Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«: Eine projüdische Stimme im 19. Jahrhundert 9783839460351

Nur wenige Christ*innen traten nach dem Berliner Antisemitismusstreit (1879-1881) der sich zunehmend politisch und publi

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«: Eine projüdische Stimme im 19. Jahrhundert
 9783839460351

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung
I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel
Einleitung
1. Nahida Sturmhoefel d.J., die Getaufte
2. Nahida Remy, die konfessionsfreie Christin
3. Nahida Ruth Lazarus, die Jüdin
4. Schriftstellerische Tätigkeit
II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891) – bestimmt durch die jüdische Tradition und Emanzipation sowie durch die weibliche Emanzipation und Tradition des 19. Jahrhunderts
Einleitung
1. Das jüdische Weib – Quellenlage, Aufbau, Struktur und verwendete Quellen innerhalb des Buches
2. Remys jüdisch-religiöse Deutungsmuster der jüdischen Frau
3. Remys argumentative Strategie, Apologetik und Bewertung
4. Fazit
5. Rezensionen des Werkes Das jüdische Weib
6. Vorträge, Publikationen und Publikationsprojekte
III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum als mögliche Konsequenz ihrer apologetischen Handlungen?
Einleitung
1. Exkurs: Konversionsverfahren im liberalen Judentum
2. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum (1895)
3. Fazit: Konversion aus Kalkül oder Überzeugung?
IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick
1. Lazarus-Remys Leben und Wirken und deren Bedeutung für die Nachwelt
2. Ausblick: Weitere Forschungsdimensionen
Verzeichnisse
Literaturverzeichnis
Stellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
A1 Fotos und Abbildungen
A2 Tabellarischer Lebenslauf
A3 Jerusalemer Nachlassverzeichnis
A4 Zeichnungen von Lazarus-Remy
A5 Edition der Vortragsmanuskripte
A6 Bibliografie Lazarus-Remy
A7 Bibliografie Sturmhoefel

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Maria Japs Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Historische Geschlechterforschung Band 7

Editorial Die historische Geschlechterforschung begann mit dem Bestreben, die meist vernachlässigten Beiträge von Frauen* zur Geschichte zu erforschen und ihren Stimmen hörbar zu machen. Heute ist die historische Geschlechterforschung ein weites Forschungsfeld, das Themen wie die Geschichte der Geschlechterverhältnisse, die Geschichte der Frauenbewegungen, Männlichkeitsdiskurse und die Geschichte der Lebenswirklichkeit, Verfolgung und Entrechtung sowie der Kämpfe von LGBTQI*-Personen beleuchtet. Die Reihe Historische Geschlechterforschung bietet einen Identifikations- und Diskussionsort, um diese Themen in der interdisziplinären Forschungslandschaft zu verankern und ihnen zu größerer Sichtbarkeit zu verhelfen.

Maria Japs, geb. 1984, forscht zu Nahida Lazarus-Remy und der jüdischen Frauenrolle im 19. Jahrhundert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frauen- und Geschlechterforschung, Antisemitismus und Antifeminismus im 19. Jahrhundert sowie Konversionen zum Judentum. Sie promovierte an der Universität Paderborn.

Maria Japs

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib« Eine projüdische Stimme im 19. Jahrhundert

Die vorliegende Arbeit wurde 2019 von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Picture of Nahida Ruth Lazarus, late 19th Century, National Library of Israel, Schwadron collection, CC BY 3.0 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839460351 Print-ISBN 978-3-8376-6035-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6035-1 Buchreihen-ISSN: 2627-1907 Buchreihen-eISSN: 2703-0512 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ...................................................................................... 9 Einführung ..................................................................................13 Forschungsstand............................................................................... 14 Quellenlage .................................................................................... 15 Methoden und Zielsetzungen ................................................................... 17 I.

Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel ............................ 23

Nahida Sturmhoefel d.J., die Getaufte ..................................................... 26 1.1 Soziokulturelle Prägungen und frühkindliches Wanderleben (1849–1863) .............. 26 1.2 Mädchen- und Frauenbildung........................................................ 54 2. Nahida Remy, die konfessionsfreie Christin................................................ 84 2.1 Freischaffende Schriftstellerin ...................................................... 84 2.2 Studium des Judentums und öffentliches Eintreten für das Judentum................105 3. Nahida Ruth Lazarus, die Jüdin ...........................................................132 3.1 »Das gesegnete Jahr!« – Die Eheschließung mit Moritz Lazarus (1895)................132 3.2 (Un-)beschwerte Zweisamkeit (1895–1903) ...........................................136 3.3 Vermeintliches Alleinsein ...........................................................148 4. Schriftstellerische Tätigkeit............................................................... 161 4.1 Nachlassverwalterin und Herausgeberin .............................................164 4.2 Alfred Leicht (1903–1908) – Moritz Lazarus’ Student und Nachlassverwalter............168 4.3 Lazarus-Remys Testament ..........................................................173 1.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891) – bestimmt durch die jüdische Tradition und Emanzipation sowie durch die weibliche Emanzipation und Tradition des 19. Jahrhunderts .................................................177 1. 2.

Das jüdische Weib – Quellenlage, Aufbau, Struktur und verwendete Quellen innerhalb des Buches ..................................................................... 179 Remys jüdisch-religiöse Deutungsmuster der jüdischen Frau...............................188 2.1 Die Stellung der jüdischen Frau nach biblischem und talmudischem Recht – von Nahida Remy interpretiert...............................................190

2.2 Die Stellung der Frau in der jüdischen Tradition ..................................... 204 2.3 Charakterisierung der deutschen Jüdin Ende des 19. Jahrhunderts ................... 214 2.4 Vergleich mit Remys Darstellung der deutschen Christin des 19. Jahrhunderts ....... 232 2.5 Fazit: Remys Idealbild der jüdischen Frau ........................................... 249 3. Remys argumentative Strategie, Apologetik und Bewertung ............................... 255 3.1 Religionsbezogene Legitimationsstrategie .......................................... 260 3.2 Außerreligiöse Legitimationsstrategie .............................................. 274 4. Fazit .................................................................................... 297 5. Rezensionen des Werkes Das jüdische Weib............................................... 304 5.1 Jüdische Zeitungen und Zeitschriften .............................................. 309 5.2 Nichtjüdische Zeitungen und Zeitschriften ...........................................313 6. Vorträge, Publikationen und Publikationsprojekte ......................................... 320 6.1 Zitierungen ihres Werkes in ihren Vorträgen Was ist der Talmud? und Das Weib im Talmud............................................................ 327 6.2 Zitierungen ihres Werkes in ihren Vorträgen Nächstenliebe im Alten Testament und Nächstenliebe im Talmud ..................... 333

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum als mögliche Konsequenz ihrer apologetischen Handlungen?........................................................ 341 1. 2.

Exkurs: Konversionsverfahren im liberalen Judentum..................................... 345 Lazarus-Remys Konversion zum Judentum (1895) ......................................... 349 2.1 Konversion aus emanzipatorischer und konfessorischer Überzeugung............... 349 2.2 Konversion als apologetische Antwort auf den Antisemitismus .......................361 2.3 Konversion aus Eheschließungsgründen ............................................ 366 3. Fazit: Konversion aus Kalkül oder Überzeugung?...........................................371

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick ................................ 383 1. 2.

Lazarus-Remys Leben und Wirken und deren Bedeutung für die Nachwelt ................. 383 Ausblick: Weitere Forschungsdimensionen ............................................... 396

Verzeichnisse ............................................................................. 401 Literaturverzeichnis...........................................................................401 1. Primärquellen ......................................................................401 2. Sekundärquellen ................................................................... 407 Stellenverzeichnis............................................................................ 427 Abkürzungsverzeichnis........................................................................431 Anhang .................................................................................... 433 A1 A2 A3 A4 A5

Fotos und Abbildungen................................................................... 433 Tabellarischer Lebenslauf................................................................ 436 Jerusalemer Nachlassverzeichnis ........................................................ 443 Zeichnungen von Lazarus-Remy.......................................................... 445 Edition der Vortragsmanuskripte ......................................................... 448 A5.1 Was ist der Talmud? ............................................................... 448 A5.2 Das Weib im Talmud ............................................................... 459

A5.3 Nächstenliebe im Alten Testament ................................................. 468 A5.4 Nächstenliebe im Talmud .......................................................... 477 A6 Bibliografie Lazarus-Remy ............................................................... 484 Gedruckte Werke .................................................................. 484 Ungedruckte Werke ............................................................... 497 A7 Bibliografie Sturmhoefel ................................................................. 499 Gedruckte Werke .................................................................. 499 Ungedruckte Werke ............................................................... 499

Vorwort

Nahida Lazarus-Remy setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter des aufkommenden Antisemitismus, als Schriftstellerin und Rednerin für die Juden ein. Nahida Remy (geb. Sturmhoefel) wurde am 03. Februar 1849 in Berlin geboren und war die uneheliche Tochter des Kunstkritikers Max Schasler (1819–1903) und der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Nahida Sturmhoefel (1822–1889). Lazarus-Remy verbrachte den Großteil ihrer Kindheit (1854–1863) mit ihrer alleinerziehenden Mutter in Italien (Sizilien). Mit siebzehn Jahren (1866) begann ihre mäßige Karriere als Theaterdarstellerin, die sie durch die Heirat mit dem damals erfolgreichen Kunstkritiker Max Remy (1839–1881) aufgeben konnte. Unterstützt durch ihre Mutter und maßgeblich durch ihren Mann, erlangte Lazarus-Remy gute schriftstellerische Kenntnisse, sodass sie sich ab 1870 immer mehr als freischaffende Journalistin, Theaterkritikerin, Feuilletonistin und Schriftstellerin auszeichnete. Vor allem wurde sie bekannt durch ihre populärwissenschaftlichen Werke zu jüdischen Themen, die sie nach dem Tod ihres Mannes verfasste. Dazu gehört unter anderem ihre erfolgreiche projüdische Monografie Das jüdische Weib (1891), worin sie aufzeigt, dass es auch für Jüdinnen möglich war, an der nicht-jüdischen modernen Gesellschaft teilzuhaben und gleichzeitig das jüdische Eigenleben zu wahren. Ihre Bücher sind maßgeblich geprägt durch die zeitgenössischen Antisemitismus-Diskurse, sodass ihre Werke bewusst von ihr als projüdische Aufklärungsschriften konzipiert wurden. Die evangelisch Getaufte setzt sich darin auch kritisch mit dem Christentum auseinander, was seinen Höhepunkt 1895 in ihrer Konversion zum Judentum erreichte. Im selben Jahr wurde sie die zweite Ehefrau des Völkerpsychologen Moritz Lazarus (1824–1903), mit dem sie 1897 nach Meran zog. Dort verstarb sie am 12. Januar 1928. Lazarus-Remys Arbeiten, ihre Positionen und Sichtweisen haben auch in der heutigen Zeit besondere Relevanz. Neuere Forschungen machen in einschlägigen Ergebnissen sichtbar, dass die aktuellen Meinungen breiter Schichten der deutschen Bevölkerung von negativen Stereotypen über Juden und Israel beeinflusst sind.1 Zudem zeigt die evan1

Schwarz-Friesel 2010. Die aktuelle Corona-Krise zeigt deutlich auf, wie schnell Menschen sich in unsicheren Zeiten erneut von Vorurteilen und voreingenommenen Ängsten leiten lassen. Deutlich sind eine neue Ungleichbehandlung, Hass und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erkennbar – wie beispielsweise im Mord an Walter Lübcke bis zum Terroranschlag von Halle, aber auch in vielen anderen Vorfällen, in ganz alltäglicher Diskriminierung. Jetzt ist es an der Zeit, sich gegen

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

gelische Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz Ende des 20. Jahrhunderts auf, dass antisemitische Vorurteile auch in der christlichen Theologie verankert sind und bisher von den christlichen Theologen wenig Beachtung erhielten.2 Gerade im Hinblick darauf, dass antisemitische Parolen, Angriffe und Bekundungen immer noch hochaktuell sind, sind entsprechend Lazarus-Remys Forderungen nach Aufklärung insbesondere die Pädagogen sowie Religionslehrer gefordert, diese Thematik gezielt aufzugreifen und zu behandeln. Anschluss bieten neuere Arbeiten wie beispielsweise von Dr. Oliver Arnhold aus Detmold. Der evangelische Religionslehrer entwickelte unter anderem eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe II zum Thema Kirche ohne Juden, in der unter Berücksichtigung der Vorgeschichte des religiösen Antijudaismus3 die Rolle der Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus anhand von tatsächlichen Lebensgeschichten historisch aufgearbeitet und konstruktiv reflektiert wird. Damit wird das Ziel verfolgt, die Schüler dahingehend zu sensibilisieren, zu erkennen, dass trotz der deutschen Vergangenheit die Judenfeindschaft immer noch existent ist und dass sich lediglich die Manifestationen dieser Feindschaft verändert haben. Auch mit Lazarus-Remy, ihren apologetischen sowie belletristischen Werken und ihrem apologetischen Handeln kann der heutigen Gesellschaft aufgezeigt werden, dass die bereits damals gestellten Forderungen nach Aufklärung und Akzeptanz auch im 21. Jahrhundert noch nicht völlig realisiert wurden und daher noch heute weitergeführt werden müssen. Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie als Promotionsstipendiaten am Institut der Evangelischen Theologie der Universität Paderborn. Das dieser Arbeit zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Fördermitteln der Anschubfinanzierung im Rahmen des Gleichstellungskonzeptes sowie mit Mitteln des Graduiertenstipendiums im Bereich der Genderforschung der Universität Paderborn gefördert. Am Zustandekommen dieser Arbeit waren viele Menschen und Institutionen direkt und indirekt beteiligt, wofür ich ihnen an dieser Stelle ganz herzlich danken möchte. Zuerst möchte ich mich besonders bei meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Martin Leutzsch für die wissenschaftliche Betreuung und Unterstützung dieser Arbeit und für die wertvollen Anregungen, Ratschläge und Gespräche bedanken. Frau Dr. Elisa Klapheck gilt mein herzlicher Dank, für das entgegengebrachte Interesse und für die Übernahme des Korreferates. Bei sämtlichen Mitarbeitern des Institutes Ev. Theologie bedanke ich mich für die Hilfsbereitschaft und die vielen intensiven wissenschaftlichen Diskussionen. Besonders hervorheben möchte ich den Einsatz von Frau Dr. Sophia Niepert-Rumel; herzlichen Dank für die kollegiale und intensive Zusammenarbeit.

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derartige Ausgrenzung und Diskriminierung einzusetzen und effektiv gegen Judenhass vorzugehen. Vgl. dazu Schwarz-Friesel 2020. Siegele-Wenschkewitz 1994. In: Arnhold und Lenhard 2015: 23: Religiöser Antijudaismus, der sich »wie ein roter Faden vom Mittelalter über Luther bis zu Adolf Stoecker zieht«. Weiterführend sind ebenfalls folgende Unterrichtsentwürfe interessant: Arnhold 2012; Arnhold 2011.

Vorwort

Für das Sichten der Archivalien und die Möglichkeit, das autobiografische Material auszuwerten und zu veröffentlichen, danke ich vor allem dem Hauptstaatsarchiv in Dresden und dem Jewish National Library of Israel in Jerusalem. Mein herzlicher Dank gilt auch Frau Ulrike Janzen und ihrem Vater Herrn Ulrich Pache, die mit viel Interesse das Korrekturlesen meines anfänglichen Manuskriptes übernommen haben. Des Weiteren möchte ich mich ganz besonders bei Pfarrerin Kristina Ziemssen, Katja Greuel und Pfarrerin Annette Düpree für ihre intensive Auseinandersetzung mit meiner Arbeit und das abschließende Korrekturlesen bedanken. Abschließend möchte ich meinen Freundinnen danken, die stets motivierend und stärkend auf mich eingewirkt haben. Vor allem aber bedanke ich mich bei meinen Eltern, Schwiegereltern und besonders bei meinem Ehemann Ewald und meinen Kindern für die endlose Geduld, das Verständnis und die Unterstützung zur Durchführung und Veröffentlichung dieser Arbeit.

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Einführung

»Anfang der 80er Jahre bestimmte mich die in meiner Geburtsstadt Berlin auftauchende Anfeindung der Juden zu Studien über dieses so interessante Volk. Ich lernte die hebräische Sprache, verschaffte mir Zeit- und Streitschriften für und wider Israel und vertiefte mich in die einschlägige Literatur.«1 In diesem Ausschnitt des Vorwortes aus dem Werk Das jüdische Haus (1898) bezieht sich Lazarus-Remy auf die antisemitische Problematik, die sich Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter ausbreitete. Obwohl die jüdischen Bürger seit 1871 durch das verabschiedete deutsche Gleichstellungsgesetz die gleichen Rechte und Freiheiten erhielten wie die nichtjüdischen Bürger, wurden sie vor allem von der bürgerlichen Elite anhand mittelalterlicher judenfeindlicher Stereotype diskriminiert und mit der neu aufkommenden Klassifizierung der Rasse stigmatisiert. Anstatt sich blindgläubig solchen polemischen Agitatoren anzuschließen, begann sich die evangelisch getaufte Journalistin und Schriftstellerin Nahida Ruth Lazarus-Remy (1849–1928), vor allem bekannt als Nahida Remy, zunächst über den Antisemitismus ihrer Zeit sachkundig zu machen und die Kultur und Religion ihrer jüdischen Zeitgenossen kennen und verstehen zu lernen. Dabei identifizierte sie die Unkenntnis und Ignoranz der Nicht-Juden als Ursprung des anwachsenden Antisemitismus, dem sie daraufhin mit aktiver Ablehnung entgegentrat. So forderte sie bereits im 19. Jahrhundert, entsprechend ihrer Überzeugung, dass Vorurteile durch Bildung bekämpft werden können, dem Antisemitismus mit Aufklärung entgegenzuwirken. Als erstes Ergebnis ihrer jüdischen Studien, die sie zu einer begeisterten Verehrerin des Judentums machten, erschien von ihr 1891 ihr apologetisches Werk Das jüdische Weib, das großes Aufsehen erregte. Weitere Schriften folgten, wie beispielsweise ihr Werk Culturstudien über das Judentum (1893). Der Erfolg ihrer ersten Verteidigungsschrift bewirkte, dass sie in den damals aufblühenden jüdischen Literaturvereinen zu Vorträgen aufgefordert wurde, in denen sie sich innerhalb jüdischer Thematiken systematisch gegen antisemitische Stereotypen aussprach und diese zu widerlegen suchte. Ihr Engagement vor allem für die jüdische Frau geschah aus der Perspektive einer Christin, die zum Judentum konvertierte. Sie und speziell ihre apologetische Wirksamkeit sind bis heute weit-

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Lazarus 1898a: Vorwort.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

gehend unbekannt. Aus diesem Grund wird die in Vergessenheit geratene Persönlichkeit Nahida Ruth Lazarus-Remy in dieser Forschungsarbeit in den Mittelpunkt gerückt. Zunächst gilt es, erstmals eine Biografie von ihr zu rekonstruieren (Kap. I). In Anbetracht der oben erwähnten biographischen Aspekte jüdische Frau, Antisemitismus und Konversion ergeben sich folgende weiterführende Fragestellungen für das II. Kapitel: • Wie sahen Lazarus-Remys apologetische Absichten und Mittel aus, besonders vor dem Hintergrund des damals aufkommenden Antisemitismus und Antifeminismus? • Welche Positionierung nahm sie diesbezüglich ein und wie definierte sie sich selbst in ihrer apologetischen Rolle? • Und welche Wirkungen hatte folglich ihr erstes apologetisches Werk Das jüdische Weib?2 Weiterhin stellt sich die Frage, welche Beweggründe sie zu einer Konversion vom Christentum zum Judentum veranlassten (Kap. III). Dabei ist genauer zu untersuchen, wie sie sich selbst konfessionell verortet hat und wie sie von außen wahrgenommen wurde. Anhand ihrer autobiographischen Konversionserzählung Ich suchte Dich! (1898)3 wird weiterhin herausgestellt, wie Lazarus-Remy selbst wahrgenommen werden wollte und wie sie dementsprechend bewusst agierte. Dabei stellt gerade ihre Konversion zum Judentum einen wesentlichen Wendepunkt ihres religiösen Lebens dar, der für eine fortschrittliche und emanzipierte Frauenrolle spricht. Abschließend wird im IV. Kapitel Lazarus-Remys Bedeutung als christliche Apologetin des Judentums sowie als Jüdin selbst im zeitgenössischen Kontext betrachtet und in eine Relation zum 21. Jahrhundert gestellt.

Forschungsstand Lazarus-Remy sowie ihre Bücher gerieten, wie die meisten schriftstellerischen Tätigkeiten von weiblichen Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, in Vergessenheit. Publikationen von Schriftstellerinnen dieser Zeit sind weitaus geringer dokumentiert und archiviert als die zeitgenössischen männlichen, was in der Forschung der letzten Jahrzehnte zunehmend problematisiert wurde. Ein Teil ihrer schriftstellerischen Werke ist heute nicht mehr zugänglich.4 Dementsprechend gibt es nur sehr wenige literaturwissenschaftliche Abhandlungen, die sich mit ihren Publikationen befassen. Erst Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts kommt sie mit ihrer autobiographischen Konversionserzählung Ich suchte Dich! (1891) wieder in den Blickpunkt der kulturhistorischen Forschung. Einige wenige Aufsätze versuchen eine biographische Skizze, stützen sich allerdings dabei nur auf ihre veröffentlichte Konversionserzählung Ich suchte Dich! und bleiben teilweise unvollständig und fehlerhaft. 1994 erschien von der Literaturwissenschaftlerin Katharina Gerstenberger ein Aufsatz in der Zeitschrift Monatshefte (1994), worin sie ebenfalls 2 3 4

Remy 1891a. Lazarus 1898b. Zu dem noch zugänglichen Werksbestand Lazarus-Remys s. Bibliografie (im Folgenden s.Bibl.) im Anhang.

Einführung

ausgehend von Lazarus-Remys Konversionserzählung vor allem die weibliche Autobiografie als Gattung fokussiert und näher erörtert.5 1995 folgte eine weitere Rezeption von Lazarus-Remys Konversionserzählung durch den Historiker und Judaisten Alan T. Levenson, der ebenfalls diese als Hauptquelle seiner Betrachtungen bezüglich ihrer Konversionsgründe nutzte.6 Auch die evangelische Theologin Bettina Kratz-Ritter setzte sich 1994 mit Lazarus-Remys Konversionsgründen innerhalb eines Aufsatzes auseinander und schlussfolgert, dass es sich dabei um eine aktive Handlung gegen den modernen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts handelt.7 Während die eben genannten Autoren sich in ihren Aufsätzen sowohl auf die zwei veröffentlichten und noch zugänglichen Hauptwerke (Das jüdische Weib und Ich suchte Dich!) als auch auf die bereits vorhandenen Veröffentlichungen beziehen, greift die Soziologin Dagmar Reese in zwei Aufsätzen über Lazarus-Remy (von 2009 und 2012) erstmalig auch auf einzelne autobiographische Quellen der Archivbestände zurück.8 Die Edition der unveröffentlichten Autobiografie Mein Leben (um 1927 verfasst) durch Reese ist seit mehreren Jahren angekündigt.9 Neuauflagen sowie Veröffentlichungen ihrer Werke oder Briefsammlungen sind bis heute in keinem Verlag erschienen. Folglich bleiben Lazarus-Remys belletristische und kulturhistorische Werke und vor allem die zweite Autobiografie, betitelt mit Mein Leben I+II, weitgehend unerforscht, abgesehen von der Rezeption von D. Reese, was aufgrund der teilweise hohen literarischen und autobiographischen Qualität sehr bedauerlich ist. Neben den erwähnten Aufsätzen zur Person Lazarus-Remy fand sie eine breite Beachtung in zahlreichen Lexikoneinträgen. Bei den zeitgenössischen Lexika, die sie erwähnen, handelt es sich ausschließlich um literaturwissenschaftliche Lexika, die ihren Schwerpunkt nicht auf eine biographische Lebensdarstellung legen, sondern auf ein detailliertes Werkverzeichnis. Darunter können z.B. die Artikel in Das Literarische Deutschland (1887) sowie der Artikel im Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten (1975) genannt werden.10 Speziell der Artikel von Renate Heuer im Lexikon Deutsch-jüdischer Autoren sticht durch seine umfangreiche, wenn auch nicht vollständige Auflistung von Lazarus-Remys Publikationen sowie eine knappe, aber präzise Zusammenfassung ihrer »Stellung zum Judentum«11 hervor.

Quellenlage Die Jewish National Library of Israel, Jerusalem verwaltet das Moritz Lazarus Archive, in dem auch der Nachlass von Nahida Ruth Lazarus-Remy mit eingeordnet ist.12 Es liegt ein 5 6 7 8 9 10 11 12

Gerstenberger 1993; Gerstenberger 1994; Gerstenberger 2001. Levenson 1995. Kratz-Ritter 1994: 15. Reese 2009; Reese 2012. Vgl. Programmheft: Jüdisches Museum Hohenems 2013. Hinrichsen 1887, 509; Brümmer 1975, 205–206. Heuer 2007, 255. Vgl. The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298: Moritz Lazarus Archive, Jerusalem, in: Series 1: Personal Materials and Materials Created by Nahida Ruth Lazarus | item NNL_ARCHIVE_AL990036731150205171 | The National Library of Israel (nli.org.il).

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

umfangreicher Fundus von autobiographischen Quellen (unter anderem Briefe, Tagebücher, Notizen etc.) sowie vergessene und verloren geglaubte literarische und populärwissenschaftliche Werke von Lazarus-Remy vor, die bisher von der Forschung unbeachtet geblieben sind. Es handelt sich um einen sehr umfangreichen und ergiebigen Nachlass, der 40 Kartonagen umfasst, die von ihr persönlich sortiert und verschlossen wurden. Ein großer Teil ihres Nachlasses wurde erstmals für diese Forschungsarbeit geöffnet, gelistet und detailliert dokumentiert (s. Jerusalemer Nachlassverzeichnis)13 . Diese neu entdeckten Quellen bieten wichtige, bislang völlig unbekannte Informationen zur Rekonstruktion ihrer Biografie (I. Kap.), zur Rezeption ihrer Monografie Das jüdische Weib (II. Kap.) und über ihre Konversionsgründe (III. Kap.). Das I. und das III. Kapitel stützen sich überwiegend auf die vorliegenden autobiographischen Quellen. Auf die Quellenlage zu Das jüdische Weib wird in Kapitel II, 1. ausführlich eingegangen. Aufgrund des Umfangs des Lazarus-Archivs von annähernd 5000 Dokumenten und dessen schwieriger Erschließungsbedingungen wegen der zumeist handschriftlichen Quellenlage14 blieb ein geringer Teil der gelisteten Archivalien (s. Jerusalemer Nachlassverzeichnis) unerschlossen, sodass eine sorgfältige Durchsicht auch der verbliebenen archivalischen Quellen für weitere Forschungszwecke interessant wäre. Lazarus-Remy war zeitlebens bemüht, ihre literarischen sowie künstlerischen Tätigkeiten zu sammeln und besondere Lebensereignisse in schriftlicher Form, sei es in ihren Tagebüchern als auch in autobiographischen Abhandlungen, für die Nachwelt festzuhalten. Sie erwies sich bezüglich ihrer persönlichen Lebensangaben nicht als zurückhaltend, sondern nutzte bewusst die Veröffentlichung ihrer ersten autobiografischen Konversionserzählung Ich suchte Dich! sowie die darauffolgenden archivierten autobiographischen Darstellungen, um ihren Werdegang sowie ihre politisch-soziale Haltung der Nachwelt zu hinterlassen. Das eigenhändig geschriebene Manuskript der Konversionserzählung findet sich im Archiv des Leo-Baeck-Institutes15 in New York. Neben ihrem umfangreichen Nachlass in der National Library of Jerusalem in Israel, in dem unter anderem zahlreiche Briefe, Werke, handschriftliche Abhandlungs- und Werkmanuskripte, Tagebücher und ein umfangreicher Aktenkonvolut von schriftlichen Selbstzeugnissen vorhanden sind16 , findet sich ihre unveröffentlichte Autobiografie im Hauptstaatsarchiv in

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S. Jerusalemer Nachlassverzeichnis im Anhang. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 14.12.1911, Arc.Nr. 01 134: Lazarus-Remy selbst schreibt über die Durchsicht ihrer Tagebücher: »Die Durchsicht der alten kleinen Tagebücher mit ihren blassen, flüchtigen Bleistiftschrift (wie hässlich, undeutlich ist m. Schrift darin!) ist recht mühsam und zeitraubend u. greift die Augen an!«. Lazarus 1898c: »The collection contains the handwritten manuscript for Nahida Ruth Lazarus’s autobiography Ich suchte Dich!, which was published by Verlag Siegfried Cronbach in 1898. Also included is a handwritten and signed postcard from Lazarus to Arnold Tänzer regarding the health of her husband Moritz Lazarus; a handwritten and signed postcard from Lazarus to Arnold Lazarus with mention of a new book about her husband Moritz Lazarus entitled Lazarus, der Begründer der Völkerpsychologie; and handwritten and signed letter from Lazarus detailing a lecture tour on which she embarked.« Ihr literarisches Werkverzeichnis unterteilt sich unter anderem in drei Romane, zehn Novelletten, fünf Biografien historischer Persönlichkeiten, sechs Schauspiele und zwei Komödien. Das journalistische Werkverzeichnis umfasst ca. 50 zugängliche Zeitungsartikel, einige Aufsätze, ein ab-

Einführung

Dresden. Dabei handelt es sich um ein 180seitiges Manuskript ihrer zweiten Autobiografie betitelt mit Mein Leben (um 1927 verfasst), das sich in der Typoskript-Version in zwei Bände unterteilt (Mein Leben I+II).17 Während der erste Band ihrer unveröffentlichten Autobiografie Mein Leben I ebenfalls in Dresden als überwiegend textidentisches 80seitiges Typoskript vorliegt, fehlt die maschinengeschriebene Version des zweiten Bandes ihrer Autobiografie, deren Existenz allerdings durch Tagebucheinträge gesichert ist.18 Des Weiteren findet sich im Archiv der Universitätsbibliothek Leipzig ein Aktenkonvolut aus der NS-Zeit, in dem ihr Testament von 1913 mit ihrem Wunsch eine Nahida Lazarus-Stiftung zu gründen, verwahrt wird (s.Kap. I, 3.3). Die in der National Library of Jerusalem befindliche Briefsammlung, die berufliche wie auch private Korrespondenz enthält, trägt neben ihren autobiographischen Lebensangaben sowie Tagebuchnotizen zur Rekonstruktion ihrer familiären Konstellation (Genealogie) bei und ermöglicht Rückschlüsse auf Lazarus-Remys Lebensumstände. Darüber hinaus geben die Einbürgerungsakten des Stadtarchivs Berlin sowie des Kirchenarchivs der evangelischen Matthäus-Gemeinde in Berlin Auskunft über ihre familiäre Situation.19 Zur ausführlichen Erschließung ihrer schriftstellerischen Berufstätigkeit und ihres projüdischen Engagements in der Öffentlichkeit sind ebenfalls vor allem die Materialen aus dem Lazarus-Nachlass ergiebig. Neben den Briefen, veröffentlichten Werken und Vorträgen sind für ihre berufliche sowie apologetische Entwicklung auch die im Archiv vorhandenen zeitgenössischen Zeitungsartikel über ihre Konversionserzählung, sowie zahlreiche Rezensionen und Kritiken zu ihren weiteren populärwissenschaftlichen und feuilletonistischen Werken hilfreich.

Methoden und Zielsetzungen In heutigen literaturwissenschaftlichen Diskursen wird das Problem des Wahrheitsgehaltes innerhalb eines autobiographischen Textes immer wieder stark diskutiert. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass der Autor in seinen Autobiografien und Selbstzeugnissen ein bestimmtes Bild von sich darzustellen versucht, indem er Tatsachen verkläre oder sogar verfälsche.20 Allerdings dient die Autobiografie als schriftliches Mittel für individuelle Selbstdarstellung, worin meiner Ansicht nach immer ein Stück Authentizität enthalten ist. Da autobiographische Erzählungen und Selbstzeugnisse für Historiker und Literaturwissenschaftler oftmals die einzigen hinterlassenen Quellen sind, aus denen gewinnbringende Informationen über das Denken, Fühlen und

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gedrucktes Vortragsmanuskript und historische Abhandlungen. Eine ausführlichere Aufstellung s.Bibl. Verwiesen wird in dieser Arbeit auf die Quellen Mein Leben I: Lazarus-Remy 1927a und Mein Leben II: Lazarus-Remy um 1927b. Vgl. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 05.06.1927, Arc.Nr. 01 134. Im Zusammenhang dieser Nachforschungen wurde der Briefnachlass von Moritz Lazarus, der 1.366 Stücke umfasst und im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin verwahrt wird, nach Briefen von und an Lazarus-Remy durchsucht und miteingebunden. Siehe Digitalisate: Humboldt-Universität zu Berlin 1925. Günther 2001: 34f.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Glauben vom Erzähler selbst berichtet werden, sind in solchen autobiographischen Darstellungen auch private Informationen von den verstorbenen Erzählern enthalten, die für einen wissenschaftlichen Hintergrund sehr wichtig sein können.21 LazarusRemy notiert diesbezüglich in ihrem Tagebuch von 1921: »Ein denkwürdiger Tag! Habe heute Nachmittag die letzte Seite an meiner Lebensbeschreibung Mein Leben [Herv. i.O.] geschrieben. Fertig – Gott gebe seinen Segen! – Nun beginne ich bald die Durchsicht des Ganzen, von Anfang an, um es tadellos druckfertig zu machen. […] Ich will durchaus einfach, wahr und schön bleiben. Der Sinn dafür ist mir doch erst jetzt erschlossen worden. Wodurch? Vielleicht hat die grosse furchtbare Jetztzeit alles mehr Minderwertige in mir zermalmt [Herv. i.O.].«22 Der Problematik des Wahrheitsgehaltes von autobiografischen Quellen wurde bereits in den zeitgenössischen Rezensionen über ihre Konversionserzählung Ich suchte Dich! erwähnt und wie folgt beurteilt: »In zehn Kapiteln […] entrollt uns die Verfasserin ein getreues Bild ihres Lebens in einer Weise, der man, auch wenn man dieses Leben selbst nicht kennt, es anmerkt, da sie die erste Pflicht des Autobiographen, die unbedingte Wahrhaftigkeit, sich zum obersten Gesetz gemacht hat. Sie hat die Energie und den Willen, die offene Seele, die das Wahre sucht. […] Sie verschweigt nichts von den Störungen ihres Lebensfriedens, sie umgeht nicht peinliche Situationen, weil sonst der Leser nur zu leicht merken könnte, dass die Rechnung nicht stimme. Alles, was hemmend oder hebend, bedingend oder bestimmend in ihr Leben eingegriffen, soweit sich dies vor allem auf das religiöse Leben bezieht, wird hier unbefangen und in künstlerischer Weise geschildert.«23

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Vgl. Kaplan 1997: 21. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 15.08.1921, Arc.Nr. 01 134. Karpeles 1897: 500. Vgl. auch »Selbstbiographien hochherziger Frauen, die den Kampf mit den Vorurteilen der Gesellschaft wacker durchgefochten, bieten ein eigentümliches Interesse gemischter Art. Verdienen schon die dargestellten Erlebnisse unsern warmen Anteil, so richtet sich unser Hauptaugenmerk doch auf die Art und Weise der Darstellung; hier wie dort verlangen wir die Frau zu erkennen, die, wie sie das Schicksal weiblich erträgt, so auch in der Darstellung desselben ihren weiblichen Charakter nicht verleugnen darf. Die Frau, die mit ihren Selbstbekenntnissen vor die Oeffentlichkeit tritt, wagt einen kühneren Schritt als in solchem Falle der Mann. Wahrhaftigkeit und Zurückhaltung – beides erwartet man von ihr, und der notwendige Ausgleich zwischen beiden wird in schwierigen Konflikten leicht zur Unwahrheit oder zur Unweiblichkeit verleitet. Nur außerordentliche Frauen bleiben auch als Schriftstellerinnen durch die ›Mauer der Schicklichkeit‹, die das weibliche Geschlecht umgiebt, vor jenen Abwegen bewahrt und verstehen es durch Offenherzigkeit und Grazie die schwierigsten Probleme der Frauenschriftstellerei zu lösen. […] Es ist erstaunlich, was für interessante und durch Wahrheit überraschende Züge weiblichen Wesens aus solchen aufrichtigen Frauenbekenntnissen bekannt werden. Ich will aus dem Buch der Nahida Lazarus nur ein Beispiel anführen. Als der Redakteur einer Berliner Zeitung der jungen Dame, die er nur einmal und flüchtig gesehen, seinen Besuch ankündigte, um ihr ein von ihr erbetenes Buch zum Lesen zu leihen, da weiß sie – woher und wie, vermöchte sie nicht zu sagen – aber augenblicklich fühlt und weiß sie es und spricht aus: ›Also das wird mein Mann.‹ – Der Besuch erscheint, man spricht von diesem und jenem, scheinbar ohne innere Berührung, und der Besuch entfernt sich wieder. Aber sie weiß es noch immer, so fest wie vorher. Und sie hatte sich nicht getäuscht.«

Einführung

Auch diese Arbeit nimmt die autobiographischen Quellen sowie die ausgewählten populärwissenschaftlichen Werke, Zeitungsartikel und Vorträge mit den darin enthaltenen Äußerungen als historische Quelle ihrer tatsächlichen Lebensumstände sowie Meinung auf. Ausgenommen wurden ihre belletristischen Werke, da die darin enthaltenen Aussagen der Protagonisten keine direkte Wiedergabe der persönlichen Einstellung oder Lebensumstände der Autorin darstellen, es sei denn, die Autorin verweist selbst auf enthaltene autobiographische Zusammenhänge, wie es Lazarus-Remy an einigen Stellen ihrer belletristischen Werke getan hat.24 Folglich enthalten die für diese Forschungsarbeit vorliegenden autobiographischen Quellen wichtige Sachinformationen über die Person, aber auch über ihre Lebenswelt und über die Lebenswelt bestimmter gesellschaftlichen Gruppen oder Schichten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Darin enthalten sind bestimmte Auskünfte über soziale und materielle Verhältnisse und kulturelle Praktiken. So kann dargestellt werden, in welchem sozialen Umfeld Lazarus-Remy aufwuchs, wie sie wohnte, welche Werte innerhalb ihrer Herkunftsfamilie, aber auch innerhalb der Familie ihres ersten Mannes (Max Remy) gepflegt wurden, welche Bildungsinstitutionen und welchen Berufsweg sie durchlief, wie sie ihre Freizeit gestaltete oder welche Rolle der Arbeits- und Haushaltsalltag für sie spielte. Ferner können durch ihre Selbstzeugnisse Einblicke in ihre Erfahrungen, Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster, Wertesysteme, Normen, Mentalitäten sowie Weltbilder gewonnen und diese wieder für die Rekonstruktion einer Biografie sowie ihrer religiösen Überzeugungen genutzt werden.25 Ziel ist es, ihre Identitätsveränderung, ihre konfessorischen Identitätskriterien, ihre soziale Gruppenzugehörigkeit sowie ihre gesellschaftliche Selbstdefinition anhand der themenspezifischen Schwerpunkte dieser Forschungsarbeit herauszustellen. Dafür musste neben der Analyse und Klassifikation der autobiographischen sowie der literarischen Erzählinhalte auch die Analyse der Erzählsituation und -intention stattfinden. Dabei steht die Analysemethode der Kontextualisierung im Vordergrund, worin der vorliegende Text aus seinem historischen Zusammenhang gesehen, gelesen und interpretiert wird, um Verbindungen zu historischen, sozialen, politischen und kulturellen sowie gendergeschichtlichen Zusammenhängen herstellen zu können. Folglich werden die Schreibsituation und die darin mitgeteilten Inhalte im historischen Zusammenhang und nicht separat analysiert. Diese voneinander isoliert zu betrachten, verfälscht das

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In: O.v.G. 1898: 31. Diese Rezension wird in der Allgemeinen Israelitischen Wochenschrift. Nr. 10: 155 als hochinteressante und erstmalige nichtjüdische Rezension vollständig zitiert. Näheres zu den Rezensionen des Buches Das jüdische Weib siehe Kap. II, 5. Die Allgemeine Israelitische Wochenschrift (1895–1905) erschien von 1870–1894 unter dem Titel Israelitische Wochenschrift und enthielt Aufsätze »über religiöse Fragen, soziale, historische und politische Themen und Artikel über Tradition, religiöses Brauchtum und Literatur«. Vgl. https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/id/479483 8. Es sind in einigen ihrer belletristischen Werke persönliche Lebensabschnitte verwoben worden. Das reicht von dem 1885 publizierten Roman Sizilianische Novellen, in dem sie eine ihrer italienischen Reisen in dem Kap. Die Banditen geschildert haben soll, bis zum zweibändigen Roman Geheime Gewalten von 1890, in welchem sie ihre persönlichen Erfahrungen aus dem Klosterleben im 3. Kap. Die Klosterschülerin detailliert ausgeführt haben soll. Vgl. dazu Stephan 2005: 12.

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Ausgesagte und führt zu einer falschen Interpretation, da der berichtete Inhalt lediglich auf seine referenzielle Dimension reduziert werden würde. Es wird deutlich, dass vor allem der Umgang mit Selbstzeugnissen einen kritischen Blick und objektive Distanzierung benötigt, um eine sorgfältige Quellenanalyse und -auswertung zu ermöglichen. Die verwendeten autobiographischen Quellen werden in dieser Forschungsarbeit als historische Quellen mit den darin enthaltenen Gattungsund Strukturmerkmalen angesehen und dementsprechend ausgewertet.26 Methodisch musste neben der kontextuellen Erschließung zunächst die Verortung der Quellen erschlossen werden, um zu einer angemessenen Bewertung des Sachverhaltes zu gelangen. Dabei stellte sich unter anderem die Frage, wann die Selbstzeugnisse verfasst wurden und welcher Berichtszeitraum sich dabei jeweils wiederfindet. Welche Funktion weisen die genutzten Quellen auf und an wen wurden diese adressiert? Aufgrund der Quellenlage kann der Untersuchungszeitraum auf die folgenden zeitlichen Abschnitte eingegrenzt werden: beginnend mit der Vormärzrevolution (1848/49) bis zum Kaiserreich (1871–1918) und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1867–1918) endet die geschichtliche Eingrenzung mit der nach dem Ersten Weltkrieg folgenden Deutsch-Österreichischen Regierung (1918–1919), der anschließenden Republik Österreich (1918–1938) und der Übernahme Südtirols durch Italien (1919). Ausgehend von Lazarus-Remys familiärer Herkunft sowie bestimmten Aspekten ihres Lebenswandels kam eine nähere Betrachtung des bürgerlichen Milieus in Frage. Folglich lässt sich vor allem im Hintergrund ihres projüdischen Engagements sowie ihres Übertrittes zum Judentum bereits an dieser Stelle auf Lazarus-Remys besonderen Stellenwert in der kontextuellen Betrachtung des weiblich-jüdischen Bürgertums hinweisen. Neben der Analyse der autobiographischen Quellen, wird im II. Kapitel vor allem auf den Inhalt und Gehalt des Buches Das jüdische Weib eingegangen.27 Das Werk erschien in vier Auflagen (1891–1922) und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Aufgrund der noch zugänglichen 3. (wohlfeilen) Auflage von 1896 wird in dieser Arbeit ausschließlich aus dieser Ausgabe zitiert.28 Die Zitate aus diesem Werk sowie aus den autobiographischen Quellen entsprechen alle dem Original, es wurden keine grammatischen Korrekturen vorgenommen. Inhaltliche sowie rechtschriftliche Auffälligkeiten wurden mit [sic!] angezeigt und Hervorhebungen im Original wurden in Klammern gesetzt [Herv. i.O.]. Da die hier verwendeten biographischen Quellen größtenteils ungedruckt sind, habe ich mich entschieden, sie ausführlich zu zitieren und die verwendete alte Rechtschreibung beizubehalten. Bibelzitate, die von Lazarus-Remy zitiert werden, entsprechen der Bibelübersetzung der Luther-Ausgabe letzter Hand von 1545. Alle übrigen Bibelzitate sind Übersetzungen aus der Lutherbibel von 1984. Mit Nennung der weiblichen (männlichen)

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Auch Marion Kaplan betont, dass autobiographische Schriften von (deutschen) Juden und Jüdinnen wesentliche Quellen für die jüdische Geschichte darstellen, in: Kaplan 1997: 21: »Auch jenseits von Rückprojektion und idealisierten Vergangenheitsbildern, die eine sensible historische Quellenanalyse ausfindig macht, böten Memoiren noch genügend Material, das sozialhistorisch relevant sei.« Die Erörterung zu Methode und Zielsetzung der Analyse von Das jüdische Weib siehe Kap. II: 180. Digitalisate der verschiedenen Ausgaben finden sich unter: archive.org 2018.

Einführung

Funktionsbeschreibung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche (weibliche) Form gemeint.

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I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Drei Jahre nach Lazarus-Remys Konversion 1895 veröffentlicht sie eine autobiografische Konversionserzählung (Ich suchte Dich!)1 über ihren Übertritt zum Judentum, wobei der Berichtszeitraum der Erzählung eine Zeitspanne von 41 Jahren (seit ihrem 5. Lebensjahr bis zu ihrer Konversion 1895) umfasst. In zehn Kapiteln von durchschnittlich 16 Seiten beschreibt sie ausführlich ihren Weg zum Judentum (s.Kap. III). Diese autobiographische Publikation legt als Konversionserzählung2 einen Schwerpunkt auf ihre sich wandelnde Glaubensidentität und stellt als in Prosa formulierter Text ihr individuelles Leben und dessen Entwicklungsverlauf pointiert dar.3 Zumeist sind autobiographische Texte vom Autor so geordnet und formuliert, dass die Schreibintention ihre Wirkung entfaltet, womit sich jede Autobiografie an unterschiedliche Zielgruppen richtet. So kann beispielsweise ein Grund für das Schreiben von autobiographischen Texten die Rechtfertigung von bestimmten (politischen oder religiösen) Handlungen sein, oder das Bedürfnis, das eigene individuelle Leben persönlich darzustellen. Bei den mir vorliegenden Autobiografien dient die veröffentlichte Konversionserzählung Ich suchte Dich! vor allem dazu, Lazarus-Remys Konversionsweg zu beschreiben, mit dem Ziel ihre christliche sowie jüdische Leserschaft aufzuklären und ihrem apologetischen Handeln durch ihr öffentliches Bekenntnis mehr Gewichtung zu verleihen.4 Zunächst berichtet sie fast schon polemisch über ihr altes christliches Umfeld, zu dem sie sich nie richtig zugehörig fühlte. Im Mittelpunkt beschreibt sie den Moment ihres Identitätswandels, der sowohl durch 1

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Lazarus 1898b. Das Digitalisat des Manuskriptes findet sich unter: Lazarus 1898c. Am 27. Mai 1898 erscheint im Jewish Comment (Baltimore) die Notiz, dass die amerikanische Essayistin Louise Mannheimer (1856–1950) ebenfalls beabsichtigte eine englische Übersetzung der Konversionserzählung Ich suchte Dich! zu verfassen, was allerdings nicht realisiert wurde, in: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebuchvermerk mit dazugehörendem Zeitungsausschnitt, Arc.Nr. 01 132. Schon der Titel der Erzählung Ich suchte Dich! Eine Erzählung von Nahida Remy legt nahe, dass diese Konversionserzählung als ein herausragendes Beispiel für die These der Konversion als Erzählung gelten kann. Vgl. Kilcher 2012: 51. Es handelt sich um die Konversionserzählung Ich suchte Dich!, die zum einen die Kategorie weibliche sowie jüdische Autobiographie und zum anderen die Kategorie autobiographische Konversionserzählung abdeckt. S.Kap. III, 2.1.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

das Kennenlernen des jüdischen Völkerpsychologen Moritz Lazarus (1824–1903) als auch durch den langen Prozess ihres autodidaktischen Studiums über das Judentum zu einer allmählichen Transformation führte, woraufhin sie ihren endgültigen Übertritt zum jüdischen Glauben apologetisch begründend als Art eines ursprünglich ihr innewohnenden Glaubens beschreibt. Während ihre Erzählung Ich suchte Dich! das autobiographische Material als Konversionserzählung organisiert, wird das Typoskript der Autobiografie Mein Leben I+II5 als Liebeserzählung konzipiert, in der eine zunächst schüchterne und unsichere LazarusRemy dargestellt wird, die durch intellektuelle und gesellschaftliche Kontakte in die Rolle der selbstständigen Schriftstellerin hineinwächst. Es handelt sich bei der Autobiografie Mein Leben I+II um eine persönliche Autobiografie über ihre individuelle Entwicklung, ihre geheime Liebesbeziehung mit Moritz Lazarus und die Erfüllung in der ersehnten Ehe mit ihm. Folglich steht darin vor allem ihre individuelle Lebensgeschichte im Fokus, die beginnend von ihrer Kindheit an bis zum Tod ihres zweiten Mannes Moritz Lazarus detailliert beschrieben wird. Während Mein Leben I in zehn Kapiteln6 ihre Kindheits-, Jugend- und ersten Ehejahre mit Max Remy (1839–1881) schildert, wird in der Mein Leben II vor allem Lazarus-Remys Lebensabschnitt, der von Lazarus geprägt war, in 14 Kapiteln7 detailliert beschrieben. Sie bemüht sich in ihrer unveröffentlichten Autobiografie (Mein Leben I+II) um eine ganzheitliche und zusammenhängende Darstellung ihres Lebens, die mit dem Tod ihres zweiten Mannes endet. Die darauffolgenden Jahre lassen sich für den biographischen Teil dieser Forschungsarbeit nur noch anhand ihrer Tagebücher rekonstruieren, durch die jedoch deutlich wird, dass sie in der Tat nach dem Tod ihres geliebten Mannes ihr Leben als beendet betrachtete und nur noch einen Lebenssinn in ihrer Arbeit als Nachlassverwalterin von Lazarus sah.8 Ihr autobiografisches Werk Mein Leben I+II kann als ein hybrides Werk aus persönlicher Lebensbeschreibung, landeskundlichen Informationen, kulturellen Studien sowie stellenweise als ein politischer Traktat beschrieben werden. Im Vergleich zur Konversionserzählung Ich suchte Dich! lässt sich eine deutlichere Intensität von Politik- und Reiseberichten sowie einer persönlichen Würdigung ihrer Mutter in Mein Leben I+II erkennen.9 Beide Werke haben neben ihren inhaltlichen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten. Beide schildern ihren intensiven Gottesglauben, an dem sie beharrlich bis zum Lebens-

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S. Einführung. Inhaltsverzeichnis der Autobiografie Mein Leben I: 1. Wanderungen, 2. Wandelungen, 3. Gefahren, 4. Neues Leben, 5. Politisches und Psychologisches, 6. Meerfahrt. Rückkehr in die Heimat, 7. Der Siebenjährige Kriegsnöten (1866), 8. Theaterleben, 9. Freut Euch mit Zittern (Ps 2,11), 10. Tollheit oder göttliche Eingebung. Inhaltsverzeichnis der Autobiografie Mein Leben II: 11. –, 12. Per aspera ad astra!, 13. Fortsetzung des Kampfes um die Existenz, 14. Jungfräuliches Witwentum, 15. Italienische Irr- und Wirrfahrten, 16. Mensch denkt, Gott lenkt, 17. Moderne Kreuzträger. Ein Blatt über Goethe, 18. Meine Vortragsreisen durch Deutschland und Holland, 19. Seelenpein. Mit Steinthals in Schönefeld und Herrenhalb. Fortsetzung der Vorträge, 20. Drohende Schatten, 21. Zögerndes Glück, 22. Wellenbewegungen des Daseins, 23. Nizza, Lazarus-Wochenende in Wien. Letzter Sommer in Schönefeld. Meran. 24. Letzte Reise, letzter Geburtstag. Heimgang. S.Kap. I, 3.3. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 12: »Jetzt ein Neues: Politik!«.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

ende festhält. Die politischen und religiösen Beschreibungen in ihren autobiografischen Werken (Ich suchte Dich! und Mein Leben I+II) sowie weiterer autobiographischen Quellen erhalten durch Lazarus-Remy, die als Zeitzeugin die historischen Begebenheiten z.T. unmittelbar miterlebt hat, eine höhere Authentizität10 . Hat man, so wie in diesem Fall, zwei Autobiografien zur Hand, lassen sich die absichtlichen oder unabsichtlichen inhaltlichen Veränderungen belegen. Ziel in meiner Untersuchung ist es, bei der Analyse von Lazarus-Remys Selbstzeugnissen neben dem Ausgesagten auch nach den darin enthaltenen Lücken zu fragen, die durch Auslassungen, Brüche und Widersprüche im Text entstehen. Was wird von ihr undeutlich oder sogar verschleiert mitgeteilt? Und was ganz eindeutig von ihr weggelassen? Diese Fragen nach den unausgesprochenen, verdrängten oder versteckten Aspekten sind für die Rekonstruktion ihres individuellen Lebens wesentlich und geben unter Umständen mehr über Lazarus-Remy, ihre Selbstwahrnehmung sowie den Sinn und die Bedeutung ihrer Selbstdarstellung preis als der eigentliche Wortlaut des Textes. In ihrer Autobiografie Mein Leben I+II wird z.T. ein anderer biographischer Lebensweg skizziert, der meinen Recherchen nach auch eher den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht als die erwähnten Daten in ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich!. Während sie beispielsweise in ihrer Konversionserzählung den Tod ihrer Großtante Jette als Grund für ihr Kunststudium angibt11 , womit der Tod auf das Jahr 1865 gelegt werden müsste, wird in Mein Leben I klargestellt, dass sie noch zu Lebzeiten ihrer Großtante wegen ihrer Mutter nach Berlin zurückkehrt und dort zunächst nebenbei Kunst studierte. Ihre Großtante verstarb erst einige Jahre darauf, was keine Auswirkungen auf ihre Kunst- oder Theaterlaufbahn hatte. Ebenfalls werden besondere Lebensabschnitte, wie ihr Theaterleben, ihre Existenzschaffung als freischaffende Schriftstellerin oder ihr geheime Beziehung zu Lazarus in ihrer Konversionserzählung völlig ausgeblendet, diese jedoch konnten durch die Autobiografie Mein Leben I+II wieder rekonstruiert werden. Es wird deutlich, dass einige geschilderte Lebenserfahrungen, die in ihrem autobiografischen Material (Ich suchte Dich! und Mein Leben I) vorkommen, resultierend aus der Schreibintention z.T. anders dargestellt und gewichtet werden. Am ausdrücklichsten lässt sich dies an dem »seltsamen Verhältnis« zwischen Sturmhoefel d.J. und der Gräfin St. Germain erkennen12 . Während in der Konversionserzählung das Augenmerk darauf gelenkt ist, ihr Martyrium bei der Gräfin St. Germain darzustellen, besinnt sich Lazarus-Remy in Mein Leben I darauf, dass sie die Begebenheiten bei der Gräfin St. Germain aus der Sicht eines kleinen Kindes auch falsch aufgefasst haben könnte: »Damals verstand ich sie nicht …. Meine Kurzsichtigkeit spielte wieder ihre verhängnisvolle Rolle! – Hätte ich den Blick der alten Frau gesehen, der sich wohl freundlich, liebevoll, ja liebeheischend zu mir wandte, ich hätte sie verstanden, und wäre ihr vielleicht um den Hals gefallen. – Wie sehr mag sie sich darnach gesehnt haben! – Kinder10 11

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Der Authentizitätsbegriff ist umstritten, vgl. dazu Amrein 2009; Kreutzer und Niemand 2016. Lazarus 1898b: 163: »Das kleine Baarvermögen [sic!], dass sie von der Großtante geerbt (deren wiederholte unter Thränen der Rührung abgegebene Versicherung, sie zur Universalerbin eingesetzt zu haben, nicht in Erfüllung gegangen war) genügte, um sie in den Stand zu setzen, jahrelang dem kostspieligen Studium der Malerei obzuliegen«. Lazarus-Remy 1927a: 16.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

los, trotz aller Huldigung vereinsamt …. Leer ihr Herz, das Gemüt unbefriedigt – führt ihr das Schicksal ein Kind ins Haus, dem sie Gutes erweist, das sie liebt – - und dies Kind fürchtet sie, misstraut ihr …. Hält sie für kalt, stolz, unnahbar …. Bleibt fremd und zurückhaltend. Sie musste diese Fremdheit für Trotz, diese Zurückhaltung für Undankbarkeit halten! – Heute, da Erinnerung an Erinnerung aus dem Schacht der Vergangenheit emporsteigt, verstehe ich jenes Handgreifen …. Jenen längst verklungenen Seufzer: die Gräfin glaubte, das liebkosende Streicheln der Kinderhand gelte ihr – und es galt nur ihrem Kleide! – Arme, reiche Frau!«13 Es konnte aufgezeigt werden, dass die Autobiografien unterschiedliche Intentionen verfolgen. Während die Konversionserzählung vor allem ihren ›Seelenkampf‹ und Glaubensweg beschreibt und darin eine deutliche Kritik am christlichen Klerus ausspricht, ist die Autobiografie Mein Leben I+II eine ›Lebensbeschreibung‹ ohne den Fokus auf ihren religiösen Glauben, der allerdings auch nicht verschwiegen wird. Es handelt sich vor allem um eine sehr ausführliche Lebensbeschreibung, die auch ihre Reisebeschreibungen sowie ihren Patriotismus für Italien, der sich noch stärker in ihren Tagebüchern ausdrückt, erklärt. Da sich die autobiographischen Informationen sowohl innerhalb der beiden Autobiografien als auch ihren weiteren handschriftlichen Selbstzeugnissen z.T. widersprechen, wird sich in dieser Forschungsarbeit im Zweifelsfall vor allem auf die Informationen aus der Autobiografie Mein Leben I+II gestützt, da deren geschilderte Lebensereignisse und -daten dem tatsächlichen chronologischen Lebensverlauf folgen. Für die Rekonstruktion ihrer Lebenszeit ab 1903, womit die Autobiografie Mein Leben II schließt, werden vor allem ihre Tagebücher (1895–1928) und schriftlichen Notizen aus dem Lazarus-Archiv herangezogen.

