimmte, aus seiner Sicht harmlose Fragen, antwortet. Er schenkt der unbekannten Erwachsenen nicht sein volles Vertrauen. Vielleicht weil er fürchtet, sie könne seine Erzählung weitertragen, zum Beispiel an seine Eltern. Dafür gibt es mehrere Belege: Zum einen antwortet Erik auf die Frage, was seine Mutter zu der Empfehlung des Arztes gesagt habe: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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»Die hat das Gleiche gesagt, aber (ich wollte das nicht sagen?), (…).«

Zum anderen möchte er weder beantworten, was seine Mutter noch was sein Vater über ihn denken. I: »Und wenn deine Mama, wenn die zum Beispiel-, stell dir mal vor, deine Mama wird angerufen von einer Freundin und die sagt, ja, hallo, hier ist Gaby, wie geht es denn so deinem Kind? Was sagt deine Mama dann? Was denkst du, was deine Mama so sagt, wie es dir geht?« E: »Dass es mir gut geht.« I: »Und was macht er so?« E: »(4) Weiß ich nicht, ich weiß nicht, was im Kopf meiner Mutter vorgeht.« I: »Und stell dir mal vor, dein Papa wird angerufen, und dann fragt der Freund von deinem Papa, sag mal, wie geht es denn eigentlich deinem Kleinen, wie ist der eigentlich so?« E: »Keine Ahnung. (3) (..) nicht so gerne ber meine Eltern reden.« I: »Nee? Du redest aber nicht ber deine Eltern, sondern darber, was du denkst, was deine Eltern ber dich denken. Aber willst du auch nicht drber reden? Ja, ist auch okay.«

Erik scheint zu wissen, dass er in bestimmten Bereichen wie dem der Medikation unmündig ist. So redet er besser nicht über seine Eltern, die gegen seinen Willen die Tabletteneinnahme veranlasst haben. Stattdessen arrangiert er sich mit den Tabletten und spricht ihnen trotz der starken Nebenwirkungen eine geringe positive Wirkung zu. Zugleich weiß er, dass er seine Subjektivität mit dem Erwachsenenalter erreichen wird. In seinen Zukunftsplänen möchte er Chemiker werden – ein Beruf mit der Aussicht, Tabletten mit geringen Nebenwirkungen herzustellen. Stellenweise zeigt Erik auch im Interview Subjektivität. Er kann Emotionen verbalisieren und reflektiert seine Situation. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem begrenzten Wissen des Arztes in Bezug auf die Nebenwirkungen der Medikamente sind ein Beleg dafür: »Vielleicht hat das Medikament eine Nebenwirkung, die auch der Arzt nicht kennt.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Auch ist Erik dazu in der Lage, bestimmt aufzutreten. Er kritisiert die Interviewerin oder teilt es ihr mit, wenn er nicht antworten möchte. Ebenso ist Erik stellenweise hoch motiviert und nimmt seine Expertenrolle ernst, beispielsweise als er nach einem roten Stift verlangt, um die Nebenwirkungen besser illustrieren zu können. Andererseits traut er sich nicht, die Expertenrolle einzunehmen, sondern verweist bei der Frage nach der Tabletteneinnahme zunächst auf eine Lehrerin. Diese Ambivalenz äußert sich auch in seiner Haltung gegenüber der Interviewerin. Zunächst kontrolliert er seine Emotionen stark, als er jedoch beginnt zu weinen, lässt er sich von der Interviewerin trösten und sucht gegen Ende des Interviews noch einmal Rat, indem er erneut das Thema auf die Nebenwirkungen lenkt. Er nutzt damit den Raum für ein belastendes Thema, für das er bisher wohl kaum bei einem Erwachsenen, wie zum Beispiel seinem Arzt, ein Ohr fand. In seiner Übertragung ist er hin und hergerissen zwischen der Emotionskontrolle und der Suche nach Trost bei der Interviewerin, zwischen dem Treffen eigener Entscheidungen und der Entscheidungszuweisung an Erwachsene. Im Verlauf des Interviews entwickelt er sich vom Vermeider über das zentrale Moment der Überwältigung hin zum Ratsuchenden. Die Stelle, an der Erik beginnt zu weinen, ist eine Schlüsselszene für seine Ambivalenz gegenüber der Interviewerin. Oder anders: Im Zentrum der Begegnung mit der Interviewerin steht seine Überwältigung. Da ein solches Beziehungsgeschehen in keinem der Interviews so ausgeprägt wie bei Erik hervortritt, begründet er den Typus des Überwältigten.

Interaktionsmuster der Interviewerin Im Laufe des Interviews setzt die Interviewerin als Reaktion auf Eriks Emotionalität ein breites Repertoire an Interaktionsmustern ein. Sie verwendet Paraphrasen, lobende und ermunternde Worte, betont, was Erik weiß, erinnert an die Expertenrolle, bekundet Anteilnahme, deutet Emotionen wie zum Beispiel Eriks Sorge um die Nebenwirkungen oder spendet tröstende und beratende Worte wie beispielsweise die Ermutigung, den Arzt auf die Nebenwirkungen anzusprechen. Die Interviewerin passt sich an Eriks Emotionen an, ohne dabei ihr © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Anliegen aus dem Blick zu verlieren und in eine therapeutische Haltung zu verfallen. Auf die zahlreichen »ich weiß nicht« reagiert sie sehr unterschiedlich, vom einfühlsamen und geduldigen Akzeptieren bis zum fast provokativen Nachfragen. Auf Letzteres reagiert Erik konstruktiv, beispielsweise auch dann, als die Interviewerin die Interviewsituation aufgreift und mit ihrer Frage verbindet: I: »Und wenn dich jemand fragt, warum nimmst du die Tabletten, was sagst du dann? (4) Nichts, du guckst auf ein Blatt Papier und sagst gar nichts?« E: »Doch, eigentlich schon, aber das ist eigentlich immer unterschiedlich.« I: »Ja, erzhl doch mal.« E: »Bei manchen ist es mir peinlich, bei manchen nicht.« Die Interviewerin versucht, Erik Subjektivitt zu verleihen. Sie akzeptiert nicht, dass er auf Erwachsene wie zum Beispiel seine Lehrerin verweist: I: »Genau, und die halbe ist die Medikinet und die anderen, das hast du vergessen.« E: »Wenn ich mich recht erinnere, (weiß das?) die Frau (Name der Lehrerin).« I: »Ja, aber mit der Frau (Name der Lehrerin) reden wir ja nicht, wir reden ja mit dir (lacht). Wenn du das nicht weißt, dann weißt du das nicht, das macht nichts.«

Denn als Erik die Frage an seine Lehrerin weiterreichen möchte, erinnert ihn die Interviewerin an seine Expertenrolle und vermittelt ihm, dass es erlaubt ist, etwas nicht zu wissen. Erik fällt daraufhin doch noch der Name eines Medikaments ein. So wie Erik im Interview überwältigt ist, ist auch die Interviewerin betroffen. In ihrer Gegenübertragung ist sie am Abend noch mit Erik beschäftigt. Sie fragt sich, ob der Mann auf dem Foto, das Erik ihr zeigte, aber über das er nicht sprechen wollte, sein Opa ist und ob Erik sein Pseudonym nach dem Namen des verstorbenen Großvaters gewählt hat. Trotz ihres Mitgefühls ließ sie sich im Interview nicht überwältigen.

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Missverständnisse In Eriks Interview treten Missverständnisse überwiegend in Verbindung mit Fragen nach der Wirkung des Medikaments auf. Erik gehört zu den Jungen, die auf formaler Ebene mit Missverständnissen konstruktiv umgehen können. Das demonstriert das folgende Beispiel. Nachdem Erik erzählt hat, dass er alle Tabletten, ohne etwas zu trinken, auf einmal hinunterschluckt, fragt die Interviewerin weiter: I: »Okay, dann hast du sie genommen und dann, was passiert dann?« E: »(..) wie grade.« I: »Ist dasselbe Thema wie grade, was meinst du damit?« E: »Also das ist ungefhr die gleiche Frage, nur anders formuliert.« I: »Aber ich wollte eigentlich genau wissen, wenn du das genommen hast-?« E: (unterbricht) »Dann bin ich nicht so hibbelig.« I: »Ach so, das hast du noch gar nicht erzhlt, wieso bist du dann nicht so hibbelig?« E: »Weiß ich nicht.« I: »Und wie merkst du das? Also du merkst, du schluckst die Tablette und dann auf einmal?« E: »Nee, das kommt langsam, da beruhige ich mich langsam.« I: »Und so nach einer Stunde oder so bist du dann ruhiger?« E: »Ein bisschen.«

Aus dem Interview geht nicht eindeutig hervor, auf welche vorherige Frage Erik anspielt. Vermutlich meint er die Frage nach dem Warum der Medikation. Für die Interpretation der Szene ist das zweitrangig. Bedeutsam ist vielmehr, dass Erik der Interviewerin vermittelt, sie zu durchschauen, so als käme sie durch die Hintertür und stelle ihm, weil er die vorherige Frage nicht beantwortet hat, nun die gleiche Frage in einer anderen Formulierung. Dies entspricht jedoch nicht dem Beweggrund der Interviewerin. Sie zielte darauf ab, etwas anderes zu erfahren, missversteht ihn und möchte wissen, was er damit meine, dass es dasselbe Thema wie gerade sei. Auf Eriks Klarstellung hin beginnt sie, ihre Frage umzuformulieren. Erik unterbricht sie mit »Dann bin ich nicht so hibbelig«, womit er auf formaler Ebene ihren © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Versuch, das Missverständnis aufzuklären, annimmt. Denn er setzt das Gespräch mit der Interviewerin fort. Seine Antwort hört sich jedoch sehr nach einer sozial erwünschten an. An dieser Stelle bleibt daher ungeklärt, ob Erik sich nun durch seinen Rückgriff auf Standardaussagen – im Anschluss an seinen Versuch, die Interviewerin zu kritisieren – wieder anpasst und damit seine eigene Sichtweise für sich behält. Erst im Kontext des gesamten Interviewverlaufs lässt sich dieses Missverständnis aufgrund seiner Verdichtung als Schlüsselszene für seine Ambivalenz zwischen Kritik und Anpassung an die Interviewerin beziehungsweise zwischen seiner Position als Subjekt und als Objekt identifizieren.

Konsequenzen für die Interviewführung mit dem Überwältigten Als Überwältigter stellt Erik besondere Herausforderungen an die Interviewerin. Sein mangelndes Vertrauen motiviert ihn dazu, der Interviewerin gegenüber nicht zu viel von sich Preis zu geben. Gleichwohl sieht er in der Interviewerin eine Adressatin für seine Auseinandersetzungen mit den Nebenwirkungen seiner verschiedenen Medikamente. Für die Interviewerin birgt dies die Gefahr des »going native« (Richter, 1997, S. 80), das heißt, dass sie aus einer Identifikation mit der schwierigen Situation des Kindes heraus von ihrer Forscherrolle in die einer Betreuerin oder Beraterin wechselt. Ein solches Verhalten würde – davon abgesehen, dass die Interviewerin möglicherweise nicht über die professionelle Kompetenz verfügt – für das Kind eine Neudefinition der Interviewsituation bedeuten. Vertrauensverlust und Orientierungslosigkeit wären die Folgen, und zwar für beide Seiten (Richter, 1997). Die Interviewerin des Typus Überwältigter hat daher in erster Linie die Aufgabe, einer Berater- oder Therapeutenrolle entgegenzuwirken. Dies ist insofern schwierig, da der Überwältigte die positive Seite seiner Ambivalenz gerade in seinem Verlangen nach Beratung äußert. Die positive Seite der Ambivalenz lässt sich aber nicht nur nicht betonen, sondern muss darüber hinaus zurückgewiesen werden. Dies wiederum ruft Enttäuschung hervor und verstärkt die negative Seite © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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der Ambivalenz, das heißt, das ohnehin schon mangelnde Vertrauen potenziert sich. In der Folge erzählt der Überwältigte kaum noch beziehungsweise wehrt sich dagegen, die Expertenrolle einzunehmen. Diese Dynamik lässt erahnen, dass sich die Interviewerrepräsentanz des Überwältigten in der kurzen Zeit des Interviews kaum zu dessen Gunsten ändern lässt. Extremes Feingefühl ist nötig, um überhaupt etwas über die Sichtweise des Kindes zu erfahren. Es ist leichter gesagt als getan, dem Überwältigten daher von Beginn an Vertrauen zu vermitteln, seine Emotionen auszuhalten und empathisch zu sein, ohne eine therapeutische Beziehung aufzubauen. In Anpassung an die Ambivalenz des Überwältigten ist es der Interviewerin gewiss eine Stütze, sich einerseits damit abzufinden, dass sie den Überwältigten nur dieses eine Mal sieht, und sich andererseits nicht unter den Druck der Datensammlung zu setzen. Sie tut daher gut daran, es zu akzeptieren, wenn der Überwältigte nicht antworten möchte. Einen Spagat zwischen der emotionalen Herausforderung und dem Forschungsauftrag gelingt der Interviewerin am Besten, wenn sie Emotionen deutet und ihre Paraphrasen direkt mit weiteren Fragen verknüpft. Zudem kann man dem Überwältigten, Feingefühl vorausgesetzt, mehr zumuten, als sich auf den ersten Blick erahnen lässt. Dies zeigt sich nicht zuletzt an Eriks positiver Reaktion auf die konfrontierenden Fragen. Eine reaktive Ängstlichkeit der Interviewerin wäre hier fehl am Platz. Weiterhin bewähren sich – wie bei anderen Typen auch – Techniken, die dem Überwältigten vermitteln, dass die Interviewerin ihn als einen Experten betrachtet und seine Sichtweise ernst nimmt. Das gelingt beispielsweise mit der Aufforderung, die Wirkweise der Tablette in ein Männchen einzuzeichnen. Vor dem Hintergrund des gesamten Interviews lässt sich dieses spezifische Gelingen nicht ausschließlich auf den Aufforderungscharakter der Zeichnung zurückführen. Es hängt wohl zu einem großen Teil damit zusammen, dass Kinder es gewohnt sind, sich über Bilder auszudrücken. Vom Kindergartenalter an bekommen sie von Erwachsenen Aufträge, Bilder und Zeichnungen zu bestimmten Themen anzufertigen. Umgekehrt stellen die Autoritätspersonen ihnen gegenüber so gut wie nie ihre Sichtweise anhand von Bildern dar. Wenn nun die Interviewer in der Interviewsituation auf dieses Element der erlernten Kultur der Kommunikation von Kindern und damit auf die Differenz zwischen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Kindern und Erwachsenen zurückgreifen, fühlen sich die Kinder sicherer. Es fällt ihnen leichter, ihre Sichtweise malerisch darzustellen. In einem weiteren Schritt können sie dazu ermutigt werden, das Gemalte, das sie zunächst für unaussprechbar hielten, in Worte zu fassen, wie es das Beispiel des Überwältigten zeigt. Der Verweis auf die Expertenrolle hat jedoch auch bei Erik seine Grenzen bei der Frage nach den Eltern. Sicherlich hängt dies mit der Vertrauensfrage zusammen. Da sich Vertrauen aber nicht erzwingen lässt, bleibt der Interviewerin letztlich die Option, sein Misstrauen als ein realitätsorientiertes Verhalten eines Kindes einer fremden Erwachsenen gegenüber aufzufassen, sich in ihn hineinzuversetzen und sich selbst als eine potenzielle Repräsentantin von einem die Medikation kontrollierenden Elternteil beziehungsweise von einer Lehrerin zu begreifen. Aus psychoanalytischer Sicht entlastet diese verstehende und verständnisvolle Haltung die Interviewsituation. Dadurch erschließt sich ein Raum, in dem sich weitere kreative Interviewtechniken aus der individuellen Interviewsituation mit einem Kind heraus entwickeln können.

Typenübergreifende Konsequenzen für die Interviewführung Abschließend soll, da an dieser Stelle nicht auf die diversen spezifischen Konsequenzen für die Interviewführung mit den anderen Typen eingegangen werden kann, lediglich ein ausgewähltes Phänomen aufgegriffen werden: die Schwierigkeit der Kinder, die Expertenrolle einzunehmen. Diese wurde bereits in der Planungsphase der Interviewführung berücksichtigt, indem die Interviewer zu Beginn der Interviews sorgfältig das Arbeitsbündnis erklärten, um die Ungleichheit zwischen dem erwachsenen Interviewer und dem kindlichen Interviewpartner ein Stück weit aufzuheben. Dennoch hatten einige Kinder Hemmungen, die Expertenrolle einzunehmen. Häufig wurden sie von den Interviewern im Zuge des Interviews erfolgreich an ihre Expertenrolle erinnert. Dies spricht dafür, die Interviewtechnik in diese Richtung weiterzuentwickeln, das heißt, den Kindern zu vermitteln, dass sie, entgegen ihren Erwartungen, in der Interviewsituation diejenigen sind, denen mit Respekt begegnet wird. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Dazu lässt sich eine Beobachtung des Soziologen Richard Sennett (2007) heranziehen. Er ist der Meinung, dass man gegenseitigen Respekt dann herstellen kann, wenn man die Ungleichheit direkt verbalisiert. In Bezug auf qualitative Interviews mit Kindern würde das bedeuten, zum Einstieg in das Interview sinngemäß anzusprechen, dass sich hier ein Kind und ein Erwachsener gegenübersitzen, dass das Kind sicherlich schon oft erfahren hat, dass die Erwachsenen das Sagen haben und es sich anpassen muss und schließlich, dass dies im Interview einmal umgekehrt werden soll. In der konkreten Umsetzung sind verschiedene Anfangsvarianten denkbar, die alle das Ziel verfolgen, nun die Rollen umzukehren. So könnte der Interviewer beispielsweise auf seine eigene Kindheit Bezug nehmen. Er könnte damit beginnen, dass er sich als Kind gefragt habe, warum er selten nach seiner Meinung gefragt wurde und immer die Lehrer den Ton angaben. Erwartungsgemäß dürfte das Kind sich verstanden fühlen, da der Interviewer Nähe herstellt, indem er die aktuelle Differenz ebenso anspricht wie die ehemalige Gleichheit im Sinne seiner früheren Kinderrolle. Oder er könnte, wenn er sich etwas mehr Zeit einräumt, die Aushandlung des Arbeitsbündnisses interaktiv gestalten; beispielsweise, indem er dem Kind vor Augen führt, dass sie hier als Kind und Erwachsener sitzen, das Kind fragt, was das für ihn bedeutet, in einer Kommunikation Kind beziehungsweise Erwachsener zu sein, um ihm im Anschluss anzubieten, diese Bedeutung für das Interview zu vergessen, die Rollen zu tauschen und auszuprobieren, wie es ist, Erwachsener zu sein. Diese Rolle kann das Kind allerdings nur unter der Gegebenheit einer weiteren Bedingung einnehmen, und zwar, dass es dem Interviewer vertraut. Die Interviewer des hier vorgestellten Forschungsprojekts versicherten daher den Kindern gegenüber nicht nur Anonymität, sondern versprachen auch, den Eltern nichts zu erzählen. Im Gegensatz zur Expertenrolle erinnerten die Interviewer jedoch nicht wiederholt an ihre Schweigepflicht. Drittens muss ein Kind, das verstanden hat, dass es in der Rolle des Experten einem vertrauenswürdigen Interviewer gegenübersitzt, den Eindruck haben, dass dieser an ihm interessiert ist. So erzielten Antworten der Interviewer wie »das ist ja interessant«, »spannend«, »Wahnsinn« oder ähnliche erstaunliche Erfolge. Die Begeisterung der Kinder nahm obendrein zu, wenn sich ein Interviewer als Nicht-Wissender outete. Denn die Kinder waren erfreut © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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darüber, einem Erwachsenen etwas zu erzählen, das er nicht weiß, und fühlten sich als Überlegene. Für die drei eingangs illustrierten Gruppen von Schwierigkeiten – Antwortverweigerungen, aggressive Antworten und Missverständnisse – legen die Ergebnisse in erster Linie nahe, so früh wie möglich und – wenn nötig – wiederholt auf sie einzugehen, da sich eine Interviewerrepräsentanz schwer verändern lässt. Vor allem an Missverständnissen entscheidet sich ein erfolgreiches Interview. Sie geben schnell Aufschluss über die Interviewerrepräsentanz des Kindes und können dazu genutzt werden, die Unterschiede zwischen dem Kind und dem Interviewer zu thematisieren und das Interesse für die Sichtweise des Kindes zu vermitteln. Auf der anderen Seite bergen sie die Gefahr, dass sich das Kind noch weniger verstanden fühlt und gänzlich verschließt. Wenn der Interviewer daher nach einigen Klärungsversuchen das Kind nicht verstehen kann, weil es sich beispielsweise in Widersprüche verstrickt, tut er sicherlich gut daran, dem Kind mitzuteilen, dass er seine Aussage zwar nicht verstanden hat, aber später vielleicht noch einmal darauf zurückkommen wird. Dies belegt die Reaktion einer Interviewerin, die in ihrer Gegenübertragung die Verzweiflung des sich in Widersprüche verstrickenden Kindes spürte. Aber auch die aggressiven Antworten stellen hohe Anforderungen an die Interviewer, da sie in der Regel gehäuft auftreten und der Interviewer in die Emotionsregulation miteinbezogen wird. Daher ist es sinnvoll, dem Kind erstens zu vermitteln, dass man es nachvollziehen kann, dass es wütend ist, wenn man es ständig falsch versteht. Zweitens lässt sich dann begründen, dass es deswegen dem Interviewer helfen würde, wenn es ihm erklärt, was es meine, weil er es selbst nicht wissen kann. Da sich aggressive Reaktionen des Kindes in der kurzen Zeit des Interviews aber kaum verhindern lassen, ist es für den Interviewer in erster Linie entlastend, eine Haltung einzunehmen, die Aggression von ihrer Wurzel ad-gredi her versteht, was soviel bedeutet wie auf jemanden oder etwas zugehen (Mitscherlich, 1969). Entsprechend kann er aggressive Antworten in der Interviewsituation als Beziehungsangebot interpretieren. In dieser Weise verhält sich beispielsweise die Interviewerin des eingangs erwähnten Bruno. Sie nimmt seine Drohung, »Noch so ein falsches Wort und ich werde wütend«, ernst und entschuldigt sich. Denn Bruno reagiert nicht ohne Grund auf die Verwechslung der Termini »Tablette« und »Kapsel« mit Aggression. Aus seiner Sicht © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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haben seine Probleme mit dem Wechsel von der Tablette zur Kapsel begonnen. Aufgrund der geduldigen Haltung der Interviewerin wird diese Botschaft hinter der Aggression schrittweise verständlich. Ein weiteres Beispiel ist die Reaktion des Interviewers auf einen Jungen namens Leon, der ihn im Laufe des Interviews einige Male angreift. In der Mitte des Interviews versucht Leon mit seinem Ausruf »Ha, jetzt stell ich die Fragen!«, die Interviewsituation umzukehren. Der Interviewer setzt Leon gleichermaßen eine Grenze, wie er ihn respektiert: Er gesteht ihm eine weitere Frage am Ende des Interviews zu. Leon protestiert zwar mit »Nein!«, beantwortet aber die folgenden Fragen des Interviewers. Freilich lässt sich Leons Versuch, Subjektivität im Interview zu erlangen, auch als eine Abwehr verstehen, er ist aber ein Schritt, der dem Interviewer eine Neuaushandlung der Rollen ermöglicht. Insofern ist dies für eine Reihe der interviewten Jungen ein erstrebenswertes Ziel. Für die meisten kindlichen Interviewpartner ist daher eine Haltung angebracht, die Autonomie im Sinne des Kinderanalytikers Donald W. Winnicott fördert. Er versteht darunter die Fähigkeit, zwischen sich selbst und dem anderen einen Unterschied herzustellen. Erst durch diese Trennung und die Wahrnehmung des Andersseins können soziale Beziehungen entstehen (Winnicott, 1974; vgl. auch Bowlby, 2006b). Diese Sichtweise bietet die Möglichkeit, das Schweigen und die Anpassung in einigen der Interviews zu erklären. Sie macht noch einmal deutlich, wie sehr es zu Beginn des Interviews darauf ankommt, die Differenz zwischen Kind und Erwachsenem zu betonen, die anfänglichen Abgrenzungsversuche von Kindern zu akzeptieren und ihren Orientierungen am Interviewer entgegenzuwirken.

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»Ha, jetzt stell ich die Fragen!«

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Gegenübertragungen als Hilfe des Verstehens Eine Falldarstellung

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht eine Falldarstellung, die entlang den unbewussten Reaktionen der Forscherin entfaltet wird. Der methodologische Hintergrund dieser Darstellungsweise ist die Überzeugung, dass jedes Verstehen darauf basiert, dass die Verstehenden ihre Subjektivität selbstreflexiv in den Deutungsprozess einbringen, um sich den Aussagen des Gegenübers zu nähern. Deshalb, so meine ich, ist ein reflektierter Umgang mit der eigenen Subjektivität, den subjektiven Empfindungen und Vorstellungen, Bestandteil einer jeden Falldarstellung und sollte als solche auch thematisiert werden. In einem Aufsatz zum Thema Subjektivität und Selbstreflexivität mit dem Titel »Über die Schwierigkeit, von sich selbst zu sprechen« schildern Katja Mruck und Franz Breuer ihre Erfahrungen mit dem Dilemma, das aus dem Wunsch resultiert, möglichst regelgeleitet zu validen, nichtkontaminierten Resultaten zu gelangen. Störungsfreiheit, so lautet ihre These, ist ein zentraler Imperativ wissenschaftlicher Wissensproduktion, der die Forschenden dazu zwingt, die wahren Produktionsbedingungen zu verschleiern: »Nicht von sich selbst zu schweigen […] hat – zumindest fr die Wissenschaftsfelder, die sich nicht unmittelbar mit Wissenschaftsforschung beschftigen – immer noch etwas Unappetitliches, und der Bote wird mitunter weiter fr die Nachricht – dass Wissenschaft ein immer schon zeitlich, rumlich, sozial, persçnlich kontextualisiertes Unterfangen ist – verantwortlich gemacht« (Mruck u. Breuer, 2003, S. 11).

Auch Franz Wellendorf (1991, 1996) sieht die Forschungsbeziehung als eine Art Projektionsfläche für die verborgene Dynamik, Struktur © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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und Kultur des Forschungsgegenstandes. Die von den Interviewten entworfene Wirklichkeit ist, so meint er, als ein Interaktionsprodukt zwischen ihnen und dem Interviewer zu begreifen. Dazu passt, dass wir während unserer Forschungsarbeit mit den medikamentierten Kindern die Erfahrung gemacht haben, dass deren Interaktionsangebote oftmals sehr unmittelbar waren und von den Interviewern als überraschend erfahren wurden. Solche Interview-Erfahrungen werden, wenn man der gängigen Doktrin folgt, den Einfluss der Wissenschaftler auf den Forschungsprozess durch methodische Verfahren zu unterbinden, unsichtbar gemacht. So wird negiert, dass ein Forschender in Interaktion mit dem Forschungs»objekt« den Forschungsprozess zwangsläufig auch durch seine eigenen soziokulturellen und biografischen Besonderheiten strukturiert. Wellendorf weist ausdrücklich darauf hin, dass die affektiven Reaktionen des Forschers, gerade wenn sie als unangenehm und belastend empfunden werden, kein Versagen des Forschers anzeigen, sondern wichtige Daten sind, die nicht einfach beiseite gelassen werden dürfen (Tietel, 2000). Mit der Analyse der eigenen Reaktionen auf den Forschungsgegenstand ist der zentrale Verstehensmechanismus der Tiefenhermeneutik benannt. Was das von Alfred Lorenzer (1970) für die Sozialwissenschaften entwickelte szenische Verstehen vom Alltagsverstehen unterscheidet, ist nicht die Abwesenheit von Gefühlen, sondern der Gebrauch, der von ihnen gemacht wird (Klein, 2003). Die empathische Teilhabe an der Lebenspraxis des zu Verstehenden erfolgt als ein Prozess einer probeweisen Identifizierung (Lorenzer, 1970, S. 209). Das szenische Verstehen in der Tiefenhermeneutik beruht auf der These der Ubiquität von Übertragung und Gegenübertragung. Es wird davon ausgegangen, dass beide identische Quellen haben, sich gegenseitig bedingen und eine Einheit bilden. Die Externalisierung von unbewussten Konflikten wird als Übertragung bezeichnet und die Reaktion auf eine solche Inszenierung als Gegenübertragung. Dieser Prozess ist, wie Freud (1925) selbst schon anmerkt, nicht auf die Begegnung von Analytiker und Patient beschränkt. »Man darf nicht glauben, dass die Analyse die bertragung schafft und daß diese nur bei ihr vorkommt. Die bertragung © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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wird von der Analyse nur aufgedeckt und isoliert. Sie ist ein allgemein-menschliches Phnomen, ja sie beherrscht berhaupt die Beziehung einer Person zu ihrer menschlichen Umwelt« (Freud, 1925, S. 63).

Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, wurde die Übertragung von einem unerwünschten Hindernis zu einem regelhaft auftretenden mächtigen Hilfsmittel der psychoanalytischen Behandlung. Was deren kennzeichnende Bedeutung für die Beziehungspartner ausmacht, spezifiziert Joseph Sandler (1976), wenn er schreibt: »bertragungselemente gehen in unterschiedlichem Ausmaß in fast alle Beziehungen ein, und diese Beziehungen werden durch ein Charakteristikum der anderen Person determiniert« (Sandler, 1976, S. 298).

Hermann Argelander (1970) hat am Beispiel des psychoanalytischen Erstinterviews die Bedeutung des Beziehungsgeschehens in der Begegnung hervorgehoben. Bezogen auf die wissenschaftliche Feldforschung ist der Aspekt der realen Teilhabe des Forschenden von großer Bedeutung. Der Feldforscher tritt tatsächlich für eine gewisse Spanndauer in die reale Lebenswelt seines Forschungs»objektes« ein; »er ist notwendig in den analysierten Lebensformen befangen, ist also nicht a priori im Besitz einer – normativ begrndeten – Wahrheit, sondern kann lediglich in der Teilnahme […] eine Perspektive der Wahrheitssuche einnehmen« (Belgrad, 1987, S. 10).

Mit der Gegenübertragung ist ein Erkenntnisinstrument bezeichnet, mit dessen Hilfe die Forscher/-innen in die Lage versetzt werden, auch das Nicht-Sprachliche des Gehörten zu erfassen, indem sie die Erlebnisse reflektieren, die sie an sich selbst beobachten. Georges Devereux (1967) zufolge gilt es, einen Spürsinn dafür zu entwickeln, was sich zwischen Forscher/-innen und ihren »Objekten« inszeniert. Anhand zahlreicher Fallbeispiele zeigt er, wie widersinnig es ist, Gegenübertragungen als Störungen einer objektiven wissenschaftlichen Erhebung zu betrachten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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»Der Verhaltensforscher kann die Interaktion zwischen Objekt und Beobachter nicht in der Hoffnung ignorieren, sie werde sich schon allmhlich verflchtigen, wenn er nur lange genug so tte, als existiere sie nicht. Wenn man sich weigert, diese Schwierigkeiten schçpferisch auszuwerten, so kann man es nur zu einer Sammlung von immer bedeutungsloseren, zunehmend segmentren, peripheren und sogar trivialen Daten bringen, die das was […] am Menschen menschlich ist, fast gnzlich unbeleuchtet lassen. Der Wissenschaftler sollte deshalb aufhçren, ausschließlich seine Manipulationen am Objekt zu betonen, und statt dessen gleichzeitig – bisweilen ausschließlich – sich selbst qua Beobachter zu verstehen suchen« (Devereux, 1967, S. 19 f.).

An diese Überlegungen anknüpfend, möchte ich in meinem Beitrag exemplarisch zeigen, welche Relevanz die Subjektivität von Forscher/innen hat. Durch die Analyse meiner Gegenübertragungen – Emotionen, Phantasien, Einfälle, Verhaltensbereitschaften und Körperphänomenen – versuche ich im Folgenden, die Szenen zu verstehen, die mich in einem Interview, das eine Kollegin geführt hat, beeindruckt haben.

Von der nachhaltigen Wirkung der Interviews In einem Großteil unserer Interviews werden mehr oder weniger geglückte Versuche der Kinder beschrieben, sich an die Forderungen und Erwartungen der Außenwelt anzupassen. Die Darstellungen der befragten Jungen beziehen sich zum überwiegenden Teil auf das familiäre Zusammenleben und/oder auf die Schule. Sie machen deutlich, dass die Befragten eine hohe Anpassungsleistung erbringen, um nicht aus Schule und Familie ausgeschlossen zu werden. Diese Jungen erzählen davon, dass es wichtig ist, gut in der Schule zu sein, um in Zukunft einen Arbeitsplatz zu bekommen; der elfjährige Mike gibt sogar an, dass er viel Geld brauche, um sich später Arbeit kaufen zu können. Sie stellen zum Teil schablonenartige Verknüpfungen zwischen einer guten Konzentration, guten Noten und einem späteren guten Arbeitsplatz her. Der Begriff der Konzentration bleibt diffus, die Jungen haben große Schwierigkeiten, auszudrücken, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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was Konzentration meint. Lediglich vage fassen sie in Worte, dass es problematisch sei, sich nicht konzentrieren zu können. Die Interviews belegen, welch großen Stellenwert die AD(H)SDiagnose im Leben der Jungen einnimmt. Ein Interviewpartner erzählt beispielsweise, dass ihm bei der Vorstellungsrunde in seiner neuen Klasse auf die Aufforderung des Lehrers, etwas von sich zu erzählen, nur eingefallen ist, dass er eine AD(H)S hat und Medikamente nehmen muss. Weitere Hinweise auf eine hohe Identifikation mit der Diagnose und Medikamenteneinnahme finden wir bei den Berufswünschen der Befragten. So erklärt ein Junge, dass er später etwas mit Chemie und Medizin machen möchte, um ein Medikament herzustellen, welches effektiv wirkt und keine Nebenwirkungen hat. Ein anderer Junge kann sich sogar vorstellen, Pianist zu werden, jedoch nicht, weil er sich für besonders musikalisch hält, sondern weil seine Mutter ihm erklärt hat, auch Mozart habe eine AD(H)S gehabt. Auf die Frage, was er sich nach der Einnahme eines Zaubertranks, wie es ihn bei Asterix und Obelix gibt, wünschen würde, antwortet er: »Dass es zu Hause besser klappt.« Als die Interviewerin erfragen will, was denn besser »klappen« soll, fängt er zu weinen an und versichert, dass er sich »bessern« möchte. Der Wunsch, sich zu bessern, ist in vielen Interviews so ausgeprägt, dass kaum andere Wünsche benannt werden. Es sind derartige Szenen, die mir nachhaltig im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich als sehr bedrückend empfunden habe. Diese Eindrücke haben sich kaum abschütteln lassen und ein Gefühl von Ratlosigkeit und Schwermut in mir hervorgerufen. Ich erlebte deutlich, dass Verwirrungen im Gesprächsverlauf und die Hilflosigkeit der Jungen meine Gefühle im Umgang mit den Interviews stark beeinflussten. So bedrückte es mich, Einblicke in das Familienleben der interviewten Jungen gewährt zu bekommen, ohne helfen zu können. Dabei ist es mir schwergefallen, mich von den Erwartungen der Eltern der Jungen zu distanzieren; und wenn ich mich von ihnen distanziert habe, hat dies zumeist Schuldgefühle bei mir ausgelöst. Diese Reaktion hängt, das verstehe ich heute, mit einer Diffusion von Rollen zusammen. Ich bin in meinem Erwerbsleben als Familienhelferin tätig und dort besteht meine vornehmliche Aufgabe in der Veränderung von konflikthaften Familiensituationen. Das verordnete Eingreifen in die Familiensituation steht aber im Gegensatz zu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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meinem Auftrag als Interviewerin, Daten zu erheben. Diese spannungsreiche Affektlage zeigte sich auch darin, dass ich während der Interviews mehrfach den Impuls verspürte, die geschilderten Probleme der Jungen mit Aussprüchen wie »Das ist doch nicht so schlimm« oder »Das ist doch jedem schon mal passiert« zu verharmlosen. Ebenfalls konnte ich kaum das Bedürfnis unterdrücken, gerade diesen Jungen immer wieder zu versichern, dass alles an ihnen vollkommen in Ordnung ist. Bei einigen meiner Kolleg/-innen fanden sich ähnliche Phänomene. Beispielsweise versicherte ein eher gelassener Kollege seinem sehr unruhigen neunjährigen Interviewpartner, er sei selbst auch immer etwas aufgeregt. Diese Verharmlosung mag sein Versuch gewesen sein, sich selbst zu beruhigen, um das Beunruhigende im Verhalten des Jungen nicht wahrnehmen zu müssen.

Suchbewegungen Bei der Sichtung der Daten für diesen Beitrag stand das Thema Kindheit im Fokus meiner Aufmerksamkeit. Während der Lektüre der Interviews auf der Suche nach den jeweiligen sozialen Repräsentationen von Kindheit stellten sich meine negativen, beklemmenden Gefühle erneut ein. Es hat mich frustriert und zum Teil sogar ärgerlich gemacht, in den Interviews keine Hinweise auf eine Kindheit zu finden, wie ich sie mir vorstelle. Ich habe nach Szenen gesucht, in denen kindliches Spiel oder zumindest eine gewisse Art von Unbeschwertheit im Vordergrund steht. Stattdessen bin ich zu meinem Erschrecken auf Sequenzen gestoßen, in denen das Spielen eindeutig negativ beschrieben worden ist. So berichtet ein Junge, dass er ohne Tablette spielen »müsse«, statt sich zu konzentrieren. Spielen erscheint bei ihm als eine unerwünschte Ablenkung von den wesentlichen Dingen. Auch weist er den Interviewer darauf hin, dass er ohne Lernen im Leben nichts erreichen werde. Ein anderer Junge vertritt die Ansicht, dass er, auch beim Spielen, »aus seinen Fehlern lernen« müsse. Nach zahlreichen Stunden, die ich mit der Sichtung der Transkripte verbracht habe, bin ich zu dem Schluss gelangt, nicht weiter zu suchen; soll sich doch jemand anderes mit der undankbaren Thematik befassen. Meine Wahrnehmung der interviewten Jungen als © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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schuldbewusst, angepasst und mit der Diagnose identifiziert hindert mich am Verstehen dessen, was die Kinder sagen und meinen. In dieser Grundstimmung habe ich schließlich das Transkript des achtjährigen Bernhard neu entdeckt. Wir hatten über das Interview mit ihm bereits in der Forschungsgruppe gesprochen und ich erinnere mich, dass ich diesen Jungen in seiner direkten Art als sehr angenehm empfunden hatte. Anders als die meisten anderen Interviews schien das Gespräch mit Bernhard von einer Art Protest den Gegebenheiten gegenüber bestimmt zu sein, der mir gefiel und der bewirkte, dass ich das Interview gerne las und mich darüber freute. Das erneute Lesen lies mich herzhaft lachen. Die bedrückende Auseinandersetzung mit den anderen Interviews löste sich auf, als ich mir die Interaktionen zwischen Bernhard und der Interviewerin vorstellte. Meine körperliche Reaktion war klar und deutlich; ich habe so laut gelacht, dass mein Lebensgefährte aus dem Nebenraum gekommen ist, um sich bei mir zu erkundigen, ob ich zu arbeiten aufgehört habe und mich nun etwas Angenehmerem widmen wolle. Von diesem Zeitpunkt an stand für mich fest, verstehen zu wollen, warum mich die Selbstdarstellung von Bernhard, einem achtjährigen Einzelkind, das mit seinen Eltern auf dem Land lebt, so beeindruckt, ja sogar erleichtert hat.

»Bernhard«: Verteidigung der Kindheit Gleich zu Beginn des Interviews erklärt Bernhard, dass er die Tablette, wenn sie ihm nicht bereitgestellt wird, auch nicht einnimmt: I: »Du vergisst das immer?« B: »Ja, wenn sie nicht auf dem Tisch liegt, dann nehme ich sie auch nicht.« I: »Und warum musst du sie eigentlich nehmen, die Tablette?« B: »Dass ich gut denken kann.« I: »Hast du vorher nicht denken kçnnen?« B: »Das ist eine gute Frage. (3) Das interessiert mich auch mal.«

Bernhard macht bereits in dieser kleinen Sequenz deutlich, dass er sich für die regelmäßige Einnahme seines Medikaments nicht verantwortlich fühlt. Im Unterschied zu vielen der befragten Jungen scheint es ihn nicht zu belasten, wenn er das Medikament nicht einnimmt. Es © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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bereitet ihm weder Schuldgefühle, noch erwähnt er in diesem Zusammenhang irgendwelche auftretenden Nebenwirkungen. Die Tablette ist in dieser Hinsicht für Bernhard ein äußeres Objekt geblieben. Die Frage nach dem Grund der Tabletteneinnahme beantwortet er zwar zunächst wie andere auch relativ stereotyp, wehrt die Nachfrage der Interviewerin »Hast du vorher nicht denken können?« im Unterschied zu ihnen jedoch nicht ab. Ganz im Gegenteil lässt er sich auf die Fragestellung ein und bescheinigt der Interviewerin, dass dies eine gute Frage sei. Angeregt durch die Nachfrage lässt Bernhard erkennen, dass er nicht davon überzeugt ist, erst durch die Tabletteneinnahme zum Denken gekommen zu sein. Dieser Zweifel beschäftigt ihn das ganze Interview hindurch. Das Bestreben nach Exploration, das in seiner Neugierde zum Ausdruck kommt, hat in mir ein positives, vitales Gefühl ausgelöst und ich unterstelle, dass für Bernhard solche grundlegenden Fragen von Bedeutung sind. Er weicht der Zwickmühle keineswegs aus und zeigt sich als aufgeweckter kleiner Junge. Gleichzeitig ist in dieser Sequenz aber auch die Information enthalten, dass Bernhard nicht weiß, was seine Eltern wirklich wollen. Die Einnahme der Tablette ist an die Vereinbarung gebunden, dass diese auf dem Tisch für ihn bereit liegt. Offenbar wird diese Vereinbarung von Seiten seiner Eltern aber nicht regelmäßig erfüllt. Damit erscheinen die Eltern hinsichtlich der Tabletteneinnahme unentschieden. Sie überlassen es Bernhard, sich zu entscheiden, wobei er aber ihre Erwartung spürt, sich dafür zu entscheiden. Damit ist er überfordert. In meiner spontanen Begeisterung habe ich Bernhard zunächst als sehr autonom wahrgenommen. Die andere Seite dieser vermeintlichen Autonomie wurde mir erst zugänglich, als ich meine Gegenübertragung in das Zentrum meiner Reflexion gerückt habe. Ich habe mich der Sequenz von meiner eigenen Kindheit her angenähert und mich einer häufig im Rahmen familiärer Zusammenkünfte erzählten Anekdote erinnert: Meine Eltern haben vielfach geschildert, dass sie bei einem Umzug der Familie eine große Anzahl Tabletten hinter meinem Kinderbett gefunden haben, die ich offensichtlich niemals eingenommen habe. Ich empfand dies immer als eine besonders lustige Geschichte und war stolz darauf, meine Eltern hinters Licht geführt zu haben. Der belustigende Umgang mit der Tatsache, dass ich es als Vierjährige geschafft habe, die verordneten Tabletten von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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meinen Eltern unbemerkt wieder auszuspucken, half mir, mein wirkliches Erleben aus dieser Zeit zu überspielen. Tatsächlich war der Grund für die Tabletteneinnahme alles andere als lustig und faktisch habe ich mich in dieser Zeit sehr verunsichert und alleingelassen gefühlt. Diese Episode aus meiner Kindheit hat mir eine andere Perspektive auf Bernhard eröffnet: Erst der Umweg über meine eigenen Gefühle hat es mir möglich gemacht, meine Idealisierung seiner Autonomie zu durchschauen.