1. Nahida Sturmhoefel d.J., die Getaufte 1.1

Soziokulturelle Prägungen und frühkindliches Wanderleben (1849–1863)

1.1.1

Familiäre Zerrüttung (1849–1854)

»An dem Tage, da die Lesung der neuen deutschen Reichsverfassung beendet wurde, zwei Monate vor jenem ergreifenden dramatischen Auftritt im königlichen Schloss zu Berlin, als Simson an der Spitze der Deputation dem König die deutsche Kaiserkrone anbot – am 3. Februar 1849 wurde ich geboren.«14 Nahida Sturmhoefel d.J. wurde als uneheliches Kind von Nahida Sturmhoefel d.Ä. (1822–1889) und Max Schasler (1819–1903) in Berlin in der Zeit der Revolution und des Liberalismus geboren und wegen der Abwesenheit des Vaters von ihrer allein-

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Ebd. Lazarus-Remy 1927a. Die Deputation der Frankfurter Nationalversammlung unter Parlamentspräsidenten Eduard Simson fand am 3. Apr. 1849 statt.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

erziehenden Mutter großgezogen.15 In der Märzrevolution von 1848 wurden im aus vielen Einzelstaaten bestehenden Deutschland, angeführt vom städtischen liberalen Bürgertum die revolutionären Forderungen nach persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit, freien Wahlen und vor allem nach einem einheitlichen Deutschland erhoben. Auch Sturmhoefels d.J. Eltern waren engagierte Verfechter der 1848er Revolution, in der sich auch Frauen immer aktiver für ihre Rechte einsetzten. Ihr Vater Maximilian Alexander Friedrich Schasler wurde 1819 in westpreußischen Deutsch-Crone, heute Wałcz, geboren. Er besuchte das Gymnasium in Bromberg und studierte anschließend evangelische Theologie an der Albertus-Universität in Königsberg (1841–42) und in Berlin (1843–45). Neben sprachwissenschaftlichen Vorlesungen beispielsweise von Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann (1811–1881) besuchte Schasler unter anderem auch die philosophischen Vorlesungen des Hegel-Schülers Johann Karl Friedrich Rosenkranz (1805–1879), dem er seine philosophische Ausrichtung verdankte. 1845 promovierte er mit der Dissertation De origine et formatione pronominum et priorum numerorum an der Berliner Universität.16 Seine revolutionäre Einstellung führte dazu, dass er sich seit 1848 als journalistischer Mitarbeiter am satirischen Wochenblatt Kladderadatsch (1848–1944) engagierte und sich aktiv als politischer Führer der Revolution 1848/49 beteiligte. Resultierend daraus wurde er wegen revolutionärer Tätigkeiten im Geburtsjahr seiner Tochter 1849 aus Berlin ausgewiesen.17 Die Beziehung des Paares endete bereits vor der Geburt Sturmhoefels d.J., als Schasler die Verlobung aufhob. Sturmhoefel d.J. diktiert der Schriftstellerin Sophie Pataky (1860–1915), die einen Artikel über Sturmhoefel d.Ä. in ihrem Lexikon der Deutschen Frauen der Feder veröffentlichte: »Zu den mannigfachen Enttäuschungen ihres vielgeprüften Daseins gehörte der Treubruch des Mannes, mit dem sie einen Bund fürs Leben geschlossen zu haben glaubte: er verliess sie und Nahida.«18 Schasler reiste nach Heidelberg und Leipzig und kehrte erst 1851 nach Berlin zurück, wo ihm wegen seiner revolutionären Aktivitäten eine politische Tätigkeit weiterhin untersagt blieb. Infolgedessen legte er seinen schriftstellerischen Schwerpunkt seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Geschichte der Kunst und Kunstkritik und wurde zu einem der angesehensten zeitgenössischen Kunstkritiker. Von 1862 bis 15

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Vgl. Pataky 1898b: 348. Auch Lazarus-Remy bestätigt dies unter anderem in ihrer Konversionserzählung, dass sie ohne einen anwesenden Vater aufwuchs: »Seit sie keinen Vater mehr hatte.« In: Lazarus 1898b: 5. In: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117110515.html?language=en. 1843–1846 nutzte er seine Tätigkeit als Privatlehrer, um sich finanziell unabhängig zu machen, sodass er sich auf eine akademische Laufbahn vorbereiten konnte. Seine Habilitationsschrift »Die Elemente der philosophischen Sprachwissenschaft Wilhelm v. Humboldts« (gedr. 1847) wurde jedoch von dem AntiHegelianer Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) zurückgewiesen. Diese Schrift ermöglichte Schasler jedoch die Aufnahme in die (hegelsche) »Philosophische Gesellschaft«, deren Vorsitz er in den 70er Jahren des 19. Jh.s übernahm. 1872 veröffentlichte er das Werk »Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst«. Seit 1877 übte er seine kunstkritische Tätigkeit in Rudolstadt, Meiningen und Jena aus, wo 1884 ein letzter Habilitationsversuch am Widerstand des Kantianers Otto Liebmann (1840–1912) scheiterte. Vgl. Henckmann 2005. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebuch von Nahida Sturmhoefel, Arc.Nr. 01 137. Pataky 1898b: 348. Vgl. Originaltext durch schriftliche Korrespondenz zwischen Nahida Lazarus und Sophie Pataky: Pataky 1898a.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

1875 übernahm er die Herausgabe der Berliner Kunstzeitung Dioskuren – Hauptorgan der deutschen Kunstvereine (1856–1875).19 Obwohl er zum selben Zeitpunkt wie seine Tochter in Berlin (ab 1865) lebte, hatten beide, laut Sturmhoefels d.J. Angaben, keinen eingehenden persönlichen Kontakt. Sie erwähnt in ihren autobiographischen Schriften kaum persönliche Informationen über ihren Vater, es findet sich aber in Mein Leben II eine kurze Randnotiz über ihre Leidenschaft zum Schachspiel: »es ist das Einzige, das ich meinem Vater verdanke. Er lehrte es mich, als wir in den 60. Jahren [sic!] aus Italien nach Berlin zurückkehrten.«20 Sonstige Informationen zur Beziehung zwischen den beiden fehlen. Erst am 16. Juni 1903 notiert Sturmhoefel d.J. in ihrem Tagebuch den drei Tage zuvor erfolgten Tod von Schasler. Durch ihren neun Monate jüngeren Halbbruder Franz Aurelius Maximilian Schasler (geb. am 13. November 1849) wird sie am 16. Juni persönlich vom Tod ihres Vaters in Kenntnis gesetzt.21 Anhand der dürftigen autobiographischen Angaben über ihren Vater kann ausgesagt werden, dass sie die Beziehung zu Schasler zeitlebens als schwierig ansah. Sie konnte ihrem Vater den ›Treuebruch‹ mit Mathilde Emilie Antonie Schasler, geb. Sack nicht verzeihen, die er im selben Jahr, in dem sie als uneheliche Tochter geboren wurde, heiratete und mit der er eine Familie gründete.22 Sturmhoefels d.J. Mutter, die denselben Vor- und Nachnamen Nahida (Concordia Henriette) Sturmhoefel d.Ä. trägt, stammt aus einer bürgerlich-preußischen Familie aus Flatow, heute Złotów. Sie wurde am 24. November 1822 in Flatow geboren und war Tochter des preußischen Majors Carl Friedrich Wilhelm Sturmhoefel und seiner Frau Concordia Adelheid Caroline Sturmhoefel, geb. Knopff.23 1843/45 zog Sturmhoefel d.Ä. nach Berlin, wo sie sich schriftstellerisch für die Frauenfrage eingesetzt und als »eine der ersten Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation«24 bereits Ende der 48er Jahre des 19. Jahrhunderts in Dresden eine Frauenzeitung gegründet haben soll. In dieser Zeit könnte sie ihren kurzzeitigen Verlobten Schasler kennengelernt haben, mit dem sie sich 1848 den revolutionären Kreisen anschloss. Die nun schwangere Sturmhoefel d.Ä. brachte ihre uneheliche Tochter im Februar 1849 in der geburtshilflichen Abteilung der Berliner

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Digitalisate siehe: Dioskuren 2012. Lazarus-Remy 1927a: 81. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 16.06.1903, Arc.Nr. 01 133: »Nachricht von Franz Schasler, dass am 13. d.M. mein Vater gestorben ist.« Lazarus 1898b: 180: »›Von meinem Vater spreche ich niemals‹, sagte Nahida ernst, ›Er hat meine Mutter sehr unglücklich gemacht‹.« Vgl. The National Library of Israel, Department of Archives: Taufschein von Nahida Sturmhoefel, Arc.Nr. 01 120. Sturmhoefel d.Ä. hatte mindestens zwei Schwestern, die unverheiratete Hermine Sturmhoefel, die in einem Stift arbeitete und Eveline, geb. Sturmhoefel, die Töchter hatte. Sie hatte ebenfalls mindestens einen Bruder Hans Sturmhoefel. Siehe auch: Schrattenthal 1888; Goerke 1981: 455; Pataky 1898b. Lazarus-Remy verfasste um 1920 ein biographisches Manuskript über ihre Mutter (Meine Mutter. Ein Zeit- und Charakterbild), das im Lazarus-Archiv verwahrt wird. In: Pataky 1898b: 348. Nahida Sturmhoefel d.J. habe dies Sophie Pataky diktiert, wofür es jedoch bislang keine Belege gibt. Im Apr. 1849 bis 1850 veröffentlichte die sozialkritische Schriftstellerin Luise Otto-Peters (1819–1895) in Dresden die erste Frauen-Zeitung, in der sie die Sozialkritik und Frauenfrage miteinander verbindet. Die Vermutung, dass Sturmhoefel d.Ä. eventuell an der Redaktion beteiligt war, konnte bislang nicht belegt werden.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Universitätsklinik zur Welt.25 Für ledige Schwangere waren die neuentstandenen Geburtskliniken äußerst attraktiv, da sie dort eine freie Unterkunft, Verpflegung und ärztliche Versorgung während der schwierigen Zeit um die Geburt erhielten.26 Als Gegenleistung wurde von den Schwangeren erwartet, die Wöchnerinnen und ihre Kinder zu betreuen und sich den Studenten und Hebammenschülerinnen für Untersuchungsübungen zur Verfügung zu stellen. Schwangere Frauen aus der Mittelschicht, die sich den Aufenthalt leisten konnten, erhielten ein separates Zimmer, in dem sie anonym ihr Wochenbett halten konnten und nicht für die Lehre zur Verfügung stehen mussten.27 Durch die Aufhebung des Verlöbnisses von Schasler und ihre daraus resultierende Exklusion aus der Familie musste Sturmhoefel d.Ä. im Februar 1849 die Möglichkeit einer betreuten Entbindung in der Berliner Universitätsklinik annehmen. Welche Art der Betreuung sie wahrnahm, ob anonym oder zu Forschungszwecken, bleibt jedoch ungeklärt. Da sie weder von Schasler, der offiziell nicht als Kindsvater registriert wurde, eine Alimentenzahlung erhielt, noch einen Rückhalt in ihrer eigenen Familie fand, war sie völlig auf sich allein gestellt. Sturmhoefel d.J. notiert in Mein Leben II: »Die Tochter des preussischen Majors Sturmhoefel wurde von der Familie verstossen; nicht einmal mir, dem unschuldigen Kinde, gewährte man ein Obdach, es sei denn, dass ich als ›Nichte‹ ausgegeben würde. Dazu war meine Mutter zu stolz.«28 Nachdem Sturmhoefel d.Ä. ihre Tochter in der protestantischen Matthäusgemeinde in Berlin im November 1849 auf die Namen Nahida Anna Maria Konkordia Sturmhoefel hatte taufen lassen29 , beschloss sie im Februar 1850, allein mit ihrer einjährigen Tochter ins Ausland zu gehen. »Welch ein Wagnis, da zur damaligen Zeit das Reisen nicht nur unsäglich umständlich, sondern durch Vorurteile für eine einzelne junge weibliche Person aufsehenerregend, äusserst unschicklich und deshalb gefährlich war,« kommentiert Lazarus-Remy rückblickend in Mein Leben II30 . In Paris angekommen, fand sie zwar bei der Betreuung ihrer Tochter Hilfe von

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Lazarus-Remy 1927a: 1. Schlumbohm 2004: 40. Die Geburt eines Kindes in einer Geburtsklinik ist für das 19. Jh. noch recht ungewöhnlich, da die meisten Kinder zu Hause geboren wurden. Jedoch entstanden seit Mitte des 18. Jh.s vermehrt Gebärhäuser und Geburtskliniken, mit dem Ziel die hohe Mutter- und Säuglingssterberate zu senken und vor allem die Lehre und Wissenschaft im Bereich der Geburtshilfe zu erweitern. Somit wurden die Schwangeren und ihre noch ungeborenen Kinder oft als Forschungsund Lernobjekte für Studierende der Geburtshilfe sowie Hebammen genutzt. Von den in der Regel ledigen Müttern wurde diese Entbindungsmöglichkeit trotzdem als eine Unterstützung in einer schwierigen Lage angesehen. Vgl. ebd.: 51. Fast alle Patientinnen solcher geburtshelfenden Einrichtungen waren nicht verheiratet, sodass die Mehrheit der in der Anstalt geborenen Kinder unehelich war. »Nur 5 % kamen aus der oberen Mittelschicht: Töchter von Professoren, Geistlichen oder Offizieren, allerdings z.T. aus illegitimen Verbindungen.« Eine unverheiratete Frau musste dort keine kirchliche Sanktionierung befürchten. Vgl. ebd.: 39. Vgl. ebd.: 41. Lazarus-Remy 1927a: 1. Vgl. ebd.: 2; 77. Lazarus-Remy 1927a: 1.

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einer »Pflegemutter«31 , der Ehefrau des Glöckners der Kathedrale Notre-Dame, konnte sich aber trotzdem keine längerfristige gesicherte Existenz aufbauen. Auf ihrer weiteren Suche nach einem geeigneten Ort, wo sie für sich und ihre Tochter sorgen konnte, reiste Sturmhoefel d.Ä. 1851 wieder zurück nach Berlin und 1852 weiter nach Flatow, wo sie und ihre Tochter von ihrer alleinstehenden Tante Henriette Knopff (1792–1865) herzlich aufgenommen wurden.32 Bereits zwei Jahre später (1854) entschied sich Sturmhoefel d.Ä. für eine weitere Auslandsreise, die sie und ihre Tochter diesmal Richtung Italien führte. Wenn Frauen trotz der damaligen vielfachen Restriktionen reisten, wurde es häufig als Affront gegen die patriarchale Gesellschaft angesehen. Denn es bewies, dass »Frauen, die alleine reisten, […] selbständig und eigenverantwortlich handeln konnten und des ›Schutzes‹ von männlicher Seite nicht bedurften.«33 Obwohl sich die Frauen das Privileg allein reisen zu dürfen, im beginnenden 19. Jahrhundert erobert hatten, gehörte es weiterhin zur gesellschaftlichen Etikette einen Zweck für die Reise vorbringen zu müssen, wie beispielsweise ein Familienbesuch oder gesundheitliche Motive.34 Das Fehlen eines Ehemannes war auch für Sturmhoefel d.Ä. ein entscheidender sozialer Makel, der gesellschaftliche Zwänge und Vorurteile bedeutete. So gab auch sie eine Erkrankung an den Atemwegen als offiziellen Beweggrund ihrer Italienreise an. In Wahrheit wollte sie ihren bedrückenden Lebensumständen entfliehen, indem sie ihrem Interesse an den neuesten politischen und intellektuellen Entwicklungen Italiens folgte, in der Hoffnung, in einem neuen Land eine Existenz als alleinerziehende Mutter und freischaffende Schriftstellerin erfolgreich verwirklichen zu können. Aus diesem Grund war die Ausreise nach Italien ein logischer Entschluss, um den repressiven Regeln in Deutschland zu entkommen. So zog die alleinerziehende Mutter einer fünfjährigen Tochter 1854, stets auf der Suche nach einem perfekten Existenzplatz, durch das in Herzogtümer und Königreiche geteilte Italien: von Savoyen und dem Großherzogtum Toskana bis zum Königreich Sizilien.35 Durch ihr Engagement in der deutschen Revolution 1848/49 und in der revolutionären Bewegung des Risorgimentos 1859/60 in Süditalien sowie durch ihre schriftstellerische Tätigkeit in Deutschland und Italien konnte sie sich einen großen Freundeskreis von Autoren, Künstlern und Politikern aufbauen, die sich ebenfalls im Kampf um die Einigung Italiens engagierten. Sie bewegte sich in der Folgezeit in literarischen und revolutionären Kreisen, wo sie unter anderem den französischen Schriftsteller Eugène Sue (1804–1857), den Revolutionär Francesco Crispi (1818–1901) und den Redakteur der Triester Zeitung Franz

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Ebd.: »Seine Frau gewann dich so lieb, dass ich dich einige Wochen lang täglich bei den guten Leuten ablieferte. […] Von meiner Mutter Kampf ums Dasein, ihren Irrfahrten zurück in die Heimat, ihren schmerzlichen Trennungen von ihrem Kind, das sie bald hier, bald dort, schlecht und recht – mehr ersteres als zweites – unterzubringen versuchte, darf nicht die Rede sein.« In: ebd.: Henriette Knopff, Tochter des Kreisphysikus Knopff und Schwester von Sturmhoefels d.Ä. Mutter Concordia Sturmhoefel geb. Knopff. Siehe dazu auch tabellarischer Lebenslauf im Anhang (im Folgenden s.TL). Ujma 2007: 35. Vgl. dazu Scheitler 1999. Vgl. Lazarus 1898b: 4f. Sie lebten kurzweilig in Annecy, Marseille, Nizza, Genua, Pisa, Palermo und Neapel. Eine ausführliche Beschreibung der Lebensstationen siehe Kap. I, 1.1; s.WdK im Anhang (Abb. 3).

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

E. Pipitz (1815–1899) kennen lernte.36 Begünstigt durch ihre ausgezeichneten Sprachkenntnisse und ihr Musiktalent arbeitete Sturmhoefel d.Ä. zeitweise als Gouvernante und nebenberuflich als freischaffende Berichterstatterin für verschiedene Tages- und Unterhaltungsblätter, beispielsweise für Die Triester Zeitung und Die Augsburger Allgemeine Zeitung.37 1861/62 setzte sie sich mit dem italienischen Freiheitskämpfer und Schriftsteller Salvatore Morelli (1824–1880) für die Eröffnung des ersten fröbelschen Kindergartens und -asyls in Palermo ein und war damit die erste Mitbegründerin eines fröbelschen Erziehungsinstitutes.38 Im selben Jahr 1861 ließ Sturmhoefel d.Ä. von ihren eigenen Mitteln hunderte Proklamationen drucken, die einen »Appell an alle Frauen, aller Nationen, zur Schaffung eines Weltfriedenbundes im Dienst der Menschlichkeit!«39 beinhalteten. Sie notierte dazu in Mein Leben II: »Diese Gedankentiefe und gefühlswarme Urkunde, […] ist ein rührendes Zeugnis für den hohen Idealismus ihrer Verfasserin und – ihrem merkwürdigen Optimismus inbezug auf Welt und Menschheit. […] Sie [Sturmhoefel d.Ä.] übt eine scharfsichtige Kritik an frühere und gegenwärtige Weltzustände am menschlichen Egoismus, der Knechtschaft, Armut, Hass und Würdelosigkeit, der Mitmenschen nähre … und sie ruft die Frauen aller Länder auf, sich als ›Schwestern‹ zur Abhilfe dieser Uebel zu vereinigen. ›Es wird euch leicht sein, eure Gatten, eure Brüder, eure Söhne, dafür zu gewinnen!‹ – Dieser schwärmerische Aufruf erzeugt Bewunderung ohne Ueberzeugungskraft!«40 Erhielt Sturmhoefel d.Ä. keine Anstellung als Erzieherin oder wurden keine Feuilletons, Essays oder Erzählungen von ihr veröffentlicht, wie beispielsweise 1855 in Nizza, versuchte sie mit handwerklichen Arbeiten wie Stickereien, Anfertigungen von Fotographien oder künstlichen Blumen und dergl. ihren Lebensunterhalt zu sichern. Unter dem Pseudonym St. Hadian veröffentlichte Sturmhoefel d.Ä. ihre »Eindrücke von Land und Leuten in charakteristischen kulturgeschichtlichen Aufsätzen, die leider nicht gesammelt wurden«.41 Die »tief religiöse und humanitäre Natur«42 , wie Sturmhoefel d.Ä. im Lexikon der Deutschen Frauen der Feder von Sophie Pataky beschrieben wird, setzte sich vor allem in ihrem Italienaufenthalt 1860 besonders in Flugschriften und Aufrufen für den Frieden in den italienischen Befreiungskriegen ein. 1866 erlebte sie durch ihren freiwilli-

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Auch werden in Lazarus-Remys Mein Leben I die Schriftsteller und revolutionären Persönlichkeiten wie Giuseppe La Farina (1815–1863), Vittorio Imbriani (1840–1886), Alexandre Dumas (1824–1895), Christina Belgiojoso (1808–1871) und Salvatore Morelli (1824–1880) als Bekannte ihrer Mutter aufgezählt. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 20; 34f. Vgl. Kap. I, 1.1.5. Ebenso die jüdische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Jenny Hirsch (1829–1902). Vgl. ebd.: 46. Eine bürgerliche Tochter erhielt zumeist Französisch-, Englisch- und Klavierunterricht. S.Kap. I, 1.2 Mädchen- und Frauenbildung. Vgl. The National Library of Israel, Department of Archives: Handschriftliche Aufzählung der Wohn- und Handlungsorte von 1852–1869, Arc.Nr. 01 123.3. Lazarus-Remy 1927a: 35: »Es hat wohl Niemand gewusst – ausser Morelli – dass meine Mutter die Erste war, welche Fröbel in Italien eingeführt hat.« Näheres zum Fröbelschen Erziehungskonzept siehe auch Kap. I, 1.1.2. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 35. Ebd. In: Pataky 1898b: 348. Siehe die Bibliografie von Lazarus-Remy im Anhang (im Folgenden s.Bibl.). Pataky 1898b: 348.

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gen Dienst beim Roten Kreuz in den österreichisch-deutschen Grenzländern die Gräuel des italienischen Unabhängigkeitskrieges.43 »Auf den Feldern der Verwundeten, in den Reihen der Sterbenden galt keine Vorsicht, keine Rücksicht auf das eigene Leben. Da galt nur unerschrockene Pflichterfüllung, unbedingte Hingebung. Wie ich [Lazarus-Remy] die Tapfere kannte, würde sie todesmutig jeder Gefahr trotzen, und nur an Jene denken, die ihrer Hilfe bedurften.«44 Nach zehnjährigem Aufenthalt in Italien kehrten Mutter und Tochter 1869 wieder zurück nach Berlin, wo im Berliner Albrechtverlag Sturmhoefels d.Ä. Gedichtband Freie Lieder veröffentlicht und sofort konfisziert wurde. Erst 1887 erschien der Gedichtband erneut in zweiter Auflage. Es handelte sich dabei um einen satirischen Gedichtband, der durch »Nantes Weisheit (›Wilhelm, lieber Wilhelm, ich könnt dir wat sagen, wär’n wir blos mal unter uns allein …‹) […] den Zorn der Zensoren erregte.«45 Am 8. November 1869 wurde aufgrund des Gedichtbandes vom Königlichen Stadtgericht Berlin gegen Sturmhoefel d.Ä. ein gerichtlicher Haftbefehl mit dem Vorwurf der Majestätsbeleidigung beschlossen.46 Sie verließ daraufhin Berlin, sodass die Verhaftung nicht ausgeführt werden konnte und ein Haftbefehl mit Steckbrief im Königlich Preußischen Staatsanzeiger veröffentlicht werden musste, mit dem Aufruf, Sturmhoefel d.Ä. »im Betretungsfalle festzunehmen und […] an die Königliche Stadtvogtei-Direktion«47 abzuliefern. Sie floh zunächst in das italienische Städtchen Como und später nach Wien, wo sie unbehelligt leben konnte. Als die Großmutter Caroline Knopff 1870 verstarb, erbte Sturmhoefel d.Ä. mehrere tausend Taler, die sie für ein Eigenheim im österreichischen Perchtoldsdorf nutzte. 1876 veröffentlichte sie eine Religionsstudie Götzen, Götter und Gott, die sich mit allen Glaubensrichtungen, »von altindischen etc. bis zur neuen Heilslehre in Utah«48 befasste. Lazarus-Remy übernahm mit ihrem damaligen Ehemann Max Remy (1839–1881) die Korrektur. Sie versuchten das »überaus fleissige Werk zu fördern, aber der Erfolg blieb aus«49 . Seit der Ehe mit Max Remy unterstützte sie die Werke ihrer Mutter durch Korrekturarbeiten und Vermittlung literarischer Kontakte. So warb sie im Frühling 1882 bei den Schriftstellern und Dramatikern Siegfried Rosenfeld (1840–1936) und Siegbert Meyer (1840–1883), bei Komponisten wie Maurice Strakosch (1825–1887) sowie bei Agenten und Direktoren für das fünfaktige Opernlibretto König von Juda. Der Dramatiker Fels rühmte die humoristische Seite des Werkes, fand es jedoch für eine Aufführung nicht geeignet. »Wenn sie doch einmal einen Erfolg hätte! Hoffnung ist freilich gar keine. Sie hat nicht die geringste Bühnenkenntnis, keine poetische Einsicht und leider, leider gar keine Selbstkritik!«50 , schreibt Lazarus-Remy in Mein Leben II. Sie motivierte ihre Mutter, weiter an der Sammlung und Veröffentlichung ihrer schönsten Gedichte zu arbeiten, 43 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. Pataky 1898b: 348. Lazarus-Remy 1927a: 51. In: ebd.: 65: »Die darin vorkommenden politischen Hiebe sind in der Tat so kühn, und zugleich von packender Kürze und Komik!« Vgl. Königliches Stadtgericht 1869. Ebd. Lazarus-Remy 1927a: 97. Ebd. Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

welche dann auch abschließend von ihr selbst illustriert wurden. Die 1882 fertiggestellten Liebeslieder wurden ebenfalls viel gelobt, aber wieder von keinem Verleger veröffentlicht. Lazarus-Remy notiert in ihrem Tagebuch von 1882: »Ach, wenn es ihr doch einmal damit gelänge! Wie glücklich wär ich! Wie gern wollte ich ihr dazu verhelfen!«51 Im Oktober 1885 wurde Sturmhoefel d.Ä. von ihrer Tochter bei ihrer erneuten Suche nach einem Eigenheim im geliebten Italien unterstützt. Nach einigen Wochen fanden sie im November 1885 eine kleine Wohnung in Frascati, südöstlich von Rom. Am 26. Dezember 1885, nach dreimonatiger Unterstützung, ließ sie ihre Mutter allein in Italien und reiste zufrieden nach Berlin zurück. Sie notierte in ihrem Tagebuch: »Dabei ist Vieles gut gelungen und mein Ziel und Zweck sie in Italien wieder einzubürgern, für sie zu sorgen, ihr die Ansiedlung zu erleichtern, erfüllt!«52 Die 80er Jahre waren anders als die 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, die Zeit des Anfangs des Nationalstaates. Der Nationalstaat war zur Normalität geworden, was Sturmhoefel d.Ä., die Freundin des Risorgimento, erfreute und ihr Einleben erleichterte. Es gefiel ihr in Frascati, vor allem auch die kurze Anbindung nach Rom, wo sie 1886 ihr neues Werk Neulatein als Weltsprache veröffentlichte. Jedoch stellten sich sehr schnell »Misshelligkeiten zwischen ihr und den Hausleuten«53 ein, sodass Sturmhoefel d.Ä. bereits am 26. Juli 1886 Frascati verließ und ohne ein bestimmtes Ziel allein durch Italien reiste. Lazarus-Remy notierte dazu: »Sie wusste nicht wohin! Das war das Fatum, das über ihrem ganzen Leben schwebte. […] Das ist die Qual, die mich heute noch in meinen Träumen verfolgt: dass ich nicht wusste wo die Mutter suchen [Herv. i.O.]!«54 Im Oktober 1886 entschloss sich Sturmhoefel d.Ä. in Desenzano am Gardasee zu bleiben. Wie im vergangenen Jahr wurde sie durch ihre Tochter unterstützt, die erneut für einen viermonatigen Aufenthalt (23. Oktober 1886 bis 6. März 1887) nach Italien kam. »Ganz wie vergangenes Jahr in Frascati. Aber diesmal ohne Hoffnung, dass alles für die Dauer sei«55 , notierte Lazarus-Remy in ihrem Tagebuch. Bereits im April 1887 verkündete Sturmhoefel d.Ä. ihrer Tochter per Brief, dass sie zu Ende Mai 1887 endgültig zu ihr nach Berlin zurückkehren möchte. »Rate mir nicht ab! Fürchte dich auch nicht! Auch du wirst ruhiger, zufriedener sein, jetzt ohne allen ferneren Zwiespalt mit deinem Mutting, glücklicher sein.«56 Am 24. Mai 1887 kam sie in Berlin an. Zu Anfang notierte sie wiederholt in ihrem Tagebuch: »Mama lieb und gut – aber kaum war sie 4 Wochen da, als schon wieder Gereiztheiten zwischen uns stattfanden.«57 51 52 53 54 55 56 57

Lazarus-Remy 1927a: 97. Vgl. auch The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von 1882, Arc.Nr. 01 135. Lazarus-Remy 1927a: 112. Vgl. auch The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 26.12.1885, Arc.Nr. 01 135. Lazarus-Remy 1927a: 113. Ebd. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von Okt. 1886, Arc.Nr. 01 135. Lazarus-Remy 1927a: 117. Vgl. auch The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 08.04.1887, Arc.Nr. 01 135. Lazarus-Remy 1927a: 117. Vgl. auch The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von Juni 1887, Arc.Nr. 01 135. Eine nähere Ausführung zur Beziehung zwischen Mutter und Tochter findet sich im Kap. II. 2.1. In: Lazarus-Remy 1927a: 119: »Meine gutgemeinten Ratschläge … eine Quälerei für uns beide. Die Dichterin fühlte sich durch kritische Bemerkungen leicht gekränkt, und sah dann in mir eine Art Schuldige.«

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Trotz alledem unterstützte Lazarus-Remy ihre Mutter bei der erneuten Bearbeitung ihrer gesammelten Gedichte, die sie ebenfalls liebevoll illustrierte. 1888 wurde der Band Vergessene Lieder von Sturmhoefel d.Ä. auf eigene Kosten beim Verlag Gustav Fock in Leipzig veröffentlicht. Die Besprechungen fielen durchweg positiv aus. So wurde sie unter anderem persönlich von dem deutschen Schriftsteller und Dichter Konrad Beyer (1834–1906) aus Stuttgart, dem jüdischen Arzt und Schriftsteller Max Nordau (1849–1923) aus Paris und dem italienischen Anthropologen Paolo Mantegazza (1831–1910) aus Florenz beglückwünscht.58 Durch ihren endlich eingetroffenen Erfolg motiviert, schrieb sie für die Schauspielerin Lotte Mende (1834–1891) den Schwank Meyers Pantoffel, der von der Schauspielerin »öfter mit ungeheurer Verve gespielt [wurde]«59 . Durch ihre starke Sehnsucht nach Italien reiste Sturmhoefel d.Ä. Anfang September 1888 zum letzten Mal nach Italien, wo sie im Fischerdorf San Terenzo bei Spezia für sich ein neues Heim fand. Der Ort gefiel auch Sturmhoefel d.J., die ihre Mutter im Juli 1889 für zwei Monate besuchte. »Die prachtvollen salzhaltigen Meerbäder bedeuteten das reine Lebenserhaltungsmittel; die Bevölkerung, freundlich und friedlich, erweckte Vertrauen.«60 Neben dem Umgang mit den netten Nachbarn freundete sich Sturmhoefel d.Ä. mit Paolo Mantegazza an. Remy notierte in Mein Leben II über die Beziehung ihrer Mutter: »Sie plauderten über alles Mögliche; er las ihr seine kleineren Arbeiten vor. Als er einmal Blumenmärchen verfassen wollte, dichtete sie ihm ohne weiteres eine ganze Anzahl, die er später nutzte und unter seinem Namen herausgab. Ob er auch in einem Vorwort oder einer Randbemerkung auf seine eigentliche Quelle hingewiesen?«61 Anfang Oktober 1889 erlitt Sturmhoefel d.Ä. eine gravierende Leistenbrucheinklemmung, die sie völlig an das Bett fesselte. Ihre Tochter kam sofort und kümmerte sich um ihre Mutter bis zu ihrem Tod in der Nacht zum 23. Oktober 188962 . »Mitten in der Nacht bemerkte ich, dass sie zu sehr nach der Wand gesunken war. Ich richtete sie leise auf und schob ihr ein kleines Kissen unter den Kopf. Sie kuschelte sich hinein und schien zu lächeln. ›O, das ist gut.‹ Gut. Ihr letztes Wort [Herv. i.O.].«63

1.1.2 Desillusionierende Wanderjahre (1854–1856) Sturmhoefel d.J. verbrachte ihre Kindheit (1850–1863)64 in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten, die durch ihre regionale und nationale Verschiedenheit einen bedeutenden Einfluss auf ihre Entwicklung hatten. Die unstete Lebensweise in verschiedenen Kulturen und Sprachen verarbeitete sie in ihren späteren belletristischen, feuilletonistischen und autobiographischen Werken.65 So beschreibt sie in Mein Leben II den Aufent-

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Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 118. Ebd.: 75. Ebd.: 120. Ebd. Es handelt sich um folgendes Buch: Paolo Mantegazza: Blumenmärchen. Jena 1890. The National Library of Israel, Department of Archives : Taufschein, Arc.Nr. 01 120. Lazarus-Remy 1927a: 122f. s.TL im Anhang. Beispielsweise boten die schöne Landschaft Siziliens und dessen Bevölkerung die Grundlage für ihre 1886 veröffentlichten Sizilianischen Novellen.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

halt (1852–1854) bei ihrer Großtante Henriette Knopff66 in Flatow rückblickend als heimisch, dort fühlte sie sich im Gegensatz zu ihrer Mutter stets gut aufgehoben.67 Obwohl sich die kinderlose Henriette Knopff bereit erklärte, sich um sie zu kümmern, bis ihre Mutter eine »ordentliche Existenz begründet«68 habe, lehnte diese das gutgemeinte Angebot ab und zog erneut mit der nun fünfjährigen Tochter Richtung Italien. In Mein Leben I beschreibt Lazarus-Remy ausführlich die unterschiedlichen Reisestationen ihrer nun bevorstehenden »Wanderungen«69 . Diese führten zu desillusionierenden Ortswechseln, in deren verschiedenen Stationen die ersehnte heimatliche Verankerung ausblieb. Im Frühling 1854 begann die Reise per Kutsche von Flatow über den Alpenübergang der Via Mala zunächst nach »[…] Lausanne, wo meine Mutter gern geblieben wäre und [danach nach] Genf. […] Die Natur, die Geschichte, der Freiheitssinn dieses aufgeklärten Volkes, sein kosmopolitischer Charakter mögen meine Mutter dahin gezogen haben. Wenn sie dort hätte festen Fuss fassen können! Aber es sollte nicht sein!!!«70 Schließlich kamen Mutter und Tochter in Annecy an, wo die Alleinerziehende versuchte, unter schwierigen Umständen und kränkelnd für sich und ihre Tochter eine neue Heimat zu schaffen. Hier lernte die aufgeschlossene Sturmhoefel d.Ä. den französischen Schriftsteller Eugène Sue (1804–1857) kennen, mit dem sie vermutlich eine kurzweilige Liaison hatte.71 Sue bemühte sich vergebens, für Sturmhoefel d.Ä. eine Anstellung als Sprachund Musiklehrerin in seinem Bekanntenkreis zu finden, sodass eine Weiterreise unumgänglich war. Sturmhoefel d.Ä. notierte kurz vor der Weiterreise in ihrem Tagebuch: »Es gefällt mir hier sehr, aber ich fühle mich so ganz ohne Grund und Boden, denn im Herzogtum Savoyen mit der Hauptstadt Annecy gibt es ausreichend Musik- und Sprachlehrerinnen […] und die Zeitungsberichterstattung [ist] noch zu beschränkt, um davon leben zu können. Und mit Gedichten [kann] man auch kein Brot verdienen!«72 So musste sie notgedrungen weiterziehen, in der Hoffnung vielleicht in Genua oder Nizza eine Anstellung als Sprach- und Musiklehrerin zu erhalten. Die Weiterreise sei mühselig und kräftezehrend gewesen:

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Liebevoll nannte Sturmhoefel d.J. ihre Großtante ›Jette‹. Im Folgenden werde ich ihre Wortwahl ›Großtante Jette‹ überwiegend übernehmen, um die besondere Beziehung zwischen den beiden zu verdeutlichen. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 3. Ihre Mutter war »in dem ›Nest‹ Flatow unglücklich.« Lazarus-Remy hatte als dreijähriges Mädchen in Flatow eine Freundin namens Doris Semrau, die jedoch, als sie mit fünfzehn Jahren wieder zurückkehrte, zu ihrer Enttäuschung nicht mehr dort wohnte. Siehe auch: Lazarus 1898b: 106. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 3. Ebd. Ebd.: 3f. Ebd.: 4: »Wir besuchten ihn oft. Während ich mich im Garten tummelte, unterhielt er sich mit meiner Mutter.« Eugène Sue wird von Lazarus-Remy als einer der ersten Männer an der Seite ihrer Mutter beschrieben. Ebd.

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»Das Geld ging immer wieder zur Neige und musste erst wieder zusammenverdient werden, um weiter zu kommen, Schulden wurden gemacht und allmählich mit heimatlichen Silberlöffeln und bescheidenem Schmuck bezahlt, bis nichts mehr übrig blieb …. Oft kam Hilfe; öfter keine. An manchem Tage fehlte auch das trockene Brot. Aber die Tapfere [Sturmhoefel d.Ä.] verlor nie das Gottvertrauen.«73 Wie beim deutschen Historiker Theodor Mommsen (1817–1903), der in seinem Tagebuch der französisch-italienischen Reise 1844/1845 Genua als das »Thor Italiens«74 betitelt, wird diese Hafenstadt auch in Lazarus-Remys Autobiografie Mein Leben I als Eingang in das neue Lebensumfeld Italien ausgelegt. Dies sei der erste Ort während ihrer mühseligen Reise gewesen, wo sie und ihre Mutter auf helfende Menschen trafen. Im Sommer 1855 kamen Mutter und Tochter schließlich über Genua im Badeort Nizza an. Obwohl Sturmhoefel d.Ä. vor Ort diverse Erwerbstätigkeiten fand, blieben Mutter und Tochter nicht lange im damals aufblühenden Ferienort und zogen weiter nach Marseille, in der Hoffnung, dass das Leben dort »billiger sei«75 . Jedoch kehrten sie bereits im Herbst 1855 wieder nach Nizza zurück, wo sie ein Häuschen am südlichen Stadtrand am Ufer des Paillon bezogen.76 In dieser »wunderbare[n] Sonnenstadt«77 fanden Mutter und Tochter endlich Ruhe und Vergnügen. »Alles traf ein. Die ungeahnte Sonnenwärme liess uns vergessen, dass es Winter sei, wir badeten täglich und die Blumen- und Obstfülle, die billigen Nahrungsmittel, das Entgegenkommen der überaus freundlichen Bevölkerung, […] alles das erleichterte meiner Mutter die Niederlassung.«78 Durch die Unterstützung italienischer Freunde, wie des Künstlers Faya, erhielt Sturmhoefel d.Ä. die Möglichkeit, weitere Handfertigkeiten zu erlernen. Zum einen versuchte sie sich mit der neu aufkommenden »Photographiekunst«79 ein Standbein zu schaffen, was sich jedoch wegen der kostspieligen Anschaffung der Geräte und einiger missglückter Versuche nicht rentierte. Hingegen erwies sich die Anfertigung von künstlichen Blumen als lukrative Einnahmequelle. Durch mehrere Bekanntschaften mit Geistlichen und Klosterfrauen erhielt sie verschiedene Aufträge für den Altarschmuck.80 Auch ihre Tochter konnte sich bei der Blumenanfertigung einbringen, sodass ihre Mutter weiterhin die Möglichkeit erhielt, als freischaffende Schriftstellerin für Berliner Blätter und den Moniteur Savoyen zu schreiben.81 Im Winter 1855 lernte Sturmhoefel d.J. die Kaiserin von Russland Alexandra Fjodorowna (1798–1860), eine gebürtige Deutsche,

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Lazarus-Remy 1927a: 4. Vgl. Mommsen 1976: 87. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 5. Ebd.: 4. Ebd. Ebd. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 6; 7. Vgl. ebd.: 5. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 5, 6: »Ich erhielt meinen ersten Farbenkasten und vertiefte mich so in die Aenderung der Lilien, weissen und geflammten, dass ich alles Andere darüber vergass.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

kennen. Als die Kaiserin bei einer Stadtrundfahrt das Mädchen an einer Ausfahrt wahrnahm, war sie von der kleinen Deutschen so angetan, dass sie ihre Kammerfrau Frau von Rohrbeck beauftragte, Mutter und Tochter zum Tee einzuladen. Während eines gemütlichen Aufenthaltes bei der Kaiserin Alexandra Fjodorowna erhielt Sturmhoefel d.Ä. den Auftrag, Servietten mit dem kaiserlichen Monogramm zu besticken, wofür sie mehrere Francs erhielt. Zudem holte sich die Kaiserin Sturmhoefels d.Ä. Erlaubnis ein, dass deren Tochter ihr als Gesellschafterin für die restliche Zeit ihres Nizza-Aufenthaltes diente, wofür sie ebenfalls einige 100 Francs erhielt. Diese besondere Erfahrung wird von Lazarus-Remy rückblickend in Mein Leben I als ein seltsamer Vorgang beschrieben, »denn er steht mir noch heute vor der Seele, als hätte ich ihn gestern erlebt. […] Die Kaiserin zog mich an sich heran, sprach mütterlich lieb zu mir, und nahm mich schliesslich auf den Schoss und drückte mich an sich! […] Das Ergebnis dieser denkwürdigen Begegnung war noch ein Duzend Servietten und eine Empfehlung nach Pisa [Herv. i.O.].«82 Im darauffolgenden Sommer (seit Juli 1856) erhielt Sturmhoefel d.Ä. weder eine weitere Anstellung als Erzieherin noch Anfragen für ihre handwerklichen Arbeiten. Als alleinerziehende Mutter erwies sich die Arbeitsfindung stets als sehr mühselig. Die finanzielle Not wurde so groß, dass Sturmhoefel d.Ä. zum ersten Mal ihre Familie um finanzielle Unterstützung bitten musste.83 Auch ihre Tochter versuchte etwas beizusteuern, indem sie die häuslichen Tätigkeiten übernahm und täglich morgens zum Markt ging, um frisches Brot zu holen. Daneben verdiente sie mit ihrem Erlös von verschiedenen Zeichenund Näharbeiten etwas zum Unterhalt dazu.84 Trotzdem reichten die knappen Einnahmen sowie die finanzielle Unterstützung der Verwandten nur für eine kurze Zeit, sodass notgedrungen die restlichen Habseligkeiten (Silberlöffel, Bilderrahmen, Schmuck und selbst die Reisekoffer) verkauft werden mussten. Die letzten Monate in Nizza werden von Lazarus-Remy als »böse Zeiten« beschrieben, in einem »unheizbare[n] Raum, Strohsäcke auf der Erde, ein finsterer, kalter Herd, der als Tisch diente [und] nichts Warmes zu essen.«85

1.1.3 Enttäuschte Beständigkeit in Pisa (1856–1860) Gezwungen durch die finanzielle Misere in Nizza nutzte Sturmhoefel d.Ä. das Empfehlungsschreiben der Kaiserin von Russland Alexandra Fjodorowna (s.TL), um in Pisa eine Anstellung zu finden. So kamen Mutter und Tochter im Dezember 1856 entlang der Küste über Mentone, San Remo und Genua nach Pisa, wo Sturmhoefel d.Ä. ihre Tochter bei der kinderlosen, aus England stammenden Gräfin St. Germain unterzubringen wünschte.86 Mit der Empfehlung der Kaiserin erhielt Sturmhoefel d.Ä. die Möglichkeit, 82 83 84

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Ebd.: 5. Das kursiv Geschriebene wurde von Lazarus-Remy handschriftlich ergänzt. Ebd.: 7: »Umgehend kam eine Geldsendung von Tante Jette [die Großtante Henriette Knopff], nach und nach auch von einer Schwester und einer Schwägerin.« Vgl. ebd. Sturmhoefel d.Ä. notierte in ihrem Tagebuch: »Du bist mir unentbehrlich. Auch Bestellungen machst du und in verschiedenen Familien überhäuft man dich mit Früchten, Blumen und behält dich ein paar Stunden …. Mein gutes Kind! Liebst mich zärtlich und eifersüchtig.« In: ebd. Lazarus-Remy 1927: 8f.: »Hier, auf einer Bank [in Pisa], spielte sich der Rest des Tages für mich ab, denn wenn die Mutter ihre Arbeit ablieferte und zugleich wegen einer Stellung Wege machte,

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ein Stellenangebot als Gouvernante bei einer polnischen Herzogsfamilie87 in Palermo anzunehmen, wohin sie jedoch ihre Tochter nicht mitnehmen durfte. Umso erleichterter war sie, als sich die Gräfin St. Germain entschloss ihre Tochter bei sich aufzunehmen, allerdings an die folgende Bedingung gebunden: »Die Kleine gefällt mir. Sie wird mir Gesellschaft leisten, ich werde sie erziehen,«88 zitiert Lazarus-Remy die Gräfin. Sturmhoefel d.Ä. plante zunächst nur für drei Monate (von Januar bis März 1857) bei der polnischen Familie zu arbeiten, um dann mit dem Startkapital in Lucca ein fotografisches Atelier eröffnen zu können. »Die Gräfin nehme allsommerlich die Bäder in Lucca und wir würden uns dann wiedersehen, vielleicht nie mehr trennen«, gibt sie ihre Mutter in Mein Leben I wieder89 . Die Gräfin St. Germain wohnte zumeist in ihrer Winterresidenz im Palazzo Gambacorti am Lungarno in Pisa. Den Sommer verbrachte sie allerdings in den umliegenden italienischen Städten Viareggio90 , Lucca, Florenz oder Livorno. Sturmhoefel d.Ä. gab wie geplant nach drei Monaten ihre Stellung in Palermo auf, nahm allerdings daraufhin im Frühling 1857 eine neue Gouvernantenstelle in Florenz an, das während der 1860er als intellektuelles Zentrum Italiens galt.91 Sturmhoefels d.Ä. Wunsch, ihre Tochter wieder zu sich zu nehmen, wurde von der Gräfin St. Germain strikt abgewiesen, was von Lazarus-Remy rückblickend als vorteilhaft beurteilt wurde.92 Denn bereits im Sommer 1857 erhielt ihre Mutter durch eine Empfehlung der Gräfin St. Germain und des österreichischen Konsuls Carl A.A. Freiherr von Hügel (1796–1870)93 in Lucca eine neue Anstellung als Erzieherin bei einem »amerikanischen Staatsmann Kinney«94 . Die Gräfin St. Germain verbrachte mit Sturmhoefel d.J. ebenfalls den Sommer in einer Hoteletage in der ruhigen Stadt Lucca, das vor allem durch seine Bäder bekannt wurde. Sturmhoefel d.J. durfte jeden Nachmittag mit ihrer Mutter verbringen, mit der sie dann entweder ba-

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war ich oft stundenlang allein. – Ja, – wohin mit mir?« Vgl. auch Lazarus 1898b: 12, 4: »Nein, nein, es war schon besser, dass sie der fremden Frau Alles gehörig auseinandersetzte: dass sie ihres leidenden Gesundheitszustandes wegen nach Palermo reisen müsse, und dass sie selbst irgendwo untergebracht werden solle, – aber die vornehmen Erziehungsinstitute seien so theuer.« Ebd.: 4ff. 12: »Dann muss ich in ein noch wärmeres Land gehen. Der Arzt hat mir Palermo empfohlen.«; »Ein Hüsteln unterbrach ihre Rede.«; »›Nein, eine Treppe höher,‹ unterbrach sich die Dame, die stehen geblieben war, um Athem zu schöpfen.« und »dass sie ihres leidenden Gesundheitszustandes wegen nach Palermo reisen müsse.« Lazarus 1898b, 12f.; 16. Lazarus-Remy 1927a: 9. Hierzu beschreibt Lazarus-Remy in ihrer Konversionserzählung eine Urlaubserinnerung. In: Lazarus 1898b, 21–24: »Sie war an einem Sommertage, beim Baden im Meer in Viareggio, weit über diese Grenze hinaus gerathen, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und befand sich in höchster Gefahr des Ertrinkens; als sie eben im Begriff war unterzusinken – der Schreck hatte ihre Sprache gelähmt – wurde sie von der in der Nähe badenden Kammerfrau bemerkt, ergriffen und emporgezogen.« Sturmhoefel d.Ä. besuchte den Salon der Sängerin Caroline Unger-Sabatier (1803–1877), der als internationale Begegnungsstätte von Schriftstellern, Künstlern und des Risorgimento bekannt war. Lazarus-Remy 1927a: 13: »die Gräfin lehnte kurzweg ab; zum Glück, denn jene Stellung erwies sich als sehr ungünstig.« Ein österreichischer Diplomat, Reisender, Naturforscher und Heortologe. Von 1849 bis 1859 war er österreichischer Gesandter im damaligen Herzogtum Toskana. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 13.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

den ging oder von einem mit ihrer Mutter bekannten Reitlehrer Reitunterricht erhielt.95 Den darauffolgenden Frühling (Mai 1858) durfte Sturmhoefel d.J. bei dem befreundeten Gräflichen Ehepaar Finochetti auf einem Landsitz in Pisa verbringen, während die Gräfin St. Germain in Florenz blieb. Sie erlebte dort ein heiteres Osterfest mit Eiersuchen und einer improvisierten Volksbühne für die Kinder. »Wie gern wäre ich in dieser Familie, in der es keine Quälereien gab, für immer geblieben! – - Die harmlose Zeit bei den liebenswürdigen Finochetti’s ging vorüber. – Das goldene Gefängnis in Pisa tat sich wieder auf.«96 Die Gräfin St. Germain kontrollierte Sturmhoefels d.J. Unterrichtsstunden, nahm sie auf allen Spazierfahrten und Gegenbesuchen, Konzerten, Kunstaustellungen, Wohltätigkeitsveranstaltungen und dergl. mit. Nur abends von 19–20 Uhr, während des Abendessens im feierlichen »Dinnerroom«97 , bei dem zumeist auch Gäste anwesend waren, durfte sie allein im gemeinsamen Schlafzimmer zu Abend essen. In Mein Leben II notierte sie: »Den ganzen Tag freute ich mich heimlich auf dieses Alleinsein, das mir unbeaufsichtigtes Lesen und Schreiben – Briefe an meine Mutter – gestattete. Kaum aber ertönte das Klingelzeichen, das den Kammerdiener in den Teesalon rief, wohin sich die Herrschaften begaben, musste auch ich – weiss gekleidet – mich einstellen. Dann wurde das ›kleine Mirakel‹ – (der Name wohl aus Ironie hervorgegangen, blieb haften) von all den, meist älteren Herren und Damen gehätschelt, seine Zeichnungen, seine Alabastereien, auch mitunter Volksliedchen, bewundert – ach! Bis Mitternacht!«98 Im Mai 1859 kam es zum Sardinischen Krieg, dem zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg, den Sturmhoefel d.J. mit leidenschaftlicher Teilnahme verfolgte und mit ihrem Geschichtslehrer diskutierte.99 Um die Zehnjährige von den Kriegsereignissen etwas abzulenken, reiste die Gräfin St. Germain im Frühjahr mit ihr in das damals noch bescheidene Städtchen Viareggio.100 Retrospektiv würdigt Lazarus-Remy in Mein Leben I die Lebendigkeit der Stadt sowie die wundervollen Badestrände: »Hart am Meeresrand gelegen, besass es einen mächtig-breiten samtweichen Strand, auf dem es sich wie auf Teppichen wandeln liess.«101 Ausgelassen genoss sie mit der Streunerhündin Triri den Sommer über den Aufenthalt am Strand. Die Gräfin hatte direkt am Strand ein Ferienhaus gemietet, »von dessen Fenstern wir jedenfalls beaufsichtigt wurden, ohne dass wir es wussten, sonst wären wir wohl nicht so ausgelassen gewesen«102 . In diesem Sommer besuchte sie ihre erste Oper Il trovatore (Der Troubadour, 1853) des italienischen Komponisten Giuseppe Verdi (1813–1901). »Unbeschreiblich meine Ergriffenheit! – Einige der Me-

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Sturmhoefel d.J. erhält von diesem Bekannten ihren ersten Heiratsantrag, den sie mit Zustimmung ihrer Mutter ablehnte. Vgl. ebd. 96 Ebd.: 15. 97 Ebd.: 15f. Näheres siehe in: Kap. I, 1.2.1. 98 Lazarus-Remy 1927a: 15f. 99 Ihre Leidenschaft für die italienischen politischen Verhältnisse teilte Sturmhoefel d.J. mit ihrer Mutter und wird in einem Exkurs-Kap. I, 1.1.5 gesondert thematisiert. 100 Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 18. 101 Lazarus-Remy 1927a: 18. 102 Ebd.: 18f.

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lodien prägten sich mir so ein, dass sie mich durch das ganze Leben begleitet haben.«103 Im selben Jahr (1859) erhielt ihre Mutter ein erfreuliches Engagement als Erzieherin beim Herzog della Verdura in Palermo. »Die Bedingungen waren glänzend: Reisegeld, Vorschuss und – Erlaubnis mich bei sich zu behalten! Sie kam um mich von der Gräfin abzuholen.«104 Doch die Gräfin St. Germain weigerte sich erneut, Sturmhoefel d.J. gehen zu lassen, was von Lazarus-Remy rückblickend als die schmerzlichste Erinnerung ihrer Kindheit beschrieben wird. Sie zitiert aus dem Tagebuch ihrer Mutter: »Ich war entschlossen dich mitzunehmen; dein Koffer war gepackt, wir hatten Abschied genommen, als die arme Gräfin mir die bittersten Vorwürfe machte: ich sei undankbar, ich wolle sie töten! Ich könne ja mein Kind nirgends besser haben, als bei ihr, sie wolle für dich sorgen, so lange sie lebe, u.s.w. O, mein Gott, ich musste nachgeben, musste dich, trautestes Kind, dalassen, musste mich mit Gewalt von dir losreissen! – - Armes, süsses Opfer! Wie standest du flehend vor mir, wie blutet mein Herz […].«105 Die Isolierung von ihrer Mutter führte, wie Lazarus-Remy ausführlich in ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! schildert, zu ihrem Glauben an Gott. Ihren einzigen Trost, so wird es von ihr in ihrer Konversionserzählung dargestellt, fand sie vor allem in der Bibel, die sie liebevoll als ihre »zweite Mutter«106 bezeichnete, aber auch in der kleinen katholischen »Trostkirche« Maria della Spina, am Lungarno liegend, die als »Freundin« beschrieben wird, in der sie eine »Zufluchtsstätte«107 fand. Regelmäßig nutzte sie die Möglichkeit während des Dinners in dem »kleinen Gotteshaus […] [für] das Wiedersehen mit der Mutter, [für] die Befreiung Italiens, [für] das Leben Garibaldi’s und den Sieg Viktor Emanuels«108 zu beten. Sie blieb insgesamt vier Jahre (1856–1860) bei der Gräfin St. Germain, wo sie entsprechend dem gräflichen Stand eine gehobene Bildung und eine standesgemäße Erziehung erhielt.109 Obwohl sie in Mein Leben I dankbar an diesen Lebensabschnitt zurückblickt, erinnerte sie sich in ihren Autobiografien vor allem an die unerfreulichen Momente in dieser Zeit: »Ihr [der Gräfin St. Germain] leidenschaftliches Naturell riss sie zu Uebereilungen hin, und meine damals noch unerkannte, ganz abnorme Kurzsichtigkeit110 , die es mir physisch unmöglich machte, Vieles zu verstehen, zu thun und zu vollbringen, was man mir 103 Ebd.: 19. Verdis Werke wurden von Lazarus-Remy auch in ihren Tagebüchern immer wieder sehr gelobt. Dessen Werke hatten, wegen der progressiven Gesinnung des Komponisten, in vielen italienischen Territorien große Schwierigkeiten mit der Zensur. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Wenn Lazarus-Remy von der Bibel spricht, meint sie damit hauptsächlich das Alte Testament. S.Kap. III, 2.1. 107 Lazarus 1898b: 58f.: »War ihr die Bibel zu einer zweiten Mutter geworden, so ward ihr die Kirche zur Freundin.« 108 Lazarus-Remy 1927a: 20f. 109 S.Kap. I, 1.1.3. 110 Vgl. Lazarus 1898b: 22f.; 135: Während des Aufenthalts bei der Gräfin St. Germain hatte LazarusRemy mit einer Kurzsichtigkeit zu kämpfen, die jedoch erst viele Jahre später von einem Arzt in Flatow diagnostiziert und mit einer Lorgnette ausgeglichen wurde.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

geboten hatte, veranlasste sie zu ungewollten Ungerechtigkeiten und unbeabsichtigten Grausamkeiten, die mir aber einen tiefen Eindruck machten.«111 So kam es im Mai 1860 zu einem heftigen Zwischenfall, wo die Gräfin St. Germain handgreiflich gegenüber Sturmhoefel d.J. wurde.112 Ob dieses Ereignis, wie Lazarus-Remy in ihrer Konversionserzählung schilderte113 , Ursache dafür war, dass ihre Mutter sie daraufhin zu sich holte, kann sie auch rückblickend nicht mehr beantworten.114 Jedoch war dies der Grund, wieso die Gräfin St. Germain Reisevorbereitungen treffen ließ, um zur Hafenstadt Livorno aufzubrechen. Möglicherweise, so vermutet sie in Mein Leben I, wollte die Gräfin St. Germain »den Schauplatz ihres Irrtums und ihrer Misshandlung eine Zeitlang meiden […], bis die Erinnerung daran bei […] beiden verblasst.«115 Kurz darauf reiste auch Sturmhoefel d.Ä. nach Livorno, um erneut, laut Mein Leben I zum dritten Mal, ihre Tochter zu sich zu holen, was wiederum von der Gräfin St. Germain verweigert wurde. Es entstand eine mehrtägige Auseinandersetzung zwischen beiden Frauen, sodass Sturmhoefel d.Ä., die sich »in ihren heiligen Rechten«116 als Mutter verletzt sah, schließlich mit der Polizei drohte. Die Gräfin St. Germain nahm die Warnung nicht ernst, denn sie wusste, dass sie als hochangesehene und vielvermögende Aristokratin nichts zu befürchten hatte. Die Mutter versuchte bei den zuständigen Behörden eine schnelle Unterstützung zu erlangen, die verlangten jedoch von der »unbekannten Fremden«117 die fehlende Geburtsurkunde und erklärten den Reisepass als Beweis für ihre Erziehungsberechtigung als unzureichend. Folglich musste Sturmhoefel d.Ä. die verlangten Legitimationspapiere aus Berlin anfordern, was sich als äußerst umständlich und zeitaufwendig erwies. »Niemand, selbst der preussische Konsul, konnte ihr helfen, mich sofort aus der Gewalt der Gräfin zu befreien. – Die Gerichte anrufen? – In dieser Zeit politischer Umwälzungen, wo Niemand [Herv. i.O.] sicher war? – Und wie entsetzlich peinlich gegen die Wohltäterin des eigenen Kindes so vorzugehen! Nein, nein, das war unmöglich!«118 So blieb der Mutter die weitere direkte Konfrontation, in der Hoffnung, dass die Gräfin St. Germain nachgab. Diese machte Sturmhoefel d.Ä. jedoch ein überraschendes Angebot. Sie erklärte, dass sie Sturmhoefel d.J. zu adoptieren und zur Universalerbin ihres gesamten Besitzes zu machen wünschte.119 Dies war für die Mutter einerseits ein 111 112 113

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Lazarus 1897b. S.Kap. I, 1.2.2 sowie Lazarus-Remy 1927a: 11f. S.Kap. I, 1.2.2. Lazarus 1897b: »Aber eben dieses Bibellesen wurde Ursache, dass die Gräfin mich noch grausamer behandelte als sonst. Ob irgend Jemand meiner Mutter berichtet hatte? – ich weiss es nicht. Aber sie kam eines Tages, um mich abzuholen.« Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 21f. Lazarus-Remy vermutet, dass die Gräfin Finochetti, die den beiden sehr zugetan war und in schriftlicher Korrespondenz mit Sturmhoefel d.Ä. stand, eventuell der Mutter von der Handgreiflichkeit berichtete. Die Gräfin Finochetti selbst sei vermutlich von dem Dienstmädchen Amalie unterrichtet worden. Ebd. Lazarus 1898b: 67. Lazarus-Remy 1927a: 22. Lazarus-Remy 1927a: 22. Vgl. Lazarus 1898b: 68.

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verlockendes Angebot, da so die Zukunft beider Frauen finanziell abgesichert sein würde. Andererseits müsste sie damit ausnahmslos auf ihre Mutterrechte verzichten. Nach vier Tagen und wiederholter Anfrage der Gräfin erklärte Sturmhoefel d.Ä., ihre Einwilligung zur Adoption zu geben, wenn auch ihre Tochter zustimmte. Lazarus-Remy gibt dazu die Worte ihrer Mutter aus ihrem Tagebuch wieder: »Die Gräfin war mit dir zufrieden, lobte dich und riet mir, in meiner Stellung zu bleiben. Wenn sie dich adoptiert, und dir ein gewisses Kapital vermacht, trete ich ihr meine Rechte auf dich ab!‹ Gut [Herv. i.O.] dass diese Worte mir damals unbekannt geblieben, ich hätte sie nie verstanden!«120 , kommentiert Lazarus-Remy das Geschriebene. Im Falle einer Adoption, so wurden sich Gräfin und Mutter einig, sollte die Mutter ein wöchentliches Besuchsrecht erhalten.121 Voller Zuversicht ließ die Gräfin St. Germain bereits für den darauffolgenden Tag die Notare und Zeugen kommen, die bei der bevorstehenden Zusammenkunft sofort notariell die Adoption vollziehen sollten.122 Da der Mutter jeglicher Kontakt zu Sturmhoefel d.J. während den Auseinandersetzungen verweigert wurde, verhalf Amalie, die jüdische Kammerfrau der Gräfin St. Germain, beiden zu einem geheimen Treffen, wo die Mutter persönlich ihre Tochter über eine mögliche Adoption aufklären und befragen konnte.123 Die Nacht vor der bevorstehenden offiziellen Adoptionsabschließung verbrachten Mutter und Tochter gemeinsam und Sturmhoefel d.Ä. überließ die Endentscheidung ihrer zehnjährigen Tochter. »Die schwere Frage trat an mich heran, die über unsere Zukunft entscheiden sollte. Ohne weiteres widersetzte ich mich dem Gedanken einer Adoption.«124 Obwohl die Mutter ihr riet »die Sache ruhig zu überlegen«125 , da es für beide auch Vorteile gäbe, blieb die Tochter bei ihrer Entscheidung. Ihre nächtliche Abwesenheit blieb nicht unbemerkt, und als sie sich am nächsten Morgen bei der Gräfin St. Germain für das heimliche Fortgehen entschuldigen wollte, erhielt sie eine Ohrfeige, was die komplizierte Situation völlig eskalieren ließ. Sturmhoefel d.Ä., die die wiederholte Handgreiflichkeit an ihrer Tochter beobachten musste, entschied ohne weitere Diskussionen, sofort mit ihrer Tochter zu fliehen. Die darauffolgende dramatische Flucht sowie die Rettung und Übersiedlung nach Neapel mithilfe eines Kapitäns eines Kohleschiffes wird ausführlich in Lazarus-Remys handschriftlichen Autobiografien (Mein Leben I+II) geschildert.126

120 Lazarus-Remy 1927a: 9. Vgl. Lazarus 1898b: 68: »Schwere Stunden brachen über die von Sehnsucht, Zweifeln, Bedenken, Zärtlichkeit und Wehmuth Gepeinigte herein. Eine lockende Zukunft winkte – Reichthum, Macht, Ansehen, – - sollte sie dafür ihr Kind, ihr Alles opfern?« 121 Vgl. ebd.: 73. 122 Lazarus-Remy 1927a: 22. 123 Lazarus 1898b: 68; 70: »Sie erbat eine Unterredung mit Nahida unter vier Augen. Die Gräfin verweigerte dieselbe nochmals. Die arme Mutter befand sich in heller Verzweiflung. Was sollte sie thun?« 124 Lazarus-Remy 1927a: 23. 125 Ebd. 126 Lazarus 1898b: 75: »Da betrat Nahidens Mutter entschlossen ein gerade die Anker lichtendes Kohlenschiff und schilderte dem ihr erstaunt entgegentretenden Capitän ihre schmerzlich-bedrohliche Lage. Die Angst in den Augen von Mutter und Kind sprach deutlicher als alle Legitimationspapiere: der einfache brave Mann nahm beide mit und setzte sie wohlbehalten in Palermo ab.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

»Es war ein Kohleschiff, auf dem wir uns befanden. Alles schwarz von Kohlestaub, und die Matrosen, die geschäftig hin- und herrannten, schwarz wie Schornsteinfeger. Aber wir fühlten uns wie im Himmel, erlöst von aller Qual, und als die regelmässige Schaukelbewegung des Schiffes begann, das uns hinaustrug ins offene Meer – da fielen wir uns um den Hals und murmelten: ›Gott sei Dank, Gott sei Dank!‹«127

1.1.4 »Irrsinnige Reisen« (1860) »Wenn man nicht mehr weiß, was und wie und wohin … das ist ›irrsinnig‹. – Auch mit der Existenz, die meine Mutter bisher mit mir geführt hatte, fanden sich Analogien … bald vorwärts, bald rückwärts … oben oder unten … drehen und wenden … zum Schwindelig werden … und noch immer kein fester Halt!«128 Im revolutionären Neapel angekommen, wo der italienische Volksbefreiungskämpfer Giuseppe Garibaldi (1807–1882) mit dem sogenannten Zug der Tausend den neapolitanischen Bourbonen entgegenstand (Mai 1860), versuchten Mutter und Tochter so schnell wie möglich nach Palermo überzusetzen. Die lebhafte Stadt Neapel blieb Sturmhoefel d.J. vor allem durch den Ausbruch der italienischen Revolution und die Todesangst, die Mutter und Tochter in der Nacht bis zur Überfahrt nach Palermo auszustehen hatten, in Erinnerung. Direkt beim Sonnenaufgang fuhren sie mit dem Personenschiff Prince Bonaparte weiter nach Palermo.129 Vom Schiff aus erblickten sie zuerst den Monte Pellegrino, einen der sehenswertesten Berge an der Nordküste Siziliens, der schon Generationen von Reisenden fasziniert hatte: »Monte Pellegrino! – Bei unserer Einfahrt starrtest du uns rätselhaft an, vieltausendjähriger Torwächter Palermo’s, dunkler erster Zeuge eines neuen Lebens!«130 Die Stadt, verwüstet durch Garibaldis Befreiung der Insel von den Bourbonen, bietet für Sturmhoefel d.J. einen unvergesslichen Schauplatz der Ergebnisse der Revolution. »Nun begann man die Spuren der Zerstörung, welche das fürchterliche Bombardement des Generals Lanza hinterlassen, zu vertilgen, aber wir sahen bei der Einfahrt in Palermo’s Hafen noch Ruinen genug und Verwüstungen in den Strassen.«131 Ihre Mutter, die immer noch beim Herzog della Verdura als Erzieherin eingestellt war, gab, wie in Sizilien üblich, ihre Tochter in ein katholisches Erziehungskloster in Palermo. In Mein Leben I beschreibt Lazarus-Remy rückblickend das Frauenkloster als einen angenehmen Ort, wo die Nonnen freundlich waren, nicht wie lieblose Betschwestern, wie Nonnen im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts beschrieben wurden. »Die Nonnen waren so freundlich! – Der Klosterfrieden tat mir wohl, und wenn auch übermässig viel gebetet und gegessen wurde, so störte mich das wenig.«132 Während sie sich mit dem Gedanken der gelegentlichen Einkehr

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Lazarus-Remy 1927a: 23f. Ebd.: 41. Ebd.: 24. Ebd.: 25. Vgl. ebd. Lazarus-Remy 1927a: 25f. Lazarus-Remys weitere Ausführung zur religiösen Erziehung im Kloster wird in Kap. I, 1.2.1. genauer betrachtet. Ihre persönlichen Erfahrungen aus dem Klosterleben sollen im dritten Kap. »Die Klosterschülerin« ihres Romans Geheime Gewalten (1890) ausführlich geschildert worden sein.