Ohne Schule keine AD(H)S Auf die Frage, wer ihm die Tabletten verordnet hat, stellt Bernhard eine überraschende Kausalität her: I: »Und das ist ein Arzt, Kinderarzt oder?« B: »Hhm« (zustimmend). »Und der hat gesagt, ich soll die Tabletten nehmen. In der ersten [Klasse] habe ich sie ein paar Mal genommen, jetzt geht es in der zweiten die ganze Zeit los.«

In Bernhards Wahrnehmung nimmt mit jeder weiteren Schulklasse die Notwendigkeit zu, die Tabletten zu nehmen. An anderer Stelle drückt Bernhard den Zusammenhang von AD(H)S und Schule noch expliziter aus. B: »Aber vorher, wie ich reingekommen bin, habe ich das noch nicht gehabt.«

Bernhard äußert die Vermutung, dass er sich das, was er nun hat, in der Schule erst eingefangen hat, ähnlich wie einen grippalen Infekt. Er erinnert eine Zeit, in der er es noch nicht gehabt hat. Anscheinend vermutet Bernhard, dass er keine AD(H)S haben würde, wenn er nicht zur Schule gehen müsste. Er beschreibt den Eintritt in die Schulwelt als einen Bruch in seiner Lebensgeschichte, der bei ihm eine Störung verursacht hat. Diese Beschreibung hat bei mir Erinnerungen an die Zeit wachgerufen, als meine Familie nach Deutschland kam. Unsere Migration © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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fiel mit meinem Eintritt in die erste Klasse der Grundschule zusammen. Ich musste dort, obgleich Deutsch meine Muttersprache ist, zu meiner großen Beschämung einen Deutschkurs für Aussiedlerkinder besuchen. Mein Unverständnis über den Sinn des verordneten Kurses weist Parallelen zu Bernhards Beschäftigung mit der Frage nach seinem Denkvermögen vor Schuleintritt auf. Die in der Schule erfolgte Etikettierung ist bei Bernhard wie auch in meiner Lebensgeschichte mit Devianz verbunden. Wir sind beide als von der gesellschaftlichen Norm abweichend eingestuft worden: er als AD(H)S-Kind, ich als Aussiedlerkind. Bernhard wendet seinen ganzen Verstand auf, sich nicht irre machen zu lassen: B: »Vor der Schule, (…) wieso kann ich da (..)? Trotzdem bin ich so, wie ich bin, da denke ich doch gar nicht anders.«

In Bernhards abgebrochener Frage »Wieso kann ich da…?« wird für mich seine Beunruhigung spürbar. Indem er seine Frage in eine beherzte Feststellung wandelt (»Trotzdem bin ich so, wie ich bin«), betont er die eigene Wahrnehmung und stellt fest, trotz Schuleintritt und Tabletteneinnahme immer noch er selbst zu sein. Was sich verändert, sind die Anforderungen an ihn. Wie ich, so ist auch die Interviewerin anscheinend von Bernhard beeindruckt: I: »Du bist so, wie du bist, denkst nicht anders. Dann bruchtest du vielleicht doch keine Tablette oder was (lacht)?«

Bernhard beantwortet die Frage nicht direkt, zieht den Nutzen des Medikaments aber indirekt in Zweifel, indem er verkündet: B: »Die Marta nimmt eine und dreht trotzdem durch.«

Es ist diese kluge Schlagfertigkeit, mit der Bernhard mich so für sich eingenommen hat. Mit seiner cleveren Formulierung umgeht er die direkte Beantwortung der Frage und zweifelt die Zweckmäßigkeit der Tablettenvergabe an. Denn er hat eine deutliche Vorstellung davon, was sich verändern müsste, damit niemand mehr »durchdreht« – nämlich die Schule. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Jeder nach seinem Tempo I: »Und wie ist das in der Schule bei dir, wenn du in der Schule bestimmen kçnntest, wie das sein sollte, wie wrdest du dir das denn wnschen?« B: »(3) Hm? (6) Ich wrde erst mal gucken, dass das alle kapiert haben.«

Bernhard lässt sich bei der Beantwortung dieser Frage insgesamt neun Sekunden Zeit. Er scheint nicht unter Druck zu stehen und überlegt in aller Ruhe. Er hat eine bestimmte Auffassung davon, wie Schule sein sollte. Das Ergebnis seiner Überlegungen mündet in den Wunsch, dass keiner auf der Strecke bleiben möge und dementsprechend niemand ausgeschlossen wird. I: »Wie wrdest du das machen?« B: »(3) Hm? Das ist schwer (lacht). (4) Der Herr Mller zeigt uns das ja nur auf dem Projektor, dann mssen wir das sofort kçnnen. Heute haben wir wieder einen Test gemacht, TempoCheck.«

Bernhard räumt ein, dass es sich hierbei um keine leichte Aufgabe handelt. Er kann der Interviewerin aber sogleich einige Anhaltspunkte liefern, was die Gründe für die schulischen Hindernisse sein könnten. Er betont, dass der Lehrer den Lehrstoff nur per Projektor vorführt. Der Projektor stellt eine indirekte Form der Kommunikation dar. Bernhard scheint sich eine direktere Vermittlung des Wissens zu wünschen. Als weiteres Hindernis formuliert er den Faktor Zeit. Die Anforderung nach Geschwindigkeit hält er für eine kontraproduktive Forderung, wenn es um Wissensvermittlung geht. B: »Guck, da gibt es den Tempo-Check, der muss schnell sein, nur fnf Minuten haben wir da. […] Weiß du, was ich gelesen habe? Immer nur (…), dabei muss ich das lesen (..), alles kann ich wieder wegradieren.«

Bernhard kritisiert, dass Lerninhalte unter bestimmten Zeitvorgaben geprüft werden. Er ärgert sich darüber, in der Prüfungssituation bereits die Aufgabenstellung falsch verstanden zu haben. Er hat unter © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Zeitdruck immer wieder den verkehrten Satz gelesen. Folglich hat er gar keine Chance mehr, die Anforderungen zu erfüllen. Bernhard entwickelt ein Gegenmodell zum geforderten Tempo-Check. Durch Verlangsamung könnten seiner Auffassung nach alle Kinder alles lernen. Bernhard vertritt ein Gleichheitspostulat: Alle sollen nach ihren Möglichkeiten behandelt werden. Ein Tempo-Check hingegen selektiert. Im Schulsystem wird die unter Zeitdruck erbrachte Leistung zu dem bestimmenden Merkmal. In einer weiteren Szene erläutert Bernhard, dass er sich die Zeit zurückwünscht, in der er seine »Arbeit« noch ohne Tempo-Check verrichtet hat: I: »Welche Arbeit? Das habe ich jetzt nicht verstanden.« B: »Buddeln. Einmal haben wir den ganzen Sandkasten ausgebuddelt, da war kein Sand mehr drin.« I: »Auf dem Spielplatz oder wo?« B: »Im Kindergarten. Da haben sie gesagt, ›hej, ihr msst die ganzen Lçcher wieder zumachen, sonst haben wir keinen Sand‹.« I: »Wahnsinn. Das machst du gerne, solche Arbeiten?« B: »Hhm.« (zustimmend) I: »In den Kindergarten bist du gerne gegangen?« B: »Hhm« (zustimmend). I: »Und in der Schule war es dann anders?« B: »Hhm« (zustimmend). I: »Und ab wann?« B: »Wie ich reingekommen war.« I: »Gleich von Anfang an? Weil man da nicht soviel buddeln darf ?« B: »Da gibt es auch keine Schaukel und ich und der Yannick schaukeln immer so gerne. Wir hatten da viel mehr Sachen, im Kindergarten konnten wir auch Rdchen fahren. Aber ich kapiere nicht, wieso haben sie uns nicht erlaubt, einen Hnger Sand rumzufahren?«

Beim Lesen dieser Sequenz habe ich den Eindruck, Bernhard beschreibt im Rückblick eine bessere Welt. In dieser Welt hat es Schaukeln, Rädchen, Hänger voll Sand und noch weitere Sachen zum Spielen gegeben. Dort hat Bernhard sich offensichtlich sehr wohl gefühlt. Dort hat er durch unmittelbare, sinnliche Tätigkeiten, wie © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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zum Beispiel einen Sandkasten auszubuddeln, Aufmerksamkeit und auch Anerkennung erlangt. Solche direkten Erfolgserlebnisse bleiben bei den stundenlangen Hausaufgaben, mit denen er sich quält, aus. Auf dem Hintergrund meiner Migrations- und Einschulungserfahrung assoziiere ich, dass Bernhard die Diagnose AD(H)S als Vertreibung aus seiner heilen Kindergartenwelt erlebt hat. An dieser Welt aber hängt nach wie vor seine Sehnsucht. Mir ist eine solche idealisierende Erinnerung durchaus bekannt; auch ich verkläre die Zeit vor der Migration meiner Familie. Erst der Verlust lässt das Verlorene als ideal erscheinen.

Helfen statt Konkurrieren Auch außerhalb der Schule wird Bernhard mit der Forderung konfrontiert, schnell etwas begreifen zu sollen. So im Judoverein, in dem es mit einem Trainerwechsel ebenfalls eine Veränderung für ihn zum Schlechteren gegeben hat: »Die [neue Trainerin] sagt immer, ›komm, aufpassen, guck‹. Und das alte Liedchen, n, sagt, ich soll-, weil mir langweilig ist, irgendwas habe ich getan, da sagt sie, ›komm, renne fnf Runden‹. Das habe ich gemacht, da sagt sie, ›schneller‹. War ich ein Stck schneller, und dann noch schneller, da sagt sie, ›noch schneller‹, und dann noch mal ›schneller‹. Dann war ich so aus (pustet Luft aus), kommt sie und sagt, ›Magst du noch mal fnf Runden‹. «

Dass es Bernhard langweilig ist, meint eher eine Lustlosigkeit gegenüber Leistungsanforderungen, die sich als Unaufmerksamkeit auswirkt. Das aber akzeptiert die neue Trainerin nicht. Sie straft ihn, indem sie ihn willkürlich viele Runden laufen lässt, was er als unsinnig erlebt, weil es wieder eine abstrakte Leistungsforderung ist. Bernhard aber wünscht sich etwas anderes. Was das ist, wird deutlich, als ihn die Interviewerin nach der Hausaufgabenbetreuung fragt: I: »Bist du gern in der Hausaufgabenbetreuung?« B: »Ja.« I: »Nee, ist nicht so?« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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B: »Doch.« I: »Doch, bist du gerne.« B: »Und dann mache ich noch eine Stunde lnger, weil, bis jetzt bin ich noch nie fertig geworden.« I: »Hast du keine Lust zu den Hausaufgaben?« B: »Guck, die Frau [Name] hat gesagt, wenn ihr mal weniger auf habt, dann kannst du auch mal die anderen helfen, und das mache ich immer mal (…) und dann konzentriere ich mich auf meine Hausaufgaben (…) fertig. Aber immer, wenn ich dann (…) da bin, dann (..) immer ding, dong, dang.« I: »Ist die Zeit schon wieder vorbei?« I: »Ja.«

Bernhard versichert der Interviewerin, dass er gerne zur Hausaufgabenbetreuung geht, und zwar aus einem besonderen Grund: Wer früher als andere fertig ist, darf denen helfen. Leider ist Bernhard aber bislang noch nie so früh fertig gewesen. Während sich Bernhard primär hilfreiche Beziehungen wünscht, erscheinen sie in der Hausaufgabenbetreuung als Belohnungen für zuvor erbrachte Einzelleistungen. Damit geht zum Leidwesen von Bernhard die Konkurrenz der Kooperation voraus: I: »Und das kannst du gar nicht anders hinkriegen oder hast einfach keine Lust, das zu machen oder?« B: »Keine Lust, irgendwie mag ich nur, dass ich den anderen auch mal helfen kann.«

Offenkundig sind Bernhard kooperative Beziehungen wichtiger als konkurrierende. Damit schädigt er sich aber selbst, da die Schule aufgrund ihrer einseitigen Orientierung am Leistungsprinzip eine solche Prosozialität nicht angemessen wertschätzen kann: I: »Und die drfen dann spielen und du musst dann immer sitzen (B: »Ja«) und Hausaufgaben machen?« B: »Ja, ich kann nichts dafr, dass ich immer so lange- […] die Hausaufgaben, bis ich die wieder kapiert habe.«

Abermals macht Bernhard es mir leicht, mich mit ihm zu identifizieren. Ich habe die quälenden Stunden vor irgendwelchen Hausaufgaben in der Grundschule noch deutlich in Erinnerung. Dass ich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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nie wirklich verstanden habe, was ich eigentlich tun soll, ist mir vertraut. Im Gegensatz zu Bernhard war ich allerdings fest davon überzeugt, dass ich für diesen Zustand selbst verantwortlich bin. Auch Bernhard kann sich nicht erklären, warum es so lange dauert, bis er die Aufgaben verstanden hat. Im Unterschied zu mir fühlt er sich aber nicht schuldig, sondern sagt stattdessen: »Ja, ich kann nichts dafür.« Wahrscheinlich ist aber auch Bernhard nicht frei von Versagensgefühlen, weil es ihm nicht gelingt, so schnell mit seinen Aufgaben fertig zu werden, dass er Zeit hat, Mitschülern zu helfen und dadurch, so lässt sich vermuten, soziale Anerkennung zu erhalten. I: »Dann hast du zugehçrt und hast sie trotzdem nicht kapiert oder hast du nicht so zugehçrt?« B: »Zugehçrt und ich habe es (..). Das ist wie bei Judo, da schimpfen sie mit mir rum, dabei hçre ich genau zu.« I: »Bei Judo hçrst du zu und hast nicht verstanden, wie du das machen sollst?« B: »Ja, ich gucke genau zu und dann sagt die, ›Bernhard, zeig mirs mal‹, und dann habe ich es noch nicht so geschnallt, weil ich kann mir das nicht gut merken alles. Und dann sagt sie, ›oh Bernhard, du hast wieder nicht aufgepasst‹. Und wie ich das letzte Mal da war, wo ich nicht da war, n, und da hat sie auch gesagt, ›zeig mal dem Bernhard noch mal die Griffe‹. Und dann war sie hergekommen und dann hat sie gesagt, ›so, mach mal die Griffe‹, und dann hat sie gesagt, ›Mensch, Bernhard, mach doch einmal mit‹. Da sagt sie, ich soll nach da gehen, falsch, ich soll nach da gehen, da war ich so, hm, wo soll ich jetzt hin.«

Hier beschreibt Bernhard eindrücklich, wie er sich von der Judotrainerin angetrieben fühlt und sich gerade deshalb nicht konzentrieren kann. I: »Wie wrdest du das denn machen, wenn du jetzt so Leiterin oder Leiter von Judo wrst? (2) Hast du eine Idee, wie es besser wre?« B: »Nicht sofort anfangen zu schimpfen, weil in der ersten fand ich es beim Peter viel besser, da drfen wir uns auch einen Partner aussuchen und da durften wir uns auch ein bisschen Zeit haben, das zu ben, und das war nicht schlimm, wenn wir © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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da einfach nicht das kçnnten, weil der hatte Gefhl. Und da haben wir (…), da hat er gesagt, der mag auch gar nicht stndig schimpfen, aber nur wenn er muss, aber die Zeit, die wir da waren, hat er noch nie geschimpft.«

Erneut macht Bernhard deutlich, dass er sich nicht als Einzelkämpfer sieht. Für ihn ist die Arbeit mit einem Partner, mit dem er ohne Zeitdruck zusammen arbeiten kann, erstrebenswert. In einer solchen Form wünscht er sich auch sein späteres Berufsleben. Bernhard ist auf fördernde persönliche Beziehungen angewiesen. Fehlen sie, kann er sein Potenzial nicht entfalten.

Die Welt der Erwachsenen Nach seinem Vater gefragt, betont Bernhard, dass die beklagte Zeitknappheit an dessen Arbeit liegt: »Der hat fast nie Zeit fr mich, arbeiten immer Nachtschicht, dann pennt er immer. Erst liegt er den ganzen Tag im Bett, dann hat er Nachtschicht, ist er nur kurz da, dann ist schon wieder acht Uhr, wenn es dunkel ist. Da sagt er, ›was wollen wir dann jetzt noch machen, du musst auch bald wieder ins Bett‹ und schlafen muss er und dann ganz frh muss er aufstehen und dann bis mittags arbeiten. Dann ist er wieder fertig, dann geht er wieder auf die Couch.«

Bernhard leidet darunter, dass sein Vater aufgrund von Schichtarbeit in einem Produktionsbetrieb nicht genug Zeit für ihn hat. Ihm wäre es lieber, wenn sein Vater, so stellt er sich das vor, den Lebensunterhalt für die Familie als Bauer erwirtschaften würde. Dann würden die Lebensrhythmen von Vater und Sohn besser zusammenpassen. Stattdessen gibt es nur geringfügige Zeitlücken, in denen Bernhard ihm nahe sein kann. Während der übrigen Zeit bleibt der Vater für seinen Sohn unerreichbar. Will der Sohn etwas von seinem Vater haben, muss er sich dessen Bedürfnissen anpassen. Die Erwachsenenwelt des Vaters hält für Bernhard nur wenige Verlockungen bereit. Er lehnt die entfremdete Industriearbeit ab, die sein Vater repräsentiert. Im Vergleich dazu erscheint ihm das Leben © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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von Bauern als ein authentischeres Leben: Kommt der Nachbar mit seinem Traktor vorbei, lässt er alles stehen und liegen, um mitzufahren. Darüber vergisst er sogar Verabredungen mit seinem Vater!

Reziprozität Bernhard ist auf Reziprozität aus. Das zeigt sich auch in seiner Einstellung zum Interview. So unterbricht er die Interviewerin und fragt: B: »Wann kommt denn meine Frage mal?« I: »Hast du auch eine Frage?« B: »Hhm« (zustimmend). I: »Was hast du fr eine Frage?« B: »Wenn du alles forschst, dann mag ich mal wissen, wie ist eigentlich der Main entstanden und wie ist das Wasser da reingekommen und wer hat das gemacht, und das Gleiche mit dem Meer? Wie ist da das Wasser hingekommen und wer hat das gemacht alles?«

Bernhards Beziehungskonzept ist von einer Vorstellung der Gegenseitigkeit bestimmt: Menschen sollen sich aufeinander beziehen. Die Forscherin hat ihm viele Fragen gestellt, nun ist er an der Reihe, um das asymmetrische Verhältnis zu korrigieren. Ihn interessiert nicht nur das Wissen der Interviewerin, ihn interessiert sie als ganze Person, weil er sich nach einem aufrichtigen Kontakt mit einem Erwachsenen sehnt, der ihm die Welt erklärt, damit er sie versteht. Bernhard hofft auf die Wirkmächtigkeit von Beziehungen, Tabletten traut er nicht. Da das Interview dem Ende zugeht, kommt die Interviewerin abschließend auf die Frage zurück, was denn die Tabletten bewirkt haben: B: »(5) Keine Ahnung. […] Durchdrehen, tue ich immer noch.« I: »Das tust du immer noch. Aber was ist besser geworden?« B: »(2) Das weiß ich nicht.« I: »Ist es gleich geblieben?« B: »Gleich eigentlich.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Bernhards Fazit lautet eindeutig, das Medikament habe weder Auswirkungen auf seine Lebensumstände noch auf seine Befindlichkeiten, denn beherrschen könne er sich meist immer noch nicht: »Durchdrehen« steht für seine nicht integrierte Kindlichkeit, die er – trotzig – verteidigt. Tabletten ändern daran nichts. Da müsste schon ein Mensch kommen, so könnte man Bernhards Credo weiterdenken, der ihm in einer fördernden persönlichen Beziehung hilft, sich zu entwickeln. Noch am Ende des Interviews setzt Bernhard seinen Beziehungswunsch in Szene: Auf die abschließende Frage der Interviewerin, ob er noch etwas sagen möchte, wünscht er sich, sie solle doch länger bleiben, denn er wolle »mit [ihr] noch spielen«.

Schlussbemerkung Vergegenwärtige ich mir meinen Interpretationsprozess des Interviews, wird deutlich, dass er von dem Wunsch geprägt ist, für Bernhard etwas von dem zu bewahren, was ich unter »heiler Kindheit« verstehe. In meiner Lesart spiegelt sich einerseits mein Bedürfnis, Bernhard möge die Bilder meiner eigenen – verklärten – Kindheit bestätigen. Andererseits sehe ich ihn dort aufbegehren, wo ich still gehalten habe. Damit wird er für mich zu einem Stellvertreter, der sich traut, Wut und Trauer zum Ausdruck zu bringen, die aufkommen, wenn die Kindheit verlassen werden muss. Dafür brauchen Kinder eine empathische Begleitung, die durch keine Medikation ersetzt werden kann. In Bernhards radikalem und etwas melancholischem Plädoyer für die Verteidigung der Kindheit zeigt sich das Wissen darum, dass Aufwachsen und Großwerden mit der Übernahme eines Realitätsprinzips verbunden ist, das verlangt, auf kindliche Lust zu verzichten und diesen Verzicht in sein Selbstbild zu integrieren. Die vertrauensvolle und produktive Gestaltung des Interviews zeigt, dass Bernhard durchaus bereit ist, sich den neuen Anforderungen zu stellen, wenn er auf Erwachsene trifft, die ihn in seinen Überlegungen ernst nehmen. Wenn es mehr solcher Gelegenheiten geben würde, müsste er vielleicht auch nicht mehr »durchdrehen«, sondern könnte Veränderungen als Entwicklungschancen erleben. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Literatur Argelander, H. (1970). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Belgrad, J. (Hrsg.) (1987). Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Frankfurt a. M.: Fischer. Devereux, G. (1967). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München: Hanser. Freud, S. (1925). Selbstdarstellungen, Sigmund Freud. Gesammelte Werke, Bd. XIV. Frankfurt a. M.: Fischer. Klein, R. (2003). In der Zwischenzeit. Tiefenhermeneutische Fallstudien zur weiblichen Verortung im Modernisierungsprozess 1900 – 2000. Gießen: Psychosozial-Verlag. Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse (4. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mruck, K., Breuer, F. (2003). Subjektivität und Selbstreflexivität im qualitativen Forschungsprozess – Die FQS-Schwerpunktausgaben. Forum Qualitative Sozialforschung, 4 (2), Art. 23. Sandler, J. (1976). Gegenübertragung und Bereitschaft zur Rollenübernahme. Psyche – Z. Psychoanal., 4, 297 – 305. Tietel, E. (2000). Das Interview als Beziehungsraum. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum Qualitative Social Research [Online Journal], Vol. 1, No. 2, Juni 2000. Wellendorf, F. (1991). Supervision als Institutionsanalyse. In H. Pühl, W. Schmidbauer (Hrsg.), Supervision und Psychoanalyse (S. 26 – 36). Frankfurt a. M.: Fischer. Wellendorf, F. (1996). Der Psychoanalytiker als Grenzgänger. Oder was heißt psychoanalytische Arbeit im sozialen Feld? Journal für Psychologie, 4 (4), 79 – 91.

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»Dann arbeiten die Männchen da drin, dass ich dann weiß, dass ich nicht sofort hinschlagen soll« Vorstellungen medikamentierter Jungen über die biomedizinische Wirkungsweise von Medikamenten gegen AD(H)S In der öffentlichen Debatte über die Zunahme der Diagnose AD(H)S in der Bundesrepublik dominieren kausale biomedizinische Erklärungsmodelle, die davon ausgehen, dass die mit dem Krankheitsbild AD(H)S verknüpften Verhaltenssymptome (Aufmerksamkeitsdefizit, fehlende Impulskontrolle, Hyperaktivität) auf eine Störung des Dopamin-Stoffwechsels im Gehirn zurückgehen (Amft, 2006; Mattner, 2006; Kliems, 2008). Diese biomedizinischen Erklärungsmodelle haben sich auch in der pädagogischen Fachöffentlichkeit etabliert (Becker, 2007). Die diagnostischen Kriterien der Diagnose AD(H)S beruhen weithin auf der Gleichsetzung von beobachtbarem Verhalten mit einer hirnorganischen Störung. Diese Diagnose ist zudem darauf gegründet, dass die institutionell unter Beweis gestellte Fähigkeit zur Konzentration und Aufmerksamkeit als Norm für (Schul-)Kinder etabliert wurde. Erst vor dem Hintergrund dieser Sollensregel gilt Unaufmerksamkeit als abweichendes Verhalten und wird zu einem zentralen diagnostischen Kriterium des Krankheitsbildes AD(H)S (Reh, 2008). In ethischer Hinsicht ist offen, wie und in welchem Ausmaß Kinder, die eine AD(H)S-Diagnose erhalten haben, angemessen über ihre Diagnose informiert und über die medikamentöse Therapie aufgeklärt werden sollen. Auch Kinder haben ein Recht darauf, zu wissen, warum sie als behandlungsbedürftig gelten, warum die Behandlung mit Medikamenten erfolgt, wie die Medikamente wirken und wie mit ihnen verantwortungsbewusst umzugehen ist. Um die Wirkungsweise der Medikamente zu erklären, müssen Ärzt/-innen und Eltern biochemische und neurologische Stoffwechselvorgänge © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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erklären. Wie diese Erklärungen von Kindern rezipiert werden, ist unerforscht. Was wissen Kinder über die Wirkungsweise von Medikamenten und welche Bedeutung hat diese Wirkungsweise für sie? In meinem Beitrag diskutiere ich Vorstellungen von Jungen, die Medikamente gegen AD(H)S einnehmen, über die Wirkungsweise dieser Medikamente. Für diesen Beitrag wurden sechzig Interviews mit Jungen im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren in einer Querschnittsanalyse ausgewertet. Für die Auswertung wurden die entsprechenden Passagen in den Interviews kodiert. Als zusätzliche Informationsquelle wurden 55 Zeichnungen herangezogen, die die Jungen im Laufe des Interviews zeichneten. Während ein Junge zeichnete, bat ihn die Interviewerin, seine Zeichnung zu kommentieren oder zu beschreiben, was er malte. Dem Sprechen über die Wirkung von Medikamenten liegt der Bezug auf körperliche Prozesse und auf zeitgenössisches biologisches Wissen über die Verfasstheit menschlicher Körper zugrunde. Ziel meines Beitrags ist es jedoch nicht, zu klären, wie weit die Jungen über korrektes medizinisches Wissen über neurologische Abläufe verfügen, sondern kindliche Sinnwelten zu rekonstruieren und auf die Ebene des Medikaments als Bedeutungsträger zu fokussieren. Unter den Begriff der »Vorstellungen« fasse ich die Dimensionen des Körperwissens sowie die sozialen und affektiven Bedeutungsdimensionen dieses Wissens. Insofern lege ich einen sehr weiten Wissensbegriff zugrunde. Konzeptuell werden in der neueren empirischen Sozialforschung und Wissenssoziologie drei analytische Zugänge zum Verhältnis von Körper und Wissen unterschieden: Der erste Zugang ist mit dem Begriff »Diskurs« verbunden und betrachtet Wissen als etwas, was man über den Körper haben kann. Der zweite Zugang ist mit dem Begriff »Kompetenz« verknüpft und betrachtet Wissen als etwas, das im Körper sitzt, und der dritte Zugang ist mit dem Begriff der »Darstellung« verbunden und betrachtet Wissen als etwas, das über Körper zirkuliert (Hirschauer, 2008). In meinem Beitrag beziehe ich mich auf die Dimension des Wissens vom Körper. Hierbei wird der Körper als Gegenstand von Wissensbeständen betrachtet. Diese umfassen biologisches und medizinisches Wissen, aber auch Alltagswissen. Das Wissen vom Körper ist sprachlich verfasst. Methodologisch wird es über die Analyse von Texten rekonstruiert. Auch das in meinem Beitrag präsentierte Wissen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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von Kindern über die medizinische Wirkungsweise von Medikamenten wurde primär im kommunikativen Modus des Interviews vermittelt. Der Zugang zu den Vorstellungen über die Wirkungsweise von Medikamenten auf die körperliche Verfasstheit erfolgt also sprachlich.

Deutungsmuster über die (biomedizinische) Wirkung des Medikaments Den meisten Jungen ist die alltagsweltliche Unterscheidung zwischen »Glauben« und »Wissen« präsent. So trennen sie zwischen Wissen, das in der Regel (natur-)wissenschaftlich abgesichert und »objektiv« ist, und Wissen, das als unsicher gilt, als partikular und »subjektiv«. Viele Jungen heben hervor, dass sie etwas eher »glauben« oder sich »vorstellen«, als dass sie es genau wissen. Die weit überwiegende Mehrzahl derjenigen Jungen, die sich darüber äußert, woher sie ihr Wissen beziehen, gibt an, dass ihr Wissen auf eigenen Überlegungen und Erfahrungen beruht. Nur drei der Jungen geben an, dass ihnen ihre Mütter etwas erzählt haben, und nur ein einziger Junge bezieht sich auf Erklärungen, die ihm sein Vater gegeben hat. Ebenfalls nur ein Junge bezieht sich auf schulisches Wissen (über den Verdauungsablauf ) und vier Jungen geben an, dass ihnen ein Arzt oder psychologischer Experte etwas erklärt hat. In einem Fall wird aus dem Ablauf des Interviews deutlich, dass der befragte Junge die ihm von der Interviewerin gelieferten Informationen über die mögliche Wirkungsweise des Gehirns aufgreift und sie in seine Vorstellungen einbaut. Manche Jungen berufen sich auf eigene empirische Nachforschungen und Beobachtungen: Beispielsweise landet ein Zahn, wenn er verschluckt wird, analog zur Tablettenhülle in der Toilette; die Tablette löst sich in einem Glas Wasser auf, also muss sie sich – so die Schlussfolgerung – auch im Magen auflösen. Knapp ein Fünftel der Jungen gibt an, nicht zu wissen, wie die Tablette wirkt, manche Jungen äußerten sich erst nach mehrmaligen Aufforderungen unter Vorbehalt darüber, wie sie sich die Wirkung der Tablette vorstellen. Welche Vorstellungen über die Wirkungsweise des Medikaments haben die Jungen? Zur Beantwortung dieser Frage gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über verschiedene Denk- und Deutungs© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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muster über die Wirkungsweise des Medikaments. Grundsätzlich lassen sich diese Vorstellungen mit Bezug auf den Ort klassifizieren, an dem die Tablette wirkt. Insgesamt assoziieren gut zwei Drittel der Jungen die Tabletteneinnahme und -wirkung mit Verdauungsprozessen. Sie beschreiben zum Teil ausführlich Prozesse der Nahrungsaufnahme und schildern Vorgänge des Schluckens, des Herunterwanderns durch die Speiseröhre, der Auflösung der Tablette im Magen, ihre Ausbreitung und gegebenenfalls ihr Verschwinden. Vor allem der Prozess der Auflösung der Tablette im Magen wird von sehr vielen Jungen beschrieben: Die Tablette »schmilzt«; sie löst sich auf; wird zu »Puder«; sie »bricht sich auf in der Mitte«, wenn sie geschluckt wird, oder sie wird im Bauch »flüssig«. Knapp ein Viertel aller Jungen bezieht sich hauptsächlich auf den der Einnahme der Tablette folgenden Ausscheidungsprozess. Die meist jüngeren Jungen beschreiben, wie das Medikament durch den Körper hindurch geht, und legen Wert darauf, dass es am Schluss wieder aus dem Körper ausgeschieden wird. Orte der Wirkung, die immer wieder genannt werden, sind die Gliedmaßen: Arme, Beine beziehungsweise Hände und Füße. Bestechend ist das Beispiel des siebenjährige Kurt, der auf die Frage, was denn die Tablette in den Füßen macht, antwortet: »Dass ich ganz gut dann auch rechnen kann und ganz gut laufen kann.« Von dieser Aussage weicht er trotz einem mehrmaligen irritierten Nachfragen der Interviewerin nicht ab. Der zehnjährige Jonas führt aus, dass sich winzige Perlen ausbreiten, die unter anderem auch in die Arme und in den Mund gehen. Diese Perlen führen in den Armen dazu, dass er besser schreiben kann, und ihre Wirkung auf den Mund besteht darin, dass er leiser spricht. Die meisten Jungen, die die Wirkung in den Händen, Armen, Beinen und Füßen lokalisieren, geben an, sie bestehe darin, dass sie nicht mehr so unruhig oder hibbelig sind und ihre Hände und Füße nicht mehr so viel bewegen müssen. Beispielsweise gibt der zehnjährige Noel an, dass das Medikament dazu führt, dass er mit den Händen und Füßen nicht mehr »soviel Quatsch« macht, was für ihn höchst negativ besetzt ist. Das Medikament wirkt bei ihm aber auch in den Ohren und führt dazu, dass er besser zuhören kann. Zum Teil beschreiben einzelne Jungen, dass das Medikament seine Wirkung direkt in den Händen und Füßen entfaltet, so dass ihre Hände und Füße andere Kinder nicht mehr schlagen oder treten. So sagt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Timotheus, acht Jahre: »und welche, die gehen auch bis hier hin in die Arme und in die Beine. Weil damit macht man ja auch viel Mist, man tretet und man schlägt ja, dass die Arme sich dann auch ruhig verhalten, wenn da dann einer ist, dass sie dann hier so bleiben«. Die Mehrheit der Jungen hebt hervor, dass das Medikament auf das Gehirn beziehungsweise im Kopf wirkt. Hierbei wird das Gehirn von vielen als eine Art Steuerungsapparat gesehen. So antwortet beispielsweise der zwölfjährige Oskar auf die Frage, was das Medikament in seinem Körper mache: »Also ich glaube, dass-, mein Gehirn arbeitet ja damit, was ich rede und was ich mache, und ich glaube, dass, hm, mein Gehirn das so verarbeitet, dass ich Dinge, die ich sonst mache, zum Beispiel reinrufen, dass ich das nicht mehr mache und ansonsten meinen Finger hoch nehme.«

Oskar bezieht sich wie aus dem Interview hervorgeht auf die schulische Situation und darauf, dass er seit der Einnahme des Medikaments in der Lage ist, sich zu melden und zu warten, bis er von der Lehrerin aufgerufen wird, anstatt einfach in den Unterricht zu rufen. Auch der achtjährige Bernhard sieht das Gehirn als ein zentrales Steuerungselement an: B: (zeichnet dabei) »(4) Das Gehirn steuert da hier alles, und wenn das Gehirn-, n, das tut ja hier denken, was wir alles machen, und dann tut ja das Gehirn die Vitamine nehmen und das tut dann, glaube ich, die Finger, dass ich das besser-, denken kann und dass ich das auch richtig dann schreibe.« I: »Frs Schreiben hilft das auch, meinst du?« B: »Ja.« I: »Dass das Gehirn das steuert von oben-?« B: (unterbricht) »Ja, das steuert ja hier alles. Dann sagt es ja auch, ›du tust jetzt das machen und das und das‹ [es ist] der Boss.«

Bei dem neunjährigen Kevin sind spezielle Zellen im Gehirn dafür zuständig, dass er nicht, wie er selbst sagt, »ausrastet«. Jedoch funktionieren diese speziellen Zellen im Gehirn bei ihm nicht. Erst durch das Medikament werden sie aufgeweckt und »gucken, dass es halt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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nicht passiert, das Ausrasten«. Hingegen ist der elfjährige Max der Ansicht, dass er beziehungsweise sein Gehirn einen »Ritalin-Mangel« hat. Für Max ist Ritalin ein Botenstoff im Gehirn, mit dem er sich besser konzentrieren kann. Er stellt sich Ritalin als eine körpereigene Substanz vor. Seiner Meinung zufolge regt der in dem Medikament enthaltene Wirkstoff sein Gehirn an, mehr von dieser Substanz zu produzieren. Körperliche Eigenstofflichkeit und biochemischer Wirkstoff, Ursache und Wirkung, Substitution und Mangel sind hier – gemessen an der zurzeit vorherrschenden biomedizinischen Substitutionshypothese, dass ein Dopamin-Mangel im Gehirn herrscht (Hüther, 2004) – vertauscht. Der elfjährige Horst beschreibt die Wirkung des in dem Medikament enthaltenen Wirkstoffs im Gehirn im Modus der Informationsweiterleitung. Im Gehirn sitzt ein, wie Horst ihn nennt, »Nachrichtenbringer«. Dieser erhält eine Meldung und sendet daraufhin selbst Informationen in die Gliedmaßen aus. Alle Jungen schreiben dem Gehirn eine Funktion zu und personifizieren diesen funktionalen Aspekt. Einige der Jungen benutzen bildhafte Vergleiche, um die Wirkungsweise des Medikaments zu erläutern, und heben hierdurch spezifische Aspekte hervor. Der zehnjährige Lukas führt aus, dass sich die Tablette in viele kleine Teile auflöst. Sie wird durch das Herz ins Blut und dann in das Gehirn transportiert. Auf die Frage, wie die Tablette im Gehirn wirkt, gibt Lukas an, man müsse sich vorstellen, dass viele kleine Männchen an einem Computer sitzen, die sich permanent miteinander unterhalten. Sie sprechen über Dinge, die sie erlebt haben. Die Männchen haben – dies hebt Lukas ausdrücklich hervor – ein dringendes Bedürfnis, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Dadurch konzentrieren sie sich nicht auf ihre Arbeit. Um welche Arbeit es hierbei geht, wird von Lukas nicht ausgeführt. Spezifisch an der Arbeit der Männchen ist nur, dass sie einen absolut verpflichtenden Charakter hat. Die Wirkung des Medikaments müsse man sich so vorstellen, dass ein weiteres Männchen hinzukommt, dass die Anweisung gibt, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und sich nur in der Pause und nach der Arbeit zu unterhalten. Einige Jungen nutzen den metaphorischen Ausdruck des Schlafens. Beispielsweise hat der siebenjährige Simon die Vorstellung, dass das Medikament schlafende Männchen in seinem Gehirn aufweckt, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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die dann zu arbeiten beginnen. Ihre Arbeit besteht darin, ihm mit einer kleinen Schaufel auf das Gehirn zu schlagen, womit sie verhindern, dass er selbst zuschlägt. In Bezug auf den Wirkungsort der Tablette beschreiben manche Jungen auch eine unspezifische Wirkungsweise im gesamten Körper, das heißt im Magen und Darm, im Gehirn und den Gliedmaßen zugleich. Die Wirkung des Medikaments ist nicht auf einzelne Körperteile beschränkt. Beispielsweise hat Philipp die Vorstellung, dass er sein Schulwissen körperlich – einem Container ähnlich besitzt. Er stellt sich dieses Wissen als etwas vor, dass aus dem Körper herausfallen kann. Die Tablette schließt in seiner Vorstellung eine körperlich gedachte Lücke und verhindert, dass das Wissen aus ihm herausfliegt oder -fällt. P: »Ja weil hm, hm, da fliegt …. ja auch das ganze gesammelte wo die Lehrer mir halt erklren, dass fllt dann direkt glaub ich dann irgendwie wieder raus .., geht direkt wieder raus, weil ich dann nicht weiß …« I: »Wenn du keine Tablette …« P: »… und die Tablette verhindert, verhindert das und die, hm (…), wenn das zum Beispiel so eine Lcke wre und dann wrde dann alles, alles wo man weiß oder vieles wo man gelernt hat hm, heute fllt das dann raus und dann weiß man es nicht mehr. Und die Tablette, wenn man die dann nimmt vielleicht, dann schließt sich das dann wieder und dann bleibt das drinnen und dann weiß man das und dann weiß man das dann lange oder lnger.«

Bildfelder In sprachlichen Bildern sind die Wissens- und Bedeutungsdimensionen besonders eng miteinander verknüpft. Der metaphorische Gehalt von Vorstellungen über die Wirkungsweise des Medikaments auf das Gehirn ist daher aufschlussreich. Beispielsweise geht der neunjährige Karl davon aus, dass die Wirkung des Medikaments darin besteht, sich besser konzentrieren zu können. In seiner Vorstellung arbeitet das Gehirn wie ein Ferrari. Dieser Ferrari kann sehr schnell fahren, aber er verbraucht auch »verschwenderisch« viel Benzin. Das © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Medikament bewirkt, dass das Gehirn bei gleicher Leistungsfähigkeit weniger »Benzin« verbraucht und Karl sich daher länger konzentrieren kann. K: »Die Wirkstoffe, die, hm-, meine Mama hat mir mal so ein Beispiel gegeben, dass das Gehirn wie ein Ferrari arbeitet, aber das ist-« I: (unterbricht) »Wie ein Ferrari?« K: »Ja, so ein Auto. Da rennt es richtig schnell, aber dafr rennt das Benzin, kann man sagen, verschwenderisch, und es soll so wirken, dass es weniger verbraucht, aber genauso schnell arbeiten kann.« I: »Ah, ein koauto.« K: »Das ist ein Beispiel jetzt so, dass es macht, dass es man weniger Benzin verbraucht und sich lnger konzentrieren kann und besser.«

Metaphern haben auf der sprachlichen Ebene die Funktion, bestimmte Dinge hervorzuheben. Der Interaktionstheorie zufolge funktioniert eine Metapher, indem sie etwas an einem Sachverhalt durch das Übertragen in einen anderen Bedeutungszusammenhang erkennbar macht (Black, 1996). Auch die Ferrari-Metapher hebt bestimmte Aspekte der Funktionsweise eines Gehirns hervor. Ein Ferrari ist schnell und leistungsfähig und zudem ein Statussymbol. Allerdings ist er kein umweltschonendes Auto. Überträgt man diesen Sachverhalt auf die Funktionsweise des Gehirns von Karl, dann ist es nicht nur schnell und leistungsfähig, sondern belastet – um in der Metapher zu bleiben – auch seine Umwelt. Die Wirkung des Medikaments auf das Gehirn von Karl besteht nun darin, dass er beziehungsweise sein Gehirn seine Umwelt nicht mehr belastet und trotzdem schnell und leistungsfähig bleibt. Karl, genauer: sein Gehirn, wird metaphorisch gesprochen zu einem ökologischen Ferrari, der seine Eltern, Geschwister, Mitschüler/-innen und Lehrer/-innen nicht mehr belastet. Ich halte fest: Die Ferrari-Metapher (wie auch die erwähnte bildliche Vorstellung von Männchen, die auf das Gehirn schlagen oder sich unterhalten) zeigt, dass sich Vorstellungen über die biomedizinische Wirkungsweise in spezifischen sozialen Bezügen und im Horizont von Normalitätserwartungen entfalten. Die Verhaltensanfor© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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derungen, an denen die Jungen sich zu orientieren haben, finden sich in den Vorstellungen über biologische und körperbezogene Prozesse wieder. Normative Anforderungen, wie sich zu konzentrieren und effizient zu sein, werden in der Dimension des Somatischen repräsentiert.

Somatische Repräsentation von Verhaltensanforderungen Die Repräsentation von Sollensregeln auf der somatischen Ebene möchte ich exemplarisch an zwei weiteren Beispielen veranschaulichen. Der achtjährige Harry hat die Vorstellung, dass das Medikament ihn vor »bösen Bakterien« schützt. Diese bösen Bakterien sind dafür verantwortlich, dass er, wie er es selbst nennt, »einen Ausraster bekommt«. Wenn er einen Ausraster bekommt, schlägt Harry. Beispielweise würde er einen Ausraster bekommen, wenn seine Schulfreunde zu ihm sagen: »Du bist in Kacke getreten« und lachen, wenn er nachschaut. Die Tablette verhindert, dass er bei solchen Gelegenheiten ausrastet. Harry geht davon aus, dass die Tablette eine so genannte »Ausrasterstelle« schützt. Die Tablette bildet aus »Punkten« einen »Schutzwall« zwischen der Ausrasterstelle und den bösen Bakterien. Wenn Harry kein Medikament nähme, würden die Bakterien die Trennlinie aus Punkten durchbrechen: »Dann wrden die einfach hier so durch die Mauer klotzen, also so der ganze Schwarm, und daher wrden die zu der Ausrasterstelle, also die male ich jetzt mal hier, die wrden dann dahin hinkommen und dann wrde ich sofort einen Ausraster kriegen.«

Wenn Harry das Medikament nicht nähme, hätte dies zudem weitere Konsequenzen. Eine Konsequenz wäre, dass die Ausrasterstelle Harry zufolge »riesengroß« werden würde. Das wäre gravierend für ihn, da schon einzelne Bakterien einen Ausraster verursachen können. Harry ist den Bakterien, die sich immer wieder an der Luft erneuern, letzten Endes ausgeliefert: Ohne die guten Punkte, das Medikament, ist er ungeschützt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 1: Harry, 8 Jahre

Gegen die Ausrasterstelle kann das Medikament nichts unternehmen. Sie ist eine inkorporierte Schwachstelle. Der Schutz, den das Medikament vor den Bakterien bietet, ist flüchtig und muss immer wieder erneuert werden. Die Fähigkeit zu einem gewaltfreien Umgang mit anderen Kindern, welche sich an der Norm des zivilen Miteinanders ausrichtet, wird hier als umkämpftes Gut präsentiert. Allerdings spielt sich dieser Kampf auf der Ebene von Körperprozessen ab, bei denen der einzige Verbündete von Harry die Tablette ist. Die Assoziation von Körperprozessen und Verhaltensanforderungen sieht man auch an einem anderen Beispiel: Der elfjährige George orientiert sich bei seiner Darstellung der Wirkungsweise des Medikaments an Leistungsnormen. Er führt aus, dass in seinem Gehirn ein Büro ist, in dem ein Direktor sitzt, umgeben von drei Türen. Der Direktor ist George selbst. Hinter den drei Türen verbergen sich Personen. Hinter einer Tür befinden sich Personen, die ihm sagen, dass er »rumkaspern« soll, hinter einer weiteren Tür sind Personen verborgen, die ihn darüber informieren, dass es »brennt«, und hinter der dritten Tür befinden sich Personen, die ihm mitteilen, dass er © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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»arbeiten« soll. Mit dem Medikament konzentriert er sich nur auf eine Tür, und zwar auf diejenige, hinter der sich Personen befinden, die ihm sagen, dass er arbeiten beziehungsweise lernen soll. G: »So, hier ist das Bro von dem- von so nem, von der Direktorin. Ja. Da is ne Tr, da is ne Tr und da is ne Tr. Da wollen mir welche sagen, dass-, dass ich spielen soll. […] Rum-, also rumkaspern soll. Da wollen mir [welche] sagen, dass es brennt. Ja, und da wollen mir welche sagen-, sagen, dass ich arbeiten soll. Und ich reag-, und ich achte nur auf dieses.« I: »Okay. Und das-, und das ist-« G: (unterbricht) »Und wenn ich die Tablette nehme, ist das weg-, weg. Das weg, und mich interessiert nur, dass ich lernen soll.«

Die Tablette hilft ihm, sich auf eine Tür zu konzentrieren. Allerdings hat George als Direktor[in?] keine Entscheidungsfreiheit. Die Tablette hilft ihm nicht nur, sich überhaupt auf eine Tür zu konzentrieren, sondern steuert zudem die Wahl der Tür. Welche Tür die wichtigste ist, ist ein Resultat der Tabletteneinnahme. Wichtig sind Prüfungen, die Schule und der Schulabschluss. Demgegenüber wird alles andere zweitrangig, wie George mit einem drastischen Beispiel schildert, denn selbst dann, wenn etwas brennt, soll George sich nicht darum kümmern: G: »Das hat er [der Arzt] mir erklrt. Also, dass da-, dass da ich sitze und ich bin der Direktor und da mir welche was sagen wollen- Also, ich weiß jetzt nicht, welche Tr das war, auf jeden Fall, er hat gesagt, dass eine Tr-, dass ich auf eine Tr nur achte, wenn ich die Tablette nicht nehme. Aber wenn ich die nehme, dann achte ich auf das ganz, ganz Wichtige.« I: »Okay.« G: »Und, wenn dann irgendwie, irgendwas brennt, was mich gar nicht interessieren sollte eigentlich. Wenn es irgendwo-, wenn mein Tier eben abge-, abbrennt, dass son-, und ich bin grade in einer Prfung, ob ich dann irgendwie von der Schule jetzt runterkomme oder nicht- Also, ob ich dann Abschluss mache oder nicht, das soll mir dann wichtiger sein, als ob irgendwas abbrennt.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 2: George, 11 Jahre

Die Wirkung der Tablette besteht darin, dass sich George ausschließlich an schulischen Leistungsnormen orientiert. Andere soziale Verpflichtungen und Bindungen, wie Loyalität seinem Haus- oder Kuscheltier gegenüber, treten zurück, obwohl doch eigentlich der Direktor mit Fug und Recht entscheiden können sollte, dass er lieber sein Tier aus dem Feuer rettet.

Vielfältige Bezüge In die Vorstellungen der befragten Jungen über die biomedizinische Wirkungsweise von Medikamenten, die sie aufgrund ihrer AD(H)SDiagnose erhalten, sind vielfältige Wissenssachverhalte und -elemente eingegangen und auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft. Das Wissen über die Wirkungsweise von Medikamenten gegen AD(H)S erhält seine Bedeutung in familiären, alltagskulturellen und medizinischen Wissenskontexten. Die angenommene Wirkungsweise der Medikamente, schulbiologisches Wissen über © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Körperteile, metaphorische Vorstellungen über Körperfunktionen und -prozesse, neurobiologische Wissenselemente und soziale Verhaltensanforderungen gehen ineinander auf. Körperteile werden zumeist personifiziert. Sollensregeln werden auf die Ebene körperlicher Vorgänge verlagert und naturalisiert. Dies betrifft die Fähigkeit zu einer zielgerichteten Wahrnehmung oder den gewaltfreien Umgang mit anderen Kindern. Insbesondere die bildhaften Vergleiche, die einige Kinder nutzen, zeigen an, wie stark Normalitätserwartungen die Repräsentation biologischer Körperprozesse strukturieren. Mit anderen Worten: Die vielfältigen Bedeutungsdimensionen des Wissens von medikamentierten Jungen über die Wirkung der Tabletten, die sie einnehmen, sind nicht auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines spezifischen biomedizinischen »Wissensstandes« reduzierbar. Die hier vorgestellten bildlichen Vergleiche und die Personifizierung von Körperteilen und -prozessen sollten zudem nicht aus einer entwicklungsbezogenen Perspektive als eine – im Vergleich zu Erwachsenen unterentwickelte Fähigkeit zum Begreifen biomedizinischer Sachverhalte abgetan werden. Der Medizinsoziologe Kenneth Irving Zola (1972) hat darauf hingewiesen, dass kindliche Vorstellungen über Krankheit im Modus der Personifizierung von Körperteilen geschildert werden. Diese Tatsache sieht er nicht als Entwicklungsdefizit, sondern als ein Argument dafür, dass über nahezu alle Fragen von Gesundheit und Krankheit ein »moralischer Krieg« (S. 494) geführt werde. Hinzu kommt, dass metaphorische Darstellungsweisen einen lange unterschätzten Regelfall der Aneignung und Weitergabe naturwissenschaftlichen Wissens darstellen. In wissenschaftlichen Fachöffentlichkeiten und populären Wissenschaftsmagazinen wird biologisches und medizinisches Wissen über Körperprozesse und -funktionen metaphorisch veranschaulicht. Metaphern sind ein konstitutiver Bestandteil modernen naturwissenschaftlichen Wissens und seiner populären Rezeption. Geschlechts-, klassen- und »rassen«-spezifische Normalitätserwartungen und Verhaltenszuschreibungen gehen in diese metaphorischen Darstellungsweisen ein (vgl. Martin, 1989, 1993; Haraway, 1995; Honegger, 1996; Fausto-Sterling, 2000; Sarasin, 2007). Yvonne Brandl (2007) zufolge hat sich für das Phänomen AD(H)S im deutschsprachigen Raum eine spezifische Metapherntradition herausgebildet und kulturell etabliert. Auf der Ebene wissenschaftli© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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chen Wissens und auf der Ebene der Rezeption wissenschaftlicher Theorien in populären Ratgebern und an Eltern gerichteten Informationsbroschüren der pharmazeutischen Industrie herrschen maschinentechnische und computertechnische Metaphern vor. Die Metaphern, die benutzt werden, um das mit der AD(H)S-Diagnose verbundene Verhalten von Kindern zu veranschaulichen, stammen aus den Bildfeldern der Maschinentechnik, der Informatik und dem Militär. Brandl zufolge werden technische Vergleiche mit Kraftfahrzeugen und Computern herangezogen, anhand derer ein gestörter oder behinderter Energie- oder Informationsfluss illustriert werden soll. Eine andere Vergleichsebene bilden biochemische Regulationsmodelle, in denen bestimmte Skalenwerte über- oder unterschritten werden. Probleme bei der Aufmerksamkeitssteuerung in regulationsdynamischen Modellen werden mit einem Orchester verglichen, bei dem ein »Dirigent« oder »Gedanken-Manager« im Gehirn beeinträchtigt ist. Brandl hebt hervor, dass bei der vorherrschenden wissenschaftlichen und populären AD(H)S-Metaphorik analog zu der Vorstellung eines »Betrachters im Kopf« eine innerhalb des Gehirns arbeitende Person oder Handlungseinheit angenommen wird, die als Projektionsfläche für Fremdsteuerung dienen kann. Die kindlichen Vorstellungen sind nicht auf eine eindeutige Typologie von Rezeptionsweisen alltagskultureller und biomedizinischer Wissensbestände hin einzuordnen. Eine Aufklärung von Kindern, die die Diagnose AD(H)S erhalten und Medikamente einnehmen (sollen), erfordert somit nicht nur die »sachliche« Wiedergabe vereinfachter Wirkmodelle. Diese Haltung beruht – legt man die Ergebnisse unserer Studie zugrunde – auf dem Fehlschluss, dass alle diese Jungen nur in medizinischer Weise nicht »korrekt« aufgeklärt wurden. Das Wissen über die medizinische Wirkungsweise ist wie gezeigt in vielfältige alltagskulturelle Bezüge eingebunden und entsprechend facettenreich. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Erfahrungsdimensionen und lebensweltlichen Bezüge der interviewten Kinder ist vielmehr die Bedeutung zu berücksichtigen, die das Kind selbst dem Medikament und der Medikamentenvergabe gibt. Bei der Vergabe von Medikamenten gegen AD(H)S geht es nicht nur um die Behandlung von Krankheitssymptomen. Mit der Vergabe sind elterliche und gesellschaftliche Anforderungen an das soziale Verhalten und an Leistung verbunden. Kinder reflektieren diese Aspekte und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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machen sich die mit der Medikation implizit verknüpften sozialen Erwartungen zu eigen.

Literatur Amft, D. (2006). ADHS: Hirnstoffwechselstörung und/oder Symptom einer kranken Gesellschaft? Psychopharmaka als Mittel einer gelingenden Naturbeherrschung am Menschen. In M. Leuzinger-Bohleber, Y. Brandl, G. Hüther (Hrsg.), ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen (S. 70 – 90). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Becker, N. (2007). Der Stellenwert biologischer Erklärungsmuster in der Debatte über ADHS. Eine Analyse pädagogischer Zeitschriften. Zeitschrift für Pädagogik, 52. Beiheft, Pädagogische Anthropologie – Mechanismus einer Praxis, 186 – 201. Black, M. (1996). Die Metapher. In A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher (S. 55 – 79). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Brandl, S. Y. (2007). Einmal bitte Öl wechseln und die Schaltung reparieren. Sprache und metaphorische Wahrnehmungen zur kindlichen Verhaltensbeschreibung. In B. Ahrbeck (Hrsg.), Hyperaktivität (S. 107 – 122). Stuttgart: Kohlhammer. Fausto-Sterling, A. (2000). Sexing the body. Gender politics and the construction of sexuality. New York: Basic Books. Haraway, D. (1995). Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitutionen des Selbst im Diskurs des Immunsystems. In C. Hammer, I. Stieß, D. Haraway (Hrsg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, (S. 160 – 200). Frankfurt a. M. u. New York: Campus. Haubl, R.; Liebsch, K. (2008). Psychopharmakologisches Enhancement: Der Gebrauch von Ritalin in der Leistungsgesellschaft. Sozialer Sinn, 2, 173 – 195. Hirschauer, S. (2008). Körper macht Wissen Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs. In K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Teil 2 ( S. 974 – 984). Frankfurt a. M.: Campus. Honegger, C. (1996). Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750 – 1850. Frankfurt a. M.: DTV. Hüther, G. (2004). Die nutzungsabhängige Herausbildung hirnorganischer Veränderungen bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen: Einfluss präventiver Maßnahmen und therapeutischer Interventionen. In M. Passolt (Hrsg.), Hyperaktivität zwischen Psychoanalyse, Neurobiologie und Systemtheorie (S. 117 – 130). München: Reinhardt. Kliems, H. (2008). Vita hyperactiva. ADHS als biosoziales Phänomen. In J. Niewöhner, C. Kehl, S. Beck (Hrsg.), Wie geht Kultur unter die Haut? © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaften (S. 143 – 169). Bielefeld: transcript. Martin, E. (1989). The cultural construction of gendered bodies. Biology and metaphors of production and destruction. Ethnos, 54 (3 – 4), 143 – 160. Martin, E. (1993). Ei und Sperma –- eine wissenschaftliche Romanze aus dem Stoff, aus dem die Geschlechterstereotypen sind. In M. Buchholz (Hrsg.), Metaphernanalyse (S. 293 – 310). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mattner, D. (2006). ADS die Biologisierung abweichenden Verhaltens. In M. Leuzinger-Bohleber, Y. Brandl, G. Hüther (Hrsg.), ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen (S. 51 – 69). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Reh, S. (2008). Vom »deficit of moral control« zum »attention deficit«. Über die Geschichte der Konstruktion des unaufmerksamen Kindes. In H. Kelle, A. Tervooren (Hrsg.), Ganz normale Kinder: Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung (S. 109 – 125). Weinheim u. München: Juventa. Sarasin, P. (2007). Die Visualisierung des Feindes. Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie. In P. Sarasin, S. Berger, M. Hänsler, M. Spörri (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870 – 1920 (S. 427 – 461). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zola, I. K. (1972). Medicine as an institution of social control. The Sociological Review, 20, 487 – 504.

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Beziehungsgestaltung unter Medikation

Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungskonstellationen der interviewten sieben bis 14-jährigen Jungen. Der Zusammenhang von Medikation und Interpersonalität soll einerseits anhand der Beziehung der Jungen zu Familienmitgliedern (Geschwister und Eltern), andererseits anhand der Beziehungen im schulischen Kontext (Klassenverband und Schulfreunde) veranschaulicht werden. In diesen Beziehungskontexten zeigt sich, dass die Medikation Auswirkungen auf die Beziehungen der Jungen zu ihren Mitmenschen sowie auf die Beziehung zu sich selbst hat. – Hat die Tablette sozial befriedende Wirkungen? Wann stiftet und wann gefährdet sie Beziehungen? – Konfrontiert die Medikation die Jungen mit sozialer Ausgrenzung und generiert sie so ein Gefühl von Einsamkeit? – Ist die Medikation mit sozio-emotionalen Erfahrungen verbunden, die für die interpersonale Beziehungsgestaltung der Jungen negative Folgen haben und welche sozialisatorische Bedeutung erhält sie dadurch? Anhand dieser Fragen gehe ich der These nach, dass sich die psychopharmakologische Behandlung der AD(H)S in nicht wenigen Fällen negativ auf die sozialen Beziehungen der Jungen auswirkt.

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Beziehungsstiftung In den Interviews werden drei soziale Bereiche von Beziehungen sichtbar, von denen die befragten Jungen berichten, dass sie durch die Tablette positiv beeinflusst würden: in der Familie, in der Schule sowie im Freundeskreis. Innerhalb der Familie beschreiben die Jungen Auswirkungen des Medikaments auf das Verhältnis zu ihren Eltern und Geschwistern. So antwortet zum Beispiel Dennis, zehn Jahre alt, auf die Frage, wie er sich mit seinen Eltern verstehe, seit er das Medikament nimmt: D: »Viel, viel besser. Also ganz gut.« I: »Wieso viel besser, war es eine Zeitlang nicht so gut?« D: »Ja, frher, als ich noch dabei war, weil, da hatte ich auch Stress mit meinen Geschwistern.«

Etwas deutlicher wird der achtjährige Timotheus, der eine Konfliktsituation mit seinem Bruder schildert, die er vor den Beginn der Tabletteneinnahme datiert: I: »Kannst du mir noch mal sagen, wie hat das denn angefangen mit der Krankheit und mit den Tabletten?« T: »Bei meinem kleinen Bruder, da hatte ich çfters auch Probleme mit ihm. Dann kam er çfters an mit einem schlechten [Wort], dass ich da sofort hinterherrenne, weil [ich dann] zum Vulkan werde.« I: »Zum Vulkan, was heißt das?« T: »Das heißt, dass ich total in die Luft gehe und ihm sofort hinterherflitze, dass ich dem eine knalle, aber nicht direkt eine Backpfeife. Wenn er mir eine Backpfeife gibt, dann haue ich ihm nur hinten drauf, nirgendswo anders, auch wenn er mir auf den Kopf haut, haue ich ihm nicht sofort hinterher auf den Kopf, nur hinten drauf.«

Seit Timotheus die Tabletten nimmt, empfindet er, dass die Konfliktsituation anders abläuft: I: »Wie geht es dir, wenn du die genommen hast, so direkt danach?« T: »Da geht es mir auch schon ein bisschen besser, wenn dann © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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[mein kleiner Bruder] Max da ist und mich stçrt, dann rufe ich meinen Vater, dass er Max aus dem Zimmer scheuchen soll.«

Timotheus schildert also, dass er sich mit Hilfe der Tablette umsichtiger verhält. Er »fühlt sich auch schon ein bisschen besser«, offensichtlich weil er fähig ist, sich bei Störungen durch den Bruder Unterstützung durch den Vater zu holen. In dem zweiten von den Jungen genannten Beziehungskontext, der Schule, zeigt sich, dass die Medikation bei Konflikten mit Klassenkameraden gleichermaßen regulierend wirkt. So erzählt Timotheus: T: »Weil in der Schule, da hat es sich auch ergeben, dass ich in der ersten Klasse, das weiß ich jetzt noch, da hatte ich çfters welche verprgelt, weil der Alex oder zum Maximilian gegangen und mir zum Beispiel sagt ›Du Dummkopf‹ und schon flippe ich wieder aus und muss hinterherrennen, aber das ist jetzt schon vorbei.« I: »Und warum ist das vorbei?« T: »Wegen den Tabletten, das beruhigt mich dann die ganze Zeit. Ich merke das schon an der Schule, wenn dann einer zu mir sagt ›Blçder‹, dass ich es dann sofort [der Aufsicht] sage. Und wenn keine Aufsicht ist und es schellt, dass ich es dann in der Schule sage bei meiner Lehrerin.

Auch hier wird berichtet, dass die Tablette dabei helfe, Konflikte zu verbalisieren und sich an Erwachsene zu wenden, statt die Fäuste zu gebrauchen. Der dritte Bereich, von dem berichtet wird, dass die Einnahme des Medikaments mit sozial erfreulichen Wirkungen verbunden sei, betrifft den Kontakt zu Freunden. Der zwölfjährige Oskar beispielsweise stellt fest, dass es ihm erst durch die Tablette möglich geworden ist, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen: »Ja, also ich habe bessere Laune, ich bin mehr motiviert im Unterricht auch und (2) ich habe auch leichter Freunde jetzt gefunden. Ja, dass ich halt weniger (..), mehr Freunde habe, also die Freunde, die kçnnen mich mehr ausstehen, weil ansonsten, wenn ich so andere Dinge, berflssige Dinge mache und bei anderen kommt das nicht so gut an. Und ich glaube, das ist (.) besser geworden auch mit der Tablette.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Insgesamt lässt sich bei den Jungen eine ganze Reihe von Aussagen finden, in denen dem Medikament eine positive, weil Beziehungen stiftende Wirkung zugeschrieben wird. Sie berichten davon, dass die Tablette ihnen helfe, mehr Distanziertheit und Gelassenheit zu praktizieren, wenn sie beispielsweise beleidigt oder geärgert werden. In solchen Situationen können die Jungen mit Hilfe der Tablette Ruhe bewahren und müssen der erlebten Provokation nicht sofort nachgehen, nicht gleich »hinterherflitzen«. Ein positiver Effekt zeigt sich, indem das Medikament Konfliktpotenziale im schulischen Kontext wie auch innerfamiliäre Auseinandersetzungen reduziert. Zudem erleichtert die Medikation die Aufnahme sozialer Beziehungen.

»Vergiftete« Beziehungen Andere Jungen berichten dagegen davon, dass die Medikation ihre sozialen Beziehungen negativ beeinflusst. Eindrucksvoll sind vor allem Interviewpassagen, in denen von Sorgen um Ausgrenzung und Angst vor Einsamkeit die Rede ist. Von solchen Erfahrungen berichtet zum Beispiel George. Er ist elf Jahre alt und nimmt das Medikament täglich in der Schule. So hat er sich seine Uhr gestellt, deren Klingeln soll ihn an die Tabletteneinnahme erinnern. George macht deutlich, dass er Sorgen hat, wegen des Medikaments »gehänselt« zu werden. G: »Also, erst war das ein bisschen komisch, weil ich wusste ja erst nicht, was das so-, also, was das fr ein Gefhl ist und so. So, ob man dann gehnselt wird, oder so. Ja, aber-« I: (unterbricht) »Gehnselt wegen was?« G: »Also, da weil-, dann- Manche meinen dann, der nimmt Tabletten, und so. Ja, und dann. Da gibts ja manche, die hnseln dann einen da drber. Weil der dann immer regelmßig so was nimmt und so. Oder die sagen, der stçrt dann im Unterricht, wenn er-, wenn seine Uhr oder so piept.«

Horst, ebenfalls elf Jahre alt, ist ähnlich besorgt: H: »Meine Mutter hat auch gesagt, dass ich das nicht so rumerzhlen soll, und deswegen ist das auch unter uns geblieben.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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I: »Was glaubst du, warum deine Mama das lieber wollte? (2) Also denkst du, das ist irgendwie was Schlimmes, das zu haben?« H: »Bei mir in der alten Klasse htte es bestimmt zwei Leute gegeben, die htten dann andere Leute ber so was ausgelacht.« I: »Ach so, die htten darber gelacht (H.: »Ja«), wenn man die Tablette nimmt, und darum hast du es lieber nicht erzhlt?« H: »Ja.«

Auch wenn sich für George und Horst ihre Sorgen bisher als faktisch unbegründet erwiesen haben, ist beiden die Möglichkeit, infolge der Medikation zum Außenseiter zu werden, doch sehr präsent, was die Folge haben könnte, Freunde zu verlieren, im Klassenverband isoliert zu werden und einsam zu sein. Die Medikation ruft nicht zuletzt deshalb solche Phantasien hervor, weil die Jungen mit ihren Befürchtungen zumeist alleingelassen werden. Es ist dann auch nur zu verständlich, wenn sie sich in der Öffentlichkeit des Klassenverbandes darum bemühen, die Medikation geheim zu halten. So antwortet der zwölfjährige Erik auf die Frage, mit wem er über die Tablette spricht: E: »Ja, bei manchen-, das kommt, glaube ich, aufs Aussehen an, wenn man zum Beispiel (…) unangenehm, der sieht nicht so grade freundlich aus.« I: »Und wenn du findest, jemand sieht ganz nett aus, dem kann man ein bisschen was erzhlen, was sagst du dann?« E: »hm, na ja gut, ich glaube schon, dass man dem dann vertrauen kann, aber (…) besser auch nicht zuviel vertrauen.« I: »Ja, glaubst du, das ist sicherer? Ja. Und wenn du dann so ein bisschen vertraust und der fragt, ›Sag mal, warum nimmst du eigentlich vier Tabletten jeden Tag?‹, was sagst du da?« E: »Ja, ich sage natrlich nicht, wie viel ich nehme, ich vertraue dann ja nur ein bisschen und nicht gleich alles.«

Erik wägt ab, wem er das Vertrauen entgegenbringt, über das ihn belastende Thema zu sprechen. Er ist vorsichtig. Vertrauen wird von ihm dosiert gesteigert. Seine Medikamenteneinnahme macht ihn skeptisch und wachsam, sorgfältig prüft er seine Gesprächspartner, ob sie mit seiner Selbstenthüllung verantwortungsvoll umgehen. Auf die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Frage, ob für ihn seine AD(H)S mit Problemen verbunden sei, antwortet er: E: »Ja, klar, das tut einem weh im Herzen, wenn man dann Leute abweist, die man eigentlich sehr gerne hat.« I: »Und dann ist man traurig hinterher und man denkt sich, warum habe ich das bloß gemacht?« E: »Ja.« I: »Und dann rgerst du dich?« E: »Ja.«

Die Medikation hemmt oder verhindert eine spontane Beziehungsaufnahme, lässt Beziehungen oberflächlich bleiben. Wenn »Leute abgewiesen« werden, weil es nicht möglich ist, Vertrauen zu entwickeln, degenerieren Beziehungen zu bloßen Kontakten, was einsam und traurig macht. Dies trifft sogar auf die innerfamiliären Beziehungen zu. Darüber geben zum Beispiel die Äußerungen von Leon, acht Jahre alt, Aufschluss: Leon äußert sich nur sporadisch zu seinem familiären Leben und den gemeinsamen alltäglichen Aktivitäten. Seine Eltern werden lediglich im Zusammenhang mit Schilderungen ihres Berufs erwähnt. Auch Leons Schwester kommt in seinen Erzählungen kaum vor. Ausführlich beschreibt er dagegen das Korsett an Regularien, Arrangements und Ordnungen, in das er in seiner Familie eingebunden ist und seinen Alltag bestimmt. Er schildert verplante und strukturierte Tage und Wochenenden, doch um Personen geht es bei ihm nicht. Einzig seine Mutter findet öfter Erwähnung, dies jedoch immer im Zusammenhang mit Forderungen. Sie verkörpert die mütterliche Autorität, der Leon gehorcht: »Aber wenn die Mama dann nein sagt, dann muss ich aufhören.« Ein Mittel der Mutter, gewünschtes Verhalten durchzusetzen, ist beispielsweise, bis zehn zu zählen und so dem Sohn die Gelegenheit zu geben, ihr »freiwillig« Folge zu leisten. L: »Also dann zhlt sie so-, dann zhlt sie eigentlich so mittelschnell. Eins, zwei, drei, vier, fnf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Manchmal macht sie auch ganz schnell. (3) Und wenn ichs dann net mache, kriegen wir-, kann ich schon glaub ich sagen, Fernsehverbot oder wir kriegen einmal Computerver© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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bot oder (4) wir mssen dann im Zimmer bleiben und dann drfen wir trotzdem Computer spielen.« I: »Und was musst du machen, bis deine Mama bis zehn gezhlt hat?« L: »Entweder muss ichs dann machen-« I: (unterbricht) »Was denn machen?« L: »Zum Beispiel, wenn die Mama jetzt sagt, (2) ich soll den Computer ausmachen.«

Diese Prozedur findet sich auch in einer Erlebnisschilderung in Bezug auf die Medikamenteneinnahme wieder: L: »Ja. Manch-, ich hab ja auch sehr-, sehr oft hab ich immer kein Bock, die Tablette zu nehmen. Aber dann muss ich sie nehmen, weil die Mama zhlt ja bis Zehn und dann muss ich sie nehmen.«

Das Medikament wird hier zwangsweise verabreicht und ist Teil des mütterlichen Regiments. Die Beziehung des Jungen zu seinen Eltern scheint vorrangig aus Regeln, Regelbefolgung und Verhaltensforderungen zu bestehen. Dass sich Leon anderes wünscht, nämlich mehr Kontakt oder besser noch eine echte Beziehung zu seinen Eltern, lässt die einzige Szene im Interview erahnen, in der er seinen Vater erwähnt: Leon beschreibt den Reparaturvorgang eines Spielzeugs. Sorgfältig, Schritt für Schritt und fast liebevoll repariert der Vater ein PlastikSpielzeug von McDonalds, dem er seine ganze Aufmerksamkeit widmet. Die genaue Beschreibung der Arbeitsgänge, die der Wiederherstellung von Funktionen dienen, an die sich Leon nicht einmal genau zu erinnern vermag (das Spielzeug kann »ein Bein irgendwo nach hinten schieben« und es »macht Geräusche oder auch keine Geräusche«), deutet an, dass ihn an der Aktivität des Vaters nicht das Ergebnis, sondern der Prozess interessiert. Er betont die Konzentration und Sorgfalt, die er selbst so selten aufzubringen in der Lage ist. Zudem beschreibt er eine väterliche Zuwendung, die nicht ihm, sondern einem massenindustriellen Produkt gilt. Während Leon allein spielt – er »macht eben so, was man alleine machen kann« –, umsorgt der Vater das defekte Spielzeug, »vorsichtig« wird die Temperatur geprüft, das Spielzeug trocken getupft und mehrfach ge© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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schaut, ob alles in Ordnung ist. Die detailreiche szenische Beschreibung des Jungen lässt erkennen, wie sehr er eine vergleichbare Zuwendung und Nähe ersehnt.

Selbstentfremdung Neben den Folgen für die Beziehungen der Jungen zu ihren Familien, ihren Schulkameraden und ihren Freunden wirkt sich die Medikamenteneinnahme auch auf die Beziehung der Jungen zu sich selbst aus. So deutet der zehnjährige Jonas an, dass er sich durch die Wirkung der Tablette seiner selbst entfremdet fühlt: I: »Erinnerst du dich noch, als du das erste Mal bei dem Doktor warst, als er dir das gesagt hat, wie das war?« J: »Hm? (2) Hhm« (verneinend). I: »Vielleicht wie es da ausgesehen hat oder wie du dich gefhlt hast, als du da gesessen hast?« J: »(2) Nervçs.« I: »Nervçs, warum?« J: »Ich bin fast immer nervçs.« I: »Und da warst du besonders nervçs?« J: »Eigentlich ja.« I: »Und wie ist das so, wenn du nervçs bist?« J: »Hm? (2) Das hçrt sich so ein bisschen sicher an.« I: »Das habe ich nicht ganz verstanden.« J: »Ja, ich fhle mich dann viel sicherer, wenn ich nervçs bin.« I: »Warum fhlst du dich dann sicherer? Das finde ich ganz spannend.« J: »Ja, das weiß jetzt ich jetzt auch nicht.«

Jonas beschreibt hier seinen inneren körperlichen Gefühlszustand als »nervös« und macht dem Interviewer in diesen Passagen deutlich, dass dieser nervöse Zustand zu ihm gehört, ein charakteristisches Merkmal seiner selbst ist. Nervös zu sein, gibt ihm Selbstsicherheit. Dagegen verändert das Medikament sein Selbstgefühl. J: »Ich habe mich wie ein Roboter gefhlt.« I: »Woran hast du das gemerkt, also woran merkt man, dass man sich wie ein Roboter fhlt?« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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J: »Ah ja, ich war so immer ganz leise, nur wenn jemand eine Frage gestellt hat, habe ich nur geredet.« I: »Und wie war das Gefhl, war das gut oder war das schlecht?« J: »Schlecht.«

Nach der Einnahme des Medikaments beschreibt Jonas sein körperliches Befinden als Roboterzustand. Die Wortwahl »Roboter« steht für einen Verlust an Empfindsamkeit, für bloßes Funktionieren. Nervös zu sein heißt dagegen, sich selbst vital zu spüren, und ist deshalb – entgegen der vorherrschenden Bewertung – für ihn positiv besetzt.

Reinszenierung emotionaler Deprivation Ich habe bislang zu veranschaulichen versucht, dass die Medikation neben ihrer Beziehung stiftenden Wirkung auch einen negativen Einfluss auf die Beziehungen der Jungen zu anderen wie zu sich selbst haben kann. Im schlimmsten Fall »vergiftet« sie lebendige soziale Erfahrungen, was einsam und traurig macht. Damit wiederholt sich aber die traumatische Situation, die psychodynamischen Erklärungsmodellen zufolge einer der maßgeblichen Kausalfaktoren der AD(H)S ist: ein Mangel an Empathie der primären Bezugspersonen, vor allem der Mutter, für die Bedürfnisse ihres Kindes, was die Entwicklung einer sicheren Bindung erschwert oder sogar verhindert (du Bois, 2007). Lernt es nicht, seine Erregungen zu »mentalisieren« (Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, 2004), bleibt es ihnen ausgeliefert und ist unfähig, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Kinder mit einer AD(H)S leiden unter einer »basalen Schwäche der inneren Regulationen von Triebimpulsen, Wünschen und Affekten« (Leuzinger-Bohleber, Staufenberg und Fischmann, 2007, S. 361); statt zu reflektieren, »suchen sie die motorische Abfuhr, die ihnen hilft, sich und die Situation unter Kontrolle zu behalten« (Streeck-Fischer u. Fricke, 2007, S. 288). Trifft es zu, dass sich die betroffenen Kinder trotz aller Ambivalenz nach Halt gebenden Beziehungen sehnen, in denen sie im Verlauf eines wechselseitig spiegelnden sozialen Austausches ein »kohärentes Kernselbstgefühl« (Leuzinger-Bohleber et © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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al., 2007, S. 362 ff.) entwickeln, dann ist stark zu bezweifeln, dass solche Erfahrungen medikamentös kompensiert werden können.

Psychopharmakologische Sozialisation Aussagen der Jungen über einen positiven Einfluss der Medikation auf ihre Beziehungen stellen die Verbesserung ihrer emotionalen Regulation und damit eine verbesserte Konfliktfähigkeit heraus. Sie machen deutlich, dass ihnen das Medikament dabei hilft, normgerechtes Verhalten zu zeigen. Es wird zu einem »guten Objekt« (du Bois, 2007), das Eltern und Kind wieder zusammenführt und ihre Beziehung harmonisiert. Im Einzelfall bleibt freilich zu klären, ob diese soziale Befriedung tatsächlich eine echte Konfliktlösung oder lediglich eine blinde Anpassung ist. I: »Kannst du mal beschreiben, was deine Eltern an dir mçgen?« O: »Meine Eltern mçgen (..) an mir, dass ich auch-, na ja, das geht jetzt ein bisschen auf die Tablette zurck, aber trotzdem, dass ich jetzt mehr mitarbeite und da kommt auch mehr raus.«

In dieser Passage beschreibt der zwölfjährige Oskar gestiegene (schulische) Leistungsbereitschaft und Leistungserfüllung als Grund der elterlichen Zuneigung. Primär ist es das Medikament, das diese Verbesserung möglich macht, die der Junge und seine signifikanten Bezugspersonen nachfolgend als Eigenleistung deuten können (vgl. dazu auch Haubl u. Liebsch, 2008, S. 679 f.). Dafür wird er dann mit positiver Zuwendung belohnt. Da die Zuwendung nicht bedingungslos erfolgt, legt sie diesem und allen anderen Jungen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, aber eine problematische Selbstdeutung nahe: »Nur durch das Medikament bin ich für meine Mitmenschen ertragbar und liebenswert.« Oder zugespitzt formuliert: »Mit der Tablette bin ich sozial integriert, ohne sie werde ich ausgeschlossen« (vgl. du Bois, 2007, S. 306; vgl. Leuzinger-Bohleber et al., 2007, S. 359). So gesehen, übernimmt das Medikament eine sozialisatorische Aufgabe, an der die Erwachsenen und ihre Institutionen offensichtlich scheitern. Die Frage, warum sie scheitern, wird © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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gerade dann nicht mehr gestellt, wenn das Medikament wie gewünscht wirkt. Somit sind auch die positiven Erfahrungen, von denen die befragten Jungen berichten, womöglich »vergiftet«, weil sie einer Verantwortungsdelegation an das Medizinsystem geschuldet sind.

Literatur du Bois, R. (2007). Psychoanalytische Modelle zur Entstehung, Verarbeitung und Behandlung der ADHS. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 56 (4), 300 – 309. Fonagy, P., Gergeley, G., Jurist, E. J., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisieren und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett Cotta. Haubl, R., Liebsch, K. (2008). Mit Ritalin leben. Zur Bedeutung der ADHSMedikation für betroffene Kinder. Psyche – Z. Psychoanal., 62 (7), 673 – 693. Leuzinger-Bohleber, M., Staufenberg, A., Fischmann, T. (2007). ADHS-Indikation für psychoanalytische Behandlung? Einige klinische, konzeptuelle und empirische Überlegungen ausgehend von der Frankfurter Präventionsstudie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 56 (4), 356 – 385. Streeck-Fischer, A., Fricke, B. (2007). »Lieber unruhig sein als in einem tiefen dunklen Loch eingesperrt.« Zum Verständnis und zur Therapie der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung aus psychodynamischer Sicht. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 56 (4), 277 – 299.

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»Schule« in den Aussagen medikamentierter Jungen

Die Schule ist ein Ort des Lernens, der Wissensvermittlung und damit auch ein Ort, an dem Leistung erbracht werden muss. Diese Gleichung bestimmt seit jeher das Bild von Schule und wird, gerade im Diskurs über die so genannte deutsche Bildungsmisere, verschärft skizziert. Um im Sinne der Chancengleichheit jeden so gut wie möglich auf die späteren Leistungsansprüche in Beruf und Karriere vorzubereiten, wird versucht, die Leistungsfähigkeit von Heranwachsenden so früh und so nachhaltig wie möglich zu stärken. Im Lichte dieser Vorsätze kommt denjenigen Kindern ein besonderes Augenmerk zu, die aufgrund ihrer AD(H)S-Symptomatik aus dem Rahmen des gewünschten Leistungsniveaus fallen. So verwundert es nicht, wenn die Schule gerade bei der Befragung solchermaßen betroffener Kinder in erster Linie mit Leistungserbringung verbunden wird. Ausgehend von der Perspektive des Forschungsanliegens, die Sicht der Kinder auf ihre Symptomatik zu beschreiben, soll in diesem Beitrag die Wahrnehmung des Umfelds Schule ins Zentrum gerückt werden.

Leistung als Garant für Anerkennung In den Äußerungen der Kinder erscheint »Leistung« als zentrale Kategorie ihres schulischen Alltags. Dieser Fokus, wie er oftmals von Eltern und Lehrern gleichermaßen gesetzt wird, gibt der guten Note tendenziell stärkeres Gewicht als dem Inhalt des jeweiligen Faches. Die Anerkennung durch schulischen Erfolg ist hierbei der eigentliche Antrieb und arbeitet, genau genommen, gegen eine Motivation, die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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sich nach individuellen Neigungen und Fähigkeiten richtet. Da gute Benotungen als oberste Maxime Anerkennung einbringen, verlieren eigene Interessen, die abseits der schulischen Anforderungen liegen, an Wert. Mit der Fokussierung auf einen Kanon schulischen Wissens ist eine Wertigkeitsskala von Wissen konstruiert, an der die Kinder mit Schuleintritt gemessen werden. Die Vergabe von Ritalin und äquivalenten Präparaten wird genau an diesem Punkt wirksam. Viele Kinder des Samples beschreiben, dass ihnen Ritalin gezielt zur Bewältigung des Schulalltags gegeben wird. So erzählt beispielsweise der dreizehnjährige Nicolas, wie er die Bedeutung der Schulfächer hierarchisiert: N: »Wenn ich jetzt bei Herr der Ringe ein Gedicht lese und wrde das auswendig lernen, dann fllt es mir nicht so schwer wie Vokabeln, weil es mir ja gefllt.« […] I: »Heißt das, du nimmst das Medikament, wenn du bestimmte Fcher hast, oder fr bestimmte Fcher lernen musst?« N: […] »also bei einem Hauptfach ist es mir besonders wichtig; aber wenn man jetzt in Kunst mal nicht, einmal nicht aufpasst, nicht soviel aufpasst, ist das jetzt nicht so schlimm, wie in einem Hauptfach, was aufeinander aufbaut.«

Insgesamt ist auffallend, wie wenig die befragten Kinder ihre Diagnose sowie ihre Medikation in Zusammenhang mit ihrem allgemeinen Zustand und Verhalten bringen. Gefragt, ob er die Tablette nehme, weil er eine Krankheit habe, verneint der neunjährige Olli und führt aus, dass er vielmehr eine »Schulschwäche« habe. Diese beschreibt er auf die Frage, was ihm seine Eltern über die Tablette erzählt haben: »Die haben gesagt, das- [flstert] Was haben die- (3) Die haben gesagt eigentlich, dass wenn ich die Tabletten nehme, dass das dann-, dass ich dann besser in der Schule bin und so Sachen.[…] dass ich dann auch bessere Noten und so krieg.«

Parameter wie Anerkennung durch gute Benotung und höchstmöglicher Erfolg in allen Fächern lassen den Schulalltag als von Kon© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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kurrenz gekennzeichnet erscheinen. Deshalb stellt sich die Beziehung der Kinder untereinander als wenig kameradschaftlich dar. Aus den zwei Anspruchsebenen, der guten Zensur sowie dem fächerübergreifenden Erfolg, formiert sich ein Leistungsdruck, der in den Aussagen der Kinder als Herausforderung, aber auch als Überforderung beschrieben wird. Diejenigen die in den Leistungsanforderungen einen Anreiz sehen, besetzen die Medikation größtenteils positiv und begründen auch ihre Erfolge mit der Tabletteneinnahme. Auffallend ist der selbst formulierte Anspruch, sich grundsätzlich in allen Fächern verbessern zu wollen, also auch in denen, für die bereits gute Leistungen erbracht wurden. So bringt der achtjährige Timotheus seine Bewunderung für die guten Schulleistungen eines Klassenkameraden zum Ausdruck und deutet damit an, was auch sein Ziel sein könnte: I: »Also hast du [aufgrund der Medikation] bessere Noten bekommen?« T: »Ja, letztes Jahr hatte ich çfters viele Zweier und manche Dreier, aber nur ein oder zwei Dreier, und das ist schon mal gut. Martin, der ist Jahrgang 99, aber der ist so gut, der hat berall Einsen, deswegen wird er jetzt eine Klasse berspringen und ist in der vierten, obwohl er eigentlich in der dritten sein msste.«

Je früher die Medikation, desto ungebrochener die Leistungsorientierung Für die Gruppe derer, die sich durch die schulischen Leitungsansprüche herausgefordert fühlen, erscheint der Vergleich mit den Mitschülern hilfreich und geradezu willkommen zu sein, um innerhalb eines erfolgsabhängigen Rankings die eigene Position festzustellen und kenntlich zu machen. Dieser Gruppe unter den Befragten steht die Gruppe derer gegenüber, die von den schulischen Ansprüchen überfordert sind und sowohl die Schule im Allgemeinen als auch damit einhergehend ihre Medikation problematisieren. Für diese beiden Grundhaltungen von Zustimmung und Ablehnung, die in jeder Schulklasse anzutreffen sind, sind, wie unsere Untersuchung zeigt, Beginn und Verlauf der medikamentösen Therapie folgenreich. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Ich habe die Hypothese geprüft, dass der Widerstand gegen die Medikation sowie gegen das Schulsystem umso geringer ist, je früher die medikamentöse Therapie einsetzt. Als Indikator für die jeweilige Grundhaltung nehme ich die Aussage über Herausforderung beziehungsweise Überforderung durch Leistungsdruck und Medikation. Die Auswertung bestätigt die Hypothese: Unter den früh medikamentierten Kindern, worunter all jene fallen, denen während oder noch vor der Grundschulzeit Ritalin verschrieben wurde, sind es über zwei Drittel, die sich betont für das Schulsystem und die Medikation aussprechen. Unter den Kindern, die erst in den weiterführenden Schulen medikamentiert wurden, lehnen dagegen ebenso viele Kinder das Schulsystem ab, davon steht wiederum ein Großteil der Medikation kritisch gegenüber. In Betracht ziehend, dass die Wirkung der Medikation von den Betroffenen stark am schulischen Erfolg festgemacht wird, bietet sich als mögliche Erklärung an, dass gerade die sehr jungen Befürworter ihre positiven Unterrichtsleistungen dem Medikament zuschreiben und dieses daher als unterstützende Maßnahme akzeptieren. Die frühe Konfrontation des Kindes mit der Zuschreibung und Erfahrung von eigenem Unvermögen hat die ständige Auseinandersetzung mit der Frage nach Leistungserwartung zur Folge. So wird eine Medikation, die im Leistungssystem Schule Beihilfe zum Erfolg verspricht, umso unkritischer und möglicherweise dankbarer angenommen, je früher sie einsetzt. Da die Erfahrung, aus eigenem Vermögen Erfolg zu haben, kaum stattfinden konnte, mag ein junger Schüler die Überzeugung gewinnen, dass Leistung auf dem geforderten Niveau nur unter Zuhilfenahme des Medikaments möglich ist. Unter den spät medikamentierten Kindern werden die Tabletten mehrheitlich abgelehnt, gleich, ob sie ihre Schulerfahrungen vor der Medikation negativ oder positiv wahrnehmen. Die von den Kindern beschriebene Leistungssteigerung ist anscheinend nicht die entscheidende Ebene für die Bewertung der Tabletten. Obwohl unser Forschungsprojekt die Auswirkungen der Medikation auf die sozialen Beziehungen der Jungen fokussiert, wirken Psychopharmaka doch zweifellos körperlich. Sie stellen ruhig. Die spät medikamentierten Jungen haben die ersten Schuljahre ohne ärztliche Diagnose und psychopharmakologische Therapie verbracht. Es ist denkbar, dass sie die Veränderung ihrer Situation nicht nur bewusster als die jüngeren © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Kinder erleben, sondern auch stärker als einen fremdbestimmten Einoder sogar Übergriff. Auf die Frage, wie er sich nach der Einnahme von Ritalin gefühlt hat, antwortet der zehnjährige Jonas: J: »Ich habe mich wie ein Roboter gefhlt.« I: »Woran hast du das gemerkt, also woran merkt man, dass man sich wie ein Roboter fhlt?« J: »Ah ja, ich war so immer ganz leise, nur wenn jemand eine Frage gestellt hat, habe ich nur geredet.« I: »Und wie war das Gefhl, war das gut oder war das schlecht?« J: »Schlecht.«

Insgesamt bringen die später medikamentierten Jungen ihre Tabletteneinnahme weniger mit schulischen Leistungsproblemen als mit Problemen ihres Selbstbildes in Verbindung. Mag sein, dass sie die Tabletten deshalb häufiger ablehnen.