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und meditativen Ruhe anfreunden konnte, übte sie an den religiösen Inhalten und Riten starke Kritik.133 Jeden Sonntag erhielt sie die Möglichkeit, ihre Mutter zu besuchen und die versäumte Zweisamkeit nachzuholen. Da im Kloster das Reden und Reflektieren über die bestehenden politischen Verhältnisse verboten war, hielt die Mutter ihre Tochter allsonntäglich über die aktuellen Geschehnisse auf dem neuesten Stand. Als schließlich am 26. Oktober 1860 in Teano bei Neapel das legendäre Treffen zwischen Viktor Emanuel II. (1820–1878) und Garibaldi stattfand, feierten Mutter und Tochter Viktor Emanuel II. als König von Sardinien-Piemont (1849–1861). »Ueberall wurde die italienische Tricolore triumphierend aufgepflanzt. Mit fieberhafter Spannung verfolgte die kaum zwölfjährige alle diese Vorgänge.«134 Trotz der ersehnten und endlich errungenen Nähe zu ihrer Mutter bemerkte Sturmhoefel d.J. bei sich selbst eine Schwermut, die sie als Selbstunzufriedenheit deutete. Ausgehend von der Frage, warum sie immer noch nicht glücklich sei, deutete sie retrospektiv die Unzufriedenheit als Antrieb zur Vervollkommnung des Lebens. Daraus schlussfolgerte sie, dass die Selbstunzufriedenheit der wertvollste Anstoß zur Selbstkritik sei. Daraus formulierte Lazarus-Remy ihre Lebensphilosophie, mit der sie ihre alltäglichen Belastungen tragen lernte. »Gottvertrauen und Selbstkritik bildeten fortan die Eckpfeiler, zwischen denen mein ferneres Dasein sich aufbaute.«135 1861 wurde Sturmhoefel d.Ä. von der Augsburger Allgemeine Zeitung engagiert, einen Bericht über Schwefelvorkommen und -abbau zu schreiben, der im 19. Jahrhundert zur Herstellung von Schwefelsäure in den Industriestaaten immer mehr an Bedeutung gewann. Sie gab ihre gute Anstellung beim Herzog della Verdura auf und reiste mit ihrer Tochter nach Agrigent (damals Girgenti), um über die dortigen Schwefelminen zu recherchieren.136 Lazarus-Remy beschreibt in Mein Leben I ausführlich die Stadt mit den antiken griechischen Ruinen und ihre Bewohner. Rückblickend versucht sie ihre kindliche Perspektive über das Leben in Agrigent, das sich wie in Palermo hauptsächlich im Freien abspielte, wiederzugeben. Wie selbstverständlich hingen die Wäsche, getrocknete Nudeln, Maiskolben und Knoblauchknollen in den Gassen.137 Die Weiterreise führte

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S.Kap. I, 1.2. Lazarus-Remy 1927a: 26. Ebd.: »Warum war ich denn nicht glücklich, nun endlich mit der Heissgeliebten vereinigt? – Unzufriedenheit ist oft ein Sporn zur Vervollkommnung. Selbstunzufriedenheit daher die wertvollste. – Sie führt zur Selbstkritik.« The National Library of Israel, Department of Archives: Tabellarische Lebensdaten von 1852–1870, Arc.Nr. 01 123.3: Nach Lazarus-Remys autobiographischen Notizen verließ ihre Mutter die Anstellung beim Herzog della Verdura aufgrund seiner Verhaftung, was in »Mutter’s Tagebücher[n] aus jener Zeit nachzusehen« möglich ist. Die Reise und der Überfall der Reisekutsche durch Banditen wurden von Lazarus-Remy in ihren Sizilianischen Novellen im Kap. Die Banditen verarbeitet. Trotz des Siegeszuges der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert, die ersten Eisenbahnen kamen in Deutschland 1835, blieb das Reisen per Kutsche die traditionelle Fortbewegung. Vgl. dazu: Schivelbusch 2000 oder Beyrer 1985. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 27: »dass Hemden und Hosen jeglichen Standes und Geschlechts an Waschleinen in den Gassen hin- und herüber lustig in der Sonne flattern, versteht sich von selbst, ebenso, dass von unten herauf […] ein Höllenspektakel ertönte, der die wunderlichsten Stimmenmodulationen der Marktschreier enthielt.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

die beiden Frauen in das Landesinnere nach Canicatti, dem Zentralpunkt der Schwefelminen. Dort bewohnten Mutter, Tochter und der Inspektor der Schwefelminen Jean J. de Rechter138 den noch bewohnbaren Seitenflügel der verfallenen Schlossruine Bonanno-Kastell. Da Sturmhoefel d.Ä. neben ihren Recherchen zu den Schwefelminen kein weiteres Einkommen erwirtschaftete, gab sie als Mietzahlung der Tochter der verwitweten Eigentümerin der Schlossruine Gräfin LaLumia Sprach- und Musikunterricht. Der Ort erwies sich als ein idyllischer Platz, um endlich sesshaft zu werden. Sturmhoefel d.J. freundete sich mit der Tochter der Gräfin Irene LaLumia an, sodass sich eine enge freundschaftliche Beziehung zwischen beiden Familien entwickelte. Mahlzeiten wurden gemeinsam eingenommen und Sturmhoefel d.J. erhielt von der Gräfin selbstgestickte Unterröcke, die sie ehrerbietig noch 1925 trug.139 Märchenhaft-verwunschen werden von Lazarus-Remy die Wohnverhältnisse im Seitenflügel der Ruine beschrieben: »Vom verwilderten, mit verwachsenen Mauerbruchstücken umgebenen Vorplatz kam man durch ein niedriges altes Holztor […] in den ›Garten‹, das heisst, in die Ruinen frühere Gemächer und Säle, an deren zusammengesunkenen Resten der Umfassungsmauer Palmen wuchsen, Maulbeerbäume, stachliche Gewächse mit den bezauberndsten Blumen. Kletternde Ranken überall mit gelben, roten, violetten Blütenfransen.«140 In einer tiefen Mauernische im stehengebliebenen Schlossflügel fand sie ihren Lieblingsplatz, in den sie sich zurückziehen konnte, wenn sie allein sein wollte. »Sie war so tief, dass man ganz darin verschwand und enthielt ein steinernes Postament: meinen Thron; er mochte früher eine Statue oder einen Heiligenschrein getragen haben. Hier sah und suchte mich Niemand! […] und hier lockte die Wonne der erlaubten Einsamkeit.«141 Da sie in Canicatti keinen Unterricht erhielt, half sie ihrer Mutter, das Hauswesen in Ordnung zu halten, während diese Unterrichtsstunden gab und Zeitungsberichte und Gedichte schrieb. Zur geistigen Weiterbildung repetierte Sturmhoefel d.J. Geschichtsdaten und frönte »nach Herzen [ihrer] Leselust«142 . Durch die Privatbibliothek der Gräfin LaLumia standen ihr neben Lehrbüchern auch Romane zur Verfügung, sodass zu ihrem Literatur-Repertoire unter anderem Alexandre Dumas’ Les trois Monsquetairs, Le Comte de Monte-Cristo, Victor Hugos Notre Dame, Eugène Sues Mystères de Paris und George Sands Consuelo gehörten.143 Als die Mutter erneut eine anderweitige Stelle und Unterkunft er138

Vgl. ebd.: 28f.: Sturmhoefel d.Ä. lernte den Inspektor Jean J. de Rechter, der zum Bekanntenkreis des Herzogs della Verdura gehörte, in Palermo kennen und reiste mit ihm nach Canicatti. Zu dritt bewohnten sie zwar gemeinsam die Schlossruine, jedoch in separaten Bereichen. Obwohl Jean J. de Rechter zehn Jahre jünger als Sturmhoefel d.Ä. war, handelt es sich um einen zeitweiligen Lebensgefährten ihrer Mutter. J.J. de Rechter wird von Lazarus-Remy als ein brutaler und jähzorniger Mann beschrieben, weshalb eine feste Beziehung scheiterte. 139 Ebd.: »Heute noch trage ich diese Röcke, so vorzüglich waren damals Stoff (feinster Battist) und die, wie für die Ewigkeit bestimmte, Handarbeit!« 140 Ebd.: 29. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Lazarus-Remy 1927a: 30: »Lafontain’s Fabeln, Robinson Crusoe, Paul et Virginie, ›Onkel Toms Hütte‹ [Herv. i.O.] Roman von Harriet Beecher-Stove, der wenige Jahre zuvor erschien und bald weltberühmt wurde, und andere Meisterwerke der Jugendliteratur J.J. Rousseau’s [Hrv. i.O.] ›Neue Heloise« erfüllte die kindliche Leserin mit intensiver Spannung, durch die eigentümlichen Analogien

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hielt, fiel Sturmhoefel d.J. der Abschied besonders schwer. Der Seitenflügel der Ruine mit seinem märchenhaften Garten und die Familie LaLumia waren ihr Zuhause gewesen. »Ich liebte das romantisch-ländliche Nest, das uns in dieser Schlossruine gegönnt war, von ganzer Seele. Niemals und nirgends hatte ich mit Menschen und Tiere in so liebevoller Intimität gelebt! […] Ach, niemals, niemals ist Aehnliches [sic!] wiedergekehrt!«144 Geprägt durch die vorherige Reiseerfahrung beschlossen Mutter und Tochter, sich diesmal einer internationalen Expeditionsgruppe von fünf Männern (ein Franzose, zwei Engländer, zwei Portugiesen) und einer dänischen Dame anzuschließen. Alle des sizilianischen Dialektes unkundig, freuten sie sich über die willkommenen Dolmetscher.145 Über Girgenti, wo sie sich einer anderen Reisegruppe anschlossen, kamen sie im Sommer 1861 wieder zurück nach Palermo. Äußerst interessiert an der fortschreitenden Entwicklung der Einigung Italiens verfolgten Mutter und Tochter auch während ihrer Reise die politische Lage. »Es war so weit gediehen, dass Garibaldi den Oberbefehl in die Hände Viktor Emanuels gelegt, ihn als König von Italien begrüsste und – jede Auszeichnung und jeden Lohn ablehnend – sich nach seinem einsamen Caprera zurückzog. – Jetzt war es die Frage Aller, ob es Graf Cavour gelingen werde, das Losungswort ›Frei bis zur Adria‹ zur Erfüllung zu bringen.«146 Von ihrem Aufenthalt in Palermo schildert Lazarus-Remy hauptsächlich ihr großes Interesse am Freiheitskampf, welches die Mutter als eifrige Korrespondentin in der Triester Zeitung und der Deutschen Allgemeinen Zeitung (damals Augsburg) dokumentierte, da auch das europäische Interesse am Risorgimento und für die Einigung Italiens groß war. Daneben gründete Sturmhoefel d.Ä. den Fröbelschen Kindergarten (s.Kap. I, 1.1.1), in dem sie die Kinder »nach Fröbel’scher Methode in Flecht-, Strick-, Häkel- und Papparbeiten«147 unterrichtete. Auch ihre Tochter konnte sich im Kindergarten als »Oberaufsicht«148 einbringen, indem sie dafür zuständig war, die Kinder zu baden, zu füttern und schlafen zu legen. »Viel Komisches, aber auch viel Trauriges machte mir dieser ›Kindergarten‹ zu einer Schule des Lebens!«149 , notiert Lazarus-Remy rückblickend in Mein Leben I. Im Juni 1862 erhielten Mutter und Tochter die Möglichkeit, mit ihrem Helden Giuseppe Garibaldi, der zeitweilig in Palermo erschien, persönlich zu sprechen.150 Angeregt durch sein Vorhaben, in Rom einzumarschieren, und als gewissenhafte Berichterstatterin zog es Sturmhoefel d.Ä. vorübergehend nach Neapel, um den politischen Be-

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zum eigenen Leben […].« Rousseaus Erziehungsverständnis geht davon aus, dass ein Kind sich alles selbst aneignen und beschaffen kann, was es zu eigenständigen Wissensaneignung benötigt. Näheres zur eigenständigen Wissensaneignung im Kindesalter nach Locke und Rousseau: Kap. I, 1.2.2. Ebd.: 31f.: »Noch heute ist mir dieses arme Schwefelnest Canicatti lieb, wie kaum ein anderer Ort auf der Welt.« Ebd.: 32. Ebd.: 33. Ebd.: 35. Ebd. Ebd. S.Kap. I, 1.1.5.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

gebenheiten näher zu sein. Sie lebte mit ihrer Tochter in der Seitengasse Vico Sperduto im Stadtteil Chiaia.151 Ganz Sizilien, so notierte sie in Mein Leben I, war in fieberhafter Erwartung der kommenden Ereignisse und »meine Mutter, als Berichterstatterin, lebte mehr auf der Strasse und in den Café’s, als daheim«152 . Sie scheute für ihre Zeitungsartikel keine Unbequemlichkeit oder Gefahren, sodass sie und gelegentlich sogar ihre zwölfjährige Tochter an Demonstrationen teilnahmen.153 Während die Mutter unterrichtete und vor allem Reportagen verfasste, kümmerte sich Sturmhoefel d.J. um die häuslichen Besorgungen und legte ihre volle Konzentration in ihre Zeichenübungen. Daneben besuchte sie den Erbauungsunterricht154 des anglikanischen Missionsgeistlichen Reverend Douglas, der durch seinen sexuellen Übergriff155 auf Sturmhoefel d.J. einen weiteren Ortswechsel bewirkte. Mutter und Tochter zogen am 24. November 1862 in ein bescheidenes Hotelzimmer in Palermo. »Indessen brachte die von der Regierung gewollte Verzögerung der politischen Entwicklung eine solche Stagnation der Ereignisse mit sich, dass auch meine Mutter nicht mehr wusste, was sie den Zeitungen berichten solle.«156 Ob nun Sturmhoefel d.Ä. aus den oben genannten Gründen wieder in die Heimat zurückehren wollte oder aus anderen, konnte Lazarus-Remy wegen fehlender Tagebucheinträge ihrer Mutter nicht mehr rekonstruieren: »Wollte sie diesem Klima entfliehen? Und Jean de Rechter? Und ›Onkel Faya‹, der auch wieder auf dem Plan erschien, und all den Anderen? Wie dem auch sei, – als Familienbriefe aus der Heimat von Tante Jettens schwerer Erkrankung berichteten, und von ihrem sehnlichen Wunsch, mich vor ihrem erwarteten Ende noch einmal wiederzusehen, – da entschloss sich meine Mutter zur Rückkehr nach Deutschland.«157 Im Frühling 1863 machten sich Mutter und Tochter auf eine sechswöchige Seereise per Dampfschiff von Palermo Richtung Norden.158 Das Leben im Land ›wo die Orangen blühen‹ prägte Lazarus-Remy vor allem in ihrem eigenständigen Zugang zu Land und Leuten. Italien blieb zeitlebens ihre Wahlheimat. Die daraus entstandenen vielseitigen Kontakte mit Künstlerinnen und Autorinnen bildeten später die Rollenvorbilder für ihre

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Vgl. Lazarus 1898b: 87f. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 33; 36. Im Frühling 1862 stand Sturmhoefel d.Ä. im ausführlichen Briefkontakt mit dem neuen italienischen Ministerpräsidenten Urbano Rattazzi (1808–1873), der ihr »im Gegensatz zum schlaffen Ricasolu sympathischer« war. Vgl. ebd.: 36. Zum Erbauungs- und Konfirmandenunterricht in Neapel siehe Kap. I, 1.2.1 und I, 1.2.3. Zum sexuellen Übergriff siehe Kap. I, 1.2.1. Lazarus-Remy 1927a: 39. Ebd. The National Library of Israel, Department of Archives. Handschriftliche Auflistung ihrer Lebensstationen. Arc.Nr. 01 123.3: In ihrer handschriftlichen Auflistung ihrer Lebensstationen notiert sie stichpunktartig die Meerfahrt: »Palermo 1863: Die Reise. Sechs Wochen auf der See. Malaga: Eindrücke. Nationaltracht. Sprache. Cadix. Lissabon: Unfall auf hohem Meer. Amsterdam: Ungewohnter Anblick der grünen Wiesen u. der niedlichen rothgedeckten Häuser am Ufer. Pas-de-Calais. Copenhagen. Stettin. Berlin (1863): Familienwiedersehen. Grossmutter [Herv. i.O.].« Eine ausführliche Schilderung der Meerfahrt mit ihren exotischen Stationen findet sich in Mein Leben I im 6. Kap.

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Existenz als selbstständige Schriftstellerin. Der Abschied vom liebgewonnenen Land deutete sie retrospektiv als das Verblühen ihres sinnlichen Jugendlebens: »Als Sizilien links liegen blieb und der ernste, einsame Monte Pellegrino immer mehr und mehr zurückwich, als Palermo verschwand, wo er! er! – - zurückblieb … als das Festland gänzlich untertauchte, und nur Himmel und Meer sich am Horizont berührten, – da, – hart am Schiffrand stehend, die endlose Leere vor mir … da bemächtigte sich meiner ein grauenhaft unheimliches Gefühl des Unwiederbringlichen, das ewig Verlorenen! – ›Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder‹ Mir hat er nie geblüht!«159

1.1.5 Exkurs: »Italien den Italienern« – Einflüsse des Risorgimento auf Nahida Sturmhoefel d.J. »Eine heisse Liebe zur Weltgeschichte hat mich durch das ganze Leben begleitet.«160 Obwohl keine von Lazarus-Remys autobiographischen Quellen eine politische Rezension sein soll, verarbeitet sie darin mit einem differenzierten Blick sozial-politische Verhältnisse kombiniert mit ethischen Konflikten. So verwebt sie die Darstellung ihres Lebens und Ergehens in Italien mit der Schilderung der politischen Bedingungen des damals zersplitterten Landes. Besonders der Aufenthalt in Neapel und Palermo wird in knappen, aber dennoch vielsagenden politischen Skizzen oder Randbemerkungen geschildert. Auch in ihren späteren Tagebuchschilderungen (1914–1918) über ihr Erleben des 1. Weltkrieges in Meran verweist sie oft in Form einer Notiz auf politische Szenarien und ethische Probleme. In beiden Quellen (Mein Leben I und den Tagebuchnotizen) wird eindeutig ein Pro-Italienstandpunkt formuliert, der sich auch in ihren bisher noch nicht aufgearbeiteten kulturhistorischen Romanen, in denen sie das Land und die Menschen Italiens würdigt, finden lässt. Lazarus-Remys langjähriger Italienaufenthalt in einer revolutionären Phase und mit der Wahrnehmung kultureller Besonderheiten hatte auf sie einen prägenden proitalienischen Einfluss, sodass sie sich selbst bis zu ihrem Tode (1928) als »kleine Patriotin« bezeichnete, »die instinktiv das Land, indem sie denken lernte, als ihre Heimat empfand«161 . Vor allem in Mein Leben I macht die ›Patriotin‹ aus ihren Überzeugungen kein Geheimnis und beschreibt voller Euphorie ihre Leidenschaft für Italien. »Eines Tages rief ich ganz aufgeregt: ›Wird Napoleon Italien helfen?‹ – Damit gewann ich ihn [den privaten Geschichtslehrer bei der Gräfin St. Germain] mir zum Freunde, der mich fortan über alle Kämpfe, Bestrebungen, über all das unsäglich Traurige, auch über die Hoffnungen seiner Landsleute auf dem Laufenden hielt. – Von ihm hörte ich später die Wahrheit über das Bombenattentat Orsinis, der auch jene Frage an den vielvermögenden Kaiser gerichtet hatte und nun, bitter enttäuscht, zum Verbrecher wurde.«162 Napoleon III. selbst wurde zum Gegenstand der besonderen Verehrung Lazarus-Remys, indem sie ihn als revolutionären Genie darstellte. Seine Herrschaft wurde von ihr als 159

Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 39. Bereits im Frühjahr 1861 lernte Sturmhoefel d.J. den Grafensohn Filippo Naselli kennen, in den sie sich zum ersten Mal verliebte. Das Wiedersehen des Liebespaares und der endgültige Abschied 1863 blieben Lazarus-Remy schmerzlich in Erinnerung. 160 Ebd.: 30. 161 Ebd.: 12. 162 Lazarus-Remy 1927a: 13.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Vorteil für Italien angesehen, obwohl diese Ansicht später durch die Abtretung Nizzas an Napoleon Risse erhielt. So werden von ihr gleich zu Anfang die Kleinstaaterei und Fremdherrschaft in Italien kritisch bewertet.163 Nach der Niederwerfung der gesamteuropäischen Revolution 1848/49 sank auch in Italien die Hoffnung auf eine Realisierung des Einheitsstaates. Jedoch strebten die führenden Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi (1807–1882), bekennender Internationalist und europäische Lichtgestalt, und Giuseppe Mazzini (1805–1872), geheimnisumwitterter Verschwörer mit europaumfassenden Freiheitsideen, 1859/60 durch erneute revolutionäre Aktivitäten einen Nationalstaat an. Mit dem Motto »Jeder Nation sollte die Befreiung von der Fremdherrschaft und die politische Einheit zugestanden werden, um zum Wohl der Menschheit ihre je besondere universale Mission ausführen zu können«164 wurden diese Männer zu bewunderten europäischen Revolutionshelden. Da eine solche Einheitsbewegung »in Deutschland noch weit entfernt schien«165 , führte dies dort zu intensiver Italienbeobachtung. Begeistert von dieser Vision verfolgten Sturmhoefel d.Ä. als Berichterstatterin und ihre Tochter als junge Sympathisantin mit leidenschaftlicher Teilnahme alle Phasen »des volkstümlichen Kampfes. Meine Seele war mit Italien, dessen Volk seit Jahrhunderten immer von neuem und immer vergeblich sich bemühte, das Joch fremder Unterdrücker und Ausbeuter von seinen Landen abzuschütteln, damit sein Einigungstraum in Erfüllung ginge!«166 Die fortschreitenden Feindseligkeiten zwischen Österreich und Sardinien-Piemont führten zum zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg (Sardinischer Krieg) im Mai 1859, der auch im Salon der Gräfin St. Germain und in den Stuben der Bediensteten vermehrt zu politischen Diskursen führten und Sturmhoefels d.J. Bild der politischen Situation wesentlich prägte. Trotz vielseitigen Widerstreits der politischen Meinungen hielt sie vorbehaltlos an der Anschauung des Risorgimento fest. »Die Gräfin, als Engländerin, misstraute Napoleon, dem Alliierten Italiens, und wünschte, dass Lord Gladstone energischer für die ihm sympathische Befreiung Italiens einträte. – Dr. Sanders wünschte die ›Piemontesi‹ in die Hölle, dafür trug seine Frau die rote Garibaldibluse. Gern hätte auch ich sie getragen!«167

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Ebd.: 12: »Schon früher, als wir noch Blumenblätter färbten, malte sie mit dem Pinsel den ›italienischen Stiefel‹ mit seinen verschiedenen unter Fremdherrschaft stehenden Kleinstaaten hin: rot: Piemont, braun: Herzogtum Parma, grün [:] Grossherzogtum Toskana, violett: der Kirchenstaat, gelb: Königreich Neapel und Sizilien etc. Mir missfiel diese Buntscheckigkeit ausserordentlich! – Nun waren Männer heimlich und offen am Werke, ihr ein Ende zu bereiten, und zum erstenmal trafen Namen wie Mazzini, Garibaldi, Camillo Cavour mein Ohr und – meine Seele. Italien den Italienern! wurde nunmehr auch mein Losungswort.« 164 Mori 1970: 24. 165 Ujma 2007: 247. 166 Lazarus-Remy 1927a: 18; 12f.: »Sie ergab sich einem eifrigen Zeitungsstudium. Die Gräfin hielt die Times und Wochenschriften; von letzteren interessierte mich nur das Witzblatt ›Punch‹ wegen seiner Zeichnungen, aber französische und italienische politische Zeitungen bildeten fortan meine Geistesnahrung, nebst der geliebten, kleinen, muffigen ›Histoire‹… Sie passte so gut zu meinem Gedankengang: Überall Kampf gegen den Despotismus und für Freiheit und Unabhängigkeit!« 167 Lazarus-Remy 1927a: 20.

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Als Napoleon III. an der Seite Viktor Emanuels nach der siegreichen Schlacht in Magenta (Juni 1859) triumphierend in Mailand einzog, notierte sie: »Ich jubelte im Stillen. Der Anfang zur Einigung Italiens war gemacht.«168 Daraufhin folgte der italienische Sieg von Solferino, die die bedingungslose Sympathisantin auch die Schattenseiten der Revolution erkennen ließ: »Der entsetzensvolle Tag, an dem die Oesterreicher über 13.000 Tote ausser den Verwundeten und 10.000 Gefangene verloren! Auch Franzosen und Italiener hatten schwere Verluste! – Grauen überfiel mich inmitten meines Jubels: Unschuldige Menschen sich gegenseitig hinmordend, auf Befehl ihrer Fürsten, weil diese Gegner waren! – Wie konnte Gott das zugeben?«169 Lazarus-Remys affirmative Risorgimento-Rezeption verbirgt allerdings nicht das Leid, welche revolutionäre Handlungen mit sich ziehen. Sie kritisiert, dass viele unschuldige Menschen auf Befehl von Fürsten, die sich gegenseitig als Gegner betrachteten, hingemordet wurden. Ihre Beobachtungen der begangenen Kriegsübel, auch im 1. Weltkrieg, führten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrem Gottesbild und dem daraus resultierenden Problem der Rechtfertigung Gottes.170 Mit Garibaldi wurde der Einigungskampf im Mai 1860 auch in Süditalien in Angriff genommen, sodass er mit seinen ›Tausend‹ im Namen Viktor Emanuels die Diktatur über Sizilien und Süditalien ergriff. Fast ein Jahr später wurde Viktor Emanuel offiziell König von Italien (März 1861). »Unter all diesen Ereignissen berührte mich eines auf das Schmerzlichste: Die Abtretung Nizza’s an Napoleon! – Mein geliebtes Nizza, meine Geistesgeburtsstätte, Garibaldi’s Vaterstadt – ihm geraubt, der sich nun dort als Fremder fühlen musste! – Wie tief mag der edle Held diesen Schlag empfunden haben! Wahrlich, ein seltsamer Lohn für seine ans Wunderbare grenzende Befreiung des Vaterlandes!«171

168 Ebd. 169 Ebd. 170 Lazarus-Remy um 1927b: 168: »Es gibt einen Gott der Liebe und Schöpfer alles Guten … aber er ist nicht allmächtig. Ihm entgegen wirkt ein Dämon des Bösen: Krieg, Unglück, Verbrechen, Tierquälerei, Familienhass … und Zufallsstücke sind seine Werke … ach! Auch für uns Frauen.« In ihren politischen Auseinandersetzungen vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, beschäftigt sie sich immer mehr mit der Frage, wie Gott dieses Leid zulassen kann. »Ist er denn Allmächtig?« Rückblickend beschreibt sie in Mein Leben I die Italienischen Kriege, wo auch viele Österreicher, Franzosen und Italiener ihr Leben lassen mussten. Sie resümiert in: Lazarus-Remy 1927a: 20: »Unschuldige Menschen sich gegenseitig hinmordend, auf Befehl ihrer Fürsten, weil diese Gegner waren! – Wie konnte Gott das zugeben? War er wirklich der Allmächtige -? ›Steht dir nicht ein böses Wesen gegenüber? – Und ist zu Zeiten mächtiger als du, Allgütiger?‹ Meine Frage fand diesmal [Herv. i.O] keine Antwort ….« Lazarus-Remy beschäftigt sich immer mehr mit dem religiösen Dualismus und kommt zu dem Schluss, dass das Böse momentan die Macht übernommen habe, aber Gott irgendwann die Macht zurückerobere. Vgl. dazu auch ihre Tagebucheinträge während des 1. Weltkrieges: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 08.08.1914 und die Tagebuchnotiz von 1915, Arc.Nr. 01 134. Vgl. Kap. I, 3.3.2. 171 Lazarus-Remy 1927a: 33.

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Im Juni 1862 erschien Garibaldi in Palermo, zur selben Zeit, als Sturmhoefel d.J. mit ihrer Mutter erneut dort lebte. Die charismatische Wirkung Garibaldis auf die Bevölkerung, die sie selbst miterleben konnte, wurde von ihr wie folgt beschrieben: »Wohin er wollte, das wusste alle Welt. Mit fiebernder Begeisterung rief, schrie, jauchzte alles: ›Nach Rom! Nach Rom!‹ […] Alle Blicke, der vor Freude durchleuchtenden Gesichter waren auf dem grossen Mittelbalkon des Palastes gerichtet, in der heissen Sehnsucht, den Helden erscheinen zu sehen. […] Mit feuchten Augen sahen wir uns an, und die Frage zitterte in unseren Seelen: war je ein Mensch so geliebt?«172 Garibaldi war in Palermo, um für seinen geplanten Vormarsch auf Rom im August 1862 Freiwillige zu werben. Als Anführer der Freiwilligen wurde er zur Kultfigur der europäischen Freiheitsfreunde. Mit seiner buntgemischten Truppe, die Freiwillige aus ganz Europa vereinte und begeisterte, setzte er sich 1867 für den Wunsch nach Weltbürgertum (Kosmopolitismus) ein.173 »Die Bewohner mischten sich in seine Truppen, selbst Knaben liessen sich nicht zurückhalten.«174 Bevor Garibaldi weiter nach Calabrien [sic!] zog, erhielt Sturmhoefel d.Ä. als Zeitungsberichterstatterin175 Zutritt zum Audienzsaal. Als Korrespondentin erhielt sie persönliche Auskunft über sein weiteres politisches Vorgehen. »Beim Abschied erwähnte sie meine Verehrung für ihn, und bat ihn, mir einen Kuss zu geben; es würde eine Auszeichnung sein, fürs ganze Leben. Aber – statt dem Wunsch zu willfahren, sah er mich gedankenvoll an, murmelte ein Wort – (nur mir hörbar, – ›angelo custode‹ – und neigte sich soweit herunter, dass meine Lippen, kaum es wagend, seine hohe, gewölbte Stirn berührten … Die Weihe dieses Augenblicks blieb haften für alle Zeit. – - – Ach! Der schüchterne Kuss des ›Schutzengels‹ hat den Helden nicht vor dem Schuss aus piemontesischen Soldatengewehr bewahren können!«176 Garibaldi wurde bei der Schlacht am Amspromonte im August 1862 schwer verwundet, gefangengenommen und auf die Insel Caprera verbannt. Die Anführer der Risorgimento-Bewegung waren gesamteuropäische Helden, von denen Sturmhoefel d.Ä. einige persönlich kannte oder in brieflichen Kontakt stand. So werden in Lazarus-Remys Mein Leben I neben Garibaldi auch Schriftsteller wie Carlo Poerio (1803–1867), der viel verfolgte Schriftsteller Giuseppe La Farina (1815–1863), der italienische Autor Vittorio Imbriani (1840–1886) sowie unter anderem die Politiker Urbano Rattazzi (1808–1873) und Francesco Crispi (1818–1901) anerkennend gewürdigt.177 Daneben widmet Lazarus-Remy der Freiheitskämpferin und Journalistin Christina Trivulzio Belgiojoso (1808–1871) mit herzlichster Bewunderung eine eingehenden Darstellung: »Sie trat vollkommen als Emancipierte [sic!] auf, doch ohne jegliche Selbstgefälligkeit, sondern lediglich der guten Sache

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Lazarus-Remy 1927a: 38. Vgl. Ujma 2007: 55. Lazarus-Remy 1927a: 38. Zu den Protagonisten der deutschen Italien- und Risorgimentorezeption gehörten auch progressive Schriftstellerinnen wie Fanny Lewald (1811–1889) und Ludmilla Assing (1821–1880). Lazarus-Remy 1927a: 38. Ebd.: 20: »Wie erglühte mein Herz für all diese Patrioten!«

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dienend. Das fühlte Jeder und achtete sie.«178 Ihre Autobiografie Mein Leben I stellt eine konstruktive Risorgimento-Rezeption179 dar, die die Jahre 1858 bis 1863 umfasst.

1.1.6 »Anheimelnde« Beständigkeit in Flatow (1863–1864) Von Palermo aus in Kopenhagen angekommen, reisten sie über Stettin zunächst kurz nach Berlin, um die Großmutter, Caroline Knopff, sowie die zwei Schwestern von Sturmhoefel d.Ä. zu besuchen. Die Weiterreise führte danach direkt zurück nach Flatow, wo sie von der kränkelnden Großtante Jette im Frühling 1863 freudig empfangen wurden. Nach zehnjähriger Abwesenheit wird Sturmhoefels d.J. geliebtes Flatow mit einer konträren Impression eingeführt: »Der Gegensatz zwischen den bunten, aufregenden Eindrücken des Südens und den engen, eintönigen Zuständen des westpreussischen Landstädtchens konnte nicht frappanter sein, aber die Zurückgekehrte fügte sich willig in die kleinen, niedrigen Stuben und Menschen, dankbar für die Rast, die ihr gegönnt war.«180 Liebevoll beschreibt sie in ihrer Konversionserzählung das polnisch-westpreußische Städtchen und dessen Architektur, wo die Gärten sich »terrassenmäßig hinunter nach dem See erstreckten«181 . Hinter dem See befindet sich der Tiergarten, wie der angrenzende Wald bis heute genannt wird, der Sturmhoefel d.J. oft als Zeichenvorlage diente.182 Die katholische Kirche mit einem »schönen aufstrebenden Thurm« befindet sich außerhalb des Städtchens, während die »einfache«183 protestantische Kirche, entworfen vom preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), mitten auf dem Markt steht. Auf dem Markt befand sich noch eine Apotheke, das Schulhaus und »auf der anderen Seite […] gerade an der Stelle wo Doris Semrau, die erste (und einzige!) Gespielin des damals dreijährigen Idchens [Sturmhoefel d.J.], in einem bescheidenen Hause gewohnt hatte, – da war ein großes, stattliches, rothes Gebäude emporgewachsen: das Provinzialgefängniß.«184 Flatow gehörte zu den wenigen Orten, die Lazarus-Remy retrospektiv stets mit positiven Erinnerungen verband und der für sie als idealer Ort zum Leben galt.185 Denn in Flatow hatte sie ihre erste und einzige Freundin, sie hatte zum ersten Mal bei ihrer Großtante Jette das Gefühl, dass sie familiär geborgen und angekommen war und sie hatte erstmalig positive Erfahrungen im Religionsunterricht machen können. So wurde Flatow

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Ebd.: 34f. Weiterführende Informationen zum Risorgimento finden sich u.a. bei Hearder 1983 oder Petersen 1999. 180 Lazarus-Remy 1927a: 42. 181 Lazarus 1898b: 111. 182 Ebd. 183 Ebd.: 105f. 184 Ebd.: 106. 185 Ebd.: 104: »Sie sah all die Menschen und all die Stätten wieder, die sie von ihrem dritten und vierten Lebensjahr an noch in guter Erinnerung behalten.« Vgl. auch Lazarus 1898b: 105: »Auch die liebe grüne Wiese war noch genau an derselben Stelle!«

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zu einem Heimatort, wo ihr bereits bei der Rückkehr »eine, durch die fast schwärmerische Zuneigung der Großtante genährte, allgemeine Sympathie dem Idchen aus Flatower Häusern und Herzen entgegen flog«186 . Ihre Eindrücke des Örtchens werden fortwährend literarisch mit der Frühlingsmetapher markiert: »Einmal – es war ein wunderschöner Frühlingstag. Die ganze Luft war erfüllt von Sonnenschein und Vogelgesang, von Duft und Wärme. […] Alles athmete Wonne und Frieden. […] Alles war so schön, so fröhlich um sie her. Ein Klingen und Singen, ein Lachen und Kichern der in den Nachbargärten bei ländlicher Arbeit sich tummelnden Mägde, während von drüben aus dem Walde Zurufe und Lieder über den See herüber tönten.«187 Dies spiegelt ihre Vorfreude auf eine positive Veränderung wider. Während sie am Hafen von Palermo Abschied nahm von ihrem »Lebens Mai«188 , scheint sie ihre Hoffnung darauf zu richten in Flatow etwas Neues beginnen zu können. »Die Fünfzehnjährige sog die Lieblichkeit der sie umgebenden thaurischen Frühlingsnatur in vollen Zügen ein.«189 Nicht nur das Dörfchen erstrahlt in der Frühlingssonne, selbst ihre kranke Großtante erblüht durch die Ankunft ihres Idchen wieder zur Gesundheit, »in der Tat fühlte sie sich so jung wie noch nie«190 . Diese Fröhlichkeit habe Sturmhoefel d.J. völlig eingenommen, sodass auch sie den Wunsch verspürte, ein Teil dieser Frühlingsnatur und Fröhlichkeit zu werden und damit auch anderen eine Freude zu bereiten. Sie fühlte sich von den vorherigen eingeschränkten Verhältnissen und Sorgen befreit und endlich glücklich, sodass sie zum ersten Mal vertrauensselig den Konfirmandenunterricht beim Superintendenten Dr. Karl Anton Gottlieb Tobold (1792 bis zum 12. September 1864) in Flatow, den ihr ihre Großtante Jette ans Herz legte, besuchte.191 Die Großtante Jette pflegte mit der Familie des Superintendenten Dr. Tobold ein sehr inniges Freundschaftsverhältnis, sodass sie die Fortschritte der Konfirmation streng verfolgte.192 Während sie bei ihrer Großtante Jette endlich ein beständiges Leben erhielt, versuchte ihre Mutter in Berlin, Hamburg, Dresden und in Leipzig literarische Beziehungen zu knüpfen. »Eines Tages platzte folgender Brief wie eine Bombe in das trauliche Stilleben: Berlin, 8. Febr. 1864. Mein liebes Kind! Wir müssen versuchen, uns eine Existenz zu gründen. Wir haben in der Victoriastrasse, an der Potsdamer Brücke, gemietet, sind eingezogen

186 Ebd.: 105. »Idchen« sei, neben »Anchen«, ein Kosename der Großtante Jette für Lazarus-Remy gewesen. 187 Lazarus 1898b: 121. Vgl. auch ebd.: 111f.: »Köstliche hochragende Tannen mit lichtgrünen Lärchen und wehenden Birken gemischt, viel Unterholz und hohes wogendes Schilfdickicht umkränzte die klare Wasserfläche und später blühten die weißen und gelben Wasserlilien auf und winkten geheimnißvoll die Flatower Jugend herüber.« 188 Ebd.: 121. 189 Ebd. 190 Lazarus-Remy 1927a: 42. 191 Vgl. Lazarus 1898b: 108f. 192 Dr. Karl Tobolds Töchter, die Lazarus-Remy auch in ihrer Konversionserzählung erwähnt, waren Elvira, Natalie und Antonia (Auguste Wilhelmine) Tobold. Näheres zum Konfirmandenunterricht beim Superintendenten Dr. Tobold siehe Kap. I, 1.2.1.

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und eingerichtet. […] Wir erwarten eine reiche Pensionärin und die Töchter des Engländers […]. Da ich aber nun Stunden ausser dem Hause gebe, muss durchaus Jemand bei der Hand sein, deshalb musst du kommen, und auch deinetwegen, denn ich will dich einem Manne vorstellen, der bei der Königin viel Einfluss hat und der uns eine Pension zu deiner Erziehung verschaffen soll.«193 Ihre Mutter versuchte mit ihrer Cousine Adelheit v. Engelbrecht eine Pension zu gründen, um damit eine zusätzliche Einnahmequelle zu sichern (s.Kap. I, 1.2.5). »So war es also mit dem friedlichen, uns beglückenden Zusammenleben wieder vorbei!«194 , notierte Lazarus-Remy in Mein Leben I. Nach dreitägiger Reisevorbereitung machte sich Sturmhoefel d.J., wie geplant am 11. Februar 1864 und genau der Anweisung ihrer Mutter folgend, auf den beschwerlichen Weg. Da eine Alleinreise für eine Frau immer noch sehr gefährlich war, besonders für ein 15-jähriges Mädchen, riet Sturmhoefel ihrer Tochter, nur tagsüber zu reisen.195 Von Flatow aus sollte sie zunächst ihren Onkel Kommerzienrat in Bromberg aufsuchen, um ihn um finanzielle Unterstützung von 100 Talern zu bitten, »aber sage nicht, dass ich mit A.[delheid v. Engelbrecht] etwas zusammen anfange, sonst glauben sie, wir wollen zu hoch hinaus«196 . »Unerfahren, schüchtern, halbblind, wurde mir das Alleinreisen eine Quelle fortwährender Gefahr. Das Umherirren in einer fremden Stadt, das Aufsuchen dieses nie gesehenen Mannes, das Geld erbitten … Wie lehnte sich mein Stolz dagegen auf! – Und doch! Hier, wie leider auch später und wiederholt bin ich unbedingt der Weisung meiner Mutter gefolgt; ihrem Willen völlig ergeben.«197

1.2

Mädchen- und Frauenbildung

1.2.1 Nahida Sturmhoefels d.J. Erziehungs- und Bildungsweg (1849–1864) Möchte man Lazarus-Remys Bildungsmöglichkeiten beleuchten, muss vorab erwähnt werden, dass die bürgerliche Mädchenbildung im Europa des 19. Jahrhunderts nicht einheitlich organisiert war, sondern sich durch soziale Differenzen, ausgehend von den Einkommensverhältnissen der verschiedenen Gruppen des Bürgertums, aufteilte. Es gab öffentliche Schulen, Privatschulen und Erziehung im Haus, das Schulsystem gliederte sich standesspezifisch in höhere, mittlere und niedere Schule.198 So konnten die Mädchen aus dem Kleinbürgertum vornehmlich die mittleren Mädchenschulen199 besuchen, die insbesondere einen Schwerpunkt auf praktische und hausfrauliche Tätigkeiten legten, während die höheren Mädchenschulen, die darüber hinaus auch Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelten, überwiegend von den Töchtern des

193 Lazarus-Remy 1927a: 44. 194 Lazarus-Remy 1927a: 45. 195 Ebd.: »Du musst die Tour nach Berlin aber am Tage machen, da es in dieser Jahreszeit eine zu grosse Anstrengung und gefährlich ist, in der dritten Klasse zu reisen bei Nacht.« 196 Ebd.: 44f. 197 Ebd.: 45. 198 Vgl. dazu Reents und Melchior 2011: 235. 199 Vgl. Zinnecker 1973: 49f.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

wohlhabenden Großbürgertums besucht wurden.200 Den Mädchen beider Schulformen wurde jedoch nur das gelehrt, was der weiblichen Bestimmung diente. Während die angehenden Hausherrinnen ein vertieftes Wissen in Nähen und Sticken erhalten sollten, reichte eine oberflächliche Wissensvermittlung in Rechnen, Schreiben, Lesen und den schönen Künsten. »Der Zweck dieser Unterrichtsgegenstände wurde allein von der späteren Ehe her bestimmt: Die Mädchen würden so einmal in der Lage sein, ihren Gatten zu erfreuen, und dabei würden die Ehemänner vor allem nicht das Gefühl entwickeln, wegen mangelnd gebildeter Gattinnen etwa auf anregende Gespräche verzichten zu müssen.«201 Sturmhoefel d.J. bekam infolge der spezifischen Lebensumstände in ihrer Kindheit von ihrer alleinstehenden Mutter, einer Verfechterin des Fröbelschen Erziehungskonzeptes202 , eine intensive Frühförderung in Lesen, Schreiben sowie Unterricht in drei verschiedenen Sprachen (Deutsch, Italienisch und Französisch).203 Nach dem umfangreichen Fröbelschen Erziehungskonzept der Spielpädagogik gehörte die frühe Sprachförderung als begleitendes Wort wesentlich dazu. Das Kind sollte idealerweise bereits als Säugling durch die stetige Anwendung der Sprache im spielerischen Alltag ungezwungen deren genaue Verwendung erlernen.204 Auch im Erlernen von Zeichnen, Malen und Gestalten wurde Sturmhoefel d.J. hauptsächlich durch begleitende Naturbeobachtung, -pflege und -erforschen unterwiesen. Die fröbelsche Erziehungstheorie zielte auf eine tolerante und psychologisch orientierte Erziehungsmethode. Das Kind, so auch Sturmhoefel d.J., sollte als selbstständiges und freidenkendes Kind erzogen werden. Angeregt durch den eigenen Wissensdrang sollte es sich autonom eine Meinung bilden, diese vertreten und somit eine Selbstverwirklichung erreichen. Der Effekt dieser emanzipatorischen Erziehungsweise, die der üblichen zweckgebundenen Mädchenbildung widersprach, sollte für Sturmhoefels d.J. weiteren Bildungs- und Berufsweg stets zu einer Hürde werden. Denn gerade »diese Selbstständigkeit des Denkens [bereitete] dem jungen Menschenkinde viele Prüfungen und herbe Enttäuschungen«205 . Mit fast sieben Jahren (Dezember 1855 bis August 1856) erhielt sie in Nizza ihren ersten Schulunterricht in der evangelischen Handarbeitsschule.206 In den für gewöhnlich vier bis fünf Schulstunden wurden die Mädchen in den Fertigkeiten Spinnen, Weben und

200 Ebd. 201 Doff 2004: 5. Vgl. Weimer 1992: 174. Die Reform der Mädchenbildung fand allmählich ab Mitte des 19. Jh.s infolge der Frauenfrage statt, wobei die Frauen liberale Rechte forderten, wozu auch das Recht auf Bildung gehörte. Vgl. Kap. II: 178. 202 Eine ausführliche Übersicht über das Fröbelsche Erziehungskonzept bieten Heiland 1991 und Schmidt 2007. 203 Vgl. Hardach-Pinke 2000: 62. Seit dem 19. Jh. wurde der standesmäßig verpflichtende Französischunterricht auch für Mädchen durch die Fremdsprache Englisch zusätzlich erweitert. Sturmhoefel d.Ä., aus einer großbürgerlichen Familie stammend, beherrschte neben dem Französischen auch Italienisch, was sie neben dem Klavierspiel für Unterrichtsstunden als Erzieherin/Gouvernante nutzte. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 7. 204 Vgl. Fröbel 1874: 31; 55. 205 Lazarus 1898b: 81. 206 Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 6.

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Sticken unterrichtet, wobei streng darauf geachtet wurde, dass ihnen trotzdem ausreichend Zeit für häusliche Beschäftigungen blieb. Rückblickend sei der handwerkliche Unterricht begrenzt und eintönig gewesen, da der Bildungsschwerpunkt hauptsächlich auf der »Gewissenhaftigkeit«207 der Ausführung lag. Obwohl sich später gerade diese erlernten Fertigkeiten als finanzielle Beihilfe für die Mutter als sehr nützlich erwiesen, bedauerte es Sturmhoefel d.Ä., ihrer Tochter nicht in dem Umfang eine Weiterbildung ermöglichen zu können, wie es für ihren Lerneifer notwendig gewesen sei. Sie notierte in ihrem Tagebuch von 1856: »Dein Tätigkeitstrieb verlangt besonders nach geistiger Befriedigung und ich mache mir Vorwürfe über die Vernachlässigung deines Unterrichts.«208 Durch die Umsiedlung nach Pisa und die neue Situation bei der Gräfin St. Germain erhielt Sturmhoefel d.J. ab November 1856 bis Mai 1860 eine dem Stand der Gräfin angemessene Erziehung. Die Mädchenbildung des wohlhabenden Großbürgertums und des Adels blieb noch im 19. Jahrhundert, trotz der aufkommenden höheren Mädchenschulen, überwiegend eine Sache der privaten Initiative. Mithilfe von Hauslehrern erhielt auch Sturmhoefel d.J. bei der Gräfin St. Germain neben dem obligatorischen Elementarunterricht auch Unterricht in Haushaltsführung sowie eine sittlich-künstlerische Erziehung. Von den wohlhabenden Töchtern wurden vor allem musikalische, künstlerische und sprachliche Kenntnisse erwartet, sodass sie sich an den intellektuell-gesellschaftlichen Verpflichtungen, wie beispielsweise auch den von ihr erwähnten alltäglichen Teestunden der Gräfin St. Germain, beteiligen und zur Unterhaltung beitragen konnten. Der Privatunterricht bei der Gräfin St. Germain, der zunächst wenig Mathematik-, Leseund Schreibkenntnisse beinhaltete, konzentrierte sich auf den sittlich-künstlerischen Schwerpunkt und somit vor allem auf Religions-, Sprach- und Klavierunterricht. Da das Klavierspiel in der Erziehung der wohlhabenden Töchter eine besondere Bedeutung einnahm, erhielt sie im privaten Musiksaal der Gräfin St. Germain täglichen Klavierunterricht, der von ihr jedoch durch ihre starke Kurzsichtigkeit als Qual empfunden wurde: »Wenn die Gräfin dem Unterricht beiwohnte, wars am schlimmsten. Die Herrische, keinen Widerspruch Duldende, verlangte das Unmögliche: Geradesitzen und Notenlesen.«209 Die funktionsgebundene Mädchenbildung, die vor allem der künstlerischen Unterhaltung der Familie und Gäste diente210 , wird von Lazarus-Remy ausführlich in ihrer Konversionserzählung dargestellt: »Unter den meist älteren Damen und Herren nahm sich die stets weißgekleidete, blondlockige kleine Deutsche wie ein Stückchen Poesie aus. Nachdem sie dann sattsam gehätschelt und gezeigt worden, musste sie noch ihre Sprach-, Zeichen- und Musikkünste produciren [sic!].«211 Durch ihre Kurzsichtigkeit gezwungen, nutzte sie ihr »außerordentliches musikalisches und sprachliches Gedächtnis«212 und lernte die jeweiligen Klavierübungen vom Notenblatt auswendig, sodass sie diese gerade sitzend aus dem Gedächtnis vorspielen 207 The National Library of Israel, Department of Archives: Handschriftliche Lebensdatentabelle (1852–1870), Arc.Nr. 01 123.3: »Handarbeitsschule. Gewissenhaftigkeit: (Die Stiche dürfen nicht zu sehen sein!).« 208 Lazarus-Remy 1927a: 7. 209 Ebd.: 11. 210 Vgl. Kaplan 1988: 162. 211 Lazarus 1898b: 24f. 212 Ebd.: 22f.; 24.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

konnte.213 Nach einiger Zeit erhielt sie zu ihrer Freude »statt der zwecklosen Klavierquälerei Unterricht in Geschichte und Geographie«214 . »Von Physik, Chemie, Literatur usw. war damals beim Mädchenunterricht noch nicht die Rede. Dagegen erhielt ich Reitunterricht und bekam ein Pony.«215 In der Sommerzeit, die die Gräfin St. Germain in Lucca oder Florenz verbrachte, erhielt sie Rechenunterricht von der Gräfin persönlich.216 Zusätzlich eignete sie sich neben der Malerei und dem Sticken, was zu den selbstverständlichen Fertigkeiten junger Mädchen gerechnet wurde, auch die Bildhauerkunst an, indem sie erlernte, Alabastergestein zu bearbeiten. Sie fertigte fleißig unterschiedliche Alabastergegenstände, wie Rahmen, Briefbeschwerer, Kreuze, die sie dann den Gästen der Gräfin vorzeigte.217 Gerührt erinnerte sie sich rückblickend an einen kleinen Spiegelrahmen verziert mit einer Schleife, den sie als Geschenk für die Gräfin St. Germain gemeißelt hatte und der dann alltäglich von ihr benutzt wurde.218 Aber am meisten begeisterte Sturmhoefel d.J. die umfassende Privatbibliothek der Gräfin St. Germain, die ihrem »Lesehunger reichlich Nahrung« bot: »Bilderbücher, Reisebeschreibungen, Memoiren, Geschichtswerke, darunter zwanzig kleine, dicke Bände mit Lederrücken: ›Histoire des Grecs et des Romains‹, waren die Quelle reinster Freude, befriedigter Wissbegierde!«219 Die immer wiederkehrenden ausführlichen Auflistungen ihres Lektürepensums dienten vor allem zur Hervorhebung ihrer frühen Literaturkenntnisse, die als Kennzeichen für die Zugehörigkeit zum gebildeten Bürgertum vom hohen Stellenwert waren. »Diese Wertschätzung der Literatur und der Sprache äußerten sich konsequenterweise im frühzeitigen Training der Kinder in der Kunst des Briefeschreibens.«220 So wurden Schüler nicht nur im orthographischen und grammatikalischen Schreiben unterrichtet, sondern vor allem auch im Stil und in Kalligrafie. Auch für Lazarus-Remy war es besonders wichtig, dass gerade Frauen eine einwandfreie Schreibart erlernten, um ihre gebildete und vornehme Erziehung zu betonen.221

213 Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 11. 214 Ebd.: 13: »Es ging nicht nur still und friedlich in unsren Stunden zu, die in der Bibliothek stattfanden, sondern für beide Teile immer froher und fesselnder. Höchst eindringlich führte mich dieser treffliche Pädagoge aus der Vergangenheit immer schneller in die Gegenwart, denn er entdeckte durch gelegentliche Fragen und Bemerkungen seiner Schülerin, welch ein brennendes Interesse sie an den Zeitereignissen nahm.« Vgl. auch ebd.: 18: Im Frühjahr 1859 wurde ihr Geschichtslehrer entlassen, vermutlich, weil er sie belehrt hatte, dass »Victor Emanuel die Einigung Italiens betrieb, und Oesterreich dafür die schönen Fluren der Lombardei verwüstete.« 215 Lazarus-Remy 1927a: 13. 216 Ebd.: »Es war dies eine Quälerei wie beim Klavierspiel; sie war ungeduldig und heftig und ich eingeschüchtert und darum begriffsstutzig.« 217 Vgl. ebd.: 11. 218 Ebd.: 17. 219 Ebd.: 11. 220 Spree 2011. 221 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 01.07.1923, Arc.Nr. 01 134: »Langen Brief von Marie [Delago] an ihre Eltern, es geht ihr sehr gut – aber eine schauderhafte nachlässige Schrift voll orthographischer Fehler! Bin ganz deprimiert darüber. Was soll man von dem Charakter eines Menschen denken, der solcher unwürdigen Kritzelei fähig ist? Noch dazu auf schmutzigem Schulheftblättern mit Fettflecken etc. Bleistift – da ihr die ›Tinte ausgeht!‹ Gibt’s kein Briefpapier in Schweden?«

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Ab Juni 1860 lebte Sturmhoefel d.J., wieder mit ihrer Mutter vereint, für zwei Jahre hauptsächlich in Palermo. Da Sturmhoefel d.Ä. noch immer die Gouvernantenstelle im herzoglichen Haus besaß, übergab sie ihre Tochter in ein von Nonnen geleitetes katholisches Klostererziehungsinstitut für Mädchen höherer Stände (Sommer 1860 bis März 1861). Für die Mädchenbildung konzipiert, enthielt die Klosterschulordnung die Lehrgegenstände Religion, Lesen, Schreiben, Französisch sowie Handarbeiten, auf die besondere Aufmerksamkeit gelegt wurde.222 Retrospektiv beurteilte sie den Schulplan als veraltet, da bei der Unterrichtsweise keine methodischen Fortschritte oder Eigentümlichkeit zu erkennen seien.223 »Die neue Schülerin erkannte in der hier geübten Aussprache ihr geliebtes Französisch kaum wieder und auch im Übrigen hielt die dortige Lehrmethode und besonders die Lectüre, welche den Schülerinnen geboten wurde, vor ihrem geistigen Urtheil nicht Stand.«224 Ab ihrem 13. Lebensalter (1862) beschränkte sich Sturmhoefels d.J. Mädchenbildung nur noch auf den Religionsunterricht bei unterschiedlichen evangelischen Geistlichen. Im Juni 1862 übersiedelte Sturmhoefel d.Ä. mit ihrer Tochter nach Neapel, wo sie den Religionsunterricht beim Preußischen Gesandtschaftsprediger Wilhelm Remy in einer »großen und angesehenen deutsch-evangelischen Gemeinde«225 besuchte. Pfarrer Remy sei »ein schlichter Mann [gewesen], dessen schmucklose Art der Belehrung und des Benehmens in auffallendem Gegensatz zu der Lehrart im palermitanischen Kloster«226 stand. Er konnte Sturmhoefels d.J. Interesse an den christlichen Dogmen nicht entfachen, sodass er ihren »Seelenzustand« schließlich als »unerklärliche[n] Starrsinn« bezeichnete und sie recht schnell in die »Erbauungsstunden eines anglikanischen Missionsgeistlichen«227 schickte (August bis November 1862). Dabei handelte es sich um einen jungen Reverend namens Douglas, der sich in seinem Entsendungsdienst in Neapel befand. Über den Inhalt und die Methodik des religiösen Unterrichtes bei Reverend Douglas wird von Sturmhoefel d.J. nichts berichtet, außer dem »Feuereifer, mit welchem er den Leichtsinn und die Gleichgültigkeit besonders der weiblichen Jugend in Religionssachen zu brechen verstand«228 . Obwohl die Begriffsverwendung ›brechen‹ für die typisch pietistische Erziehungsmethode der Züchtigungen steht (s.Kap. I, 1.2.2), verweist Lazarus-Remy auch auf die implizierte Verwendung von sexueller Nötigung vonseiten männlicher Aufsichtspersonen. Bestätigt wird diese vor allem durch Sturmhoefels d.J. persönliche Erfahrung eines sexuellen Übergriffs des Reverend Douglas im Herbst 1862. Die Dreizehnjährige beschreibt in ihrer Konversionserzählung, wie sie nach dem Konfirmandenunterricht von Douglas ergriffen und zum Kuss genötigt wurde: »Ich erschrecke und will zurückweichen, aber ich kann mich kaum rücken und rühren – so hält er mich mit seinen beiden Armen umfaßt. Dabei kommt mir sein Gesicht immer näher und näher. […] Er wollte mich mit Gewalt küssen, aber ich wich ihm fortwährend

222 223 224 225 226 227 228

Vgl. Lazarus 1898b: 77. Siehe dazu auch Schiller 1894: 47. Lazarus 1898b: 76f. Ebd.: 77. Zur christlichen Lektürekritik siehe Kap. I, 1.2.3. Lazarus-Remy 1927a: 33. Lazarus 1898b: 79. Ebd.: 93. Ebd.

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aus.«229 Gekränkt und wütend über ihre abwehrende Reaktion zwang Reverend Douglas sie zu Boden und beschimpfte sie als »kleine, widerspenstige Hexe«230 . Diese Erfahrung entwickelte bei Sturmhoefel d.J. eine zeitlebens anhaltende Verachtung und Skepsis gegenüber christlichen Geistlichen und ein neues Misstrauen, »eine befangene Scheu gegen die Angehörigen des anderen Geschlechts, die ihrem keuschen Naturell bisher ganz fremd gewesen [waren]«231 . Im Frühjahr darauf kamen Mutter und Tochter wieder zurück nach Flatow, wo ihre Großtante Jette, schockiert, dass Sturmhoefel d.J. noch nicht konfirmiert worden war, sie schnellstmöglich zum Konfirmandenunterricht bei Superintendent Dr. Karl Tobold (1792 bis zum 12. September 1864) schickte (Mai 1863 bis Februar 1864).232 So erhielt die nun Dreizehnjährige von neuem Religionsunterricht. Diesmal fand er unter einer besonders erfreulichen Konstellation statt, denn »die neue Schülerin wurde nicht mit anderen Mädchen zusammen unterrichtet, sondern allein. Es war dies ein weises Zugeständniß, denn es entzog das junge Mädchen ein für allemal den Spöttereien und Neckereien der Genossinnen, welche bisher ohne gerade böse zu sein, in der geistig überlegenen ›Wahrheitsucherin‹ und ›Freidenkerin‹ einen Gegenstand des Neides sahen, und Quelle höchst unbequemer Selbstkritik.«233 Sturmhoefels d.J. frühe fröbelsche Erziehung durch ihre emanzipatorische Mutter zielte vor allem auf die Selbstverwirklichung im geistigen und persönlichen Bereich, was der Frau des 19. Jahrhunderts noch weitgehend abgesprochen wurde, und oft sogar nicht einmal als erwünscht galt. Das führte nicht nur zu Auseinandersetzungen mit den Geistlichen (s.Kap. I, 1.2.3), sondern speziell auch mit ihren Mitschülerinnen: »›Eine Frage ist doch erlaubt? Eine Frage ist doch nichts Böses?‹ Dann wurde ihr regelmäßig die Antwort gegeben: ›Wozu?‹ ›Damit wir uns klar werden. […] Damit wir die Wahrheit finden!‹ ›Die Wahrheit?‹ Helles Gelächter brach ringsum aus und spottend neckten sie sie die Wahrheit-Sucherin.«234 Sie entfremdete sich immer mehr von ihren Mitschülerinnen, sodass letztendlich »kein Mädchen mehr mit ihr ging und selbst auf den Bänken in der Kirche rückten sie von ihr fort, so dass sie bald allein saß. Allein!«235 Der neue Religionsunterricht bei Tobold eröffnete ihr zum ersten Mal die Möglichkeit »ohne Scheu vor den Spötterinnen, ihre Fragen offen«236 stellen zu dürfen und gab ihr Kraft, sich wieder mit ihrem Glauben und ihren Zweifeln auseinandersetzen zu können.

229 Ebd.: 101f. 230 Ebd.: 102f: »Da wurde er auf einmal wüthend und drückte mir das Handgelenk so furchtbar, dass ich einen Schrei ausstieß und auf die Kniee fiel. Da sagte er noch leise: ›du kleine, widerspenstige Hexe du‹ […] und fort war er, ins Nebenzimmer geeilt.« 231 Lazarus 1898b: 113. 232 Ebd.: 108. Dr. Karl Tobold war seit 1820 Pastor und Superintendent in Flatow. 233 Ebd.: 109. 234 Ebd.: 86. 235 Ebd.: 87. 236 Ebd.: 110.

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1.2.2 Pietistische versus J. Lockes und J.J. Rousseaus Erziehungsansichten In den weiblichen Autobiografien des 19. Jahrhunderts finden sich häufig an der Stelle der Kindheitsbeschreibung auch pädagogische Reflexionen.237 Lazarus-Remys Konversionserzählung Ich suchte Dich! enthält destruktive Randbemerkungen über die pietistischen Erziehungsmethoden bei der Gräfin St. Germain (1856–1860). Darin werden ihre pietistisch-religiösen Erziehungserfahrungen kritisch vergleichend mit Rousseaus und Lockes aufklärerischen Erziehungsmodellen diskutiert. Bei der Gräfin St. Germain lieblos erzogen, erhielt Sturmhoefel d.J. dem Stand entsprechend eine streng pietistisch-religiöse Erziehung.238 Orientiert an A.H. Franckes239 Lehrplan, begann und schloss der Tag bei der Gräfin mit Gesang und vor allem mit dem Gebet. »Geistliche gingen bei ihr [der Gräfin] aus und ein, und sorgten dafür, dass das Kind fleissig zum Beten angehalten wurde; es geschah dies, wie Alles, nach der Uhr.«240 Jeden Morgen musste Lazarus-Remy am Himmelbett der Gräfin – gemäß dem allbekannten Bild von Kindern am Himmelbett kniend und betend – das Vaterunser 241 und den Englischen Gruß242 in vier Sprachen vorbeten: »Morgens […] musste es an das hohe Himmelbett der Gräfin treten und das Vaterunser und den ›Englischen Gruß‹ hersagen; beides hintereinander weg in den vier Sprachen: englisch, französisch, italienisch und zuletzt deutsch.«243 Jedoch habe die Gräfin einen »pädagogischen Fehler« begangen, »indem sie diese Gebete lediglich als Sprachübung verwendete« und damit »den religiösen Inhalt entwürdigte«244 . Sie selbst verurteilte ein stupides Auswendiglernen von religiösen Inhalten. Damit gehe die Gewichtung der religiösen Botschaft verloren und somit auch die Ehrfurcht. Diese Vorgehensweise verurteilte Lazarus-Remy streng, da sie der Meinung war, dass ein gläubiger Mensch die religiösen Inhalte pflegen, bewahren und leben sollte (s.Kap. I, 1.2.3). Im Geist der pietistischen Erweckungsvorstellung sollte mit Morgenandacht, Abend- und Tischgebet Sturmhoefels d.J. religiöser Charakter geschärft werden. »Auch bei den Tisch- und Abendgebeten blieb Nahida regelmäßig Vorbeterin und ihre Aussprache besonders des Französischen wurde sehr bewundert.«245 Nach Francke war das Kind mit einem bösen Eigenwillen versehen (Erbsündendogma), der nur mithilfe strenger Erziehung gebrochen werden konnte.246 »Die Aufgabe alles Unterrichts war, 237 Vgl. Prange 1987. Siehe dazu auch Lazarus 1897b: Ihre Konversionserzählung Ich suchte Dich! sowie der Vortrag Mein Seelenkampf seien »sehr lehrreiche [Anweisungen] für alle Mütter, Pädagogen und Erzieher.« 238 Lazarus 1898b: 35: »Die Gräfin, einer pietistischen Secte angehörend, hielt sich für sehr fromm und galt in vielen Kreisen als eine Heilige.« Vgl. auch Lazarus 1898b: 23. 239 August Hermann Francke (1663–1727), Hauptvertreter der pietistischen Pädagogik und Begründer der späteren Francke’schen Erziehungsanstalten. 240 Lazarus 1898b: 35. 241 Vgl. Mt 6,9-13. 242 Vgl. Lk 1,28. 243 Lazarus 1898b: 35. 244 Ebd.: 35f. 245 Ebd.: 36. 246 Schiller 1894: 207. Francke, August Hermann (1733): Kurzer und einfältiger Unterricht. Wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind. Vgl. auch Blankertz 1982: 51.