Die Erwartungen der anderen Bei aller Verschiedenheit zwischen Befürwortern und Ablehnern des Schulsystems sowie der medikamentösen Therapie wird in beiden Gruppen die Notenverbesserung durch Ritalinvergabe auffallend häufig thematisiert. Da die Schule der Sozialraum ist, in dem die Kernsymptomatik besonders sichtbar wird und in dem Disziplin und Regelhaftigkeit erwartet werden, dürfte die Lehrer-Schüler-Beziehung eine ausschlaggebende Rolle spielen. Im Folgenden soll deshalb dieses Merkmal betrachtet werden, um zu klären, warum die befragten Kinder durchgängig von besseren Noten als Folge der Medikamenteneinnahme sprechen. In den Ausführungen der Kinder lassen sich Charakteristika der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern erkennen, die dem Modell des Pygmalion-Effekts (Rosenthal u. Jacobsen, 1971) folgen. Danach wird die Interaktion zwischen Lehrern und Schülern durch die Ergebniserwartung des Lehrers gesteuert. Die Übernahme dieser durch Häufigkeit von Lob und Tadel an die Schüler übermittelten Erwartungen ist zentral für das Modell. So zeigte sich in unter© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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schiedlichen Tests, dass Schüler, die bei Lehrern Antipathie auslösten, wesentlich schlechtere Ergebnisse erbrachten als diejenigen Kinder, die mit positiven Erwartungen konfrontiert waren. Auch die Aussagen der in den Interviews befragten Kinder verdeutlichen, dass, neben Aufmerksamkeit und Konzentration, die Anpassung ihres Verhaltens an die Unterrichtsform und das Einhalten bestimmter Regeln zu den Aufgaben der Schüler gezählt werden. Dabei fällt auf, dass zwischen unterrichtskonformem Verhalten und der Wirkungsweise des Medikaments ein starker Zusammenhang beschrieben wird. So erachten die Kinder die Medikation dann als wirksam, wenn sie von den Lehrern oder auch Mitschülern aufgrund ihres guten Benehmens gelobt werden und gute Noten erhalten. Interessant dabei ist, dass die Kinder die positive Wirkung der Medikation nicht an ihren eigenen Reaktionen, sondern anhand der Reaktionen anderer ablesen. Hier scheint das Sozialverhalten der Kinder einen besonderen Einfluss auf die Benotung zu haben, so dass in dem Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern die Beziehungsebene für die Ebene der Leistungsmessung ausschlaggebend wird. Für den elfjährigen Oliver bleibt die Einnahme des Medikaments ohne eigene Wahrnehmung, er »merkt nichts«, vielmehr erfasst er die Wirkung der Tabletten sowohl anhand der Verbesserung seiner Noten als auch an der wohlwollenden Reaktion seiner Umgebung. Er erzählt: O: »Ich merke-, ich merke nur, dass die Mitmenschen nicht genervt sind, dass ich halt nicht rger kriege mehr, dass ich ruhiger bin, merke ich.« I: »Gibt es da irgendwie so eine Art Klickmoment, dass du merkst, jetzt ist der Schalter umgelegt, die Tablette wirkt, klack?« O: »Nee, das merkt man nicht so richtig, man merkt berhaupt nichts selber, dass man die Tablette eigentlich genommen hat, nur merkt, man kriegt keinen rger mehr, wenn man in der Schule zum Beispiel ist halt und-, ja, man merkt das halt nicht.« I: »Hilft dir das Medikament auch in der Schule?« O: »Ja.« I: »Wie genau?« O: »Dass ich keine-, keinen rger kriege und jetzt gibt es ja Kopfnoten auch, dass ich da bessere Kopfnoten habe, dass ich besser aufpasse. […] Ja, ich schreibe bessere Noten, habe © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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berhaupt bessere Noten in Arbeiten. Ich hatte jetzt in den letzten Arbeiten drei, zwei Dreien, Englisch und Franzçsisch, zwei Zweien in Deutsch und eins Mathe, aber Mathe war ich sowieso immer besser. Und dadurch merkt man auch, dass das wirkt, weil ich bessere Noten schreibe auch halt.«

Auch der zwölfjährige Oskar beschreibt eine durch die Tabletteneinnahme erzielte Veränderung, die von seinen Lehrern positiv registriert wird. Er selbst hingegen hat keine entsprechende eigene Wahrnehmung, sondern beschreibt stattdessen seine Vorstellung von der Verarbeitungsweise des Medikaments durch sein Gehirn: I: »Und wie geht es dir, wenn du die Tablette genommen hast?« O: »Also ich glaube, dass-, mein Gehirn arbeitet ja damit, was ich rede und was ich mache, und ich glaube, dass, hm, mein Gehirn das so verarbeitet, dass ich Dinge, die ich sonst mache, zum Beispiel reinrufen, dass ich das nicht mehr mache und ansonsten meinen Finger hoch nehme.« I: »Und woran merkst du, dass die dann wirkt?« O: […] »Aber das merkt man erst in der Schule, in der Schule merkt man erst so richtig, dass man-, frher habe ich auch reingerufen und jetzt kann ich das [ mit Hilfe des Medikaments] unterdrcken, dass ich zuerst aufzeige. […] Und ich kann auch arbeiten, die Lehrer haben gemerkt, ich kann viel mehr, als ich vorher raus-, aus mir rausgeschickt habe.«

Zum Zusammenhang von Leistung und Sozialverhalten Die Zitate zeigen, dass die Wirkung der Medikation in einer Anpassung des Verhaltens an die gewünschte Form besteht. Da die Kinder keine Eigenbeobachtung schildern, können sie die Veränderung ihrer Leistung auch nicht ihrem Selbstvermögen zuschreiben. Die Wirkung der Medikation bleibt äußerlich und damit offen für diverse Mutmaßungen und Zuschreibungen. Genau dies illustriert auch ein Beitrag von Jürgen Walter (2001) zur Wirkungsweise von Methylphenidat hinsichtlich verbesserter Unterrichtsleistungen von Schülern. Walter vergleicht unterschiedliche US-amerikanische Studien zur Wirksamkeit von Ritalin, die zu übereinstimmenden Be© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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funden kommen. In den Studien wurden Schulleistungen auf verschiedene Art und Weise kategorisiert und separat auf den Einfluss durch Ritalin getestet. Untersucht wurden allgemeine Kognition (»Messung der Dauer von Aufmerksamkeit«), Schulleistungsrelevanz (»lautes und sinnverstehendes Lesen«) sowie Verhaltensauffälligkeiten (»Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Zappeligkeit«) (S. 112). Um zu ermitteln, inwieweit Ritalin die Kinder zu höherer Leistung befähigt, wurde sowohl den Schülern als auch den bewertenden Lehrern vorenthalten, wie hoch die jeweilige Ritalin-Dosis war und welchen Kindern Placebos verabreicht wurden. Für die Bewertung des Verhaltens wurden auch die Eltern zu regelmäßigen Stellungnahmen herangezogen. Der Vergleich zeigt, dass die schulrelevanten und kognitiven Leistungen von den Schülern als zu 50 % verbessert wahrgenommen wurden und die Eltern und Lehrer die Verhaltensauffälligkeiten in 70 % der Fälle als verbessert bewerteten. Im Verhalten der getesteten Kinder, traditionell ausgedrückt: in ihrem »Betragen«, wurde also eine weitaus deutlichere Verbesserung festgestellt als in der konkreten schulischen Leistung. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Ritalin in erster Line die Konzentration stärken und körperliche Ruhe bewirken soll. Das Kalkül jedoch, dass physische Ruhe auch besseres und leichteres Lernen nach sich zieht, scheint nicht vollständig eingelöst. So schlussfolgert Walter (2001), dass »hohe Aufmerksamkeit, niedrige Impulsivität, geringe Hyperaktivität« zwar notwendig seien, um kognitiv arbeiten zu können, sie seien jedoch »bei weitem keine ausreichende[n] Größen, um das Zustandekommen von entsprechender Schulleistung zu erklären« (S. 119). Wichtige Parameter für erfolgreiches Lernen wie Begabung, Interesse, Motivation oder Neugier bleiben unbeachtet und von der Medikamentenwirkung unbeeinflusst. Wenn Ritalin jedoch nicht so sehr die Leistung verbessert, sondern vorrangig angepasstes Schulverhalten fördert, stellt sich die Frage, weshalb die befragten Kinder dennoch so häufig deutlich verbesserte Noten mit der Einnahme des Medikaments in Verbindung bringen. Eine Erklärung bietet der Pygmalion-Effekt. Demnach genügt bereits die Annahme des Lehrers, der bislang widerwillige und notorisch unkonzentrierte Schüler sei durch das Medikament in andere Bahnen gelenkt worden, um auch solche Ergebnisse als großen Sprung zu werten, die sich objektiv als lediglich marginale Verbesserung herausstellen. Im Lichte dieser © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Forschungsergebnisse kann jedoch auch der Schluss gezogen werden, dass Lehrer die Anpassungsleistung ihrer Schüler unbewusst mit guten Noten belohnen.

Schlussbemerkung Die Aussagen der Kinder charakterisieren Schule fast ausschließlich als Ort der Leistung. Unabhängig davon, ob die Kinder den Leistungsansprüchen gegenüber negativ oder positiv eingestellt sind, fehlen in den Interviews Beschreibungen, in denen die Schule als Ort der Entwicklung und Entfaltung von Interessen erscheint, fast völlig. Demgegenüber steht die gute Bewertung von erbrachter Leistung als Ziel und Motivation im Vordergrund. Die Notenverbesserung nach der Ritalin-Einnahme beschreibt Robin, zehn Jahre, folgendermaßen: R: »In der zweiten war es am schlimmsten, da hatte ich, hm, ein paar Dreier und ein paar Zweier, ich glaube, so drei Dreier hatte ich. Und mit den Tabletten, im ersten Halbjahreszeugnis hatte ich eine Drei noch.« I: »Und das waren dann schlechte Noten?« R: »Ja. «

Wie auch in anderen Interviews wird die Note »befriedigend« hier als »schlechte Zensur« eingestuft, obgleich sie in einem Fach gegeben wurde, das dem Kind weder lag noch Spaß machte. Die Kinder lernen, in allen Fächern gut sein zu müssen, und zwar stets gemessen am Leistungsoptimum. Ein immer früher einsetzender Leistungsdruck aber hebt die bürgerliche Konstruktion von Kindheit als einer »Schonzeit« tendenziell auf und führt dazu, dass der Raum für eine sukzessive Entfaltung kindlicher Fähigkeiten eingeschränkt wird. In der Beschreibung seiner Wunschvorstellung von Schulunterricht nennt der elfjährige Bartolomäus bezeichnenderweise haptische Herausforderungen die von kindlichem Bewegungsdrang und Explorationstrieb zeugen: I: […] »Und wenn du dir jetzt vçllig aussuchen kçnntest, was du gerne in der Schule machen wrdest, was wre das dann?« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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B: »Kunst, die ganze Zeit malen, egal was (I: »Ach ja«) ohne Thema, […] einfach die Sachen, die mir Spaß machen in den anderen Fchern.«

Die unbedingte Forderung nach Leistungsoptimierung ist einer Interessenentwicklung von Kindern nicht förderlich, da die unterschiedlichen Vorraussetzungen und Neigungen der Kinder ohne Ansehen der konkreten Schüler nivelliert werden. Je mehr diese Anforderung das Selbstverständnis von Schule wie auch von Schülern prägt, desto schwerer wird es, kindliche Impulse angstfrei zu integrieren. Zudem lässt sich im Zusammenhang mit der Einnahme von Ritalin die Tendenz einer zunehmenden Unschärfe in der Wahrnehmung persönlichen Vermögens und Unvermögens prognostizieren. Denn die Einnahme von Ritalin zur Verbesserung von Schwächen, sowohl in fachlicher Hinsicht als auch hinsichtlich des Sozialverhaltens, geht mit einer Verlagerung in der Art und Weise einher, wie Schwierigkeiten oder Probleme gelöst werden. Der selbstverständliche Gebrauch des Medikaments lässt die Bewältigung von Hürden zum äußerlichen Vorgang werden, der unabhängig von einer inneren Auseinandersetzung vollzogen wird. Insbesondere wenn die Medikation früh beginnt, scheint es, dass im Eifer, den Höchstforderungen nachkommen zu wollen und dies mit Einsatz des medizinischen Hilfsmittels auch zu können, die Bewertung der eigenen Schwächen und Stärken verzerrt wird. Die Erfahrung von Fehlern, Scheitern und einem eigenständigen Überwinden von Problemen unterbleibt. Sicherlich wäre es übertrieben zu behaupten, bei medikamentierten Kindern finde kein Prozess der inneren Einsicht statt oder sei von den Betroffenen nicht auch gewünscht oder angestrebt. Mit dem Einnehmen einer Tablette zur gezielten Bewältigung von Aufgaben ist jedoch die Hoffnung verbunden, das Hilfsmittel möge auch die Selbsteinschätzung und Selbstbestimmung positiv beeinflussen. Damit wird die gesamte Persönlichkeit auf die Effizienz von Lernprozessen reduziert; die Schlichtheit des Zugriffs spiegelt die erwünschte Wirkung auf unmittelbaren Erfolg. Dabei wird weit mehr als eine chemisch-medizinische Wirkung unterstellt. Die von Walter (2001) vergleichend betrachteten Forschungsergebnisse zeigen, dass im Begriff der Schulleistung das angemessene Sozialverhalten zum Parameter für individuellen Fortschritt und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Optimierung wird. Im Sinne des Pygmalion-Effekts lässt sich jedoch vermuten, dass mit der Verbesserung der Note nicht automatisch eine Verbesserung der Leistungen verbunden ist. Die befragten Kinder bringen in den Interviews genau diese Skepsis zum Ausdruck. Indem die Interviewten von der Verbesserung ihrer Schulnoten durch die Einnahme von Methylphenidat berichten, aber nur selten Beschreibungen von einer Verbesserung ihrer kognitiven Fähigkeiten geben können, bestätigen sie die in der Forschungsliteratur konstatierte Diskrepanz zwischen beseitigter Hyperaktivität und Leistungszuwachs. Mit dem Anspruch, schulische Leistungen zu verbessern, ist so gesehen weniger eine Erweiterung von Wissen verbunden als viel mehr eine Normierung sozialer Verhaltensweisen formuliert. Da die Befragten die Wirkung des Medikaments oft nicht »spüren«, verlassen sie sich auf die Beurteilung ihrer Lehrer. Die aber handeln mit Schülern gute Noten nach Maßgabe von Ruhe und angepasstem Sozialverhalten aus. Das schulische Reglement wird so zur selbsterfüllenden Prophezeiung und dient der Hervorbringung und Stabilisierung von sozialer Ordnung.

Literatur Rosenthal, R., Jacobson, L. (1971). Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler. Weinheim u. a.: Beltz. Walter, J. (2001). Kann Ritalin (Methylphenidat) die Schulleistungen von Schülern mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsproblemen verbessern? – Ein Literaturüberblick auf der Basis US-amerikanischer Forschung. Heilpädagogische Forschung, 27 (3), 106 – 123.

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Medikation als Aufgabe geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung

In unserem Beitrag geht es um das Elternbild der befragten Jungen. Wir haben die Interviews im Hinblick auf die Rollen von Mutter und Vater ausgewertet, wie sie von ihren Kindern beschrieben werden. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Was die Zuständigkeit für die Medikation betrifft, so lassen die befragten Jungen keinen Zweifel daran, dass es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eine ausgeprägte innerfamiliäre Arbeitsteilung gibt. Es sind die Mütter, in deren Zuständigkeit die Medikation ihrer Söhne fällt. Sie achten auf die regelmäßige Einnahme der Tabletten, überwachen den Bestand, holen sie aus der Apotheke, wenn sie zur Neige gehen, organisieren Arztbesuche und erläutern den Kindern, was deren diagnostizierte »Störung« bedeutet und warum sie mit Hilfe von Tabletten behandelt werden soll. Dagegen werden die meisten Väter von ihren Söhnen als weitgehend indifferent beschrieben. Sie halten sich aus allen Fragen die AD(H)S betreffend heraus, manche von ihnen hintertreiben sogar die Bemühungen ihrer Ehefrauen, indem sie die Symptome nicht gleichermaßen ernst nehmen, zumal sie ihren Söhnen vor allem als Freizeit-Väter begegnen, so dass sie viele der Erziehungsprobleme, mit denen es die Mütter zu tun haben, gar nicht live erleben. Das betrifft auch die schulischen Probleme, denn es sind in der Regel die Mütter und nicht die Väter, die sich mit den Lehrer/-innen auseinandersetzen. Damit entspricht unser Befund den Ergebnissen der Untersuchung von Ilina Singh (2003, 2004), die betont, dass das soziokulturelle Ideal den Müttern abverlangt, eine »gute Mutter« zu sein. »Gut« ist eine Mutter dem Ideal entsprechend aber nur dann, wenn ihre Kinder © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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gesellschaftlich erfolgreich sind, weshalb sie alles daran setzt, dass dies geschieht, und dennoch stets den Vorwurf fürchtet, nicht gut genug zu sein.

Anpassungsforderungen der Mütter Was gesellschaftlich als »angepasst« gilt, darum sorgen sich in der Wahrnehmung fast aller befragten Jungen die Mütter. Häufig nennen die Söhne als Antwort auf die Interviewfrage, was ihre Mütter an ihnen »mögen«, deren Erwartungen an Leistung und Benehmen. Die Jungen sollen in der Schule auf gute Noten achten, nicht durch lautes oder gar aggressives Verhalten auffallen, hilfsbereit sein, zum Beispiel im Haushalt helfen und ohne ständige Ermahnung ihr Zimmer aufräumen. Der siebenjährige Sylvester bringt die Erwartungen auf den Punkt, wenn er sagt, er solle »lieb« sein, wobei ihm die Tabletten helfen würden, dieses Ziel zu erreichen, weshalb er sie dann auch konsequent als »Liebtabletten« bezeichnet: I: »Aha. Und weißt du, wer gesagt hat, dass du die Tabletten nehmen sollst, weißt du das?« S: »Ja, muss ich jeden Tag nehmen, damit ich lieb bin.« I: »Da bist du lieb, ah!« S: (unterbricht) »Das sind Liebtabletten.«

Auf diese Weise »lieb« zu werden, geht aber offensichtlich nicht ganz ohne Zwang ab, was die Beschreibung ahnen lässt, die Sylvester von dem Tablettenregime seiner Mutter gibt: I: (…) »und gibt deine Mama dir die Tabletten oder nimmst du die selbst, wie machst du das?« S: »Mama nimmt die Tabletten, macht die auf aus der Schale, dann schttet die die auf einen Lçffel, die hlt meine Nase zu, auf den Lçffel kommt dann Wasser und dann in das Glas noch Wasser und dann nimmt Mama den Lçffel und steckt mir den Lçffel in den Mund und dann trinke ich dazu, aber nicht mit Lçffel im Mund trinken.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Auch der zehnjährige Noel versucht, den Erwartungen seiner Mutter gerecht zu werden, und hat anscheinend Erfolg damit. Ihm ist klar, dass seine Schulleistungen ohne die Tabletten nicht ausreichen werden, um auf dem Gymnasium zu bleiben. Sein Selbstbild hängt stark von den Noten ab, die er mit nach Hause bringt. Allerdings ist dieses Bild weitgehend fremdbestimmt, denn Noel lässt erkennen, dass ihn der Ehrgeiz seiner Mutter antreibt. Das trifft auch auf den Großteil der befragten Jungen zu. Ein Indikator, der dies regelmäßig anzeigt, ist der Gebrauch eines »Wir (wollen)«, hinter dem das »Ich (will)« des Kindes verschwindet. Kritik an einer solchen Fremdbestimmung wird nur selten laut, vor allem dann nicht, wenn es den Müttern darzustellen gelingt, dass sie nur das Beste für ihre Kinder wollen und dafür jedes Opfer bringen: I: »Gut, dann stelle ich die Frage andersrum: Was magst du denn an deiner Mutter und was weniger?« N: »(2) Hm? (4) Da gibt es gar nichts, was ich nicht mag. (3) Meine Mutter legt sich quer fr uns und da gibt es nichts Schlechtes.« I: »Was heißt, sie legt sich quer fr euch?« N: »Die wrde sich graue Haare arbeiten, um uns eine gute Schulausbildung zu geben (I: »Ach ja«), es sei denn, wir wollen nicht.« I: »Was heißt, die wrde oder was macht sie denn konkret fr euch?« N: »Wenn wir wollen, dann kmpft sie auch mit uns, sie lernt mit uns und regelt mit uns, streitet sich mit Kinderrzten und Versicherungen und sonst was, um uns, was andere fast sagen wrden, das Unmçgliche mçglich zu machen. Aber wenn wir nicht wollen, dann sagt sie, wofr.« I: »Und wollt ihr?« N: »Zum Großteil ja. Es gibt aber auch Dinge, wo wir sagen, ›Nee, jetzt haben wir wirklich mal keine Lust.‹ Man rgert sich zwar mal drber, aber richtig sauer ist man nicht.«

Kann, wer wie der 14-jährige Richard eine solche Mutter hat, sich wirklich gegen ihre Erwartungen entscheiden? Oder muss ihn nicht sein schlechtes Gewissen hemmen, undankbar zu sein, wenn er abweichende Vorstellungen äußert? Und eine Mutter, die nur das Beste © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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will, wird auch mit den Tabletten, die sie ihrem Sohn gibt, nur das Beste wollen.

Defizitäre Väter Warum sind die Väter der befragten Jungen um so viel indifferenter oder sogar skeptischer, was die AD(H)S-Diagnose und eine medikamentöse Behandlung betrifft? Da gibt es den Vater, der seinem Sohn als Kumpel begegnet und – nicht selten aus der Unsicherheit heraus, welche Werte er ihm vermitteln soll – nur das anordnet, was der Junge bereits von sich aus tun würde. Dadurch erspart er sich Konflikte. Manche Jungen beschreiben ihren Vater als nahezu kindisch und schätzen ihn deshalb. So lobt etwa Noel seinen Vater dafür, dass der für »jeden möglichen Quatsch« zu haben ist; »also mit dem kann man auf den Balkon gehen, Wasserpistolen laden und, wenn unten Leute vorbeilaufen, abschießen.« Weiterhin gibt es den Vater, der die Symptome seines Sohnes mehr oder weniger offen als Ausdruck eines positiven Männlichkeitsbildes erlebt und sie deshalb eher verstärkt, als sie zu kritisieren. Dann finden Vater und Sohn über »Ballerspiele« am Computer oder über andere Formen von Aggression zueinander. Vieles davon geschieht anscheinend hinter dem Rücken der Mütter und Ehefrauen – in einem augenzwinkernden Einverständnis, in dem sie deren erzieherische Bemühungen unterlaufen. Dazu gehört auch, dass die Väter ihren Söhnen, sind sie mit ihnen alleine, erlauben, die Dosierung des Medikaments zu verringern oder die Einnahme ganz zu lassen. So sagt der zehnjährige Mike, dass er, wenn er alle vierzehn Tage seinen Vater besucht, keine Tabletten mitnimmt, weil »(…) ich da irgendwie keine Tabletten brauche (I: »Interessant«), da ist es eigentlich ein bisschen anders, [als wenn ich mich auf] die Schule konzentriere, bei meinem Vater nicht so, und da nehme ich keine.«

Den Beschreibungen der befragten Jungen zufolge kommt der Typus des Vaters als Kumpel in unseren Interviews am häufigsten vor. Dieser © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Vater-Typus geht Konflikten aus dem Weg, bietet seinem Sohn damit aber auch keinen hinreichenden Halt. Das Thema AD(H)S wird, so wie der elfjährige Horst es berichtet, schlichtweg aus ihrer Kommunikation ausgeschlossen: I: »Das heißt, wer weiß das alles, redest du mit deiner Schwester zum Beispiel oder mit deinem Papa darber?« H: »Nee, eigentlich nicht.« I: »Und dein Papa, sagt der was dazu?« H: »(2) Nee, eigentlich nicht.« I: »Also mit dem besprichst du das nicht, weil mit deiner Mama redest du ja schon darber.« H: »Ja.« I: »Aber mit ihm (2) eher gar nicht?« H: »Nee.«

Dieses Schweigen mag eine psychische Entlastung bewirken, weshalb der interviewte Justus, zehn Jahre, sich darüber positiv äußert: I: »Dann wrde ich gerne noch wissen, was findest du denn zum Beispiel an deinem Papa toll?« J: »(2) Er redet halt mit mir nicht darber und (2) er macht halt sehr viel Sachen mit mir.«

Schlussbemerkung Ob es tatsächlich langfristig so »toll« ist, wenn Väter keine Gespräche mit ihren Söhnen über deren »Störung« führen, möchten wir bezweifeln. Denn indem sie sich ihrer Verantwortung entziehen, überlassen sie es ihren Ehefrauen, die Konflikte mit ihren Kindern auszutragen. Folge ist eine Spaltung: Die Väter erscheinen als »gut«, die Mütter als »böse«, aber nur deshalb, weil die Ehemänner ihre Ehefrauen mit den Erziehungsaufgaben alleine lassen. Statt sich auf gemeinsame Erziehungsmaximen zu verständigen, werden die Probleme medikalisiert. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Literatur Singh, I. (2003). Boys will be boys: father’s perspectives on ADHD symptoms, diagnosis and drug treatment. Harvard Review of Psychiatry, 11, 308 – 316. Singh, I. (2004). Doing their jobs: Mothering with Ritalin in a culture of motherblame. Social Science and Medicine, 59, 1193 – 1205.

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Biomedizinisches Wissen zur AD(H)S in Kinderzeichnungen

In diesem Beitrag werden Zeichnungen interpretiert, die die Jungen unseres Projektes im Verlauf ihres Interviews angefertigt haben, um die körperliche Wirkung ihrer Medikamente darzustellen. In theoretischer Perspektive beruhen meine Interpretationen auf der Annahme, dass Körper Gegenstände von Wissensbeständen sind. Diese Wissensbestände umfassen biologisches und medizinisches Wissen, aber auch Alltagswissen vom Körper. Dieses Wissen ist sprachlich verfasst. Methodologisch basiert die Rekonstruktion sprachlich verfassten Wissens auf der Analyse von Texten. Wissenssoziologisch lege ich einen weiten Wissensbegriff zugrunde: Wissen ist, was »in der Gesellschaft als ›Wissen‹ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit« (Berger u. Luckmann, 1980, S. 3). Auch das in unserer Studie thematisierte Wissen, welches Kinder über die medizinische Wirkungsweise von Medikamenten gegen AD(H)S haben, ist kommunikativ vermittelt: Was Kinder über die biomedizinische Wirkungsweise von AD(H)S wissen, erfahren wir aus dem sprachlichen Austausch zwischen Interviewer/-in und interviewtem Kind. Durch die Möglichkeit der Anfertigung einer Zeichnung wurde das Repertoire an Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten im Interview erweitert. Dieser Idee lagen zu Beginn des Forschungsprojektes zwei Annahmen zugrunde: Erstens gingen wir davon aus, dass durch das Malen eine offenere Gesprächssituation entsteht und dass durch die Fokussierung auf das Gezeichnete etwas zur Sprache kommt, das vorher noch nicht thematisiert wurde. Zweitens gingen wir davon aus, dass die Zeichnungen selbst eine Informationsquelle darstellen und über den transkribierten Interviewtext hinaus eine Bedeutung haben, die Aufschluss über die Vorstellungen gibt, die die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Jungen über die medizinische Wirkungsweise des Medikaments gegen AD(H)S haben. Insbesondere letztere Annahme beruht auf der Einsicht, dass Bilder eine Nicht-Reduzierbarkeit auf Sprache aufweisen, die in der Bildwissenschaft als »ikonische Differenz« (Boehm, 1995, S. 30), als Differenz zwischen Seherfahrung und Bildbeschreibung, begriffen wird.

Interdisziplinäre bildwissenschaftliche Zugänge Kinderzeichnungen sind Wolfgang Reiß (2000, S. 231) zufolge »produktive Äußerungen, die präsentativen Handlungsregeln unterliegen«. Die Kinderzeichnung, sei sie grafisch oder malerisch, entsteht durch ein System von Bewegungsspuren. Sie wird als unmittelbarer Niederschlag des Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögens begriffen (Reiß, 2000, 231). Wie Kinderzeichnungen interpretiert werden, ist prinzipiell davon abhängig, auf welche wissenschaftliche Disziplin und auf welche theoretischen Ansätze sich bei der Interpretation bezogen wird. Stefan Müller-Doohm (1993, 1997) unterscheidet bildhermeneutische Ansätze mit Bezug darauf, wie sie das Verhältnis von Bild und Schrift thematisieren. Ikonologie (Panofsky), Ikonik (Imdahl), die strukturale Hermeneutik (Oevermann) und die Semiologie (Peirce, Barthes) setzen bei der Analyse der Bedeutungs- und Sinngehalte von Bildern an der Sprachlichkeit von Bildern an. Phänomenologische Interpretationsverfahren hingegen gehen von einer visuellen Eigenqualität des Bildes aus, die über die Textförmigkeit des Bildes hinausgeht: Ikonischer Sinn wird Gottfried Boehm (2008, S. 34 f.) zufolge wahrnehmend realisiert.

Visual Cultural Studies und visuelle Soziologie Die Visual Cultural Studies beziehen sich auf semiotische Ansätze. Die Semiotik untersucht Zeichensysteme und fasst Bilder als Zeichen auf (Holert, 2009). Demgegenüber entfalten sich im deutschsprachigen Raum Umrisse einer Soziologie des Visuellen, die sich gleichermaßen gegenüber den Visual Cultural Studies und der an Fragen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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der Bildwissenschaften orientierten bildhermeneutischen Zugänge abgrenzt (vgl. Burri, 2008; Raab, 2007; Schnettler, 2007). Die Soziologie visuellen Wissens richtet ihr Augenmerk auf die kulturellen Prozesse und alltagsweltlichen Praktiken, die sich auf die Verwendung visueller Medien und Objekte zur Produktion oder Weitergabe von Wissen stützen (Schnettler, 2007, S. 193). Als kleinster gemeinsamer Nenner von verschiedenen Ansätzen der Bildforschung lässt sich festhalten, dass es im Gegensatz zu Texten mit Bildern möglich ist, komplexe Sachverhalte simultan darzustellen. Die Sachverhalte erscheinen in einer augenblicklichen Gesamtschau. Sie entfalten sich nicht in der linearen Abfolge, auf die Texte angewiesen sind, deren Bedeutung sich seriell zeitlich aufeinander folgend erschließt (Schnettler, 2007, S. 195).

Phasen kindlichen Zeichnens Die in diesem Beitrag analysierten Bilder wurden von Jungen im Alter von sieben bis 14 Jahren gezeichnet, wobei nur sehr wenige Jungen im Alter von 13 und 14 Jahren vertreten waren. Kindliches Zeichnen wird aus entwicklungspsychologischer Sicht und mit Bezug auf morphogenetische Forschungen in altertypische Phasen eingeteilt (vgl. Reiß, 2000, S. 238 f.; Richter, 2001, S. 667 f.): 1. die Kritzelphase (2.–3. Lebensjahr), 2. die Schemaphase (ab 3.–4. Lebensjahr), 3. der visuelle Realismus beziehungsweise Pseudonaturalismus (ab dem 4. Lebensjahr bis zum Ende der Kindheit). In der Kritzelphase steht die Freude an der Bewegung beim Zeichnen und an der Entstehung einer Spur im Vordergrund. Es entstehen Spiralen, Kreisel, gerade Linien und Zick-Zack-Linien. Abbildungsintentionen liegen kaum vor. In der Schemaphase werden die erworbenen Zeichenelemente oder Schemata gezielt eingesetzt, um Menschen, Tiere, Blumen und Häuser zu malen. Die Schemata werden differenzierter. Die Kinder benutzen ein spezifisches Repertoire von gegenständlich-analogen Darstellungsformen, die in »westlichen« Kinderzeichnungen dominieren. Dazu gehören bestimmte Darstellungsformen für Mensch/Mann/Frau oder spezifi© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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sche räumliche Formate, wie zum Beispiel Standlinienbilder oder tiefenräumliche Modelle (Richter, 2001, S. 671). Gegen Ende der Kindheit, im visuellen Realismus, übernehmen Kinder die Abbildungskonventionen der vorherrschenden Kultur, zum Beispiel die in der »westlichen« Kultur übliche Zentralperspektive. Gegenüber dieser morphogenetischen Phaseneinteilung werden Vorbehalte geäußert. Zum einen ist sie nicht universalisierbar: Kultur vergleichende Studien haben ergeben, dass die Art und Weise, wie Kinder zeichnen, in hohem Ausmaß von den jeweils kulturell gebräuchlichen Zeichenschemata abhängt. Zum anderen sind die individuellen Variationen und Abweichungen so breit, dass sich die Phasen kaum trennscharf gegeneinander abgrenzen lassen (Billmann-Mahecha, 1994, S. 30; Reiß, 2000, S. 239). Richter weist zudem darauf hin, dass die Umstrukturierung im Figurationsgefüge, die dem kindlichen Medienkonsum geschuldet ist, noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wurde. Dennoch hält er fest, dass im westlichen Kulturkreis die Abfolge in der Entwicklung kindlichen Zeichnens durch zwei tiefe Umstrukturierungen gekennzeichnet ist. Die erste Umstrukturierung erfolgt, nachdem die Phase der gestischen Kritzelfiguren in eine Phase der objektanalogen Darstellungsweise einmündet und sich schematisierend verfestigt. Diese analogen Zeichenfigurationen brechen im und nach dem neunten Lebensjahr auf. Nach einer zweiten Phase der Umstrukturierung zeigen sich Einwirkungen einer direkten kreativen Auseinandersetzung mit den Personen und Dingen der Lebenswelt. Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen in dieser Altersphase geben verstärkt die Reaktionen auf die alltäglichen Konfrontationen mit den medial vermittelten und subkulturellen Vorbildern wieder (Richter, 2001, S. 667 f.).

Bildhermeneutisch orientierte Interpretation von Kinderzeichnungen Hans-Günther Richter fasst Kinderzeichnungen in entwicklungsdiagnostisch-biografischer Perspektive und unter Rekurs auf bildwissenschaftliche ikonografische und ikonologische Ansätze als bildliche Darstellungen auf, die ihren Ausgangsort in internen Re© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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präsentationen haben, die wiederum Struktur erhaltende Beziehungen zu ihrem empirischen Referenten unterhalten (Richter, 2001, S. 668). Aus dieser Perspektive ist das Bild Ausdruck interner Repräsentationen. Für das vorliegende Projekt entsteht aus dieser Auffassung von Kinderzeichnungen die Aufgabe, aufzuschlüsseln, welche Bedeutung dem Medikament in der bildhaften Darstellung zukommt. Zur Erinnerung: In unserem Projekt betrachten wir die Verordnung und Einnahme von Psychopharmaka als einen kommunikativen Akt. Das Medikament wirkt nicht nur als chemische Substanz, sondern auch als Bedeutungsträger, wobei davon auszugehen ist, dass nicht alle Bedeutungen offen zu Tage treten, sondern auch mit bewusstseinsfernen Bedeutungen zu rechnen ist. Richter wendet seine Interpretationsmethode allerdings auf Kinderbilder an, die in therapeutischen Settings entstanden sind und die eine Fülle von exemplarischen Symbolismen und konkreten Motiven aufweisen. Im vorliegenden Fall sind die Kinderzeichnungen schematischer Natur. Bei der Interpretation visuellen Materials sollten nicht nur sein Inhalt, sondern auch die Umstände der Herstellung Beachtung finden (Rose, 2007, S. 14 f.). Dies gilt insbesondere, wenn es sich um Forschung über und mit Kindern handelt, da hier die Hierarchie zwischen Erwachsenen (Forschern) und Kindern berücksichtigt werden muss (Mitchell, 2006, S. 63). Elfriede Billmann-Mahecha (1994) hat ein differenziertes Modell für die Interpretation von freien Kinderzeichnungen entworfen, das verschiedene Bezugsebenen adressiert (Abb. 1). Sie hebt hervor, dass Kinderzeichnungen soweit wie möglich im Kontext der kindlichen Lebenswelt zu analysieren sind. Deshalb sind für die Interpretation der Zeichnungen Kontextinformationen methodisch bedeutsam, zum Beispiel verbale Äußerungen des Kindes zu seiner Zeichnung, situative Entstehungskontexte, familiär-biografische, allgemeine soziokulturelle und historische Kontexte. Wenn es gelänge, so Billmann-Mahecha, sich mit dem Kind ausführlich über die Bedeutung der Zeichnung zu verständigen, so reiche das oftmals schon für eine Interpretation aus. Sei es darüber hinaus das Ziel der Interpretation, dem Kind nicht bewusste Sinngehalte der Zeichnung zu erschließen, so können die Deutungen nur über eine reflektierende Bezugnahme auf weitere Kontextinformationen abgesichert werden. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 1: Bezugsebenen bei der Interpretation von Kinderzeichnungen (Billmann-Mahecha, 1994, S. 32)

Biomedizinisches Wissen wird im Modus von Schaubildern visualisiert Die vorliegenden 55 Kinderzeichnungen weisen wenig gegenständliche Motive auf. Es werden schematische Arten der Darstellung wie Pfeile, Verbindungslinien sowie Umrisse für stilisierte Darstellungen von Gehirn und Magen genutzt. Diese Art der Darstellung ist den Entstehungsbedingungen der Zeichnungen geschuldet. Bei den Bildern haben wir es mit Kinderzeichnungen zu tun, die als Folge eines Arbeitsauftrags von Erwachsenen entstanden sind. Den Jungen wurde während des Interviews ein Blatt Papier vorgelegt, auf dem die Umrisse einer menschlichen Person beziehungsweise eines Kindes oder »Männchens« eingezeichnet waren. Die Materialien zum Malen und Zeichnen waren in der Regel auf den Kugelschreiber, Bleistift oder © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Füller des Interviewers reduziert. Die Jungen wurden gebeten, einzuzeichnen, wie in ihrer Vorstellung das Medikament wirkt. In der Regel malte die Interviewerin einen Pfeil Richtung Mundbereich und bat den Jungen, sich vorzustellen, die Tablette werde geschluckt. Die Jungen wurden aufgefordert, in die Umrisse einzumalen, wie ihrer Vorstellung nach das Medikament wirkt, und ihre Zeichnung gegebenenfalls zu kommentieren. Die Malsituation ist in eine strukturell hierarchische Interviewsituation eingebunden, da ein Machtgefälle in den Positionen von Kindern und Erwachsenen besteht. Nicht selten nehmen die Kinder die Interviewer/-innen wie Lehrer/-innen wahr. Zudem implizieren die Aufforderung zum Zeichnen und die dadurch hergestellte Situation, dass es sich um einen Test handelt. Zwar sind Kinder es gewohnt, Bilder anzufertigen. Zeichnen ist eine Tätigkeit, die in kindlichen Lebenswelten, in Familie, Schule und Kindergarten verankert ist. Kinder bekommen im Kindergarten und in der Schule von Erwachsenen Aufträge, Bilder zu bestimmten Themen zu malen. Allerdings sind diese Handlungsanweisungen oftmals damit verknüpft, dass Erwachsene die Leistung von Kindern bewerten. Diesen hierarchischen Aspekt der Interviewsituation versuchten die meisten Interviewer/-innen durch die Aussage »Du kannst malen, was du willst« situativ zu entschärfen. Ein weiterer Grund dafür, dass die Bilder sehr schematisch sind, ist auf die Aufgabenstellung zurückzuführen. Die Thematik »Medikamentenwirkung« ist sehr abstrakt und wenig anschaulich. Der Begriff der »Wirkung« rekurriert auf biologische und chemische Funktionszusammenhänge. Er bezieht sich nicht auf einen Gegenstand oder auf einen alltäglichen Vorgang aus der kindlichen Lebenswelt, sondern auf körperliche Funktionen und Prozesse, die nur kognitiv erfahrbar und kommunizierbar sind. Manche Kinder fragten entsprechend zurück, was sie denn malen sollten. Auch wird mit dieser Aufgabenstellung auf das »Innen« des menschlichen Körpers fokussiert, das heißt, es wird eine Innen-Außen-Perspektive zur Geltung gebracht, die selbst bereits Ergebnis einer wissenschaftlichen Perspektive ist und nicht der Anschauung von Kindern entspricht (vgl. Mitchell, 2006, S. 66 f.). Auf die Abstraktheit der gestellten Aufgabe reagierten viele Interviewer/-innen mit einer weiteren situativen Modifizierung ihrer Handlungsanweisung zum Zeichnen. Sie baten ihre kindlichen In© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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terviewpartner einzuzeichnen, wo das Medikament beziehungsweise seine Wirkstoffe wirken oder »hingehen«. Diese Aufforderung ist auf konkrete Orte im Körper gerichtet und nicht auf funktionale Zusammenhänge. Wenngleich also die Abstraktheit der Aufgabe durch die Interviewer/-innen situativ verringert wurde, stellt sich die Frage, auf welche kulturell vorherrschenden Formen die Kinder beim Zeichnen der Wirkung eines Medikaments auf den menschlichen Körper überhaupt zurückgreifen können. Kinder nehmen beim Zeichnen auf ein »kollektives Wissen /Traditionsgedächtnis« (Richter, 2001, S. 672) Bezug. In diesem Traditionsgedächtnis sind zeichnerische Realisationsformen und bildliche Motive enthalten. Um die Frage nach dem kindlichen Repertoire zeichnerischer Realisationsformen zu beantworten, ist es notwendig, sich in Erinnerung zu bringen, auf welche Weise abstrakte biomedizinische Zusammenhänge generell popularisiert und veranschaulicht werden. Geltendes Wissen über biologische Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge wird in spezifischen visuellen Formen in wissenschaftlichen Gemeinschaften produziert und in medialen Öffentlichkeiten popularisiert. Eine der visuellen Formen, in denen zeitgenössisches medizinisch-biologisches Wissen aufgehoben ist, ist das Schaubild oder die Infografik. Infografiken sind Darstellungsformen, die sehr schnell sehr viele Informationen übermitteln, vor allem solche, die über Zusammenhänge informieren. Infografiken gehören zur Gattung der Schaubilder. Statt mit Worten einen Sachverhalt zu erklären, zeigen Schaubilder wie man sich komplexe Zusammenhänge vorzustellen hat (vgl. Reichertz, 2007). Infografiken und Schaubilder nutzen schematische Elemente und Verknüpfungszeichen wie Richtungspfeile, die eine kausale Beziehung zwischen zwei Elementen und damit einen Prozess anzeigen. Sie gehören zum Standardinventar der Repräsentation abstrakter Wissensbestände und veranschaulichen Funktionsprinzipien und Gesetzmäßigkeiten in vereinfachter Form. Infografiken sind, wie Reichertz (2007, S. 269) hervorhebt, erstens, ein Angebot von Vorstellungen über etwas, was in Sprache ausgedrückt wird, und sie implizieren zweitens, dass das Abgebildete in wesentlicher Hinsicht Ähnlichkeit mit dem Faktischen aufweist. Schaubilder funktionieren wie heuristische Modelle. Sie veranschaulichen komplexe Zusammenhänge und stellen Analogien zwi© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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schen Wissensbeständen her: beispielsweise zwischen dem kognitiven Wissen über die Funktionsweise von Methylphenidat und den Vorstellungen vom Körper als materiellem Substrat, der bei der »SichtbarMachung« (Heintz u. Huber 2001, S. 12) von abstrakten Zusammenhängen und Wissensbeständen als empirischer Referent zugrunde gelegt wird.