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die Kinder ›zu einer lebendigen Erkenntnis Gottes und Christi und zu einem rechtschaffenen Christentum wohl anzuführen.‹«247 Allein durch stetiges Beten, Bibelstudium und das strenge Verbot von Spiel und Musik sei die Gottseligkeit zu erreichen. Das Kinderspiel sei der anschauliche Ausdruck des Müßiggangs, der wiederum der Anfang aller Laster sei.248 Diese streng pietistische Erziehungsmethode kritisierte LazarusRemy rückblickend als eine »unnatürliche« Kindheit: »Es war unnatürlich, dass das Kind nicht als Kind behandelt wurde, dass es nicht Gespielen, dass es nicht Spielzeug besaß. Ein kleines Mädchen ohne Puppe – (und wäre es das kleinste, winzigste, nackteste, häßlichste Püppchen) – jede Mutter und jeder Menschenfreund wird die Tragik dieser anscheinend lächerlich unbedeutenden Thatsache ermessen.«249 Nach dem radikalen Erziehungsprinzip des Pietismus wird das Kind von seiner Umwelt völlig isoliert, d.h. von anderen Kindern ferngehalten und ohne Spielsachen erzogen. Spielen war »als Eitelkeit und Thorheit«250 verboten, weshalb das Kind von aller Weltlust (Jahrmärkte, Komödien, Musik) ferngehalten werden musste. Die pietistische Erziehung zielte auf eine Abkehr von der irdischen Welt, weshalb lautes Lachen und Scherzen verboten waren, ebenso sollte die Kleidung bescheiden sein und Tabak und übermäßiger Alkoholkonsum sowie die Begierde nach besserem Essen unterlassen werden. Durch die strenge pietistische Kindererziehung hat Sturmhoefel d.J. ihrer eigenen Wertung nach das Kindsein verlernt. Sie habe sich vor allem mit ihren Gedanken und ernsten Themen beschäftigt, während die Mitschülerinnen in ihren späteren Religionsunterweisungen ihre Kindheit auslebten und in den Pausen spielten und tobten.251 Das pietistische Erziehungskonzept sah eine Dauerüberwachung des Kindes vor, das durch die völlige Kontrolle und Beschäftigung dem kindlichen Eigensinn von vornherein keine Entfaltungsmöglichkeit bot. So fand auch Sturmhoefels d.J. »separate Erziehung […] unter ständiger Aufsicht eines Erziehers und unter einem fest geregelten Tagesablauf statt, durch tägliches Erinnern an Gottes Güte, körperliche Züchtigung, selbst bei geringen Vergehen, Gewöhnung an Anstand und Ordnung, Gebet, Katechismusunterricht und Schreibübungen«252 . Die intendierte Funktion aller erzieherischen Kontrolle und Bestrafung war, den natürlichen Eigenwillen des Kindes zu bändigen und gleichzeitig standesgemäße Verhaltensprinzipien zu konditionieren. Die körperliche Züchtigung, die auch von Lazarus-Remy sowohl in ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! als auch in ihrer Autobiografie Mein

247 248 249 250 251

Ebd.: 209. Vgl. Schiller 1894: 208. Lazarus 1898b: 43. Vgl. Schiller 1894: 213. Lazarus 1898b: 82: »Ihr ging es freilich anders. Neidlos sah sie zu, wenn jene Schaar umhertollte, kicherte und lachte, froh des geübten Zwanges des langen Stillsitzens und Zuhörens ledig zu sein (Prediger Remy hielt sehr auf Disziplin) aber sie konnte an der lärmenden Luft des Ungebundenseins nicht Theil nehmen.« 252 Lazarus-Remy 1927a: 13f.

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Leben I eingehend geschildert wird, wurde als selbstverständliches Erziehungsmittel genutzt, um den Eigensinn der Kinder »zu brechen«253 und die gewünschten Tugenden von Gehorsam, Fleiß, Demut und Aufrichtigkeit zu erlangen. »Fast täglich glaubte [die Gräfin St. Germain] ihre handgreiflichen Züchtigungen anwenden zu müssen, um den ›Starrsinn‹, den ›Ungehorsam‹, die ›unbegreiflichen Ungeschicklichkeiten‹ und die ›unglaublichen Launen‹ der Kleinen zu brechen.«254 Durch Schelten und Schläge sollte ihr kindlicher Eigensinn vertrieben werden, sodass sie gehorsam und biegsam für die standesgemäße Erziehung werde. »Am meisten aber erregte sie den Zorn der Gräfin durch ihr Krummsitzen beim Klavierspielen. Sonst kerzengrade sich haltend, neigte sie sich vor dem Notenblatt immer so tief, dass sie es fast mit der Stirn berührte. Es war nicht zum Ansehen, aber weder Schelte noch Schläge halfen! Mit rothgeweinten Augen, zitternd und völlig verwirrt, saß das Kind dann wie ein Klümpchen Unglück da – die Gräfin hätte es aber oft tödten mögen, um seines grenzenlosen Eigensinnes wegen, wenn es schließlich immer und immer wieder dieselbe Ausrede vorbrachte: ›Ich sehe es nicht‹.«255 Franckes pietistische Pädagogik propagiert besonders eine erbsündenbestimmte Kindersicht, die auch die Zuhilfenahme von körperlicher Züchtigung tolerierte, um den kindlichen Eigenwillen völlig auszulöschen.256 Dabei diente die körperliche Züchtigung vor allem der zielgerichteten Disziplinierung, die zwar anfangs vom Erzieher auszugehen hatte, später aber in Selbstdisziplin münden sollte. Obwohl Francke die körperliche Züchtigung, eingegrenzt auf Gesäß und Arme, als letzten Ausweg ansah, gehörten bei der Gräfin St. Germain fast täglich Ohrfeigen und Schläge auf Gesäß, Arme und Kopf zur Züchtigung dazu. Die Gräfin, die ihre eigenen Affekte nicht unter Kontrolle hatte, ließ sich durch ihren Zorn sogar dazu verleiten, die damals Elfjährige mit Faustschlägen ins Gesicht zu züchtigen.257 Mit diesem Beispiel verweist Lazarus-Remy in ihrer Kritik der pietistischen Pädagogik auf die Schutzlosigkeit des Kindes, das stets den Machtgelüsten und der Willkür des Erziehers unterlag. »Es war, trotz ihrer aristokratischen Form und Pflege, eine harte, knochige Hand und die vielen, mit Edelsteinen besetzten Ringe trafen blindlings Augen, Wangen, Stirn und Mund der kleinen Wehrlosen, denn sie wehrte sich nie und sie schrie nie und weinte nie, bei solchen Überfällen eines jähzornigen Temperamentes. Ein sonderbarer Stolz verschloß dann stets die kindlichen Lippen und ein noch sonderbareres Mitleid mit ihrer Angreiferin stieg aus dem gequälten Kinderherzen auf. […] Das Kind war in die Knie

253 Vgl. Schiller 1894: 213. 254 Lazarus 1898b: 20. 255 Lazarus 1898b: 22. Das Anwenden von Zuchtmitteln war auch in der Schuldisziplin bis Mitte des 20. Jh.s noch z.T. erlaubt. Vgl. Schiller 1894: 396. 256 Lachmann 1989: 162: »Eine pessimistische Anschauung von der Kindesnatur und ihren Willensqualitäten war die zwangsläufige Folge; sie diente nicht nur zur theologischen Bemäntelung der meistenteils desolaten schulischen Umstände und pädagogischen Unzulänglichkeiten der Lehrer, sondern prägte vor allem den ganz auf Belehrung, Gewöhnung und Disziplin abgestellten Erziehungs- und Unterrichtsstil dieser Zeit.« 257 Lazarus 1898b: 62ff.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

gesunken und ließ stumm die Schläge über sich ergehen, nur das Gesicht senkte es, um unbewußt Schutz für die Augen zu suchen.«258 Sie schlussfolgert in ihrer Konversionserzählung, dass mit Züchtigung nur Ehrfurcht erreicht werden könne, aber keine vertrauensvolle Zuneigung.259 Ihre anfängliche Zuneigung260 gegenüber der Gräfin wurde durch das stetige strenge Bestrafen und Beschimpfen völlig zerstört. Retrospektiv beurteilt sie diese Zeit kritisch und betont, dass »die Frage nach dem Vertrauen und dem Mißtrauen den Kindern gegenüber eine hochwichtige [sei]: wenn je ein Kind in die Lage kommt, seine Erzieher auf eine ihm offenbare Ungerechtigkeit zu ertappen, dann erhält seine Verehrung einen Stoß, und seine Liebe eine Abschwächung, die oft genug nie wieder gut zu machen ist. Zuweilen bilden sich dann sogar Stacheln im Gemüte, die allen guten Keimen schädlich werden.«261 Weil »die alte Frau sich so irren und so entwürdigen konnte,« appelliert Lazarus-Remy an die »Mütter und Erzieher! Nehmt Euch in Acht, Euch vor den Augen Eurer Kinder eine Blöße zu geben!«262 Für sie ist die körperliche Züchtigung der tückische Wesenszug der pietistischen Pädagogik, der jegliche Individualität des Kindes zerstöre. Dennoch zieht sie aus ihrem »Märthyrertum« etwas Gutes. Denn es bildete »den Boden auf dem der jungen Seele ungeahnte Kräfte erwuchsen, auf dem besonders ihre ungehinderte Denkkraft keimte, wuchs und sich entwickelte.«263 Lazarus-Remy entwickelte aus den lieblosen pietistischen Erziehungserfahrungen bei der Gräfin St. Germain eigene Erziehungsgrundsätze, die sich stark an John Lockes264 und J.J. Rousseaus265 Erziehungstheorien orientierten. Anders als die pietistische Erziehung verstand Locke das Kind als ein unbeschriebenes weißes Papierblatt (tabula rasa)266 , das für die Bildungsfähigkeit des Kindes genutzt werden sollte. Orientiert an Lockes Schrift Gedanken über Erziehung plädierte Lazarus-Remy ebenfalls für eine kindliche Erziehung zum vernunftbegabten und selbstständig denkenden Individuum. Sie stimmte ihm zu, »dass die normale Kinderseele rein sei, ein unbeschriebenes Blatt – und nur fal-

258 Vgl. ebd.: 64. 259 Ebd.: 27: »Wie oft mögen Eltern und Erzieher, wenn sie Kinder schelten und strafen, begründete Veranlassung haben, erst sich selbst zu prüfen und zu beobachten!« 260 Lazarus-Remy 1927a: 8: »Gräfin St. Germain … hatte nicht Frau Rohrbeck diesen Namen in der letzten Zeit genannt? Die Verbindung dieser beider Namen – des fremden und des wohlbekannten, – die dankbaren Erinnerungen weckte – erfüllte uns mit Zuversicht.« 261 Lazarus 1898b: 28. 262 Ebd.: 64. 263 Vgl. ebd.: 19f. 264 John Locke (1632–1704) war ein englischer Philosoph, Wegbereiter der Aufklärung und Begründer der Schule des Empirismus. 265 Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) war ein Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge der Aufklärung. In: Weimer 1992: 108: »Er hat die erste Pädagogik ›vom Kinde aus‹ entworfen und gezeigt, dass alle Erziehungsmöglichkeiten im Entfaltungsdrang des werdenden Menschen wurzeln.« 266 Vgl. Locke 2007: 217, 169.

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sche Behandlung schon von der Mutterbrust an entstelle das reine Blatt mit hässlichen Flecken … die dann nicht mehr auszutilgen seien.«267 Die natürliche Anlage des Kindes, das entgegen Franckes Theorie von Natur aus gut sei, solle sich ungestört durch eigenständige Erfahrungen entfalten können.268 Wie Locke führte Lazarus-Remy alle erlangten Fähigkeiten und Erkenntnisse auf Erfahrung zurück. Locke empfiehlt in seinen pädagogischen Reformen, nachweisbare Tatsachen zunächst empirisch zu überprüfen. So sollte Wissen im Unterricht durch anschauliche Erkenntnisse und vernünftige Gespräche statt allein durch Buchwissen vermittelt werden. Er riet, nach dem Prinzip des Vergnügen-bringenden-Lernens »lieber einen Baum zu studieren als ein Buch über Bäume, lieber nach Frankreich zu fahren, als ein Buch über Frankreich zu lesen«269 . Sie beschreibt sich selbst in ihren autobiografischen Werken (Ich suchte Dich! und Mein Leben I) als musterhaftes Beispiel dieser Erziehungsansicht. Ihre Wissbegierde habe ihren Lerneifer entfacht, sodass sie bereits als kleines Kind aus freien Stücken lesen und schreiben lernte. So wurde ihre Neugier bereits bei der Großtante Jette auf spielerische Art durch Beobachten, Schmecken, Zählen, Vergleichen und Zeichnen nach der Natur befriedigt.270 Das Kind sollte ihrer Ansicht nach in den ersten sechs Lebensjahren nur eine an der Natur orientierte Erziehung erhalten, ohne Zwang, Abhärtung, Maßhalten oder Arbeiten. Damit erhalte das Kind die Möglichkeit, sich völlig der Gegenwart zu erfreuen und selbstständig durch eigenes Anschauen zu erfassen, ohne vom Lernen gequält zu werden. Wie Locke ist auch Lazarus-Remy der Überzeugung, dass das Kind Kind bleiben müsse, mit seinen individuellen und altersentsprechenden Eigenschaften und Verhaltensweisen.271 Die Sinnesbildung (Anschauung) und die Erziehung zur Selbsttätigkeit (Selbstfindenlassen, praktisches Selbstschaffen) werden für Lazarus-Remy wesentliche Erziehungsziele, die sie später in ihren eigenen Unterrichtsstunden als Lehrerin umsetzte. Spielendes Lernen durch Abbildungen wurde ihr Erziehungsmittel, »was ihnen oft Spass machte, da es mir gelang, ihnen Manches scherzend beizubringen, um jegliche Langeweile zu bannen. Ebenso lernten sie spielend die verschiedenen Baumarten kennen, durch mehr oder minder humoristische Kennzeichnungen: ganze Märchen wurden dabei erfunden … die Miss hätte die Hände über den Kopf zusammengeschlagen über diese Unterrichtsmethode!«272 Die Natur übernimmt das Lehren, während der Erzieher bzw. Lehrer das Kind ausschließlich bei der Erschließung des Verständnisses unterstützte. Das Verhältnis zum Lehrer sollte dabei wie zu einem Freund und mit Vertrauen versehen sein, was

267 The National Library of Israel, Department of Archives: Handschriftliche Notiz von 1912, Arc.Nr. 01 122.2. 268 Vgl. ebd. 269 Vgl. Reents und Melchior 2011: 160. 270 Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 2f. 271 Vgl. Reents und Melchior 2011: 160: Lockes ›Erziehungsoptimismus‹, der davon ausgeht, dass die Kindheit als Entwicklungsphase zum Erwachsensein notwendig ist, bewirkte die Entwicklung einer ›optimistischen Pädagogik‹. 272 Lazarus-Remy 1927a: 53.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Sturmhoefel d.J. selbst erst später mit dem evangelischen Pfarrer Tobold in Flatow (s.Kap. I, 1.1.6) erfuhr.273

1.2.3 Katechetischer versus dialogischer Religionsunterricht Nach der pietistischen Erziehung bei der Gräfin St. Germain wurde Sturmhoefel d.J. seit dem Sommer 1860 bis Februar 1864 in unterschiedlichen kirchlichen Institutionen religiös unterrichtet. Im Anschluss an den Aufenthalt im katholischen Klosterinstitut in Palermo (1860–1861) erhielt sie Konfirmandenunterricht bei unterschiedlichen evangelischen Pfarrern (1861–1864). Während im Frauenkloster der Bildungsschwerpunkt auf Handarbeiten und religiösen Fächern lag, bestanden ihre Konfirmandenunterweisungen vor allem aus dem Erlernen des Vaterunsers, des Apostolikums, der zehn Gebote, einiger Psalmen sowie der Lektüre des Neuen Testaments. Die Lehrinhalte und -methoden sowie die Lektüre, die Sturmhoefel d.J. durchweg geboten wurden, werden von ihr retrospektiv kritisch beurteilt. So schreibt sie beispielsweise über die katholische Religionspädagogik: »Nur das muss ich doch erwähnen, dass diese Lehrweise und ganz besonders die Lektüre, die uns Schülerinnen aufgedrängt wurde, die Erbauungsbücher und Heiligengeschichten, die Märtyrerlegenden und Wundererzählungen vor meinem entwickelten Verstande nicht Stand hielten. Und ganz besonders waren es die Schilderungen der haarsträubenden Strafen und Qualen im Fegefeuer und der Teufelsglaube, die mich äusserst kritisch stimmten.«274 Für sie seien dies unmögliche, unwahre Lehrsätze und Geschichten, die so nicht geschehen sein konnten und erst im Laufe der Zeit von Menschen für bestimmte Absichten erfunden und als Dogmen festgelegt worden seien.275 Auch der evangelische Pfarrer Remy (Konfirmandenunterricht, 1862), der »von der Richtigkeit dessen was er lehrte, von der Wahrheit dessen was er glaubte«276 , überzeugt war, konnte Sturmhoefel d.J. nicht von der Vorstellung einer Dreieinigkeit Gottes überzeugen.277 Selbst die biblischen Geschichten, die von ihm »als unanfechtbare Wahrheiten« gelehrt wurden, waren für sie lediglich »theologische Behauptungen«278 , die erst bewiesen oder zumindest reflektierend diskutiert werden mussten. Jedoch blieb der Religionsunterricht für Sturmhoefel 273 Lazarus 1898b: 114f.: »Er ertheilte seine Unterweisungen daher nicht wie ein strenger Lehrer, der keine Frage gestattet, und keinen Widerspruch duldet, sondern wie ein gütiger Freund, der den Zweifeln des Genossen freundlich erklärend und geduldig erläuternd entgegenkommt.« 274 Lazarus 1897b. Vgl. auch Lazarus 1898b: 77: Der ›sanften‹ Priorin des katholischen Klosters habe sie in ihrem »vorhin genannten Buche [Geheime Gewalten] in pietätvoller, dankbarer Gesinnung ein Denkmal gesetzt«. Bei den von ihr erwähnten Erbauungsbüchern handelte es sich um religiöse Literatur für den einfachen Bürger. Dabei war es keine theologisch-wissenschaftliche Literatur, sondern eine Anleitung für ein tugendhaftes Leben, die den Geist erbauen sollte. Die Form ähnelt der Heiligenlegende, die ebenfalls wie die Erzählungen von Märtyrern zur geistlichen Belehrung und Ermunterung der Gemeinde und des einzelnen Gläubigen diente. Vgl. dazu auch Mohr 1982: 51–80. 275 Lazarus 1898b: 81. 276 Ebd.: 79f. 277 Näheres zu Lazarus-Remys Apostolikum-Kritik siehe Kap. III, 2.1. 278 Lazarus 1898b: 79.

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d.J. vorwiegend geprägt durch eine unreflektierten Frömmigkeit, die die Keuschheit der Mädchen und ihre völlige Ergebenheit unter das Gebot der christlichen Kirche zum Ziel hatte. Es »widerstrebte [ihr], an der Lehrweise […] irgend eine Kritik zu üben«279 , jedoch sei der Unterricht überwiegend ein stupides Auswendiglernen gewesen. Die Unterrichtsmethodik bestand darin, den Schülerinnen den religiösen Lehrstoff diktierend zu vermitteln, was diese wiederum aufzunehmen und ohne zu hinterfragen auswendig wiederzugeben hatten. Auch Pfarrer Remy nutzte hauptsächlich die katechetische Methodik280 , d.h. das Aufsagen des Auswendiggelernten, wobei Luthers Wortlaut streng beibehalten werden musste. Sturmhoefel d.J. konnte zwar »die Paragraphen des Katechismus u.s.w. und Alles, was man ihr zum Auswendiglernen gab, aus dem Gedächtniß hersagen, das war aber auch Alles. Denn ihr Verstand sagte ihr stets etwas Anderes. Abgesehen von einigen Moralsätzen, die sie alle schon aus ihrem geliebten Alten Testament kannte, fühlte sie sich mit dem, was ihr als ›neu‹ gelehrt wurde, meist im Widerspruch.«281 Das stupide angeeignete, unverstandene und somit chaotische Wissen sei für sie nicht nur praktisch unbrauchbar, sondern auch lückenhaft gewesen. Beispielsweise moniert sie an der neutestamentlichen Lehre über die Feindesliebe (Mt 5,43-48) das Fehlen einer Erklärung, wieso dem alttestamentlichen Zitat über Nächstenliebe (Lev 19,18) im Neuen Testament ein fiktives Zitat des Feindeshasses hinzugefügt wurde: »und deinen Feind hassen«282 . »Es ist doch undenkbar, dass der Herr Jesus den Moses ungenau citirt hat, und nun gar ein so entsetzlich herbes Wort! Er hat doch nicht dieses Wort aus sich heraus beigefügt? – Dieses Wort, er muss es doch also, als gelehrter Mann, als Kenner der Heiligen Schrift, irgendwo gelesen haben? Es muss doch irgendwo stehen? Und nun bitte ich Sie, Hochwürden, mir zu sagen – (denn ich finde es nicht) – wo steht im Alten Testament: ›du sollst deinen Feind hassen?‹«283 Für Sturmhoefel d.J. kam ein unbedingter Schriftglaube ohne jegliche konstruktive sowie historische Kritik nicht in Frage. Daher war es für sie unerklärlich, »dass erwachsene Menschen, freie Männer, ernste Leute, Diener Gottes Alles das lehren konnten – also doch auch glauben mußten? […]«284 , ohne selbst die jeweiligen religiösen Normen und Erzählungen rational zu hinterfragen und zu bewerten. Sie stellte damit die grundsätzliche Notwendigkeit einer dogmatischen Vermittlung durch die geistlichen Lehrer in Frage. Sie war der Meinung, dass nicht der Gehorsam gegenüber dem »Unbegriffenen«285 , 279 Vgl. Lazarus 1897b. 280 Lazarus-Remy verweist hier auf Kants zwei Formen der Fragenmethodik: die katechetische und die dialogische. Reents und Melchior 2011: 167f.: Während die dialogische Methodik (s.S. 49) einen kritischen Vernunftgebrauch impliziert, zielt die katechetische Methodik »auf ein Abfragen vorgegebener Wahrheit aus dem Gedächtnis«. 281 Lazarus 1898b: 80. 282 Lazarus 1898b: 155f. 283 Ebd.: 156. Näheres zu Lazarus-Remys Schriftauslegung siehe Kap. III, 2.1. 284 Ebd.: 81. 285 Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

sondern das eigene Begreifen der Botschaft den Kern des christlichen Glaubens ausmache. Jeder Mensch, egal welchen Geschlechts, sei damit in der Lage seinen Zugang zur Offenbarung zu finden, ohne einen klerikalen Ausleger und Vermittler. Damit vertrat sie eine immer lauter werdende Kritik an der christlichen Kirche und ihren Repräsentanten (s.Kap. III, 2.1). Lazarus-Remys retrospektive Ablehnung der pedantisch-katechetischen Unterrichtsmethode, die mehr das Gedächtnis als das Verständnis der Schülerinnern beanspruchte, kritisiert gleichzeitig die damit zusammenhängende Vernachlässigung einer rationalen Wissensvermittlung. So brachte der für sie chaotische Unterricht sie in eine Situation der Verwirrung, in die sie sich, von ihrem Wissensdurst getrieben, immer tiefer verstrickte: »Sie rang mit sich selbst, sich umzustimmen, sie fragte sich: Um Gotteswillen, was ist das mit mir, dass ich nicht sein kann, wie die Anderen? Wie meine Mitschülerinnen? Alle diese Knaben und Mädchen, größer und älter als ich, nehmen, was der Prediger ihnen sagt, Alles ohne jegliche Skrupel! – Die Glücklichen! Wenn sie in den Religionsunterricht kommen, haben sie gar keine Beschwerden. Geist und Gewissen schweigt, sie denken meist nur an Scherz und Spiel, sind ausgelassen und lustig.«286 Sie sei eine »nach Wahrhaftigkeit strebende Natur und Denkart [gewesen]«287 , die jedoch durch den »sonderbaren Gegensatz zwischen dem was ihr gelehrt worden, und dem was sie darüber denken mußte«288 , stets bedrückt war. Auch Sturmhoefel d.Ä. konnte die dogmatischen Fragen ihrer Tochter nicht ausreichend beantworten. Jedoch bestärkte sie ihre Tochter stets in ihrem Glauben und ermutigte sie, »sich durch keinerlei Einfluß und Einschüchterung ein Bekenntniß aufdringen zu lassen, das ihrer Überzeugung widersprach«289 . Pfarrer Remy, »ahnungslos, dass unter seinen jugendlichen Zuhörerinnen eine war, welche alle seine Lehrsätze mit prüfender Überlegung begleitete und ohne eine Spur irgend eines Autoritätsglaubens, ganz naiv von dem was das äußere Ohr vernahm, auch in der That im Innersten überzeugt sein wollte«290 , bezeichnete ihren »Seelenzustand« als »irreligiösen und unerklärliche[n] Starrsinn«291 . Sie selbst jedoch folgerte, dass ein Glaube, der nur im Nachsprechen unverstandener Glaubenslehrsätze bestehe, doch nicht als wahrer Glaube angesehen werden und daher für das Seelenheil genügen könne. »Da es nicht glauben könnte, dürfe es auch nicht mit Wort und Eid aussprechen, dass es glaube. Sei das nicht eine Lüge? Sei das nicht Meineid?«292 Obwohl auch Karl Tobold (Konfirmandenunterricht, 1863–1864) Sturmhoefel d.J. 286 287 288 289

Ebd.: 81f. Vgl. ebd. Ebd.: 82. Lazarus 1898b: 90f.: »Diese Kraft und diesen Muth verdankte Nahida ihrer edlen, klargesinnten und willensstarken Mutter und sie dankte es ihr, je inniger, je älter sie wurde.« 290 Ebd.: 79. 291 Ebd.: 93; 81. 292 Vgl. ebd.: 91; 110: »Man sagte auswendig her, was Einem aufgegeben war und begnügte sich die stereotype Antwort herzusagen und damit gut. Wäre nicht schließlich der feierliche Konfirmanden-

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nicht von der Dreieinigkeit Gottes überzeugen konnte, fand sein Konfirmandenunterricht für sie erstmalig »unter besonders günstigen Umständen statt«293 . Tobold hatte ein sehr sensibles Gespür für seine Schülerin und erkannte schnell, mit welchen Zweifeln und Konflikten Sturmhoefel d.J. zu kämpfen hatte.294 Mit viel Feingefühl und untypischen Lehrmethoden gewann er ihr Vertrauen und ihre Verehrung.295 »Dr. Tobold, ein Greis von nicht gewöhnlicher Geist- und Herzensbildung, wußte, dass die herkömmliche Unterrichtsschablone nicht geeignet war, einen selbständigen jungen Geist zu interessieren, am wenigsten ihn zu überzeugen. So verzichtete er von Anfang an, die apodiktische Lehrweise anzuwenden.«296 Das Auswendiggelernte von ihr rezitieren zu lassen, brächte seiner Meinung nach nur einen verkehrten Begriff von Frömmigkeit hervor und seien keine geeignete Methode, um bei ihr das Interesse zur neutestamentlichen Lehre zu wecken. Der wahre Glaube bestehe darin, nach Gottes Willen zu handeln und dies den Kindern beizubringen.297 Im Gegensatz zur katechetischen Methodik nutzte Tobold den dialogischen Austausch, um durch das wechselseitige Fragen Sturmhoefel d.J. selbstständig und analytisch die Antworten finden zu lassen. Bei Spaziergängen erzählte er die biblischen Geschichten und ging im vertrauten Kreis auf ihre Fragen ein. Die Bibel wurde dabei als Fundus für Beispiele der Sittenlehre verstanden.298 So habe sie bereits im Kleinkindalter durch die Geschichte von Abraham und Isaak (Gen 22,1-19) zur Gottergebenheit gefunden. Die Erzählungen von Sarah (Gen 21,6) und Hannah (1Sam 1) rührten sie durch die darin beschriebene bedingungslose Mutterliebe.299 Tobolds Unterrichtsart

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anzug mit dem obligaten ersten officiellen Strauß hinzugekommen, nebst der süß=aufregenden [sic!] Zukunftsaussicht nunmehr als ›Dame‹ zu gelten und Bälle mitmachen zu dürfen, wer weiß ob die heilige Handlung die gewohnte Gemütsruhe der meisten jungen Zuhörerinnen in irgend einer Weise lebhafter zu erregen vermöchte?« Ebd.: 109. Ebd.: 115: »Ruhig hörte er zu, wenn das junge Mädchen an seiner Seite ihm auseinandersetzte, wie sehr und warum es so Manches im Widerspruch gefunden hätte und dass es ihm bisher unmöglich gewesen sei, aus diesen oder jenen gründen, dies oder das anzuerkennen und gar als Wahrheit, als göttliche Einrichtung, als Bedingung für das Seelenheil zu befolgen und zu beschwören.« Ebd.: 112: »Hier also im Garten, unter blühenden Apfel- und Kirschbäumen und unter duftenden Blumen den schmalen Weg auf= [sic!] und abwandelnd ertheilte der würdige Seelsorger, der langjährige Freund der Familie dem neben ihm hergehenden und verehrend zu ihm aufblickenden Mädchen die Unterweisungen in den Lehren der protestantischen Kirche.« Vgl. auch ebd.: 115: »Nachdem so Dr. Tobold das Vertrauen seiner Schülerin und einen Einblick in ihre Gedankenwelt gewonnen, unternahm er es – also abweichend von der hergebrachten Art und Weise des Unterrichtes – ihr mit der Vorführung der ungeheuren Ausdehnung des Christentums den Beweis zu liefern, dass es die Welt erobert habe, also doch seine Lehre von unerschütterlicher göttlicher Wahrheit spräche.« Lazarus 1898b: 114. Lazarus-Remy 1927a: 53f.: Auch Sturmhoefel d.J. sei allein durch das Befolgen des alttestamentlichen Gebotes »Tue niemanden Böses!« zur Sittlichkeit erzogen worden. Lazarus 1898b: 50: »Alle Stellen, die von Gottes Güte sprachen, von Wiedervergeltung, Geduld, Vertrauen, Zuversicht, dass alles nochmal besser würde – alle diese Stellen suchte sie auf, las sie mit Eifer und Inbrunst, stärkte und erquickte sich an ihnen.« Ebd.: 52.

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motivierte sie wieder für den Konfirmandenunterricht. Dass sie »ohne Scheu vor den Spötterinnen, ihre Fragen offen«300 stellen durfte, gab ihr Mut im Hinblick auf die erneute Auseinandersetzung mit ihrem Glauben und ihren Zweifeln. »Hier unter Blumen und Bäumen, unter Gottes freiem Himmel mit mir auf- und abgehend, unterwies mich der würdige Seelsorger in den Lehren der christlichen Kirche; nicht wie ein strenger Lehrer, der keine Fragen und nun gar keinen Widerstand duldet, sondern wie ein liebevoller Freund den Fragen und Bedenken des Genossen freundlich entgegenkommt.«301 Das Gefühl der Dankbarkeit tritt bei ihr an die Stelle des früheren Abhängigkeitsverhältnisses und sie notierte in ihrem Vortrag: »Niemals war es mir so peinlich, ja geradezu so schmerzlich, der liebevollen Ueberredung des würdigen Mannes die gewohnte, mir notwendig gewordene Zurückhaltung und Skepsis ausüben zu müssen.«302 Auch er konnte sie nicht von der Dreieinigkeit Gottes überzeugen, sodass Tobold entgegen seinem Wunsch sie nicht zur Konfirmation zulassen konnte. »Er mußte, gegen sein eigenes Gewissen, das ihn mahnte, hier eine Änderung im Text, dort eine Milderung des Ausdruckes eintreten zu lassen, darauf bestehen, dass seine Schülerin genau und buchstäblich den Wortlaut des Apostolicums als ihr eigenes Bekenntnis beschwöre, – und das vermochte sie nicht, wollte sie ehrlich bleiben.«303

1.2.4 Konfessionsfrei Sieben Jahre später (Januar 1872) »sass die Zweiundzwanzigjährige mit den neugierigen Vierzehnjährigen auf den Bänken der Matthäikirche«304 , um erneut eine religiöse Unterweisung mit dem Ziel einer Einsegnung zu erhalten. Es handelte sich um den Konfirmandenunterricht des Generalsuperintendenten Dr. Carl Büchsel305 aus der evangelischen St. Matthäusgemeinde in Berlin. Obwohl er in Sturmhoefels d.J. Kreisen als ein sehr bekannter und hochkonservativer Mann galt, der Sturmhoefel d.J. im November 1849 getauft hatte, erhielt sie auch bei ihm keine Antworten auf ihre religiösen Fragen, die 300 Ebd.: 110: »Solch ein Reiz schien nothwendig, denn sie war von dem Einerlei der vergeblichen Belehrung, die sie empfangen und der peinlichen Enttäuschung, die sie bereitet, bereits ermüdet. Der Gedanke jedoch, dass sie nunmehr, ohne Scheu vor den Spötterinnen, ihre Fragen offen würde vorbringen können, gab ihr neue Spannkraft.« 301 Ebd.: 114f. 302 Vgl. Lazarus 1897c. 303 Lazarus 1898b: 139. 304 Lazarus-Remy 1927a: 77. In ihrem Vortrag Warum ich Jüdin wurde schilderte Lazarus-Remy eine andere Version ihres letzten Konfirmationsunterrichts. Lazarus 1897c: »Der Kampf mit meiner Familie begann noch einmal, nun zum letzten Mal. Ich war inzwischen 17–18 Jahre alt geworden. Es sollte mir nochmals Religionsunterricht erteilt werden, und zwar von dem Manne, der mich getauft hatte.« Ich orientiere mich an den Berichten ihrer Autobiografie Mein Leben I, da die darin erwähnten Jahreszahlen eher mit den chronologischen Lebensangaben übereinstimmen. 305 Lazarus 1898b: 152: Carl Albert Ludwig Büchsel (1803–1889) war der erste Pfarrer der St. Matthäuskirche zu Berlin und galt als »Hauptsäule der hochconservativen Orthodoxie.« Er besaß großen Einfluss und wird in Lazarus-Remys Konversionserzählung »neben seinem Beruf« als »ein Weltmann, in hoher Stellung, bei Hohen beliebt« beschrieben. Vgl. dazu auch ebd.: 153. Vgl. Die Homepage der St. Matthäus-Gemeinde Berlin: https://www.stiftung-stmatthaeus.de/die-kirche/geschichte/.

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ihr »längst aufgekeimtes Mißtrauen gegen die Authenticitäth [sic!] so mancher dem Gottessohn in den Mund gelegten Sätze, niedergeschlagen hätte«306 . In ihrer retrospektiven Beschreibung wird Büchsel als zwar höflicher, aber kühler Pfarrer dargestellt, der strikt konservativ seinen Unterricht durchführte und kein der Norm widersprechendes Verhalten vonseiten seiner Schülerinnen duldete.307 Mit der Anstellung, dass Frauen nicht imstande seien die theologischen Thematiken reflektierend zu verstehen, ignorierte er Sturmhoefels d.J. Fragen und konzentrierte sich im Unterricht vor allem auf seinen Vortrag. Jedoch wurde ihr Wunsch, sich mit den theologischen Dingen ernsthafter zu beschäftigen, immer größer, blieb aber auch in dieser für sie letzten Unterweisung in der christlichen Religion unerfüllt.308 Eine solche Art von Religionsunterricht, in der es nicht erlaubt war, Fragen zu stellen, war für sie zeitlebens nicht nachvollziehbar: »Sie sollte ›Religionsunterricht‹ erhalten, ja worin besteht denn derselbe, wenn nicht in Aufklärung und Belehrung über religiöse Fragen und Dinge?«309 Hier wird erneut deutlich, dass Lazarus-Remy sowohl in ihrer Konversionserzählung als auch in der Autobiografie Mein Leben I eine männliche christliche Autorität schildert, die Frauen als Mitwirkende im intellektuellen Austausch ausschloss.310 Aus diesem Grund entschied sie sich keinen weiteren Religionsunterricht mehr zu besuchen, »denn das sei für sie kein Religionsunterricht, in dem man über die religiösen Fragen, die einem das Herz bewegten, keine Aufklärung erhielte«311 . Mit diversen Beispielen beschreibt sie Büchsels kühle und abweisende Reaktion auf eine ihrer Fragen bezüglich der Nächstenliebe: »Er wandte ihr den Rücken [zu] und näherte sich dem Garderobenständer. […] Seine Miene und Haltung war nun geradezu verletzend abweisend, das junge Mädchen fühlte aber instinctiv, dass sie nie wieder würde eine Frage an diesen Mann richten dürfen und beeilte sich daher, ihren Gedanken zu Ende auszusprechen. […] Da wendete er sich zu ihr. Kalt und schroff sagte er: ›Hören Sie mal, ich finde es sehr wenig angemessen, auf der Straße den Unterricht fortzusetzen.‹ Ohne Gruß ging er ins Haus und schlug die Thür hinter sich zu.«312

306 Lazarus 1898b: 158f. 307 Ebd.: »Er legte für das innere religiöse Leben seiner neuen Schülerin nicht das geringste Interesse an den Tag.« und »der gefürchtete Prediger reckte sich fast militärisch auf und in einem Ton, der keineswegs ermutigend klang, sagte er: ›Meine Sprechstunde ist von 8–9, wie Sie wissen sollten‹.« 308 Ebd.: »Sie hatte so herzlich bewegt die ersten Worte an ihn gerichtet, so innig bedürftig einer Aufklärung über den ihr unbegreiflichen Zusatz zu jener Stelle – so sehnsüchtig einer Erklärung zu erhalten, welche ihr Gerechtigkeitsgefühl beruhigt, […].« Ebd.: 159: »Er that, als ob ich eine müssige, zudringliche Neugierige wäre, […] und er weiß es doch, wie ernst mir diese Dinge sind, wie sie mich quälen!« Lazarus 1897c: »Nun, der Unterricht dauerte nicht lange; ich wurde nicht eingesegnet.« 309 Lazarus 1898b: 158. 310 Vgl. Doff 2004: 6: Ein Grund dafür war das lange vorherrschende Desinteresse vonseiten des »Staates und der Öffentlichkeit an der höheren Mädchenbildung, das erst durch die Bildungsbestrebungen der deutschen Frauenbewegung im letzten Drittel des 19. Jh.s aufgebrochen wurde«. Vgl. auch Lazarus 1898b: 156f.; 154: »Auch während des Unterrichts beachtete er sie gar nicht, und richtete niemals ein Wort an sie.« 311 Lazarus 1898b: 160. 312 Vgl. ebd.: 155ff.

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Für Sturmhoefel d.J., die sich mit derartigen quälenden Fragen stets beschäftigte, war das abweisende Verhalten eine erneute Enttäuschung: »Aber dass der Geistliche, der als ›Mann Gottes‹ nicht nur Liebe predigen, sondern auch Liebe zeigen sollte, sich so unfreundlich, ja verletzend benehmen würde, hatte sie nicht erwartet.«313 Lazarus-Remy bewertet retrospektiv ihre Erfahrungen mit den christlichen Geistlichen als völlig unbefriedigend und nicht vertrauensstiftend.314 Sie entschied sich, nun auf ihre eigene Sichtweise und Verständnis der religiösen Dinge zu vertrauen, denn »Die Heilige Schrift […], die kenne sie besser aus ihrem eigenen Studium, als aus den Stunden beim Prediger, und die Heilige Schrift enthalte Alles, was Gott vom Menschen verlangen könne. […] Das ist mein Religionsunterricht.«315 Neben den Erfahrungen, dass ihre Fragen unerwünscht und ein stupides Lernen des vorgegebenen Wissens erwünscht war, empfing sie darüber hinaus auch verbale Angriffe sowie Abgrenzungen, aber nicht nur von den Geistlichen, sondern auch von Seiten ihrer Familie und ihren Mitschülerinnen.316 »Die Angst, dass sie wieder nicht verstanden werden würde und ihre Fragen keinen Platz haben, demotivierte sie und führte auch zu einer Resignation bezüglich der Kirche. Sie beschäftigte sich nicht mehr damit und konzentrierte sich auf ihre Arbeit als Schriftstellerin und Ehefrau.«317 Denn all diese Erfahrungen untergruben anhaltend ihre Bereitwilligkeit, die kirchlichen Lehren als allein maßgebend für das geistige und moralische Leben anzuerkennen.318 Sie fühlte sich »angeekelt und endlich in Gefahr, der Religion an sich fast entfremdet zu werden«319 . Bereits als »Dr. Tobold erklärte, er könne seine Schülerin nicht zur Confirmation zulassen, gerieth die ganze Familie in große Erregung«320 . Sturmhoefels d.J. Konfirmationslosigkeit wurde von ihrer Großtante Jette (s.TL) als ungeheure Schmach für die ganze Familie angesehen.

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Ebd.: 158f. Ebd.: 160: »Falsch und feige, […] und diesen kalten Menschen [den Geistlichen] sollte ich nachahmen und mich von ihnen beeinflussen lassen? Nein. Mag kommen, was da will, – ich bringe mein Gewissen nicht zum Opfer.« 315 Ebd.: 160f. 316 Ebd.: 84: »Dann wurde die so Sprechende angestarrt, als habe sie eine Ungeheuerlichkeit gesagt oder eine Sünde begangen.« Vgl. auch ebd.: 85: »Man drohte Nahida, man würde sie beim Herrn Pastor anklagen.« 317 Lazarus 1898b: 152: »Immer und immer wieder dieselbe Quälerei!« 318 Lazarus 1897c: »Mit tausenderlei Winkelzügen und Spiegelfechtereien, mit List und Lüge, mit absichtlicher Verdummung der Vernunft und mit wohl überlegter Vergewaltigung des einfachen gesunden Menschenverstandes, ja mit Versündigung gegen das unschuldige Kindergemüt hatte man mir den herkömmlichen Religionsglauben aufzwingen wollen. Was hatte ich darunter gelitten! Meine Kindheit ist verbittert, meine Jugend vergiftet worden. Gespielen und Freundinnen hatte ich nie gekannt. Furcht, Strafe, Beschämung waren das tägliche Brot, mit welchem Erzieher und Lehrer, Verwandte und Bekannte mich genährt hatten.« 319 Lazarus 1898b: 79. 320 Ebd.: 142f.: »Sie [die Großtante Jette] glaubte allen ernstes, das junge Mädchen habe sich eines Vergehens schuldig gemacht, das nie wieder gut zu machen sei.« Und »Je länger die treue Seele sich mit diesem Gedanken einer ihrem Idchen und der ganzen Familie angethahenen Schmach abquälte, desto aufgeregter wurde sie.«

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»Du! Aus so frommer christlicher Familie, du kannst doch keine Heidin bleiben? Um Gotteswillen, was soll denn die Welt von dir denken? Sie werden das Allerschlimmste über dich reden, sie werden dich verachten, – und ich, ich getraue mich ja nicht mehr über die Straße, ich kann ja keinem ehrlichen Menschen mehr ins Gesicht sehen!«321 Sie konnte es nicht nachvollziehen, wieso ihre Großnichte nicht eingesegnet werden konnte, und verstand es auch nicht, wie Sturmhoefel d.J. auf einer anderen Meinung bestehen konnte und somit die Schande über sich und ihrer Familie brachte.322 Sie sah keine Möglichkeit der Großtante Jette ihre Meinung verständlich zu erklären, da diese »für Vernunftsgründe […] absolut kein Verständniß«323 besaß. »Die Zweifel und Bedenken, welche die Schülerin ihrem Lehrer [Pfarrer Tobold] auszusprechen wagen durfte, konnte sie der alten Frau gegenüber nicht über die Lippen bringen. Es hätte in den Ohren derselben wie Gotteslästerung geklungen.«324 Als einzige plausible Erklärung diente ihr der Zweifel an Sturmhoefels d.J. Verstand, der durch die »neumodische Freigeisterei«325 manipuliert sei. »Das infame heidnische Unwesen brächte alles Unglück über die Welt und Idchen dürfte nicht so eine gottlose Kreatur werden, wie sie jetzt zu Hunderten und zur Schande der Menschheit als künftige Teufelsbraten umherliefen.«326 Mitte des 19. Jahrhunderts erregte eine Gruppe, die als religionspolitische Freidenkerbewegung in die Geschichte einging, vermehrtes Aufsehen.327 Die Freidenkerbewegung vertrat ein antiklerikales Grundverständnis, das frei vom Dogmenzwang leben wollte und jeden religiösen Glauben vernunftbezogen betrachtete. Die Freidenker bezeichnen sich bis heute unter anderem auch als Konfessionsfreie, die selbstverantwortlich ihr Leben gestalten möchten. Lazarus-Remy nutzt in ihrer Konversionserzählung eine retrospektive Wertung ihrer Konfessionslosigkeit, indem sie diese mit der Freidenkerbewegung des 19. Jahrhunderts verbindet. Damit wird ihre bewusste Entscheidung der Nichtzugehörigkeit zur Kirche betont, indem sie sich bereits als Jugendliche entschied, ohne religiöses Bekenntnis zu leben. Das heißt jedoch nicht, dass sie einen Glauben an Gott oder das Gemeindeleben ablehnte. Im Gegenteil betonte sie ihren Glauben an den Einen Gott, distanzierte sich allerdings durch ihre Ablehnung des Glaubensbekenntnisses von der Kirche Jesu Christi. Sturmhoefel d.J. übte mit ihrer Dogmenablehnung eine starke Kritik an der christlichen Gemeinschaft aus und erwartete daher auch kein Verständnis vonseiten ihrer Familie.328 Sie nahm die kritische Haltung ihrer Familie an, litt jedoch vor allem darunter, dass sie ihre

321 Ebd. 322 Ebd.: »›Kind! Kind!‹ Rief sie ein über das andere Mal, ›was hast du denn gethan, dass man dir diese ungeheure Schmach anthut?‹ ›Ich habe nichts Böses gethan, liebe Tante, ich habe nur eine andere Meinung gehabt‹.« 323 Ebd.: 143. 324 Ebd. 325 Ebd.: 107f. Vgl. auch ebd.: 143. 326 Lazarus 1898b: 107f. 327 Zur geschichtlichen Entwicklung der Freidenkerbewegung vgl. Jestrabek 2012. 328 Lazarus 1898b: 143: »Nahida wußte das und schwieg, so übervoll auch ihr Herz war. Sie blieb für die Verwandten ein Räthsel.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

geliebte Großtante Jette enttäuscht hatte.329 Nach außen zeigte sie sich ihrem Umfeld unbekümmert, jedoch empfand sie innerlich einen »ungewöhnlichen Ernst, eine trübe Lebensanschauung«330 , die aus der Sehnsucht nach religiöser Aufklärung und Zugehörigkeit entsprang. Allsonntäglich beobachtete Sturmhoefel d.J. die Kirchgänger und frage sich, »ob sie diese harmlosen selbstzufriedenen Bürger und Bürgerinnen eines wohlorganisierten Staates beneidete? Ja, sie beneidete sie.«331 Sie hatte ihren Platz in der christlichen Gesellschaft noch nicht gefunden. Der Prozess der Individualisierung, in dem man den eigenen Platz in seinem Umfeld verortet, war bei ihr immer noch nicht abgeschlossen. Vor allem in der Kindheit festigt sich die Individualität des Kindes durch das Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten sozialen und religiösen Gruppen. Dadurch, dass Sturmhoefel d.J. ihre Kindheit in unsteten Kreisen verlebte, wurde der Individualisierungsprozess bei ihr stets durchbrochen, sodass der Wunsch nach der Zugehörigkeit zur christlichen Kirche blieb. »Wenn sie doch auch, wie jene, gemeinsam mit ihren Mitmenschen in die Kirche gehen dürfte, in der sie sich mit den Anderen von göttlichem Geist umweht und erhoben fühlen könnte! Wenn sie doch auch die schönen Gemeindegesänge mitsingen dürfte! […] Aber sie durfte nicht. Sie gehörte ja keiner Kirche an.«332 Die Konfirmation wurde als Ergänzungsakt der Kindertaufe angesehen, wo anhand eines Gelübdes der Taufbund erneuert wurde. »Die definitive Aufnahme in die Kirche erfolgt nach diesem Denken nicht mehr (allein) durch die Taufe, sondern durch einen Willensakt des mündig Gewordenen, zu dem die Konfirmation einen guten Anlass gibt (Konfirmation als definitive Aufnahme in die Kirche).«333 Damit stehe der Wille des Konfirmanden im Vordergrund und verleihe ihm mit seinem Bekenntnis kirchliche Rechte sowie die Konstatierung der Mündigkeit. Mit Sturmhoefels d.J. Weigerung, das Apostolikum zu bekennen, entschied sie aus freien Stücken, sich nicht den religiösen Bindungen zu beugen und konfessionsfrei zu bleiben.334

329 Ebd.: 142: »Besonders schmerzlich war es für die von der kirchlichen Einsegnung Ausgeschlossene, dass ihre liebe alte Großtante die Sache furchtbar tragisch nahm.« Siehe auch: Lazarus 1898b: 144: »›Kind! Kind, du machst uns alle unglücklich‹. Dem jungen Mädchen wurden die Augen feucht, aber sie blieb stumm und neigte sich noch tiefer.« 330 Ebd.: 166; 167: »kaum aber war sie allein, veränderte sich unbewusst ihre Miene, das Lächeln verschwand und ein starrer, gespannter Ausdruck trat in die Augen und um den Mund.« 331 Ebd.: 167f.: »Die Sonntagsglocken tönten, die Leute zogen in die Kirchen, die Frauen und Mädchen mit ihren goldgeränderten Gesangbüchern in den Händen, frohen, unbefangenen Blickes, plaudernd und lächelnd, die Männer zufrieden und gleichmütig.« 332 Lazarus 1898b: 168: »Singen zur Ehre Gottes! Sie hatte eine weiche, wohllautende Stimme und sang so gern, auch mit der Mutter zweistimmig, rührende alte Volkslieder und halbvergessene Melodien, – wie gern, wie gern hätte sie ihre Stimme in religiöser Gemeinsamkeit mit frommen Genossen zum Lobe des Höchsten erhoben! […] Sie wäre sich und den Anderen wie eine Fremde, wie ein nicht dahin gehörender Eindringling vorgekommen … sie war ja confessionslos!« 333 Dienst 1990: 442. 334 Im Folgenden wird die Einordnung Lazarus-Remys als Konfessionsfreie synonym mit dem Begriff Konfessionslose verwendet. Das hat den Grund, dass Lazarus-Remy sich selbst in ihren Autobiografien als »Konfessionslos« bezeichnet (Vgl. Lazarus 1897c). In ihren Autobiografien betont sie rückblickend ihre Distanz zu und Distanzierung gegenüber zentralen christlichen Glaubensleh-

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1.2.5 Kunststudium (1864–1865) Im November 1864 in Berlin angekommen, zogen Mutter und Tochter, nachdem die Idee des Pensionates aufgrund intransigenter Differenzen zwischen Sturmhoefel d.Ä. und ihrer Cousine Adelheid v. Engelbrecht scheiterte, von der »eleganten Viktoriastrasse« zunächst in »ein armseliges Zimmer eines alten Hauses in der Markgrafenstrasse«335 und später dann in die Hagelsbergerstraße, die damals noch recht ländlich gelegen war. Die neue Wohnung erwies sich »als Lichtblick des Lebens«336 . »Zwar hatten wir keine Bettstellen und schliefen auf der Erde, aber es stellten sich Freundlichkeiten des Schicksals ein, die für das harte Lager entschädigten. Vor allem: gute Nachbarinnen.«337 Während die beiden Frauen bei einer Nachbarin, die Hühner hielt, günstig frische Eier bekamen, brachte eine andere Nachbarin ihnen täglich frische Milch und Brot vom Markt. Obwohl sie sich in der neuen kleinen Wohnung endlich angekommen und wieder zufrieden fühlten, überkam sie die immerwährende Frage, wovon sie leben sollten: »Diese Frage stellten wir uns oft, wenn wir vom Werk unserer Hände ausruhend uns auf den zwei Strohsesseln, die unser Hauptmeublement bildeten, gegenüber sassen.«338 Zwar strickte Sturmhoefel d.J. für große Wollwarenfabriken, unter anderem für eine in Berlin-Mitte (Gertraudenstraße), Schulterkragen, Seelenwärmer und Kindermützen mit und ohne Bommeln, jedoch richtete sich ihr Gehalt stets nach der von ihr fertiggestellten Ware.339 Als Lohn erhielt sie 10–30 Pfennige pro Stück, wobei sie an einem Tag von den kleineren Größen bei gründlicher Arbeit zwei und von den größeren kaum eins fertigstellen konnte. Ihre angefertigte Strickware brachte sie persönlich zur Fabrik, sodass diese abgewogen und ausgezahlt werden konnte. »Am peinlichsten war mir das misstrauische Abwiegen: Rohmaterial und fertige Ware mussten sich auf der Waage genau decken, sonst wurden von den 10 und 30 Pfennigen noch Abzüge gemacht!«340 Daneben versuchte Sturmhoefel d.J. eine Anstellung zu bekommen, die ihre Existenz und die ihrer Mutter anhaltend sichern sollte. So brachte ihr außergewöhnliches Zeichentalent sie auf die Idee, damit Geld zu verdienen. Bereits als kleines Mädchen sei sie entzückt gewesen von jeglichen künstlerischen Darstellungen sowie von ihrem Vorbild, der französischen Tiermalerin und Feministin Rosa Bonheur (1822–1899)341 , sodass sie bereits damals ent-

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ren samt dem Bewusstsein und Gefühlen der Nichtzugehörigkeit zur christlichen Kirche, trotz alledem ist sie bis zu ihrer Konversion 1895 nach ausführlichen Recherchen nicht förmlich aus der Kirche ausgetreten. Als Beleg dafür kann ihre reformierte Trauung mit Max Schasler 1873 angeführt werden. Vgl. Kap. 2.1.1. Lazarus-Remy 1927a: 46. Ebd. Ebd. Lazarus-Remy 1927a: 47. Ebd. Ebd. Durch die Salonaufenthalte bei der Gräfin St. Germain, bei denen sie zugegen sein musste, lernte Sturmhoefel d.J. bereits sehr früh bekannte Persönlichkeiten kennen. Lazarus 1898b: 25f.: »Nur einmal empfing sie den Eindruck, nicht einer Salonpuppe, sondern einem wahren Menschen, einer Individualität sich gegenüber zu sehen,« der Malerin Rosa Bonheur. In: Lazarus-Remy 1927a: 12: »Ob sie es war, welche die Gräfin auf mein Zeichentalent aufmerksam machte? – Denn um jene Zeit etwa erhielt ich Skizzenbuch, Vorlagen und Bleistifte, auch Alabaster und Instrumente und jenes versteckte Kämmerchen, Asyl meiner besten Augenblicke in jenen vier Märtyrerjahren.«

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schied Malerin zu werden. »Ohne Unterricht, ohne Vorlagen, zeichnete ich von dem Tage an nach der Natur.«342 Ihr Versuch, ihre Zeichenentwürfe, zu denen ihre Mutter Gedichte und Skizzen schrieb, bei illustrierten Zeitungen einzureichen, scheiterte.343 Aber ihr Entschluss, mit ihrer Zeichenmappe zu einigen Tapeten- und Rouleaus-Fabriken zu gehen und ihre Farb- und Probemuster vorzustellen, glückte. Sie erhielt bei der früher allgemein bekannten Rouleaux- und Tapetenfabrik Borchardt & Co. in der Mauerstraße eine Anstellung als Designerin von Tapetenmustern. »Freilich brummte mir nach stundenlangem Knien und Bücken der Kopf! Aber, du lieber Himmel, was bedeutete das in Anbetracht der wonnigen Schaffenslust, die jetzt mit Farbe und Pinsel schwelgte! Die verheissungsvollen, weissen Riesenblätter gönnten meinen Phantasien den freiesten Spielraum. Bald wars eine Seelandschaft mit weissen und gelben Seerosen (wie in Flatow!) bald ein hohes Schilfdickicht mit dunklem Tannenwald dahinter, eine Gruppe lichter Birkenbäumchen mit flatternden Vögeln und im Vordergrund weidende Schäfchen auf blumiger Wiese, – ja, sogar eine griechische Tempelruine (nach meiner Skizze bei Girgenti) mit tiefblauem Himmel dahinter. – dass meine Phantasien nicht gar zu üppig wurden, dafür sorgte eine gedruckte genaue Anleitung über die einzuhaltenden festen Masse und Regeln. So bändigte Disziplin jede dilettantische Ausartung. Meine Auftraggeber waren zufrieden.«344 Für weitere Tapetenideen besuchte sie nun regelmäßig die Königlichen Museen in Berlin, weil sie dort »in den farbigen Bordüren der hohen Türen und Fenster, welche das Publikum nie betrachtete, die aber mir von jeher Gegenstand entzückter Betrachtung bildeten, vielfach Anregung«345 erhielt. Der damalige Generaldirektor der Königlichen Museen, Ignaz von Olfers (1793–1871), erlaubte Sturmhoefel d.J., bei ihren täglichen Besuchen bereits eine Stunde vor Öffnung Eintritt ins Museum zu bekommen, damit sie sich in völliger Ruhe ihren Zeichnungen widmen konnte. Dies wurde von der »strebsamen Kunstjüngerin« als eine »außerordentliche Vergünstigung«346 vonseiten des Generaldirektors angesehen. Obwohl die Kunst ihr sehr viel Freude bereitete, fühlte sie sich in dieser Phase ihres Lebens nicht erfüllt und glücklich. Ihr fehlte die religiöse Zugehörigkeit, die sie erst viel später finden sollte.347 Indem sie durch das Entwerfen von Tapetenmuster ihr eigenes Geld verdiente, konnte sie sich das erträumte Kunststudium finanzieren und sich damit der aussichtsvollen Existenzgründung als Designerin annähern. Sie besuchte in den »neu entstandenen Malerinnenakademien«348 in Berlin einige Zeichenkurse, um vor allem das Studium der Anatomie und der antiken Skulpturen gründlich zu erlernen. Weil deutsche Akademien bis nach dem Ersten Weltkrieg, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für Frau342 Lazarus-Remy 1927a: 5. 343 In ihren handschriftlichen Notizen gibt sie an, dass sie das Gedicht von Heinrich Heine »Mein Kind, wir waren Kinder« illustriert habe (vermutlich um 1864/65). Siehe: The National Library of Israel, Department of Archives: Tabellarische Lebensangaben, Arc.Nr. 01 123.3. 344 Lazarus-Remy 1927a: 47. 345 Ebd. 346 Lazarus 1898b: 163f. 347 Ebd.: 165f. 348 Ebd.: 163.

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en verschlossen blieben, entstanden vermehrt auf Privatinitiative von Künstlerinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kunstlehranstalten, wie beispielsweise die Zeichen- und Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen.349 Sturmhoefel d.J. beschäftigte sich »ernstlich und unverdrossen mit dem schwierigen Studium der Anatomie […]. Daneben copirte sie die Antike und besuchte zu diesem Zweck regelmäßig die Sculptursäle der beiden Berliner Museen.«350 Sie zeigte eine große Begabung für das anatomische Zeichnen, und wurde künftig sogar »von ihren Lehrern selbst zuweilen copirt. So vorzüglich gelang es ihr in wenigen aber streng charakteristischen Strichen Knochenbau und Muskellagerung des menschlichen Körpers zu kennzeichnen.«351 Während ihres Kunststudiums lernte sie den berühmten nazarenischen Maler Peter von Cornelius (1783–1867) kennen, der sehr von ihren Arbeiten angetan war. Sie erhielt die Ehre ihn einmal wöchentlich zu Hause besuchen zu dürfen, um ihm ihre Studienmappe vorzulegen. »Da pflegte er die einzelnen Blätter bedachtsam zu prüfen und gelegentlich mit seinem Kohlestift Verbesserungen anzudeuten.«352 Cornelius machte sie auf Fehler aufmerksam, erklärte ihr wesentliche zeichnerische Techniken und verbesserte ihre Zeichnungen. »Seine charakteristischen, energetischen Striche wurden mir zu Offenbarung des Wahren und Schönen!«353 Auch erhielt sie Förderung vom Historienmaler Otto Knille (1832–1898), der sie ebenfalls persönlich in seinem Atelier unterwies. Bei ihm lernte sie vor allem die Feinheiten des menschlichen Gesichts zu zeichnen. Er sei zwar noch jung, ernst und wortkarg gewesen, aber sie lernte bei ihm den Blick für »den schönen Faltenwurf und [er] zeigte [ihr] die wundervollen, malerischen Wirkungen der Reflexe und des Schattens«354 . Am häufigsten besuchte sie jedoch mit ihrer Mutter das Atelier des unbekannten Malers Rudolf Wilhelmi, den sie eher als einen Sonderling als Künstler beschreibt.355 Auch erhielt sie Zeichenunterricht von dem Historien- und Portraitmaler Gustav Gaul (1836–1888) und von dem Porträt-, Historien- und Genremaler Franz Xaver Gaul (1837–1906). Der Zeichenunterricht wurde meist nach Vorlagen erteilt und enthielt methodische Anweisungen über Licht und Schatten sowie über das Zeichnen nach der Natur. Ebenso übte sie perspektivisches Zeichnen, was sie anhand von Beispielen aus

349 Vgl. Berger 1982: 91. Welche neuentstandene Malerinnenakademie Sturmhoefel d.J. besucht haben könnte, konnte trotz längerer Recherche nicht festgestellt werden. Der Verein der Berliner Künstlerinnen kann es nicht gewesen sein, da dieser erst 1868 gegründet wurde. 350 Lazarus 1898b: 163. 351 Ebd. Zeichnungen ihrer anatomischen Bilder sind in ihrem Nachlass in der National Library of Israel zu finden. Im Anhang wurde jeweils ein Werkbeispiel angefügt: s.Abb. 4–6. Leider sind aus dieser Zeit kaum Bilder erhalten geblieben. In ihrem Nachlass im National Archive in Jerusalem befinden sich ihre anatomischen Zeichnungen, ein Skizzenbuch von 1892 sowie Illustrationen für eine noch nicht geschriebene Geschichte »aus dem Leben« und die »Liebeslieder-Sammlung« ihrer Mutter. 352 Vgl. Lazarus 1898b: 164f.; 165f.: In den folgenden Seiten ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! beschreibt Lazarus-Remy mit großer Dankbarkeit Peter von Cornelius und seine Wohnsituation in seinem letzten dreiundachtzigsten Lebensjahr. Dabei wird die Gemäldegalerie des polnischen Grafen Raczyński erwähnt, worin die großen Künstlerateliers sich befanden und des »echten Genies« und »großen Malers« Zuhause war. 353 Lazarus-Remy 1927a: 48. 354 Ebd. 355 Ebd.: 49.

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dem Leben nachzeichnen und -malen lernte. Retrospektiv wird die Lebensphase, seitdem sie im Sommer 1864 in die Hagelsbergerstraße zog, als eine Zeit »heiterer Arbeit [und] inneren Friedens«356 beschrieben, die jedoch erneut durch die eigennützigen Ideen ihrer Mutter destruiert wurde. Sie solle zum Theater gehen, so der Wunsch ihrer Mutter, womit für Sturmhoefel d.J. wiederholt der metaphorische Frühling entrückte: »Die Libelle verpfuscht … so erschreckten mich diese fünf Worte.«357 Bereits einige Tage später arrangierte Sturmhoefel d.Ä. für ihre Tochter ein Vorstellungsgespräch bei dem Theaterverlag und -Agentur Felix Bloch, heute bekannt als Theaterverlag Felix Bloch Erben (seit 1849). »Die Galgenfrist bis zum Antritt des gefürchteten Engagements wurde noch mit intensiver Hingabe an Alles, was mich beglückte, ausgefüllt: Museumbesuche, Zeichnen nach der Antike und nach der Natur.«358

1.2.6 Zeitweilige Theaterdarstellerin (1866–1873) Obwohl Sturmhoefel d.J. weder Ausbildung noch Erfahrungen als Theaterdarstellerin hatte, vermittelte der Theateragent Felix Bloch (1845–1887) ihr zum Beginn des Winters 1865 ein Engagement als »Naive«359 in Salzbrunn. Dabei handelte es sich um eine weibliche Rolle des niederen Standes. Die weiblichen Personenrollen innerhalb eines Theaterstückes wurden in der klassischen Schauspielkunst nach Charakter und Funktion in fünf verschiedene Rollen eingeteilt: Heldin, Salondame, Charakterrolle als Mutter, Intrigantin oder komische Alte und die Rolle der jugendlichen Liebhaberin (höherer Stand) oder die der Naiven. Jede Rolle setzte ein bestimmtes Repertoire von Gesten, Verhaltensregeln und Charaktermerkmalen voraus. Während beispielsweise die Liebhaberin einen fröhlichen Charakter darstellte, musste die Naive sentimental und nachdenklich gespielt werden. Um die Theaterdarstellerin in eine für sie passende Rolle einteilen zu können, wurden ihr Alter, die Statur, Stimme, soziale Herkunft, ihre Erfahrungen und Begabungen sowie die selbstmitgebrachte Garderobe mitberücksichtigt.360 Für Sturmhoefel d.J. wurde aufgrund ihres jungen Alters (fast 17 Jahre), ihrer nichtvorhandene Schauspielerfahrung sowie ihrer kargen Garderobenausstattung die Rolle der ›Naiven‹ ausgewählt. Sie erhielt von Felix Bloch ihr Repertoire und die Liste ihrer Stücke, die sie in Salzbrunn zu spielen hatte. »Die Stücke wurden angeschafft, die Rollen herausgeschrieben, mit ›Scenarium‹ und ›Stichworte‹, u.s.w. und die ›Grille‹361 , ›Pariser Taugenichts‹362 , Hedwig in ›Sie hat ihr Herz entdeckt‹363 u.a.m. memoriert. Meine Mutter überhörte, kritisierte und liess mich vor Anderen deklamieren, wobei meine Schüchternheit sich glänzend bewährte.«364 356 357 358 359 360

Ebd.: 48. Ebd. Ebd. Vgl. Leimbach 1899: 429. Diebold 1978. Vgl. auch Doerry 1926. In: Lazarus-Remy 1927a: 57: »Bei meinem ersten Besuch beim Theaterdirektor stellte er die Frage, ob ich Erzherzoginnen und sonstige Prinzessinen spielen könne, d.h. ob ich die betreffenden Toiletten besässe?« 361 Sand 2017. 362 Vanderburch 1848. 363 Müller von Königswinter 1865. 364 Lazarus-Remy 1927a: 48.