Bezugsebenen für Kinderzeichnungen: Zeichnung, Aussage, Kontext Die Jungen nutzten schematisierende Elemente in unterschiedlichen Differenzierungsgraden bis hin zu der kreativen Aneignung zeichnerischer Elemente. Im Auswertungsprozess habe ich mich primär auf die ersten drei Bezugsebenen der Tabelle von Billmann-Mahecha bezogen (vgl. Abb. 1): 1. Das Bild selbst, 2. Aussagen des Kindes und 3. situative Entstehungskontexte. Andere Zeichnungen der Kinder wurden nicht hinzugezogen. Bei der Interpretation der Zeichnungen habe ich mich zwischen dem Bild und den drei Bezugsebenen hin und her bewegt. Jede einzelne Zeichnung habe ich zunächst einmal »für sich«, das heißt in ihren formalen und kompositorischen Elementen und in ihrem Gesamteindruck beschrieben. In einem weiteren Schritt habe ich die entsprechenden Interviewabschnitte und gegebenenfalls das gesamte Interview oder eine Gesamtinterviewauswertung hinzugezogen sowie den Entstehungskontext und die Begleitsituation der Zeichnung, wie sie unter Hinzuziehung des Gedankenprotokolls der Interviewerin hervorgeht. Die Zeichnungen lassen sich hinsichtlich ihrer kompositorischen Elemente unterscheiden. Eine Vielzahl von Zeichnungen stellt »Wirkung« beziehungsweise Wirkungsorte durch das Einzeichnen von Gehirn und Magen und von Pfeilen und Strichen dar. Diese Zeichnungen unterscheiden sich in der Differenziertheit ihrer Ausführungen. Manche Zeichnungen sind sehr einfach gehalten und bestehen nur aus wenigen Strichen und schlichten Ovalen oder Kreisen, zum Beispiel für den Magen. Zeichnerisch werden Darstellungsformen genutzt, wie sie in Schulbüchern vermittelt werden, so beispielsweise, wenn ein Junge gerade in der Schule den Darm durchgenommen hat und malt, wie die Tablette ausgeschieden wird. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Eine nächste Bezugsebene war die Hinzunahme der entsprechenden Ausschnitte aus dem Interview, das heißt der Kommunikation, die die Erstellung der Zeichnungen begleitete. Auch wenn die Zeichnungen nicht immer direkt thematsiert wurden, sind in vielen Fällen die Aussagen der Jungen hilfreich für die Interpretation der Bilder beziehungsweise ist eine »Passung« zwischen den Ausführungen zur Wirkung der Tabletten und den Zeichnungen festzustellen. Das gilt allerdings nicht für alle Interviews. Legt man das Zusammenspiel von Bild und Interviewaussagen zugrunde, lassen sich die Zeichnungen wie folgt klassifizieren: 1. Zeichnungen, die schematische Elemente vornehmlich im Sinne von Infografiken nutzen, welche abstrakte biomedizinische Zusammenhänge veranschaulichen und auf wenige Gesetzmäßigkeiten reduzieren. Das Zuordnungskriterium ist formal-ästhetisch. Es geht nur begrenzt um den Grad »naturalistischer« Darstellungsfähigkeit, also nicht darum, inwieweit die Zeichnungen populären Veranschaulichungen geltender naturwissenschaftlicher Wissensbestände über die Wirkung von Methylphenidat nahe kommen; mit anderen Worten: nicht um »realistisch« oder »unrealistisch« respektive »wahr« oder »falsch«, sondern darum, wie durch Nutzung von Pfeilen und schematischen Elementen körperbezogene Zusammenhänge veranschaulicht werden. 2. Zeichnungen, deren bildliche Bedeutung über eine »naturalistische« Darstellung hinausgeht, das heißt über eine schematische Abbildung von funktionalen Zusammenhängen biomedizinischer Wissensbestände, und deren Bedeutung durch die Informationen des Jungen aus dem Interview erhellt wird; 3. Zeichnungen, die ebenfalls über eine schematische Abbildung von funktionalen Zusammenhängen hinausgehen, die jedoch eine ikonische Bedeutung haben, die die im Interview kommunizierte übersteigt; 4. eigenwillige oder spielerische Bearbeitungen der gestellten Aufgabe; der Sinn der Zeichnung erschließt sich im Horizont des Interviewbeziehungs- bzw. Interaktionsverhältnisses. (1a) Der elfjährige Tobi stellt die Wirkung der Tablette sehr differenziert dar, indem er Pfeile und Schemata nutzt, die zusammenhängende Prozesse anzeigen. Tobis Zeichnung ist übersichtlich und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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gut nachvollziehbar. Der Darm ist stilisiert gezeichnet. Richtungspfeile zeigen an, wohin sich das Medikament durch den Körper bewegt beziehungsweise bewegt wird. Tobi zeichnet die Tablette nicht direkt in den Kopf ein, wie das viele Jungen tun. Die in Form eines in der Mitte geborstenen Hühnereis gezeichnete Tablette setzt oberhalb des Magens ihren Inhalt frei, in Form einer kleinen Bohne. Dieser Wirkstoff bewegt sich in Richtung Körpermitte nach unten, was durch einen Pfeil angezeigt wird. Auch zeichnerisch verändert die Tablette ihre Gestalt, wird also prozessual dargestellt. Am Ende des Darms taucht der Inhalt der Tablette als schwarzer Fleck auf und bewegt sich durch eine Bahn. Diese Nerven- oder Blutbahn führt zur rechten Schulter, wo die Tablette als sternförmige Substanz landet. Diese Substanz wiederum tritt ihren Weg – durch einen Pfeil angezeigt – in den Kopf an, in den kein Gehirn eingezeichnet ist.

Abbildung 2: Tobi, 11 Jahre

Tobi erfüllt seinen Arbeitsauftrag, die Wirkung der Tablette einzuzeichnen, erfolgreich. Auch im Interview präsentiert er sich sehr © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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»erwachsen«, nämlich zielorientiert, rational und angepasst, allerdings um den Preis der Unterdrückung von Gefühlen. Auch seine Erklärung der körperlichen Wirkung der Tablette ist elaboriert. Sie entspricht in ihrer Differenziertheit der Zeichnung. Tobi führt die Wirkung des Medikaments auf biochemische Vorgänge in seinem Körper zurück. In der Tablette ist ein Wirkstoff enthalten, der ursächlich auf sein Gehirn, seine Arme und Beine, seine Gelenke und Knochen wirkt. Er verwendet biologische Begrifflichkeiten wie »Signal«, »Wirkstoffe«, »Nährstoffe«, »transportieren«, »aufgenommen« oder »Stoff«. Die Kapsel wird vom Magen »im Bauch aufgelöst«; der Darm nimmt den »Wirkstoff« auf; der Wirkstoff gelangt in das Blut und wird von dort zu den Nerven »transportiert«. Tobi hebt hervor, dass der in der Kapsel enthaltene »Stoff«, der nur von einer durchlässigen Gelatineschicht umgeben ist, auch Auswirkungen auf die Knochen hat. Die Knochen werden durch den Wirkstoff direkt »eingestellt«. Da die Nerven im ganzen Körper verteilt sind, gelangt der Wirkstoff zu den Gliedmaßen, insbesondere zum Gehirn, das dadurch schneller arbeitet und wiederum »irgendeinen Stoff« verschüttet. Dieser Vorgang »sagt dann dem Körper, ich muss mich jetzt beeilen, sozusagen«, ebenso wird das Gehirn »dadurch auch aufgeweckter. Und deswegen lenk ich mich dann auch nicht so leicht ab«. (1b) Auch Nico und Horst nutzen hauptsächlich Verbindungslinien und Pfeile, um die Wirkung der Tablette zu veranschaulichen. Nico zeichnet unter der Schädeldecke das Gehirn ein. Die Tablette ist in der Halsgegend, im Magen und im Kopf eingezeichnet. Pfeile vom Mund in Richtung Hals und von der Halsgegend in Richtung Magen zeigen an, dass die Tablette in den Magen wandert. Dabei verändert sie ihre Form, ohne sich aufzulösen. Wie die Tablette in den Kopf gelangt, in den sie ebenfalls eingezeichnet ist, geht aus der Zeichnung nicht hervor. Im Kopf signalisiert ein kräftig gezeichneter Pfeil, dass die Tablette auf das Gehirn wirkt. Im Interview hebt Nico hervor, dass die Tablette durch das Wasser, das er trinkt, in den Magen und den Kopf gespült wird. Die Tablette wirkt in seiner Vorstellung direkt und unvermittelt im Gehirn. Von der Tablette wird Nico »schlauer« und sie vergrößert sein schulisches Wissen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 3: Nico, 7 Jahre

(1c) Der elfjährige Horst nutzt eine Vielzahl von Pfeilen und Verbindungslinien. Er zeichnet ein komplexes, aber wohlorganisiertes Liniennetz, das nahezu alle Körperregionen und Gliedmaßen verbindet und einen Knotenpunkt in der Mitte des Körpers in Brusthöhe aufweist. Die Zeichnung erweckt den Eindruck, als ob es sich um einen komplizierten und dynamischen Vorgang handelt. Die Tablette wirkt wie durch Pfeile angezeigt im Kopf, in den Händen und in den Füßen. Auffällig ist ein viereckiges Kästchen, das deutlich erkennbar etwas unterhalb der Brusthöhe links eingezeichnet ist. Den Eindruck, den die Zeichnung erweckt, und das, was er im Interview über die komplexen und dynamischen körperlichen Prozesse erzählt, die bei der Einnahme der Tablette in Gang gesetzt werden, entsprechen einander sinngemäß. Aus dem Interview geht hervor, dass Horst eine mechanistische und eine auf Nachrichtenübermittlung bezogene Vorstellung von Körperprozessen hat. Seine Beschreibung unterscheidet sich insofern von denen anderer interviewter Kinder, als er bereits eine elaborierte Auffassung davon hat, wie das Essen verdaut und aufgenommen wird. Es gibt »kleine Leute«, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 4: Horst, 11 Jahre

die sich in einem »Rohr« befinden. Sie nehmen die »Nährwertstoffe« auf, sammeln und verteilen sie. Wenn Horst vom zweiten Wirkungsort, dem Gehirn, spricht, dominiert eine Vorstellung von Kommunikationsweiterleitung. Horst beschreibt einen komplexen Prozess der Nachrichtenüberbringung: Bevor sich das Medikament verteilt »gibt es eine Meldung da oben« und »von da aus« wird ebenfalls »überall hin« eine Meldung gesandt. Im Zentrum von Horsts Ausführungen steht ein »Nachrichtenbringer«, der für die Registrierung und Weiterleitung von »Meldungen« zuständig ist. »Kleine Leute« werden – im Unterschied zum Magen nicht erwähnt, trotzdem erhält man die Vorstellung eines schwer arbeitenden Systems von eifrig miteinander kommunizierenden Akteuren. Das Medikament setzt nach Horsts Vorstellung viel in Bewegung und beansprucht massenweise Arbeitskräfte. Horsts Gehirn »verarbeitet«; der Nachrichtenbringer »nimmt auf«; es wird etwas in einzelne Teile »zerlegt«; es wird übermittelt und »Meldung gemacht«. Zugespitzt formuliert: Es wird ein hoher körperlicher Aufwand betrieben. Dieser Aufwand hat Horst zufolge einen gegenteiligen Effekt: Das Gehirn © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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sendet dadurch in alle Gliedmaßen die Meldung hin, dass Horst »sich nicht so dolle verhalten soll, sondern eher ruhiger«. (2) Jakob nimmt mit seinen Aussagen auf seine Zeichnung Bezug, und sie wird durch seine Aussagen auch erhellt. In den Umriss seines Männchens hat Jakob zwei Gehirne eingezeichnet, die außerhalb seines Kopfes links neben ihm in der Höhe seines Knies und etwas über seiner Schulter schweben. Die Tablette ist ebenfalls eingezeichnet. Sie steht mit dem oberen frei schwebenden Gehirn in einem Zusammenhang, was durch einen Pfeil von der Tablette in Richtung des Gehirns angezeigt wird. In Jakobs Kopf ist ein ovaler Umriss eingezeichnet. In diesem befindet sich ebenfalls die Tablette. Durch Richtungspfeile, die innerhalb des Ovals im Kreis verlaufen, zeigt Jakob an, dass sich die Tablette im Kreis dreht. Die Gehirne, die sich außerhalb seines Körpers befinden, senden Strahlen aus. Auf der Zeichnung sieht das nach »science fiction« aus und wirkt ein wenig bedrohlich: schwebende gehirnähnliche Objekte, die Strahlen aussenden, während im Kopf eine Tablette kreist. Jakob erzählt im Interview, dass er das »Träumer-System« hat. Er hat keine konkrete Vorstellung davon, was das ist, sondern kann nur seine Symptome benennen: »Man träumt vor sich hin.« Er verbindet damit eine Anforderung an seinen körperlichen Zustand und seine geistige Fitness: »Weil ich halt wach bleiben soll.« Was die Tabletten enthalten, kann er nicht genau benennen. Er kann nur darauf hinweisen, dass sie etwas bei ihm bewirken: Ihr Inhalt »verändert halt«. Die Tablette wirkt zwar in seinem Gehirn, jedoch spürt er nichts davon. Allerdings halten die Kügelchen, die in der Tablette enthalten sind, die externen Gehirne wach. Erst wenn die Tablette in die anderen Gehirne hineingeht, passiert etwas: Dort sorgt sie dafür, dass die Gehirne wach bleiben: »Und ich glaube, dass die überall, in alle (…) Gehirne (…) reingeht und dann halt alles-, (4) also alles gut macht, dass es halt nicht so einschläft.« Sowohl das Träumer-System, das Jakob nicht erklären kann, als auch die Gehirne sind seinem Körper fremd, sie befinden sich außerhalb seines Körpers und sind nicht in sein Selbstbild integriert – weder visuell noch textuell. Sie bleiben unverstanden und abgespalten, wie die Wirkung der Tabletten, die zwar auf Jakobs eigenes © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 5: Jakob, 10 Jahre

Gehirn zielt, wovon er jedoch nichts spürt und die gleichermaßen innerhalb wie außerhalb seines Körpers eingezeichnet ist. (3a) Einige Zeichnungen nutzen ebenfalls schematische Elemente wie Verbindungslinien und stilisierte Formen für den Magen und das Gehirn. Sie veranschaulichen jedoch legt man den ikonischen Sinn zugrunde, das heißt den Eindruck, der sich aufgrund der kompositorischen Anordnung und zeichnerischen Ausführung ergibt nur sehr begrenzt abstraktes biomedizinisches Wissen und biomedizinische Zusammenhänge. Das bedeutet nicht unbedingt, dass diese Zeichnungen gegenständlicher verfasst sind. Einfache Linien in Körperumrisse hereingezeichnet können in der Art und Weise, wie sie gezeichnet sind, eine Bedeutung haben. Je nachdem, ob die Linien dick oder dünn, lang oder kurz sind, ob es eine oder viele Linien sind, kann die Faktizität einer Linie in etwas Sinnträchtiges umspringen. Beispielsweise zeichnet der elfjährige Max zwei kleine Ovale in Brusthöhe nahe der Halsgegend. Sie sind ausgemalt und sehen aus wie »Klumpen«. Diese sind mit dem Mund durch je einen Faden ver© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 6: Max, 11 Jahre

bunden. Die Klumpen wirken auf mich wie Spinnen: Kurze Fäden gehen wie Beine von ihnen weg. Von dem linken Klumpen gehen vier Fäden hoch zu einem Umriss, der in den Kopf eingezeichnet ist. Auffällig ist der Kontrast zwischen den vielen, zum Teil sich kreuzenden Fäden und ausgemalten dunklen Klumpen und dem nicht ausgemalten Umriss, der leer ist und eine scharf konturierte Grenze darstellt, die von den »Fäden« nicht überschritten wird. Der Gesamteindruck, den ich habe, ist der einer Invasion von Spinnen, die eine leere Blase im Kopf angreifen. Dieser Eindruck, den das Bild gibt, wird im Interview von Max nicht thematisiert. Max selbst erzählt, dass er einen »Ritalin-Mangel« hat. Er geht davon aus, dass Ritalin ein Botenstoff im Gehirn ist: »Ich glaube, das [Medikinet] regt das Gehirn an, mehr von dem Stoff Ritalin zu produzieren, und damit kann man sich dann halt besser konzentrieren.« Das Ritalin wird also zu einer körpereigenen Substanz, die Max fehlt. Max’ Erklärung macht seine Zeichnung verständlich, dennoch weist die Zeichnung eine Bedeutung auf, die über das Gesagte hinausgeht. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Welche Schlussfolgerungen aus dieser Differenz zwischen ikonischem Sinn und sprachlicher Bedeutung zu ziehen sind, ist eine offene methodologische Frage. Inwieweit sagt der »bedrohliche« Eindruck, den die Zeichnung von Max erweckt, etwas über die (latente) Bedeutung aus, die das Medikament für ihn hat? Oder wird, metaphorisch gesprochen, der Mangel an dem »Stoff Ritalin« durch die Leerheit des Gehirnumrisses im Kopf veranschaulicht? (3b) Eine weitere Zeichnung, die eine von dem befragten Jungen nicht manifest thematisierte Bedeutung aufweist, ist die Zeichnung des achtjährigen Leon. Er hat in Schädelhöhe ein sehr differenziertes Gehirn eingezeichnet. Das Gehirn ist schraffiert und ähnelt populären Bildern und plastischen Modellen von Gehirnen, die walnussähnliche Windungen aufweisen. Auf der Grundlinie dieses Gehirns befinden sich Kügelchen. Von Brusthöhe an hat Leon lange ausgreifende Bögen gezeichnet, die wie Wirbel aussehen und mutmaßlich den Darm darstellen. Er zeichnet einen großen Magen. Im Magen befindet sich die Tablette. Die Tablette sieht aus, als ob sie sich gerade öffnet. Leon hat Augen eingezeichnet, so dass der Eindruck eines Gesichts entsteht. Unter diesen Augen sind zwei kurze Pfeile in Richtung Wange eingezeichnet, die gleichermaßen Augenringe sein könnten. Dünne Linien bilden den Gesichtsumriss und verlaufen vom Gehirn abwärts bis zum Hals. Aufgrund von zwei weiteren, parallel zum Gesichtsumriss verlaufenden dünnen Linien, aufgrund des naturalistisch gezeichneten Gehirns und der Augenringe erhält das Gesicht etwas Skelettähnliches und wirkt wie das Gesicht eines Totenkopfes. Der Gesamteindruck ist gruselig. Die Zeichnung macht einen wenig lebensbejahenden Eindruck. Wie aus der Gesamtinterviewauswertung hervorgeht, gehört Leon zu einem Subtyp des Enhancers, dem »enttäuschten Enhancer« (Haubl u. Liebsch, 2008, S. 192). Leon ist enttäuscht, weil das Medikament nicht hält, was er sich von ihm an Erfolgen und Erfahrungen verspricht. Allerdings traut Leon sich nicht, sich gegen die Medikation aufzulehnen. Im Interview spricht er unglaublich viel über alltägliche Abläufe. Seine Beschreibung der körperlichen Abläufe ist vielschichtig, langatmig und zum Teil wirr und verzettelt. Auf der anderen Seite ist sie für einen Achtjährigen sehr elaboriert: Es gibt Adern, Darm, Dickdarm und »Stoff« zum Konzentrieren. Leon bezieht sich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 7: Leon, 8 Jahre

auf den Magen, den Verdauungsvorgang und auf das Gehirn. Er hat ein mechanisches Bild von den Körperabläufen: Die Tablette »liegt« im Körper, sie »fällt runter« in den Magen, sie »bricht sich durch« aufgrund von Flüssigkeit. Im Magen »wird das ganze Essen gespeichert, also ein ganzer Haufen«. Durch die Adern werden die Wirkstoffe in das Gehirn »geleitet« und »gepumpt«. Diese Mechanik kann aber auch versagen, beispielsweise wenn die ganze Kapsel »sauber wieder rauskommt«. Wie ist hier nun die Differenz zwischen dem gruseligen Gesamteindruck der Zeichnung und dem Interview aufzufassen? Legt man die Annahme zugrunde, dass die dargestellten Männchen Selbstrepräsentationen der interviewten Jungen sind, weist Leon eine sehr traurige und gequält wirkende Vorstellung seines Selbst auf. In dem Interview thematisiert Leon manifest keine Emotionen. Wut, Ärger, Trauer, Bedauern, Stolz und Freude verschwinden hinter einem Wortschwall von Sachbeschreibungen und Geschichten. Sein Eingeständnis, dass die Tabletten »eigentlich nicht wirken«, erscheint nüchtern und bilanzierend und nicht enttäuscht, traurig oder wütend. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Der ikonische Eindruck der Zeichnung ist allerdings nicht nur gruselig, sondern in Bezug auf die Zeichnung von Magen und Darm auch raumgreifend und weitschweifig. Das Raumgreifende und Weitschweifige dieses Teils der Zeichnung korrespondiert mit dem Gesamteindruck des Interviews mit Leon. Er beschreibt im Interview ausführlich, wie die Welt geregelt, strukturiert und organisiert ist, wie alle möglichen alltäglichen Abläufe vollzogen werden und wie er seine vielfältigen Aufgaben bewältigt. Die Tabletteneinnahme ist in dieses Arrangement integriert, sie soll für einen reibungslosen Ablauf des Alltags sorgen. Obwohl Leon dem familiären und schulischen Alltagsarrangement große Einsicht entgegenbringt und die Abläufe ausschweifend rechtfertigt, gibt es in seiner Erzählung auch eine Ahnung von einem Außerhalb dieser Regelungen. Er zieht in Erwägung, dass er trotz Tabletteneinnahme nicht mithalten kann und er beschreibt Momente von eigener Lustlosigkeit und Renitenz seiner Schwester. (4) Einige Zeichnungen sind vor dem Horizont der Interaktion zwischen Interviewerin und interviewtem Jungen zu interpretieren. Sie sind eine eigenwillige Bearbeitung und Aneignung der gestellten Aufgabe: Beispielsweise zeichnet der neunjährige Berni seinem Männchen Kulleraugen ein. Das Männchen blickt zur Seite und aus seinem gespitzten Mund kommt eine Sprechblase, in die Berni hineingeschrieben hat: »Weiß ich nicht.« Die Tablette ist nicht eingezeichnet und man erfährt aus der Zeichnung nichts über ihre Wirkung: nur, dass derjenige, der sie nimmt oder bekommen soll, Fledermausohren und abstehende Haare hat und nichts weiß. Die spitzen Ohren geben der Figur etwas Koboldartiges, während die Kulleraugen, die zur Seite blicken, dem Gesicht etwas Erstauntes und zugleich sehr Aufmerksames verleihen. Verschiedene Formen der Abwehr dominieren das Interview mit Berni, wie die häufige Antwort, etwas nicht zu wissen, sich im Raum zu bewegen oder sich mit dem Aufnahmegerät zu beschäftigen. Wie von Brand (2009) ausgeführt, ist das Interview mit Berni in Bezug auf die Beziehungsmuster in der Interaktion zwischen Kind und Interviewer typenbildend für den »Verweigerer«. Bernis negative Interviewerrepräsentanz zeichnet sich in einer generellen Ablehnungshaltung dem Interviewer und der Interviewsitation gegenüber aus und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Abbildung 8: Berni, 9 Jahre

insbesondere in der häufigen Verwendung des Satzes »Weiß ich nicht«. Berni schreibt darüber hinaus dem Medikament, das er nimmt, keinerlei Wirkung zu. Es überwiegt dennoch eine negative Repräsentanz der Tablette. Genau genommen liegt eine »sanfte Provokation« (Brand, 2009, S. 109) auf der Beziehungsebene vor. Berni erfüllt einerseits den Auftrag, etwas zu zeichnen. Allerdings enthält er sich andererseits auf der Sachebene, das heißt auf der Ebene der Bildaussage, geschickt jeglicher Meinung. Er behält sein Antwortschema bei (»weiß ich nicht«) und verweigert sich damit der Intention der gestellten Aufgabe (»welche Wirkung hat das Medikament auf Dich?«), ohne offen den Auftrag zu boykottieren.

Kinderzeichnungen und visuelle Kommunikation Die unseren Forschungen zugrunde liegenden Überlegungen bestanden in der Annahme, dass durch das Malen eine offenere Gesprächssituation entsteht und dass durch die Fokussierung auf © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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das Gezeichnete etwas zur Sprache kommt, das vorher noch nicht thematisiert wurde. Zweitens gingen wir davon aus, dass die Zeichnungen selbst eine Informationsquelle darstellen und über den transkribierten Interviewtext hinaus eine Bedeutung erkennen lassen, die Aufschluss über die Vorstellungen gibt, die die Jungen über die medizinische Wirkungsweise des Medikaments gegen AD(H)S haben. Kontrastiert man die hier vorgestellten Ergebnisse mit unseren ursprünglichen Intentionen, so ist festzuhalten, dass die Möglichkeit, im Rahmen des Interviews eine Zeichnung anzufertigen, die Kommunikation erweiterte. Die Zeichnung diente dazu, die Jungen anzuregen, über die körperliche Wirkung und ihre Vorstellungen von der Funktionsweise der Tabletten in ihrem Körper zu sprechen. Für die Analyse von Kinderzeichnungen, die aufgrund eines Arbeitsauftrags entstanden sind, der die zeichnerische Darstellung abstrakter naturwissenschaftliche Wissensinhalte beinhaltet, liegen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive keine methodologischen Überlegungen vor. Forschungen, die mit Kinderzeichnungen arbeiten, nutzen die »thematische Kinderzeichnung« (Tschanz u. Krause, 1992), um Vorstellungen von Kindern über Zustände und Bedingungen der Lebenswelt von ihnen zu erhalten. Im Fokus des Interesses steht beispielsweise, welche Vorstellungen über Arbeits- und Erwerbsleben, über Fernsehen oder ihre Wünsche bezüglich der Gestaltung von Schulräumen vorhanden sind (vgl. den Überblick bei Kuhn, 2003, Abs. 13). Aus wissenssoziologischer Perspektive stellt sich die Frage, was und wie uns die Zeichnungen »mehr« über die Bedeutung mitteilen, die die Medikation für die befragten Jungen hat. Wie verhält es sich mit der »ikonischen Differenz« (Böhm, 1995, S. 30), mit der Differenz zwischen Seherfahrung und Verbalisierung ? Ralf Bohnsack (2007, S. 24) stellt fest, dass die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten der bildhaften Verständigung in der qualitativen Sozialforschung methodologisch ein Desiderat darstellt : (1) Ist visuelle Kommunikation Verständigung »über« oder »durch« Bilder ? (2) Wie kindzentriert ist die angewandte Methode beziehungsweise auf welche Weise eignet sie sich, Kinder als Expert/-innen ihres Alltags, ihrer Körper, ihrer Gesundheit und Krankheit zu adressieren ? © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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(1) In Bezug auf die Forschungsfrage nach der affektiven Bedeutung des Medikaments sind die Zeichnungen für sich wenig aussagekräftig. Die Zeichnungen sagen etwas darüber, welche Körperteile die Jungen für relevant halten, wie sie sich körperbezogene Wirkungszusammenhänge vorstellen und wie sie abstrakte Wissenszusammenhänge zeichnerisch umsetzen, indem sie schematische Zeichenelemente nutzen, wie sie in Schaubildern und Infografiken vorkommen und popularisiert werden. Viele der Zeichnungen werden – legt man die Rekonstruktion der Bedeutungs- und Abbildungsintentionen der befragten Jungen zugrunde – erst durch die Informationen aus dem Interview erhellt. Allerdings rekurrieren die befragten Jungen in den entsprechenden Interviewpassagen nicht auf einen Standard biomedizinischen Wissens über die Wirkung von Methylphenidat. In Bezug auf das biomedizinische Wissen, das sie präsentieren, hatte ich gesagt, dass das Wissen über die Wirkungsweise von Medikamenten gegen AD(H)S seine Bedeutung in familiären, alltagskulturellen und medizinischen Wissenskontexten erhält (siehe meinen ersten Beitrag in diesem Band). Die angenommene Wirkungsweise der Medikamente, schulbiologisches Wissen über Körperteile, metaphorische Vorstellungen über Körperfunktionen und -prozesse, neurobiologische Wissenselemente und soziale Verhaltensanforderungen gehen ineinander auf. Den Facettenreichtum und die Wechselbeziehung zwischen kulturellen Bezügen und biomedizinischem Wissen stellt auch die Studie von Williams und Bendelow (2000) heraus. Sie befragten Kinder im Alter von neun und zehn Jahren nach der Bedeutung der Krankheit Krebs für sie und über ihre Vorstellungen von Gesundheit, wofür sie thematische Kinderzeichnung nutzten. Williams und Bendelow (2000, S. 61) heben hervor, dass die gegebenen Antworten seien sie sprachlich oder zeichnerisch vermittelt diese Vielfalt der Bezüge widerspiegeln. (2) Bei manchen Zeichnungen, wie zum Beispiel die von Max oder Leon, bringt die Interpretation Bedeutungen hervor, die von dem Kind im Interview nicht manifest thematisiert werden. Methodologisch birgt das in Bezug auf die Kindzentriertheit der Methode die Gefahr, dass Abbildungs- und Bedeutungsintentionen unterstellt werden, die jenseits des kindlichen Horizonts liegen, und dass eine © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Erwachsenen-Kind-Hierarchie errichtet wird, die der Adressierung von Kindern als Experten ihrer Lebenswelt und ihrer Körper widerspricht. Geht es jedoch darum, die Kinder als Experten ihres Alltags und ihrer Medikation zu adressieren, und möchte man zugleich herausfinden, welche affektive Bedeutung die Medikation für sie hat, so ist zu überlegen, ob nicht eine offenere Form des Zeichnens beziehungsweise ein offenerer Arbeitsauftrag produktiver gewesen wäre. Tschanz und Krause (1992, S. 265) heben hervor, dass Kinder bei der Tätigkeit des »freien« Zeichnens vorwiegend das malen, was emotionale Bedeutung für sie hat. Sie zeichnen Personen, Gegenstände und Situationen, die aus ihrer Erlebniswelt stammen und mit denen mehr oder weniger starke Emotionen verbunden sind. Eine diesbezügliche Frage, verbunden mit der Vorlage eines weißen Blatt Papiers, hätte lauten können: »Was verbindest du mit dem Medikament oder der Einnahme dieses Medikaments?« Eine solche thematische Kinderzeichnung hätte es wahrscheinlich erlaubt, nicht nur etwas über die Art und Weise der zeichnerischen Realisierung abstrakter biomedizinischer Wissensbestände von Kindern zu erfahren, sondern auch, die affektiven Bedeutungsgehalte der Medikation zu eruieren.

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Daniela Otto

Vom Zappelphilipp zum Normalo? AD(H)S-Symptomatik, Diagnose und Medikation als Stigma

Die Bezeichnung AD(H)S charakterisiert zumeist Verhaltensweisen von Kindern, die aufgrund von Aufmerksamkeitsproblemen und mangelnder Impulskontrolle auffällig werden und deshalb nicht selten Leistungsschwächen in der Schule zeigen und in Konflikte mit Eltern, Gleichaltrigen und Lehrern geraten. Verbunden damit ist die Gefahr, dass die Betroffenen sich als Schulversager erleben und unter Sanktionen leiden, weil sie als nicht anpassungs- und leistungswillig wahrgenommen werden. Zudem stehen Betroffene und Angehörige unter dem Druck, die konkreten Auffälligkeiten mit den gesellschaftlichen Anforderungen in Einklang zu bringen, um so Ausgrenzungen und Benachteiligungen entgegenzuwirken. Durch eine medizinische Diagnose und die daran anknüpfende medikamentöse Behandlung erhofft man sich in der Regel, dass sich die auffälligen Verhaltensweisen weniger deutlich ausprägen und Folgeerkrankungen und Komorbiditäten vermieden werden. Zugleich aber werden mit der Diagnose AD(H)S die Verhaltensauffälligkeiten in den Bereich des Pathologischen verschoben, und eine Beschreibung des entsprechenden Verhaltens mit Begriffen wie »desinteressiert«, »faul« und »dumm« wird damit illegitim. Indem das Verhalten als eine Krankheit beziehungsweise Störung etikettiert wird, sind die so Bezeichneten von Verantwortung für die Abweichung, als welches ihr Verhalten typisiert wird, entlastet. Stattdessen gilt die Bereitschaft der Betroffenen, sich medikamentös behandeln zu lassen, als Bereitschaft, sich den gesellschaftlichen Normen und Anforderungen anzupassen. Paradoxerweise kann aber gerade die auf eine Verringerung von Auffälligkeit und Benachteiligung zielende Diagnose und Medikation ihrerseits einen Anlass für Stigmatisierung darstellen. Die Betroffenen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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erfahren dann ihre soziale Etikettierung selbst als einen Anlass für Besonderung. Im Folgenden soll dieser paradoxe soziale Mechanismus zum einen theoretisch verortet und zum anderen anhand von Interviewmaterial illustriert werden.

Zum Begriff des Stigmas und der Stigmatisierung Im alten Griechenland wurde der Terminus »Stigma« in Bezug auf körperliche Merkmale verwendet, welche auf die vermeintlich moralische Verderbtheit des Trägers verwiesen. Es handelte sich dabei um Zeichen, die in den Körper geschnitten oder gebrannt wurden und den Betroffenen als Verbrecher oder Sklaven brandmarkten. Im Christentum bezeichnet der Begriff die Verletzungen, welche Jesu während der Passion zugefügt wurden und die als Zeichen göttlicher Gnade angesehen werden. In beiden Fällen verweist das Stigma auf eine Abweichung vom »Normalen«, die normativ gedeutet wird, in dem einen Fall im Sinne einer Verworfenheit und in dem anderen Fall im Sinne einer Erwählung des Stigmaträgers. Heute wird der Begriff des Stigmas ähnlich seines ursprünglichen Gehalts verwendet, »aber eher auf die Unehre selbst als auf deren körperliche Erscheinungsweise angewandt« (Goffman, 1967, S. 9). Unter den Terminus fallen Eigenschaften und Merkmale, welche innerhalb einer Gruppierung negativ bewertet werden und den Träger des Stigmas diskreditieren. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass sich der Begriff nicht auf bestimmte Merkmale per se bezieht. Einerseits ist die Einschätzung darüber, was als gewöhnlich oder ungewöhnlich, schlecht oder gut angesehen wird, gesellschaftlich bestimmt, andererseits vermag ein und dieselbe Eigenschaft die eine Person zu stigmatisieren, während sie die Normalität des anderen bestätigt (Goffman, 1967, S. 11). Unter Stigmatisierung wird sozialwissenschaftlich der Prozess verstanden, in welchem einer Person oder einer Gruppe erfolgreich ein negativ bewertetes Merkmal zugeschrieben und in dessen Folge der Merkmalsträger diskriminiert und ausgeschlossen wird. Häufig findet hierbei eine Generalisierung des Merkmals auf die gesamte Person statt, wobei die Stigmatisierung einen sich selbst stabilisierenden Prozess in Gang setzt: Das Stigma ebenso wie die Symbole, welche mit ihm verbunden werden, sind Teil impliziter Persönlich© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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keitstheorien; das sind laienhafte Annahmen über Verhaltenszusammenhänge und damit verknüpfte Bewertungen. Die Erwartungen, die mit solchen subjektiven Theorien verbunden sind, verzerren die Fremdwahrnehmung und Fremdbeurteilung des Stigmatisierten und führen zu seiner Benachteiligung. Die spezifische Behandlung, welche eine stigmatisierte Person erfährt, beeinflusst wiederum ihre Handlungsweisen – sie zeigt mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit das von ihr erwartete Verhalten und integriert das Stigma in ihr Selbstbild. Die auf diese Weise geformten Verhaltensweisen verfestigen in der Folge die zuvor vorgenommene Typisierung beziehungsweise Stigmatisierung (Lösel, 1975, S. 24 f.). Welche Anlässe und Ursachen liegen der Stigmatisierung zugrunde und welche Funktionen erfüllt sie? Allgemein lässt sich sagen, dass Individuen dazu neigen, ihre Umwelt in Kategorien einzuteilen, um sich kognitiv zu entlasten und ihre Handlungsplanung zu vereinfachen. Ähnlich wie das Vorurteil, das Stereotyp oder die Urteilsheuristik kann auch das Stigma als eine solche Kategorienbildung verstanden werden. Eine weitere Funktion von Stigmatisierung kann auf individueller Ebene darin bestehen, dass sie zur Gewinnung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes beiträgt. So kann beispielsweise die Begegnung mit Stigmatisierten zunächst eine Bedrohung der eigenen Identität darstellen, wenn sie an eigene Abweichungstendenzen erinnert, um dann für eine Selbstbestätigung genutzt zu werden: »Das Gleichgewicht wird dann durch betonte Abgrenzung, d. h. durch Herausstellen der eigenen ›Normalität‹ und Ablehnung der Abweichung des anderen, zu stabilisieren versucht« (Hohmeier, 1975, S. 11). Auf der gesellschaftlichen Ebene sind Stigmatisierungen oftmals ein Ausdruck von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Sie regulieren die sozialen Beziehungen zwischen Gruppen, insbesondere zwischen Majoritäten und Minoritäten, und bestimmen, welche Personengruppen Zugang zu bestimmten Gütern erhalten. Hierbei sind es die Interessen der Mächtigen, welche die Stigmata und Statussymbole definieren und konstituieren. Stigmatisierungen können darüber hinaus auch eine Form der sozialen Kontrolle darstellen, wenn sie als Strafe für abweichendes Verhalten geltend gemacht werden. Die so genannte Sündenbocktheorie und die Rede von einem Ingroup-Outgroup-Bias bieten Erklärungen für diese Mechanismen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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der sozialen Differenzierung an. Die Sündenbocktheorie postuliert, dass sich durch Frustration entstandene Aggression auf Ersatzobjekte verschiebt, wenn die tatsächlichen Gründe für die Unzufriedenheit innerhalb einer Gruppe entweder unbekannt oder nicht beeinflussbar sind. Im Zuge dieser Verschiebung entwickeln sich Vorurteile, die oftmals in der Stigmatisierung und Diskriminierung von Fremdgruppen münden (Allport, 1951). Eine übergreifende, allgemeine Erklärung liefert der Ansatz des Ingroup-Outgroup-Bias: Bereits der bloße Akt der Zuteilung von Personen auf willkürliche Kategorien reicht aus, um eine Intergruppendiskriminierung auszulösen, das heißt, die Eigengruppe aufzuwerten und die Fremdgruppe abzuwerten (Tajfel, Flament, Billig u. Bundy, 1971). Die wesentliche Folge einer Stigmatisierung ist die Besonderung und gegebenenfalls die soziale Ausgrenzung des Merkmalsträgers. Sie kann sich in einem unvorteilhaften öffentlichen Ansehen oder in Kontaktverlusten zeigen und bis hin zu einem Verlust des Berufs, zu einer vollständigen Ausgliederung aus der Gesellschaft oder sogar zu einer physischen Vernichtung reichen. Das zentrale Problem einer stigmatisierten Person ist die Anerkennung als vollwertige Person und Sozialpartner. Stigmatisierte Personen sind deshalb darum bemüht, ihrer Stigmatisierung entgegenzuwirken oder sie umzudeuten. Wird die Stigmatisierung dagegen in das Selbstbild übernommen, bestätigt es die Zuschreibung, wodurch das Stigma zu einem Bestandteil der persönlichen Identität werden kann.

Dreifache Stigmatisierung: Symptomatik, Diagnose, Medikation Viele der im Rahmen des Projekts interviewten Jungen artikulierten Angst vor einer möglichen Stigmatisierung, hingegen hatten wenige tatsächlich unter konkreten Stigmatisierungen zu leiden. Es wurde von Beleidigungen und Provokationen berichtet, mit denen die interviewten Jungen kämpften. So erwähnt der zehnjährige Justus den Spottnamen »Behindikindi« und der achtjährige Leon schilderte die diskreditierenden Reaktionen anderer Gleichaltriger, als sie von der Diagnose erfuhren: »Oh Gott, du armer Kerl, dich muss man einschläfern.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Solche eindeutig abwertenden Äußerungen anderer sind in den Transkripten allerdings nur selten vorzufinden. Häufiger zeigt sich eine diffuse Angst vor einer möglichen Ausgrenzung. Eine solche Angst kommt beispielsweise in der Betonung der Jungen zum Ausdruck, dass sie »normal« seien, nicht anders als andere, ebenso in ihrer Hervorhebung, dass AD(H)S »nichts Schlimmes« sei. Augenfällig wird dieses Bemühen in der nachfolgenden Sequenz, in welcher Justus einerseits seine Angst vor sozialem Ausschluss und andererseits einen grundlegenden Anspruch auf Gleichbehandlung zum Ausdruck bringt: J: »Ich nehme die halt, weil ich so zappelig bin, und es ist nichts Schlimmes.« I: »Und wenn du sagst, es ist nichts Schlimmes, gibt es denn Leute, die gesagt haben, dass das was Schlimmes ist?« J: »Hhm (verneinend).« I: »Meinst du, es gibt einen Unterschied zwischen dir und Kindern, die kein Medikinet nehmen?« J: »Nein.« I: »Und warum nicht?« J: »Weil ich bin auch ein Mensch und ich bin halt genauso wie er.«

Indem Justus darauf hinweist, dass auch er der Gattung Mensch angehört, bringt er seinen Wunsch nach Gleichheit und Zugehörigkeit zum Ausdruck und weist zugleich mögliche Unterscheidungen und ihre diskriminierende Wirkung als ungerechtfertigt zurück. Andererseits lässt seine Weigerung, den Unterschied zwischen Kindern, die Tabletten nehmen, und solchen, die keine nehmen, zu benennen, auch seine Angst erahnen, mit Stigmatisierung konfrontiert zu werden. Ähnliche Andeutungen einer stigmatisierenden Besonderung lassen sich auch in anderen Interviews finden. Häufig können die Befragten das Merkmal oder die Merkmale ihrer Auffälligkeit nicht klar angeben. Dann ist etwa die Rede von »das da« oder »so Sachen«. Andere Befragte drücken die mit ihrer Symptomatik verbundene Stigmatisierung in der Form aus, dass sie die Begründung für die Einnahme der Tabletten auf ihre Persönlichkeit beziehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der siebenjährige Sylvester das Medi© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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kament als »Liebtablette« bezeichnet und als Begründung für deren Einnahme sagt: »dass ich nicht mehr böse bin«. Mit den Begriffen »lieb« und »böse« sind eine Bewertung sowie eine Generalisierung verbunden. Sie sind nicht einfach Attribute, sondern Beurteilungen der ganzen Person. Zudem transportiert die Begrifflichkeit eine Fremdbewertung, die von den Befragten in ihr Selbstbild übernommen wird. Auch die Diagnose und die Medikation stellen jeweilige Anlässe für Stigmatisierung dar. In diesem Sinne antwortet beispielsweise der elfjährige George auf die Frage, wie er die Situation vor seiner Tabletteneinnahme beschreiben würde: »So, wo ich dann immer regelmßig beim Arzt war, hab ich gehofft, hoffentlich hab ich diese Krankheit nicht. Aber hinterher hab ich dann auch begriffen, das ist irgendwie gar nicht so schlimm. (1) Also, bisher wurde ich noch nicht so gehnselt. (1) Bisher wurde ich nicht.«

Georges Diagnostizierung hatte geraume Zeit in Anspruch genommen, während der er in regelmäßigen Abständen beim Arzt untersucht wurde. Innerhalb dieses Zeitraums entwickelte er die Hoffnung, von dieser »Krankheit« nicht betroffen zu sein. Eine solche Hoffnung deutet darauf hin, dass George sich die mit dem Krankenstatus verbundenen Unannehmlichkeiten ersparen möchte. Auch darf man vermuten, dass er sich wünscht, nicht krank, sondern gesund, normal und unauffällig zu sein. Als er dann aber von der Bestätigung der Diagnose erfährt, merkt er, dass »das irgendwie gar nicht so schlimm« ist. Anders als er befürchtet hat, wird er nicht verspottet und »gehänselt«. Da George die Angst vor Hänseleien erst im Verlauf der diagnostischen Untersuchung entwickelt, ist es unwahrscheinlich, dass er sie auf seine Symptome bezieht. Eher ist anzunehmen, dass er befürchtet, die Diagnose werde zu einem Anlass für seine soziale Ausgrenzung. Dass George nicht nur die Befürchtung hegt, er könne Anlass für Spott bieten, sondern selbst negative Vorstellungen mit seiner »Krankheit« verknüpft, wird in der nachfolgenden Sequenz deutlich: »Also, wenn ich mich jetzt-, ich hab mich da ja jetzt auch schon ein bisschen daran gewçhnt und wenn ich das (3) nicht mehr © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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nehmen muss, bin ich ja irgendwie auch froh, weil man ist ja nicht frçhlich, wenn man ne Krankheit hat. (1) Da ist man ja nicht froh drum. Ja, und deshalb bin ich glaub auch schon froh, wenn ich die nicht mehr nehmen muss.«

Interessant an dieser Äußerung ist ihre implizite Normativität. Denn George rekurriert auf bestimmte soziale Erwartungen, die an die Krankenrolle gebunden sind: Wer krank ist, hat nicht »fröhlich« zu sein und darf sich auch nicht »ein bisschen« an diesen Zustand »gewöhnen«. Vielmehr muss er »froh« sein, ihn los zu werden, auch wenn er zweifeln mag, ob es ihn bereits »froh« macht, wenn er die Tabletten nicht mehr nehmen muss, weshalb es nur zu einem zögerlichen »glaub auch« reicht. Neben der Symptomatik und der Diagnose wird auch die Medikation von den Jungen als Stigma empfunden. Die Medikation stellt ein sichtbares Zeichen der Andersartigkeit der Jungen dar. Sie ist Sinnbild dafür, ohne Hilfsmittel nicht normal sein zu können, und wird aus diesem Grund zu verheimlichen versucht. Mehrere Jungen berichten davon, dass sie das Medikament nur im familiären Kreis und nicht in der schulischen Öffentlichkeit einnehmen. Nehmen sie es im öffentlichen Raum ein, versuchen sie, die Einnahme so unauffällig wie möglich zu gestalten. So berichtet der elfjährige Mike davon, sich das Schlucken der Tablette ohne zusätzliche Flüssigkeit, nur mithilfe seines eigenen Speichels angewöhnt zu haben. Der elfjährige Horst erzählt, dass er, wenn er auf das Medikament angesprochen wird, harmlose Symptome vorschiebt, beispielsweise Halsoder Kopfschmerzen. Hier fungiert das Medikament als Zeichen eines Stigmas. Darüber hinaus kann das Medikament auch deshalb Stigma sein, weil seine regelmäßige Einnahme auffällig macht: G: »Also, erst war das ein bisschen komisch, weil ich wusste ja erst nicht, was das so-, also, was das fr ein Gefhl ist und so. So, ob man dann gehnselt wird, oder so. Ja, aber-« I: (unterbricht) »Gehnselt wegen was?« G: »Also, da weil-, dann-, manche meinen dann, der nimmt Tabletten, und so. Ja, und dann-, da gibts ja manche, die hnseln dann einen da drber. Weil der dann immer regelmßig so was nimmt und so. Oder die sagen, der stçrt dann im © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Unterricht, wenn er-, wenn seine Uhr oder so piept. Ja, und ich hab-, ich wusste, aber was das vorher war. Ich wusste, dass das ne Tablette ist, weil mein Freund gegenber, der weiß das-, der hat-, nimmt das auch. Also, der hat die gleiche Krankheit wie ich. Ja, und dann (1) wusste ich auch schon ein bisschen da drber. Ja- (1) also, erst war das ein bisschen komisch.«

Die Medikation ist mit Auffälligkeiten verbunden, beispielsweise dann, wenn während des Unterrichts die »Uhr piept« und George daran erinnert, dass es Zeit ist, eine Tablette zu nehmen. Diese Auffälligkeit ist für ihn gewöhnungsbedürftig. Denn sie macht ihn tendenziell angreifbar, zum Objekt von Spott und Hänseleien. Bevor er selbst diagnostiziert und medikamentiert wurde, hat er am Beispiel seines Freundes beobachtet, dass es keineswegs selbstverständlich ist, Tabletten zu nehmen: »Ich wusste, dass das ne Tablette ist«.

Fazit: Vom Zappelphilipp zum Normalo Die Interviewbeispiele machen deutlich, dass zumindest für einen Teil der Jungen die mit der Diagnose und Medikation verbundene Hoffnung auf soziale Integration und soziale Anpassung nicht realisiert werden kann. Vielmehr erfahren einige der Befragten aufgrund ihrer Symptomatik, ihrer Diagnose wie auch aufgrund ihrer Medikation eine Stigmatisierung. Dabei gibt es Fälle, in denen die AD(H)S-Symptome stigmatisierend wirken, Fälle, in denen die AH(H)S-Diagnose mit Angst vor Stigmatisierung oder faktischer Stigmatisierung verbunden ist, und Fälle, bei denen die Medikation als Moment der Besonderung erfahren wird. Die drei Vorgänge können jeweils für sich genommen, aber auch in jeder denkbaren Kombination stigmatisierend wirken. Indem durch eine Behandlung der AD(H)S versucht wird, einer möglichen Stigmatisierung der Betroffenen entgegenzuwirken, kann mit der Diagnose wie auch durch die Medikation ein neuerlicher Anlass für Besonderung geschaffen werden. Der Wunsch, dass aus dem »Zappelphilipp« ein »Normalo« wird, kann durch medizinische Behandlung allein nicht erfüllt werden. Dazu braucht es auch die soziale Akzeptanz von Andersartigkeit, die Toleranz gegenüber Stö© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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rern und Auffälligen sowie die Bereitschaft, Unterschiede und Vielfältiges in die Gemeinschaft zu integrieren. Das ist es auch, was die befragten Jungen erwarten.

Literatur Allport, G. (1951). Treibjagd auf Sündenböcke. Berlin u. Bad Nauheim: Christian. Goffman, E. (1967). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hohmeier, J. (1975). Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozess. In M. Brusten, J. Hohmeier (Hrsg.), Stigmatisierung, Bd. 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen (S. 5 – 24). Neuwied u. Darmstadt: Luchterhand. Lösel, F. (1975). Prozesse der Stigmatisierung in der Schule. In M. Brusten, J. Hohmeier (Hrsg.), Stigmatisierung, Bd. 2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen (S. 7 – 32). Neuwied u. Darmstadt: Luchterhand. Tajfel, H., Flament, C., Billig, M., Bundy, R. (1971). Social categorization and intergroup behavior. European Journal of Social Psychology, 1, 149 – 177.

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Inge Schubert

»Und nachts, da arbeiten die Männchen im Kopf« Affektkontrolle und Männlichkeitsvorstellungen bei ADHS-medikamentierten Jungen

Im meinem Beitrag beziehe ich mich auf eine spezifische Gruppe von interviewten Jungen, die im Rahmen des Forschungsprojektes befragt wurden. Diese Jungen brachten ihre ADHS-Medikation nicht so sehr mit mangelnder Konzentration in der Schule, sondern primär mit ihrem emotionalen »Ausrasten« und »Durchdrehen« in Verbindung. Ihre scheinbar unkontrollierbaren Affekthandlungen im Kontakt mit anderen Kindern, in Kindertagesstätte, Schule und Nachmittagsbetreuung, aber auch im privaten Bereich der Familie mit Geschwistern bringen die Erwachsenen – zumeist Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen – in Handlungszwang. Nach Aussagen dieser Jungen sollen durch die Tabletteneinnahme diese unerwünschten Ausbrüche und Eskalationen gestoppt und ihr aggressives Benehmen im Kontakt mit anderen Kindern in den Rahmen des Zulässigen gebracht werden. Die Tablette soll sie aus den fortwährenden Ernstsituationen in einen spielerischen Rahmen bringen. Die Jungen stehen der Tabletteneinnahme eigentlich ablehnend gegenüber. Sie glauben dem Versprechen nicht, dass diese ihre unkontrollierbare Erregung beim Zusammenstoß mit anderen Kindern wegnehme und der erlebte Ernst zum Spiel werden könne. Nach eigenen Angaben nehmen sie vor allem ihren Müttern zuliebe die Tabletteneinnahme ambivalent-ablehnend hin. Die Jungen geben an, dass die Medikamenteneinnahme ihre Körperkraft schwäche. Zugleich betonen sie, dass die Tablette nicht helfe, dass sich nichts geändert habe. Sie stellen der Vorstellung, durch die Tablette »heruntergefahren zu werden«, Größenphantasien von eigener Überlegenheit und Stärke entgegen. Sie entwerfen Männlichkeit betonende Selbstbilder in Erzählszenen von Verfolgung, Kampf und Verteidigung. Auffällig dabei ist, dass diese Jungen dem errichteten Idealbild von körperlicher Stärke von ihrer körperlichen Er© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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scheinung her wenig entsprechen. Sie sind im Vergleich zu ihrer Altersgruppe eher kleine und dünne Jungen. Die ausführliche Interpretation von Teilen des Interviews mit dem kleinen Simon soll Einblick und Aufschluss darüber geben, wie besondere Selbstwahrnehmungen des Jungen auf seine besonderen Beziehungsdynamiken in einer alltäglichen Gesellschaft hinweisen.

Simon Simon ist sieben Jahre alt. Er besucht die erste Grundschulklasse und nach dem Unterricht die so genannte Mittagsbetreuung der Schule. Simon hat einen fünfjährigen Bruder. Simon ist ein kleiner, schmächtiger, aufgeweckter und ruheloser Junge, der gerne unterwegs ist und sich den Vorgaben der Erwachsenen geschickt zu entziehen weiß. Bemerkenswert ist die dem Interview vorausgehende Inszenierung von Simon. Zum verabredeten Interview ist Simon nirgendwo in der Schule aufzufinden. Die Aufregung, in die das abhandengekommene Kind die verantwortlichen Personen der Schule versetzt, bringt diesem einen Bedeutungszuwachs. Simon, der nicht zum Mittagstisch kommt, findet sich unbekümmert bei einer Gruppe Fußball spielender Jungen. Er bringt die Verantwortlichen der Schule in die Not, sich für die nicht eingehaltene Aufsichtspflicht rechtfertigen zu müssen, und bekommt darüber Aufmerksamkeit. Simon entzieht sich den von der Mutter getroffenen Absprachen, dem Mittagstisch und den Regeln der Mittagsbetreuung. Er ist nicht gewillt, den Aufforderungen der Erwachsenen zu folgen. Er wird schließlich mit physischer Gewalt an der Hand aus der Jungengruppe herausgezerrt und dem Interviewer vorgestellt. Der Interviewer gerät so in eine Situation, in der er Schuld erlebt für sein Interviewvorhaben und unter Druck gerät, Simon eine entsprechende Entschädigung bieten zu müssen. Simon erfährt im Interview eine starke narzisstische Aufwertung. Er lässt sich in seinen Größenphantasien vom Interviewer bestätigen. Es kommt zu Beginn des Interviews zu einer Rollenumkehr. Simon bezeichnet sich als »Herr Forscher«, er nennt sich »Professor Fußballer«. Der Interviewer macht Simon verschiedene © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Männlichkeitsangebote, so spielt er mit ihm beispielsweise »Armdrücken«. I: »Guck, jetzt hast du gewonnen, aber ich habe fast gedacht, dass du gewinnst, weil ich bin nicht so stark, wie ich aussehe« S: »Muskeln.« I: »Ich habe schon große Muskeln, guck.« S: »Ich habe einen Onkel, der hat so Riesenteile.« I: »Ja, ich auch, aber ich bin nicht so stark, wie ich aussehe. Du bist stark, das sieht man.« S: »Kann man sehen, weil ich so dnn bin.« I: »Ja, nur Muskel, die sieht man alle, genau.« S: »Die Rippchen, die nennt sie immer so die Rippchen, meine Mutter.«

Es kommt hier für alle durchschaubar zu einer Rollenumkehr. Simon wird zum Sieger gemacht. Der Interviewer als erwachsener Mann und sichtbar Stärkerer übernimmt den Part des Verlierers. Mit dem »Armdrücken« setzt er ein Männerbild in Szene, bei dem er seine wahre Stärke verbirgt und Simon narzisstisch aufwertet. In der Interaktion des Kräftemessens nimmt sich der Forscher schließlich zurück, um Simon Männlichkeit zuzusprechen. Die männliche Aufwertung und Umdeutung ist ein Muster, das Simon weiterführt. Simon verwendet auch die mütterliche Deutung seines dünnen kindlichen Körpers als Beleg seiner Stärke. Das Muster der Umdeutung von Stärke und Schwäche legt den Schluss nahe, dass Simon auch von der Mutter gerne als Mann gesehen werden möchte.

Die arbeitenden Eltern In Simons Erzählung haben die Arbeit und die Arbeitszeiten der Eltern eine wichtige Bedeutung. Die Arbeit der Eltern scheint den Alltag der Familie sehr zu bestimmen. Uhrzeiten und Termine müssen eingehalten werden, das Weggehen, Abholen und nach Hause kommen, Schlafengehen und Aufstehen müssen genau abgestimmt werden. Auffällig in Simons Erzählungen sind die irritierende Genauigkeit von Zeitangaben und konkreten Daten. Der Vater komme um zwölf Uhr nachts nach Hause. Von der Mutter werde er um vier Uhr © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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abgeholt. Auch für den Beginn der Tabletteneinnahme benennt er ein irritierend konkretes Datum »Ich weiß nicht, ich glaube, so 2006, also 2., 3. Mai 2006«. Die nachfolgende Rekonstruktion des Interviews macht deutlich, dass die Zeitangaben für Simon eine existenzielle Selbstversicherung bedeuten. Simon organisiert sich weitgehend selbst und versucht, sich mit seinen Bedürfnissen in einem eng getakteten Alltagsablauf geschickt zu bewegen, um die Regeln der Erwachsenen zu umgehen. Simon gibt an, dass er den Vater nur selten zu sehen bekomme, weil er zwei Berufe habe, Kellner und »Partyaufbauer und kocht auch dabei«. Er käme wegen der Arbeit immer erst spät in der Nacht nach Hause, auch an den Wochenenden. Neben seiner Arbeit als Kellner investiert Simons Vater viel Zeit und Kraft in den Aufbau eines Partyservices. Er kümmert sich dabei auch um die Herstellung des Essens. Simon gibt an, dass auch seine Mutter »in einem Restaurant arbeitet«. Die Arbeit der Mutter scheint gegenüber den zwei Berufen des Vaters weniger bedeutungsvoll – »die Mutter bringt Essen und ist manchmal an der Kasse«. Simon ist mit dem Tag und Nacht arbeitenden Vater und überhaupt den arbeitenden Eltern sehr identifiziert. Arbeiten erscheint als Lebensmittelpunkt. Es verbindet die Eltern und hält die Familie zusammen. Die Erzählungen vermitteln den Eindruck, dass sich die Eltern durch ihre Arbeit nur wenig sehen, dass sie wenig Zeit haben, dass es Simon gewohnt ist, sich alleine zu beschäftigen.

Geschummeltes Schlafwandeln Simon erzählt: »Nachts gehe ich immer raus aus dem Bett und gehe zu meiner Mutter, ohne dass ich meine Augen noch aufhalte und manchmal tue ich so, als ob ich schlafe.« Simon muss sich nachts versichern, dass die Mutter da ist. Er tut so, als ob er schlafwandeln würde und weiß sich geschickt in seinem Wunsch nach der Nähe der Mutter durchzusetzen. Simon erschleicht sich sozusagen mit der Strategie des Schlafwandelns den nächtlichen Platz neben der Mutter. Er weiß, dass der Vater um zwölf Uhr nachts nach Hause kommt, und versucht vermutlich in der Rolle des schlafwandelnden Kindes, sich vor Zurückweisung und Maßregelungen zu schützen. Simons Erklärung, »aber wenn es so um neun ist oder um viertel vor neun, dann © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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weiß man, dass ich schlafe«, macht deutlich, dass die Eltern das pünktliche Einschlafen der Kinder voraussetzen, dass sie davon ausgehen, dass die Kinder schlafen, auch wenn das bei Simon nicht immer der Fall ist. Die Erklärung lässt auch vermuten, dass Simons nächtliches Wandern ins elterliche Bett in einem Zusammenhang steht mit den abwesenden Eltern. Simons Erzählung lässt offen, ob und wie der heimkommende Vater ihn zurück ins eigene Bett verweist und wer den Platz neben der Mutter einnimmt.

Das Telefonier-Spiel Beim Telefonier-Spiel spielt Simon seinen eigenen Vater, der dem Interviewer seine Beziehung zu seinem Sohn, also zu Simon erklärt. I: »Und gibt es irgendwas, was dich an ihm [dem Sohn] stçrt?« S: »Also ja, schon, er guckt zu sehr oft Fernsehen, das ist sein Hobby, und ich sage immer, nur abends, aber das mag er nicht.« I: »Also du willst, dass er nur abends guckt?« S: »Wie ich bei meinem Vater.« I: »Und wenn du sagst, er soll nur abends gucken, was sagt dein Sohn dann zu dir?« S: »Ich mag, dass er mich mag, aber manchmal mittags mçchte er schon mit seinem Bruder und seinen Freunden spielen.« I: »Und spielst du auch manchmal mit ihm, machst du so was gerne?« S: »Also spielen tue ich eigentlich ganz selten.« I: »Und will er, dass du çfter mit ihm spielst?« S: »Hhm, ja.«

Simon gibt zu verstehen, dass es dem Vater nicht so ganz recht ist, dass er so viel Zeit vor dem Fernseher verbringt. Simon spielt, ebenso wie der Vater, nur selten und ungern mit dem jüngeren Bruder, auch nicht mit Freunden. Der Vater würde es lieber sehen, wenn Simon auch mal mit dem Bruder oder mit Freunden spielen würde. Er ist froh, dass er das wenigstens manchmal freiwillig macht. Simon zeichnet den Vater als selbst liebebedürftigen und weichen, den Konflikten ausweichenden Vater; als einen Vater, der die Zu© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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wendung des Sohnes braucht und diese nicht aufs Spiel setzen will. Simon entwirft das Bild eines harmoniebedürftigen Vaters, der dem Sohn keine Grenzen setzen möchte; eines Vaters, der trotz seiner Bedenken gegenüber den Fernsehgewohnheiten des kleinen Sohnes nicht vermag, diesen einzuschränken. In Simons entworfenem Bild wagt es der Vater nicht, dem Sohn Grenzen zu setzen, aus Angst vor einem Liebesverlust. Simon entwirft eine Vorstellung, in der er die eigene Bedürfnisbefriedigung über den Vater stellt, einen Vater, der sich mit seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen dem Sohn zuliebe zurücknimmt. Simon kann so seinem »Hobby« Fernsehen nach Belieben nachgehen. Er braucht keine Reglementierung oder Strafen zu fürchten und kein schlechtes Gewissen zu haben. Vor dem Hintergrund der Eltern, die in zeitlich versetzten Lebensrhythmen arbeiten und schlafen, dem Familienalltag, in dem es wenig Zeit und wenig Gemeinsamkeit gibt, stellt Simon seine Bedürfnisse über die des Vaters. Dass der Vater sich ganz selten Zeit für ihn nimmt, ihn zu kurz kommen lässt und wenig Interesse für ihn hat, deutet Simon um zur Liebe, aus der heraus der Vater dem Sohn alles gewährt. »Gut, ich [der Vater] sehe ihn [den Sohn] aber fast nie. Weil ich immer nur abends komme ganz spt … Nur am Wochenende sehe ich ihn manchmal. Also ich mag, dass er mein Sohn ist und dass er mich mag, dass er mich lieb hat und dass er mir manchmal Fragen stellt. Und dass er manchmal auch mit seinem Bruder spielt.«

Simon entschuldigt den Vater. Ebenso wie ihm der Vater das viele Fernsehen nachsieht, scheint Simon dem Vater nachzusehen, dass er für ihn sehr selten da ist, dass er mit ihm eigentlich so gut wie nie spielt. Simon spielt im Interview die Rollenumkehr. Das Spiel zeigt, dass Simon den Vater nicht als Vater denken kann, sondern nur als Sohn. Er kann ihn nur mit seinen eigenen kindlichen Gefühlen und Wünschen sehen, als Vater, der sich als Sohn sieht, der es mit Simon gerne so hätte, wie er es bei seinem eigenen Vater hatte. Simon kann keine anderen Gefühle als die eigenen am Vater festmachen. Es scheint so, als würde er den Vater mit eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Bedürfnissen nicht kennen. Simon denkt den © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Vater als jemanden, der seine Zuneigung braucht, und stellt darüber ein geschicktes Arrangement her, in dem er seinen Interessen nachgehen kann. Die Erzählung macht deutlich, dass Simon wenig in Beziehung und sich in seinen Entscheidungen selbst überlassen ist. Simon hat wenig Interesse, mit dem Bruder oder mit Freunden zu spielen, er beschäftigt sich lieber alleine. Er erscheint isoliert und von sozialen Beziehungen ausgeschlossen. Simon zeigt sich in der Größenphantasie autonomer, narzisstischer Selbstbezogenheit als einsames Kind seiner eigenen Welt.

Vater und Arzt Ähnlich wie bei seinem Vater stellt sich Simon auch gegenüber dem Arzt mit seinen narzisstischen Wünschen dar. I: »Was sprecht ihr denn bei dem Arzt?« S: »Ob es mir gefllt, dass ich die Tablette nehme, und dass ich – ob es auch hilft. Und die reden auch ber so, dass ich sie auch nehmen muss.«

Auch im Arztgespräch zusammen mit der Mutter erscheint Simon als derjenige, dessen Gefallen wichtig ist. Das Gespräch zwischen Arzt und Mutter führt jedoch zu einem anderen Ergebnis: zu einer weiteren Verordnung, die Simon einhalten muss, ob es ihm gefällt oder nicht. Im ähnlichen Muster beantwortet Simon auch folgende Frage des Interviewers. I: »Wenn du jetzt Vater wrst, wie wir es eben gespielt haben, wrdest du die Tablette deinen Kindern dann auch geben?« S: »Also wenn die Kinder das Gleiche wollen, schon, aber wenn die was anderes mçchten, dann hilft es nicht.«

Simon steht der aufgezwungenen Tabletteneinnahme ablehnendambivalent gegenüber. Wenn die Tabletten nicht seinen Bedürfnissen entsprechen, so können sie auch nicht wirken. Lieber ist ihm das selbstgewählte Sedativ Fernsehen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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In der Zusammenschau der sich wiederholenden selbstbezüglichen Deutungsmuster kann das Bild des schwachen Vaters als phobische Abwehr verstanden werden. In dieser Lesart ist Simon derjenige, der den Vater depotenziert und sich selbst narzisstisch aufwertet. Die Abwehr gilt dem bedrohlichen Vater, der ihn heftig zurückweist, dem Vater, der seinen Platz neben der Mutter beansprucht. Simon wird darüber zum bedürftigen, ausgeschlossenen Sohn. Er kann über seine Enttäuschung und Verunsicherung durch den Vater nicht sprechen. In der narzisstischen Umdeutung erhält er die Illusion der Nähe zur Mutter und die Illusion des alles gewährenden, zugewandten Vaters.

Die Bedeutung des Medikaments und das Bild von der Tablette Simon erhält eine Medikation seit dem Kindergarten. Er bekommt das Medikament »normalerweise sehr oft« von der Mutter verabreicht, »manchmal oder sehr selten« vom Vater, dann, »wenn er mal Zeit hat, ein bisschen länger zu Hause und sich kümmern kann«, was nach der Erzählung Simons eigentlich nie eintritt. Im Kindergarten bekam Simon ein anderes Medikament, das er zweimal am Tag morgens und abends einnahm. Inzwischen erhält er eine Tablette, die er nur einmal am Tag, morgens verabreicht bekommt. Auf die Frage des Interviewers, ob er auch am Wochenende und in den Schulferien die Tablette nehme, gibt Simon zu verstehen, dass die dauerhafte Einnahme für ihn zu einer selbstverständlichen Normalität geworden ist. S: »Natrlich, an jedem Tag eine Tablette.« I: »Und das ist eine Tablette, du hast schon Tablette gesagt?« S: »Eine Tablette, damit ich nicht mehr aufgeregt bin, also wenn ich richtig wtend bin, dass ich dann nicht zuschlage. Die hlt nur bis zum Mittagessen oder nach dem Mittagessen.« I: »Und ab dem Mittagessen schlgst du dann wieder zu?« (lacht) S: »Nachmittags, wenn ich gergert werde, schlage ich dann jemand anderen, wenn er mich rgert.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Die Tablette soll nach Simons Vorstellung bewirken, dass seine Aufregung geht, dass er nicht »richtig wütend« zuschlägt. Simon äußert sich nicht über den Anlass der Aufregung, er spricht nicht über konkrete Personen oder Situationen, nicht darüber, von wem er wie und warum geärgert wird, wie es dazu kommt, dass er »richtig wütend« zuschlägt. Simon macht einander widersprechende Aussagen zu der Wirkung der Tablette. Er äußert – »das Einzige, was ich merke, ist, dass sie eklig schmeckt« –, dass die Tablette keine Wirkung zeige. Er beklagt sich über den schlechten Geschmack der Tablette und über die Zumutung, etwas verabreicht zu bekommen, das nach »verbrannter Pizza und noch ein bisschen Kacke drauf« schmeckt. Er lehnt die Tablette wegen ihres Geschmacks ab, »also ich will sie eigentlich nie«, und verlangt nach einer Tablette mit besserem Geschmack. Er erklärt: »Ja, die Mama denkt, die hilft, aber sie hilft so gut wie gar nicht.« Er beschreibt die Tablette als wirkungslos, er nehme diese, weil die Mutter sich von der Tablette Hilfe verspricht. An einer anderen Stelle des Interviews beschreibt er wiederum eine Wirkung der Tabletteneinnahme und das Nachlassen der Wirkung, »dass ich ganz schwach werde und wenn es nachlässt, dass ich wieder ganz stark werde«. Simon gibt an, dass er von der Medikation außer Kraft gesetzt wird und in seinem normalen Aktivitätsdrang eingeschränkt ist. Simon hat die Tablette vorderhand vergleichsweise positiv besetzt. Das Bild der verbrannten Pizza mit »ein bisschen Kacke drauf« lässt den Schluss zu, dass Simon die Tabletteneinnahme als Entwertung seiner Person erlebt. Simon wird von den Eltern in seinem oralen Wunsch, versorgt zu werden, enttäuscht. Die Tabletteneinnahme erscheint als elterliche Gewalt, die seine oralen Wünsche entwertet und analisiert.

Weil die Tablette sehr viel Zeit wegnimmt I: »Und wenn du grçßer bist, stell dir mal vor, du bist–?« S: (unterbricht) »Zwçlf ?« I: »Ja oder lter.« S: »Hm? Was war noch mal die Frage?« I: »Ja, ob du die Tablette, dann noch nehmen wrdest?« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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S: »Ich weiß nicht, ob –, ich glaube, nicht. Ich weiß nicht, beides glaube ich, nicht oder doch. Also ich glaube schon.« I: »Du hast vorhin gesagt, eigentlich magst du sie nicht. Und magst du sie nur nicht, weil sie nicht gut schmeckt, oder magst du sie aus noch einem Grund nicht?« S: »Ja, weil die sehr viel Zeit wegnimmt, wenn ich sie nehme.« I: (unterbricht) »Die nimmt dir Zeit weg, hhm.« S: Weil dann kann ich nicht so schnell Zhne putzen gehen und zum Fernsehen gucken morgens.« I: »Morgens guckst du Fernsehen und da stçrt dich die Tablette dann beim Fernsehen?« S: »Also nee, dann bin ich ganz, dann gucke ich nur Fernsehen und sonst sage ich nichts, dann sage ich nichts, wenn ich Fernsehen gucke.«

Simon ist hin und her gerissen, was er für seine Zukunft und die ADHS-Medikation glauben soll. Auffällig ist, dass Simon bei der Vorstellung größer und älter zu sein, gedanklich aussteigt und nicht mehr weiß, wonach er gefragt wurde. Welche Vorstellung Simon mit dem Alter zwölf Jahre verbindet und was ihn aus dem Konzept bringt und den Faden verlieren lässt, lässt sich nur erahnen. Die Zahl zwölf ist die Uhrzeit, zu der der Vater nach Hause kommt. Simon will sich auf kein Versprechen einlassen, er will keine Aussage darüber machen, ob er mit zwölf immer noch so heftig und rücksichtslos zuschlagen wird. Er führt dem Interviewer ein neues Argument für seine ablehnende Haltung gegenüber der Tabletteneinnahme an: Die Tablette stehle die Zeit zum Fernsehen. Die Rechtfertigung, dass er beim morgendlichen Fernsehen sich ruhig verhält, nichts sagt und niemanden stört, lässt darauf schließen, dass ihm abverlangt wird, morgens leise zu sein und keine Unterhaltungen zu führen. Vermutlich müssen Simon und sein Bruder Rücksicht auf die Eltern nehmen und sich frühmorgens in ihren vitalen Bedürfnissen zurücknehmen. Simons Vater arbeitet bis spät in die Nacht und schläft vermutlich morgens, wenn die Kinder wach werden. Simon ist es gewohnt, sich selbst zu beschäftigen und nach seinen eigenen Vorstellungen den Tag zu beginnen. Es gibt für ihn nur eine wichtige Maßgabe, die er einhalten muss: nicht zu stören. Fernsehen am morgen ist für ihn ein legitimer Zeitvertreib. Simons Aussage, dass die Tabletten ihm die Zeit nehmen, kann in den Kontext von Simons eigener Welt gestellt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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werden, in der er mit sich alleine ist und sich autonom und unabhängig fühlt von der Welt der Erwachsenen. Mit der Tabletteneinnahme soll erreicht werden, dass sich Simon zielgerichtet auf die vorgegebenen Erfordernisse der Erwachsenenwelt einstellt. Spätestens mit dem Schuleintritt wird Simon mit einem Realitätsprinzip konfrontiert, das ihn in Konflikt bringt. Die Maßgabe, dass er mit der Tablette aus seiner errichteten eigenen Welt herausgeholt werden soll und die ihm lieben morgendlichen Beschäftigungen einschränken und aufgeben soll, will Simon nur ungern annehmen. Insofern erlebt Simon die über die Tablette erzwungene Anpassung an von außen vorgegebene Zeitstrukturen als Verlust von Zeit. Die Tablette bedeutet den Verlust seiner kindlich-autonomen Welt, in der er sich selbst nach seinen Bedürfnissen einrichten und sich den Anforderungen der Erwachsenen entziehen konnte.

Die Tablette wirkt irgendwie im Kopf S: »Also die Tablette gefllt mir, weil sie mir hilft, mich am Vormittag oder Morgen nicht zu schlagen, und sie gefllt mir auch, weil es mich freut, dass ich nicht so hinschlage. Ja, und sonst?« I: »Mir hat mal ein Arzt gesagt, dass die Tablette irgendwie auch im Kopf wirkt?« S: (unterbricht) »Ja, im Kopf, es geht zuerst in das Gehirn, dann arbeiten die Mnnchen da drin, dass ich dann weiß, dass ich nicht sofort hinschlagen soll –« I: (unterbricht) »Das sind Mnnchen?« S: »Ja. Und dann wird sie wieder ganz schwach und dann schlafen sie wieder ein.« I: »Das sind so Mnnchen, so kann man sich das vorstellen?« S: »Die arbeiten nmlich nur abends, nur nachts. Das erkennt man nmlich, dass ich immer rausgehe aus dem Bett und gehe zu meiner Mutter, ohne dass ich meine Augen noch aufhalte und ich manchmal tue, als ob ich schlafe. Aber wenn es so um neun Uhr ist oder um Viertel vor neun, dann weiß man, dass ich schlafe.« I: »Um die Zeit schlfst du dann schon, okay. Und davor arbeiten die Mnnchen dann auch oder?« S: »Davor arbeiten sie noch und morgens schlafen sie dann.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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I: »Wenn du wach wirst morgens, dann schlafen sie. Und wenn du die Tablette nimmst, fangen sie dann wieder an oder?« S: »Dann wachen sie auf und arbeiten dann.« I: »Und was genau machen die fr eine Arbeit?« S: »Also die arbeiten, dass ich nicht schlage, manchmal mit so einer Minischaufel aufs Gehirn, damit ich aufhçre damit, aber das merke ich eigentlich so gut wie gar nicht, ich weiß ja nicht einmal, wo mein Gehirn ist.«

Simon sieht als einen positiven Effekt der Tabletteneinnahme, »dass ich nicht so hinschlage«. In dieser Hinsicht zeigt er sich mit der Tablette zufrieden. Sie tue ihre Wirkung. Simon spricht der Tablette ein Lob aus und macht ihr ein Kompliment »sie gefällt mir auch«. Auffällig ist, dass Simon nicht über die Personen spricht, die ihn dazu bringen, dass er zu kräftig zuschlägt. Es bleibt unklar, wer mit wem weshalb streitet. Es könnte sich auch um einen Gegenstand handeln, an dem Simon seine Wut auslässt. Simon schreibt die Veränderung nicht dem eigenen Willen oder seiner Fähigkeit zu, sich besonnener verhalten zu können, sondern eben der Tablette. Es ist nicht die eigene Leistung, sondern die Leistung der Tablette. Simon erklärt sich die Wirkung der Tablette im Bild der Männchen, die in seinem Gehirn arbeiten. Die Männchen bringen Simon dazu, dass er sich regelkonform zu verhalten weiß. In Simons Vorstellung arbeiten die Männchen nur abends, nur nachts. Morgens schlafen sie. Wenn die Männchen arbeiten, kommt es nicht dazu, dass Simon zuschlägt. Erst wenn die Männchen schlafen, läuft Simon Gefahr, dass er unkontrolliert zuschlägt. Durch die morgendliche Tabletteneinnahme werden die Männchen jedoch dazu gebracht, weiter zu arbeiten. Die Tabletten verhindern also den Schlaf der Männchen. Die im Gehirn unentwegt arbeitenden Männchen erscheinen im Bild des Vaters, der ja auch nachts arbeitet und vermutlich morgens schläft. Die nachfolgende Szene, die am Schluss des Interviews steht, dient als weiterer Erklärungshintergrund. I: »Gibt es irgendwas, was du dir wnschst von den Erwachsenen, was sie anders machen mit dir?« S: »Dass es immer wieder –, dass sie bis zum Schlafen helfen und dass sie die –, dass am Mittag ich sie nehmen drfte.« I: »Du willst sie nicht morgens, sondern am Mittag nehmen?« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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S: »Am liebsten.« I: »Und warum?« S: »Tja, dann nimmt sie mir nicht mehr so ganz doll die Zeit weg.«

Simon wünscht sich sehr, dass die Tabletten ihm bis zum Einschlafen helfen. Als Antwort auf die Frage des Interviewers ist Simons Äußerung auch als Wunsch an die Erwachsenen zu lesen, dass sie ihm (mit Tabletten) helfen bis zum Einschlafen. Die Eltern lassen Simon mit seiner Angst vor dem Einschlafen alleine. Dass Simon nachts schlafwandelnd die Nähe der Mutter sucht, ist für ihn ein Beweis, dass die Männchen in seinem Kopf arbeiten. Simons Erklärung, dass die Männchen ihn »manchmal mit so einer Minischaufel aufs Gehirn [schlagen], damit ich aufhöre damit« legt nahe, dass es um die Vorstellung einer Instanz geht, die ihm Einhalt gebieten kann, die ihm mit einem Schlag auf den Kopf zur Besinnung bringt. Simon verhandelt in seiner Vorstellung rudimentäre Formen des Sandkastenstreits: Den Kleinkindkonflikt um Mein und Dein, der mit Schaufeln ausgetragen wird und die Hilfe von schützenden Erwachsenen braucht. Simons Vorstellungen bewegen sich hier auf der Ebene der vorsprachlichen Entwicklung, wo über die Sprachentwicklung und das Spiel mit Gleichaltrigen soziale Formen der Auseinandersetzung erst noch erworben werden müssen. Simons Wunsch, in seiner selbst erschaffenen narzisstischen Welt Zeit zu haben, steht der Wunsch der Eltern gegenüber, die von Simon ein Funktionieren in einem durchorganisierten Tagesablauf wollen, in dem keine Zeit übrig ist. Simon schwankt in seiner Einstellung zur Tabletteneinnahme. Er lässt die Mutter mit ihren an die Tablettenvergabe geknüpften Wünschen gewähren und bleibt dabei wie ein Unbeteiligter au ßen vor. In der Ambivalenz gegenüber der Tabletteneinnahme erhält Simon das Nebeneinander der eigenen Wünsche und der Optimierungswünsche der Erwachsenen. Im Wissen darüber – wenn ich so bin, wie ich bin, mögen mich meine Eltern nicht, wenn ich nicht so bin und Tabletten nehme, gehöre ich wenigstens dazu – arrangiert sich Simon mit der Tablette und der Familiensituation. Er konstatiert bei sich eine Verhaltensänderung und zugleich keine Ver änderung. Seine narzisstische Verletzlichkeit und sein rücksichtsloses, aggressives © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Verhalten erscheinen als etwas Fremdgesteuertes, was nicht zu ihm gehört. Das von Simon entworfene Bild der Männchen, die unerbittlich bis zur Erschöpfung arbeiten müssen, zeigt ein Bild der Überforderung: Man darf nicht schlafen, man muss immer arbeiten. Es ist auch ein Abbild der Eltern, die bis zur Erschöpfung arbeiten und auch morgens nicht schlafen können, weil die Kinder da sind und organisiert werden müssen. Auch die gedachte Gemeinsamkeit des Elternpaars – die Mutter, die noch wach ist, wenn der Vater spät nachts nach Hause kommt – erscheint als ein Arrangement der Überforderung. Simons Bild der Männchen, die auch morgens nicht einschlafen dürfen, sondern ohne Schlaf unentwegt arbeiten müssen, erinnert an frühkapitalistische Arbeitsverhältnisse: an Phänomene der frühen Industrialisierung, die Pauperisierung, Proletarisierung und kapitalistische Ausbeutung. Simons Bild der arbeitenden Männchen versetzt den Betrachter in eine Zeit zurück, als es für Kinder keine Rechte, für Arbeiterinnen und Arbeiter keine gesetzlichen Schutzbestimmungen, keine vertraglichen Arbeitszeitregelungen und keine Gesundheitsbestimmungen für den Arbeitsplatz gab. Bei Simons Eltern sind es die selbst gewählten Entwürfe von Arbeiten und Leben, Partnerschaft und Elternschaft, die gewählte Selbständigkeit und Selbstausbeutung, die sie in die Situation der Nichtvereinbarkeit von Arbeiten und Leben und an den Rand der Überforderung bringen. Die von Simon entworfenen Männchen, die in seinem Gehirn unerbittlich arbeiten, sind auch verstehbar als ein Synonym für die innere Unruhe, von der Simon getrieben wird. In dem von Arbeiten bestimmten Familienablauf gibt es für Simon nirgendwo Ruhe, keine Gemeinsamkeit, kein Ich-Mama-Papa-Bruder. Man könnte sagen, Simon ist von der Überforderung der Eltern überfordert. Der gemeinsame Arztbesuch ist vielleicht ein Ereignis, das den strengen Zeitablauf im Arrangement der Familie durchbricht und Simon die Exklusivität mit der Mutter und eine triangulierende Erfahrung mit dem Arzt ermöglicht, die in seinem Alltag wenig vorkommt. Insofern sichert die Medikation Simon einen verlässlichen Termin und eine Zeit mit der Mutter, »also regelmäßig, also immer gehen wir zum Doktor, auf jeden Fall an einem –, auf jeden Fall steht es auf unserem Kalender drauf«. Es ist eine Zeit für Simon, die im eng getakteten Familienalltag einen festen Platz bekommt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Affektausbruch und Selbstbedrohung: »dann bin ich so wütend, dass ich denke, ich würde gleich in die Luft springen« Das Fernsehen, das zu Hause als Sedativ wirkt, ermöglicht der Familie ein vordergründig funktionierendes Arrangement. Der Familienstreit wird abgehalten und umgeleitet. In Kindergarten und Schule, wo Simon sich mit vorgegebenen Regeln, mit Grenzen setzenden Erwachsenen und widerständigen Kindern arrangieren muss und ihm ein Verhaltenskodex in der Kindergruppe abverlangt wird, erfährt seine Größenphantasie und Selbstbezogenheit eine empfindliche Einschränkung. Simon erlebt die narzisstische Verletzung seines größenphantastischen Selbstbildes als bedrohlich und muss diese mit allen Mitteln abwehren. S: »Das Einzige, was ich merke, dass ich dann ein bisschen entspannter bin.« I: »Was heißt das dann?« S: »Dass ich lockerer werde, dass ich nicht mehr so auf(geregt) in meinem Muskel, dass ich nicht so doll reinhaue, wenn ich mal haue, dass ich es nicht so doll mache, wie ich es sonst mache, weil normalerweise mache ich immer tsscht, aber da mache ich so.« I: »Also sonst voll auf die Zwçlf und da ein bisschen langsamer. Aber hauen mçchtest du trotzdem, wenn dich jemand rgert?« S: »Also wenn mich jemand rgert, dann bin ich, dann bin ich so wtend, dass ich denke, ich wrde gleich in die Luft springen, dass ich am liebsten mich mit so ein Schwert.« I: »Du wrdest dich selbst verletzen mit dem Schwert am liebsten?« S: »Dann denke ich, wenn mich jemand haut, dass grade so ein Schwert, so ein Sbel auf mich kommt und dann meinen Kopf aufmacht.« I: »In dem Moment, wo du so wtend bist, denkst du das dann?« S: »Denke ich immer …«

Simon erklärt dem Interviewer die erlebte Wirkung der Tablette. Durch die Entspannung im Muskel komme es dazu, dass er nicht so © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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stark zuschlage wie sonst. Die Tablette würde bei ihm zu einem etwas leichteren, abgebremsten Schlag führen. Simon schlägt mit der Tablette nicht mehr wie gewohnt mit voller Kraft, aber er schlägt wie gewohnt. Als der Interviewer fragend den Zusammenhang herstellt, dass Simon wohl von jemandem geärgert wird, platzt es aus Simon heraus: »Also wenn mich jemand ärgert, dann bin ich, dann bin ich so wütend, dass ich denke, ich würde gleich in die Luft springen.« Simon gerät in eine unbändige, blinde Wut, wenn er geärgert wird. Für das, was Simon so sehr aus der Fassung bringt, dass er wild zuschlägt, hat er keine Worte. Er ist in seiner grenzenlosen Wut so außer sich, dass er am liebsten in die Luft springen will. Ob das Schwert auch ein Objekt ist, das er gegen die anderen richten will oder zum Objekt der Selbstverletzung wird, wie es der Interviewer deutet, bleibt unklar. Simon beschreibt, dass, wenn er selbst von jemandem angegangen wird, es für ihn so ist, als ob »grade so ein Schwert, so ein Säbel auf mich kommt und dann meinen Kopf aufmacht«. Simons aggressive Attacken auf andere sind von einer panischen Angst getragen. Er erlebt die Auseinandersetzung mit anderen Kindern wie eine existenzielle Bedrohung, als niederkommendes Schwert, als Säbel, der ihn niederzwingt und seinen Kopf zertrümmert. Simon beschreibt eine grenzenlose Wut, eine Zerstörungswut und (Selbst)zerstörungsangst, die für ihn existenziell bedrohlich ist. Wenn man den Zusammenhang zu Simons narzisstischem Selbstbild herstellt, zu seiner Größenvorstellung, mit der er über sich und andere bestimmen will, ist verstehbar, weshalb Simon die Zurückweisung durch andere Kinder so erschüttert. Die Begrenzung seiner Möglichkeiten, dass er nicht alles bekommt, was er will, lässt Simon außer sich geraten. Er kann die narzisstische Kränkung, dass er sich zurücknehmen muss, dass er nicht alleine ist, dass er nicht immer der Größte und Stärkste ist, kaum verkraften. In seiner selbstbezogenen, einsamen Welt wird das Zusammentreffen mit anderen zur Bedrohung. Simon fehlen vermutlich positive Spiel- und Beziehungserfahrungen mit Gleichaltrigen. Simon nennt sich zu Beginn des Interviews »Professor Fußballer«. Als selbsternannter »Professor Fußballer« wird Simon beim Fußballspiel mit Gleichaltrigen vermutlich nur schwer die Erfahrung des konstruktiven gemeinsamen Spielens machen können. Mit seiner Größenvorstellung und seiner Reizbarkeit forciert er vermutlich in der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Jungengruppe die eigene Ausgrenzung und stellt die befürchtete Demütigung geradezu her, die ihn in die Luft gehen lässt. Simon erlebt die konfrontativen Handlungen der anderen Kinder wie eine Lebensbedrohung, weil er die Kinder nicht einschätzen kann. Möglicherweise sind hier Erfahrungen mit dem bedrohlich erlebten Vater ein Hintergrund. Simons Bild der schuftenden Männchen, die die Welt des Vaters repräsentieren, verweist darauf, dass die Lebenswelt des Vaters in Simons Kopf arbeitet und Simon nicht zur Ruhe kommen darf. Es erscheint wie ein Paradox, dass Simons Männchen nicht zur Ruhe kommen dürfen, dass der Schlag auf den Kopf nicht dem Innehalten, sondern dem Weitermachen gilt. Die Tablette soll Simon dazu verhelfen, die narzisstische Kränkung weniger stark auszuagieren. In Simons Vorstellung von sozialer Anpassung geht es nicht um die eigene emotionale Erschütterung, es geht auch nicht um soziale Beziehungserfahrungen und das Erlernen von Spielregeln. Simon geht es um das leichtere Zuschlagen, das Zurücknehmen der eigenen Kraft. Er entwirft sich dabei in seiner ohnmächtigen Wut im Selbstbild von unbändiger Kraft, die durch die Hilfe der Tablette gezähmt werden soll. Das Dilemma, dass Simon den eigenen Kontrollverlust wiederum mit dem Aufrichten von Größenphantasien kompensiert, bringt ihn in einen Teufelskreis, den die Tabletteneinnahme verhindern soll. Dass Simon die Tabletteneinnahme allein in den Kontext der Zivilisierung und Regulierung seiner vorgestellten enormen Schlagkraft stellt und nicht mit schulischen Erfordernissen und einer schulischen Leistungssteigerung verbindet, hat vermutlich einen milieuspezifischen Hintergrund. Simons Eltern repräsentieren mit ihrer Arbeit ein eher bildungsfernes Milieu. Ebenso wie für die Eltern hat Arbeit für Simon eine große Bedeutung. Es geht darum, etwas schaffen zu müssen. Bildungsbezogene Leistungen scheinen für Simon keine Rolle zu spielen. Obwohl das Interview in seinem Klassenraum stattfindet, findet der schulische Kontext keine Erwähnung. Dagegen sind Körperkraft und körperliche Schnelligkeit für Simon von zentraler Bedeutung. Die Tablette ersetzt für Simon die zivilisierende Sozialisation, das Lernen durch soziale Beziehungserfahrungen. Die Tablettenvergabe wiederholt in gewisser Weise Simons Dilemma des einsamen selbstbezogenen Kindes, dem in seiner Größenphantasie von den erwach© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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senen Bezugspersonen keine Grenzen gesetzt werden. In seinem Selbstbild, in dem ihm die Tabletten und nicht Personen Grenzen setzen, wird Simons Erfahrung erneuert. Er wird durch die Tabletteneinnahme erneut zum beziehungslosen Kind, das sich nicht in seinen ihm eigenen Fähigkeiten und Grenzen ins Verhältnis zu den anderen setzen kann.