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Allein in Salzbrunn angekommen, begann für die Sechzehnjährige eine harte Unterkunftssuche. Durch den zweifelhaften Ruf der Schauspielerin fand sie, noch als unmündiges Mädchen unterwegs, keine Unterkunft. »An einem anderen Ort gabs kein Logis, die männlichen Mitglieder fanden ein Unterkommen, die weiblichen nicht. Wieder hörten wir die kränkende Abwehr: ›Schauspielerinnen nehmen wir nicht‹.«365 Diese Erfahrung, dass sie gedemütigt vergebens umherwanderte, musste sie auch immer wieder auf ihren späteren Reisen durchleben. Schließlich stellte sie fest, dass die strengen Maßstäbe bürgerlicher Moral für Künstlerinnen nur bedingt galten. Es herrschte eine sexuelle Freizügigkeit, die innerhalb des Theaterlebens im Ensemble geduldet und gleichzeitig als ökonomisch wertvoll betrachtet wurde, um die Selbstsicherheit und Freizügigkeit auf der Bühne zu erleichtern. Lazarus-Remy bestätigt durch ihre retrospektive Theaterrezeption in Mein Leben I den zweifelhaften Ruf des Schauspielerberufs. Die dort gelebte Freizügigkeit konnte Sturmhoefel d.J. nicht mit ihren sittlichen Vorstellungen und ihrer persönlichen Schüchternheit kombinieren. »Denn welch ein Ton und Treiben hinter den Kulissen! – Welch ein Unteroffiziergebahren der Angestellten! – Welch eine Ungeniertheit in den Garderoben! – Welch eine Umgangssprache zwischen Kollegen und Kolleginnen, durchflochten von unanständigen Scherzen und zweideutigen Anspielungen. […] Gerade in den Garderoben, beim An- und Ausziehen und während der Pausen – wehte ein Hauch von Unzucht, der mich so beklommen machte, dass sich die Gedanken nur mit Mühe auf meine Rolle konzentrierten.«366 Ihre Schauspielkarriere führte immer wieder zu unhöflichen Beschimpfungen sowie unanständigen Avancen, sodass sie in Mein Leben I eine rechtfertigende Stellungnahme formuliert: »Die Ansicht, die man aber vom Schauspielerstande hat, ist nicht die beste; wenn ich dennoch Schauspielerin werde, so geschieht es aus keinen leichtsinnigen Motiven, sondern um mir eine geachtete [Herv. i.O.] Stellung zu verschaffen.«367 Die weiblichen Bühnenberufe, wie Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin, wurden vermehrt von Frauen aus kleinbürgerlichen Familien gewählt, um dem Traum von Freiheit, Selbstständigkeit und Ungebundenheit näher zu kommen. Hatte sie die Begeisterung des Publikums sowie eine Anstellung in einem berühmten Theater erreicht, konnte eine Schauspielerin ebenfalls viel Einfluss besitzen und eine geachtete Stellung erlangen. So gehörten zu Sturmhoefels d.J. Theaterkreis und Vorbildern berühmte Persönlichkeiten, wie beispielsweise der deutsche Schauspieler Alexander Liebe vom Hoftheater in Sankt Petersburg, die österreichische Opernsängerin Marie Geistinger (1836–1903), die österreichische Theaterdirektorin Josefine Gallmeyer (1838–1884), die deutsche Schauspielerin Charlotte Wolter (1834–1897) oder die österreichische Schauspielerin Stella von Hohenfels (1857–1920). Wegen des drohenden Kriegs zwischen Preußen und Österreich (1866) wurde zur Erleichterung von Sturmhoefel d.J., die nur ihrer Mutter zuliebe dem Engagement in

365 Ebd.: 63; 50. 366 Lazarus-Remy 1927a: 56. 367 Ebd.: 49. Eine ausführliche Vorstellung ihrer Theaterkarriere sowie ihre Darstellung besonderer Theaterpersönlichkeiten finden sich in Mein Leben I im 8. und 9. Kap.

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Salzbrunn zugestimmt hatte, das Theater zunächst geschlossen. Ihre Mutter holte sie allerdings zu sich nach Breslau, wo sie erneut versuchte für sie ein Engagement am Theater zu erhalten. Jedoch wurden auch dort alle Theater geschlossen, sodass von der Mutter beschlossen wurde, dass beide Krankenpflegerinnen werden sollten.368 Als der Preußisch-Österreichische Krieg ausgebrochen war (19. Juni 1866), fehlte es überall an Ärzten und Krankenpflegerinnen. Während ihre Mutter sich für den dreiwöchigen Krankenpflegerinnenkurs anmeldete, wurde Sturmhoefel d.J. wegen ihres jungen Alters abgewiesen. Die Mutter wurde nach Landshut berufen und ließ erneut ihre Tochter allein in einem für sie fremden Ort, ohne Unterkunft und Einkünfte. Allein auf sich gestellt, machte sich Sturmhoefel d.J. wiederholt mit ihrer Zeichenmappe ausgerüstet auf die Suche nach einer Anstellung als Designerin. Im Juli 1866 lernte sie Franziska Ottilie Charlotte von Dallwitz aus Mangschütz (heute Mąkoszyce) im damaligen Niederschlesien kennen und erhielt von ihr das Angebot, ihre drei Kinder zu unterrichten.369 Ihre guten Sprachkenntnisse nutzend, lehrte sie die Kinder Französisch und Italienisch und gab ihnen Unterricht im Zeichnen nach der Natur, entsprechend dem von ihr bevorzugten spielerisch-rousseauischen-Unterrichtskonzept. »Für letzteres bot die ganze Umgebung reichliche Motive: Stallungen, Tiere, Ackergeräte, Gärtnerhaus, Hundehütte, Zäune mit aufgehängter Wäsche dahinter, Brunnen, Lauben, Grotten usw.«370 Wenn die Kinder bei ihrem Hauslehrer unterrichtet wurden, gab sie auch Frau von Dallwitz Unterweisung in Italienisch, wofür sie im Gegenzug vom unterhaltenden Klavierspiel befreit blieb. Die zwei Monate (Juli bis August 1866), die sie in Mangschütz verbrachte, werden von ihr als unvergesslicher Sommer beschrieben. Sie wurde sofort liebevoll von der Familie Dallwitz aufgenommen, sodass sie schnell eine innige Beziehung nicht nur zu den Kindern, sondern auch zu Frau von Dallwitz aufbauen konnte: »Mir ist, als ob zwischen uns ein Band tiefer Zuneigung geknüpft war, unausgesprochen, aber unzerstörbar.«371 So kam es dazu, dass Frau von Dallwitz ihr anbot, für immer bei ihnen als Gesellschafterin zu bleiben. Jedoch wurde diese erfreuliche und einmalige Chance für Sturmhoefel d.J. erneut durch einen Brief ihrer Mutter zerschlagen. Ende August schrieb ihre Mutter, motiviert durch den Prager Frieden (23. August 1866) zwischen Preußen und Österreich, dass sie für Sturmhoefel d.J. ein erneutes Theaterengagement an der Sommerbühne in Warmbrunn vermitteln konnte. So machte sich die nun Siebzehnjährige abermals allein auf den Weg Richtung Warmbrunn. »Allein … ein kleines Wort … zentnerschwer für die wieder ins Ungewisse Hinausgetriebene. Ward dem gehetzten Reh nirgends ein Schlupfwinkel gegönnt?«372 Der Wunsch, sich von der Vormundschaft ihrer Mutter zu befreien, sodass sie nicht mehr nach deren Willkür leben müsse, festigte sich immer mehr. Am 15. September 1866 kam sie in Warmbrunn an. Diesmal wurde sie von Frau von Dallwitz bestens für ihre 368 Ebd.: 51. 369 Die Familie von Dallwitz bestand aus zwei Mädchen, Marieva (geb. 1850) und Magda, und dem Sohn, Johann von Dallwitz, wie Lazarus-Remy ihn familiär nannte, und mit dem sie auch später noch brieflichen Kontakt pflegte. Nikolaus Michael Louis Johann von Dallwitz (1855–1919) wurde Statthalter von Elsass-Lothringen und preußischer Innenminister. Vgl. dazu ebd.: 56. 370 Ebd.: 53. S.Kap. I, 1.2.2 und I, 1.2.3. 371 Lazarus-Remy 1927a: 54. 372 Ebd.: 55.

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Theatergarderobe ausgestattet. Mit seidenen Bändern und Strümpfen, Spitzen, Handschuhen etc. und mehreren Büchern, was jede Darstellerin selbst mitzubringen hatte, erhielt sie nun auch die ein oder andere Damenrolle. Jedoch sei sie immer noch zu schüchtern gewesen, um aus sich herauskommen und große Damenrollen spielen zu können. Aus diesem Grund seien die jungen Mädchenrollen, die sie hauptsächlich erhielt, mit dem zu spielenden kindlichen Charakter für sie doch am besten gewesen, da sie bloß sich selbst zu spielen habe.373 Lazarus-Remy gefiel dem Publikum, besonders ihre Stimme und Sprache: »jene sei sehr wohllautend, diese so deutlich, dass man im fernsten Winkel jedes Wort verstand. Dennoch blieb der Erfolg im Ganzen ein mässiger.«374 Am Ende der Saison (Oktober 1866) holte Sturmhoefel d.Ä. ihre Tochter ab und reiste mit ihr quer durch einige Provinzstädte wie Hirschberg, Freiburg, Löwenberg und Bunzlau auf der Suche nach einem neuen Theaterengagement. Erst im Dezember 1866 fand Sturmhoefel d.J. im damaligen preußischen Torgau Anschluss an ein kleines Theaterensemble mit patriarchalisch geordneten Regeln. Der Theaterdirektor Gärtner wird von ihr als ein anständiger Mann beschrieben, der sie in seine Theaterfamilie herzlich aufnahm. »Er hatte nichts von den Paschamanieren der gewöhnlichen Theaterdirektoren; er erhöhte mein Gehalt und förderte mich durch Rat und Kritik in jeder Weise. Man behandelte mich allmählich wie zur Familie gehörig.«375 Das Erlernen ihrer Rollen fiel ihr immer leichter, sodass sie keiner Souffleuse mehr bedurfte. Auch blieb der Beifall des Publikums nicht mehr länger aus, sodass sie als beliebtes Mitglied Huldigungen erhielt. Im Januar 1867 gab das Theaterensemble ein Gastspiel in Luckenwalde bei Berlin, wo sie eine Titelrolle spielen durfte, allerdings im Anschluss an ihre Aufführung schwer an einer Lungen- und Zwerchfellentzündung erkrankte. Ihre Mutter, die sie zwar begleitete, aber immer wieder zurück nach Leipzig fuhr, um einen Verleger für ihre Gedichte und andere Schriften zu finden, war zu diesem Zeitpunkt bereits seit Wochen nicht anwesend, sodass Sturmhoefel d.J. von ihrem Ensemble allein in Luckenwalde zurückgelassen wurde. Monate vergingen, bis sie einigermaßen wieder reisefähig war, um im April 1867, wieder dem Willen ihrer Mutter folgend, ein Engagement im Deutschen Landestheater in Prag annehmen zu können. Immer noch durch ihre schwere Erkrankung körperlich geschwächt, war sie auf die Begleitung ihrer Mutter angewiesen. Diese setzte sich vor Ort mit dem Direktor Rudolf Wirsing (1824–1878) auseinander, sodass sie für ihre noch kränkelnde Tochter trotz Bezahlung ein halbes Jahr Schonung aushandeln konnte. »Im Laufe des Sommers lernte ich wieder ohne Stütze gehen, und Ende September spielte ich einige kleinere Rollen.«376 Obwohl sie sich im Deutschen Landestheater sehr wohl fühlte, wurde ihr bereits im Oktober 1867 aufgrund »zu schwacher Stimme«377 gekündigt. »Das Prager Theater ist eines der grössten Deutschlands, und meine frühere Kraft war dahin!«378 Sie ging auf gut Glück nach Reichenberg, wo sie zwar sofort engagiert wurde, aber laut ihren Notizen die »alte Theatermisére« wieder stattfand: »Frivolität des Personals,

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Ebd.: 56. Ebd. Ebd.: 57. Lazarus-Remy 1927a: 58. Ebd. Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Despotie der Regisseure, Schamlosigkeit in den Garderoben, hinter den Kulissen, usw, [die] mein Anstandsgefühl fortwährend verletzten. Kein Wunder, dass mir bei der Wohnungssuche immer wieder die Frage entgegentönte: ›Sind Sie beim Theater?‹«379 Das Repertoire umfasste hauptsächlich Operetten und einige Lustspiele, unter anderem von Julius Rosen, Pseudonym des österreichischen Dichters Nikolaus Duffek (1833–1892), vom österreichischen Schriftsteller Eduard von Bauernfeld (1802–1890) und dem deutschen Schriftsteller Gustav Gans zu Putlitz (1821–1890). Das Theaterensemble von Reichenberg hielt Gastspiele in Trautenau und Schatzlar, wo jedoch wegen der extremen Kälte im Januar 1868 alle Vorstellungen abgebrochen und alle Darsteller unentgeltlich entlassen wurden. Sturmhoefel d.J. reiste daraufhin, auf der Suche nach neuen Engagements an unterschiedliche Theaterbühnen, vergeblich nach Liegnitz, Glogau, Lissa und Posen, wo sie aufgrund einer erneuten schweren Krankheit völlig erschöpft zusammenbrach. Endlich schickte Sturmhoefel d.Ä. ihre Tochter zurück zu ihrer geliebten Großtante Jette nach Flatow, wo sie mit Ruhe und Pflege wieder zur völligen Gesundheit kommen sollte. Erneut kam Sturmhoefel d.J. im »Wonnemonat Mai«380 (1868) in Flatow an, wo ihre Großtante Jette sie mit offenen Armen empfing. »Sie hatte ja schon so oft geschrieben, ich möge zu ihr kommen, und nun hatte sie ihr ›Annchen‹ wieder!«381 Bis Juni durfte sie die sorglose Zeit bei ihrer Großtante genießen, konzentriert auf ihre Zeichnungen und »losgelöst von allem Widerwärtigem, von aller Theaterknechtschaft mit seinen Anstrengungen, Demütigungen, Schamlosigkeiten«382 . Ende Juni 1868 wurde Sturmhoefel d.J. erneut von ihrer Mutter aufgefordert, ein Theaterengagement anzutreten. Da sie immer noch unmündig war, konnte Sturmhoefel d.Ä. mit ihrer Tochter nach Gutdünken verfahren, sodass sie entgegen dem Willen ihrer Tochter einem Kontrakt mit einer Konventionsstrafe von 3.000 Talern zustimmte. Sturmhoefel d.J. machte sich demgemäß abermals allein auf den Weg nach Warschau. »Musste das sein? All das Hässliche? All das Ordinäre, meinem Naturell so tief Widerstrebende? All die Hetzjagd? Von Anfang an. – Damals, in Livorno, versprach das Kind zu arbeiten. Tat die kaum Erwachsene es nicht? Kniete sie nicht auf der Erde und malte Rouleaux, die gut bezahlt wurden? – ›Auf! Zum Theater!‹ – Es misslang. Fand sie nicht bei Weilhäusers freundliche Aufnahme? – ›Fort! Zur Krankenpflege!‹ – Schauerliche Misère in Breslau … Winkte ihr nicht bei Frau Dallwitz ein frohes, sorgloses Dasein? – ›Weg! Weiter!‹ Bergab … immer niedriger … bis die Erschöpfte Rettung fand bei ihrer geliebten Alten. War sie doch schon einmal aus dem trauten Flatow Asyl herausgerissen worden, um in der ›Berliner Pension‹ Stubenmädchen zu spielen … War es nicht endlich genug der Prüfung und Quälereien? Nein, kein Ende. Wieder hinausgeschleudert ins Ungewisse, Abgrundtiefe!«383 Bedenkt man die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Schauspielerinnen sowie die praktischen Schwierigkeiten für alleinreisende Frauen im 19. Jahrhundert, so ist es

379 380 381 382 383

Ebd. Ebd.: 60. Vgl. auch Kap. I, 1.1.6. Ebd.: 59. Ebd.: 60. Lazarus-Remy 1927a: 61.

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höchst verwunderlich, wie die Mutter sie so lange und zu solch entfernten Orten reisen lassen konnte. Statt, wie versprochen, um eine Sommerbühne handelte es sich in Warschau um eine Bühne einer Gastwirtschaft, die in ihrem Hinterhof zur Unterhaltung ihrer Gäste aufgebaut wurde. Es gab weder Umkleideräume noch getrennte Schlafräume für die Künstler. Auch erhielten sie statt einer Gage Speisemarken. Geschockt von den Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen gelang es Sturmhoefel d.J. mithilfe des preußischen Konsulats aus dem Kontrakt entlassen zu werden und zurück nach Berlin zu reisen, wo ihre Mutter sich um ein Engagement in dem Berliner Theater bemühte. Erst für Januar 1869 erhielt sie ein Engagement am Berliner Vorstädtischen Theater am Weinbergsweg. Sie spielte unter anderem die Titelrolle des Stückes Pfefferrösels von der deutschen Schriftstellerin Charlotte Birch-Pfeiffer (1799–1868), die Perdita in Das Wintermärchen des englischen Dramatikers William Shakespeare (1564–1616) und Georg im Götz von Berlichingen des deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832).384 Ihr Repertoire der jungen Naiven erweiterte sich durch die Rollen des Pagen, der Liebhaberin und des Landmädchens. Jedoch blieben die anspruchsvolleren Rollen der Heroinen und Salondamen immer noch aus. Im Vorstädtischen Theater am Weinbergsweg empfand Sturmhoefel d.J. seit längerem wieder Freude am Schauspiel. Das damals noch bespöttelte Vorstädtische Theater wird von ihr als eine Ausnahme hervorgehoben, wo durch die Schauspielerin und Anstandsdame Elise Hüftel sowie die Besitzerin des Theaters, vom Ensemble Mutter Gräbert (1803–1870)385 genannt, eine vorbildliche Gesittung vorzufinden war: »Zweideutige Lustspiele, Ehebruchstücke, sog. ›Sittendramen‹ waren verpönt. Mutter Gräbert prüfte Alles genau. Sie selbst sah man kaum, und doch fühlten sich Alle von ihr beaufsichtigt. Daher war der Ton überall ein anständiger, wie er unter gebildeten Menschen üblich ist, und in den Garderoben ging es durchaus dezent zu.«386 Sie fühlte sich wohl dort und schätzte den freundschaftlichen Ton unter den Kollegen. Hier blieb sie eine längere Zeit (genaue Angaben fehlen) und sammelte viele Erfahrungen, die sie dann in ihrem neuen Engagement im Sommer 1870 in Wien nutzen konnte. Um ihrer drohenden Verhaftung zuvorzukommen, floh ihrer Mutter im November 1869 nach Italien und unterhielt aus Vorsicht wegen der polizeilichen Nachforschungen nur sporadisch Korrespondenz mit Sturmhoefel d.J. Für einige Monate hörte sie kaum etwas von ihrer Mutter, die in Wien unbehelligt lebte, was die Tochter erst im Sommer 1870 erfuhr. Ihre Mutter setzte sich weiterhin beharrlich für eine Theaterannstellung ihrer Tochter an den großen Bühnen Wiens ein. So erhielt sie ein Engagement am Theateran-der-Wien, das dringend eine Darstellerin für die Liebhaberin- und Naivenrolle sowie für eventuelle Nebenrollen benötigte. »Als ich mit Scharen anderer Mädchen paradie-

384 Vgl. ebd.: 64: Unter anderem auch die Hannchen im Der Wollmarkt des deutschen Schriftstellers Heinrich Clauren (1771–1854), Fatime in den Die Kreuzfahrer des deutschen Dramatikers August von Kotzebue (1761–1819) und Franziska in Minna von Barnhelm des deutschen Dichters Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). 385 Julie Gräbert (1803–1870) leitete ab 1855 das Vorstädtische Theater am Weinbergsweg in Berlin. 386 Lazarus-Remy 1927a: 64.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

ren sollte – in sogenannten Ausstattungsstücken, in denen sie singen und tanzen mussten – fühlte ich mich so wenig an meinem Platz, dass ich meine Entlassung erbat.«387 Der Theaterdirektor Maximilian Steiner (1830–1880) stimmte ihrer Entlassung zu. Da nahm sie ein Engagement im Wiener Strampfer-Theater an und erhielt ihre erste große Rolle in der Spitzenkönigin des deutschen Bühnenautors Adolphe L’Arronge (1838–1908). Dank der Großzügigkeit von Frau von Dallwitz hatte Sturmhoefel d.J. bereits eine gute Ausstattung für die Damenrolle erhalten, jedoch fehlte ihr jegliche Toilette für Königinnen- oder Prinzessinnenrollen. Obwohl ihre Mutter ihr bei der Modernisierung ihrer Ausstattung stets half »mit Auftrennung, Wieder-Zusammensetzen, mit hunderterlei Künsteleien und Tüfteleien, Andersgarnieren, um immer von neuem ein Kleid zu verändern!«388 , reichte ihre Ausstattung nicht aus. Ihre ältere Bekanntschaft mit der berühmten Hofburgschauspielerin Charlotte Wolter (1834–1897), die für ihre wundervoll selbstgestalteten Kostüme bekannt war, verhalf ihr zu einer prachtvollen Garderobe. Die Freundschaft mit Charlotte Wolter und ihrem Mann Karl Graf O. Sillivan de Grasse (1837–1888) erwies sich auch für ihre neu entdeckte Leidenschaft für das Schreiben von Lustspielen als förderlich. Während ihres Theateraufenthaltes im Berliner Vorstädtischen Theater (1869) versuchte sie ihr erstes Lustspiel zu schreiben. Dabei handelte es sich um eine einaktige Bearbeitung des Lustspiels Die Verliebte Verwandlung des französischen Schriftstellers Marc-Antoine Le Grand (1673–1728). »Als ich wieder einmal mit Beiden […] Abends bei der grossen Hängelampe am runden Tisch sass, und mein einaktiges Lustspiel: ›Die Rechnung ohne Wirt‹ vorlas, da wars nicht ohne Humor, dass der gutgelaunte Graf mir für den darin vorkommenden Bonvivant den weltmännischen Ton, allerhand burschikose Nuancen und selbstgefällige Allüren zum Besten gab. So gewann mein harmloses Opus etliche Lichter und Pointen.«389 Von den beiden Freunden ermuntert, reichte Sturmhoefel d.J. ihr Lustspiel anonym ein. Es wurde tatsächlich unter dem Titel Die Rechnung ohne Wirt im Januar 1870 insgesamt zwölfmal am Wiener Burgtheater aufgeführt (s.Kap. I, 2.1). Das Engagement im Strampfer-Theater lief aus und Sturmhoefel d.J. zog zu ihrer Mutter nach Perchtoldsdorf, wo sie die Spielpause nutzte, um ihre schriftstellerischen Manuskripte zu bearbeiten. Aber immer wieder schickte ihre Mutter sie zu Theaterengagements zunächst nach Oedenburg (Winter 1871) und schließlich Neujahr 1872 nach Berlin, wo sie sich bei der Theateragentur A. Entsch vorstellte. Jedoch war die Wintersaison bereits aufgestellt, sodass Sturmhoefel d.J. das fehlende Engagement zur Ausarbeitung ihres ersten Romanentwurfes Wo die Orangen blühen nutzen konnte. Sie lebte von einem Darlehen von 300 Talern, dass sie sich von dem familiären Freund und Hausarzt Dr. Moritz Löwinsohn390 lieh und innerhalb eines Jahres zurückzuzahlen hatte. Kurzweilige Theaterengagements im Berliner Wallnertheater oder im Friedrich-Wilhelmstädti-

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Lazarus-Remy 1927a: 66. Ebd. Ebd.: 67. Dr. Moritz Löwinsohn (Lövinson) war ein Berliner Arzt, Teilnehmer am zweiten Demokratenkongress der deutschen Revolution 1848/49 und war ein Bekannter ihres Vaters Max Schasler.

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schen Theater hielten sie zusätzlich noch ein Jahr über Wasser. Aber das Theaterleben widerstrebte ihr immer mehr, sodass sie sich, nun frisch verlobt, im Januar 1873 endgültig entschied ihre Bühnenlaufbahn aufzugeben.391 »Dass ich den Mut fand, endlich frei und selbständig über mich zu verfügen, erfüllte mich mit frommer Freude, indessen das Psalmwort: ›Freut euch mit Zittern‹ sich immer noch bewahrheitete.«392 Nur wenige Male stand sie noch auf einer Bühne, wie beispielsweise im Sommer 1877 bei einer dramatischen Abendunterhaltung im Liberalen Halleschen-Torbezirksverein, in dem sie und Max Remy (s.Kap. I., 2.1) Mitglieder waren. Sie spielte die Elise aus dem einaktigen Lustspiel Im Wartesalon erster Klasse von Hugo Müller (1831–1881). »Ihr vornehmes, anmutiges und sicheres Spiel [habe] allgemeine Bewunderung erregt«393 , zitierte sie aus der Rezension des Journalisten Friedrich Stephany (1830–1912). Persönlich schrieb er ihr: »Sie lächeln dabei so überaus liebenswürdig! Es war ein ganz eigenartiges Lächeln, so klug, so fein, so sprechend, – kurz, je nach der Situation so anders und vielsagend, dass dieses Ihr Lächeln noch später Gegenstand unserer Unterhaltung war. Wer so lächeln kann, ist ein reifer und ein guter Mensch.«394

2. Nahida Remy, die konfessionsfreie Christin395 2.1

Freischaffende Schriftstellerin

Ihr erstes Lustspiel Die Rechnung ohne Wirt (1870) reichte Sturmhoefel d.J. noch während ihrer Zeit als Theaterdarstellerin beim berühmten Wiener Burgtheaterdirektor Franz von Dingelstedt (1814–1888) ein, »natürlich ohne Nennung [ihres] weiblichen Vornamens«396 . Als ›der Autor‹ allerdings zum persönlichen Gespräch gebeten wurde, reagierte Dingelstedt wie folgt auf die Tatsache, dass das vorliegende Werk von einer Autorin verfasst worden sei: »Nie und nimmer hätt‹ ich gedacht, dass das Stück von einer Dame geschrieben sei.«397 Eine derartige Bemerkung war typisch für die damalige Wahrnehmung der Frau als Schriftstellerin. In der männlich dominierten Gesellschaft galten Frauen, die sich mit dem Schreiben intensiv beschäftigten, als unschicklich und sogar als unweiblich, da es der weiblichen Natur widerspreche. Sie mussten oftmals mit Spott, Neid und vor allem mit geringerer Bezahlung als ihre männlichen Schriftstellerkollegen rechnen. Franz von Dingelstedt lobte allerdings Sturmhoefels d.J. Talent und riet ihr, weiter schriftstellerisch schaffend zu bleiben, jedoch mit Verwendung eines Pseudonyms. Oft waren es Männer wie Dingelstedt, die die Schriftstellerinnen dazu überredeten, unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Sturmhoefel d.J. stimmte

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Zur Verlobung und Eheschließung siehe Kap. I, 2.1.1. Lazarus-Remy 1927a: 73. Vgl. Ps 2,11. Lazarus-Remy um 1927b: 86. Ebd. Zum Verständnis des Begriffs »konfessionsfreie Christin« s.Kap. I, 1.2.4. Lazarus-Remy 1927a: 68. Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

zu und begann höchst motiviert neben ihrem zusätzlichen Theaterengagement 1871 ihre italienischen Lebenserfahrungen in ihrem ersten Roman Wo die Orangen blühen zu verarbeiten. Durch ihre Mutter, die den schriftstellerischen Erfolg ihrer Tochter unterstützte, konnte Sturmhoefel d.J. 1871 den Kontakt zum befreundeten Buchhändler und Begründer des Berliner Fremdenblattes Gustav Schenk (1830–1905) knüpfen.398 Er war auch von ihrem Lustspiel Die Rechnung ohne Wirt begeistert und unterstützte die junge Schriftstellerin bei ihrer Literaturauswahl sowie der anonymen Veröffentlichung ihres ersten kulturhistorischen Romans Wo die Orangen blühen im Berliner Fremdenblatt 1872, den er gut honorierte. Durch Gustav Schenk lernte sie den Mitredakteur und damals anerkannten Theater- und Kunstkritiker Max Remy (1839–1881) kennen.399 Im November 1872 verlobte sich das Paar und heiratete im Jahr darauf. Max Remy war Schriftsteller, Mitredakteur des Berliner Fremdenblatts sowie Journalist für Die Vossische Zeitung400 , für die er vor allem Theaterkritiken schrieb.401 Bereits vor ihrer Ehe engagierte er, von Sturmhoefels d.J. bisher erschienen Werken und ihrer literarischen Auffassungsgabe beeindruckt, sie als seine Mitarbeiterin für Rezensionen für das Berliner Fremdenblatt.402 Durch die neue Stellung als Mitarbeiterin von Max Remy und die Verlobung mit ihm erhielt Sturmhoefel d.J. schließlich 1873 die Chance, sich von ihrer Theaterkarriere abzuwenden und sich nun völlig der Schriftstellerei zu widmen. Ihre neue berufliche Tätigkeit konnte im häuslich-privaten Raum stattfinden, wo sie ihrem Mann zuarbeiten und sich gleichzeitig um den Haushalt kümmern konnte, was den Rollenerwartungen an die bildungsbürgerliche Frau vollkommen entsprach.403 In ihrer Ehe mit dem schwererkrankten Max Remy (s.Kap. I, 2.1.1) vertrat sie ihn fast völlig in all seinen schriftstellerischen Tätigkeiten und übernahm mit ihm für den Direktor des Nationaltheaters in Berlin Robert Buchholz (1838–1893) »eine sehr anstrengende aber erfolgreiche dramaturgische Tätigkeit«404 . Für sie begann eine Zeit »angespannter unausgesetzter Arbeit«, die fast tägliche Theater- und Kunstbesuche forderte, sowie »Bibliotheksstudien, Referate über populärwissenschaftliche Vorträge, akademische Vorlesungen und massenhafte Buchbesprechungen«405 . Als freischaffende Schriftstellerin unterstützte sie nun Max Remy und schrieb die Rezensionen von »Novellen, Romane und Lyrisches,

398 Vgl. ebd.: 73; Lazarus 1898b: 172. Sturmhoefel d.Ä. lernte den Barrikadenkämpfer Gustav Schenk (literarisches Pseudonym R.L. Stab) während der Märzrevolution 1848/49 kennen. 399 Lazarus 1898b: 171: »Mit großer Liebe und treuer Hingebung ging der junge Mann seinem aufreibenden Berufe nach, und erwarb bei Allen, die ihn näher kennen lernten, Respect und Hochachtung wegen seines überaus gewissenhaften Charakters.« 400 Digitalisate unter: Staatsbibliothek zu Berlin 2015. Vossische Zeitung bürgerlich-liberale Zeitung mit Handelsblatt und Sonntagsbeilage. Sie ist die älteste der Berliner Zeitungen (der älteste erhaltene Jahrgang ist von 1721 datiert). 401 The National Library of Israel, Department of Archives: Autobiographisches Material, Arc.Nr. 01 136: Er verfasste u.a.: Der Deserteur (1860), Merope (1860), Vom Fels zum Meer (1867), Der deutsche Heldenkampf 1870 bis 1871 in Wort und Lied (1871), Goethes Erscheinen in Weimar (1877). 402 Hinrichsen 1887: 509. 403 Lazarus 1898b: 181: »Sie ward ihm eine unermüdliche Gehilfin im Haushalt, eine fleißige Mitarbeiterin im Beruf, eine treue Gesellschafterin in trüben Stunden.« 404 The National Library of Israel, Department of Archives: Autobiographische Notizen, Arc.Nr. 01 136. 405 Lazarus-Remy 1927b: 66.

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Reisebeschreibungen, Jugendschriften, Kindermärchen, Kalender, Biographisches«406 größtenteils allein und hauptsächlich für die Vossische Zeitung und das Berliner Fremdenblatt.407 Auch ihre Leidenschaft für das Zeichnen nutzte sie für die Veröffentlichung einiger Skizzen408 und Illustrationen, wie beispielsweise ihre Illustration Amor als Buchhändler, die mit einem dazu passendem Gedicht in der illustrierten Damen-Zeitung Der Bazar (1874/75) abgedruckt und mit zehn Talern (umgerechnet ca. 300 €)409 honoriert wurde.410 Auch erwiesen sich ihre Theatererfahrungen sowie Kunstkenntnisse als sehr nützlich, vor allem bei der Unterstützung der Kunst- und Theaterkritiken ihres Mannes, sodass er ihre selbstständig angeeigneten literarischen Fähigkeiten schätzte und gerne in Anspruch nahm.411 Er wiederum förderte sie durch seine Kritik ihrer Besprechungen in ihrem Ausdruck und Schreibstil. »Er duldete keine Nachlässigkeit im Satzbau, keine Weitschweifigkeiten, keine Übertreibungen und Ineinander-Schachtelungen [sic!]; vor Allem: er war ein glühender Hasser der Phrase.«412 Als Rezensent sei er »streng, aber gerecht [gewesen]. Auch nachsichtig Anfängern gegenüber. Sowohl der literarische Neuling als der Theater-Debütant konnte auf sein ermutigendes Wohlwollen rechnen, während andere Kritiker ihren billigen Witz und ihr bequemes Besserwissen an ihnen schärften. Remy forderte vom erfahrenen und erprobten Dramatiker und Darsteller Kunst und abermals Kunst! Er sagte frei heraus die Wahrheit, erfüllt von ernstem unbestechlichem Pflichtgefühl. Das wars, was mich immer noch mit Hochachtung erfüllte, mich fesselte, mich zwang bei ihm auszuharren. Und gerade das, was den einzigen Wert dieses Unglücklichen ausmachte, das schuf ihm Feinde!«413 So notierte sie in ihrem Tagebuch (1876) von einem »schrecklichen« Auftritt der Schauspielerin Luise Erhardt (1844–1916) als »Antigone« im Berliner Opernhaus: »Max wütend nach Hause gekommen, empört über die Lobhudeleien der anderen Blätter. Er sei der

406 Beispielsweise R--y: José Echegaray. Biographische Abhandlung, in: National-Zeitung von 1886, vgl. auch Lazarus-Remy 1927b: 66. 407 Im National Archive in Jerusalem befindet sich eine große Sammlung ihrer Zeitungsartikel. Darunter Artikel von der Vossische Zeitung und der Nationalzeitung. Ein Abriss ihrer Werke findet sich in ihrer Bibliografie im Anhang. 408 Beispielsweise ihre Skizze Die Morgenstunde, die sie aus dem Gedächtnis skizziert habe und die in den 80er Jahren des 19. Jh.s im Unterhaltungsblatt Tutti Frutti veröffentlicht wurde. 409 Maus 2013: 39: »In Preußen [galt] bis 1875 die Währung Taler, bevor diese zum 1. Januar 1876 von der Mark abgelöst wurde. Aufgrund der Schwierigkeiten des Kaufkraftvergleichs zwischen Taler beziehungsweise Mark und Euro, der unterschiedlichen zugrunde zulegenden Indices und der offensichtlich auch innerhalb der Deutschen Bundesbank divergierenden Ansichten zur Berechnung, erscheint es angebracht, bis in die 50er Jahre des 19. Jh.s von einem ungefähren Verhältnis von Taler zu Euro von 1:36 bis 1:32 auszugehen, während das Verhältnis ab 1860 mit 1:30 berechnet wird. Bei der Mark wird von einer Relation zum Euro von zwischen 1:7 bis zu 1:10 ausgegangen.« 410 Lazarus-Remy 1927b: 74. 411 Lazarus 1898b: 175. 412 Ebd.: 181: »Er wiederum […] lehrte sie die Sprache beherrschen und den Gedanken klar und wahr zum Ausdruck bringen.« Vgl. auch Lazarus-Remy 1927a: 77. 413 Lazarus-Remy 1927b: 79f.

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Einzige, der über die Antigonenaufführung offen und unparteiisch geurteilt habe.«414 Auch Remy machte mit ihrer Besprechung über den »raffinierten aber interessanten Roman von Felix Dahn« die Erfahrung, dass sich ihre Rezensionen im Widerspruch zu denen ihrer Kollegen befanden. Jedoch erhielt sie die Unterstützung von den beiden Herausgebern der Vossischen Zeitung Hermann Kletke (1813–1886) und Carl Robert Lessing (1827–1911), denen der Artikel gefiel und die sogar eine extra Subvention von 300 Talern für eine Kur für den schwer erkrankten Max Remy nach Bad Oeynhausen bewilligten. Das Ehepaar Remy hatte eine klare Arbeitsaufteilung. Während Max Remy alle pathetischen, historischen Schau- und Trauerstücke übernahm, war Remy für die modernen Volksstücke, Schau- und Lustspiele zuständig. All ihre damaligen Werke, die sie für ihren Mann erstellte, wurden mit der Chiffre R—y unterzeichnet, obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass Max Remy nicht mehr in der Lage war, das alles allein zu leisten. »Eine Zersplitterung der Kraft! Wenn sie mir wenigstens einigen Ruhm eingebracht hätte! Aber alles erschien anonym. Diese Anonymität war verhängnisvoll für meine ganze Schriftstellerlaufbahn. Ich blieb dem großen Publikum unbekannt.«415 Sie »trug [ihr] Joch geduldig weiter: Sklavin ihrer Pflicht«416 zu sein. Den Vormittag verbrachte sie am Schreibtisch, nachmittags war sie in der Redaktion oder in einer Ausstellung und abends ging sie ins Theater. Aber dieses mit Arbeit »überlastete Dasein befriedigte«417 sie, so wird es von ihr in Mein Leben II retrospektiv wiedergegeben. Durch ihre guten Italienisch- und Französischkenntnisse erhielt sie immer häufiger Aufträge, die sich auf die ausländischen Theaterdarstellungen bezogen, was ihr jedoch ein Teil der Kritikerkollegen missgönnte: »Ob er [Theodor Fontane] mir grollte, dass ich für die Vossische das mit Spannung erwartete Gastspiel der Pariser Theatergesellschaft von Lugnet im Königl. Schauspielhaus besprach? Kletke – der damalige Chefredakteur – wusste, dass ich französisch, wie deutsch verstand und gönnte mir bei seiner gütigen Gesinnung umsomehr den ehrenvollen Auftrag, um den ich mich nicht beworben hatte. Da das Italienisch mir gleichfalls, wie eine Muttersprache war, wurden mir auch die Gastspiele von Tommaso Salvini [1829–1915] und Ernesto Rossi [1827–1896] zugewiesen. Das verfeindete mir einen Teil der ›Kollegen‹. Überhaupt waren diese recht sparsam mit einer Ermutigung! Man wollte in mir immer nur die junge Dame sehen, nie den denkenden Menschen!«418 Es kam sogar dazu, dass Remy anonyme Beschimpfungen in unterschiedlichen Provinzblättern und Flugschriften vorfand: »Nachdem einmal alle Berliner Literaten durchgehechelt waren, kam auch ich an die Reihe als ›das kaum flügge gewordene Federvieh‹. Eine Stichprobe für den damals ent-

414 Ebd.: 80. 1876 hätten sich einige Theaterdirektoren, außer Hermann Kletke (1813–1886), Robert Buchholz (1838–1893) und Botho von Hülsen (1815–1886), wegen Max Remys »unparteiischen« Kritiken gegen ihn verschworen. Diese Verschwörung sei ein großes Unrecht, so notierte es LazarusRemy in Mein Leben II. 415 Lazarus-Remy 1927b: 84. 416 Ebd.: 85. 417 Ebd.: 68. 418 Ebd.: 67.

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stehenden und allmählich sich ausbreitenden billigen Spott der Feuilletonisten, welche den Leser durch Anzüglichkeiten und Perfidien zu spannen suchten.«419 Sie bewährte sich trotzdem vor allem als Theaterkritikerin, sodass sie durch den Chefredakteur Hermann Kletke in der Vossischen Zeitung eine Spalte zur beliebigen Verfügung erhielt. Um 1874/75 bekam sie immer größere Aufträge für angesehenere Zeitschriften, wie beispielsweise das illustrierte Familienblatt Die Gartenlaube, die Illustrierte Zeitung von J.J. Weber oder die deutsche Kulturzeitschrift Westermanns Monatshefte.420 Trotz vieler Aufträge lag ihr Schwerpunkt hauptsächlich auf der Theaterkritik, sodass ihre Buchkritiken zu einem Nebengeschäft wurden. Da sie als Journalistin ein Zeilenhonorar erhielt, widmete sie sich auch dieser »leidigen«421 Einkommensquelle und schrieb unter anderem über einen automatischen Schachspieler, die Zwergin Pauline oder einen märkischen Riesen. Auch schrieb sie 1877 über das »sensationelle Gemälde«422 Kaiserproklamation (18.01.1871) von Anton von Werner (1843–1915) in der Akademie der Künste. Der schwer kranke Max Remy ließ ihr zumeist freie Hand, denn »je mehr [sie] verdiente, desto besser«423 . Manchmal hinderte er sie daran einen Auftrag anzunehmen, wie beispielsweise die Bitte des Verlegers der Illustrierten Frauenzeitung Franz Lipperheide (1838–1906), eine Studie über die englische Schriftstellerin Mary Anne Evans (1819–1880) zu schreiben. »Wie sehr interessiert mich diese Frau! Aber Remy verachtete sie, wegen ihrer ›wilden Ehe‹ mit Lewes.«424 Von der damaligen Frauenliteratur rezensiert sie die »hervorragenden«425 Werke der Schriftstellerinnen Sophie Junghans (1845–1907), Magdalene Thoresen (1819–1903) und später die ersten Bücher der Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916). Beispielsweise käme bei der deutschen Schriftstellerin Fanny Lewald (1811–1889) neben ihrem kräftigen Realismus auch »der Mangel eines eigentlich poetischen Inhalts«426 stets zur Geltung. Nahida Remys ausführliche Lewald-Rezension sei die erste gewesen, die nicht gedruckt wurde. »Kletke erklärte mir: sie wäre ›zu wahr‹ gewesen. Zu wahr!«427 Der 419 Ebd.: 67f: »Einmal tat mir ein Anonymus doch weh mit seinem Spott: ›wenn Frau Dr. Remy in ihrem Hause auch ein so scharfes kritisches Seziermesser führt, dann erklärt sich die ewig menschenfeindliche Miene ihres Gatten‹ – Menschenfeindlich! Wie oft glaubte man das, weil der Arme in seinen Leiden gewöhnlich mit gerunzelter Stirn und zusammengepressten Lippen da sass! Und wie wenig kannte man mich, die so behutsam um ihn herum war, dass ich von seiner Familie das Kosewort ›Mäuschen‹ erhielt.« 420 Vgl. ebd.: 74. Westermanns Monatshefte war eine deutsche Kulturzeitschrift (1856–1987). Zuerst erschien sie unter dem Titel Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart (George Westermann in Braunschweig). Darin veröffentlichte Remy unter anderem Biografien von Katharina II. (1729–1796), Julie Récamier (1777–1849), Ferdinand de Lesseps (1805–1894) und Friedrich von Wrangel (1784–1877), mit dem sie ein persönliches Interview führte. 421 Lazarus-Remy 1927b: 84. 422 Ebd. 423 Ebd. 424 Ebd.: »Welche Verwirrung der Moralbegriffe! Jenes ideale Verhältnis zwischen zwei sich liebenden, congenialen Menschen verletzte sein ›sittliches Empfinden‹, aber unsere unglückliche Scheinehe respektierte er!« 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Literaturhistoriker Julian Schmidt (1818–1886) war über ihre Kritik über das Lustspiel Agnes von Meran (1877) des österreichischen Theaterautor Franz Nissel (1831–1893) so irritiert, dass auch er zunächst von einer Veröffentlichung absah, da sie der gängigen positiven Kritik völlig widerspreche. Selbstbewusst erklärte sie ihm, dass das »Urteil Anderer Remy’s und [ihre] Überzeugung niemals beeinflussen«428 . Die Schlagworte vom »Sichausleben« und das »Recht der Individualität«429 schienen für sie derzeit nur für Männer zu gelten, rückblickend erfreute sie sich jedoch der später eintreffenden Tatsache, dass auch Frauen es wagten, sie auf sich anzuwenden und in die Tat umzusetzen. Das zunehmende Leiden ihres Mannes forderte immer mehr ihre vollständige Zeit und »ihre ungetheilte, unausgesetzte Hingebung und Aufmerksamkeit«430 . Im September 1875 erhielt sie von der Vossischen Zeitung einen Erholungsurlaub und »Remy fügte sich darin, [sie] einige Wochen zu entbehren«431 . Da sich seine Schwester Anna Remy bereit erklärte, sich um ihn zu kümmern, konnte Nahida Remy sich für vier Wochen in ein »Falkenberger Bauernhäuschen«432 zurückziehen. »Schaffenswollust in goldener Freiheit! Verwöhnendes Vergessen der Vergangenheit im beseligenden Gedankenflug zur Zukunft.«433 In dieser Atmosphäre wurde der bereits entworfene Plan zum Drama Constanze mit Feuereifer ausformuliert und mit »Handlung, Gestalten, Scenarium […] festgekittet.«434 Als im September 1876 der Verleger der Berliner Montagszeitung Adolf Glasbrenner (1810–1876) verstarb, übernahm Nahida Remys Freund und Schriftstellerkollege Richard Schmidt-Cabanis (1838–1903) die Leitung und realisierte ihr die ersehnte Mitarbeiterstelle. Ungehemmt gab sie sich ihren ersten Eindrücken und Schreibimpulsen hin und schrieb unter anderem in einem fiktiven Brief von Minchen Müller an Gretchen Schulz (1876) über die neu aufkommenden und vieldiskutierten Berliner Basare. Durch ihre umfangreichen Pflege- und Mitarbeitertätigkeiten war sie sehr froh über die alljährlichen Kuraufenthalte in den Sommermonaten von 1877–1880 in Bad Oeynhausen, wo es ihr gelang, neben einigen Novelletten435 auch diverse dramaturgische Schauspiele fertigzustellen und bei dem Theaterverlag von A. Entsch zu veröffentlichen. Das Drama Constanze wurde im April 1879 am Berliner Residenztheater uraufgeführt und die Magdeburger Zeitung schrieb darüber: »Vor einem sehr gewählten Publikum ging das Bühnenwerk einer in der Tat ungewöhnlich begabten jungen Schriftstellerin über die Bretter des Residenztheaters. Constanze ist der Name eines Schauspiels dessen Verfasserin Frau Nahida Remy zu den verheissungsvollen Dichterinnen fortan gezählt werden muss. […] Nahida Remy hat […] ein Stück geschaffen, dessen handelnde Personen vollkommen innerhalb des Emp-

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Ebd. 90. Ebd. 85. Lazarus 1898b: 183. Lazarus-Remy 1927b: 76. Lazarus-Remy 1927b: 76. Ebd. Ebd. 67. In dieser Zeit entstanden unter anderem die Citherklänge, Die Liebesprobe, Wie Graf X zu einer Familie kam. Eine Liste ihrer weiteren Novelletten findet sich in ihrer Bibliografie im Anhang.

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findungskreises unseres Volkes, innerhalb unseres sittlichen Horizontes sich bewegen.«436 Ebenfalls 1879 wurde ihr bürgerliches Schauspiel Schicksalswege am Belle-Alliance-Theater sowie am Ostendtheater in Berlin uraufgeführt. Trotz des großen Beifalls nach der Vorstellung waren die Kritiken recht reserviert und z.T. sogar spöttisch. Wegen der »Seltsamkeit in der Voraussetzung des Stückes. dass ein unehelicher Sohn seinen Vater nicht kennt – ist das so unnatürlich? Kommt das nicht tausendfach vor? Oder war man in den Kreisen Oskar Blumenthals verstimmt, dass ich es gewagt hatte einen gutmütigen, braven Schacherjuden [sic!] darzustellen?«437 Mitte April 1880 folgte das Drama Die Grafen Eckardstein, das am Thalia-Theater in Hamburg uraufgeführt und mit viel begeisternden Applaus und Kritiken angenommen wurde. Das ebenfalls in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts verfasste Drama Nur ein Dienstmädchen blieb jedoch nicht aufgeführt. Der Intendant des Oldenburger Hoftheaters Friedrich Woltereck (1836–1914) schrieb ihr eines Tages über ihr Stück Constance: »Mit aufrichtigem Herzen sei Ihnen gedankt für die Bereicherung des deutschen Repertoires durch Ihre Constanze. Seit langer Zeit habe ich kein Stück mehr mit solcher Freude in Scene gesetzt, wie dieses Schauspiel und seit langer Zeit hat kein Stück so allgemein gefallen wie dieses. dass es noch nicht über alle Bühnen gegangen, ist ein trauriges Zeichen der Zeit. Nun ja, der ethische Wert dramatischer Dichtungen ist nur noch in Schwänken zu suchen, oder in Lustspielen, worin der Realismus dem Philister in seiner grenzenlosesten Nacktheit vor die Augen tritt! Gott bessere es!«438 Zur selben Zeit wurde Max Remy immer schwächer, sodass er auch seine verbliebenen literarischen Arbeiten nicht mehr ausführen konnte. Sie übernahm, nun auch mit der offiziellen Erlaubnis des Chefredakteurs der Vossischen Zeitung Friedrich Stephany, seine Theaterbesuche und -kritiken sowie seine Chiffre R—y. »Du lieber Gott, sie wussten es ja längst, dass ich ihn vertrat! Aber mich freute diese Formalität, denn es schien mir darin eine Gewähr für die Zukunft zu liegen.«439 Ab den 2. Januar 1881 erhielt sie von Friedrich Stephany statt zehn nun 15 Pfennig pro geschriebene Zeile. Als Alleinverdienerin übernahm sie jegliche Theaterpremieren, sodass auch sie selbst durch die außerordentliche Überlastung erkrankte. Jedoch konnte sie sich nur tagsüber etwas schonen, da sie jeden Abend ins Theater ging, um ihre Kritiken schreiben zu können. »Das Gespenst der Sorge

436 Lazarus-Remy 1927b: 87; 77: »Eine prächtige ›Constanze‹ war die schöne Hermine Claar-Delia [1848–1908]. […] Es wurde ausgezeichnet gespielt, so dass die Darsteller wiederholt herausgerufen und auch ›Remy! Remy!‹ ertönte.« 437 Ebd.: 87: »Ich kannte Solche Originale gab es in Flatow. Warum sollten sie nicht einmal zu Ehren kommen? Es widerstrebt mir sowohl bei den günstigen Besprechungen als bei den boshaften Anrempelungen hier zu verweilen. Darunter eine giftige des Obengenannten (Oskar Blumenthal) ist in den ›Anhang‹ dieser Erinnerungen verwiesen, als typisches Kennzeichen für seine damals in Berlin geduldete witzlose Spottlust. Alle, die mich kannten, waren entrüstet, aber sie schwiegen. Wie konnte in dieser Atmosphäre von Feigheit und Bosheit ein schüchternes junges Talent gedeihen?« 438 Lazarus-Remy 1927b: 86. 439 Ebd.: 88.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

spornte mich an. Wer sollte denn mich vertreten? Wenn wir Stellung und Gehalt einbüssten?«440 Als Max Remy im Mai 1881 an seiner Krankheit verstarb, begann für sie erneut der Kampf um ihre Existenz.

2.1.1 Ehe mit Max Remy (1873–1881) »Jahre vergingen. Ich wurde mündig und verheiratete mich, und zwar – seltsames Zusammentreffen – mit dem Neffen meines ehemaligen Religionslehrers, mit Dr. Max Remy in Berlin.«441 Die nun 24jährige Sturmhoefel d.J. schätzte und verfolgte aufmerksam die Kritiken des bekannten Kunst- und Theaterkritikers Max Remy (1839–1881)442 : »Seine Urteilsschärfe, sein phrasenloser Stil, der in 20 Zeilen deutlichere Anschauung gab, als Zeitungsspalten eines Anderen, – war mir Quelle der Belehrung und Befriedigung.«443 Umso mehr war sie über seine Erscheinung verblüfft, als der Chefredakteur des Berliner Fremdenblattes Gustav Schenk (1830–1905) auf einer Kunstaustellung in Berlin beide miteinander bekannt machte. Statt eines gesunden jungen Mannes traf sie einen gebückten und schwerfälligen Mann, »dessen Aeusseres [nicht] seinen sprühenden Kern- und Kraftaussprüchen«444 entsprach. Bereits als Kind war der lernbegierige Max Remy stets kränklich gewesen, sodass er die krankheitsbedingten Hausaufenthalte für ein gründliches Studium der antiken Schriftsteller und neuzeitlichen Dichter nutzte.445 In Mein Leben I notierte sie ihren ersten Eindruck: »Das lange, ergrauende Haar fiel ihm über das blasse, gefurchte Antlitz, als er sich verneigte. – Ein sonderbares Mitleid ergriff mich und meine Anerkennung seiner Kritiken klang noch wärmer.«446 1872 arbeitete Sturmhoefel d.J. neben ihrer Tätigkeit als Theaterdarstellerin an einer Seenovelle, in der sie ihre Erinnerungen und Stimmungen von der Meerfahrt von Palermo über den Atlantischen Ozean nach Kopenhagen (1863) verarbeitete. Jedoch benötigte sie bezüglich ihrer defizitären Kenntnisse über die Mechanik und Technik der Dampfschiffe Aufklärung, sodass sie den befreundeten Chefredakteur des Berliner Fremdenblattes Gustav Schenk (s.TL) um ein Buch mit technischen Ausdrücken des Schiffs- und Seewesens bat.447 Ob es sich um eine durch Gustav Schenk eingefädelte Verkuppelung handelte, lässt sich nur spekulieren, jedoch war er es, der beide bei der Kunstausstellung einander vorstellte und Max Remy am 10. November 1872 mit dem angeforderten Buch 440 Ebd.: 90. 441 Lazarus 1897c. 442 Näheres zu den biographischen Angaben s.TL und der in Latein verfassten Vita aus der Dissertation von Max Remy (1864): Platonis doctrina de artibus liberalibus, praecipue de imitationis in artibus conspicuae vi ac natura, Dissertation: Vita. 443 Lazarus-Remy 1927a: 73. Vgl. dazu Lazarus 1898b: 171: Seinen Ruf als »pflichteifriger und unbestechlicher Kritiker und als strenger, kunstsinniger Feuilletonist« hatte sich Max Remy laut Lazarus-Remy wohlverdient. 444 Lazarus-Remy 1927a: 73. 445 Vgl. Remy 1864: Vita. Dass Remy bereits als Jugendlicher kränklich war, spricht gegen D. Reeses Argument, dass er Syphiliker war. Vgl. Reese 2009: 580. 446 Lazarus-Remy 1927a: 73. 447 Ebd.: 74: »Aber ach! Wie unerfahren ist doch das weibliche Geschlecht, wie kenntnislos in Bezug auf die sprachlichen Bezeichnungen in der Mechanik und Technik des Weltverkehrs!«

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zu ihr schickte. Laut Lazarus-Remys retrospektiver Darstellung wusste sie durch eine religiöse Eingebung sofort, dass Max Remy ihr Ehemann werden würde.448 Trotz seiner kränklichen Erscheinung, der »Trockenheit seiner Unterhaltung und der Kühle seiner Verabschiedung«449 willigte sie in die Einladung zu einem gemeinsamen Besuch einer Kunstaustellung ein. Sie beschreibt in Mein Leben I, wie Max Remy sie bei ihren nun regelmäßigen Besuchen der Berliner Kunstaustellungen genau beobachtete: »Er achtete auf jedes meiner Worte. Sie waren ihm Stichproben für meine geistige Fähigkeit, für meine Gemütsart.«450 Sie hinterließ bei ihm einen guten Eindruck, sodass er ihr eine Mitarbeiterstelle als Rezensentin anbot und sie bereits nach zwei Wochen fragte, »ob er [sie] in seine Familie einführen dürfe?«451 So lernte Sturmhoefel d.J. bei der nächsten Kunstaustellung »auf neutralem Boden« seine Mutter Ernestine Remy (1876) kennen, mit der sie sich auf Anhieb gut verstand.452 »Da man denselben Rückweg hatte, wanderte man zusammen durch den Thiergarten und plauderte vertraulich weiter.«453 Zum Abschied verabredeten sich die beiden Frauen und Max Remy für ein weiteres Wiedersehen, das seitdem fast täglich wiederholt wurde.454 Im Dezember 1872 warb Ernestine Remy als Brautwerberin für ihren Sohn zunächst bei Sturmhoefel d.J. um ihre Hand und dann telegraphisch bei ihrer Mutter, wozu beide »ohne zu zögern«455 zustimmten. Die Vermählung wurde auf den 10. November 1873 festgelegt, den Jahrestag, als Max Remy sie zum ersten Mal mit dem eingeforderten Schifffahrtsbuch besuchte. Ihr Verlobungsjahr begann mit einem familiären Weihnachtsabend (1872) bei Ernestine Remy, bei dem sie auch die Schwestern (Anna Remy, Leiterin eines Mädchenpensionats, und Marie Remy, Blumenmalerin) als sympathische Persönlichkeiten kennenlernte. Vor allem Anna Remy sei zu einer guten Freundin und Wegbegleiterin geworden, mit der sie bis zu ihrem Tod einen freundschaftlichen Briefkontakt pflegte. Am Weihnachtsabend erhielt sie von Max Remy ein Schachspiel, ein für ihn charakteristisches Brautgeschenk, wofür sie eine große Leidenschaft entwickelte. »Die Verlobung des allbekannten Kritikers machte Aufsehen in der Presse, die ihm bei dieser Gelegenheit eine Anerkennung zuteilwerden liess, die uns alle mit Genugtuung erfüllte. Auch für die Braut fiel manches Rosenblättchen ab. Die zahlreichen Glückwünsche, auch von ganz Unbekannten, taten uns wohl.«456

448 Ebd.: 74: »Eine unheimliche, mystische Verwirrung ergriff mich. […] Aber ich wusste es genau: so würde ich fortan heissen: Nahida Remy.« Die in beiden Autobiografien mystifizierende Darstellung ihrer Lebensfügung wird in Kap. III, 2.1 genauer dargestellt. 449 Ebd.: 75. 450 Ebd. 451 Ebd. 452 Lazarus 1898b: 177. 453 Lazarus 1898b: 179f. 454 Ebd.: 180. 455 In: ebd.: Während in der Konversionserzählung Max Remy selbst um ihre Hand mit der Frage warb, »ob sie es wohl wagen würde, ihr Leben an das seine zu ketten?«, übernimmt Ernestine Remy in Mein Leben I die Rolle des Brautwerbers. In dieser Arbeit wird sich an der neuesten Fassung der Autobiografie Mein Leben I von 1925 orientiert. 456 Lazarus-Remy 1927a: 76.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Das Verlobungsjahr (1873) verbrachte Sturmhoefel d.J. bei ihrer geliebten Großtante Jette in Flatow, die bereitwillig die Ausstattung der Braut übernahm. Neben der eigenen Brautausstattung, beinhaltend »weiße Seidenstrümpfe, Unterkleider, Spitzen und Crèpe de Chine-Swals«457 , wurde das ganze Verlobungsjahr dazu genutzt, alles weitere Notwendige wie Gardinen, Tisch-, Bett- und Leibwäsche anzufertigen. Zudem musste die Frage geklärt werden, ob nun kirchlich, wie es Ernestine Remy wünschte, oder standesamtlich geheiratet werden soll. Da jedoch die obligatorische Zivilehe in Preußen gesetzmäßig zwar geregelt war, aber erst im Januar 1874 praktisch eingeführt wurde, blieb zunächst nur die kirchliche Trauung. Der streng reformierten Familie Remy zuliebe nutzte Sturmhoefel d.J. das Verlobungsjahr, um sich erneut mit dem Thema Konfirmation auseinanderzusetzen. Durch Ernestine Remy, die eine Schülerin und Freundin des evangelischen Theologen Friedrich Schleiermachers (1768–1834) gewesen war458 , wurde Sturmhoefel d.J. bei ihren Besuchen zu Predigten verschiedener Kanzelredner mitgenommen. Sie hörte bedeutende reformierte Prediger Berlins, darunter beispielsweise den beliebten Theologen und Politiker Ernst Dryander (1843–1922), den Konsistorialrat Rudolf Kögel (1829–1896) oder den Hofprediger und Familienfreund Remys Emil Frommel (1828–1896). Obwohl sie erwartungsvoll die Predigten verfolgte, blieben die Erklärungen der Prediger für sie widerspruchsvoll und absurd, sodass sie sich immer noch nicht von den christlichen Dogmen überzeugt, sondern nur bedrückt und betrübt fühlte. Sie notierte dazu: »Einem Geistlichen zuhören und – melancholisch werden, war für sie Eins. Sich aber in die Psalmen vertiefen und sich beseligt fühlen, war auch nur Eins.«459 Sie lehnte, trotz Ernestine Remys Wunsch, erneut die Einsegnung ab, was eine kirchliche Trauung praktisch unmöglich machte. Trotzdem fand eine am 10. November 1873 durch den reformierten Pfarrer Jules August Oster (1845–1926) vollzogene Trauung in der reformiert-französischen Kirche in Dresden statt. Lazarus-Remy vermerkte rückblickend dazu: »Entweder war der Konfirmationsschein nicht gefordert oder ein Dispens erteilt worden.«460 Das darauffolgende Hochzeitsmahl fand mit Verwandten und Freunden statt, wozu auch Dr. Moritz Löwinsohn (s.TL). und der Schauspieler und humoristische Schriftsteller Richard Schmidt-Cabanis (1838–1903), der ein Gedicht zu Ehren des Brautpaars verfasste, eingeladen waren. Bis zur Trauung verbrachte das Brautpaar das Verlobungsjahr zumeist getrennt voneinander, sodass Max Remy seiner Braut nebst Paketen mit Büchern zur Besprechung auch innige Briefe zustellte. Um sich jedoch besser kennenlernen und die Hochzeitsdetails planen zu können, verbrachten sie den Mai und Oktober miteinander. In dieser Zeit lernte Sturmhoefel d.J. auch Max Remys aufbrausendes Temperament kennen. Er sei in einem Moment angenehm aufmerksam und im anderen ausfallend und fordernd gewesen, was durch seine Neigung zum Alkohol noch stärker entfacht worden sei.461 Je457 458 459 460 461

Ebd. Sie wurde von Friedrich Schleiermacher konfirmiert. Lazarus 1898b: 182. Lazarus-Remy 1927a: 65. Ebd. Vgl auch: Lazarus-Remy 1927b: 155: Zügelloser Alkoholkonsum bleibt für sie zeitlebens inakzeptabel und wird von ihr stark abgewertet. »Wenn zuweilen von ›Verrohung‹ der Arbeiter die Rede war (von der ich übrigens nie etwas gemerkt), welcher ungeahnten Verrohung musste hier die männliche Jugend aus besseren und höchsten Kreisen verfallen sein! Studenten: Juristen (!)