Erhöhte Verletzlichkeit und unzureichende Affektkontrolle im gesellschaftlichen Kontext Auch die Erzählungen der anderen Jungen zentrieren sich um eigene, einsame Welten, um Ablehnung, Entwertung (Haubl u. Liebsch, 2009) und um die als Unterwerfung erlebte Anpassung an die Regeln und Vorgaben der Gleichaltrigengruppe, gegen die sie innerlich kämpfen. An vielen Stellen zeigen die Erzählungen einen Männlichkeitsgestus von aggressiver, einsamer Stärke und eine Emotionsund Empathielosigkeit. Es geht dabei um die Vorstellung von überschüssiger Kraft, die Vorstellung einer scheinbar mechanisch-autonom wirkenden Körperreaktion. Die Erzählungen liefern kaum Geschichten und Erklärungen zu den Auseinandersetzungen, zu den Hintergrundkonflikten oder zu den beteiligten Personen. Auffällig ist, dass die Jungen den erlebten Zwang zu unmittelbaren körperlichen Handlungen gegen andere Kinder zwar benennen können, wenig aber ihre damit verbundenen Emotionen. Sie haben keine Erklärung für ihre blinde Wut und kein Motivationsvokabular zur Verfügung. In der Zusammenschau der Interviews zeigt sich ein Unvermögen der Jungen, eigene Gefühle reflektiert und differenziert zu äußern. Auffällig ist auch, dass sie keine Vorstellungen über die Gefühle, Wahrnehmung und Intentionen der anderen Personen zu haben scheinen. Sie wirken in ihrem Sprechen über die von ihnen verursachten Verletzungen bei anderen Kindern nicht zornig und Empathie verweigernd, sondern eher emotionslos und unbeteiligt. Es entsteht insgesamt das Bild, dass die Jungen sich nicht verweigern, sich in die Kontrahenten hineinzuversetzen, sondern dass sie ihre Interaktionspartner gerade deshalb als bedrohlich erleben, weil sie keinen offenen, konstruktiven emotionalen Kontakt zu ihnen herstellen können. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Die Erzählungen der Jungen werfen auf unterschiedliche Weise die Frage nach den haltenden Beziehungserfahrungen in Familie sowie in privaten und öffentlichen Betreuungsverhältnissen auf. Die Jungen, die in ihrer Erlebenswelt auch die Beziehungs- und Arbeitswelt ihrer Eltern sich identifikatorisch zu eigen machen, machen darin auch auf prekäre Bedingungen ihres Aufwachsens aufmerksam – eine Erlebenswelt, in der gesellschaftliche Transformationsprozesse Beunruhigung und Zukunftsängste hervorbringen, die in die emotionalen Beziehungen von Kindern und Erwachsen hineinwirken. Die Interviewerzählungen zeigen, dass die Kinder die Diskurse der Lebenswelt der Erwachsenen wiedergeben und sich identifikatorisch aneignen, diese aber auch umgestalten, uminterpretieren und auf ganz eigene Weise betrachten. In den Interviewerzählungen, die die gemeinsame Lebenswelt von Kindern und Erwachsenen spiegeln, wird deutlich, dass die Kinder in besonderer Weise Träger des gesellschaftlichen Wandels sind. Die Erklärungen der Jungen zeigen, dass die Veränderung der Arbeitswelt, der Arbeits- und Rollenteilung der Geschlechter diesen Möglichkeitsräume eröffnen, individuelle Konstellationen und strukturelle Benachteiligungen diese aber auch einschränken und verhindern. Insofern möchte ich die unzureichende Affektkontrolle bei dieser Gruppe von ADHS-medikamentierten Jungen mit ihrer auffälligen Verletzlichkeit und geringen Sozialität nicht allein individualpsychologisch betrachtet wissen, sondern den Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse als Hintergrund markieren. Die individuellen Erfahrungen im Beziehungsraum der individuellen Familie werden auch durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt. Kinder verbringen gegenwärtig mehr Zeit in vorschulischen und schulischen Einrichtungen als frühere Kindergenerationen (Alt, Blanke u. Joos, 2005). Sie machen früher Erfahrungen mit außerfamilialer Betreuung (Hengst u. Zeiher, 2005). Vor diesem Hintergrund spielen auch die für Kinder relevanten haltenden beziehungsweise verunsichernden Erfahrungen mit Kindergruppen und außerfamilialen Betreuungspersonen eine zunehmende Rolle für ihre psychische Stabilität (Leber, Trescher u. Büttner, 1985; Breidenstein, 2008, Krappmann u. Oswald, 1995, 1997). Die Erzählungen der Jungen machen auch deutlich, dass die Kinder die Beunruhigung und Überforderung im Arbeitsleben von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Mutter, Vater, Lehrer/-innen und Betreuungspersonen als eigene Beunruhigung erleben. In ihrer Erlebenswelt scheint wenig Raum für das Ungeplante, für das selbstvergessene kindliche Spiel. Die Jungen vermitteln, dass sie den ihnen abverlangten Anpassungs- und Leistungsdruck widerständig hinnehmen und zugleich unterlaufen. Während andere interviewte Jungen mit Hilfe der Tablette versuchen, sich den Herausforderungen einer Zukunft in einer globalisierten Welt zu stellen, bleiben diese Jungen hier indifferent und ambivalent. Die Tablette, die sie zivilisieren und in die soziale Gruppe und Gesellschaft integrieren soll, repräsentiert insofern eine vielleicht auch traurige Hoffnung gegenüber erlebten Zumutungen, die von den Jungen »geschluckt« werden müssen: Bedingungen ihres Aufwachsens, bei dem emotionale Sicherheit zunehmend schwindet (Rosa, 2005). Die Erzählungen der Kinder werfen ein Licht auf die sich verändernden kindlichen Lebenswelten, in denen es zunehmend weniger dauerhafte, verlässliche Beziehungen gibt. Die Väter erscheinen als rare Freizeitväter, die vom aktuellen und modernen gesellschaftlichen Vaterbild her mehr versprechen, als sie halten können. Mütter erscheinen als Allein-Managerinnen der Förderung der Kinder und in dieser alleinigen Zuweisung überfordert. So stellt die zunehmende Trennung von Elternschaft und Paarbeziehung an das Aufwachsen von Kindern spezifische Integrationsanforderungen (LeuzingerBohleber, 2008a; Fonagy u. Target, 2005), wenn es keine gemeinsame Familie mehr gibt. Die Jungen erleben auf der einen Seite Enttäuschung und Entbehrung mit ihren abwesenden Vätern (Metzger, 2000) und sie geraten zum Teil auf der anderen Seite in Loyalitätskonflikte mit anwesenden sozialen Vätern. Die weitgehende Teilhabe der Mütter am Erwerbsleben hat das traditionelle Modell des Alleinernährers der Familie nicht zuletzt auch aus ökonomischen Gründen abgelöst (Schweizer, 2007). Die Erzählungen der Jungen machen den Wandel in der familialen Arbeitsteilung anschaulich, die individuellen Arrangements von Elternpaaren mit Kindern, die hohe Anforderungen an alle Beteiligten stellen. Sie machen sichtbar, wie Entgrenzungsprozesse von Erwerbsarbeit in die Familie hineinwirken (Rosa, 2005) und sich in die Familienbeziehungen einschreiben. Die Auflösung traditioneller Geschlechterrollen und neuer Formen von elterlichen Geschlechter© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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und Arbeitsteilungsarrangements wirken auf die Jungen offensichtlich auch verunsichernd. Bei der Mehrheit der interviewten Kinder erfolgt die ADHS-Medikation ohne therapeutische Begleitung. Die Jungen vermitteln, dass sie die an die Tablette geknüpfte und ihnen aufgegebene Erwartung wenig einlösen können. Auch mit der Tablette bleibt ihnen eine haltende emotionale Beziehungserfahrung mit Gleichaltrigen (Brandes, 2008) zumeist verbaut, scheinen sie den Zugang zu Gleichaltrigengruppen nicht zu finden. Sie erleben die oftmals rauen Alltagsaushandlungen in Kindergruppen (von Salisch, 2005; Schuster, 1997; Specht, 1982; Krappmann u. Oswald, 1995) als existenzielle Bedrohung. Daran ändert sich qualitativ für sie auch nichts durch ihre tablettengestützte neue Bravheit in der Schulklasse oder die nur unter Medikamenteneinfluss mögliche Teilnahme an einer Hortfreizeit, wird doch die zuvor als feindlich erlebte Welt auch weiterhin als feindlich erlebt. Die Anpassung stellt hier nicht wirklich positive und entwicklungsöffnende Beziehungserfahrungen (von Klitzing, 2002; Brandes, 2008) zur Verfügung, sondern wird von den Jungen als »Kuschen« erlebt, das womöglich hernach mit umso vehementeren Größenphantasien kompensiert und aggressiv externalisiert werden muss. Die gleichzeitigen Mitteilungen der Jungen, dass die Tablette einerseits auch manchmal helfe, dass ihre aggressive Heftigkeit dann graduell gemildert sei, dass die Tablette andererseits aber nicht helfe, dass es keine Veränderung gebe, zeigt deutlich ihre Widersprüchlichkeit. Diese hat Bedeutung vor dem Hintergrund ihrer zumeist engen Bindung an die Mutter. Der Wunsch, es der Mutter recht machen zu wollen, steht dem Erleben gegenüber, es trotz aller Bemühungen und Tablette nicht recht machen zu können. Die paradoxe Botschaft über das Fortbestehen und die graduelle Verbesserung ihrer emotionalen Ausbrüche lassen vermuten, dass die Jungen sich der Liebe ihrer Eltern nicht sicher sind und ihr »Durchdrehen« brauchen, um wenigstens darüber eine sichernde emotionale Zuwendung (Fonagy, Gergeley, Jurist u. Target, 2004) zu erhalten.

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Das Kind als Subjekt und Objekt der Erwachsenenwelt Historisch betrachtet ist Kindheit als eigenständiges Phänomen, das sich von der Erwachsenenwelt unterscheidet, ein Produkt der Moderne. Kindheit als sozialer Status entsteht im 18. und 19. Jahrhundert als Folge ökonomischer, technologischer und zivilisatorischer Veränderungen. Das Kind als nichterwachsenes Wesen mit einer eigenen inneren Welt von Emotionen und Vorstellungen, einer eigenen Wirklichkeitskonstruktion ist das Produkt einer bürgerlichen Kultur (Durkheim, 1972, 1973). Kinder sind hier in ihrer Einzigartigkeit Erwachsenen als Subjekte gleichgestellt, zugleich sind sie Objekte erwachsener Erziehungsvorstellungen. Die erzieherische, pädagogische, moralisch-disziplinarische Formbarkeit des Kindes wird zum Ausgangspunkt von Wissenschaft. Wie ein Kind zum Gesellschaftsmitglied wird, wie es Sozialität erwirbt, darin unterscheiden sich pädagogische, psychoanalytische und soziologische Theorien über Kinder und die unterschiedlichen Perspektiven auf Kinder. So akzentuiert beispielsweise der Soziologe Durkheim (1972) als primäres Ziel der Erziehung nicht das Individuum mit seinen Interessen, sondern die Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion. Erziehung bedeute einen Prozess der Denaturierung. Aufgabe sei es, »das individuelle und asoziale Wesen, das wir von Geburt sind« (S. 38 ff.) zu überwinden und zu sozialisieren. Das Kind solle die Einschränkung eigener Wünsche und einen Sinn für »normale Begrenzung« entwickeln. Erziehung sei ein notwendiger sozialer Zwang. Das Kind werde erst »soziale Person«, wenn die Zwänge der »sozialen Tatsachen« es dazu gemacht haben. Für diese »planmäßige Sozialisation« sei die Institution Schule zentrale Agentur. Der Erwerb von Sozialität, die An- und Einpassung des Kindes an und in die Gesellschaft (Erikson, 1982) gestalten sich vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklung unterschiedlich. Die strukturelle Gewalt, die der Sozialisierung von Kindern in jeder Gesellschaft zugrunde liegt, ist unterschiedlich sichtbar. Die Entwicklung vom patriarchalen Befehlshaushalt zum egalitären Verhandlungshaushalt (Schweizer, 2007) eröffnet Kindern und Erwachsenen neue und symmetrische Beziehungen (Hengst u. Zeiher, 2005; Zeiher u. Zeiher, 1994). An © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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die Stelle der körperlichen Züchtigung, wie sie in Schulen und Familien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein praktiziert wurde, ist eine demokratische Aushandlungskultur getreten (Kelle u. Breidenstein, 1996). Dennoch: Kultivierung ist und bleibt – psychoanalytisch betrachtet – immer eine Gewalt am Narzissmus. Es geht um einen Verzicht und um die Verinnerlichung von Normen und Werten, einen Prozess, über den aus Fremdzwängen Selbstzwänge werden. Sozialität bedeutet in diesem Sinne die Anerkennung von Trennung, die Aufgabe der narzisstischen Position und die Kränkung, auf bestimmte Dinge verzichten zu müssen (Winnicott, 2006; Dornes, 2007, 2008). Viele der interviewten Kinder zeigten sich in einer narzisstischen Selbstbezogenheit. In dieser narzisstischen Position werden die Getrenntheit von Selbst und Objekt und die Abhängigkeit von äußeren Objekten geleugnet. Die Medikamentierung, die die affekt-unkontrollierten Jungen eindämmen soll, verspricht eine Zivilisierung und Sozialität, und zwar ohne Trennung, ohne Kränkung und ohne Verzicht. Die Tabletteneinnahme erschafft insofern eine Sozialität ohne mentale Verinnerlichung. Sie tritt historisch betrachtet an die Stelle der Züchtigung von Kindern und der Strafe. Beziehungserfahrungen von Kindern und darin erfahrene elterliche Affektspiegelungen (Fonagy et al., 2004; Gergely, 2002) stehen also in einer Verbindung mit der äußeren sozialen Lebenswelt. Vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse modernisierter Gesellschaften, die in Familie und Arbeitsleben der Eltern auf Kinder einwirken, modifizieren sich auch diese Beziehungserfahrungen und finden ihren psychischen Niederschlag. Die Intimisierung der ElternKind-Beziehung und die Kindzentrierung (Schweizer, 2007) sind historisch gesehen Entwicklungen einer Verbesserung der Bedingungen des Aufwachsens von Kindern. Ob Störungen in der Affektregulation, die als Bestandteil des ADHS-Syndroms betrachtet werden (Warrlich u. Reinke, 2007), neue Phänomene von gesellschaftlichen Modernisierungs- und Beschleunigungsprozessen sind oder nicht, darüber lässt sich spekulieren. Dass gesellschaftliche Entwicklungen Rahmenbedingungen schaffen, dass Kinder die Erfahrung der inneren Präsenz und der ausreichenden Aufmerksamkeit ihrer Eltern nicht machen können, dürfte mit der Geschichte des Aufwachsens von Kindern hinreichend © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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belegt sein. Auch Armut und Not, Kriege, Verfolgung und Flucht beeinträchtigen Eltern in ihrer Fähigkeit, den Kindern psychisch angemessen zur Verfügung zu stehen. Insofern möchte ich mit dem Blick auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse auch Fragen aufwerfen, die unser empirisches Material nicht beantworten kann; nämlich welche womöglich begünstigenden Anteile die Eltern-KindBeziehung in der postmodernen Gesellschaft an der Entwicklung eines ADHS-Syndroms hat. Es sollte dabei jedoch nicht um den Versuch einer linearen kausalen Ableitung gehen. Eltern-Kind-Beziehungen gestalten sich auch deshalb schwierig, weil Eltern von den ihnen unverständlichen Reaktionen, den unerwarteten Eigenarten und Entwicklungen ihrer Kinder aktuell überfordert sind. Aber es geht auch nicht um die Feststellung eines schuldhaften elterlichen Mangels, sondern um das Verstehen gesellschaftlicher Hintergründe, die Anteil an elterlicher Überforderung haben und damit womöglich eine ADHS-Symptomatik begünstigen. In jedem Fall aber sind gesellschaftlich gerahmte Beziehungsmöglichkeiten von Eltern und Menschen in Institutionen der Erziehung von Bedeutung, wenn es darum geht, sich hilfreich und nicht symptom-verschärfend zu verhalten (Schuster, 1997; Brandl u. Hüther, 2006; Leuzinger-Bohleber, 2008b). Weil bei nahezu allen Kindern, die im Rahmen des Forschungsprojektes interviewt wurden, außer der Medikamentierung keine weiteren, etwa pädagogischen oder therapeutischen Angebote gemacht wurden, kann vorläufig provokant festgehalten werden, dass Gesellschaft bei »Einsamkeit und störender Auffälligkeit« einen Handlungsbedarf sieht, bei »Einsamkeit und Anpassung« aber nicht.

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lisierung, Theorie, Forschung, Kontroversen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Breidenstein, G. (2008). Peer-Interaktion und Peer-Kultur. In: Handbuch der Schulforschung (S. 921 – 940). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dornes, M. (2007). Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt a. M.: Fischer. Dornes, M. (2008). Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Frankfurt a. M.: Fischer. Durkheim, E. (1972). Erziehung und Soziologie. Düsseldorf: Schwann. Durkheim, E. (1973). Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erikson, E. H. (1982) Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. Fonagy, P., Target, M. (2005). Frühe Bindung und psychische Entwicklung. Beiträge aus Psychoanalyse und Bindungsforschung, Gießen: PsychosozialVerlag. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2004). Affektregulierung. Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Gergely, G. (2002). Ein neuer Zugang zu Margret Mahler: normaler Autismus, Symbiose, Spaltung und libidinöse Objektkonstanz aus der Perspektive der kognitiven Entwicklungstheorie. Psyche – Z. Psychoanal., 56, 809 – 838. Haubl, R., Liebsch, K. (2009). »Wenn man teufelig und wild ist«. Funktion und Bedeutung von Ritalin in der Sicht von Kindern. In R. Haubl, F. Dammasch, H. Krebs (Hrsg.), Riskante Kindheit (S. 129 – 163). Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht. Hengst, H., Zeiher, H. (Hrsg.) (2005). Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kelle, H., Breidenstein, G.(1996). Kinder als Akteure. Ethnographische Ansätze in der Kindheitsforschung. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 16, (1) 47 – 67. Klitzing, K. von (2002). Frühe Entwicklung im Längsschnitt: Von der Beziehungswelt der Eltern zur Vorstellungswelt des Kindes. Psyche – Z. Psychoanal., 56, 862 – 887. Krappmann, L., Oswald, H. (1995). Alltag der Schulkinder. Weinheim: Juventa, München: Profil. Krappmann, L., Oswald, H. (1997). Zur sozialisatorischen Bedeutung von Kampf- und Tobespielen. In E. Renner (Hrsg.), Spiele der Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen (S. 154 – 167). Weinheim: Deutscher Studienverlag. Leber, A., Trescher, H.-G., Büttner, C. (Hrsg.) (1985). Die Bedeutung der Gruppe für die Sozialisation. Kindheit und Familie. Göttingen: Verlag für med. Psychologie. Leuzinger-Bohleber, M. (2008a). Trauma, Embodiment und soziale Desintegration. Zur Psychoanalyse der Frühprävention. Stuttgart: Kohlhammer. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Passung und Anpassung Zur Herstellung von Zugehörigkeit und Teilhabe durch AD(H)S-Medikation

AD(H)S als Kriterium sozialer Zugehörigkeit Zugehörigkeit und Teilhabe werden nicht selten mit Hilfe körperbezogener Klassifikationen vorgenommen: Frau/Mann, weiß/schwarz, unter-/übergewichtig, gesund/behindert, jung/alt begründen Gruppenzugehörigkeiten. Zugleich dienen sie als Kategorien, mittels derer Personen der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe gewährt, erschwert oder gar verwehrt wird: Zum Beispiel waren und sind das Wahlrecht, der Zugang zur Erwerbsarbeit, die Möglichkeiten, eine Familie zu gründen, oder der Zugang zu Ressourcen und zu sozialen Hilfeangeboten an solche körperlichen Klassifikationen gebunden. Darüber hinaus sind der Umgang, die Verfügung und die Kontrolle und Regulation des Körpers wichtige Strategien, um soziale Zugehörigkeiten zu stabilisieren und zu erhalten. So ist die älteste Form der sozialen Zugehörigkeit, die Blutsverwandtschaft, zwar aufgrund körperlicher Bezogenheiten gegeben, wurde und wird aber zusätzlich systematisch sozial organisiert und ist durch verschiedene kulturelle Umgangsformen, wie zum Beispiel Heiratsregeln oder auch das Inzesttabu, gestützt. Solche Regulationsformen setzen sich fort in dem, was Michel Foucault Biopolitik genannt hat (Foucault, 1986). Die von ihm ausgemachten vier Strategien – die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhalten und die Psychiatrisierung der perversen Lust – haben Gruppenzugehörigkeiten konstituiert und erneut befestigt und sie haben die gesellschaftlichen Vorstellungen von Frauen, Kindern, Perversen und ein nationalstaatlich ausgerichtetes Verständnis von Bevölkerung konturiert. Darüber hinaus haben sie ein Verständnis von Körper etabliert, mit dem zugleich auch Anforderungen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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im Umgang mit dem Körper verbunden sind: Der Körper soll gezähmt, kontrolliert und produktiv und effektiv eingesetzt werden. Deshalb sind Körper stetige Objekte von Aufmerksamkeit und Kontrolle und sie werden ständig mit Bedeutung und Bedeutungen versehen. Körper werden als Gegenstand von Klassifikation und Unterscheidung anhaltend produziert und etablieren auf diese Weise ein quasi selbstverständliches Verfahren, das Zugehörigkeit und Teilhabe reguliert. Dabei unterscheiden sich die auf den Körper bezogenen Regulationsmechanismen als Verfahren einer Herstellung von Zugehörigkeit historisch und kulturell. Sie werden stetig weiterentwickelt, werden differenziert und bringen Zugehörigkeiten auf verschiedene, neue, kommunikative, mediale, diskursive Arten und Weisen hervor. Solche Regulationen realisieren sich in einem Zusammenspiel von übergreifender Veränderung, wie zum Beispiel gesellschaftliche Transformationsprozesse, Verschiebungen in den Lebensformen und Lebenswelten zum einen, der Einsetzung und Etablierung von technischen oder auch kommunikativen Verfahren zum zweiten und deren Wirkungszusammenhängen zum dritten. Auch die expandierende Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störung, kurz AD(H)S, kann als eine aktuelle Form körperbezogener sozialer Klassifikation angesehen werden. Nicht zuletzt aufgrund Erich Kandel, der mit seiner Arbeitsgruppe im Jahr 2000 für seine Gedächtnisforschungen an der Meeresschnecke Aplysia den Nobelpreis erhielt, haben sich die Abgrenzungen zwischen den wissenschaftlichen Teildisziplinen verschoben (Kandel, Schwartz und Jessell, 2000). Seither gilt als anerkannt, dass – sich alle psychischen Prozesse im Hirn abspielen, – Gene und Proteinprodukte, so genannte Neurohormone, die neuronalen Verbindungen und Funktionen bestimmen, – Lernen und psychosoziale Einflüsse zu einer veränderten Gen-Expression führen, und umgekehrt zum Beispiel Psychotherapien zu Langzeitveränderungen durch Veränderung der Gen-Expression und damit einhergehend zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führen. Die Veränderung in der Einschätzung der Bedeutung der genetischen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Anlagen wurde nicht selten metaphorisch für eine breitere Öffentlichkeit aufbereitet. Dabei erfreute sich beispielsweise die Analogie vom Konzertflügel, der für sich allein keine Musik machen kann, sondern benutzt und bespielt werden muss, großer Beliebtheit. Körper und Körperlichkeit werden hier verstanden als jeweiliges Potenzial, das der Entwicklung, Entfaltung und Förderung bedarf. Hier kann der Körper nicht ohne die Seele gedacht werden und dies brachte neue Perspektiven auf psychosomatische und psychiatrische Krankheitsbilder mit sich. Das Beispiel der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung illustriert diese neue Perspektive; es überwiegt die Einschätzung, dass es sich um ein biophysiologisches, genetisch festgelegtes, neuronales Geschehen handelt und man schreibt der genetischen Determinierung ursächliche Wirkung zu: Dem Kind fehle ein Stoff im Gehirn, Dopamin, und dieser könne medikamentös ersetzt werden, um die Verhaltensauffälligkeiten zu verändern. Seither gibt es in Fachkreisen wie auch in der Öffentlichkeit eine breite Debatte um die Angemessenheit dieser Erklärung und um die Frage nach dem Umgang mit dem konstatierten Zusammenhang (vgl. Warrlich u. Reinke, 2007). Auch dass hauptsächlich männliche Kinder durch die AD(H)SDiagnose erfasst werden, illustriert den Mechanismus der sozialen Zugehörigkeit durch Klassifikationen von Körperlichkeit. Die Bestimmung der Zugehörigkeit zu »Männlichkeit« und zu »Kindheit« wird um ein zusätzliches Bestimmungsmerkmal erweitert, eines, das Abweichungen und Auffälligkeiten typisiert und durch Medikation körperlich zu regulieren versucht wird. So wird ein Teil einer Genusgruppe wie auch ein Teil einer Kindergeneration nun in die Gruppe der Kranken respektive der »Störer« eingeordnet. Damit einher geht auch eine Veränderung der Verfasstheit und des Verständnisses von sowohl Kindheit als auch Männlichkeit; die Rede vom neuen schwachen Geschlecht wie auch die wachsende gesellschaftliche Aufmerksamkeit als auch die zunehmenden Anforderungen, die an Kinder gestellt werden – Stichwort: frühkindliche Lernförderung – deuten an, dass sich Geschlechternormen und Normativitäten in Bezug auf die Lebensphase Kindheit in der derzeitigen Kindergeneration hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Vorstellungen von Leistung, Effektivität und Versagen verschieben. Im Folgenden soll anhand von zwei Fallbeispielen veranschaulicht werden, in welchen Praktiken des alltäglichen Handeln, Entscheidens © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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und Kommunizierens sich diese Form von Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gruppe von »Störern« für die betroffenen Kinder realisiert und mit welchen sozialen Bedeutungen und individuell relevant werdenden Deutungsmustern sie verbunden sind. Dabei steht im Mittelpunkt der Beschreibung, wie die diagnostizierten und medikamentierten Jungen die an sie herangetragene Klassifikation in ihre Handlungen und alltäglichen Verstehens- und Erklärungsprozesse aufnehmen und ihr Verständnis von sozialer Zugehörigkeit und Teilhabe daran ausrichten. Da dies kein passiv erfahrener Vorgang von Prägung ist, sondern die medikamentierten Jungen darin aktiv eingebunden sind, soll im Sinne eines sozialkonstruktivistischen Verständnisses eines Doing AD(H)S (siehe dazu West u. Zimmerman, 1987) die Funktion einer sozialen Sortierung und Einteilung durch die Diagnose »AD(H)S« illustriert werden. Dabei spielt in den ausgewählten Fallbeispielen – obwohl sich die beiden Jungen hinsichtlich des Herkunftsmilieus und der sozialen und kognitiven Möglichkeiten und Fähigkeiten stark unterscheiden – ein durch Medikalisierung und Normierung hervorgebrachter Prozess von Anpassung eine herausragende Rolle.

Fallbeispiel Kevin: »Ich fühle mich eigentlich auch wie die anderen, nur dann halt, dass ich anders auf Sachen reagiere« Der neunjährige Kevin lebt zusammen mit seinem ein Jahr älteren Bruder in einer Wohngruppe. Die beiden Kinder haben ihre Herkunftsfamilie, in der sie zusammen mit der Mutter waren, vor vier Jahren verlassen. Dies erklärt Kevin im Rückgriff auf eine als allgemein unterstellte Begebenheit. Er sagt: »weil die Mtter meistens dann halt nicht mehr aufpassen kçnnen auf die Kinder. Und sie wissen halt nicht, was sie machen sollen, und – , ja, dann kommen die in das Kinderdorf«.

Seinen Vater, der im Ausland lebt, hat er nie kennengelernt: »Ich weiß auch gar nicht, wie der heißt«, und nach einem dreijährigen Aufenthalt bei einer Pflegefamilie wohnt er nun mit fünf »Hausgeschwis© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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tern« und den beiden Betreuern Ilka und Hans in der Wohngruppe, in der auch das Interview stattfindet. Das Interview mit Kevin dauert eine dreiviertel Stunde, in der er zögerlich und geduldig antwortet. Auf viele der ihm gestellten Fragen sagt er zunächst »Das weiß ich nicht«, eine Antwort, mit der er zum einen zum Ausdruck bringt, wie wenig er an seiner Umgebung teilhat. So weiß er beispielsweise den Namen der Tablette nicht, die er einnimmt, hat keine Erinnerung daran, seit wann er sie nimmt und durch wen und wie die Vergabe initiiert wurde. Auch weiß er nicht, wie andere ihn sehen und einschätzen, wie er mal sein will, wenn er älter ist, und wie die Schule anders gestaltet werden könnte. Dabei scheint es so, als ob er mit seinem »Das weiß ich nicht« auch seiner Verwunderung darüber Ausdruck verleiht, dass man über solche Fragen nachdenken könnte. Zögerlich lässt er sich auf Gedankenexperimente ein, kann sich nach zweimaligem Nachfragen vorstellen, später mal »so ein Elektriker oder so etwas oder Chemiker oder so etwas« zu werden, und wenn er drei Wünsche frei hätte, würde er gerne »schwimmen können, und dass ich mehr auf meine Sachen aufpasse und mich mehr konzentrieren und nicht ausrasten tue«. Wenn er erwachsen ist, möchte er gern »wie andere« auch sein, »ganz normal halt« sein. In Kevins Beschreibungen seines Alltags dominieren äußere Anforderungen und Regularien, die er als gegeben hinnimmt. In vielen seiner Sätze kommen die Worte »sollen« und »müssen« vor, Formulierungen, in denen das Verb »wollen« oder gar ein spezifiziertes »ich will« oder »ich möchte gern« vorkommen, gibt es in dem Interview mit Kevin nicht. So ist es für ihn beispielsweise ein Faktum, dass er die nächsten Jahre im »Kinderdorf« leben wird: »Also ich weiß, dass ich hierbleiben muss, bis ich 18 bin«, sagt er. Auch die Einnahme der ADHS-Medikation ist für ihn eine Auflage und Tatsache, zu der es keine Alternative gibt. Die Tabletten »soll« er nehmen, also macht er es. Gründe und Begründungen für diese Pflicht kennt er nicht und fragt auch nicht danach. Auch hat er keine Vorstellung davon, wie es wäre, wenn er die Tabletten nicht einnähme, ob er sie vielleicht zu irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr einzunehmen braucht oder ob sie womöglich auch unerwünschte oder problematische Wirkungen hat. Kevin nimmt die Tabletten einfach:

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K: »Ich nehme sie halt runter und ich merke nichts« I: »Du schluckst sie runter. Und danach?« K: »Halt nach ein paar Minuten wirkt die dann auch.« I: »Und wie wirkt die? Also, wie ist das, wenn sie wirkt?« K: »Ich weiß nicht. Also ich spre gar nichts. Es ist halt nur so ganz normal halt. Wie jeder andere bin ich dann halt ganz normal. Ich spre gar nichts oder so.«

Die Einnahme der Tablette ist für Kevin nicht mit leiblicher Wahrnehmung verbunden. Weil er »nichts merkt« und »nichts spürt«, zeigt sich auch die Wirkung der Medikation im Äußeren: »Es« ist dann »normal« und »er« ist dann »wie jeder andere«. Die Tabletten passen ihn ein und sie sorgen dafür, dass er der Normalität entspricht. Ohne selbst ein Gespür oder eine Vorstellung davon zu haben, wird er »dann halt ganz normal«, ein Vorgang, der quasi automatisch und ohne seinen Willen, sein Zutun oder seine Beteiligung erfolgt. Mit der Einnahme des Medikaments verschwindet der Kevin, der in der Schule »Streit anfängt« und »halt ausrastet«. Nun erfüllt er die sozialen Erwartungen und Anforderungen. Er erzählt: K: »Das geht jetzt. Jetzt habe ich gar keinen Streit mehr. Und es geht auch besser, bessere Noten halt. […] Also bei mndlich bin ich halt – . Ich helfe auch manchmal, Streits halt zu verhindern irgendwie halt bei den anderen. […] Ich gehe dann halt zu dem Lehrer schnell und sage es halt. Oder wenn sich jemand wehgetan hat, mache ich das auch und tue anderen auch helfen halt.« I: »Und war das vor der Tablette auch so?« K: »Nein, nein.« I: »Echt? Da hast eher nicht mal so einen Streit geschlichtet?« K: »Da ging es mir halt schlechter, da habe ich das gar nicht gemacht.« I: »Und auch wenn jemand hingefallen ist, wrst du damals dann nicht zum Lehrer gegangen?« K: »Nee«. I: »Nee?« K: »Ich habe ihn eigentlich da liegen gelassen.« I: »Und was glaubst du, warum?« K: »Weil – , ich weiß nicht.«

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Kevin bindet seine Ausübung sozial erwünschter und sozial anerkannter Verhaltensweisen an die Tabletteneinnahme. Indem er sich mit Tabletten als ein hilfsbereites und kooperatives Kind schildert und als Gegenhorizont asoziales Verhalten ohne Tabletten aufspannt, veranschaulicht er die Funktion des Medikaments. Es dient der sozialen Passung und Anpassung, die er anders nicht meint leisten zu können: »Da habe ich das gar nicht gemacht«, will sagen: »Ohne Tablette habe ich den sozialen Erwartungen nicht entsprochen«, und Kevin illustriert diese Einschätzung mit dem Bild, dass er, bevor er die Medikation erhielt, einer am Boden liegenden Person keine Hilfe geleistet habe: »Ich habe ihn eigentlich da liegen gelassen«, sagt er. In dieser Formulierung irritiert das Wort »eigentlich«, und es ist nicht klar, was genau Kevin damit sagen will. Meint er, dass er sich »eigentlich immer so« verhalten hat? Oder verweist »eigentlich« auf einen Zweifel an der Angemessenheit seiner polarisierten Darstellung, an der Art und Weise, in der er seine Erzählung präsentiert? »Eigentlich« würde dann eher bedeuten: »Eigentlich müsste ich die Geschichte so erzählen, dass ich ohne Tabletten einen hilfebedürftigen Menschen am Boden liegen gelassen habe … aber ich glaube eigentlich nicht, dass ich das wirklich täte.« Für die zweite Lesart spricht, dass Kevin sich sein »Ausrasten« insgesamt sehr wenig erklären kann. Er beschreibt sein Verhalten als automatisiert, unkontrollierbar und kann sich keinen Reim darauf machen. Er sagt: »Die Lehrer haben gesagt, dass ich aufhçren soll. Aber ich konnte es ja nicht. Es ging nicht. Das passiert halt automatisch irgendwie. Fast automatisch. […] Also vorher war es schlechter. Ich weiß auch nicht warum. Da bin ich halt immer ausgerastet aus irgendwelchen Grnden. Aber ich weiß nicht warum. […] Ich fhle mich eigentlich auch wie die anderen, nur dann halt, dass ich anders auf Sachen reagiere«.

Im letzten Satz des Zitats verwendet Kevin das Wort »eigentlich«, indem er es mit der einzigen Aussage im Interview über seine Gefühlslage verbindet: »Eigentlich« fühlt er sich »auch wie die anderen«. Damit bringt er seinen Wunsch zum Ausdruck, dass auch gesehen und anerkannt wird, wie er »eigentlich«, sprich: »wirklich« ist. Zugleich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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macht er damit aber auch deutlich, wie wichtig es ihm ist, nicht anders als die anderen zu sein, und so liegt in der Vermeidung von Verhaltensauffälligkeiten (»dass ich anders auf Sachen reagiere«) eine Chance für soziale Akzeptanz und Zugehörigkeit. So gesehen, ist es nur logisch, dass Kevin die Tablette nimmt und »halt runterschluckt«, ohne nach deren Hintergründen und Wirkungen zu fragen. Sie bietet ihm eine Möglichkeit, so zu werden, wie er »eigentlich« ist, und seiner sozialen Sonderstellung und Misere ein Stück weit zu entrinnen. Mit Hilfe des Medikaments gelingt ihm die soziale Passung. Er sagt: »Wie jeder andere halt bin ich dann eben. Ganz normal.« Aufgrund seiner sozialen, nicht-familiären Sonderstellung nimmt Kevin auch an, dass die Einnahme des Medikaments eher selten und wenig verbreitet ist. In seiner Schulklasse ist er der Einzige, der aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten Tabletten einnimmt: »Niemand, außer ich«, sagt er, »ich war der Einzigste, der ausgerastet ist.« Da auch sein Bruder das Medikament einnimmt und er nur noch einen weiteren Jungen kennt, der wie er neun Jahre alt ist und in derselben Wohngruppe wohnt, bringt Kevin die Einnahme der Medikamente in den Zusammenhang mit seiner Lebenssituation und sagt: »Ich finde, es gibt nicht so viele. Ich kenne nicht so viele, ich kenne kaum welche. Meistens sind die dann auch im Kinderdorf. Ja, meistens sind die dann im Kinderdorf«.

Er lokalisiert den Beginn seiner Verhaltensauffälligkeiten mit dem Eintritt in die Schule und mit dem Zeitpunkt, seit dem er nicht mehr mit seiner Familie zusammenlebt. Er sagt: »Davor in der Schule hatte ich das auch, aber als ich noch ganz zu Hause war bei meiner Mutter, war das gar nicht so. Seit ich im Kinderdorf bin, ist das halt so. Vorher war ich bei meinen Pflegeeltern, da war das schon so ein bisschen. Und als ich zu Hause war, war das gar nicht.«

Kevins Darstellung eines Zusammenhangs zwischen seiner ADHS und dem Verlust seines Zuhauses impliziert auch seine Hoffnung, dass sich sein Verhalten normalisieren würde, sobald er wieder bei und mit der Mutter leben würde. Diese Möglichkeit hat er jedoch zu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Beginn des Interviews – sei es zu seinem eigenen Schutz oder aufgrund von Überzeugung – deutlich ausgeschlossen (»Also ich weiß, dass ich hierbleiben muss, bis ich 18 bin«). Angesichts seines Wunsches aber erscheinen ihm die Sozialbeziehungen, die ihm derzeit zur Verfügung stehen, als unzureichend. Die Betreuerin Ilka beschreibt er achselzuckend lediglich als jemand, die ihm morgens die Tablette hinlegt und ihm sagt, dass er das »Bad putzen soll«. Den Betreuer Hans findet Kevin »gut. Weil der immer nett ist. Und manchmal auch lustig«. Mit seinem Bruder hat er wenig zu tun, und auf andere Kinder kommt Kevin in dem Interview nicht zu sprechen. Mit dem Therapeut, der zu ihm kommt »wegen dem Ausrasten halt«, spielt Kevin, wie er sagt, »Kartenspiele«. Er weiß die montäglichen Treffen mit dem Therapeuten nicht zu deuten und zu erklären und setzt sich zu dem Therapeuten nicht in Beziehung. Deshalb steht für Kevin fest: »Also ich habe mehr Vertrauen auf die Tablette.« Sie hilft ihm, die Normalität anzustreben, die es in seinem Leben nicht gibt.