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doch habe gerade seine liebenswürdige und hilflose Seite sie »weich gestimmt […] und geneigt, das Gute in ihm zu erforschen«462 . Später in ihrem ersten Ehejahr notierte sie in ihrem Tagebuch von 1874: »Wer von einer edlen Seele so geliebt wird, wie Remy von seiner Schwester, kann kein schlechter Mensch sein, – aber der Trunk! Fluch über dieses infame Laster, das in die Völker Europas fort und fort Verwahrlosung, Verbrechen, Verarmung bringt. Familienglück zerstört und die Menschen vertiert! ›Vertiert‹ ungerechtes Wort! […].«463 Täglich verbrachte Max Remy seine Abendstunden bis sechs Uhr morgens in den Kneipen und kam »in welchem Zustand!«464 zurück, sodass er am nächsten Morgen oftmals nicht in der Lage war, sein Arbeitspensum zu erledigen. »Sonderbarerweise dachte er gar nicht daran, dass ich Ruhe brauchte! Kam er heim, des Morgens, wenn die Bäckerjungen schon mit ihren Körben Trepp auf, Trepp ab liefen, dann – nachdem er endlich das Schlüsselloch gefunden – torkelte er zu mir herein, und wollte erzählen. Schwer war es dann des Unmuts Herr zu werden! – Statt des redlich verdienten Schlafes gab es Auseinandersetzungen, Vorwürfe, Klagen.«465 Es stellte sich jedoch eines Tages bei den Auseinandersetzungen heraus, dass die alltäglichen Ausschweifungen, »die [ihr] anfänglich einen an Hass grenzenden Widerwillen einflössten«466 , eine aus Scham empfundene Ursache hatten. »Wenn Remy ein Restaurant betrat, beabsichtigte er nur eine notwendige Erquickung. Dann aber, stellte sich schnell eine körperliche Schwäche ein: Stumpfheit der Beine, von der er genau wusste, dass sie ihn beim Aufstehen unsicher, torkelnd machen würde. Er erschien dann wie ein Betrunkener, ohne es zu sein. Aus Scham vor dem Kellner, vor den Gästen, vor Bekannten blieb er dann sitzen, um das Weggehen der Anderen abzuwarten. Um aber so lange verweilen zu dürfen, musste er noch ein Glas bestellen, und noch eins und so fort – stundenlang! – Er selbst bekannte einmal unter Tränen, dass für ihn diese Situation die schmerzlichste sei.«467 Die Erkenntnis, dass seine Wutausbrüche und Launenhaftigkeit durch seine Krankheit verschuldet waren, stimmte sie versöhnlich und erneut mitleidsvoll: »Nicht die Galle reizte den Unglücklichen, gereizt, zänkisch, [Herv. i.O.] sondern sein Leiden, das seine

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Mediziner (!!) Theologen (!!!) voraussichtlich die künftigen Leiter und Vorbilder des Volkes, ergaben sich hier einer Bestialität, die mein grenzenloses Erstaunen und den tiefsten Ekel erweckte. Bestialität … nun missbrauchte auch dieser für die Tiere beleidigender Vergleich in üblicher Rede gebrauch: Kein Tier ist solcher Gemeinheiten fähig, wie diese Menschen, die Kultur- und Religionsunterricht genossen, und mit eigenem Verstand von Gott begnadet sind.« Vgl. auch Kap. II. 3.2.1. Lazarus-Remy 1927a: 77. The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 126. Zu Lazarus-Remy Engagement beim Tierschutz s.Kap. I, 3.3.1. Lazarus-Remy 1927b: 68. Lazarus-Remy um 1927b: 68. Ebd.: 69. Ebd.

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unheimlichen Krallen immer tiefer in den wehrlosen Körper schlug und das verbitterte Gemüt immer mehr verdüsterte.«468 Auch erlebte sie in ihrer Ehe die leidenschaftliche Seite ihres Mannes, die durch den regelmäßigen Alkoholkonsum zu immer wiederkehrenden Eifersuchtsszenen führte.469 So war er beispielsweise auf den Chefredakteur der Vossischen Zeitung Hermann Kletke (s.TL) eifersüchtig, sodass er »die Billets [verlor], die wir zuweilen einander schrieben – obwohl er sich aus dem Inhalt überzeugte, dass sie rein Berufsmässiges enthielten.«470 Er beklagte sich ständig darüber, dass sie nicht leidenschaftlich und nicht anpassungsbereit genug sei und zeigte ihr damit sein Missfallen bezüglich des abgelegten keuschen Eheversprechens.471 Trotz anfänglicher liebevoller Momente zwischen den beiden vereinbarten sie, auf Nahida Remys Drängen hin, schon vor der Eheschließung einen Ehekonsens, der vorläufig keinen Geschlechtsverkehr sowie intime Küsse auf den Mund beinhaltete: »Max, du bist schwerkrank. Ich werde dich pflegen, dir deine Leiden erleichtern, so viel in meiner Kraft steht, bei dir aushalten, was auch komme. Werde, wie bisher für dich arbeiten, vielleicht noch viel mehr arbeiten, dafür musst du mir ein heiliges Versprechen geben. […] Vor der Welt erscheine ich jetzt schon durch die morgen stattfindende Trauung als deine Frau. […] doch unter uns beiden allein – bin und bleibe ich nur deine schwesterliche Freundin; – bis du gesund geworden bist.«472 Obwohl dieses Eheversprechen gegen Max Remys Wunsch war, hatte sie seine Mutter auf ihrer Seite: »Du hast sehr recht, Kind. […] Desto eher wirst du ihn gesund pflegen.«473 Für Frauen des 19. Jahrhunderts war die Ehe der traditionelle Weg, um eine gesellschaftlich anerkannte Selbstständigkeit zu verwirklichen. Zwar hatte sich Sturmhoefel d.J. durch ihre zeitweisen Theaterengagements eine Einnahmequelle geschaffen, jedoch stand sie ohne Ehemann weiterhin unter der Obhut ihrer Mutter und somit unter der Aufsicht der Familie Sturmhoefel. Durch ihre Mutter wusste sie zu gut, wie schwer es für alleinstehende Frauen war, Unabhängigkeit und soziale Anerkennung zu erlangen. Sie sehnte sich jedoch nach einer beruflichen Beständigkeit, in der sie ihre schriftstellerischen Fähigkeiten verwirklichen und gleichzeitig ihre Existenz finanziell sichern konnte. Folglich war ihr zukünftiger sozialer und materieller Status von einer Ehe und somit auch von der gesellschaftlichen Position ihres Ehemannes abhängig. Demnach spielte wahrscheinlich Max Remys Status als anerkannter Kunst- und Theaterkritiker bei der Wahl ihres Ehepartners eine wesentliche Rolle. So kann die Ehe zwischen ihr und Remy als eine gut durchdachte Verbindung beschrieben werden, von der beide Parteien profitierten. Während Sturmhoefel d.J. ihre ersehnte Unabhängigkeit von ihrer Mutter erhielt474 , bekam 468 469 470 471 472 473 474

Lazarus-Remy 1927a: 66. Lazarus-Remy um 1927b: 72. Ebd.: 79. Lazarus-Remy 1927a. Ebd.: 80. Lazarus-Remy 1927a: 65. Ebd.: 76: »Aber jenes mystische Gebot führte mich zur Befreiung von der mütterlichen Bevormundung! Zur Unabhängigkeit! – Musste noch eine neue harte Schule durchgelitten werden: mein Selbst behaupten und Unberührtheit bewahren, konnte nur durch diese geheime persönliche Freiheit [des Ehekonsens] errungen werden.«

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der erkrankte und alleinstehende Max Remy eine Zuarbeiterin und treue Partnerin, die sich liebevoll um ihn kümmerte.475 Auch die Männer des 19. Jahrhunderts, ausgenommen die katholischen Priester und Mönche, erreichten erst durch eine Eheschließung ein respektables Ansehen und wurden vollwertige Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft.476 Die Möglichkeit einer Eheschließung aus Liebe habe sich Max Remy nach Lazarus-Remys Darstellung allerdings durch sein wildes und unsittliches Studentenleben vernichtet, sodass auch er von diesem Ehearrangement profitiere.477 Folglich basierte die eheliche Zuneigung zueinander auf einer kameradschaftlichen Solidarität und gegenseitiger Unterstützung. Nach der Trauung in Dresden kehrte das Paar zurück nach Berlin und bezog im Dezember 1873 im Haus des Freundes Dr. Moritz Löwinsohn an der Potsdamerstr. 112 eine Zweizimmerwohnung. Das Haus war zwar sehr alt und ihre Wohnung hatte weder Gas, elektrischen Strom noch fließendes Wasser, aber sie wohnten in der unmittelbaren Nähe ihres erfahrenen Freundes und Arztes Dr. Moritz Löwinsohn. Max Remy litt an einer unheilbaren Rückenmarksschwindsucht, die vom Medizinalrat Otto von Steinau-Steinrück (1817–1892)478 sowie von Dr. Moritz Löwinsohn mit der Prognose einer Lebenserwartung von etwa fünf Jahren diagnostiziert wurde. Schnell fand sie sich in ihrer Rolle als hilfsbereite Ehefrau zurecht und unterstützte Max Remy in allen Belangen. Um sie jedoch mindestens bei den häuslichen Verpflichtungen etwas zu entlasten, bestand er darauf, die Tagesmahlzeiten im Restaurant einzunehmen. Als jedoch seine Krankheitsbeschwerden zunahmen, sodass er kaum allein gehen konnte, aßen sie wieder zu Hause.479 Zunächst zeigte sich die Krankheit durch äußerliche Zuckungen, die ihn daran hinderten, ruhig zu sitzen oder sogar normal gehen zu können, was ihn später an einen Rollstuhl fesselte. »Der Unglückliche litt an Zuckungen, besonders der Füsse. Nicht eine Minute sass er ruhig! Seine Füsse scharten, zuckten, rieben sich aneinander – sein Körper war in einer fortwährenden Unruhe. […] Wie oft bat ich ihn in der ersten Zeit: ›sitz doch ruhig!‹ – ›Ich kann nicht!‹ rief er dann wie verzweifelt: ›Mir kribbelts und krabbelts in den Füssen, wie von Tausend Ameisen!‹«480 475 Ebd.: »Wenn ich erst einen regelrechten Hausstand habe, und Jemand, der über mich wacht … denn meine Schwestern, die alten Jungfern, verstehen so was nicht … und Mama will ich nicht beunruhigen … aber ein liebevolles Wesen, das ganz zu mir gehört.« So beschreibt Lazarus-Remy darin weiter den Wunsch ihres Mannes nach einer Partnerin: »Jedoch besitzen würde er mich nie.« 476 Vgl. Trepp 2000: 30. 477 Lazarus-Remy 1927b: 72: Durch sein »studentisch-wüsten Junggesellentreiben [habe er] Sittlichkeit und Gesundheit so schwer geschädigt, dass er allein die Voraussetzung zu einem Eheleben vernichtete!« 478 Karl Otto von Steinau-Steinrück war der Onkel von Max Remy und wurde 1839 zum Arzt in Berlin approbiert. 479 Lazarus-Remy 1927b: 69: »Einmal in der Restauration, in der wir gewöhnlich speisten, wandte er sich – noch vollkommen nüchtern – mit mir zur Tür, verlor das Gleichgewicht und schlug steif wie ein Stock der Länge nach auf den Fussboden hin! – Jeder musste ihn für betrunken halten, aber er war es nicht. Sein unheimliches Leiden hatte ihn zu Boden geschleudert. Daher verliess ich ihn nicht. Es war mein Amt ihn zu stützen, zu schützen. Von da ab reichte ich ihm stets den Arm auch um ihn vor den Blicken Anderer zu verdecken, aber das war ihm lästig und er wollte wieder zu Hause essen.« 480 Ebd.

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Remy musste erkennen, dass sie ihrem schwerkranken Mann zeitlebens eine Hilfe sein müsste, nicht nur beruflich. Sie hatte dementsprechend allerhand zu tun: »Besorgungen, Kunstaustellungen, Redaktionswege – ein buntes Durcheinander. Oder Schriftliches lauerte auf [sie], notwendige Abschriften, dringende Lektüre: Stöße von Büchern!«481 Dazwischen immer wieder häusliche Verpflichtungen wie »Einkäufe, Vorbereitungen zum Abendessen, oder Näherei, Flickerei, Stopfen«482 . Die Abende verbrachte sie weiterhin größtenteils allein, da Max Remy trotz seines zunehmenden Leidens auf »Geschäftswege[n]«483 unterwegs war, wie er es ihr darstellte. »Später erst löste sich das Rätsel: er hatte böse Wechselschulden. Er befand sich in Wucherhänden. Ein Mann und ein Weib – keine Juden – mit christlich-germanischen Namen peinigten ihn wegen Rückzahlungen, die er nicht leisten konnte. […] Diese ›Geschäftswege‹ endeten stets in Bierhäusern, wo er seinen Verdruss durch Trunkenheit betäubte.«484 Obwohl er bei der Vossischen Zeitung 800 Taler (umgerechnet wären es ca. 24.000 €)485 jährliches Festgehalt und für jegliche zusätzliche Arbeit ein Extrahonorar von 1 12 Groschen pro Zeile erhielt, befanden sich die beiden durch seine Wechselschulden stets in großer Geldnot. Zwar verdiente sie ebenfalls monatlich 20 bis 25 Taler (ca. 600–750 €) dazu, wobei ihre Hilfsarbeiten für Max Remy nicht honoriert wurden, doch konnten sie die Schuldentilgung von 200, 300, 400 Talern nicht mehr aufbringen. »Es war unbegreiflich. Remy’s Familie zahlte wiederholt seine Wechselschulden. […] Selbst meine Mutter half ihm öfter. Schließlich wurden Loewinson, Onkel Aurel, Tante Jette angebettelt. […] Wiederholt schwur er bei seiner Ehre: diese Schuld sei nun die letzte! Wenn ihm diesmal noch geholfen würde, dann wäre er vollkommen frei! [Herv. i.O.] Und Anna [seine Schwester], beruhigt über die tröstliche Aussicht, gab immer wieder ihr Erspartes her. So ging es jahrelang.«486 Als im September 1875 die geliebte Großtante Jette verstarb, erbte Nahida Remy als Universalerbin, statt der 12.000 Taler 3000 Taler (umgerechnet 90.000 €)487 , womit für sie »das Bild einer sorgenfreien Zukunft dahinschwand«488 . Die 3000 Taler wurden unter anderem in den fünf folgenden Sommern für Max Remys Kuraufenthalte in Bad Oeynhausen genutzt, bis ihr kleines Vermögen auch durch die fortdauernden Wechselschul-

481 Ebd. 482 Ebd. 483 Ebd.: 70: »Wenn es in meinem Tagebuch allwöchentlich heisst: ›Max nicht nach Hause gekommen‹, oder ›Max noch einmal fortgegangen‹, dann – ach! – ermüdete er Körper und Geist in weiten, demütigen Wegen, um sich bei Bekannten und Freunden Geld zu verschaffen.« 484 Ebd. 485 Vgl. Maus 2013: 39. 1:30 (ab 1860). 486 Lazarus-Remy 1927b: 74. 487 Vgl. ebd.: 77: Aus Familienfriedensgründen habe sie den ihr fremden Verwandten nebst dem ganzen Hausrat der Großtante Jette auch ihr Haus in Flatow als Erbe überlassen. 488 Lazarus 1898b: 148f.

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den völlig aufgebraucht wurde.489 In einer abgelegenen Wohnung verbrachten sie jeden August und September in Bad Oeynhausen.490 Während er sich dort vor allem seiner Kur widmete, nutzte sie die freie Zeit für ihre eigenen schriftstellerischen Arbeiten. An den Nachmittagen spazierten beide gemeinsam im Kurpark, wo sie Kaffee tranken und anschließend sich dem Schach widmeten. Sie fand schnell »ausgezeichnete Partner und vergass in dem edlen Wettkampf Sorgen und Kummer«491 . Bis zuletzt kämpften beide für eine Stabilisierung seines Gesundheitszustandes und hofften auf eine mögliche Genesung in Bad Oeynhausen, was jedoch ausblieb.492 1875 konnte mithilfe ihrer Erbschaft ein Wohnungswechsel zum Schönebergerufer stattfinden, der Remys Arbeitsweg in die Innenstadt um 1 21 Stunden verkürzte. »Das Vorderzimmer mit Aussicht auf die schönen Kastanienbäume erhielt Max, nebst einem Hofzimmer, als Schlafstube, damit er bei seinem nächtlichen Heimkommen unbemerkt über die Hintertreppe herein konnte. Mir verblieb als Schlaf- und Wohnzimmer die sog. ›Berliner Stube‹, in der ich mich von beiden Seiten einschliessen konnte. […] ungestörter Schlaf zur Schonung der abgehetzten Nerven.«493 Jedoch brachte die auch als Durchgangszimmer genutzte Berliner Stube ihr viele Störungen, sodass sie stets in der Küche arbeiten musste. 1877 zogen sie in die Yorkstrasse 7, wo sie ein helles eigenes Zimmer erhielt und ungestört an ihrem Schreibtisch arbeiten konnte. Jedoch kam nun die Zeit, dass Max Remys Beschwerden sich drastisch verschlimmerten. Ab 1879 litt er an vermehrten Schmerzen, Zuckungen, schlaflosen Nächten und quälenden Blasenbeschwerden. Sie kümmerte sich trotz der vielen literarischen Arbeit weiterhin fürsorglich um ihn. Obwohl durch die erfolgreiche Aufführung des Stückes Constanze (1879) ihre finanziellen Mittel aufgestockt wurden, weigerte er sich eine Pflegerin einzustellen. »Je elender er wurde, desto mehr liess er es sich gefallen, dass ich ihn mütterlich, wie ein kleines Kind betreute. Es kam beiden zugute. Die Stimmung wurde immer friedlicher.«494 In dieser schweren Zeit fand das Ehepaar zusätzliche Unterstützung von ihren Kollegen und Freunden, die Max Remy abwechselnd besuchten und ihn mit Gesprächen und Aufmerksamkeiten aufheiterten. »Die guten Menschen!«495 notierte sie in Mein Leben II, die sie mit ihren Besuchen entlasteten und ihr Zeit für ihre Arbeit ermöglichten. Sie notierte weiter: »Die Buch- und Theaterkritiken häuften sich immer mehr: eine Flutwelle, in der ich zu ertrinken drohte, … aber es ging immer wieder.«496 In guten Tagen unterstützte er sie, indem er alles genau durchlas und mit dem Lexikon überprüfte. Eines Tages Ende 1880 hatte er nicht mehr die geistige Kraft, um sich die

489 Lazarus-Remy 1927b: 90. 490 Ebd.: 80: »Dringend bedurfte er eines längeren Urlaubes. Nach einer National-Theatervorstellung […] fiel er mitten auf der Strasse so gefährlich hin, dass es uns entsetzte.« 491 Ebd.: 81. 492 Lazarus 1898b: 183: »Die Kur in Bad Oeynhausen war dafür bekannt, dass es schon manchen ›an Wunder grenzende Heilung‹ gebracht habe, aber bei Max Remy hatte es nicht geholfen.« 493 Lazarus-Remy 1927b: 73. 494 Lazarus-Remy 1927b: 88. 495 Ebd. 496 Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Kritiken durchzuschauen und seine bisher eigenhändige Chiffre R—y darunter zu setzen. »Denn die Feder entfiel ihm nach einigen unleserlichen schiefen, zitternden Versuchen.«497 Am 30. März 1881 zogen sie in eine neue Wohnung in der Nähe der Zwölfapostel Kirche, damit Max Remys Schwestern sie bei der Pflege unterstützen konnten. Auch die Kollegen und Freunde kamen weiterhin und sie erhielt im April erneuten bezahlten Urlaub, damit sie sich völlig um ihren Mann kümmern konnte. »So verweilte [sie] den ganzen Tag an Maxens Bett. Von Niemanden wollte er sich anrühren lassen; ich musste ihn alle Liebesdienste erweisen: einreiben, Medicin geben, Watte auflegen (der Ärmste hatte sich auf beiden Seiten durchgelegen …) und während dem flüsterte er mir zu: ›Süsser Engel… geh nicht fort von mir … bleib immer bei mir … auch wenn ich schlafe … Mäuschen, verlass mich nicht! – O, verlass mich nicht!‹«498 Ende April verschlimmerte sich die Situation und sie notierte am 3. Mai 1881 in ihrem Tagebuch, nach dem für ihn schmerzhaften Umbetten und Ankleiden: »Dann wurde er aufgeregt, starrte mich zornig an und schalt mich grausam. Als er aber meine Augen voll Tränen des Mitleides sah, wiederholte er: ›nein, nein, du bist die Barmherzigkeit.‹ [Herv. i.O.] Dann lag er da, leichenhaft, mit halbgebrochenem Blick.«499 Am Morgen des 7. Mai 1881 verstarb Max Remy nach »sieben qualvollen Jahren«500 und wurde auf dem Evangelischen Zwölf-Apostelfriedhof der Kolonnenstraße in Schöneberg begraben. Der Tod ihres Mannes wird von ihr sowohl in der Konversionserzählung Ich suchte Dich! als auch in der Autobiografie Mein Leben II als eine Erlösung beschrieben. Einerseits als die Erlösung Max Remys von seinen schmerzlichen Leiden und andererseits ihre Erlösung von der bedrückenden Lebenssituation. Trotzdem war es für sie eine Selbstverständlichkeit, für ihren Mann eine fleißige Mitarbeiterin und fürsorgliche Pflegerin zu sein.501 Die traditionellen geschlechterrollenbezogenen Erwartungen zu erfüllen, d.h. ihren kranken Ehemann zu pflegen und ihm stets zur Seite zu stehen, schien für Remy eine Selbstverständlichkeit zu sein, der sie gerne nachkam.502 Sie schaffte es jedoch die traditionellen Geschlechterrollen zu durchbrechen, indem sie die die Pflege ihres kranken Mannes und gleichzeitig seine schriftstellerische Tätigkeit ausführte. Sie betont, dass sie das hielt, »was sie sich vorgenommen. Sie ward ihm eine unermüdete Gehilfin im Hause, eine fleißige Mitarbeiterin im Beruf, eine treue Gesellschafterin in trüben Stunden.«503 Sie hatte sich sieben leidvolle Jahre um einen »allmählich absterbenden«504 Mann gekümmert. Sie hatte sich bemüht, ihren intelligenten und begabten Mann in seinem Schriftstellertum zu unterstützen, um seinen Wunsch »etwas Größeres zu vollbringen«505 , erfüllen zu kön497 498 499 500 501 502

Ebd.: 91. Ebd. Ebd. Lazarus 1898b: 183. Lazarus-Remy 1927a: 76. Vgl. Lazarus 1898b: 175: »So ordnete sie in Gedanken alle ihre Angelegenheiten, nahm Abschied von Manchem was ihr lieb geworden […] denn sie machte sich klar, dass ein Tagesschriftsteller, der über dies offenbar leidend ist, an seiner Frau eine Stütze haben müsse.« 503 Ebd.: 181. 504 Ebd.: 185. 505 Ebd.

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nen. Sie war froh, dass sie einen Teil ihres Lebens einem Menschen geschenkt hatte, der ihre liebevolle Zuneigung brauchte. »Sie bereute jetzt nicht und niemals, ihr junges, blühendes Dasein für sieben lange, schmerzenreiche Jahre an einen dem frühen Tode Geweihten hingegeben zu haben. Hatte sie doch seine letzte Lebenszeit verschönert und veredelt! Hatte sie doch seinen rührenden Dank eingeheimst und das wunderbar stärkende und erquickende Gefühl erfüllter Pflicht!«506 Trotz dieser harten erfahrungsreichen Zeit betrachtete sie diese Ehe als etwas Nützliches für ihr kommendes Leben, das notwendigerweise durchlebt werden musste. Sie war durch die Erfahrungen »nicht verbittert worden, sondern in ihrem ganzen Wesen erhoben«507 worden. Die Erfahrungen als Ehefrau und die Verbesserung ihrer schriftstellerischen Kompetenzen wurden »ihr Schmuck und ihre Waffe«508 . Zwar stand die 32jährige Witwe wieder ohne männliche Unterstützung da, aber sie hatte neue Kenntnisse und Selbstbewusstsein erworben, die für ihre Zukunft wichtig waren. In ihrem Tagebuch von 1911 notierte sie: »Unbedingt wertvoll war mir an der Ehe mit Max die Einführung in die Literatur u[nd] das schön geistige Leben.«509

2.1.2 Der Kampf um ihre Existenz Nach dem Tod ihres Mannes sei nun der Augenblick gekommen, ab dem sie sich selbst gehöre, sodass sie endlich ihr Dasein nach eigenem Willen gestalten konnte.510 Sie erhoffte sich, die Festanstellung ihres Mannes bei der Vossischen Zeitung511 nun offiziell übernehmen zu können. »Hoffnungsvoll lag die Zukunft vor mir. Früher oder später musste das heissersehnte Ziel die Bühne zu erobern erreicht werden.«512 Jedoch suchte die Vossische Zeitung einen männlichen Nachfolger für Max Remy. Sie schrieb an den Chefredakteur Friedrich Stephany und erklärte, dass sie ihren Mann in den letzten zwei Jahren stets zu Stephanys Zufriedenheit vertreten habe und »somit seine natürliche Nachfolgerin sei«513 . Aus Angst vor einem Präzedenzfall sah die Leitung der Vossischen Zeitung davon ab, eine Frau einzustellen. Sie zitierte Friedrich Stephanys Aussage in Mein Leben II: »Es wäre noch nicht vorgekommen, dass eine Frau [Herv. i.O.] offiziell als Berichterstatterin an einer grossen politischen Zeitung angestellt worden wäre. Das würde zahlreiche Reklamationen Anlass geben: Frauen würden massenhaft sich zu den Zeitungen 506 Ebd. 507 Ebd.: 184. Die in beiden Autobiografien mystifizierende Darstellung ihrer Lebensfügung wird in Kap. III, 2.1 genauer dargestellt. 508 Ebd.: 185. 509 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von März 1911, Arc.Nr. 01 134. 510 Lazarus-Remy 1927b: 92. 511 Vossische Zeitung bürgerlich-liberale Zeitung mit Handelsblatt und Sonntagsbeilage. Sie ist die älteste der Berliner Zeitungen (der älteste erhaltene Jahrgang ist von 1721 datiert). Digitalisate unter: Staatsbibliothek zu Berlin 2015. 512 Lazarus-Remy 1927b: 93. 513 Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

drängen, sich immer auf sie [Nahida Remy] berufend, und die bisherigen Mitarbeiter würden sich zurückgesetzt fühlen. Alle diese Konflikte müsste man vermeiden.«514 Da ihre Arbeiten jedoch gern gelesen und sehr geschätzt wurden, durfte sie ihre bisherige 15 Pfennig-Zeilenarbeit für die Vossische Zeitung behalten. Enttäuscht setzte sie sich das Ziel, mit ihren verdienten Ersparnissen später endgültig nach Wien überzusiedeln, wo sie sich eine gesichertere Existenz als Journalistin und freie Schriftstellerin erhoffte. »Meine Geburtsstadt hätte mich verhungern lassen; Wien scheute sich gewiss nicht vor ›Präzedenzfällen‹«.515 Das bedeutete eine immerwährende Suche nach journalistischen und schriftstellerischen Aufträgen, die ihren Lebensunterhalt sichern sollten. Sie wollte nicht ihre Wohnung aufgeben und in einem billigen Damenpensionat zu wohnen, wie es ihre Schwägerinnen Anna und Marie Remy vorschlugen. Sie wollte ihren eigenen Haushalt, ihre Freiheit und Unabhängigkeit behalten. Die Stelle als Theater- und Kunstkritikerin bei Richard Schmidt-Cabanis (s.TL) blieb ihr erhalten, sodass sie weiterhin vier- bis fünfmal wöchentlich Theateraufführungen und Kunstaustellungen besuchte. Daneben kam noch eine Vielzahl an Buchreferaten, Novelletten516 und Feuilletons517 für die Vossische Zeitung und Westermanns Monatshefte hinzu. In dieser Zeit entstand eine biographische Reihe mit weiblichen Lebensdarstellungen, wie beispielsweise über die deutsche Schriftstellerin Anna Louisa Karsch (1722–1791) und die englische Pianistin, Komponistin und Musikschriftstellerin Florence May (1845–1923), über die deutsche Schauspielerin Friederike Caroline Neuber (1697–1760) oder über die amerikanische Frauenrechtlerin Lucretia Mott (1793–1880).518 Sehr leicht fiel es ihr, über praktische Plaudereien über Musikdilettantismus, Hausapotheke, Gesprächsstoffe, Conventionelles oder über Fragen von Unbefangenheit, Selbstbeherrschung, Selbsterkenntnis und Lügen zu schreiben.519 Inzwischen warb auch der Chefredakteur des Berliner Wochenblattes Das Kleine Journal (für Theater, Film und Musik) Otto Pniower (1859–1932) um Nahida Remys Mitarbeit. Der alltägliche Kampf um ihre materielle Existenz zwang sie dazu, auch diese Stelle anzunehmen, die einen großen Teil ihrer Konzentration und Arbeitszeit beanspruchte.520 In Mein Leben II wünscht sie sich »einen Tropfen Leichtsinn in [ihrem] Blut, ein Korn Wagemut in [ihrem] Willen!« und nicht diese »eingefleischte Opferwilligkeit! Diese fanatische

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Ebd. Ebd.: 96. Unter anderem mit Titel wie: Zu bescheiden; Toto und Triri; Ein Märchen aus dem Leben usw. Weitere Novelletten s.Bibl. im Anhang. 517 Eine Studie Über die Volkskomik, eine Biografie über den spanischen Dichter und Dramatiker José Echegaray [1832–1916], Naturschilderungen: Die märkische Schweiz, Der Thüringer Wald oder über die Bienenzucht als Erwerbsquelle für Frauen. Weitere Feuilletons s.Bibl. im Anhang. 518 s.Bibl.: Die Karschin; Florence May; Die Neuberin und Lucretia Mott. 519 Lazarus-Remy 1927b: 94. 520 In ihrem Tagebuch von Jan. 1882 notiert sie einen für sie typischen Tagesablauf. In: Lazarus-Remy 1927b: 97: »Früh auf. Geheizt. Tee gekocht, aufgeräumt u.s.w. Um 8 am Schreibtisch. Um 11 zu Marie Bornemann gerannt, mit ihr nach Moabit, ins neue Schwergerichtsgebäude; der ›Central-Prozess‹Verhandlung bis 3 21 beigewohnt, dann zu Schm.-C. Buchreferate abgeliefert. Johanna, die Gute, mir Mittag gegeben. Dann zu Anna. […] Furchtbar müde, aber nichts merken lassen. Mit der ganzen Mädchenschar Leseprobe abgehalten. Anna mir eine Droschke spendiert. Abends bis in die Nacht hinein humoristische Skizze über den Prozess entworfen.«

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Arbeitssucht!«521 Ihr Tagesablauf bestand darin, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der geringe Lohn zwang sie, jeden angebotenen Arbeitsauftrag anzunehmen. »Der Arbeitsjoch drückte und zerrieb mich, aber an Schonung war nicht zu denken, sondern nur ans Verdienen.«522 Ihr fehle der Mut ihr erspartes Kapital für die Verschriftlichung größerer Werke zu nutzen: »Wer acht Jahre in Krankenlast und demoralisierender Schulden-, Sorgen- und Arbeitslast vegetierte, ermattet.«523 Um den Tod Max Remys zu verarbeiten und sich der Arbeitslast etwas zu entziehen, reiste sie im Juni 1881 nach Bad Elster und anschließend im Juli mit ihrer Tante Molly Remy für vierzehn Tage nach Thüringen, wo unter anderem die Naturschilderung Der Thüringer Wald entstand. Sie erhielt viel liebenswerte Unterstützung von ihren Freunden524 und Schwägerinnen und vor allem von ihrer Mutter, die Ende Juli 1881 anreiste und bis zum Frühling 1882 blieb. Auch von ihrer Schwägerin Anna Remy, die ihr zeitlebens eine gute Freundin war, wurde sie herzlich unterstützt. So engagierte sie beispielsweise Nahida Remy als Vorlesemeisterin für die Mädchen ihres Pensionates, wofür sie eine Mark die Stunde erhielt. »Meine Vortragsstunden bei Anna erfreuten mich, obwohl ich fast stets übermüdet hinkam. Aber das Interesse der Mädchen war so erfrischend, dass es förmlich ansteckend wirkte. Nach einer gelungenen Vorlesung (mit verteilten Rollen) der ›Minna von Barnhelm‹, bei welcher ich Tellheim und Werner zugleich zum Besten gab, empfing mich zu Hause ein riesiges Blumen- und Palmarrangement von ›Seiten der Pension‹«.525 Im Sommer 1881 vollendete sie unter anderem ihre später geschätzten Sizilianischen Novellen, die sie erst 1886 veröffentlichen ließ und die 1890 in zweiter Auflage unter dem Titel Heißes Blut erschienen. Im Herbst 1881 wurde Remy vom jüdischen Literaturhistoriker und Redakteur Dr. Gustav Karpeles (1848–1909) wegen größerer Aufträge für Westermanns Monatshefte aufgesucht. Sie wurde nun zur ständigen Buchreferentin dieser »vornehmen Monatsschrift«526 . Zudem erhielt sie durch ihre Anstellung bei der Züricher Zeitung eine weitere zuverlässige Erwerbsquelle. Besonders nahm Richard Schmidt-Cabanis (s.TL) ihre Dienste in Anspruch, indem ihr nicht nur fast alle Theater-, Buch- und Kunstaustellungsreferate zufielen, sondern auch Gewerbeausstellungen und dergl.527

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Ebd.: 94. Ebd.: 96. Ebd.: 93. Sie hatte sich einen großen literarischen Bekanntenkreis aufbauen können, zu dem die Schriftsteller Fritz Mauthner (1849–1923), Richard Schmidt-Cabanis (1838–1903), die Journalisten und Theaterkritiker Hugo Gottschalk, Dr. Moritz Gumbinner (1829–1900) mit seiner Frau Ida (geb. von Hake), der Regisseur und Theaterkritiker Friedrich Haase (1825–1911), der Kunsthistoriker Adolf Rosenberg (1850–1906) sowie der Theaterkritiker Karl Frenzel (1827–1914) und der Schriftsteller Theodor Fontane (1819–1898) gehörten. Die Bekanntschaft mit dem Theaterintendanten des Großherzoglichen Hoftheaters in Schwerin Alfred von Wolzogen (1823–1883) kam der Inszenierung ihrer späteren Stücke zugute. 525 Lazarus-Remy 1927b: 98. 526 Ebd.: 96. 527 Ebd.: »Darunter eine hochinteressante Sammlung amerikanischer Holzarten, für die ich Extrastudien machte.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

»Alles im Stil hübsch pikant und Montagszeitungsmässig für 25 M. monatlich! Wie töricht diese Arbeitsüberhäufung! Und warum diese Hungerlöhne? Zu einer Zeit da zum Beispiel Fontane 500M. für einen Druckbogen verlangte und erhielt?«528 Am Ende des Jahres 1881 notiert sie ihre Jahresbilanz von 1756 Mark (umgerechnet ca. 12.292 €), was in etwa dem damaligen Mindestverdienst eines Druckers entsprach.529 Im Januar 1882 zog sie zunächst in eine günstigere Wohnung in der Potsdamerstraße 139, die eine große Terrasse mit Aussicht auf die Gärten der Kurfürstenstraße hatte. Um noch weiter an der Miete zu sparen, vermietete sie ihr Terrassenzimmer an die Schwester der ungarischen Theater- und Stummfilmschauspielerin Marie Barkany (1862–1928). Ihre Novellette Else und Constanze, ein fiktionaler Briefwechsel, erschien im Lipperheidschen Bazar und brachte ihr die ersehnte publizistische Resonanz. Die Leserinnen waren »ganz entzückt«530 und wünschten sich weitere Fortsetzungen. So entstanden zehn statt nur vier Briefe, die ihr die Redaktion gut honorierte. Neben ihrem alltäglichen Erwerbsmarathon nahm sie sich auch immer wieder Zeit, die schriftstellerischen Werke ihrer Mutter zu lesen und zu prüfen. Wenn Sturmhoefel d.Ä. gerade nicht bei ihrer Tochter zu Besuch war, geschah die Korrektur durch aufwendige und ermüdende Korrespondenz, worin Remys kritische Bemerkungen »auf das schonendste eingekleidet werden mussten, um die leicht Gekränkte [Mutter] nicht zu verletzen.«531 Den Sommer 1882 verbrachte sie bei ihrer Mutter in Perchtoldsdorf und nutzte die Zeit, um in der Wiener Magistratsbibliothek Chroniken und Akten zu studieren und Material für einen Artikel über den Ursprung und die Entwicklung des Wiener Theaters zu sammeln. Hermann Kletke wünschte einen entsprechenden Artikel für die Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung, den Remy dann bei ihrer Heimkehr in der Königlichen Bibliothek fertigstellte. In ihrer geringen Freizeit spielte sie weiterhin gerne Schach und entdeckte ihre Leidenschaft für das Portraitzeichnen. Sie erstellte ein Portrait von Max Remy und der Schwiegermutter, das sie Anna Remy schenkte. Im November 1882 motivierte der Kunstkritiker der Nationalzeitung Karl Wilhelm Theodor Frenzel (1827–1914)532 Remy, sich um ein Stipendium bei der Schillerstiftung533 in Weimar zu bewerben. Durch die finanzielle Unterstützung erhalte sie die Möglichkeit, von der Tagesschriftstellerei entlastet zu werden, um sich auf ein größeres Werk konzentrieren zu können.534 Dabei handelte es sich um eine finanzielle Unterstützung, die den Nachweis bereits vorliegenden poetischen Schaffens voraussetzte, was bei ihr der Fall war. So reichte sie im November 1882 beim Präsidenten des Berliner Zweigvereins der Schillerstiftung Prof. Dr. Moritz Lazarus (1824–1903)535 ihren Antrag mit Beifügung 528 529 530 531 532

Ebd. Nipperdey 1994: 304. Lazarus-Remy 1927b: 99. Ebd. K. Frenzel sowie G. Schenk waren gute Freunde ihrer Mutter, weshalb sie Lazarus-Remy seit ihrer Kindheit kannten und unterstützten. 533 Die älteste bürgerschaftlich organisierte Fördereinrichtung, die seit 1859 Autorinnen und Autoren unterstützt. 534 Lazarus-Remy 1927b: 100. 535 Näheres zu den biographischen Angaben s.TL. Sekundärliteratur zu Moritz Lazarus siehe: Natorp 1985; Rahden 2006; Berek 2009.

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der Dramen Constanze und Grafen Eckardstein ein. Am 16. November kam Moritz Lazarus zu einem persönlichen Gespräch zu ihr nach Hause, um sich über ihre Lebensumstände und ihre Eignung zu informieren. In diesem Zusammenhang las er einige ihrer Novellen und Dramen und wünschte, von ihnen angetan, weitere von ihren »Erzeugnisse[n] der Feder«536 einzusehen. Im Frühling 1883 erhielt sie von der Kommission der Schillerstiftung eine Zusage für eine dreijährige Unterstützung von 300 Talern (ca. 9000 €) pro Jahr. Lazarus, als Jude von der strebsamen und interessierten Nichtjüdin beeindruckt, nahm sich der Betreuung ihrer schriftstellerischen Arbeiten an und unterstützte sie durch sein umfangreiches Fachwissen vor allem in ihren autodidaktischen Studien über das Judentum.537 Von seiner Arbeits- und Denkweise inspiriert, enthielt ihre nächste Theaterkritik neben Lob und Tadel bereits völkerpsychologische Ideen: »der Deutsche wird besser das Gedankliche, der Franzose den Konversationston beherrschen. Jener das Gefühlvolle, dieser das Witzige.«538 Nach zehnjähriger Rezensententätigkeit wurde ihre Theaterkritik zum ersten Mal nicht abgedruckt, was zur Folge hatte, dass sie sich völlig aus dieser Erwerbssparte löste. Es vermindere zwar ihr Einkommen, vermehre jedoch ihre Unabhängigkeit, die sie nun, auch ermöglicht durch das Stipendium, einzig für ihre literarischen Projekte nutzen wollte.539 Am 22. Januar 1884 erlebte sie eine anerkennende und würdigende Dankesrede, die der Literaturhistoriker Richard Gosche (1824–1889) anlässlich ihres Festspieles Ein Besuch bei Lessing540 zum Ehren von Lessings 155. Geburtstag hielt. Remy wurde Mitglied des neugegründeten Freidenkervereins ›Lessing‹ zu Berlin, dessen Vorsitzender Dr. Wolff Wilhelm Lowenthal (1850–1894) sie zur Mitgliedschaft bewog. Mitte August 1884 konnte sie mithilfe einer Erbschaft von 500 Talern von ihrem Onkel Hans Sturmhoefel zur schriftstellerischen Inspiration eine vierwöchige Reise nach Paris verwirklichen. »Mit den Honoraren für die Vortragslehrstunden bei Anna Remy und mit der Schriftstellerei liess sich leben. Mein Artikel ›Das Wiener Schauspiel von seinen Anfängen‹ etc. brachte mir von der Vossischen ein schönes Honorar ein aber zugleich eine das damals noch herrschende Vorurteil gegen Frauenleistung kennzeichnende Erfahrung.«541 Ihr Artikel Das Wiener Schauspiel von seinen Anfängen sollte, wie bisher üblich, ohne ihren Namen erscheinen. »10 Jahre Anonymität und noch gönnte man mir nicht mein Autorrecht?«542 Als sie sich bei Hermann Kletke darüber beklagte und auf ihrer Namensnennung bestand, erwiderte er: »Alle Mitarbeiter, Kritiker, Literaturjünglinge und -Invaliden würden aus dem Häuschen geraten, reklamieren, dass man nicht einen von ihnen den Stoff überlassen – sie würden nur auf etwaige Mängel oder Lücken Jagd machen, auf Irrtümer.«543 Da er allerdings Remys Arbeiten sehr schätzte, einigten sich beide darauf, 536 Lazarus-Remy 1927b: 100: Beispielweise bewertete er ihre Novellette Zulla als »kleines Meisterwerk an Charakterzeichnung, Humor und dramatischer Behandlung.« 537 Näheres zum Beziehungsverhältnis zwischen Remy und Moritz Lazarus, siehe Kap. I, 2.2.1. 538 Lazarus-Remy 1927b: 101. 539 Ebd. 540 Remy 1884. 541 Lazarus-Remy 1927b: 105. 542 Ebd. 543 Ebd.

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dass ihr Artikel, der fünf Sonntagszeitungen füllen würde, erst am Ende ihren Namen verriet. »Dann kann niemand mehr etwas dagegen nörgeln, denn sie werden ihn alle mit Interesse und Anerkennung gelesen haben, und können nicht sich selbst hinterher Lügen strafen. Mögen sie sich bis dahin die Köpfe zerbrechen, welcher Gelehrte diese tüchtige Abhandlung geschrieben hat.«544 Und sie notiert dazu »wirklich man zerbrach sich die Köpfe … man frage mich sogar!«545 Im darauffolgenden Jahr wurde der ergänzende Artikel Die Wiener Volksbühne sofort mit ihren Namen unter dem Titel veröffentlicht, worauf »keine Reklamationen, wohl aber erfreuliche und ehrenvolle Anmerkungen, sogar vonseiten meiner werten Kollegen«546 folgten. Die Tagesschriftstellerei nahm immer mehr an Zeit in Anspruch, sodass sie wöchentlich mindestens fünf Feuilletons neben den Novellen und Einaktern veröffentlichen musste, um ihre Monatsmiete zu decken. Immer wieder veröffentlichte Nahida Remy selbstverfasste Lustspiele, wie beispielsweise das fünfaktige Drama Liebeszauber (1887), das vom Theateragenten A. Entsch in sein Repertoire zwar aufgenommen, jedoch kaum aufgeführt wurde. Sie notierte dazu: »Dennoch ist das Schauspiel so gut wie unbekannt geblieben. Wer keiner Clique angehört und für den keine Reklame gemacht wird, bleibt zurück.«547

2.2

Studium des Judentums und öffentliches Eintreten für das Judentum

Die aufkommende Judenfrage erreicht ihren Höhepunkt mit der Entstehung des modernen Antisemitismus in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Als 1879 mit den vom Journalisten Wilhelm Marr (1819–1904) herausgegebenen Antisemitischen Heften und der gegründeten Antisemitenliga der neu formulierte Begriff Antisemitismus Verbreitung fand, setzte er sich mithilfe judenfeindlicher Flugblätter und Schriften schnell in allen Kreisen durch. Die Antisemitische Correspondenz von 1885548 berichtete am 27. Juli 1890, dass täglich drei- bis viertausend antisemitische Flugblätter und Hetzschriften im Auftrag der deutsch-sozialen Partei in Leipzig verschickt wurden.549 Der antisemitische Grundgedanke sollte »in aller Stille täglich neue Kreise erobern«550 . Im Februar 1880 bezeichnete Friedrich III. (1831–1888) mit Bezug auf Wilhelm Marrs Hetzschrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum (1879) den aufkommenden Antisemitismus als »nationale Schmach«551 . Auch Remy nahm diese Diskussionen wahr und notierte dazu:

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.: 130. Auch enthielte Liebeszauber schwierige Rollen, wie beispielsweise die des unpraktischen Weltverbesserers, die schwer zu besetzen waren. 548 Eine von dem deutschen Publizisten und Verleger Theodor Fritsch (1852–1933) herausgegebene antisemitische Zeitung. 549 Vgl. Schrattenholz 1891: 5f. 550 Ebd.: »Diese ›stille‹ Eroberung, […] hat bei dem europäischen Kittel- und Frackpöbel eine Verstumpfung und Verfinsterung des Geistes und Gemüths, eine Schürung des Glaubens-, Rassenund Klassenhasses erzeugt, deren Tiefe und Heftigkeit an die schlimmsten, dumpfsten Zeiten des mittelalterlichen Fanatismus mahnen.« 551 Ben-Sasson 1980: 190: Kaiser Friedrich III, der für seine liberale Ausrichtung bekannt wurde, tat diesen Ausspruch »Schmach für Deutschland« in einer in Februar stattfindenden Sitzung der Victoria-

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»Es war Ende der Siebziger Jahre; ich war bis dahin mit Juden noch gar nicht in Berührung gekommen. Als aber die ›Schmach des Jahrhunderts‹ sich fühlbar machte und auch in der Familie meines Mannes ansteckend wirkte, da fing ich an, mehr über Juden und jüdische Dinge nachzudenken.«552 »Die traurige Erscheinung«553 , wie sie auch in ihrer Familie und ihrem Freundeskreis den aufkommenden Antisemitismus bezeichnet, schockierte sie völlig. »An ihrem eigenen Tisch musste sie Äußerungen hören, die ihr die Röte des Unwillens in die Wangen jagten.«554 So wird beispielsweise Max Remys Freund und Schriftstellerkollege Otto Glagau (1834–1892), der zu gelegentlichen Whistabenden vorbeikam, von Remy als »unsympathischer Hetzer«555 beschrieben. »Otto Glagau [Herv. i.O.], Reuterforscher und Antisemit. Er betrieb diesen Antisemitismus mit solcher hämischen Schroffheit, dass jede Unterhaltung mit ihm, mich, die genaue Kennerin der Bibel, stets peinlich berührte.«556 Diese peinlichen Erfahrungen werden von ihr rückblickend trotzdem als »das Gute« umgedeutet, da sie sie dazu bewogen, sich »aufmerksamer der Beobachtung von Juden und jüdischen Angelegenheiten«557 zu widmen. Schockiert über die antisemitischen Agitationen in ihrer Heimatstadt, wollte sie, statt sich der gängigen polemischen Meinungen anzuschließen, sich erst einmal über den zeitgenössischen Antisemitismusstreit erkundigen und vor allem die jüdische Kultur und Religion besser kennen und verstehen lernen. So nahm sie bewusster Gelegenheiten wahr, mit Juden und Jüdinnen über Tagesfragen und Zeitereignisse zu sprechen, um deren Meinungen und Ansichten kennen zu lernen und »somit ihren [Remys] Bildungsstand sowie Kenntnisse zu überprüfen«558 . Damit versuchte Remy, mit einer objektiven Herangehensweise die kritische Sachlage zu begreifen, indem sie zunächst das Kennenlernen und das gemeinsame Gespräch suchte, um dann die gewonnenen Informationen mithilfe von »Schriften für und auch solche gegen die Juden«559 kritisch zu überprüfen. Positiv überrascht, erkannte sie, dass bei den Juden »eine Bildung und Feinfühligkeit, ein Streben und ein Schaffen vorhanden war, die sie sich nicht hatte träumen lassen.«560 So befasste sie sich in ihrer spärlichen Freizeit intensiv mit den vielen antisemitischen Schriften und Flugblättern, die anonym

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National-Invalidenstiftung. Er verurteilte damit die neuaufkommende antisemitische Bewegung. Näheres dazu in: Röhl 1993: 414f. Lazarus 1897c. Diese Aussage widerspricht der Tatsache, dass sie neben dem jüdischen Freund und Arzt Dr. Moritz Löwinsohn, in dessen Haus sie mit Max Remy eine Zeitlang lebte, auch jüdische Arbeitskollegen gehabt hatte, wie beispielsweise den jüdischen Schriftsteller Gustav Karpeles, den sie im Herbst 1881 kennen gelernt hatte. Im Wesentlichen möchte Remy ihren Lesern erklären, dass sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst mit den jüdischen Bürger sowie deren Religion und Tradition befasst hatte. Lazarus 1898b: 189. Ebd. Lazarus-Remy 1927b: 74. Ebd.: 73. Lazarus 1898b: 189. Ebd. Ebd.: 190. Ebd.: 189.

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an die Haushalte verteilt und von ihr mit »steigendem Interesse und einem wachsenden Mitgefühl«561 für die jüdischen Bürger gelesen wurden. Zu den zumeist illustrierten Flugblättern gehörten unter anderem die Fliegenden Blätter (gegründet 1844/45) und die Düsseldorfer Monatshefte (gegründet 1847/48), die in großer Zahl Karikaturen von und Satiren über Juden herausbrachten. Das immer wiederkehrende Thema der Karikaturen war das Profitdenken und der Händlergeist der Juden. »Das Spektrum umfasste den Trödler, Hausierer und Kleinhändler wie den Großkaufmann und den Bankier. […] Die kontinuierliche, über Jahrzehnte anhaltende Pflege eines bestimmten Bild- und Themenkanons führte zu der Verfestigung der inhaltlichen und visuellen Stereotypen.«562 Remy widerstrebten derartige Hetzschriften durch ihre »gehässige Übertreibung ihrer Polemik«563 , hingegen fesselten sie die Schriften für die Juden (Aufklärungsschriften) durch die darin enthaltenen, für sie neuen Gesichtspunkte. Neben diesen Schriften las sie im Sommer 1881 unter anderem den Roman Jüdische Familienpapiere – Briefe eines Missionärs des jüdischen Schriftstellers und Pädagogen Wilhelm Herzberg (1827–1897).564 Die darin geschilderte fiktionale Korrespondenz zwischen Vater, Sohn und Onkel, eine Auseinandersetzung mit der christlichen Judenmission Mitte des 19. Jahrhunderts, regte besonders ihr Mitgefühl und ihre Wissbegierde an.565 Wilhelm Herzbergs Gedanken und Aufschlüsse veranlassten sie, ihre »persönliche Scheu«566 zu überwinden und den Kontakt zu Herzberg als jüdischem Autor aufzunehmen, woraus ein reger Briefwechsel über den aufkommenden Antisemitismus und eine innige Freundschaft zu dem Ehepaar Herzberg entstand. Wilhelm Herzberg, der damals als Direktor des jüdischen Waisenhauses in Jerusalem lebte, verschaffte Remy den Kontakt zu »einer überaus sympathischen jüdischen alten Dame: Frau Zerline Meyer [1812–1894], die in Berlin ganz in ihrer Nähe wohnte, im ›Karlsbad‹, an der Potsdamerbrücke.«567 Durch die Bekanntschaft mit Zerline Meyer erweiterte sich ihr jüdischer Bekanntenkreis unter anderem um den Rabbiner Dr. Salomon Cohn (1822–1902), der ab 1876 in der orthodoxen Tiergarten561 Ebd.: 190. 562 Dittmar 1996: 48f. Der Kladderadatsch (veröffentlicht seit 1848), der als politisches Witzblatt ein höheres Niveau beanspruchte, ist in unserem Zusammenhang weniger ergiebig. Die Gartenlaube, kein Karikaturblatt, war die berühmteste Zeitschrift der Epoche (gegründet 1853). Idyllische Genrebilder unterstützten das projüdische Engagement, das für zwei Jahrzehnte ein Kennzeichen der Gartenlaube blieb. Auf die Bewusstseinsbildung hatten sie keinen Einfluss, ganz im Gegensatz zu den Bildern der Karikaturzeitschriften. 563 Lazarus 1897c; vgl. auch Lazarus 1898b: 190. 564 Der von seinem christlichen Stiefvater aufgezogene Samuel besucht in missionarischer Tätigkeit seinen Onkel Rabbi Rachmann und lernt dabei seine eigenen jüdischen Wurzeln kennen. Die religiöse Disskussion wird von Samuel in 29 Briefen adressiert an seinen Stiefvater sowie in den folgenden Familienpapieren (S. 356–384) festgehalten. Vgl. Herzberg 1873; 1868 zuerst unter dem Pseudonym Gustav Meinhardt veröffentlicht. 565 Lazarus 1898b: 193; Lazarus 1897c. 566 Vgl. Lazarus 1898b: 193. Wilhelm Herzberg und seine Frau Sophie blieben bis an Nahida Remys Lebensende im freundschaftlichen, zumeist telegraphischen Kontakt mit ihr. Vgl. dazu Lazarus 1928. 567 Lazarus 1898b: 193f.

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Synagoge an der Potsdamer Brücke in Berlin arbeitete. »Sie beide erfreuten mich durch mancherlei mündliche Belehrung und durch Belehrungsschriften. Diesen beiden guten Menschen verdanke ich viel und werde es ihnen nie vergessen.«568 Die autodidaktisch angeeigneten Erkenntnisse summierten sich zu einem Wissensfundus, über den sie allmählich den Überblick verlor. So notierte sie im Sommer 1882 in ihrem Tagebuch: »Alles lag aufgespeichert da, – in ihrem vortrefflichen Gedächtnis sowohl, wie auf dem großen schlichten Schreibtisch in ihrem Arbeitsstübchen. Aber Alles lag ungeordnet, ungesichtet. Eine Fülle – aber ein Chaos zugleich.«569 Sie fühlte sich, als ginge sie einer großen Gefahr entgegen, »der Gefahr der Zersplitterung ihrer Kräfte, der Verwirrung ihres Wissens«570 , aber zugleich fühlte sie, dass ihr »Herz auf der Seite der Angegriffenen stand, und diese Sympathie für die Schwächeren, für die Angegriffenen brachte sie in ihrem ausgedehnten christlichen Bekanntenkreis und – leider war es nötig – in ihrer eigenen Familie zum Ausdruck.«571 Jedoch bemerkte Remy recht schnell, dass ihr gegenüber den »leidenschaftlichen, gereizten Entgegnungen«572 noch immer grundlegendes Wissen bezüglich »neuzeitlicher Thatsachen, der statistischen Tabellen, der modernen Daten und Zahlen«573 fehlten. Zudem mangelte es ihr an Rat und Führung eines »wahrhaft wissenschaftlich Kundigen«574 . Erst als die nun 33-jährige Remy im November 1882 den 58-jährigen jüdischen Völkerpsychologen Prof. Dr. Moritz Lazarus (s.TL) kennenlernte, nahm sie das Bibelstudium wieder auf und intensivierte mithilfe seiner Anweisungen ihr Selbststudium durch gezielte Werke über Juden und Judentum.575 Sie vertiefte sich unter anderem in die jüdische Geschichte mithilfe der Werke der jüdisch-deutschen Historiker Isaac Markus Jost (1793–1860)576 , Julius Heinrich Dessauer (1818–1882)577 und Heinrich Graetz (1817–1891)578 , auch las sie das Werk Jerusalem des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786). Daneben las sie auch christlich verfasste Verteidigungsschriften, wie beispielweise die Werke des Biologen und Naturforschers Matthias Jacob Schleiden (1804–1881)579 sowie die Schriften der lutherischen Theologen Franz Delitzsch

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Lazarus 1897c. Lazarus 1898b: 195. Ebd. Lazarus 1897c. Ebd. Lazarus 1898b: 192f. Lazarus 1897c. Lazarus 1897c; Siehe auch Kap. I, 2.2.1. Das Werk von I.M. Jost Geschichte des Volkes Israel (1864) empfiehlt sie als übersichtliches Werk an ihre Leser weiter. Vgl. dazu Lazarus 1898b: 192. 577 Ebd.: 192: Das Werk von J. H. Dessauer Geschichte der Israeliten (1846) sei zwar »ein bescheidenes Buch, das sie doch stellenweise besonders ergriff.« 578 Über das mehrbändige Werk von H. Graetz Wissenschaft des Judentums teilte Remy die Meinung des wichtigen Vordenkers des Reformjudentums Abraham Geiger (1810–1874), indem sie Defizite bei den geschilderten kausalen Zusammenhängen ausmachte. Durch diese Werke habe sie schnell gelernt, »mit kritischer Vorsicht die strengen Ergebnisse der Thatsachen von bloßen Vermuthungen und Voraussetzungen zu trennen.« In: ebd. 579 Sie las die Broschüre M. J. Schleidens über »Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter« (1877).

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(1813–1890)580 und Rudolf Friedrich Grau (1835–1893).581 Die projüdischen Ansichten in den Abhandlungen der genannten christlichen Verfasser entfachten ihre Aufmerksamkeit, sodass sie »das Studium dieser Art Schriften geradezu für ihre Pflicht hielt«582 . Von entscheidendem Einfluss waren für sie die Broschüre über Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter des Biologen Schleiden sowie seine Romantik des Martyriums der Juden im Mittelalter (1877).583 Mit seinem darin formulierten Konzept der Gleichheit aller (religiösen) Lebensformen entwickelte er die Idee der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit weiter. Gestärkt durch ihr intensives autodidaktisches Studium der unterschiedlichen Schriften und die persönlichen Gespräche fühlte sie sich endlich »gegen alle Einflüsterungen liebloser Vorurteile«584 ausreichend vorbereitet. Nun stand für sie der Entschluss fest, so viele Menschen wie möglich über »die Geschichte dieses Jahrtausende lang geknechteten und verfolgten Volkes, dem das Christentum seinen ›Erlöser‹ verdankt«585 , aufzuklären. Im Laufe der Jahre hatte sich das Verhältnis zwischen dem berühmten Professor Moritz Lazarus und Remy wie das eines »gütig zurechtweisenden Lehrers zur strebsamen Schülerin«586 entwickelt – so schreibt sie jedenfalls in ihren Veröffentlichungen. Er habe sie vor allen Dingen zwischen Juden und Judentum zu unterscheiden gelehrt und sie unter anderem auf Mängel der verschiedenen Bibelübersetzungen aufmerksam gemacht. 1885 bewog er sie, mithilfe eines alten hebräischen Schullehrbuchs Hebräisch zu lernen, »um den Urtext im Original lesen zu können«587 . Sie malte die Quadratbuchstaben auf eine Tafel, die sie über ihr Bett hing, um »spielend«588 an die neue Schrift gewöhnt zu werden. Lazarus schenkte ihr eine großgedruckte hebräische Bibel, die sie zeitlebens als sein erstes Geschenk in besonderer Erinnerung behielt. Daneben versorgte er sie mit hebräischen Lehrbüchern und Geschichtswerken, wodurch sie ihre Kenntnisse über Israel vertiefte. Auch bei Lazarus’ Schwager Heymann Steinthal589 , mit dem sich Remy im Laufe der Jahre anfreundete, fand sie in ihren hebräischen Studien Unterstützung. »Freilich war es drollig, dass er [Heymann Steinthal] selbst, der als grosser Bibelkenner galt, immer seine Nachschlagebücher befragte, ganz im Gegensatz zu Lazarus, der bei

580 Delitzsch 1875. Zu Delitzsch allgemein: Wagner 1991; zu Delitzschs Verhältnis zum Judentum vgl. Wiese 1999. 581 Grau 1867. 582 Lazarus 1898b: 190. 583 Zu Schleiden siehe: Scholz 2001: 147–175. 584 Lazarus 1898b: 190f. 585 Lazarus 1898b: 191: »Sehr früh wurde es ihr klar, dass die Juden fast nur in Zeiten der Sittenlosigkeit, des Nepotismus und des Barbarismus von moralisch verkommenen Herrschern und deren Creaturen verfolgt worden waren, dagegen, von milderen Zeiten und sittlich hochstehenden Männern und Fürsten geduldet und gefördert wurden. Dies gab ihr Viel zu denken.« 586 Ebd.: 199. Die heimliche Liebesbeziehung wird von Remy erstmalig in ihrer unveröffentlichten Autobiografie Mein Leben II erwähnt und ausführlicher beschrieben. Siehe folgendes Kap. I, 2.2.1. 587 Lazarus 1897c. 588 Lazarus-Remy 1927b: 105. 589 Chajim Heymann Steinthal (1823–1899) war ein jüdischer Philologe und Philosoph. Zusammen mit Moritz Lazarus veröffentlichte er 1860 die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Zu Heymann Steinthal vgl.: Lassahn 1995; Wiedebach und Winkelmann 2002.

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seinem phänomenalen Gedächtnis, stets und sofort Bescheid gab. Wie oft antwortete er mir ohne weiteres: das steht da und da. Dann sann er einen Augenblick und fügte Kapitel und Versangabe zu, mit der gelegentlichen Bemerkung: es steht nur einmal in der Bibel. Oder zweimal – dreimal, mit genauer Bezeichnung der Stelle. Ganz anders Steinthal; doch wurde auch er mein Lehrer im Hebräischen.«590 Steinthal verbesserte sie in der Grammatik und ihrer Aussprache, wobei sie die sogenannte aschkenasische gegenüber der sephardischen Aussprache bevorzugte. Ihr Lerneifer bewog sie zu kniffligen Fragen, die Steinthal mit freudigem Interesse annahm. »Es kam vor, dass wir uns dicht gegenübersitzend, mit dicken Folianten auf den Knien, so in Hitze gerieten, dass er Klopfen an der Türe, Unterbrechungen überhörte, und zuweilen Besuch abwies, um nur mit mir weiter zu disputieren, wenn das vorwitzige ›Frauenzimmerchen‹ irgend etwas Ungeheuerliches gesagt, oder gar Etwas anders deutete als er. […] Ach! Es war mit Steinthal viel heiterer als mit Lazarus!«591 Ihr intensives Studium der hebräischen Sprache führte dazu, dass im November 1885 in der Jüdischen Presse in Berlin ihr Hymnus auf Jerusalem in hebräischer Sprache veröffentlicht wurde. Ohne ihr Wissen sei er abgedruckt worden, »als Beispiel wie eine christliche Autodidaktin es mittels Grammatik und Wörterbuch in der Kenntnis des Hebräischen gebracht habe.«592 Am Ende ihres Hymnus appellierte der Herausgeber an seine jüdischen Leser: »muss uns nicht Schamröte das Gesicht bedecken, wenn eine Christin so schreiben kann,- und unsere jüdischen Frauen und ach! Unsere jüdischen Männer??«593 Ihr Hymnus auf Jerusalem wurde mit großem Interesse angenommen und auch in holländischen sowie französischen jüdischen Zeitungen veröffentlicht.594 1891 veröffentlicht der Rabbiner Salomon Cohn (1822–1902) einen Ausschnitt eines von Remy ihm zur Beurteilung zugesandten hebräischen Schreibens, um seinen jüdischen Leser vor Augen zu führen, dass eine Christin bessere Hebräischkenntnisse besäße als sie.595 Anhand Remys immer wieder verwendeten schriftlichen Notizen auf Hebräisch innerhalb ihrer Tagebücher und Vortragsmanuskripte wird deutlich, dass sie sehr gute hebräische Sprachkenntnisse besaß. Bestätigt wird dies dadurch, dass sie ihren Mann Moritz Lazarus unter anderem bei den Talmud-Recherchen unterstützte, was beweist, dass sie Kenntnisse hatte, die einen Umgang mit der hebräischen Sprache allein mit Hilfe von Wörterbüchern überschritt.596 Lazarus stellte Remy für ihre weiteren Studien aus seiner persönlichen Bibliothek Lexika und wissenschaftliche Literatur zur Verfügung.

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Lazarus-Remy 1927b: 128. Ebd.: 129. Lazarus-Remy 1927b: 111. Ebd. Ebd. S. Kap. IV, 1. Vgl. dazu Cohn 1885: 464. Generell wird anhand Remys verwendeten Quellen innerhalb ihres Buches Das jüdische Weib deutlich, dass sie eine Mehrsprachigkeit besaß, was ihr ein großes Forschungsspektrum ermöglichte. Neben den deutschsprachigen Quellen werden Quellen in Latein, Italienisch, Französisch und Englisch angegeben. Vgl. Kap. II, 1.

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»Nach und nach bereicherte der Gütige meine Bibliothek mit Jean Paul, Rückert u.a., und verschiedenen Bibelausgaben. Später kamen hinzu: Winter und Wünsches Übersetzung des Babylonischen Talmud’s und die prächtigen ›Exegetischen Handbücher zum Alten Testament‹. (Das Herz wird mir warm bei den Namen Smend, Dillmann, F. Hitzig, Olshausen (die Psalmen!) Bertheau, Aug. Knobel!) Letzteres, wohl an 20 Bänden, erhielt ich ›Zum zehnjährigen Jubiläum 13. April 1893‹. Mit Widmung an ›seine Nahida‹«.597 Daneben besuchte sie täglich die Königliche Bibliothek zu Berlin für ihre schriftstellerischen Recherchen, aber nun auch für Quellenstudien in Konkordanzen und biblischen Kommentaren. »Welche stolze Freude, als sie eines Tages von ihrem Meister einen herrlichen Buxtorf598 erhielt, mit der schönen an Schiller erinnernden Zügen geschriebenen Widmung: Seiner lieben Schülerin Nahida! Lazarus.«599 Die intensiven Studien der hebräischen Sprache führten sie zur genaueren Kenntnis der Bibel, sodass sie allmählich keine Befriedigung in ihrer journalistischen Erwerbstätigkeit mehr fand. »Aber die Tagesschriftstellerei befriedigte mich immer weniger, je mehr die hebräischen Studien mich zur genaueren Kenntnis der Bibel führten. Insbesondere erregten ihre Frauengestalten Fragen und Vergleiche an, die mich geradezu beunruhigten.«600

2.2.1 Geheime Romanze zwischen Nahida Remy und dem jüdischen Prof. Moritz Lazarus (1883-1895) Den Namen Moritz Lazarus hatte Nahida Remy bereits vor ihrem persönlichen Kennenlernen im November 1882 gehört. Ihre Schwägerin Marie Remy sprach oft von Professor Moritz Lazarus, der mit ihr im Ausschuss des Viktoria-Lyzeums601 in Berlin saß, und Anna Remy kannte seine Werke, wie beispielsweise Leben der Seele (1876). »Bornemanns rühmten ihn als hervorragenden Redner. Frenzel [s.TL] setzte mir seine Bedeutung als Begründer einer neuen Wissenschaft: ›Völkerpsychologie‹ [Herv. i.O.] auseinander. […] Kletke [s.TL] gar zeigte sich ganz begeistert. Lazarus sei ein ganz bedeutender Charakter; eine Autorität ersten Ranges auf allen Gebieten, den wissenschaftlichen nicht nur, sondern auch den literarischen, künstlerischen, humanitären; er sei die Seele in der Verwaltung unzähliger gemeinnütziger Institute.«602

597 Lazarus-Remy 1927b: 128. 598 Es muss sich hierbei um ein Werk der Baseler Hebraistenfamilie Buxtorf handeln. Vater und Sohn erarbeiteten unter anderem ein Lexicon chaldaicum talmudicum et rabbinicum, das 1640 in Basel erschien. Siehe dazu Smend 2010. 599 Lazarus-Remy 1927b: 105. 600 Lazarus-Remy 1927b: 106. 601 Vgl. ebd.: 101. Das Victoria-Lyzeum wurde in Berlin 1869 von der schottischen Lehrerin Georgina Archer (1827–1882) zur Erweiterung der wissenschaftlichen Bildung von Frauen aus besseren Kreisen gegründet. Am 26. Jan. 1883 schickte Moritz Lazarus Nahida Remy seine Gedächtnisrede auf Miss Georgina Archer mit der persönlichen Anmerkung, dass sie ihm bereits ein Jahr zuvor bei der Lessingfeier (Jan. 1882) aufgefallen sei. 602 Ebd.: 100.

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Sie sei von all dem ganzen Rühmen dieses Mannes »fast beklommen« geworden: »Ihm sollte die bescheidene, kleine Schriftstellerin nahen?«603 Als die beiden sich zum ersten Mal im November 1882 persönlich begegneten, war Remy so überwältigt von Moritz Lazarus, dass sie nur den einen Gedanken behielt: »Welch ein Mensch! Was war denn so Ungewöhnliches? Eine Erscheinung … wie noch nie gesehen; eine Stimme … wie noch nie gehört … eine Vornehmheit in jeder Bewegung; eine Knappheit der Worte, zugleich eine Sanftmut der Rede, mir so neu, so wohltuend … Das gab es also auf dieser Welt?«604 Sie beschreibt in Mein Leben II eine Liebe auf den ersten Blick.605 Instinktiv erfasste sie in kurzer Zeit die wesentlichen Aspekte eines potenziellen Liebespartners, was eine plötzliche physische und psychische Veränderung bei ihr bewirkte: »Äusserlich änderte sich wenig, aber innerlich ward ich eine Andere, Bessere. Früher rastlos bis zur Erschöpfung, legte sich eine eigentümliche Ruhe wie ein heilsamer Balsam auf die Nerven. Keine Hetze mehr! Sammlung. Arbeit! Aber kein Frondienst. – Auch keine Gereiztheit, keine Selbstquälereien. […] Betrübnis, Enttäuschungen zerrten und zehrten nicht mehr an meinem Gemüt. Es leuchtete die Sonne hinein.«606 Sie legte nach eineinhalb Jahren ihre Trauerkleider ab, kleidete sich mit Sorgfalt und empfand ihr Äußeres als verjüngt: »ich sah in den Spiegel und fand mich jung … viel jünger als früher!«607 Die Bildungsbeziehung zwischen Mentor und Schülerin entwickelte sich sehr schnell zu einer innigen Zuneigung zueinander. Moritz Lazarus soll jede Möglichkeit genutzt haben, um ihr unter anderem Lexika, Bücher oder Zeitungen persönlich nach Hause zu bringen. Diese Momente nutzte Remy für intensive Gespräche sowie als Chance, ihm ihre autodidaktischen Fortschritte zu präsentieren. In ihrem Vortrag Warum ich Jüdin wurde (1897) beschreibt sie die damalige Situation: »Unermüdlich war er in Hinweisen, Ratschlägen und Winken, wie ich lernen und wie ich lesen müsse. Unerschöpflich sein Wissen, unermüdlich seine Güte.«608 Am 13. April 1883 überraschte Moritz Lazarus sie mit einem persönlichen Besuch, bei dem sie sich zum ersten Mal küssten. »Denkwürdiges Datum, das mich dreimal im Leben tief erschütterte: am Anfang, auf dem Höhepunkt und am letzten Tage unseres Lebens [Herv. i.O.].«609 Am 13. April gestanden sie einander ihre Liebe, »indem wir unwillkürlich ›du‹ sagten und uns den ersten Kuss gaben!

603 Ebd. 604 Ebd. 605 Vgl. Asendorpf und Neyer 2012: 259ff. Laut einer Speed-Dating Studie von 2009 des Psychologen Jens B. Asendorpf an der Humboldt-Universität zu Berlin sind vor allem ein attraktives Gesicht und eine sympathische Stimme wichtige Auswahlkriterien für einen Partner. Interessanterweise gehörten Religions- und Staatszugehörigkeit nicht dazu. 606 Lazarus-Remy 1927b: 101. 607 Ebd. 608 Lazarus 1897c. 609 Lazarus-Remy 1927b: 103.

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[Herv. i.O.]«610 So begann ein halbes Jahr nach ihrem ersten Kennenlernen (November 1882) ihre heimliche Liebesbeziehung. Die geheim gehaltenen Treffen fanden in Kunstausstellungen und vermehrt im »Pferdebahnwagen«611 statt, ganz flüchtig im Tiergarten oder im Universitätsgarten. Ihre Korrespondenz konnte ebenfalls nur noch mit großer Vorsicht und übermittelt durch Moritz Lazarus’ Studenten erfolgen. Die wenigen Minuten, in denen sie sich täglich sahen, beglückten beide sehr. Nahida Remy notierte dazu: »Kaum zwei Minuten des Zusammenseins! Aber er war allemal beglückt mich zu sehen, mir einige Worte zu sagen, meine Hand zu halten – was wollt ich mehr?«612 So versuchte sie häufig bereits vor Moritz Lazarus in der Pferdebahn zu sein, in der er vom Brandenburgertor aus einzusteigen pflegte, um mit ihr gemeinsam zur Universität zu fahren und so mindestens die zehn Reiseminuten miteinander verbringen zu können. »Er erzählte von seinem Leben613 , fest eingeteilt in wissenschaftliche und humanitäre Pflichten. Auch von seiner Frau sprach er in pietätvoller Achtung.«614 Seine Ehefrau Sarah (s.TL)615 wird von Remy in ihren autobiographischen Werken und Notizen auffällig wenig erwähnt. Es lassen sich zwei wesentliche Stellen ausmachen, aus denen eine ambivalente Sicht auf Sarah Lazarus ersichtlich wird. Zunächst schockiert über die Erkenntnis, dass Sarah Lazarus 25 Jahre älter als Moritz Lazarus gewesen sei, überkam sie gleichzeitig »eine warme Dankbarkeit«616 für seine Ehefrau. Eine Freundin von Zerline Meyer (1812–1894) berichtete Remy von der Eheschließung der fast Fünfzigjährigen mit dem sechsundzwanzigjährigen Moritz Lazarus. Die Eheschließung sei durch die Eltern 1850 beschlossen worden und sollte beiden zum Vorteil dienen. Während die reiche Jungfer, so Zerline Meyer, endlich verheiratet sein würde, erhielt der »blutarme Student« die finanzielle Unterstützung für seine »Wissenschaft und seinen unbegrenzten Hang zum Wohltun«617 . Betroffen über diese Information, reflektiert sie in Mein Leben II: »Aus der Fülle peinlicher Gedanken stieg ein dunkles Mitleid empor … mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart dieses Mannes … und zugleich sänftigte sich mein Gefühl für sie [Herv. i.O]. Hatte sie ihn doch gehalten, gefördert, ihn seiner heissgeliebten Wissenschaft geschenkt!«618 Moritz Lazarus fühlte sich seiner Frau gegenüber, die ihm ein freies und sorgloses Studium 610 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 13.04.1883, Arc.Nr. 01 135. Während Nahida Remy in Mein Leben II von einem Kuss auf ihrem Kopf berichtet, spricht sie in ihrem Tagebuch von einem ersten innigen Kuss auf dem Mund. 611 Ein von Pferden gezogenes Verkehrsmittel, das auf Schienen lief, auch einfach Pferdebahn genannt. 612 Lazarus-Remy 1927b: 130. 613 Ebd.: 108: Er erzählte ihr »von Auerbach, von Rückert, von der Kriegsakademie (an der wir vorbei mussten), vom Kronprinzen, von Clara Schumann, von der Schillerstiftung, von ›seinen‹ vier Alten: Ranke, Zunz, General von Baeyer und Friedrich von Raumer […] Wir lasen gleichzeitig Fontane, der damals in der Vossischen ›Irrungen, Wirrungen‹ [1888] erscheinen liess. Kulturgeschichtliches fiel immer nebenbei ab: oft nur kurze Sätze, die aber blitzähnlich den Pfad zeigten, auf dem ich weiter forschen konnte.« 614 Ebd.: 103. 615 Sarah Lazarus, geb. Lebenheim (1819–1894), Vgl. Natorp 1985: 12. 616 Lazarus-Remy 1927b: 102: Nach Remys Angaben müsste Sarah Lazarus, geb. Lebenheim um 1800 geboren worden sein. 617 Ebd. 618 Ebd.

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ermöglicht hatte und nun schwer krank war, verpflichtet, sodass er sie nicht verletzen oder gar verlassen wollte. »Sarah hätte seine Mutter sein können, aber sie erschien jugendlicher als sie war und ihre Neigung zu ihm, machte sie liebenswürdig. Freilich, bald gingen die Ärzte ein und aus; oft habe ihre Wohnung einem Hospital geglichen, denn ihre Leiden verlangten schwere operative Eingriffe und vielerlei Vorrichtungen und Hilfskräfte.«619 Während Moritz Lazarus im August 1884 wegen seines Werks Ethik des Judentums nach England reisen musste, verbrachte Remy die Zeit allein in Paris. »So überwältigend reich die Tage erfüllt waren- keine Minute, dass ich nicht alles in Gedanken an ihn [Herv. i.O.] genossen hätte! Nicht das Geringste, das ich nicht mit ihm geteilt hätte … Sein Bild war mir stets zur Seite, kein Schritt, kein Blick ohne ihn … und immer heiter, immer zufrieden, dass ›Hidde‹620 trotz allem Buntbewegten allein für ihn sah, lernte, lebte! – Seltsam: keine Erinnerung, wann wir uns wiedersahen. Getrennt empfanden wir unsere Zusammengehörigkeit viel intensiver, als da wir leiblich uns gegenüberstanden, da herrschten immer Schatten der Sorge, der Flüchtigkeit, des Auseinandergehens … In der wirklichen Trennung fiel das alles weg und das beglückende Spiel der Phantasie zauberte uns nur völliges Eins-Sein vor.«621 Sie verbrachten mehrere Jahre, die sie nach Moritz Lazarus’ Grundsatz verlebten: »Nur das Gute festhalten, über Böses und Quälendes linde hinweggehen. Dies blieb mein Leitstern. Auch das Böse ward zum Guten; in dem es uns immer mehr prüfte und festigte. Prüfung läutert, Schmerz vertieft, und über Allem glänzt – die Hoffnung! [Herv. i.O.]«622 Ihre geheime Liebesbeziehung blieb allerdings in den zwölf Jahren von engen Freunden, Familienangehörigen und Remys Mutter nicht unbemerkt. So äußerte ihre Schwägerin Anna Remy eines Tages ihre Bedenken wegen der Leipziger Reisen: »Sage mir die Wahrheit […] Warum fährst du so oft nach Leipzig? – Um ein Werk zu vollenden, zu dem hier keine Zeit bleibt und keine Materialen vorhanden sind. – Mit wem verkehrst du dort? – Hauptsächlich mit Lazarus der mir dies Werk diktiert und mich darauf bezüglich Briefe, Dokumente, Zeitungsausschnitte, Notizen, u.s.w. abschreiben lässt. – Honoriert er dich? – Mit Geld nicht, Anning, aber mit Lebensweisheit. […] lachend […] lief ich zum Koffer, öffnete ihn, nahm die obenauf liegende Manuscriptrolle heraus und zeigte sie Anna. Sieh her, über 100 enggeschriebene Seiten …wer weiss, wann das veröffentlicht, wird … aber diese Arbeit gehört zum Besten meines Lebens. Sie nahm das starke Manuscript blätterte darin, schüttelte staunend den Kopf und gab es mir endlich mit einer Art Feierlichkeit zurück. Dann seufzte sie, wie erleichtert auf,

619 Ebd.: 103. 620 Ebd.: Moritz Lazarus begann sie liebevoll »Hidde« zu nennen. Lazarus-Remy um 1927b: 127: Weitere liebevolle Benennungen waren »Sonne seines Daseins«. Oder in: ebd.: 130: Er »nannte mich den Anker, der allein ihn noch am Leben hält.« 621 Ebd.: 107. 622 Ebd.: 108.

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küsste mich und murmelte: Gott segne dich. […] Trotzdem – Mäuschen! sei vorsichtig.«623 Auch von Sturmhoefel d.Ä. wurde Remys intensive Beziehung zum verheirateten Moritz Lazarus skeptisch beurteilt. »Mama sympatisierte zu wenig mit Lazarus«624 , was sie dem Paar in unterschiedlichen Situationen zu spüren gab. Als sie beispielsweise ihre Mutter, die nun in Desenzano in Italien lebte, für geplante vier Wochen besuchen wollte, war Moritz Lazarus von der dann doch längeren Abwesenheit von sechs Monaten nicht sonderlich angetan. Sturmhoefel d.Ä. schrieb am 14. Dezember 1886 an Moritz Lazarus, »dass sie Nahida nicht fortlasse. […] Er zürnte nicht, aber er war trübe gestimmt und hoffte noch immer, auf mein Kommen. […] Er litt, ich litt – und doch konnte ich Mutterchens Drängen, dazubleiben, nicht widerstehen!«625 Dass Remy Monate länger bei ihrer Mutter blieb, als zwischen den beiden abgesprochen, missfiel ihm so sehr, dass er bei ihrem nächsten Besuch ihrer Mutter auf Remys »heilige[m] Wort« bestand, »nicht wieder wegzubleiben, sondern zu kommen, wenn er sie ruft«626 . Als Sturmhoefel d.Ä. im Mai 1887 ihre Tochter in Berlin besuchte, kam es immer wieder zu unangenehmen Diskussionen zwischen ihnen über die heimliche Beziehung zu Moritz Lazarus. So »erschreckte und peinigte [sie] mich mit ihrer Idee, dass er meine Zukunft sichern müsse.«627 Für sie war dies eine absurde Vorstellung, denn sie sei doch gesund, erwerbsfähig und ihre Zukunft liege in Gottes Hand.628 Als Remy beabsichtigte, im Juli 1889 erneut ihre Mutter für zwei Monate zu besuchen, erhielt sie am 31. Mai 1889 einen ergreifenden Brief von Lazarus, in dem er seine innige Zuneigung zu ihr formulierte: »Er schildert mir seine innere, verborgene Qual, dass er mich noch immer nicht sein eigen nennt. Meine Antwort lautete kurz: wenn innere Unzufriedenheit uns das Leben kürzte … wären wir nicht viel unglücklicher? Also: Muth! Denn wir sind, trotz Allem was noch fehlt, doch gottbegnadete Menschen!«629 Nach dem Aufenthalt bei der Mutter erwartete Lazarus Remy in seiner Eigentumswohnung in Leipzig, wo sie ebenfalls ein Zimmer für sich erhielt. Da er selbst wegen Zeitmangels seine Autobiografie nicht verschriftlichen konnte, bot es sich an, dass Remy diese schrieb. Zum einen fühlte sie sich dazu berufen und zum anderen konnte das heimliche Paar somit seine gemeinsam verbrachte Zeit plausibel erklären. Sie konnte ihren Geliebten in Leipzig, wenn er dort geschäftlich verweilte, unauffällig besuchen, damit er ihr seine Autobiografie Lebenserinnerungen, beginnend vom armen jüdischen Jungen bis zum Begründer der Völkerpsychologie, diktierte. »Auf ein dreitägiges Retourbillet reiste ich alle Vierteljahr nach Leipzig, aber diese zwei – drei Tage genügten, um etwa fünf Seiten eng zu beschreiben. Es ging alles gut. In

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Lazarus-Remy um 1927b: 127. Ebd.: 113. Ebd.: 114. Remy blieb bei ihrer Mutter vom 23. Oktober 1886 bis zum 6. März 1887. Ebd.: 118. Ebd.: 117. Ebd. Ebd.: 119.

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den Geschäftsstunden, wenn sein langjähriger Buchhalter im ersten Zimmer arbeitete und Leute empfing und abfertigte, lagen im Nebenzimmer bereits alle Schreibmaterialien und Bleistiftnotizen bereit, die Lazarus auf- und abgehend, erläuterte und mir dann diktierte. Roch kam zwar alle Augenblicke herein, aber das störte uns wenig.«630 In den Stunden, in denen er ihr nicht diktierte, schrieb sie an ihrem ersten kulturhistorischen Roman Geheime Gewalten (1890). Dafür besuchte sie auch die Stadtbibliothek in Berlin, wo sie unter anderem die Jahrgänge der Augsburger Allgemeinen Zeitung durchstöberte, um zu Schilderungen über König Ludwig I. von Bayern (1786–1868) und die Künstler, »die in Rom eine Art Kolonie bildeten«631 , zu recherchieren. Die ständigen Treffen blieben allerdings nicht unbemerkt. Dass eine unverheiratete Frau so viel Zeit mit einem verheirateten Mann verbrachte, erregte bald Aufsehen. Sie musste sich nun darum bemühen, so wenig wie möglich ins Gerede zu kommen, und bewohnte von da an ein kleines Zimmer eines freundlichen Ehepaares. »Lieb wurde mir mein Stübchen beim Hausbesorger. Ich musste zwar durch Küche und Schlafzimmer des Ehepaares hindurchgehen, aber das war mir gerade recht. So hatte ich nicht nur Bedienung sondern auch Aufsicht … mir wichtig wegen unliebsamen Gerede der Leute.«632 Lazarus’ Schwager Heymann Steinthal wurde mit seiner Frau Jeanette Steinthal633 und Tochter Irene zum vertrauten Freundeskreis des Paares, wo sich beide ungezwungen zeigen konnten. 1889 wurde Remy zum gemeinsamen Urlaub mit dem Ehepaar Steinthal nach Pontresina eingeladen. Allerdings reiste sie zur Wahrung des Scheins vorzeitig hin und übernahm als Lazarus’ Zuarbeiterin die Quartiersuche sowie die tägliche Zubereitung des Frühstücks. Die Familie Steinthal und Lazarus wohnten im Hotel Steinbock, während sie selbst in einem kleinen und günstigeren Stübchen des Nebengebäudes übernachtete. Trotzdem genoss das Paar seine gemeinsame Zeit, in der sie tagsüber umher spazierten oder an Lazarus’ Lebenserinnerungen weiterarbeiteten. Sie genossen die gemeinsamen Urlaube und wurden immer mutiger, indem sie gemeinsam anreisten und sogar dasselbe Hotel bewohnten. 1892 verbrachten alle gemeinsam den Oktober in Wiesbaden, wo sie im gleichen Hotel Bellevue wie Lazarus übernachtete. »Tür an Tür mit ihm zu leben, ihn täglich sehen; das war ja ein Glückliches!«634 Sie seien jedoch immer alle zusammen gewesen, nie sei sie mit Moritz Lazarus allein gewesen: »Wozu auch? Sahen wir uns nicht täglich? Atmeten dieselbe Luft?«635 Ein Jahr darauf verbrachten die Freunde den Sommer (August 1893) in Herrenalb im Schwarzwald. Zunächst begann der Urlaub mit dem üblichen »idyllischen Zusammenleben«636 , was sich jedoch bald ändern sollte. Als am Ende ihres Urlaubes Lazarus ältere Schwester Amalie Saller, geb. Lazarus (1836–1911) mit ihrem Mann Sigmund Saller (1822–1907) zu Besuch nach Herrenalb kam,

630 Lazarus-Remy 1927b: 127. 631 Ebd.: 130. 1911 beabsichtigte Nahida Ruth Lazarus ihr Werk ins Italienische zu übersetzen, was allerdings nie veröffentlicht wurde. 632 Ebd.: 127. 633 Jeanette (Nette) Steinthal, geb. Lazarus (1840–1925), war eine Schwester von Moritz Lazarus. 634 Lazarus-Remy 1927b: 139. 635 Ebd. 636 Lazarus-Remy 1927b: 145.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

bat Nette Steinthal Remy um eine Lüge bezüglich ihrer Ankunft. Sie solle vorgeben, dass sie erst später allein angekommen sei: »Lügen? So ohneweiteres, als wäre das das selbstverständlichste Ding auf der Welt? Peinlich betroffen, ohne recht einen Gedanken zu fassen, ging ich vollends hinunter, in den Garten an den Tisch, wo die Begrüssung stattfand. Kaum hatte ich mich gesetzt als ›Malchen‹ schon fragte, wie ich denn gereist wäre? Wann? Mit wem? Ich brachte nur das eine Wort heraus: Zusammen! Es war mir ganz unmöglich zu lügen. Warum hatte man mich in diese Zwangslage gebracht? [Herv. i.O.] – Sallers sassen stumm, wie auf den Mund geschlagen, Lazarus blickte in seine Zeitung, Irene entfernte sich und Steinthal – Steinthal! Der in seiner ›Allgemeinen Ethik‹ die Unmoralität der Lüge an den Pranger stellt und Wahrhaftigkeit ›in allen Lebenslagen‹ als Grundbedingung für den Verkehr der Menschen untereinander fordert, – also Steinthal log auch? Und Irene? Und Frau Brosins, unsere Wirtin, und alle Bekannte, die uns zusammen im Krugs Wagen hatten ankommen sehen – alle sollten gelegentlich in diese Lügerei miteinstimmen? Und warum diese Verheimlichung? Unsere Jahrzehnte lange Freundschaft war ja bekannt, und dass Steinthals mich allmählich wie zur Familie rechneten. Warum sollten wir nicht zusammen reisen? Nun wars doch geschehen, wars Tatsache! – Hätte man aufrichtig mir angedeutet, dass unsere Intimität für Frau Sarah immer noch ein Geheimnis sei, dass sie eifersüchtig Lazarus das Leben durch Vorwürfe schwer machen würde, dass deshalb Sallers, die den Mund nicht halten könnten, auch nichts wissen dürften, ich wäre daheim geblieben, aber mich vertrauensselig mitreisen lassen und dann mit der Zumutung einer Lüge zu überrumpeln – nein, das ging nicht an!«637 Daraufhin herrschte Schweigen und kühle Distanz zwischen den Freunden. »Man mochte mir nicht mehr in Augen blicken und sah es mir wohl an, dass man in meinem Vertrauen gesunken war.«638 Den restlichen Urlaub gingen sie sich aus dem Weg und wieder in Berlin zurückgekehrt, blieb der Kontakt zu Steinthals weiterhin unterkühlt.639 Die heimliche Beziehung belastete Remy immer mehr, sie wollte endlich die Anerkennung erhalten, die ihr als Frau an seiner Seite zustand. Bei einem ihrer gemeinsamen öffentlichen Auftritte bei einem Vortrag von Lazarus in Braunschweig, wo sie an der Festtafel neben ihm einen Platz hatte, schilderte sie ihre immer stärker werdende Abneigung gegenüber der Verheimlichung: »Ich teilte die allgemeine Gehobenheit der Stimmung nicht, denn ich empfand zu tief die Unnatur unseres beiderseitigen konventionellen Benehmens. Als dann unter anderem auch der Übersetzer der Psalmen Spanier-Herford auf mich toastete, war es mir eine Genugtuung wenigstens eine [Herv. i.O.] Wahrheit öffentlich bekennen zu dürfen: dass ich das nicht geworden wäre, was Spanier an mir rühmte, wenn Lazarus nicht mein Lehrer und Führer gewesen wäre.«640 637 Ebd.: 145f. 638 Ebd.: 146. 639 Ebd.: »Aber schmollen ist gebildeten Menschen unwürdig: so ging ich zu Herbstanfang zu ihnen […] ›Väterchen‹ war harmlos, schien Herrenalb vergessen zu haben, aber Nette redete mich kalt und förmlich mit Frau Doktor an und Irene war angeblich ausgegangen.« 640 Ebd.: 148.

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Die Jahre vergingen und beide konnten sich immer noch nicht öffentlich nahe sein, obwohl der Wunsch danach immer stärker wurde: »Doch waren wir nicht darauf vorbereitet gewesen? Hatten wir uns nicht Geduld und Treue gelobt … bis in den Tod? Aber es bedurfte der Kraft dazu [Herv. i.O.] – der seelischen und der körperlichen.«641 Allerdings sei vor allem Lazarus durch seine finanziellen Sorgen sowie die vierteljährlichen Geschäftsfahrten völlig ermattet und kraftlos gewesen.642 Durch unglückliche Umstände bezüglich seiner Immobilien und Grundstücke in Leipzig geriet er immer mehr in finanzielle Not. »Vor sein grossartiges Mietshaus am schönsten Teil der Promenade wurde dicht vor der Facade die Börse hingebaut, so dass in der nun verengten und verdunkelten Strasse alle Mieter kündigten und das palastähnliche Gebäude nicht einmal mehr als Magazinniederlage verwertet werden konnte; dann, dass bei dem unerwarteten Tode Czermak’s (das Lazarus engbefreundete Ehepaar hatte versprochen, ihm nie eine gewisse Hypothek zu kündigen) der Vormund der minorennen Kinder dennoch diese Hypothek kündigte, und der Rückgang der Leipziger Messe.«643 Lazarus verkaufte daraufhin sein liebgewonnenes kleines Grundstück, den Park in Schönefeld, an den Bauunternehmer Lehmann, der darauf einige Villen bauen lassen wollte. Es ergab sich jedoch das Problem, dass das Grundstück noch eine weitere Grundbesitzerin hatte, die mit ihrem Vorkaufsrecht die Bebauung zu verhindern erstrebte. »Ihr Rechtsanwalt hinderte die Parzellierung und Lehmann wollte Lazarus zwingen den Kauf rückgängig zu machen. Seit Jahren wurde hin- und herverhandelt, ohne eine Einigung zu erzielen.«644 Erst Jahre später wurde eine Einigung erzielt, jedoch mit großem finanziellem Verlust für Lazarus. Im Juli 1893 kam Lazarus’ unverheiratete Schwester Ernestine Lazarus zu Remy, um bei ihr um etwas Geld zu bitten. Durch die Freundschaft, die beide Frauen miteinander verband, vertraute Ernestine Lazarus ihr bekümmert an, dass Lazarus’ kranke Ehefrau Sarah Lazarus sich nur pflegen ließe und sich nicht für den Haushalt interessiere.645 Obwohl Ernestine Lazarus bereits seit 40 Jahren den Haushalt von Sarah Lazarus völlig allein führte, unterstützte diese sie noch nicht einmal mit genügendem Wirtschaftsgeld. »Nun habe sie (Ernestine Lazarus) Schulden gemacht, … übrigens spiele das schon seit 40 Jahren so und sie wäre längst davon gegangen, doch bleibe sie aus Mitleid für den Bruder, denn was würde aus der Wirtschaft?«646 Geschockt befragte Remy ihn darüber und »er schwieg. […] Seine Sorgen rissen mich einmal hin, auszurufen, dass er jährlich mehrere Tausende sparen, Schulden bezahlen, Zinsen abtragen könne, wenn er seinen kostspieligen Berliner Haushalt aufgäbe, und in Leipzig und Schönefeld lebte.«647 Diesen Vorschlag wehrte er ausdrücklich ab, da seine Frau an 641 642 643 644 645 646 647

Lazarus-Remy 1927b: 128. Ebd. Ebd. Ebd.: 130. Ebd.: 131. Ebd. Ebd. Sie schrieb an Moritz Lazarus in: The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch, Arc.Nr. 01 135: »Ich stehe vor einem Rätsel. Alles soll zu grunde gehen, deine Stimmung, dein Muth, deine Gesundheit, deine Arbeitskraft, aber es wird auf grossem Fuss weiterge-

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

das gesellschaftliche Leben am Königsplatz in Berlin gewöhnt sei. Woraufhin sie entrüstet bemerkte: »Ach so! Die Frau eines Lazarus würde sich langweilen. Er unterbrach mich leidenschaftlich: Ja, wenn sie wäre, wie du!! [Herv. i.O.]«648 Ergriffen von seiner Ergebenheit und Treue gegenüber seiner kranken Frau und seiner großen Sorgenlast,649 bot sie ihm ihre Ersparnisse an, um seine Geldsorgen in den Griff zu bekommen. »Ich wagte es ihm mein kleines Vermögen anzubieten und war glücklich als er nicht nein sagte.«650 Ihre Bedenken unterdrückend, übergab Remy am 20. Februar 1893 von ihren 5500 Gulden Ersparnisse 5300 Gulden an Lazarus ab.651 Auch ihren letzten Lohn von 500 Mark, den sie vom Verleger Carl Friedrich Wilhelm Duncker (1781–1869) als Anzahlung für ihr Werk Culurstudien über das Judentum (1893) erhielt, schickte sie sofort an Lazarus weiter.652 In all den Jahren hielt das heimliche Paar stets zusammen: »ein grenzenloses Vertrauen, ein heiliger Glaube umschloss uns wie ein unsichtbarer Panzer und hielt uns aufrecht, unversehrt. Nie ein Zweifel, ein Zwiespalt zwischen uns! – Meinen Gedanken drückte er aus, als er schrieb: Ich lebe immer mit dir. Ich glaube wir haben nur Eine Seele [Herv. i.O.]; darum strebt immer mein Halbes zum Ganzen.«653

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lebt, als wisse man nicht wohin mit seinem Geld. Und so werden auch die Leute reden und dass ist schlimmer, als wenn es heisst, der arme Professor! Nun muss er sich einschränken und war doch so reich! Verzeih. dass ich diese unmutigen Bemerkungen nicht unterdrückte, mein Heissgeliebter. […] Die Unzufriedenheit Dr. [Sarahs] über das dann viell. Bescheidenere Leben in L. oder Sch. Oder sonst wo, kann unmöglich so deine Nervenkraft aufzehren, wie es die verheimlichte Sorgenqual, mit dem jahrelangen Grübeln und dem Märtyrertum, das du auf dich geladen. Aber Dr. [Sarah] geht eben Allem vor. Sie ahnt nicht, was ihre Pflicht ist. [Herv. i.O.]« Lazarus-Remy 1927b: 131. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 04.07.1892, Arc.Nr. 01 135: »Denn was lastet auf ihn! – Diese Geldsorgen Jahr aus Jahr ein! […] Und nun noch obendrein der tiefe-traurige Zwiespalt in seinem Bunde mit mir – die Entsagung, Qual der Heuchelei und Verheimlichung – - und endlich sein körperliches Leiden.« Lazarus-Remy 1927b: 145. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 04.02.1893, Arc.Nr. 01 135: »Ich werde viell. ein schweres pecuniäres Opfer bringen, ich habe es schon angeboten […] Thue ich Recht? Ich entäussere mich des grössten Teils meines kl. Vermögens und gebe dadurch wieder meine Zukunft der Unsicherheit! Ach!! Viell. der vielgefürchteten Abhängigkeit Preis – - aber kann ich anders? Ist es nicht ganz selbstverständlich, dass ich meinem Herzensdrange folge, dem geliebtesten Menschen auf der Welt zu helfen, so wie ich kann?« Insgesamt hatte sie ihm umgerechnet ca. 69.800 € gegeben (Gulden 1:6; Mark 1:10. Vgl. Maus 2013: 39.). Lazarus-Remy 1927b: 134. Vgl. auch The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 05.01.1924, Arc.Nr. 01 134: Am 5. Jan. 1924 machte sie bei einer abermaligen Durchsicht von Moritz Lazarus’ Papieren »eine merkwürdige Entdeckung […]! Lazarus hat ›während der leidigen Trennung‹, am Tage da ich meinen ersten Vortrag in Berlin über ›Gebet in Bibel und Talmud‹ hielt – in Gedanken an mich das Hohelied übersetzt (wohl angefangen zu übersetzen) wie er auf dem Widmungsblatt ›seiner geliebten Nahida‹ schr. Und unterzeichnete, und mir dieses Heft nie gezeigt! Heute finde ich es! Ich war so gerührt, dass ich nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Dann ging ich an den Ofen und wollte das Heft verbrennen, denn es könnte zu Missdeutungen Anlass geben … auch enthielt es einige zu starke Ausdrücke. Ich sah ins Feuer – sah auf die Blätter – seine Handschrift! Sein Name! – - ich hatte nicht den Mut! Ich legte es wieder zurück

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Indessen kränkelte Lazarus’ Frau immer mehr und die Ärzte waren bemüht um das Leben der nun fast Neunzigjährigen. Als Remy Ende März 1894 von ihrer Vortragsreise (s.Kap. I, 2.2.3) wieder nach Berlin zurückkehrte, wurde sie durch die Berliner Blätter vom 31. März 1894 über den Tod von Sarah Lazarus informiert. Erst nach der Beerdigung trafen sie sich erneut heimlich, um die nun neu entstandene Lebensperspektive zu besprechen. Sie waren sich beide sofort einig, dass sie ihre geheime Liebesbeziehung nun öffentlich machen wollten. Allerdings bestand Lazarus darauf, das Todesjahr seiner verstorbenen Ehefrau einzuhalten und somit auf ein Wiedersehen mit Remy in der Zeit zu verzichten. Sie hielt seine Worte in Mein Leben II fest: »Hidde […] Unsere Zukunft – unsere – hörst du? – ist uns längst klar, aber wir wollen für dieses Jahr – Programm machen.«654 Er habe vor, seinen Wohnsitz in Berlin aufzugeben und sich nach Leipzig zurückzuziehen, um sich in dem Trauerjahr völlig seinem Werk Ethik des Judenthums widmen zu können. Nach dem Trauerjahr aber sollte dann die ersehnte Eheschließung im April 1895 stattfinden. Remy akzeptierte seinen Wunsch und erklärte sich mit allem einverstanden: »Also einverstanden mit Allem? – Mit Allem. Gott wird uns helfen, dass wir erleben, was wir ersehnen.«655 Durch ihre Zusage sei Lazarus wie verwandelt gewesen: »Er witterte Freiheit, Jugend, Erfüllung … Erhobenen Hauptes ging er jetzt einher. Sein wiegender Gang, der früher den Eindruck des Unsicheren, erschien jetzt wie ein heiteres Sich-gehen-lassen [sic!] bei wiedergewonnenem seelischem Gleichgewicht.«656 Er habe mit ihr nicht bloß eine Gefährtin, sondern auch eine Gehilfin bei seinen Werken gewonnen. Im Mai 1894 verließ Lazarus Berlin und bezog nun seinen Hauptwohnsitz in Leipzig. Täglich hielt das heimliche Brautpaar brieflichen Kontakt. Sie zitiert in Mein Leben II die unterschiedlichsten Liebesbekundungen zwischen den beiden, wie beispielsweise: »Ich sollte raten, was er von mir sei? – Die ungewohnte Fassung des Satzes verwirrte. Endlich verriet er es: ›entzückt!!‹ [Herv. i.O.] – dick unterstrichen, mit zwei mächtigen Ausrufungszeichen. Ein andermal: Ich sollte raten, was er sei? Ich riet: geliebt, verliebt, ›das sei doch selbstverständlich‹, antwortete er und bekannte im nächsten Brief: ›Ein Junge sei er, ein braaaaaaver [sic!]‹ – und er habe diesen Satz im Schönefelder Park laut in Wonne und Weh hinausgebrüllt! [Herv. i.O.]«657

2.2.2 Publikationen mit kulturhistorischer Perspektive Seit dem Tod ihres ersten Mannes Max Remy (1881) nahm sie sich Zeit für kulturhistorische Studien, die ihrem persönlichen Interesse entsprachen. Geprägt durch ihre Kindheit in einem fremden Land (s.Kap. I, 1.1) entwickelte sie ein besonderes Interesse für unterschiedliche Kulturen (Werte, Normen, Symbole, Sprache) mit ihren Lebensweisen und religiösen Vollzügen. Auch die Emanzipation des deutschen Bürgertums wurde von ihr genauer betrachtet und in unterschiedlichen fiktionalen Werken kulturhistorisch aufgearbeitet. So wurde beispielsweise ihr Schauspiel Nationale Gegensätze (1884)

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in das Konvolut: ›Zur Bibelkunde‹. Mag ein Anderer es einst vernichten. O, Gott, wie haben wir uns geliebt! Mein Mann! Mein Popp! [Herv. i.O.]« Lazarus-Remy 1927b: 149. Ebd. Ebd.: 150. Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

wegen der »politischen Tendenz«658 von jeglicher Aufführung ausgeschlossen. Anhand der Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Juden Ewald und einer ungarischen Christin Illona thematisiert Remy übergreifende nationale sowie religiöse Vorurteile. Es handelt sich um eine Kritik an fanatischem Patriotismus und religiöser Intoleranz. Die fiktionale Liebesbeziehung zeigte beispielhaft, dass die bürgerliche Emanzipation im Idealfall die Entscheidungsfreiheit zwischen Konversion oder Mischehe zur Folge haben könnte. Im Gegensatz zur Realität, in der die bürgerliche Emanzipation keine deutsch-jüdische Toleranz garantierte, provozierte sie gerade mit der liberalen Haltung ihrer Stücke. Ihre Hoffnung bestand darin, dass ihre provokativen Stücke bei einer Veränderung der politischen und sozialen Lage doch wieder entdeckt und veröffentlicht werden: »Vielleicht werden diese nach meinem Tode ›entdeckt‹ und mein, irgendwo schwebender Geist sieht sie sich gemächlich von oben an.«659 Als ihre Sizilianischen Novellen (1886) 1890 erneut unter dem Titel Heißes Blut erschienen, wurde auch Lazarus’ Schwager und Freund Heymann Steinthal (s.TL) durch »die ausserordenlich günstigen Besprechungen«660 auf Remys Werk aufmerksam. Von ihr und ihrem Werk positiv angetan, schrieb er in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums661 (AZJ) eine ausführliche positive Besprechung: »Nahida Remy vereint einen starken männlichen Geist mit zartem weiblichem Empfinden. Ihre Sizilianische Novellen zeigen eine so tiefe Kenntnis des südlichen Volkscharakters, eine so männliche Auffassungs- und Gestaltungskraft«662 . Das immer wiederkehrende Insistieren auf ihrem »männlichen Geist«663 verunsicherte Nahida Remy. Als ihr später erschienenes Werk Das jüdische Weib664 (1891) im Wochenblatt Neuer Evangelischer Gemeindebote665 als ein Werk voll des »Hauch[es] edelster und idealster Weiblichkeit«666 angepriesen wird, war sie erleichtert und stolz, »denn, wenn man so oft meinen ›männlichen Geist‹ rühmte, war mir etwas bange. Nur nicht über die Gelehrsamkeit die Weiblichkeit verlieren!«667 Trotz der zahlreichen positiven Besprechungen wurde ihr fiktionales Werk Heißes Blut zu ihrer Enttäuschung kaum verkauft und später nicht mehr beachtet. Ihre kulturhistorischen Studien zum Judentum kommen in ihrem großen zweibändigen Roman Geheime Gewalten (1890) über eine jüdische Familiengeschichte zum 658 659 660 661

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Ebd.: 130. Lazarus-Remy 1927b: 130. Ebd.: 128. Die Allgemeine Zeitung des Judentums ist ein unparteiisches Organ für alles von jüdischem Interesse (1837–1922). Herausgeber waren u.a. der Rabbiner Ludwig Philippson (1811–1889) und der Literaturhistoriker und Publizist Gustav Karpeles (1848–1909). Siehe dazu Compact Memory 2018: »Bis 1870/71 stehen die Vollendung der Emanzipation sowie die innerjüdische Reform im Zentrum, danach der Kampf gegen den Antisemitismus. Unter Karpeles (1890–1909) weitet sich der Blick nach Osten, während sich in der Ära Geiger (1909–1919) das Interesse auf eine antizionistische und antiorthodoxe Position verengt.« Lazarus-Remy 1927b: 128. Ebd.: 131. Einer intensiven Betrachtung ihres ersten populärwissenschaftlichen Werkes ist das gesamte II. Kap. dieser Arbeit gewidmet. Neuer Evangelischer Gemeindebote. Herausgegeben von Prediger Rhode in Berlin. N.N. 1891d. Lazarus-Remy 1927b: 131.

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Tragen. Das ausführlich geschilderte Familienschicksal erinnert an mittelalterliche Zustände, obwohl die Handlung selbst in den Jahren 1828 bis 1830 spielt. »Ihre Figuren, ihre Scenen, ihre Auffassung der römischen Landschaft, der römischen Kirche, deren Schattenseiten sie scharf hervorhebt, des Judenthums, der Kunst wie der Liebe, sind auf das Idealistische gestimmt.«668 Der zweibändige religions- und kulturhistorische Roman greift anhand einer Liebesgeschichte vor allem das kritische Thema des Aufeinandertreffens zweier Kulturen und somit das Problem der Interkulturalität auf.669 Motiviert durch zeitgeschichtliche Tatsachen berichtet Remy darin über einen Christen, der zum Judentum konvertierte. Mit umfassendem historischen Hintergrundwissen und ihrer Sensibilität für kritische Themen zeigt sie in diesem Werk eine Möglichkeit des christlich-jüdischen Gesprächs, der Freundschaft untereinander und sogar der interreligiösen Eheschließung zwischen Juden und Christen auf, und das in einer Zeit, in der Antisemitismus bereits vorherrschend war. Die kulturhistorische Bedeutung des Werkes sei, schreibt sie im Rückblick, von bekannten Männern wie dem deutschen Historiker Karl Peter Wilhelm Maurenbrecher (1838–1892) und dem lutherischen Theologen Friedrich Nippold (1838–1918) wohlwollend anerkannt worden.670 Ihr Roman kann durch die Handlung, die im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts während des Pontifikats der drei Päpste Leo XII (von 1823–1829), Pius VIII (von 1829–1830) und Gregor XVI (1831–1846) spielt, auch als ein kirchengeschichtliches Kompendium angesehen werden. Trotz der guten Besprechungen und dem zahlreichen Verkauf habe das Werk nur mäßigen Erfolg beim Publikum gehabt: »Die Verleger interessieren sich nicht dafür und taten nichts zu ihrer Verbreitung. Es benahm mir die Stimmung zu weiteren dichterischen Produktionen und zwang mich zu biblischen und hebräischen Studien.«671 Remy erkannte, dass ihre belletristischen Werke durch die darin enthaltene Gesellschaftsund Sozialkritik bei den zumeist christlichen Verlegern nicht gern gesehen wurden. Um ihre Meinung weiterhin publizieren und einen größeren Leserkreis erreichen zu können, musste sie das literarische Genre wechseln. Unterstützt von Lazarus konzentrierte sie sich auf ihr Studium des Judentums und der Juden und versuchte sich nun als Autorin von populärwissenschaftlichen Werken. Neun Jahre später notierte sie in ihrem Tagebuch: »Ich bin 50 Jahre geworden, – mein Herz ist so jung, wie je! – aber ich fürchte, dass ich rein Poetisches nicht mehr werde schaffen können, damit bei dem Mangel an Interesse und Erfolg beim Publicum – (es kennt mich nicht als Dichterin der Sicilianischen

668 Karl Wilhelm Theodor Frenzel (1827–1914) war Romanschriftsteller und Theaterkritiker und schrieb eine Rezension zum Roman Geheime Gewalten. Siehe dazu Frenzel 1890. Eine Kopie ist enthalten in: The National Library of Israel, Department of Archives: Biographisches, Arc.Nr. 01 138.1. 669 Zu jüdisch-christlicher Liebe und Ehe in der fiktionalen Literatur des 19. und 20. Jh.s siehe Ernst 2000. Zur Mischehe in der Realität siehe Meiring 1998. 670 Lazarus-Remy 1927b: 131. Ihr Roman wurde sehr gut besprochen. Unter anderem erhielt sie vom deutschen Dichter Heinrich Friedrich Adolf Brieger (1832–1912) sowie vom Naturwissenschaftler Prof. Dr. Ludwig Weis (1830–1913) ausführliche »wissenschaftliche Rezensionen«. Vorzufinden in: The National Library of Israel, Department of Archives: Biographisches, Arc.Nr. 01 138.1. 671 Lazarus-Remy 1927b: 131.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Novellen, der Geheime Gewalten, der Dramen etc. sondern nur als Verfasserin des ›Jüdischen Weibes‹ -) der Trieb, der Aufschwung, die Erfindungsfreudigkeit fehlt – nicht die Arbeitslust, die Schöpfungskraft, – die leben so mächtig in mir, dass ich oft nicht schlafen kann, vor Schaffenslust und geistigem Thätigkeitstrieb; – aber ich fürchte, ich werde meinen Phantasiegestalten ade sagen und mich auf Sachliches beschränken; denn arbeiten muss ich. [Herv. i.O.]«672 Als der christliche Verleger W. Malende aus Leipzig zunächst den jüdischen Professor Moritz Lazarus bat, ein Werk über das Jüdische Weib zu schreiben, lehnte dieser aufgrund seiner umfangreichen Tätigkeiten als Universitätslehrer und Publizist ab. Er schlug allerdings Remy als Autorin des geplanten kulturhistorischen Werkes vor, was Malende annahm. Sie nahm jedoch das Angebot des Verlegers nur unter der Bedingung an, dass Moritz Lazarus sie dabei betreuen und ihr Manuskript Korrektur lesen solle. Lazarus stimmte zu und sie legte all ihre Konzentration in die neue Aufgabe. So konnte sie ihre zehnjährigen Studien über das Judentum endlich in dem Werk Das jüdische Weib (1891) verarbeiten, in dem sie unter anderem die Schuld für den modernen Judenhass, der keine Neuerung des 19. Jahrhunderts darstelle, christlichen Institutionen zuweist.673 Durch ihre intensive Beschäftigung mit dem Judentum und die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Erfahrungen mit dem Christentum stellte sie sich, »ohne es bewusst zu merken, in die Reihen seiner Verteidiger«674 . Die »Bekämpfung des Vorurteils gegen die Juden bei den Christen« und die »Hebung eines edleren Selbstbewusstseins unter den Juden selbst«675 wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Durch den großen Erfolg ihres Werkes erhielt Remy vom christlichen Verleger G. Laudien, der den Verlag von W. Malende 1892 übernommen hatte, eine Anfrage bezüglich einer Fortsetzung ihres Buches betitelt Der jüdische Mann, was jedoch aufgrund von Uneinigkeiten von ihr abgelehnt wurde. Sie erhielt für Das jüdische Weib von Laudien eine Anzahlung; den Rest ihres Honorars von 500 Mark (ca. 5000 € Verhältnis 1:10) solle sie erst dann erhalten, wenn sie sich zu einer Fortsetzung verpflichte: »Sprachlos über diese Frechheit öffnete ich stumm die Ausgangstüre … die Herren gingen.«676 Als sie daraufhin ihre Lohnansprüche mithilfe eines Anwaltes erhob, erfuhr sie, dass Laudien fortgezogen und seinen Verlag an den jüdischen Antiquariatsbuchhändler und Verleger Gustav Fock (1854–1910) ebenfalls in Leipzig verkauft habe. Dieser fühlte sich ihr gegenüber nicht zur Auszahlung verpflichtet und verkaufte sein miterworbenes Verlagsrecht einfach weiter. »So wanderte es von Verleger zu Verleger; es lag in folgenden Jahren in dritter Auflage 672 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von Mai 1899, Arc.Nr. 01 134. Siehe auch: ebd.: 24.10.1893: Am 24. Okt. 1893 plante Remy, wenn Gott ihr ihren »Lehrer und Führer lässt«, an folgenden Werken zu arbeiten: Culturstudien II Bd.: Gebote der Juden; Culturstudien III Bd.: Gebräuche der Juden; Der Dombau zu Berlin (Tomsky), ein Roman; Sprüche von Moritz Lazarus (Der Einzelne und die Gesamtheit) [1899]; Cultur und Kirche (3 Bände); Zur Bibelkunde (Kohelet); Auto-Biographie von Lazarus [1906]; Markus Herz. Eine Zeitstudie; Mein Leben (2 Bände) [unveröffentlichtes Manuskript von 1927]. 673 Eine genauere Untersuchung und Darstellung des Werkes Das jüdische Weib findet sich in dem II. Kap. dieser Arbeit. 674 Lazarus 1898b: 191. 675 Ebd.: 211. 676 Lazarus-Remy 1927b: 131f.

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[1896 beim jüdischen Verleger Siegfried Cronbach] in den Schaufenstern der Buchhandlungen, als ginge es mich gar nichts an!«677 Der Erfolg ihres ersten populärwissenschaftlichen Werkes sprach trotzdem für sie und motivierte Remy, sich »vollkommen dem Studium des Judenthums zu widmen«678 . Als im Mai 1891 Auswanderzüge aus Russland in Berlin-Ruhleben ankamen, setzte sie sich ehrenamtlich für die Versorgung der erschöpften russischen Juden ein: »Ausgerüstet mit einem vollgepackten Armkorb galt es in Ruhleben aus den verschiedenen – in den Bögen der Stadtbahn trefflich eingerichteten – Magazinen, alles Nötige herauszugeben, in der Apotheke, dem Waschraum etc. Vorsorge zu treffen und Kaffee für die 300–400 erschöpft Ankommenden kochen zu lassen. […] Ich malte wohl 100 hebräische kleine Tafeln für die Ankommenden- u.s.w. Auch an Ärger fehlte es nicht.«679 Am 24. Juli 1891 notierte sie in ihrem Tagebuch den Beschluss des Komitees, den jüdischen Auswanderern keine weitere Hilfe mehr am Bahnhof Ruhleben anzubieten, sondern zukünftig nur noch an der Grenze. »25. Juli: Bin in tiefster Seele empört. Mögen doch die Comités an der Grenze sorgen, wie sie wollen, aber warum sollen die Ärmsten, die hier durchkommen, verschmachten? 26. Juli: […] Kein Mensch zur Hilfeleistung da, als ich, ganz allein!! Unter der dumpf schweigenden, elenden Masse von Menschen! 27. Juli: Alles – Schränke, Kästen u.s.w. zugesperrt. Anderes fortgenommen. Nichts da!!! 28. Juli: Wieder Hunderte gekommen! 70–80 kleine Kinder dabei. Die Frauen teilnahmslos vor Ermattung. […] Rein sachliche Notiz der Vossischen gebracht, die sich weigert dieselbe aufzunehmen, weil der Redakteur versprochen (!) keinerlei, andere Nachricht zu bringen als solche, die ihm vom Comité zugehen! Und das nennt sich ›unabhängige‹ Presse! [Herv. i.O.]«680 Dieses von ihr beobachtete Vorgehen gegen die jüdischen Auswanderer betrachtete Remy als »ein Attentat gegen die Menschlichkeit«681 , was sie nicht tolerieren konnte und wogegen sie appellieren wollte. Sie verarbeitete diese tiefbewegende Erfahrung in ihrer Novellette In den Berliner Baracken von 1891 und in ihrem wenig später veröffentlichtem Aufsatz Warum? 682 . Es folgten weitere populärwissenschaftliche Abhandlungen über die jüdische Geschichte und Kultur, die allesamt mit großem Erfolg veröffentlicht wurden.683 Unter anderem erschien 1892 in erster und zweiter Auflage ihre kulturhistorische Untersuchung über Das Gebet in Bibel und Talmud, das vom amerikanischen Rabbiner Henry

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Ebd.: 132. Lazarus 1897a, hier S. 363. Siehe auch: Lazarus 1897c. Vgl. Kap. II, 1. Lazarus-Remy 1927b: 132. Ebd.: Tagebucheintrag vom 28. Juli 1891. Ebd. Remy 1912. Zu den Ursachen der jüdischen Emigration aus Russland 1891 vgl.: Solženicyn 2002; Solženicyn 2003; Aronson 1990; Zu den Problemen der Integration der Ostjuden in Deutschland vgl.: Mikhman 2011; Adler-Rudel 1959. 683 Ein Teil der im Folgenden genannten populärwissenschaftlichen Werke werden in Kap. II, 6 im kulturhistorischen Kontext genauer betrachtet.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Cohen (1863–1952) 1910 ins Englische übersetzt wurde.684 Im Frühling 1893 folgten ihre Culturstudien über das Judenthum, die 1898 in zweiter Auflage unter dem Titel Das jüdische Haus (I. Bd.) erschienen, und in vielen Zeitungen zwar sehr gut besprochen wurden, doch zu Remys Bedauern sich nicht gut verkauften.685 Ihre kulturhistorischen Studien zur Humanität im Judenthum wurden 1894 herausgegeben und in demselben Jahr als Fortsetzung in der jüdischen Zeitschrift Die Deborah veröffentlicht. Sie hatte ihren ursprünglichen Gedanken, ein dreibändiges Werk herauszugeben, aufgegeben und sich entschlossen, lieber drei für sich stehende Werke,686 jedes das Judentum betreffend, zu veröffentlichen. »So bliebe [sie] freier und das Risico an einen unverständigen oder unreellen Verleger zu gerathen, wäre doch um 2/3 geringer.«687 Darüber hinaus veröffentlichte sie mehrere Erzählungen und Gedichte in der reformjüdischen Zeitung AZJ.688

2.2.3 Ihre projüdischen Vortragsreisen (1892–1895)689 »Es scheint als solle mein Leben eine neue Wendung nehmen. Als sei ich bestimmt zu wirken. Und zwar in der Richtung zu der meine geistige Entwicklung und Thatkraft sich schon seit Jahren bewegt – für Juden und Judentum. Ich bin an die Öffentlichkeit getreten und habe Erfolg gehabt! Einen grossen, herzlichen und wie es scheint nachhaltigen Erfolg.«690 Zugunsten ihrer kulturhistorischen Studien über das Judentum besuchte Remy auch Vorträge von jüdischen Gelehrten, wie den Vortrag des Literaturhistorikers Gustav Karpeles (s.TL) am 23. März 1892, des Vorsitzenden des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur. Karpeles kannte sie bereits seit Herbst 1881, als er sie als Mitarbeiterin für die Westermanns Monatshefte engagierte. Beeindruckt von ihrem kulturhistorischen Werk Das jüdische Weib und der gerade neu erschienenen Abhandlung über Das Gebet in Bibel 684 Remy 1910. 685 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von Juni 1893. Großes Tagebuch, Arc.Nr. 01 135: »Kenner aber, wie Zadoc Kahn [Rabbiner, 1839–1905] in Paris schrieben mir voll wärmster begeisterter Anerkennung. Er hat sich gleich 10 Ex. bestellt, um dafür Propaganda zu machen, wie er es schreibt. Wie viel könnten die Rothschilds, Hirsch’s etc. für ihre Sache zur Anerkennung der ewig guten Seiten des Judenthums und damit zur Versöhnung und Läuterung thun, wenn sie solch Buch unterstützten! Da rühmt sich Frau Meyer, die mir wohl will, ja mich liebt, die eine gute Jüdin und reiche Jüdin ist, dass sie auch ein Ex. gekauft habe. Ein Exemplar!! – 100 sollte sie kaufen!! Und an Volksbibliotheken schenken und Andere, die sich nicht 3–5 Mark gönnen können für ein gutes Buch, für ein Buch, das so im Dienst des Ideals steht (ohne langweilig zu sein!) wie meine ›Culturstudien!‹ Gott bessere es! [Herv. i.O.]« 686 Bibel und Talmud (1892), Culturstudien über das Judenthum (1893), Humanität im Judenthum (1894). 687 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 01.02.1893, Arc.Nr. 01 135. 688 Dazu gehörten unter anderem: Auch eine Geistergeschichte! (30.06.1893: 311f.), Eine Spazierfahrt (02.11.1894: 527f. und 16.11.1894: 550–552) sowie Frühlingsfabel (24.03.1899: 144). Erschienen in der AZJ. 689 Eine detaillierte Auflistung der Stationen ihrer Reisen findet sich im TL. 690 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 05.05.1892, Arc.Nr. 01 135.

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und Talmud (1892), trat er an sie mit der Frage nach einem möglichen Vertrag heran. Sie war zwar überrascht, aber nicht abgeneigt und hielt bereits am 21. April 1892 im Verein für jüdische Geschichte und Literatur in Berlin ihren ersten Vortrag über Das Gebet in der Bibel691 , unterstützt und organisiert von Karpeles. Durch ihre Kurzsichtigkeit, die ihr ein Ablesen des Textes erschwerte, war sie gezwungen frei zu sprechen, wodurch sie jedoch an Überzeugungskraft gewann: »Wie viel überzeugender wirkt das freie [Herv. i.O.] Wort, der ungehemmte Blick!«692 Als Remy im Verein für jüdische Geschichte und Literatur ankam, »war das breite Trottoir bis auf den Strassendamm voller Menschen. Was war geschehen? Ein Unglück? […] Die Haupttreppe war ebenfalls von Menschen besetzt. Jetzt dämmerte es mir: man war meines Vortrags wegen gekommen!«693 Der ganze Raum sei voller Menschen gewesen, darunter der evangelische Hofprediger Ernst Dryander (1843–1922), der evangelische Theologe Emil Wilhelm Frommel (1828–1896), der evangelische Kanzelredner Johannes Theodor Rudolf Kögel (1829–1896) sowie Freunde Remys, wie die Familie Friedrich Stephany oder ihr Schriftstellerkollege Richard SchmidtCabanis (s.TL), die ihr ermutigend zulächelten. »Scheinbar ruhig und unbefangen apostrophierte der Neuling diese kompakte Menge mit einer Einleitung und sprach dann ohne Stocken über eine Stunde lang frei aus dem Gedächtnis. Dennoch, dass das Wagnis glückte, ist mir heute noch rätselhaft!«694 Der anschließende stürmische Beifall und die Beglückwünschungen motivierten sie, in den kommenden Jahren zu ähnlichen Themen, immer an ihren kulturhistorischen Werken orientiert, zu sprechen.695 Auch wurde sie vom Verleger Emil Apolant (1846–1903) unter Vertrag genommen, der all ihre Vorträge unter eigenem Namen erscheinen ließ. Zunächst folgte am 3. Mai 1892 die Fortsetzung des Vortrags Das Gebet im Talmud, die ebenfalls von mehr als 4000 Menschen besucht wurde: »Obwohl zu diesem 2. Vortrag der Saal A. im Architektenhaus (über 2000 Sitzplätze und ebensoviele Stehplätze fassend) gemietet wurde, auch hier derselbe Andrang! Die monumentale Treppe voll von Menschen!«696 Ausverkaufte Säle erlebte sie auch bei all ihren folgenden Vorträgen, die auch über die deutschen Grenzen hinaus sehr gefragt waren. Für die fast ausschließlich jüdischen Zuhörer flocht Remy hin und wieder hebräische Worte oder Gedichte mit ein, wie das Gedicht Jehuda ben Halevy (Hebräische Melodien, 1851) des jüdischen Dichters Heinrich Heine (1797–1856), Remys Thema orientierte sich an ihrem zuvor erschienen Werk: Das Gebet in Bibel und Talmud (1892). Lazarus-Remy 1927b: 135. Ebd. Lazarus-Remy 1927b: 135f. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von Mai 1892, Arc.Nr. 01 135: »Karpeles hielt dann noch die Ansprache, dass man mich mit ›George Eliot‹ verglichen, dass ich diese aber durch meine gründliche und ungewöhnliche Kenntnis der Wissenschaft des Judentums weit überrage – u.s.w. Langer, brausender Beifall lohnte seine Rede. […] Inzwischen bekomme ich Briefe, Blumen, Besuche – u.s.w. – aber mein Junge war gestern gedrückt. Er sprach sich auch darüber aus, dass er ›dem Judentum ein grosses Opfer bringe‹, indem er mich öffentlich sprechen lasse. – ich hoffe diese Stimmung wird wieder einer reinen Freude weichen, wenn er erst sieht, dass mein persönl. Wesen durch dieses öffentl. Wirken nicht die geringste Einbusse erfährt.« Die berühmte englische Schriftstellerin George Eliot (1819–1880) genoss im Judentum ihrer Zeit international hohes Ansehen. Vgl. dazu Kaufmann 1877. Zu Eliots Stellung zum Judentum vgl.: Baker 1975; Kuczynski 1994; Saleel und Newton 2004. 696 Lazarus-Remy 1927b: 136. 691 692 693 694 695

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

sodass auch ihre rabbinischen und talmudischen Zuhörer, wie Moritz Steinschneider (1816–1907) oder Esriel Hildesheimer (1820–1899), von ihren Vorträgen angetan waren. Sie erhielt vermehrt Einladungen zu Vorträgen. Das beschwerte allerdings ihren Alltag durch die unerwartete Korrespondenzlast zusätzlich. Einiges nahm sie an, jedoch musste sie auch viele Einladungen ausschlagen, wie beispielsweise Anfragen aus Ratibor (Oberschlesien) oder aus Stolpe (Vorpommern), was von Karpeles kritisch kommentiert wurde.697 Ein Honorar für ihre Vorträge zu verlangen, war ihr allerdings »peinlich«, sodass sie mit Fachliteratur wie »Grätz, Renan (Histoire du peuple d’Israel), Karpeles ›Grosse illustrierte allgemeine Literaturgeschichte‹ u.dergl.m. [sic!]«698 entschädigt wurde; das konnte ihre Reisekosten natürlich nicht decken. Nach ihren Vorträgen im Berliner Esra-699 , Brüderverein700 und im Verein Junger Kaufleute Ende Oktober 1892, die ebenfalls in übervollen Sälen stattfanden und mit stürmischem Beifall angenommen wurden, begab sie sich Mitte Dezember 1892 zu ihrem ersten bezahlten Vortrag ins Ausland. Neben den bereits vorgetragenen Themen (Das Gebet in der Bibel; Das Gebet im Talmud, Die Makkabäer) hatte sie nun den Vortrag Die Nächstenliebe im Alten Testament in ihr Repertoire aufgenommen. Am 17. Dezember 1892 hielt sie [um 19 Uhr] in Prag den Nächstenliebe-Vortrag (genau betitelt mit Die Nächstenliebe nach den Satzungen des Judenthums), worüber sie in ihrem Tagebuch notierte: »Trotz schlafloser Herfahrt und Ermüdung gestern den Vortrag im Wintergarten des Grand-Hotel mit überraschenden Erfolgen gehalten. […] Eine nie gesehene Menschenmenge! Ich sprach ruhig und sicher, unter andächtiger Stille. Gott habe Dank für die Kraft, die du mir gibst!«701 Dabei handelte es sich um ihren ersten bezahlten Vortrag, für den die »über 3000 Menschen Eintrittsgeld von 1 Gulden! [zahlten]«702 . Die stetige Begeisterung nach ihren Vorträgen führte dazu, dass sie bereits ab dem 25. Dezember 1892 ihre erste Vortragsreise (25. Dezember 1892 bis zum 09. Januar 1893) unternahm. Sie begann in Karlsruhe und führte über Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Bochum bis nach Münster. In Karlsruhe (26./27. Dezember 1892) hielt sie ihre Vorträge im zwar großen, aber wieder überfüllten Rathaussaal und verbrachte anschließend das Neujahr bei der jüdischen Familie M.A. Straus mit ihren Töchtern Lylli, Recha und Abba. »Die Tage in diesem liebenswürdigen Familienkreise gehören zu den wohltuendsten Erinnerungen meines Vagantentums.«703 Sie reiste am 1. Januar 1893 nach Köln zu ihrem dritten Vortrag, der ebenfalls ohne Probleme und in der ihr bereits gewohnten

697 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 08.01.1895, Arc.Nr. 01 133. Vgl. dazu Lazarus-Remy 1927b: 153: »Es wurde schon zu viel des Guten!« 698 Ebd.: 139. 699 Der Esra-Verein, der im Frühjahr 1884 gegründet wurde, unterstützt jüdische Kolonien in Palästina. 700 Der jüdische Brüderverein, der am 1. Jan. 1815 in Berlin gegründet wurde, hatte den Zweck gegenseitiger Unterstützung. 701 Lazarus-Remy 1927b: 139. 702 Ebd. Vgl. dazu Einladung zum Vortrag der Frau Dr. Nahida Remy, in: N.N. 1892: 288. Zeitungsausschnitt vorhanden in: The National Library of Israel, Department of Archives: newspaper clippings on »Die jüdische Frau«, Arc.Nr. 01 130: »Vereinsmitglieder [des Centralvereins zur Pflege jüdischer Angelegenheiten] und deren Familienangehörigen haben Zutritt gegen eine Spende von 50 kr. Nichtmitglieder gegen eine Spende von 1 fl.« 703 Lazarus-Remy 1927b: 140.