Fallbeispiel Horst: »Mit der Tablette macht man nicht soviel, was man halt nicht machen darf« Der elfjährige Horst wohnt mit seiner älteren Schwester und seinen Eltern am ländlich geprägten Rand einer Großstadt. Er besucht die Klasse fünf eines Gymnasiums, ist ein leidenschaftlicher SkateboardFahrer, spielt Querflöte im Schulorchester und geht regelmäßig zu einer Nachhilfelehrerin, die ihm auch viel über »seine Krankheit ADS« erzählt hat. Das Interview mit Horst dauert gut achtzig Minuten, in denen er ausführlich Rede und Antwort steht. Es scheint, dass ihm das Gespräch Spaß macht und er bereitwillig über sich spricht. Dabei kreist das Interview um die Spannung zwischen »Spaß« auf der einen Seite und den sozialen Anforderungen und schulischen Erwartungen auf der anderen Seite. Beides abzuwägen und miteinander in Gleichklang zu bringen, stellt für Horst eine Herausforderung dar, auf die er immer wieder zu sprechen kommt. So findet er es beispielsweise angemessen, dass er das Medikament während der Ferien nicht nimmt. Er sagt: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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»Und ich finde, ein bisschen mehr Spaß, wenn man schon nicht Schule hat, sollte schon sein drfen, finde ich.«

»Spaß« hat er auch dann, wenn er etwas macht, was seine Lehrer nicht schätzen, zum Beispiel wenn er »mal wieder draufhaut. Das ist unter Spaß oder die andern ärgern. Die Lehrer fanden es halt immer schlimm (lacht). Aber, ja, ich eigentlich nicht«. Auch beobachtet er, was passiert, wenn er die Tabletten nicht nimmt, und ist sich nicht so sicher, wie er die jeweilige Wirkung einschätzen soll. Er erzählt: »Da, ich habe also – , das war mal eine Zeitlang, da habe ich immer gedacht an dem Tag, wo ich es vergessen hatte, dass es mir da besser geht und dass ich dann auch besser dabei bin oder anders dabei bin. Ja. Aber es gab auch Zeiten, da hat mir das geholfen, da war ich, wo ich gedacht habe, ›Ich muss jetzt hier mal draufhauen‹, da hat mein Kopf gesagt, ›Nee, mach das lieber nicht, es kçnnte ja wieder rger geben‹.«

Schlussendlich bilanziert er aber, dass es besser sei, die Tabletten einzunehmen, und beschreibt den Wechsel von Einnahme und NichtEinnahme als etwas, was dazu führt, »dass es einem nicht so gut geht«. Wenn er vergisst, die Tablette zu nehmen, »dann –, dann mache ich in der Schule irgendwie nicht soviel mit wie sonst immer, sondern da bin ich immer gut dabei und habe auch Spaß dabei, aber da geht es mir irgendwie nicht so gut, und wenn es mir nicht so gut geht, melde ich mich nicht so oft, weil. Keine Ahnung.«

Die Tabletten helfen ihm, sich und seinen Bewegungsdrang zu kontrollieren. Ziel sei es, »sich zurückzuhalten«. Er werde »ruhiger« und sei nicht mehr »so aufgeregt«, wenn etwas Neues passiert. So kann er sich besser auf die schulischen Anforderungen konzentrieren, er ist aktiver im Unterricht und findet auch Gefallen daran, dass er den Erwartungen entsprechen kann. Er erzählt: »Ich habe mich zurckgehalten, aber trotzdem noch im gleichen Stoff gemeldet. Und ich habe nicht immer so rumgetobt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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wie sonst, sondern einfach habe ich das gemacht, was die Lehrer immer gesagt haben, was ich machen soll. Und das war schon gut, fand ich. […] Das habe ich auch gemerkt, dass man da selbst mehr lernt und sich besser konzentriert, wenn man ruhig ist und mitmacht und sich oft meldet.«

Bestätigung dieser Einschätzung und Verhaltensweise erhält er durch seine Mutter, die auch die Diagnose und Medikation initiiert hat und seine Tabletteneinnahme überwacht. Seine Diagnostizierung schildert er als eine gemeinsame Aktivität der Mutter und des Lehrpersonals aufgrund eines irritierenden Verhaltens seinerseits: »Wir hatten frher in der alten Schule ziemlich oft Elternabend und meine Mutter wollte auch immer mit den Lehrern sprechen, und dadurch hat sie das dann gemerkt. […] Meine Vorschullehrerin, die hatte die Idee gehabt, aber meine Mutter hat das im Kopf gehabt […] Weil ich musste die 1. Klasse zur Hlfte wiederholen, weil ich mir im Unterricht ein Stirnband auf die Ohren gesetzt hatte, wie die Lehrerin das vorgelesen hatte. Und da musste ich dann die 1. Klasse wiederholen in so einer speziellen Vorschule, die auch in der Schule neben dran war.«

Horst hat sich ein Stirnband über die Ohren gezogen, als die Lehrerin etwas vorgelesen hat, und er sagt nichts davon, warum er das Vorgelesene nicht hören wollte. Offenbar wird das Verhalten aber von den Erziehungspersonen als mangelnde Reife gedeutet und er wird in die Vorschule zurückgestuft. Die besorgte Mutter orientiert sich, so berichtet Horst, an dem, was er als in der Lerngruppe verbreitet beschreibt. Er erzählt: »Aber sie hat das irgendwie so dann mitgekriegt, dass auch noch andere aus meiner Klasse sie nehmen. Da hat sie dann gesagt, dass ich das auch mal ausprobieren soll. Und dann hat sie gemerkt, dass es hilft. […] Und ich glaube, die hat es, weil bei mir in der Gruppe, wo ich da war, da hatten das auch alle genommen, soweit ich das weiß.«

Horst wähnt sich mit seiner Medikamenteneinnahme in guter Gesellschaft. Die Medikation, die ihm dabei hilft, soziale Anpassung zu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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realisieren und sich nicht auffällig und abweichend zu verhalten, beschreibt er als ein ubiquitäres Phänomen, »alle« in seiner Gruppe, so meint er, hätten Ritalin/Medikinet eingenommen. Als der Interviewer noch einmal nachfragt, macht Horst deutlich, dass er diese Information nicht von Anfang an hatte: I: »Wusstest du denn, dass die anderen Kinder Tabletten nehmen?« H: »Nee, das wusste ich nicht«. I: »Also als du mit denen in einer Klasse warst, hast du es eigentlich nicht mitbekommen?« H: »Nein«.

Entweder gibt Horst mit der Aussage, dass »alle« in seiner VorschulGruppe ADHS-Medikation erhielten, eine Perspektive seiner Mutter wieder oder es ist ihm selbst ein Anliegen, seine Medikation zu normalisieren. Auch heute ist er der Ansicht, dass »es eine Menge gibt, die das nehmen«, folgt aber dem Rat seiner Mutter, »dass ich das nicht rumerzählen soll und deswegen ist es unter uns geblieben«. Er spricht mit niemandem über seine Medikation und beschreibt sie als unproblematisch: »Ich finde das in Ordnung und es ist halt nun mal so, dass es Leute gibt, die so was haben, und dass es Leute gibt, die so was nehmen muss. Das ist halt was, das nimmt man halt. Und das ist halt auch in Ordnung.«

Indem Horst seine Medikation als weit verbreitet und als »in Ordnung« charakterisiert, erscheinen auch die Verhaltensweisen, die den Anlass zur Diagnostizierung gaben, als nicht der Rede wert. Deshalb gibt es in dem Interview kein Nachdenken über Gründe, Ursachen und Erklärungen für sein »Aufgeregt-Sein«. Stattdessen wird als Normalität postuliert, dass es einfach »Leute gibt, die so was nehmen müssen«, und es erscheint als selbstverständlich, Verhalten mit Hilfe von Medikation zu regulieren. Unterstützt durch die Wirkung der Tabletten, die dafür sorgen, dass Horst »sich zurücknimmt« und »auch immer gut dabei ist«, verschwindet auch die Möglichkeit, die Aufregung und Unruhe von Horst zu verstehen. Normalisiert und bagatellisiert sind die Verhaltensweisen nicht länger auffallend und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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besorgniserregend. Dies schafft Raum für die positive Akzentuierung von Auffälligkeit, Abweichung und Besonderung, die von Horst eifrig betrieben wird. Immer wieder gibt Horst Beschreibungen, in denen er als besonders und außergewöhnlich erscheint. Die Schilderung eines »Schlafentzugs-EEG«, das nachts in der Kinderarztpraxis an ihm durchgeführt wurde, weil das reguläre EEG keine Ergebnisse zeigte, nimmt breiten Raum ein. Detailliert berichtet er auch über die Sonderstellung, die seine Klasse als »Musikklasse« erfährt: Weil die Klasse als »erste« und »einzige« Klasse im Bundesland ein Orchester bildet, hat der Direktor dafür gesorgt, dass für das Klassenzimmer neue Möbel angeschafft wurden. Horst fände es aber auch wichtig, dass auch die anderen Klassen »neue Tische bekommen, weil die immer voll mit Kaugummis sind und vollgekritzelt«. Auf die Frage, was ihm denn an der Schule nicht gefalle und was er gern ändern würde, hat er eine ganze Reihe von Vorschlägen, reichend von der Vermeidung von »Baulärm«, der durch einen Anbau am Schulgebäude verursacht wurde, über die Umgestaltung des Stundenplans (»mehr Erdkunde!«) bis hin zur Forderung nach Gleichbehandlung aller Klassen. Auch die Darstellung seiner Eignung für die Realisierung seines Berufswunschs ist ausführlich und facettenreich. Horst möchte später einmal Ingenieur werden. Sein Vater hat ihm »schon ganz viel drüber erklärt« und so wähnt er sich dafür gut vorbereitet. Dazu tragen auch eine Reihe von »Erfindungen« bei, die er gemacht hat. So hat er eine besondere Schatulle für seine Querflöte entwickelt: »Ich hatte jetzt eine Erfindung, die es auf der Welt noch nicht gab. Vorher hatte ich schon ein paar Sachen erfunden, halt nur so kleine, nicht so wichtige.« Die Neuheit und Einzigartigkeit seiner »Erfindung« ermutigt ihn, sich vorzustellen, dass er das Potenzial zu etwas Großem hat. Er überlegt, »dass ich mal Erfinder werde und mal über eine Erfindung vielleicht ein bisschen berühmt werde. Das wäre vielleicht was.« Mit der Formulierung »Das wäre vielleicht was« prüft Horst, ob er sich vorstellen könnte, ein Leben als berühmter Erfinder zu führen. Zuvor hatte er sich bereits mit Selbstverständlichkeit in die Rolle des Schulleiters hineingedacht und Vorschläge zur Verbesserung von Schule und des Verhaltens der Lehrkräfte entwickelt. Ihm ist eine Führungsrolle, eine herausgehobene soziale Position, nicht fremd, und gleichermaßen kennt er die Bedingungen und Voraussetzungen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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dafür: Nur wenn er Maß hält, »sich zurücknimmt«, wie er es nennt, wenn es ihm gelingt, seine Aktivität in die vorgegebenen Bahnen zu lenken und dort zu entfalten, kann er erfolgreich sein. Zu diesem Zweck, das benennt Horst detailliert, muss er »in Deutsch besser« werden, lernen, mit Gelassenheit beim Mensch-ärgere-dich-nichtSpiel zu verlieren, und »immer hilfsbereit« sein und mitdenken; es geht um die Tugenden der modernen Dienstleistungsberufe. Seine Mutter bringt dabei in Erinnerung, dass die Realisierung seines Berufswunschs an die Erfüllung schulischer Anforderungen gebunden ist: »Das hat meine Mutter immer gesagt, wenn ich mich nicht konzentriere und nicht richtig mitmache, dass ich dann keinen guten Beruf kriege.«

Passung und Anpassung – Themen und Variationen Die beiden Fallgeschichten zeigen, dass eine Anpassung an soziale Anforderungen zum Zweck der Zugehörigkeit unabhängig vom sozialen Milieu stattfindet. Geht es bei Kevin darum, überhaupt Zugehörigkeit herzustellen, und darum, dafür zu sorgen, dass er nicht sozial auffällig wird, muss Horst die familiär vorgegebene und vorgesehene soziale Passung im Rahmen schulischer Erfolge erarbeiten und sichern. Für beide Jungen verstärkt sich die Konfrontation mit den sozialen Erfordernissen mit dem Eintritt in die Schule. Während die Mutter von Horst dafür zu sorgen sucht, dass ihr Sohn den schulischen Anforderungen entspricht, fällt bei Kevin der Schulbeginn mit dem Ende seines Familienlebens zusammen und er muss nun allein und neu lernen, wo er hingehört und woher er Unterstützung bekommt. Beide Jungen werden im Verlauf des ersten Schuljahres als »auffällig« eingeschätzt und übernehmen diese Zuschreibung in ihre Selbstbeschreibung. Von Horst wird dies in Form einer Anekdote präsentiert, in der er sich das Stirnband über die Ohren zieht und daraufhin in die Vorschule zurückgehen muss, und in der Formel einer dauerhaften Anforderung zur Verhaltenskontrolle zum Ausdruck gebracht. Er soll »sich zurückhalten«, und Horst ist bei der Realisierung dieser anhaltenden Mäßigung seiner selbst recht erfolgreich. Für Kevin hingegen ist seine Auffälligkeit kaum auf den Begriff zu bringen. Er nennt sie schlicht »Ausrasten« und hat weder © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Erklärung noch Gegenmittel für sie. Dafür weiß er gut über seine soziale Auffälligkeit, sprich familiäre Besonderheit, Bescheid. Als Kind, das in einem Kinderdorf lebt, wähnt er sich bis zur Volljährigkeit an ein staatliches Erziehungssystem gebunden und bringt angesichts dieser nicht zu personifizierenden Macht keine Energie auf, um sein Leben selbst zu verstehen oder zu gestalten. Beide Kinder erhalten aufgrund ihrer Symptomatik Methylphenidat-haltige Medikamente, die sie auf unterschiedliche Art und Weise zum Bestandteil ihres Lebens und ihres Selbstbilds machen. Während Kevin die Medikation passiv hinnimmt und davon überzeugt ist, dass die Tabletteneinnahme Ausdruck seiner besonderen Lebenssituation ist, und sich durch die Medikation erneut stigmatisiert fühlt, wertet Horst seine Medikation positiv, beschreibt die Alltäglichkeit und allgemeine Akzeptanz der Tabletteneinnahme und ist auch von der erwünschten Wirkung des Medikaments schlussendlich überzeugt. Bei dieser Deutung unterstützt ihn seine Mutter, eine Unterstützung, die Kevin nicht zur Verfügung steht. Die Wirkung des Medikaments wird von beiden ähnlich beschrieben, es sei jetzt »besser« und das unerwünschte Verhalten würde nicht mehr auftreten. Auch zeigen beide eine Spur der Erleichterung, dass sie sich aufgrund der Tabletten mit einer Anforderung weniger auseinandersetzen müssen. Beide artikulieren keinen Widerstand gegen die Einnahme und kommen nicht auf Nebenwirkungen zu sprechen. Sie nehmen die Medikation an. Dabei geschieht die Anpassung an die Medikation samt der mit ihr verbundenen sozialen Anforderungen und Erwartungen bei Kevin in der Form von Fügung in das Unvermeidliche, etwas, was er in seinem Leben schon öfter erfahren und praktiziert hat. Horst vollzieht die Anpassung eilfertig, eifrig und in gewisser Weise »aufgeregt«, also in dem Modus, der für ihn und sein Leben charakteristisch zu sein scheint. Diese Verschiedenheit der Fallgeschichten legt zum einen die Frage nach der Angemessenheit einer gleichlautenden Diagnose und derselben Art der Behandlung nahe. Sie fordert zum zweiten dazu auf, die sozialen, institutionellen, kommunikativen und psychischen Konstellationen, die eine jede Medikation begleiten und ihre Wirksamkeit beeinflussen, stärker in den Blick zu nehmen, um das Verständnis der neuen Klassifikation »AD(H)S« zu präzisieren. Zum dritten © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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schließlich stellt sich angesichts der beiden Fälle die Frage, wie, warum und mit welchen Funktionen und Intentionen soziale Probleme (bei Kevin seine Heimunterbringung, bei Horst sein Erleben des Leistungsdrucks) mittels der Klassifikation als »krank« beziehungsweise »gestört«, umdefiniert, verschoben und unsichtbar gemacht werden. Ein solcher Prozess der Re-Signifizierung ist lange Zeit mit dem Begriff der »Medikalisierung« gefasst worden. Dieses Theorem wird seit geraumer Zeit auf seine Tragfähigkeit hin befragt. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Frage, ob die vielfältigen Dynamiken der globalisierten Welt, der biomedizinischen Entwicklungen und Errungenschaften angesichts sozialen Wandels und drohender Prekarisierung noch angemessen als »Medikalisierung« begriffen werden können. Mit Blick auf die beiden Fallbeispiele soll abschließend zu dieser Debatte Stellung genommen werden.

Neue Formen von Zugehörigkeit durch »Bio-Medikalisierung« Der Begriff der Medikalisierung beschreibt die Ausbreitung medizinischer Entscheidungsgrundlagen, medizinischer Autorität und medizinischer Praktiken in immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens (vgl. Zola, 1972). Medizinische Definitionen als eine spezifische Form von Denken, Erklärung und Klassifikation werden in diesem Prozess zunehmend auf Phänomene bezogen, die zuvor als soziale Probleme gefasst worden waren, zum Beispiel auf Geburt, Tod, Menopause, Empfängnisverhütung oder Gewalterfahrung und Traumatisierung. Verbunden mit der Medikalisierung war die Herausbildung medizinischer Professionen und ihrer Infrastruktur einerseits und andererseits die wachsende Anforderung an die Individuen, für ihre Gesundheit zu sorgen. Darüber hinaus aber war die Definition eines Problems als Krankheit für die Einzelperson auch mit einer moralischen Entlastung verbunden. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff wurde vor einigen Jahren eingewendet, dass Medikalisierung als Interpretationsfolie nicht mehr in der Lage sei, die gegenwärtig mit Lebenswissenschaften und Medizin verknüpften Entwicklungen angemessen zu fassen, da sie zu einseitig auf die Gegenüberstellung von Medizin und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Gesellschaft konzentriert sei. 2003 haben Clarke, Shim, Mamo, Fosket und Fishman das Verständnis von Medikalisierung versucht zu differenzieren und schlugen das Konzept der »Biomedikalisierung« vor. Bei der Biomedikalisierung geht es primär um den theoretischen Nachvollzug einer Verschiebung in der medizinischen Wissensproduktion und ihren Anwendungen. Die biotechnologischen und medizinischen Interventionen zielen, so die mit dem Konzept verbundene These, heute auf eine Transformation von life itself und sie sind deshalb begleitet von neuen, anderen Formen von Kontrolle und Regulierung des menschlichen Körpers. So verändern sich zum einen die Vorstellungen und Bilder, die Menschen von ihrer eigenen Körpernatur haben, und andererseits verändert die moderne Biomedizin die Prinzipien und Funktionsweisen des Körperlichen selbst, beispielsweise indem Mikrochips in Gehirne eingesetzt werden oder indem Nabelschnurblut als wichtiger Lieferant entdeckt wird. Diese, hier nur skizzierte, vorgeschlagene Begriffsverschiebung ist für das Verständnis der AD(H)S-Thematik insofern interessant, als dass sich auch für dieses Thema konstatieren lässt, dass die mit der Diagnose zusammenhängende Dynamik von Veränderungen nicht angemessen begleitet ist von dem Verstehen dieser Veränderung. Auch für die AD(H)SThematik kann konstatiert werden, dass die neue Gehirnforschung das Wissen über den Körper verändert hat und dass dieses neue Körperwissen auch neue Formen von Subjektivität geschaffen und die Grundlage für neue Gemeinschaften und Gruppenzugehörigkeiten gebildet hat. Ein »ADHS-Kind« zu sein, wird zum Bestandteil einer Selbstbeschreibung und fungiert, wie die beiden Fallbeispiele zeigen, als ein Merkmal neuer Formen von Gruppen sowie als Moment von Phantasien und Vorstellungen über Gruppierungen. Unstrittig ist zudem, dass Medikalisierungsprozesse immer auch zusätzliche Ressourcen für kulturelle Ziele bereitstellen und das Feld reflexiver Selbsttechnologien erweitern (Berg u. Mol, 1998; Lock, 2001). So ist mit der neuen medizinischen Bezeichnung des kindlichen Verhaltens als ADHS eine Erweiterung des Wissens aller Beteiligten verbunden. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass in den beiden Interviews neue medizinische Erklärungen präsentiert werden oder indem von einem selbstgesteuerten Umgang mit der Medikation berichtet wird. Obwohl die Fallbeispiele auch sichtbar machen, dass diese Optionen und Kompetenzen sozial ungleich verteilt sind, eignet sich das Interview mit Kevin nicht zur Illustration eines Falls von »medizinischer © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Objektivierung« mit einem angenommenen Verlust individueller Handlungsfähigkeit, wie er landläufig mit dem älteren Begriff der Medikalisierung unterstellt wurde. Vielmehr erklärt Kevin selbst seine Handlungsunfähigkeit im Zusammenhang mit einem sozialen, medizinischen, pädagogischen und interpersonellen Zusammenhang, in dem sowohl Wissen als auch Praktiken als auch Technologien verbreitet werden, die an der Herausbildung seiner Subjektivität und seinen Handlungsfähigkeiten beteiligt sind. In der Beschreibung und Erklärung dieser komplexen Zirkulationsformen läge dann die Aufgabe eines empirisch fundierten Verstehens von »Biomedikalisierung«.

Fazit: AD(H)S und die Regulierung von Zugehörigkeit Die vorgestellten Fallbeispiele veranschaulichen, dass Zugehörigkeit und Teilhabe zu einem relevanten Teil über Zwang, Kontrolle und Anpassung realisiert werden. Darüber hinaus gibt es jedoch eine Tendenz, in der die Verfahren nicht mehr auf die Individuen zielen, sondern in der allgemeine Passungsverhältnisse konstruiert werden und in der neue Gruppen entstehen. Diese Verfahren sind, um einen Begriff von Robert Castel zu benutzen, postdisziplinar (Castel et al., 1982). Hier wird die Förderung der unablässigen Arbeit an sich selbst zum Wohl eines effizienten und anpassungsfähigen Subjekts nicht länger durch einen umfassenden holistischen Zugriff auf die Einzelperson und seine soziale Umgebung hervorgebracht. Vielmehr etabliert sich ein instrumenteller Zugriff auf die Person und ihre Umwelt, die beide als Summe verschiedener Faktoren aufgefasst werden. Diese Faktoren sind Spezialisten mittels Analyse zugänglich, die zu Präventionszwecken behördlich registriert und gesammelt werden. So gesehen wird Prävention zu einem neuen Verfahren der Regelung von Zugehörigkeit. Prävention und die Strategie, mögliche Risikofaktoren aufzuspüren, richten sich dabei nicht auf die Einzelperson, sondern man bewegt sich hin zur Projektion von Risikofaktoren, die Individuen oder Gruppen jeweils dekonstruieren oder rekonstruieren. So sind beispielsweise die im Rahmen von Schuleingangsuntersuchungen erfolgende Klassifizierung der Kinder entlang von Entwicklungsstandards sowie die regelmäßige, vergleichende Leistungsmessung von Schülerinnen und Schülern eine neue Form der Etablierung neuer Normen. Sie dienen der frühzeitigen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Besonderung einer Gruppe von Kindern, die es bislang so nicht gegeben hat. Diese »technokratische Administration von Differenz« (Castel et al., 1982, S. 9) ist verbunden mit einer wachsenden institutionellen Kluft zwischen Diagnose und Therapie; im Fall von ADHS repräsentiert durch die Kluft zwischen dem sozialen Umfeld des Kindes, seinen diagnosefreudigen Eltern und Lehrkräften und der Therapie der Medikamentierung, von der das soziale Umfeld völlig unberührt bleibt. Dies ist zwar kein neuartiges Problem, aber allein die Möglichkeit, dass sich diese Kluft zukünftig vergrößern könnte, führt zu neuen sozialen, ethischen und kulturellen Dilemmata, die die sozialwissenschaftliche Forschung aufmerksam verfolgen muss.

Literatur Berg, M., Mol, A. (Hrsg.) (1998). Differences in medicine. Unraveling practices, techniques, and bodies. Durham und London: Duke University Press. Castel, F., Castel, R., Lovell, A. (1982). Psychiatrisierung des Alltags: Produktion und Vermarktung der Psychowaren in der USA, mit FranÅoise Castel und Anne Lovell. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Clarke, A., Shim, J. K., Mamo, L., Fosket, J. R., Fishman, J. R. (2003). Biomedicalization: Technoscientific transformations of health, illness, and U.S. biomedicine. American Sociological Review, 68, 161 – 194. Foucault, M. (1986). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kandel, E., Schwartz J., Jessell T. (2000). Principles of neural science (4th ed.). New York: McGraw-Hill. Lock, M. (2001). The tempering of medical anthropology: Troubling natural categories. Medical Anthropology Quarterly, 15 (4), 478 – 492. Warrlich,C., Reinke, E. (2007). Auf der Suche. Psychoanalytische Betrachtungen zum AD(H)S. Gießen: Psychosozial Verlag. West, C., Zimmerman, D. (1987). Doing Gender. Gender & Society. 1, 125 – 151. Zola, I. K. (1972). Medicine as an institution of social control. Sociological Review, 20, 487 – 504.

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Medikament und Medikation: Eine Typologie positiver und negativer Repräsentanzen

Die Analyse unserer sechzig Interviews zeigt, dass es Jungen mit positiven und Jungen mit negativen Repräsentanzen der Medikamente gibt, die sie einnehmen. In unserer Stichprobe überwiegen Kinder, die ihre Medikation positiv darstellen, zumindest keine offene Ablehnung äußern. Darüber, wie die Verteilung von positiven und negativen Repräsentanzen in der Grundgesamtheit aller Jungen (in Deutschland) ausfällt, können wir keine Aussagen machen, wohl aber deren Qualität und inhaltliche Ausgestaltung beschreiben. Dabei verstehen wir Repräsentanzen als affektbesetzte innere Vorstellungen, die Erinnerungsspuren der Wahrnehmung des Selbst und des Objekts »Medikament« enthalten. Auch die Art der Interaktion von Selbst und Medikation ist Bestandteil der Repräsentanz (Fonagy, Moran, Edgcumbe, Kennedy u. Target, 1993).

Positive Repräsentanzen Dass die Art und Weise, wie wir nach Eltern und Kindern für unsere Interviews gesucht haben, das Übergewicht an positiven Repräsentanzen bedingt, halten wir für unwahrscheinlich. Zumindest wüssten wir keine Faktoren anzugeben, die eine einseitige Selektion begünstigt hätten. Gleiches nehmen wir für unsere Interviewführung in Anspruch: Soweit wir sehen, haben die Interviewer/-innen ihre Interviews nicht so geführt, dass die Jungen für eine positive Darstellung ihrer Medikation, wie subtil auch immer, belohnt worden wären. Auch ist die Voreinstellung der Interviewer/-innen gegenüber einer psychopharmakologischen Behandlung von Kindern und Jugendli© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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chen eher skeptisch bis ablehnend gewesen. An wenigen Stellen kommt dies auch in Fragen der Interviewer/-innen zum Ausdruck, gibt jedoch keinen Anlass zur Vermutung, dass die interviewten Jungen dies vielleicht als Suggestion erlebt haben, wogegen sie sich dann mit einer reaktanten positiven Darstellung zur Wehr gesetzt hätten. Hinzu kommt, dass die meisten positiven Darstellungen brüchig sind, will heißen: Die betreffenden Jungen lassen mehr oder weniger deutlich erkennen, dass ihre positive Darstellung der Medikation das Ergebnis eines Anpassungsprozesses ist, in dessen Verlauf sie ihre ursprüngliche eigene Skepsis oder Ablehnung hinter bestimmte Nutzenerwartungen zurückgestellt haben. Unter den positiven Repräsentanzen, die wir rekonstruieren konnten, lassen sich drei Typen relativ trennscharf differenzieren: – Das Medikament als Mittel sozialer Befriedung. – Das Medikament als Mittel freiwilliger Selbstkontrolle. – Das Medikament als Mittel der (schulischen) Leistungssteigerung beziehgungsweise allgemein: als Mittel der Selbststeigerung. Sprechen wir von Repräsentanzen des Medikaments, so wäre es – streng genommen – genauer, von Repräsentanzen der Medikation zu sprechen. Denn dieser Begriff hält fest, dass sich im Medikament eine fallspezifische Beziehungsvorstellung materialisiert, die positiv oder negativ ist. 1. Jungen, die den ersten positiven Typus verkörpern, machen deutlich, dass sie der Einnahme des Medikaments zustimmen, weil dadurch ihre Beziehungen zu signifikanten Bezugspersonen, allen voran ihre Mütter, entspannter werden. Diese Wirkung kann eintreten, ohne dass die Jungen an sich selbst eine Veränderung wahrnehmen. 2. Jungen des zweiten positiven Typus erleben an sich selbst, dass die Einnahme des Medikaments ihre Handlungsmöglichkeiten erweitert. Sie können zielgerichteter handeln, gleich, ob es fremdoder selbstbestimmte Ziele sind. 3. Jungen des dritten positiven Typus stimmen der Einnahme des Medikaments zu, weil es sie leistungsfähiger macht, wobei sie vorrangig an einer Verbesserung ihrer Schulleistungen interessiert sind. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Womöglich sind diese drei Typen im Sinne einer Entwicklungslogik zu begreifen: ohne soziale Befriedung keine freiwillige Selbstkontrolle und ohne freiwillige Selbstkontrolle keine (schulische) Leistungssteigerung. Zudem fällt auf, dass die Jungen mit einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eher dem ersten Typus und die Jungen mit einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADS) eher dem dritten Typus entsprechen, während sich im Rahmen des zweiten Typus vergleichsweise beide Diagnosen finden.

Negative Repräsentanzen Die negativen Repräsentanzen, die wir rekonstruieren konnten, lassen sich parallel zu den positiven Repräsentanzen typisieren: 1. Das Medikament als Mittel gewaltsamer Unterwerfung. 2. Das Medikament als Mittel schmerzlicher Abhängigkeit. 3. Das Medikament als Mittel der Selbstentfremdung. Die Parallelisierung von positiven und negativen Repräsentanzen des Medikaments beziehungsweise der Medikation ergibt Sinn, weil ihre Repräsentation positiv wird, wenn die Ängste, die den negativen Repräsentanzen emotional zugrunde liegen, bewältigt sind: 1. Solange ein Kind erlebt, dass es mit Hilfe von Medikamenten den herrschenden sozialen Normen gewaltsam unterworfen werden soll, wird es auf die erlebten Aggressionen mit Gegenaggressionen reagieren und sich insofern – ob manifest oder latent – nicht sozial befrieden lassen. Erst dann, wenn der Erwachsene dem Kind die Medikation überzeugend als Mittel anbietet, das hilft, zwischen ihnen einen Frieden zu stiften, der zu ihrer beider Wohl ist, trägt dies zu einer Entspannung ihrer Beziehung bei. 2. Die spontane Neugier und Entdeckungslust eines Kindes sind vitale Voraussetzungen für seine allmähliche Loslösung aus der Abhängigkeit von seinen Eltern und anderen signifikanten Erwachsenen. Es benötigt sie zunehmend weniger als Hilfs-Ich. Indem sich die Erwachsenen im Laufe der Entwicklung eines Kindes als Kontrollinstanz zurücknehmen, eröffnen sie einen Raum, in den es mit seinem Bemühen, sich selbst zu kontrollieren, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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vorstößt. In diesem Prozess kann ein Kind die Medikation als eine willkommene Unterstützung erleben, sich auszuprobieren, weil es seine Affekte soweit dämpft, dass sie es nicht an zielgerichtetem Handeln hindern. Allerdings ist der Erwerb von Selbstkontrolle anstrengend, weshalb es immer auch den gegenläufigen Wunsch gibt, sich diese Anstrengung zu ersparen. Die Medikation kann diesen Wunsch erfüllen, indem sie die Kontrolle übernimmt, damit aber ein Kind abhängig hält. Es mag diese Abhängigkeit vorübergehend gutheißen, mittelfristig leidet es aber schmerzlich darunter, sich nur medikamentös kontrollieren zu können. 3. Ein Mittel der Selbstentfremdung ist die Medikation dann, wenn die Medikamente in der Wahrnehmung eines Kindes eingesetzt werden, um Leistungen zu steigern, die es nicht von sich aus erbringen möchte. Dabei sind schulische Leistungen, auch wenn sie in unseren Interviews im Fokus stehen, nur ein Aspekt unter anderen. Streng genommen geht es um die Verwirklichung eines Potenzials selbstwertrelevanter Fähigkeiten. Insofern wäre die betreffende positive Repräsentanz auch besser als »Selbststeigerung« benannt, die mit Hilfe der Medikation angestrebt wird. Wenn ein Kind »mehr aus sich machen will«, dann in erster Linie bei den Fähigkeiten, mit denen es sich zu identifizieren vermag, weil es sich dadurch als das Selbst erkennt, das es sein möchte. Solche Fähigkeiten finden nicht zwangsläufig soziale Anerkennung. Vielmehr werden oft die Fähigkeiten sozial anerkannt und dementsprechend zu fördern gesucht, in denen sich ein Kind nicht als das gewünschte Selbst zu erkennen vermag. Kinder, die sich von sozialem Ausschluss bedroht und deshalb gezwungen sehen, Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen sie sich nicht identifizieren können, erleben eine Selbstentfremdung. Sie bleiben sich auch dann selbst fremd, wenn sie mit den entwickelten Fähigkeiten erfolgreich werden. Insgesamt ist dabei festzuhalten, dass es, wie sonst auch, keine reinen Typen gibt. Die Jungen, mit denen wir gesprochen haben, lassen eine mehr oder weniger positive oder mehr oder weniger negative Repräsentanz ihrer Medikamente beziehungsweise ihrer Medikation vermuten. Nicht selten erleben sie sich ambivalent. Positive und negative Repräsentanzen sind nicht scharf voneinander abgegrenzt. Um © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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ihre Medikamente beziehungsweise ihre Medikation positiv erleben zu können, müssen sie deren negative Seiten bewältigen; sie erleben sie negativ, wenn ihnen das nicht gelingt.

Medikamentöse Therapie versus Enhancement Nun gilt diese Typologie zunächst einmal unter der Maßgabe, dass die befragten Jungen richtig diagnostiziert worden sind und richtig medikamentös therapiert werden. Bei der Auswertung der Interviews sind uns in dieser Hinsicht aber allmählich Zweifel gekommen. Bei gut einem Drittel der Kinder haben wir den begründeten Verdacht, dass gar keine Therapie, sondern Enhancement vorliegt. Wann Medikamente verordnet und verabreicht werden, um störungsbedingte Defizite auszugleichen (Therapie), und wann sie der Steigerung einer »normalen« kognitiven Leistungsfähigkeit dienen sollen (Enhancement), ist nicht immer leicht festzustellen. Dennoch lässt sich ein Bündel von Merkmalen in der Selbstdefinition angeben, in denen sich die Enhancer von therapiebedürftigen Jungen unterscheiden: – Das Medikament wird eng mit Leistungserfolgen (Noten, Berufschancen) assoziiert, wobei in der Darstellung das externe Kriterium im Vordergrund steht und nicht etwa interne Kriterien wie Zufriedenheit. – Es handelt sich um Leistungen, die nicht nur sozial anerkannt, sondern sozial gefordert werden. – Die Dosierung des Medikaments richtet sich nach den situationsspezifisch erwarteten Leistungen, was eine instrumentelle Selbstmedikation (abweichend von der ärztlichen Verordnung) wahrscheinlich macht. – Die Medikation erscheint als Sachzwang, der ohne emotionale Reaktionen hingenommen wird. – AD[H]S wird nicht als Krankheit gesehen oder als Krankheit stark relativiert oder auf die Merkmale der Krankenrolle reduziert, die von Schuldzuschreibungen entlasten. – Der Medikation unterliegt eine Kosten-Nutzen-Abwägung, wonach der psychosoziale Nutzen, den die Einnahme des Medikaments verspricht, höher gewichtet wird als die erlebten psychoso© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Medikament und Medikation

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zialen Kosten, zu denen negative Nebenwirkungen aller Art gehören. Von Enhancement zu sprechen, heißt lediglich, die Absicht zu unterstellen, die »normale« Leistungsfähigkeit zu verbessern, nicht aber von einer garantierten Verbesserung auszugehen. Zudem kann auch Enhancement positiv oder negativ repräsentiert sein. So gibt es Jungen, die um der sozialen Befriedung willen den Ehrgeiz ihrer Eltern agieren und darunter leiden, während andere dabei Freude an der Leistungskonkurrenz um die besten Noten in der Klasse entwickeln. In jedem Fall stellt die Medikation Anlass für einen aktiven Umgang der Jungen mit ihr dar. Das hier sichtbar werdende Handlungspotenzial samt dem korrespondierenden Gestaltungswillen der medikamentierten Jungen, spezifische, eigene Repräsentanzen zu bilden, zeigt zum einen, dass eine medizinische Aufklärung der Kinder nicht nur angemessen, sondern sogar notwendig ist. Zum zweiten verweist sie darauf, dass die Jungen weitere, zusätzliche Angebote und Kristallisationspunkte für den sinnhaften und aneignenden Umgang mit ihren Verhaltensweisen brauchen.

Literatur Fonagy P., Moran, G. S., Edgcumbe, R., Kennedy, H., Target, M. (1993): The roles of mental representations and mental processes in therapeutic action. Psychoanalytic Study of the Child, 48, 9 – 48.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Die Autorinnen und Autoren

Erica Augello studiert Soziologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Politologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Tanja Brand, Diplom-Psychologin, M. A., ist Psychologin am Evangelischen Krankenhaus Bergisch Gladbach, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Rolf Haubl, Dr. phil., Dr. rer. habil., gruppenanalytischer Supervisor, Organisationsberater, Gruppenlehranalytiker, ist Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt am Main und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Sebastian Jentsch, Diplom-Soziologe, ist Projektmitarbeiter am SigmundFreud-Institut, Frankfurt am Main. Sarah Kirsch ist Diplom-Soziologin (Universität Frankfurt am Main). Katharina Liebsch, Prof. Dr., ist Professorin für Soziologie an der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Daniela Otto, Dipl.-Soz., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Organisationssoziologie an der Universität der Bundeswehr München. Eva Sänger, Dr., M. A. Soziologie, ist Post-Doc-Fellow an der Bielefeld Graduate School of History and Society (BGHS). Elke Salmen, Diplom-Soziologin, ist Einzelfall- und Familienhelferin der Jugendhilfe Frankfurt und Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Psychoanalytisch-Sozialwissenschaftlichen Instituts von Privatdozent Dr. Dr. Norbert Spangenberg. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Die Autorinnen und Autoren

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Inge Schubert, Soziologin, Dr. phil., ist Pädagogische Mitarbeiterin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Soziologie mit dem Schwerpunkt Familien- und Jugendsoziologie, Sozialpsychologie und Sozialisationsforschung. Maria Wischnewski ist Diplom-Soziologin (Universität Frankfurt am Main).

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Marianne Leuzinger-Bohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 4. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) ist heutzutage eine weitverbreitete Diagnose, mancherorts für fast alle kindlichen Schwierigkeiten im Vorschul- und Grundschulalter. Die Erklärungen reichen von Störungen des Hirnstoffwechsels, Frühverwahrlosungen, psychischen oder psychosozialen Regulationsstörungen bis hin zu Hochbegabungen. Bei den Präventions- und Therapieangeboten gehen die Empfehlungen weit auseinander. Für die einen ist ein verstehender Zugang zum einzelnen Kind und seiner Lebenssituation der richtige Weg, während andere in einer medikamentösen Behandlung die Lösung des Problems sehen. Diese Sichtweise hat in den letzten zehn Jahren enormen Auftrieb erhalten. Die Autoren dieses Bandes problematisieren und diskutieren eine drohende Medikalisierung sozialer Probleme. Sie greifen aktuelle Kontroversen auf und plädieren für eine sorgfältige Diagnostik sowie für eine professionelle Zusammenarbeit aller beteiligten Experten bei der Therapie der betroffenen Kinder. »Das Buch gehört ... zum Besten, was man zu ADHS heute lesen kann. Auch, weil es den naheliegenden Vereinfachungen entgeht und stattdessen dem Leser zutraut, den Forschungsstand verstehen zu wollen.« Elisabeth von Thadden, Die Zeit »Es ist zu hoffen, dass diese reichhaltige Publikation dazu beitragen kann, fruchtlose konfrontative Debatten zu überwinden und die ausserordentlich komplizierte Problematik mit der nötigen kritischen Distanz anzugehen.« A. Moser, Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Ulrike Schäfer / Wolf-Dieter Gerber AD(H)S – Die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Lehrer Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist eine häufige Erkrankung im Kindes- und Jugendalter, die zu erheblichen Beeinträchtigungen sowohl in der Familie als auch in der Schule führen kann. Die ausgewiesenen Autoren beschreiben die wichtigsten Symptome und erläutern mögliche biologische wie auch psychologische Entstehungsbedingungen. Anschaulich stellen sie mögliche Einflussnahmen vor, sei es durch Eltern, sei es durch Lehrer, und informieren ausführlich über verschiedene Therapien. Der Ratgeber verhilft Eltern, Erziehern und Lehrern zu einem besseren Verständnis und gibt im Umgang mit den ADHS-Betroffenen Unterstützung.

Jörg Wiesse (Hg.) Psychoanalyse und Kindheit Psychoanalytische Blätter, Band 28. Abgesehen von seiner Schrift »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« von 1909, der erste kinderanalytische Versuch in der Psychoanalyse, blieb Sigmund Freud eher skeptisch gegenüber der Analyse von Kindern, da er keine therapeutischen Mittel sah, die die Sprache ersetzen könnten. Dieses zentrale Problem der psychoanalytischen Technik und das Ringen um Lösungen ziehen sich durch alle kinderanalytischen Bemühungen von der Anfangszeit bis heute. So widmet sich auch der von Jörg Wiesse herausgegebene Band nicht nur den psychoanalytischen Theorien zur Kindheitsentwicklung, einzelnen schwierigen Störungsbildern wie Autismus und ADHS, sondern auch dem technischen Vorgehen, der Kommunikation zwischen Analytiker und kindlichem Patient und wie sich die kindliche innere Welt in der Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Kind spiegelt. Das Phänomen der kindlichen Depression wird diskutiert, die Wichtigkeit der Spieltherapie und der Hintergrund der infantilen Sexualität für das Verständnis des Unbewussten kommen zur Sprache. Eine Vielzahl von Fallbeispielen demonstriert die Komplexität des analytischen Prozesses bei Kindern. Die aufgegriffenen Fragen machen den großen Stellenwert der Kinderanalyse bei psychischen Erkrankungen bereits im frühen Kindesalter deutlich. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2

Schriften des Sigmund-FreudInstituts Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Band 1: Ulrich Moser Psychische Mikrowelten – Neuere Aufsätze Herausgegeben von Marianne LeuzingerBohleber / Ilka von Zeppelin. 2005. 498 Seiten mit 10 Abb. u. 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45165-6

Band 2: Klaus Herding / Gerlinde Gehrig (Hg.) Orte des Unheimlichen Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst 2006. 300 Seiten mit 70 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45176-2

»... eine der originellsten Publikationen zu Freuds Text bislang, gerade weil es hier nicht mehr allein Psychologen und Literaturwissenschaftler, sondern vor allem Kunsthistoriker sind, die das Konzept durch ihre produktive Anwendungen erneut plausibilisieren.« F.LM

Band 3: Marianne Leuzinger-Bohleber Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.) Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert.ISBN 78-3-525-45177-9

Band 4: Marianne LeuzingerBohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen 2. Auflage 2006. 306 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45178-6

Band 5: Ralf Zwiebel / Annegret Mahler-Bungers (Hg.) Projektion und Wirklichkeit Die unbewusste Botschaft des Films 2007. 235 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45179-3

Band 6: Timo Hoyer (Hg.) Vom Glück und glücklichen Leben Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge 2007. 275 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45180-9

Band 7: Rolf Haubl / Tilmann Habermas (Hg.) Freud neu entdecken Ausgewählte Lektüren 2008. 231 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45167-0

»ein reines Lesevergnügen« Lilli Gast, Luzifer-Amor

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Schriften des Sigmund-FreudInstituts Band 8: Stephan Hau Unsichtbares sichtbar machen Forschungsprobleme in der Psychoanalyse 2., korrigierte Auflage 2009. 326 Seiten mit 13 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45181-6

Dieses Buch ist ein Streifzug durch psychoanalytische Forschungszusammenhänge, der die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen deutlich macht.

Band 9: Gisela Greve Bilder deuten Psychoanalytische Perspektiven auf die Bildende Kunst 2009. 171 Seiten mit 30 farb. Abb. und 6 s/w Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45182-3

In Kunstwerken schlummern unbewusste Dimensionen, die während der Entstehung wie auch bei der Betrachtung wirksam werden. Die Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Kunstwissenschaft erhellt dieses Phänomen.

Band 10: Klaus Röckerath / Laura Viviana Strauss / Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.) Verletztes Gehirn – Verletztes Ich Treffpunkte zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften Mit einem Vorwort von Mark Solms. 2009. 269 Seiten mit 32 Abb. und 3 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45183-0

Psychoanalytische Konzepte verhelfen zu einem vertieften Verständnis von neurologischen Krankheitsbildern und sind der klinischen Arbeit mit hirngeschädigten Patienten dienlich.

Band 11: Marianne Leuzinger-Bohleber Paul-Gerhard Klumbies (Hg.) Religion und Fanatismus Psychoanalytische und theologische Zugänge 2010. 340 Seiten mit 2 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45184-7

Die unheilvolle Dynamik unbewusster Konflikte und religiösen Fundamentalismus, die sich zunehmend in mörderischer Gewalt manifestiert, ist Thema dieses interdisziplinären Dialogs zwischen Psychoanalyse und Theologie.

Band 12: Gisela Greve Leben in Bildern Psychoanalytisch-biographische Kunstinterpretationen 2010. 234 Seiten mit 38 farb. und 15 s/w-Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45185-4

Gisela Greve legt mit ihrer biographischen Deutungsmethode neue Dimensionen von Schöpfungen sechs berühmter Künstler frei, indem sie Zusammenhänge mit deren jeweiligen Leben untersucht.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45186-1 — ISBN E-Book: 978-3-647-45186-2