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Atmosphäre verlief: »überfüllter Saal, brausender Beifall, Blumen, Bankett, Toaste, Lobgedichte etc. etc. und Tags darauf opulentes Diner beim Neffen von Frau Zerline, Regierungsrat Meyer [Herv. i.O.], der in prächtiger Amtswohnung residierte.«704 Die nächsten Stationen waren Düsseldorf, Elberfeld und Bochum, wohin sie vom Bochumer neugegründeten Verein für jüdische Geschichte und Literatur eingeladen wurde. Diesen »schwarzen, russigen Hauptplatz der westphälischen Steinkohleindustrie« bezeichnete Remy als »ein kulturhistorisches Merkzeichen für das unverwüstliche geistige Streben der Kinder Israels. Gerade für solche Orte fühlte [sie sich] berufen.«705 Auch ihr abschließender Vortrag im »immer noch mittelalterlich angehauchten«706 Münster (08. Januar 1893) verlief für sie »wie gewöhnlich: überfüllter Saal, gespannteste Aufmerksamkeit, anhaltender Beifall und zuletzt gemütliches Zusammensein mit Interpellationen und Toasten.«707 In weniger als 14 Tagen hielt sie sieben Vorträge, was sie sehr erschöpfte, jedoch durch Lazarus’ Anerkennung belohnt wurde. Er schickte ihr aus Schönefeld ein Lorbeerkränzchen, welches sie stets als »beglückendes Wahrzeichen für ihr ganzes Leben«708 bei sich trug. Am 4. Januar 1893 erhielt sie in der Kölnischen Zeitung eine erfreuliche Berichterstattung: »Es dürfte wohl selten einer Frau gelungen sein, sich so rasch und in solchem Masse Ruf und Ansehen als Rednerin zu erobern. Es unterliegt keinem Zweifel, dass ihre Thätigkeit nicht bloss für das Judentum, sondern auch für unser deutsches Vaterland von unberechenbarem Nutzen ist. Möge das bald allerseits erkannt und anerkannt werden!«709 Bereits eine Woche nach ihrer Heimkehr hielt sie Mitte Januar 1893 im Berliner FriedrichsGymnasium den Vortrag über die Nächstenliebe im Alten Testament, der ebenfalls vom zahlreich erschienenen Publikum begeistert aufgenommen wurde. Obwohl Remy vor allem ihre Vortragsreisen positiv schildert, machte sie auch negative und amüsante Erfahrungen. Beispielsweise wurde die christliche Rednerin nicht immer liebevoll von ihren jüdischen Gastfamilien aufgenommen und bewirtet. Über ihren Vortrag in Stettin notierte sie: »Zwar wie immer Überfüllung, Beifall etc. aber grausliche Nebenumstände; scheussliches Hotel, Taktlosigkeit …. Hinterpommern [Herv. i.O.]! Aber hinterher dämmerte es völkerpsychologisch in meinem Verdruss hinein: überall wo die Existenzberechtigung einer Bevölkerung härtere sind, durch klimatische, landschaftliche Ungunst, unfruchtbarere Boden, mühsame Konkurrenz in Handel und Industrie mit bevorzugteren Nachbarländern, auch Art und Gemüt etwas Unfrohes und Unfreies annähmen. Je lichter und leichter das Leben des Südländers, desto dunkler und schwerfälliger Sinn und Sein des Nordländers.«710 704 705 706 707 708 709 710

Ebd. Ebd.: 141. Ebd. Ebd. Lazarus-Remy 1927b: 142. The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch, Arc.Nr. 01 135. Lazarus-Remy 1927b: 143.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Im Herbst 1893 begann in Lübeck ihre zweite Vortragsreise (Oktober 1893 bis März 1894), diese führte sie bis nach Holland. In Lübeck wurde auf ihren Wunsch das Eintrittsgeld von einer Mark für wohltätige Zwecke gespendet. Wie immer war der Saal überfüllt und ihr Vortrag wurde mit Beifall und Huldigungen geehrt. Bei ihrem darauffolgenden Vortrag in Landsberg a.d.W. (10.12.1893) wurde sie von der hohen christlichen Zuhörerzahl überrascht: »Gebildete, Bauern, Soldaten, Arbeiter mit ihren Familien. Mein Thema: Das Weib im Talmud liess mich erwarten, dass die Leute sich bald empfehlen würden … nichts davon! Keiner rührte sich vom Fleck. Ein Buch mit 7 Siegeln kann man allgemeinverständlich machen, wenn man in der Sprache des Volkes spricht.«711 In Karlsruhe (30.12.1893) stieß sie erstmals mit ihren kritischen Randbemerkungen zum modernen Judentum auf Protest von jüdischer Seite. Auf ihre »halb scherzhafte Bemerkung, dass [ihr] viele Juden und Jüdinnen bekannt hätten, dass sie die Namen der drei grossen Propheten nicht kennen (von den kleinen gar nicht die Rede!)«, erklärten die Karlsruher Juden, dass sie »als germanische Männer von diesen Dingen [nicht] so viel wissen«712 müssten. Woraufhin Nahida Remy entgegnete, dass sie doch »auch Juden« seien, und »so gut als germanische Männer dann etwa Schiller oder Goethe kennen, sie doch auch die grössten Denker und Dichter des altehrwürdigen Judentums kennen müssen … Kurz und gut, die Karlsruher entzogen mir seitdem ihre bisher glänzend bewiesene Sympathie.«713 Ihre Vortragsreisen führten sie durch Teile ganz Europas: von der polnischen Grenze bis zum Baden-Württembergischen Fluss Dreisam, von der Nordsee bis zum Adriatischen Meer.714 Am 1. Januar 1894 hielt sie mit großem Erfolg einen Vortrag im Kaufmännischen Verein in Frankfurt a.M. Die vielen Vortragsreisen hinterließen bei Remy ihre Spuren. Vermehrt notierte sie ihre Übermüdungszustände und schlaflosen Nächte. In Frankfurt bekam sie durch die Überanstrengung Fieber, sodass sie für mehrere Tage vor Ort bleiben musste. Der Redakteur der orthodoxen Zeitschrift Der Israelit 715 Oskar Lehmann (1858–1928) bat Remy nach ihrer Genesung, weiter nach Mainz zu reisen, wo sie am 7. Januar 1894 herzlich aufgenommen wurde. In Mainz wie darauffolgend in Köln (Januar 1894) verliefen die Vorträge »prächtig«716 . Im holländischen Den Haag (13.01.1894) empfing sie Moses Henriquez Pimentel (1828–1902) und begleitete sie in ihr Hotel Europe, wo sie eine fürsorgliche Bewirtung erhielt. Über ihre Vorträge in Holland notierte sie: »Während meines damaligen und später wiederholten Aufenthalts in Holland, zeigte sich wie sehr meine Vorträge mit wahrhaft religiöser Empfänglichkeit und meine Person selbst von andächtiger Stimmung umgeben und getragen wurden. Damit harmonierte, dass mein letzter Vortrag in der evangelischen Reformkirche stattfand. So 711 712 713 714 715 716

Ebd.: 146. Ebd. Lazarus-Remy 1927b: 146. Alles habe sie in ihrem rotgebundenen Reisetagebuch notiert, das leider nicht mehr vorhanden ist. Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum (1860–1938). Lazarus-Remy 1927b: 147.

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stand ich zum ersten Mal auf einer wirklichen Kanzel. […] Auch in Rotterdam und Amsterdam wiederholte es sich, dass ich in Betsälen oder auf den Kanzeln sprach.«717 Worauf wiederum Vorträge in Den Haags Stadtteil Scheveningen und abschließend in Maastricht folgten. Als sie gerade auf dem Heimweg war, erhielt sie am Kölner Bahnhof eine Depesche mit der Bitte nach Rotterdam zurückzukehren, da mehr als 600 Personen keinen Einlass bekommen hatten und auf einen weiteren Vortrag drängten. So entschied sich Remy umzukehren und ihren abschließenden Vortrag erneut in Rotterdam zu halten. »So geschah es und Alles war noch glänzender als die ersten Male.«718 Es folgten daraufhin dann weitere Vorträge in Leipzig, und in den »Bergbau- und Kohlenrevieren (Zabrze, Kattowitz, Essen, Inowrazlaw u.s.w. schwarze Nester, [die ihr] wichtiger als alle Grossstädte!)«719 . Erst Ende März 1894 kehrte sie nach Berlin zurück und erfuhr am 31. März 1894 durch die Berliner Blätter vom Tod von Lazarus’ Frau Sarah Lazarus (s.TL). Sie nutzte das heimliche Verlobungsjahr, um ihre letzten zehn Vorträge zu halten. Für sie stand fest, dass sie als Lazarus’ Frau keine weiteren Vortragsreisen mehr unternehmen. Als Ehefrau übernahm sie somit erneut die üblichen ehelichen Verpflichtungen, indem sie durch die Heirat ihren Beruf aufgab und die Rolle der bürgerlichen Hausfrau übernahm. Allerdings unterstützte sie darüber hinaus Moritz Lazarus bei seiner literarischen Arbeit und begleitete ihn auf seinen Vortragsreisen. Bis zu ihrer letzten Vortragsreise im Herbst 1894 ging sie von April bis Oktober 1894 ihrer Schriftstellerei für die Vossische Zeitung nach und arbeitete an ihrem Werk Lazarus Sprüche, worin sie Zitatausschnitte von Lazarus aus sämtlichen seiner Werke sowie seinen Beiträgen in den 20 Bänden der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft zusammentrug. 1899 wurde ihr Buch Lazarus Sprüche720 zu Ehren von Moritz Lazarus’ 50-jährigem Promotionsjubiläum herausgegeben. Neben der gewohnten Schriftstellerei las sie Lazarus’ Werk Der Prophet Jeremias721 Korrektur. Sie notierte: »Die gemeinsame Denk- und Druckarbeit an diesem herrlichen Werk half uns über die sommerliche Trennung hinweg.«722 Im Herbst 1894 begann ihre Vortragsreise in Frankfurt a.d.O., führte sie nach Bielefeld, Braunschweig, Hannover, Amsterdam, Magdeburg (07.12.1894), Thorn u.a. und schloss zunächst in Lissa (22.12.1894). »Überall der gleiche Erfolg, wie immer!«723 In Amsterdam, wo sie für 14 Tage blieb, wurde sie vom evangelischen Pastor Hugenholz aufgefordert, von der Kanzel zur christlichen Gemeinde zu sprechen. Sie wurde mit großer Freude empfangen. Von Hugenholz und den anwesenden Rabbinern, wie beispielsweise dem Dresdner Rabbiner Dr. Jakob Winter (1857–1940), wurde betont, dass »ein Vortrag von [ihr], mehr bewirke als 20 Predigten«724 .

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Ebd.: 148. Ebd. Ebd. Lazarus 1899. Lazarus 1894. Lazarus-Remy 1927b: 151. Ebd. Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Danach fuhr sie im Schlitten nach Culmi, Norgrowitz und Inowrazlaw, wo sie nach ihrer eigenen Aussage mit ihren Talmudvorträgen alle in Erstaunen versetzt habe. Es folgten Royasen, Posen und Lissa. Erst am Weihnachtsabend kehrte sie nach Berlin zurück und setzte ihre Vortragsreise nach Neujahr weiter fort. In Bromberg (09.01.1895) hielt sie ihren Vortrag im Großen Königssaal, der über 2000 Plätze fasste. Erstmalig postierte sich am Tag ihres Vortrags am Saalausgang eine antisemitische Gruppe, wovon sich Remy allerdings nicht einschüchtern oder vom Vortragen abhalten ließ. Durch die besondere Situation noch mehr motiviert, sprach sie »frisch und frei, in fast heiterer Unbefangenheit […]. Erst Mäuschenstille – dann nicht enden wollender Beifall.«725 Danach folgten Vorträge in Glogau, Hamburg, Braunschweig und zuletzt Köln (22.01.1895).726 Bevor sie allerdings ihre Vortragsreise erneut aufnahm, gab sie nach fast zwölf Jahren ihre Wohnung in der Potsdamerstrasse 139 auf727 , schrieb ihre letzte Buchkritik für die Vossische Zeitung und bat ihre Schwägerin Anna Remy, ihr bei der Versendung ihrer Koffer nach Freiburg zu helfen. Anna Remy war die Einzige, die von der heimlichen Verlobung wusste, »und mit gottergebenem Sinn sich in das Unerhörte zurechtzufinden suchte. ›Mäuschen‹ sagte sie einmal mit sanftem Kopfschütteln – ›er ist 70 Jahr‹. Mein glückliches Lächeln verwirrte sie.«728 »Auf meiner letzten Vortragsreise, die mich nahe bis an die russische Grenze geführt hatte, dann durch ganz Deutschland hindurch bis nach Holland kam ich auch nach Köln. Sollten doch diese Vorträge die letzten sein; ihr Abschied von der Öffentlichkeit.«729 Als sie an ihrem letzten Vortragsaufenthalt in Köln von der Frau des Rabbiners Therese Frank, geb. Bloch zu einer Frauenversammlung abgeholt wurde, die ihr eine große Ehre aussprechen wollten, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen. Remy bat Frau Frank, die während des Aufenthaltes für sie zuständig war, einen Brief zur Post zu bringen, woraufhin diese erwiderte, dass es nicht ihre Aufgabe sei, für »Fremde Briefe zu besorgen«730 . Remy war daraufhin peinlich berührt und ihr eigenwilliger Charakter führte zu einer unüberlegten Kurzschlussreaktion, indem sie das Treffen bei der Frauenversammlung mit folgenden Worten absagte: »bis jetzt habe noch Jeder es als Freude und Ehre empfunden, Nahida Remy einen Dienst zu erweisen«731 . Als sie sich wieder beruhigt hatte, empfand sie eine große Scham über ihr unhöfliches Verhalten.

725 Ebd.: 152. 726 N.N. 1895a: »Der Vorsitzende Herr Rabbiner Dr. Frank dankte der verehrten Rednerin nochmals und bedauerte es sehr, dass dieselbe sich entschließen wolle, nur noch schriftstellerisch thätig zu sein und legte es als eine Pflicht der Rednerin dar, auch ferner durch Vorträge aufklärend und belehrend zu wirken. Wie wir hören, wird Nahida Remy sich nach Beendigung des 2. und 3. Bandes ihrer Kulturstudien sich auch wieder den öffentlichen Vortrögen widmen [wozu es allerdings nie kam].« 727 In ihrem Tagebuch: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 01.01.1895, Arc.Nr. 01 133, notierte sie dazu: »Gest. die Wohnung Potsd. Str. 139 nach fast 12jähr. Aufenthalt daselbst, verlassen. Ich athme förmlich auf u. bin sehr zufrieden.« 728 Lazarus-Remy 1927b: 153. 729 Lazarus-Remy 1927b: 153. 730 Ebd. 731 Ebd.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

»Das war sehr unrecht […] eine ganze unbeteiligte Versammlung, die freudig erwartungsvoll mir huldigen wollte, so in Stich zu lassen! Noch desselben Nachmittags schrieb ich an Dr. Frank, erklärte ihm meine Nervosität und bat ihn seine Frau zu versöhnen. Es folgte keine Antwort. Köln liess mich fortan fallen.«732 Nach ihrer Eheschließung mit Lazarus hielt sie, wie sie es erwartet hatte, nur noch wenige öffentliche Vorträge.733 Am 13. April 1897 hielt sie in Wien, während der sogenannten Lazarus-Wochen734 , einen Vortrag über ihren Seelenkampf, der über ihre Konversion zum Judentum berichtet und die Basis ihrer noch nicht erschienenen autobiographischen Erzählung Ich suchte Dich! (1898) darstellte.735 Am 13. April 1897 feierten sie in Wien »den Jubel- Höhepunkt [ihres] Lebens«736 , das war ja der Tag, an dem sie sich 1883 erstmalig ihre Liebe eingestanden und geküsst hatten. Nach Lazarus’ Tod hielt sie noch einige Male Vorträge, wie beispielsweise am 7. und 14. März 1907 in Wien über Lazarus als Menschenfreund.737

3. Nahida Ruth Lazarus, die Jüdin 3.1

»Das gesegnete Jahr!« – Die Eheschließung mit Moritz Lazarus (1895)

»1895 – Das Jahr der Vereinigung mit meinem Menschen! – Das gesegnete Jahr [Herv. i.O.]! Das Jahr der Vollendung, der Wahrheit, der Neugeburt des Seelenfriedens.«738 Zu ihrem Geburtstag am 3. Februar 1895, an dem sie noch den Namen Remy führte, reiste sie während ihrer letzten Vortragsreise nach Freiburg in Baden, wo sich Lazarus wegen seines Werks Ethik des Judentums aufhielt. Sie wollte eigentlich nur einen »Rasttag«739 einlegen und dann weiter nach Genf reisen, um den dortigen Oberrabbiner

732 Lazarus-Remy um 1927b: 153. Rabbiner Dr. Abraham Salomon Frank (1838–1917). 733 The National Library of Israel, Department of Archives: Handschriftliche Notiz, Arc.Nr. 01 123.3: Von ihren geplanten Vortrags-Themen hielt Remy die ersten drei, die restlichen Themen blieben als Idee bestehen. »1. D[ie] Nächstenliebe im Alten Testament, 2. Das Weib im Talmud, 3. Was ist der Talmud? 4. Das Kind im Talmud, 5. Jesus u[nd] der Talmud, 6. Mensch u[nd] Thier im Talmud, 7. Biblische Frauen, 8. Fabel und Parabel der Bibel, 9. Christin od[er] Jüdin? 10. Rabbiner-Frauen, 11. Phrasen! Phrasen! Phrasen! 12. Ein Räthsel, 13. Das Weib von Sunem, 15. +16. Art[ikel] 12 und Art[ikel] 20 der preuss[ischen] Verfassung, 17. Das fehlende Wort (nämlich: Sklaverei, wofür die Bibel kein Wort hat).« 734 Am 11. Apr. 1897 sprach Moritz Lazarus über die »Völkerpsychologische Betrachtung des Judenthums«. 735 Lazarus 1898b. Vgl. Kap. III. 736 Lazarus-Remy 1927b: 178. 737 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von März 1907, Arc.Nr. 01 134. 738 Vgl. The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch von 1895, Arc.Nr. 01 133. 739 Lazarus 1897c: »Ich wollte nur einen Rasttag machen, um ihn, den ich so lange nicht wieder gesehen hatte, zu begrüssen und fand ihn leidend. Eine schwere Influenza brach bei ihm aus; ich konnte ihn nicht verlassen und ich habe ihn nicht verlassen«.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Dr. Joseph Wertheimer (1833–1908) wegen einiger Formalitäten bezüglich ihrer bevorstehenden Konversion aufzusuchen. Als sie Lazarus jedoch mit einer schweren Grippe antraf, sagte sie das Treffen in Genf sowie die noch ausstehenden Vorträge ab und verbrachte die nächsten sechs Wochen bei ihm, um den 71jährigen Mann zu pflegen. Aus diesem Grund fand der Übertritt zum Judentum am 31. März 1895 in Freiburg, nicht in Genf statt und unter der Führung vom Rabbiner Dr. Adolf Lewin (1843–1910), der später auch die Trauung von Lazarus und Remy in der dortigen Synagoge vollzog. Bereits am 1. Februar 1895 gaben sie ihre Hochzeitspläne für den kommenden April öffentlich bekannt und verlebten bis dahin ihre Zeit »zum ersten Mal officiell als Brautpaar!«740 Sie besuchten Konzerte, folgten Einladungen, arbeiteten an ihren Werken und planten ihre vierwöchige Hochzeitsreise. Obwohl das Paar endlich seine gemeinsame Zeit unbeschwert genießen konnte, fühlte sie sich bedrückt: »Warum schwebte über allem ein unsichtbarer, aber fühlbarer Schleier, der unseres Glückes nahes Ziel immer noch verhüllte? […] Die Familie wusste nun von unserem Verlöbnis und die Presse veröffentlichte das Ereignis, das besonders Berlin überraschte.«741 Während ihre Freundinnen und Schwägerinnen Anna und Marie Remy dem Paar einen Gratulationskorb schickten, zeigte die Familie Steinthals einen Widerstand. Auch Lazarus Freund Jacobson, ursprünglich aus Leipzig, machte ihm den Vorschlag, die Vermählung aufzuschieben und auf ein Jahr zu ihm nach Amerika zu kommen.742 Als auch Lazarus’ Familie sich in Schweigen hüllte, versuchte er seine mittlerweile empörte Braut zu besänftigen: »Wenn sie erst sehen, wie glücklich du mich machst, und dass du mein Leben verlängerst, dann werden sie dich auf Händen tragen.«743 Sie selbst sah das pragmatischer: »liebten sie ihn, so mussten sie mir dankbar sein, waren sie es nicht, dann liebten sie ihn nicht, und ihr Verhalten entfremdete sie mir vollends. Eine Frage blieb es freilich, was die Familie dagegen haben konnte, dass er mit mir glücklich wurde?«744 Während die Hochzeitsvorbereitung und die Hochzeitszeremonien selbst ausführlich geschildert werden, sind die Konversionsvorbereitungen und Remys Übertritt zum Judentum diskreter erwähnt geblieben.745 In ihrer autobiographischen Konversionserzählung (Ich suchte Dich!) von 223 Seiten wird am Ende nur ein Satz notiert: »Der Übertritt Nahida’s zum Judentum fand nunmehr in Freiburg statt, unter Führung des sympathischen, feinsinnigen Dr. Adolf Lewin, welcher auch die Trauung in der dortigen schöngelegenen Synagoge vollzog.«746 Erst anhand ihrer Tagebucheinträge wird deutlich, dass sie persönlichen Religionsunterricht von Rabbiner A. Lewin erhielt, der eine Bedingung

740 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 01.02.1895, Arc.Nr. 01 133. 741 Lazarus-Remy 1927b: 154. 742 In ihrem Tagebuch notierte sie dazu: »15. Februar 1895: Briefe von Jacobson mit Anfrage, ob es wahr sei, dass er sich wieder verheirathen wolle – was er »nicht glauben könne.« – Wunderliche Leute! Warum soll ein Mann der geistig u. körperl. Frisch ist wie ein 50, nicht in die Ehe treten? Um so mehr da er sie eigentl. sein ganzes Leben lang entbehrt hat?« In: The National Library of Israel, Department of Archives, Arc.Nr. 01 133. 743 Lazarus-Remy 1927b: 155. 744 Lazarus-Remy 1927b: 155. 745 Vgl. Kap. III, 2.1. 746 Lazarus 1898b: 223.

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für den Übertritt war (s.Kap. III, 1). Dazu las sie unter anderem die hebräische Bibel, ausgewählte Stellen aus dem Talmud und dem Schulchan Aruch und frischte ihre Hebräisch-Kenntnisse auf.747 Durch ihre Tagebucheinträge kann das Datum (31. März 1895) sowie der Ablauf ihrer Konversion z.T. rekonstruiert werden: »Vor dem Freiburger Baisdin [sic!, Beth Din], aufgenommen ins Judentum. Mein Junge als Zeuge dabei – Tauchbad genommen. Die Rabbinerin u. Frau Heidingsfeld als Zeuginnen.«748 In Mein Leben I erwähnt sie zudem die Tatsache, dass sie bei ihrem Übertritt zum Judentum zusätzlich den alttestamentlichen Namen Ruth annahm, entsprechend der ersten weiblichen Konvertitin im Alten Testament.749 Mit der Annahme des Namens Ruth wird eine Parallele zur biblischen Geschichte von Ruth, der Moabiterin, hergestellt. Beide Frauen verbinden die Erfahrung des Verlustes des ersten Ehemannes sowie die anschließende bewusste Entscheidung zum Übertritt zum Gottesvolk Israel. Ruth ist auch der Name, der vielen Konvertitinnen zum Judentum verliehen wird.750 Ab März 1895 wurden neben dem Übertritt auch alle Vorbereitungen für die standesamtliche und die religiöse Eheschließung getroffen. So verfasste sie am 23. März 1895 das für ihren Übertritt ebenfalls notwendige Glaubensbekenntnis und überbrachte es persönlich Rabbiner A. Lewin.751 »Blauer Himmel! Sonne! Unser Hochzeitsmonat! […] Auf dem Standesamt alle Papiere in Ordnung. Trauung festgesetzt auf Donnerstag [4. April]! – beim Rabbiner. Alles verabredet. Notizen gemacht. Junge voller Freudigkeit, dass sich jetzt Alles glücklich fügt.«752 Der Freiburger Rechtsanwalt Sinnauer wurde mit den Formalitäten des Ehekontraktes und den Schritten beim Standesamt beauftragt. Am 4. April 1895 fand die standesamtliche Vermählung im Freiburger Rathaus statt. Eleonore Hennies (verst. 1834), die ihr eine gute Freundin geworden war und sich, wie Fanny Heidingsfeld (verst. 1921), um Lazarus’ Pflege kümmerte, stattete vormittags Remy mit dem obligatorischen Brautschleier sowie einem Myrtenkranz aus. Die sie tief bewegenden Momente ihrer Eheschließung werden von ihr in Mein Leben II beschrieben: »Die offizielle Handlung ging ohne weiteres vor sich. Die schlicht, harten Holzbänke, die graue, schmucklose Beamtenstube, die eintönige, fast unverständliche Rede, die uns der Standesbeamte hielt, hatten wahrlich nichts Feierliches, aber wir merkten es kaum: ein ganzer, blauer, überirdischer Himmel von höchstem Dank und heissen Jubel blühte uns im Herzen! Sinnauer gratulierte ehe wir uns noch erhoben hatten und zum ersten Mal hörte ich mich ›Frau Geheimrat‹ nennen … eine Äusserlichkeit aber welch

747 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebuchnotizen von März 1895, Arc.Nr. 01 133: Beispielsweise schreibt sie am 17.03.1895: »Referat über Schulchan Aruch angefangen«. 748 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 31.03.1895, Arc.Nr. 01 133: Fanny Heidingsfeld, die Gattin des Oberlehrers und Freundes von Moritz Lazarus. Sie kümmerte sich ebenfalls aufopfernd um seine Pflege. 749 Lazarus 1898b: 223: »Ihr Lehrer war ihr Gatte geworden. Indem sie den Namen Ruth annahm, nahm sie auch den Namen Lazarus an«. 750 Homolka und Seidel 1995: 15. 751 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 23.03.1895, Arc.Nr. 01 133. Zu Remys Glaubensbekenntnis siehe Kap. III, 2.1. 752 Ebd.: April 1895.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

eine Welt umfasste sie von heldenhafter Treue und Geduld! Mit wie viel ausdauernder, unbezwinglicher Liebe hatten wir uns dieses Wort erkämpft!«753 Nachmittags erfolgte dann die Trauung in der Freiburger Synagoge. »Sie war überfüllt. Draussen standen Bekannte und Freunde, die nicht mehr Einlass gefunden; auf den Stufen zum Portal drängten sich Frau [Eleonore] Hennies mit den Töchtern; erst beim Verlassen des Gotteshauses erkannte ich sie, so sehr waren meine Augen durch den dichten Schleier und meine Seelenerschütterung unfähig anderes zu erkennen als ihn, an dessen Seite ich ging [Herv. i.O.]. […] Als wir unter dem Trauhimmel standen, nach der feierlichen Ansprache des Rabbiners Lewin, Lazarus beim Ringanstecken den Segen Hoseas sprach: ›Und ich verlobe mich dir auf ewig und ich verlobe dich mir durch Recht und Gerechtigkeit, durch Huld und Liebe‹ – brach er jäh in ein leidenschaftliches Schluchzen aus … Alle verharrten tieferschüttert. Welch ein Bekenntnis lag in diesen durch Naturgewalt hervorstürzenden Freudentränen über die Erlösung aus jahrzehntelanger Qual verheimlichter Liebe und Sehnsucht! – Alle verstanden dieses Weinen eines Tapferen, der sich sonst so in der Gewalt hatte. – Als wir Arm in Arm durch die Menge aus der Synagoge gingen, begegneten wir überall feuchten Augen. Eleonore Hennies liefen die hellen Tränen über die Wangen.«754 Freudige Teilnahme und Glückwünsche erhielt das frischvermählte Paar von Freunden, Bekannten sowie von Fremden. Eine ganze Mappe wurde von Lazarus-Remy mit persönlichen Beglückwünschungen vor allem aus Freiburg gesammelt, aber auch aus Holland und unterschiedlichen deutschen Städten, wo sie beide ihre Vorträge gehalten hatten. Darunter sind auch Pressemitteilungen aus allen Ländern enthalten, wie beispielsweise von der American Hebrew, der The Menorah oder der New Yorker Staatszeitung.755 Auch sind Artikel von englischen, holländischen und sogar indischen Zeitschriften aus Bombay vorhanden, in denen ihre Vermählung gefeiert wird. Der deutsche Dichter Rudolf Menger (1824–1896) verfasste der »Aehrenleserin erhabener Lehren« und Lazarus, der »Seele Dolmetsch und Augur«, ein Sonett, dass wie folgt schloss: »So ward Bestimmung, dass sich Beider Glut Zur Ernte zukunftsvoller Saat vermählte, Zum Heim, auf dem die Huld des Himmels ruht. Denn wo die Muse hegt in heil’ger Hut Des Hauses Glück, das ihr der Weise wählte, Da ist, was schön erscheint, auch wahr und gut.«756 In ihrem Tagebuch notierte die nun frisch verheiratete: »23. Mai 1895: Hebräisches Gratulationsgedicht von Feldbau. Amerik. Hebrew u. NewYork. StaatsZtg. [Herv. i.O.] feiern unseren Bund in wärmsten Ausdrücken. Die Deutschen könnten von den Fremden ler-

753 Lazarus-Remy 1927b: 156. 754 Ebd. 755 Siehe dazu den Lazarus-Remy Archivbestand: The National Library of Israel, Department of Archives: Newspaper clippings on »Die jüdische Frau«, Arc.Nr. 01 130. 756 Lazarus-Remy 1927b: 162.

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nen, wie man eine solche Vereinigung von zwei Menschen wie wir es sind, zu begrüssen die Pflicht hätte!«757

3.2 (Un-)beschwerte Zweisamkeit (1895–1903) Nach der Trauung notierte Lazarus-Remy in ihrem Tagebuch, wie sie die Tage vom 5.-7. April 1895 in »traulichster Vergnüglichkeit«758 verbrachten und am Freitag, den 5. April zum ersten Mal gemeinsam den Sabbat gefeiert hatten, wie Lazarus die Sabbatlichter angezündet und seine Frau gesegnet hatte. Am 7. April notierte sie: »Alle Tage voll süssester Zärtlichkeit und doch vollkommen besonnen. […] Lazarus Ausspruch am frühen Morgen: Auf unsere Küsse kann man ›Amen‹ sagen, denn sie sind ein Gebet.«759 Das darauffolgende »jüdische Osterfest« feierten beide bei dem Rabbiner Lewin, was »mit allen sinnigen Gebräuchen und Gesängen ungemein stimmungsvoll begangen wurde. Vorher hatte ich heimlich Haggadah studiert und mich im flotten Rhythmus des köstlich-drolligen geübt!«760 Ende April begann die anschließende vierwöchige Hochzeitsreise (vom 23. April bis zum 21. Mai 1895), die sie durch die Schweiz nach Italien führte. Zunächst besuchten sie die Berner Universität, in der Lazarus als erster jüdischer Professor der philosophischen Fakultät mehr als ein Jahrzehnt gearbeitet hatte (1859–1874). Von seinen früheren Professorenkollegen u.a. Eugen Huber (1849–1923), Johann Markusen, Carl Hilty (1833–1909) und Vogt wurde das frischvermählte Ehepaar herzlich begrüßt und bewirtet, obwohl Lazarus-Remy bei der Familie Vogt, die mit Lazarus Familie in Briefwechsel stand, eher eine zurückhaltende Haltung verspürte. »War das Schweizer Art? Oder warf Berlin seine Schatten?«761 fragt sie sich in Mein Leben II. In Mailand und Genua angekommen, lag es Lazarus am Herzen, die vielen Dome und Kapellen zu besichtigen, was sie mit Bedenken akzeptierte. Denn ihre Sorge galt seiner Gesundheit und »sie dachte nur daran, ob Zugluft und Kälte ihm schaden könnten! Aller Marmor, alle Kunsthallen und Klostersäulengänge waren ihr verdächtig, nur hinaus! Hinaus in die warme Sonne!«762 Nach der Besichtigung der sie am meisten interessierenden Sehenswürdigkeit, des Denkmals des Columbus, fuhren sie weiter nach Spezia und per Schiff nach San Terenzo (2. Mai 1895), wo sie das Grab ihrer Mutter Sturmhoefel d.Ä. besuchen wollten. Am 4. Mai 1895 erfuhren sie allerdings, dass das Grab ihrer Mutter nicht mehr vorzufinden sei. Bei einer Vergrößerung des Kirchhofes sei eine ganze Gräberreihe »verschwunden. […] Die ganze Vergangenheitsqual des Suchens nach der Mutter und Nichtfindens wiederholte sich mit ihrem Grabe.«763 Nach dieser Enttäuschung machte sich das Paar auf nach Florenz, wo sie ein

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The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 23.05.1925, Arc.Nr. 01 135. Lazarus-Remy 1927b: 156. Ebd. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von 1895, Arc.Nr. 01 133. Lazarus-Remy 1927b: 158. Ebd. Ebd.: 159.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

»köstliches Strassenleben, eine zeit- und führerlose Bummelexistenz [führten]. Mein Liebster entwickelte einen knabenhaften Übermut, einen schalkhaften Freiheitsdrang, von dem er selbst bekannte, das sei noch nicht dagewesen! Er lerne sich selbst erst kennen … er entdeckte eine fürchterliche Lücke in seinem Leben…. Die füllte er jetzt aus. Ziellos streiften wir umher und lachten uns an, trunken vor Vergnügen.«764 Am 13. Mai 1895 fuhren sie weiter nach Bologna. Sie notierte dazu: »Natürlich alles bewundert: den schönen Nettuno, die schiefen Türme, alte und neue Universität u.s.w. aber doch froh wieder im Eisenbahncoupè zu sitzen, das nach Padua führte, unser RuheZiel.«765 Die Hochzeitsreise tat beiden gut. Vor allem sei Lazarus völlig aufgeblüht: »In Padua wars, wo meine grenzenlose Dankbarkeit über die Veränderung, die mit dem geliebten Menschen vor ging zur Andacht wurde. Seiner Verwandlung haftete geradezu etwas Mystisches an: wo war sein früherer, gebückter Gang geblieben, sein bedächtiges, langsames Sprechen, die ernste Miene, der eigentümliche, wie nach innen gerichtete Blick, das melancholische, resignierte Lächeln? Und nun! Hochaufgerichtet kam er schnellen Ganges daher, elastisch in jeder Bewegung, energisch in Sprache und Betonung. Und die Stimme! Wohllautender als je! Und die geröteten, gerundeten Wangen, das leuchtende, lachende Auge! Diesen schalkhaften Blick hatte er früher nie! Nie diese sonnige Heiterkeit, die sein ganzes Wesen verjüngte! Selbst das vergraute Haar schien wieder goldiger, wie vor vielen, vielen Jahren, als die schüchtern bei ihm Eintretende von seinem Christuskopf bezaubert wart.«766 Nach vier Wochen kehrte das verliebte und frischverheiratete Paar mit einem »Hochgefühl eines langen, schwer erkämpften, endlich sieghaft errungenen Glückes«767 am 21. Mai 1895 in ihr gemeinsames Heim in Schönefeld zurück. Auch nach der Hochzeitsreise zeigte die Familie von Lazarus, vor allem seine alleinstehende Schwester Ernestine Lazarus, weiterhin Distanz. Am 12. April 1895 erfuhr Lazarus-Remy, dass Ernestine Lazarus beabsichtigte ihre langjährige Tätigkeit als Hauswirtschafterin für Lazarus aufzugeben. Schockiert von der Neuigkeit, verlangte sie von Ernestine Lazarus eine Erklärung: »Ich habe unser Leben zu dreien, als ein recht friedliches und fröhliches vorgestellt. Stattdessen versagst Du Deinem Bruder auf einmal die durch 40 Jahre geleistete Hilfe als treue Schafferin seines Haushaltes und mir die notwendige Unterstützung. Du weißt genau, dass ich Lazarus bei seinen bevorstehenden Arbeiten und in der umfangreichen und schwierigen Korrespondenz meine ganze Zeit und Kraft zur Verfügung stellen wollte, – und nun bürdest Du mir noch dazu die doppelte Last der Haushaltung auf und überantwortest damit die so hochwichtige körperliche Pflege eines Leidenden meiner Unabkömmlichkeit und der Unerfahrenheit eines Dienstboten! Weshalb? Da Du bei uns jetzt auch auf Deine eigene Gesundheit und Schonung Deiner bisher unmässig bis zum Überdruss angespannten Kräfte bedacht sein kannst, warum

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Lazarus-Remy 1927b: 159. Ebd. Ebd.: 160. Ebd.

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nahmst Du diese glückliche Veränderung nicht freudig an? Liebst Du Deinen Bruder nicht mehr? Hasst Du mich? Warum??«768 Ernestine Lazarus bezog bezüglich der Fragen keine Stellung und nahm bei Familie Steinthal eine Stellung als Wirtschafterin für sechs Personen an. Mithilfe eines Dienstmädchens namens Alwine, die »willig und verständig«769 sei, wurde die Haushaltsführung in Schönefeld bewältigt. Die zurückweisende Haltung vonseiten Steinthals und der Familie Lazarus enttäuschte vor allem Lazarus-Remy. Allein Lazarus’ bedingungslose Zuneigung zu ihr tröstete sie und stimmte sie hoffnungsvoll. »Wie das Verhalten meines Mannes zu mir war, und Gottlob, blieb, beweist ein schmaler Streifen Papier, auf dem nur eine Zeile steht […]: Du bist ……. Das süsseste, holdeste, herrlichste, entzückendste, schönste (gross geschrieben und rot unterstrichen!) wohlgefälligste, dumme, junge, wonnige Weib, – du bist die Lust, die Freude, das Glück, das Leben deines Mannes [Herv. i.O.]. Wie nichtig schienen gegen solche schalkhaften Zeugnisse erfinderischer Zärtlichkeit der Gattenliebe all die Schatten, die von Aussen her unser Eheleben verdunkeln wollten!«770 So wird von Nahida Ruth Lazarus das enttäuschende Verhalten seiner Familie ihr gegenüber auf der Beerdigung von Moritz Lazarus’ Tante Pinchen geschildert. Als im Sommer 1895 Moritz Lazarus gebeten wurde, in Berlin die Trauerrede zu halten, traf das Paar vor Ort eine »feindselig ignorierende Trauerversammlung«771 an. »Es fiel mir kaum auf, dass mir nicht einmal ein Sessel angeboten wurde, während alle weiblichen Teilnehmer sassen. Lazarus’ Gattin musste stehend unter den Anwesenden seine Grabrede anhören; […] aber für mich, die seine Stütze bei der Feierlichkeit war, ohne die er überhaupt nicht hätte kommen können, …kein Blick, kein Wort, kein Gruß … nur kindischer Hass [Herv. i.O.]. Warum? – Ein noch heute ungelöstes Rätsel.«772 Eine Ausnahme bildete der jüdische Schriftsteller Moritz Heimann (1868–1925), der mit Lazarus die Schule der jüdischen Gemeinde in Filehne besuchte und ihm erklärte: »Die Juden zürnen dir, weil du ihnen Nahida Remy entführtest.«773 Während Lazarus zu seinem Geburtstag am 15. September 1895 von »Nah und Fern herzlichste Gratulationen« erhielt, schickten Familie Steintheil und Ernestine nur eine »kühle, kurze Gratulation […]. Nichts von den anderen Verwandten!«774 Sie notierte dazu: »Mögen die Wellenbewegungen des Daseins zeitweise abgrundtief oder in die Irre führen: es steht bei uns unter allen Umständen gut zu sein. Über der Veränderlichkeit der Tatsachen, steht die Unveränderlichkeit des Ideals [Herv. i.O.].«775 Neben diesen negativen Erfahrungen lernte sie

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Ebd.: 157. Ebd.: 162. Lazarus-Remy 1927b: 162. Ebd.: 165. Ebd. Ebd.: 163. Ebd.: 165. Vgl. auch The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheinträge vom 15.+16.08.1895, Arc.Nr. 01 133. Lazarus-Remy 1927b: 168.

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auch viele Menschen kennen, die ihr und ihnen als Paar zugetan waren. So lernte sie im August 1895 die Familie des Leipziger Rabbiners Simon Hurwitz (1810–1900) kennen, »dessen Frau u. Töchter sehr gerührt waren mich kennen zu lernen«776 ; die Folge waren regelmäßige gegenseitige Besuche. Auch erhielt das Paar im Oktober 1895 den Besuch von Lazarus’ Vetter Victor aus Magdeburg, den Lazarus-Remy als einen gemütlichen und ehrlichen Mann beschrieb. Der Vetter Victor sei der Meinung gewesen, »dass Lazarus Sie geheirathet [habe], ist der vernünftigste und klügste Streich seines Lebens [gewesen]. – - Warum nur die anderen Verwandten so thun, als dächten sie das Gegenteil -?? [Herv. i.O.]«777 Sie genossen ihre Zweisamkeit und planten jeden Tag einen ausgiebigen Park- oder Waldspaziergang ein, um die von ihnen verehrte Natur zu genießen.778 Eines Abends entdeckte Lazarus in seinem Garten, dass seine Yucca-Palme zum ersten Mal seit den 20 Jahren, die er in Schönefeld lebte, blühte. »›Hidde, nun blüht sie zum erstenmal! Zum erstenmal! Dir zu Ehren! Mein Weib, mein geliebtes Weib! [Herv. i.O.]‹ Und wieder umarmte er mich, lange, ganz ergriffen. Eine wahrhaft merkwürdige Fügung, die der Heissgeliebte sofort als glückliches Omen auffasste.«779 Gerne verbrachten sie ihre freien Momente nach der Arbeit auch in ihrem Garten in der Eschenlaube, deren fast undurchdringliche Zweige bis zum Boden hingen. »Wie ein verstohlenes Liebespaar«780 saßen sie darin und genossen den Mondscheinabend. »In dieser Eschenlaube fiel einmal das schöne Lazarus-Wort: Wahre Liebe und wahre Treue sind unzertrennlich: nicht einmal in Gedanken können sie geschieden werden; eines erzeugt und befruchtet das Andere.«781 Lazarus-Remy organisierte die Haushaltsführung, kümmerte sich um ihren Ehemann und half ihm als Zuarbeiterin und Sekretärin. Beispielsweise konnte sie ihm durch ihre Hebräischkenntnisse beim Aufsuchen von Talmudstellen behilflich sein. Der Alltag bestand neben Hausarbeiten wie dem Kochen vor allem aus der Bearbeitung seiner Korrespondenz (täglich 20–25 Briefe) und dem Anfertigen einer ordentlichen Abschrift des fertiggestellten Manuskripts der Ethik des Judentums (1898). Ihrer bedingungslosen Mitarbeit ist es zu verdanken, dass Lazarus, trotz seines Alters und seiner mannigfachen Leiden, seinen ersten Band seines großen Werkes Ethik des Judentums vollenden konnte. Bereits im Februar 1895 hatte er ihr seine Studien zur Ethik vorgelegt, worüber sie in ihrem Tagebuch notierte: »Endlich der Tag gek. an dem er mir seine Vorarbeiten zur Ethik vorlegte. Mehrere Abschnitte daraus vorgelesen. Wundervoll! Tiefe Gelehrsamkeit, höchste Pietät und den-

776 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 30.08.1895, Arc.Nr. 01 133. Sowie: ebd.: 10.09.1895, Arc.Nr. 01 134: »Rosa u. Rebecca Hurwitz zu Besuch.« 777 Ebd.: 07.10.1895, Arc.Nr. 01 133. 778 Lazarus-Remy 1927b: 162: Sie »verehrten im bescheidensten Blümchen das unfassbare Walten göttlicher Schöpfungskraft.« 779 Ebd.: 163. 780 Ebd. 781 Ebd.

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noch ruhige Kritik, – Gott gebe Kraft, dass er, wie er sich vorgenommen, sofort nach unserer Heimkehr mit m. [sic!] Hilfe die zum Druck bestimmte Ausarbeitung beginnt!«782 Nach seinem Tod war sie es, die trotz vieler Schwierigkeiten es ermöglichte, dass der zweite Band erschien. Während sie vor der Eheschließung seine Vorträge noch heimlich begleiten musste, konnte sie ihn nun als seine Frau auch offiziell zu seinen Vorträgen und Versammlungen begleiten.783 Lazarus’ Gesundheitszustand verschlechterte sich erneut. In ihrem Tagebuch von 1895 finden sich vermehrte Einträge über seine Kopfschmerzen, schlaflose Nächte, leidendes Aussehen, Mattigkeit und Angegriffenheit, was sie sehr bedrückte. Ihrer Haushälterin Alwine kündigte sie wegen schlechter Haushaltsführung zum 1. Oktober 1895, sodass für Lazarus-Remy nun die geahnte und »berüchtigte Dienstbotenmisère so vieler Hausfrauen«784 begann. Sie notierte darüber: »Schlaflose Nächte kostete mich die Sorge und der Unmut Nichtiges wichtig nehmen zu müssen [Herv. i.O.], denn Kleinliches beherrscht die Stimmung und Widerwärtiges reizt die Nerven. Ein natürliches Ventil ist Aussprache, aber wenn Verheimlichung Pflicht ist? Nie sprach ich mit meinem Mann von häuslichen Misèren. War er doch früher täglich damit belästigt worden.«785 Am 25. September 1895 beschreibt sie in ihrem Tagebuch, wie sie die zwei großen jüdischen Festtage Rosch Haschana (jüd. Neujahrstag) und Jom Kippur (Versöhnungstag) miteinander verbrachten. Am Abend des Jom Kippur: »Gesang. Bibellektüre. Sabbath-Segen. Kol Nidre. Mitten in die religiös-gehobene Stimmung hinein, schenkt mir mein Lazarus ein – Kochbuch!«786 mit einer persönlichen Widmung: »Meiner geliebten, süssen Koch-Brat-Wirtschafterin und Pflegekünstlerin Hidde-Ruthleben [Herv. i.O.].«787 Als es Lazarus gesundheitlich wieder besser erging, nahm er im Herbst Einladungen zu Vortragsreisen nach Leipzig (15.10.1895), Prag (18.10.1895) und Dresden (21.10.1895) an, auf denen ihn seine Ehefrau begleitete und unterstützte. Am 25. Oktober kam das Paar in Berlin an, wo er als Dozent für das Wintersemester 1895/96 an der Universität zu Berlin (heute die Humboldt-Universität zu Berlin) eingestellt wurde. Zum Schrecken beider

782 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 21.02.1895, Arc.Nr. 01 133. 783 Lazarus-Remy 1927b: 104: Am 12. Aug. 1883 hatte Moritz Lazarus Remy gebeten ihn heimlich zur Konferenz nach Koblenz zu begleiten. Er müsse da sein Projekt Ethik des Judentums vorstellen und bräuchte dafür seelischen Beistand. »Er würde, wie immer, die Verhandlung führen, aber er sei matt, abgespannt, überarbeitet. […] Sei er aber jetzt, gerade jetzt unfähig, dann […] werden Andere, zu denen man kein Vertrauen haben kann, den Auftrag erhalten. […] der grosse Gedanke, das grosse Werk vergeblich!« Sie begleitete ihn und er erhielt den Auftrag, das große Werke über die Ethik des Judentums (1898) zu schreiben. 784 Lazarus-Remy 1927b: 165. In ihrem Tagebuch notierte sie: »Früh Alvine Abschied genommen. Frau Kuhn instruirt, […] Meine gute alte Frau Kuhn versteht nicht zu kochen u. muss ich Alles machen. Bin schon ganz mürbe vom Hin und Her u auf den Füssen stehen«. In: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 01.10.1895, Arc.Nr. 01 133. 785 Lazarus-Remy 1927b: 168. 786 Ebd.: 165. 787 Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

stürzte Lazarus am Tag nach der Ankunft so sehr, dass er sich den rechten Arm ausrenkte. »Schwere schmerzvolle Geduldsprobe! Mein Mann im Gipsverband mit dem rechten Arm u. theils Oberkörper; kann ohne Hilfe nicht gehen. Schlechte Nächte. Gott gebe meinem Menschen Kraft!«788 Trotz verletzter Hand hielt Lazarus annähernd 40 Vorlesungen; Lazarus-Remy wurde erlaubt, ihren Mann zu begleiten.789 Da sich bei Lazarus in der Achselhöhle Geschwüre bildeten, die die Nerven angriffen, dauerte die Heilung annähernd zwei Jahre. Trotz verschiedener schmerzhafter Handübungen behielt er zeitlebens in der rechten Hand zwei gelähmte Finger. Noch nicht ganz genesen, nahm er im Frühjahr 1896 Vorträge in Frankfurt, München, Augsburg, Karlsruhe, Freiburg und auf dem Rückweg im ostwestfälischen Brakel an, »dass [ihnen] durch die Liebenswürdigkeit [ihrer] Gastfreunde Familie Flechtheim in treuer Erinnerung blieb.«790 Den Sommer 1896 verbrachte das Ehepaar wieder in ihrem Eigenheim in Schönefeld. Im Wintersemester 1896/97 ging es erneut auf Vortragsreisen, diesmal durch Westfalen und ins Rheinland: nach Bielefeld, Dortmund, Bochum, Hörde, Witten, Gelsenkirchen, Essen und Aachen, wo sie besondere Anerkennung erhielt. Nach Rabbiner Dr. Heinrich Jaulus (1849–1927) war ihr »Hauptverdienst nicht [ihre] Werke, sondern dass [sie] die Gefährtin des Mannes geworden, dem Judenheit und Judentum Unendliches verdankt, dessen Leben [sie] verschönere und schütze und dadurch verlängere. [Ihr] gebühre der Dank auch für Lazarus Vorträge, denn ohne [sie] würde er diese Reise nicht unternommen haben.«791 Von Aachen ging es weiter nach Köln und Karlsruhe. Sie wurde ihrem Anspruch einer guten Ehefrau und Gehilfin gerecht und organisierte gewissenhaft die Vortragsreisen, plante die Vorträge und kümmerte sich darum, dass alles vor Ort ohne Probleme funktionierte und Lazarus sich nicht überanstrengte. So sorgte sie beispielsweise dafür, dass bei den Vorträgen immer ein Armsessel bereitstand und ein Teppich unter seinen Füßen lag. Die Ehejahre waren durch die Erkrankungen von Lazarus stets mit Sorgen belastet. Sie beschreibt ihr Eheleben als »fortwährendes Gebet: Gott, Gott lass ihn nicht zu Grunde gehen! Schöpfer all des Wunderbaren, Unbegreiflichem im kleinsten Grashalm, gib diesem edlen Geist, diesem milden Gemüt Kraft und Ausdauer, lass ihn leben! Leben! Leben!!«792 Ihre Sorge um ihn ließen ihre Studien, Schriftstellerei, häusliche Angelegenheiten, Vorträge und die Weltereignisse als nebensächlich erscheinen: »Alles erschien mir öde, leer, so klein, wie in weitester Ferne gerückt. Was ging mich das Alles noch an, was war mir das Dasein, wenn er …? Der Gedanke durfte nicht ausge-

788 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag, Arc.Nr. 01 133. Moritz Lazarus war über einen vor der Türschwelle aufgerollten Korridorläufer gestürzt. 789 In ihrem Tagebuch notierte sie: »Der Zustand bes. der Hand beängstigend. […] Ich zum Rector der Universität, ihn bitten, dass mir gestattet wird m. Mann zu begleiten.« In: ebd.: Tagebucheintrag vom 18.11.1895. 790 Lazarus-Remy 1927b: 167. Dabei muss es sich um die jüdische Kaufmannsfamilie Alex (1846–1902) und Emil Flechtheim (1850–1933) gehandelt haben. 791 Lazarus-Remy 1927b: 168. 792 Ebd.: 143.

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dacht werden … Ein Staunen aber packte mich, wie ein Mensch zum anderen gehören kann. So gehören, dass alles andere versinkt … Staub, Asche, Nichts!«793 Die immer noch anhaltenden Geldsorgen von Lazarus (s.Kap. I, 2.2.1) führten schließlich dazu, dass er nicht nur seine umfangreiche Bibliothek, sondern auch das geliebte Landhaus in Schönefeld verkaufen musste. Bereits im Sommer 1895 wurde vom Verkauf der Lazarus-Bibliothek gesprochen und Lazarus-Remy machte sich an die Katalogisierung der sechs Zimmer umfassenden Bibliothek, wovon ein Zimmer allein Goethe gewidmet war. 1896 entschloss sich das Paar, den kompletten Haushalt am Königsplatz sowie das Schönefelder Landhaus aufzulösen und nach Berlin zu ziehen. Allerdings machte das Verhalten der Familie von Lazarus ihnen einen Aufenthalt in Berlin unmöglich: »Ihre stille und offene Feindseligkeit gegen mich, beeinflusste den ganzen Bekanntenkreis und konnte auf die Dauer nicht ohne Konflikte ertragen werden. Meines Heissgeliebten Friedensbedürfnis aber war so gross, dass er sich lieber heimatlos machte, als dass er den Seinigen so entgegengetreten wäre, wie es unsere Würde unbedingt gefordert hätte. […] – So gaben wir die nordische Heimat mit ihrem kalten Klima und ihren kälteren Menschen auf und zogen gen Süden, lernten Meran kennen und hatten den Eindruck: hier ist gut Hütten bauen.«794 Die Wintermonate 1896 bis April 1897 verbrachte das Paar im warmen Süden. Es führte sie bis Ende März 1897 nach Nizza, wo sie im evangelischen Pfarrhaus bei Pastor Philipp Friedrich Mader (1832–1917) ein »großes, helles Zimmer«795 erhielten. »Wir vertieften uns bald in geistige Arbeit. Das erste Kapitel zur Ethik ward nun vollendet, daneben liefen Korrekturen für die 4. Auflage des ›Leben der Seele‹ und die endlose Korrespondenz für die Schiller- Zunz- und Eggerstiftungen. Trotz wechselnden Befindens war mein Geliebter unermüdlich tätig.«796 Am 31. März verließen sie Nizza, um der Anfrage von Dr. Hermann Fialla (1844–1932) nachzukommen, im Politischen Volksverein in Wien »Vorträge nach ihrer Wahl«797 zu halten. Es handelte sich dabei um die Lazarus-Wochen (8.-13.04.1897), wie die Wiener Presse meldete und von Lazarus-Remy als »Höhepunkt [ihres gemeinsamen] Lebens«798 beschrieben wurde. Es war der letzte Vortrag, den Lazarus am 11. April 1897 hielt und »die letzte grosse, rauschende, festlich- feierliche Huldigung, die ihm – die uns – in der Öffentlichkeit geworden [sei]«799 . Am 13. April hielt auch Lazarus-Remy im überfüllten Wiener Musikvereinssaal, der ca. 3000 Personen fasste, ihren Vortrag Ein Seelenkampf. »Als ich im Lauf der Rede, ihn als meinen Lehrer und Führer erwähnte und dabei unwillkürlich zu ihm hinblickte, unterbrach mich mitten im Satz ein minutenlanger Beifall,

793 794 795 796 797 798 799

Ebd. Ebd.: 170. Ebd.: 169. Lazarus-Remy 1927b: 169. Ebd.: 170. Ebd. Ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Alle wandten die Köpfe zur Loge. Viele erhoben sich und grüssten ihn, von dem eigenartigen Augenblick hingerissen. […] Es lag in diesem Beifallsausbruch von Tausenden tiefbewegender Menschen eine demonstrative Zustimmung unseres Bundes. Das, ja, das war der stolzeste Augenblick unseres Lebens! [Herv. i.O.]«800 Den Sommer (April bis August 1897) verbrachte das Paar zum letzten Mal im Schönefelder Landhaus, um alles Erforderliche für den Verkauf und die Hausauflösung zu organisieren. Die bereits katalogisierte Lazarus-Bibliothek wurde, wie auch ihre eigene kleine Büchersammlung, im August 1897 bei List und Franke in Leipzig auktioniert. Sie behielten nur wenige Lieblingsstücke und Klassiker, darunter Dante und ihre gesammelten Bibeln. »Wäre er nicht ein Armer geworden, er hätte in Meran in irgendeiner Burg seiner Bibliothek ein würdiges Heim geschaffen, aber sie musste beitragen die Übersiedlungskosten zu decken.«801 Die gesamten finanziellen Ersparnisse des Paares waren erschöpft, sodass Lazarus-Remys »Lebensversicherung«802 , d.h. ihr Brautgeld, das sie für ihre frühere finanzielle Hilfeleistung an Lazarus als Entschädigung erhalten hatte, als Pfand wieder notariell herausgegeben werden musste. Durch den Verkauf des Anwesens in Schönefeld, der Lazarus-Bibliothek sowie einiger Möbel konnte Lazarus’ Schuldenlast endgültig getilgt werden. Am 20. September 1897 wurde Schönefeld für immer verlassen und das neue Heim zunächst im Tiroler Hof in Meran aufgenommen. Sie beschrieb in Mein Leben II Meran als ein völlig idyllisches Urlaubsörtchen, das sie an eine Art deutsche Kolonie erinnerte, wo beide alte Bekannte antreffen oder neue Persönlichkeiten wie den jüdischen Industriellen Chaim Beer Mosel (verst. 1902) kennenlernen konnten.803 Nach achtwöchigem Aufenthalt im Tiroler Hof siedelten sie in eine geräumige Hochparterrewohnung in die Defreggerstrasse um. Obwohl das warme Wetter ihnen erlaubte, jeden Tag einige Stunden im Freien zu verweilen, bekam Lazarus unerwartete asthmatische Beschwerden. Seine Gesundheit verschlechterte sich rapide, sodass sie von nun an hauptsächlich über seinen Gesundheitszustand in den Tagebüchern schrieb. Der Sanitätsrat Dr. Raphael Hausmann (1837–1912) sowie die beiden berühmten Berliner Mediziner Dr. Hermann Senator (1834–1911) und Dr. Bernhard Fränkel (1836–1911) konnten keine Ursache für Lazarus’ Beschwerden diagnostizieren. Bei einem der täglichen Spazierausflüge, die Lazarus nur noch mit einem Rollstuhl bewältigen konnte, entdeckten sie eine verlassene Villa im Florentiner Stil, die beide sofort entzückte. Sie notierte dazu: »Nahe der Stadt und fern dem Getriebe! Einsam und doch nicht verlassen! Schattig und sonnig! Ein ideales Heim.«804 Der Besitzer verlangte 25.000 Gulden, was Lazarus zu Verhandlungen animierte. »Eilig wandte ich mich zum Gehen, aber die Herren fingen an geschäftlich zu verhandeln … mein Geliebter lächelte zu meinem Erstaunen und Unglauben … Es war möglich die Villa zu erwerben.«805 Es wurde vereinbart, dass die Hälfte des Kaufpreises als Hypothek stehen blieb. Die andere Hälfte wurde von den Subventionen von 10.000 Mark, die Lazarus vom Bankier Albert von Rotschild (1844–1911) in Wien für 800 801 802 803 804 805

Ebd.: 171. Ebd. Ebd. Ebd. Lazarus-Remy 1927b: 173. Ebd.: 172.

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den ersten Band seiner Ethik des Judentums erhielt, getilgt. Die Hypothekzinsen konnte das Paar durch eine bescheidene Lebensweise tragen. »So wurde der Kaufvertrag abgeschlossen. Er ließ ›den kleinen florentinischen Palast‹ auf meinen Namen eintragen; es war sein Geschenk zu meinem Geburtstag 3. Februar 1900. Die Jahreswende brachte mir mein eigenes Heim.«806 Durch Lazarus’ asthmatische Erkrankung musste Lazarus-Remy die Gestaltung des neuen Heims und die Organisation der Übersiedlung vollständig übernehmen. »Mit welchem schwerbelasteten Gemüt habe ich Umzug und Einrichtung bewerkstelligt! Viele Wochen dauerte es noch ehe mein heissgeliebter Mensch in das bereits fertige Heim eingeführt werden konnte. Das schleichende Fieber, das sich jeden Nachmittag einstellte, hatte zu sehr an seinen Kräften gezehrt.«807 Erst im Februar 1900 konnten beide in die Villa Ruth in der Erzherzog-Otto-Str. 2, offiziell einziehen. Ihre Freizeit in Meran verbrachten sie, wenn es die Gesundheit zuließ, auf der Promenade, wo sie den öffentlichen Konzerten lauschten und viele Bekannte trafen, darunter den Kinderarzt Prof. Dr. Eduard Heinrich Henoch (1820–1910) und den Dichter Leo Herzberg-Fränkel (1827–1915), der sich für die geistigen Interessen seiner Glaubensgenossen einsetzte. Im Sommer (21. Juni bis zum 26. August 1901) machten sie eine Urlaubsreise nach Zürich, um Lazarus’ Wunsch, noch einmal die Schweiz zu sehen, nachzukommen. Von Zürich ging es weiter nach Luzern, Bern und Interlaken, wo sie von Lazarus’ alten Freunden, Kollegen und Schülern mit herzlicher Bewirtung aufgenommen wurden.808 Sie notierte in ihrem Tagebuch: »Mann heiter, witzig und liebenswürdig wie immer. Alle beglückwünschen mich, wegen seines trefflichen Aussehens.«809 Am 26. August 1901 nach Meran zurückgekehrt, nahmen sie das arbeitsame Leben wieder auf. Lazarus widmete sich der Ausarbeitung des zweiten Bandes der Ethik des Judentums und sie der »Aschenbrödelei«810 , da sie ihre dortige Haushaltshilfe Rosa Sittig (verst. 1920) gekündigt hatte. Sie, die ihren Mann in allen Angelegenheiten völlig unterstützte, kam selbst kaum noch zu eigenen Arbeiten. In Mein Leben II schildert sie ihre aufopfernde Lage: »Meine Tätigkeit beschränkte sich, wie in Schönefeld, auf Handlangerdienste: Talmudbändereichen, Gemorah-Abschnitte aufsuchen, Lexika nachprüfen, vorlesen, korrigieren und nach seinem Diktat schreiben. Der Frühmorgen aber, wenn mein Herzblatt noch schlief, gehörte mir, d.h. dem anwachsenden Kapitel-Berg der Lebenserinnerungen. Zwölf Kapitel waren schon in Schönefeld vollendet worden; in Meran wurden ›Schillerstiftung‹, Kulturgeschichtliches […] und Anderes druckfertig ins Reine geschrieben.«811

806 Ebd. 807 Ebd.: 173. 808 Beispielsweise vom Rabbiner Ludwig Stein (1859–1930) und vom Schweizer Chirurgen Emil Theodor Kocher (1841–1917). 809 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 05.07.1901, Arc.Nr. 01 133. 810 Lazarus-Remy 1927b: 175. 811 Ebd.: 169.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Seit fast 20 Jahren (seit 1889) sammelte sie biographisches, literarisches und kulturgeschichtliches Material von und über Moritz Lazarus, welches sie zunächst in 20 Kapitel zusammenschrieb und schließlich 1906 veröffentlichte. »Aus Gesprächen, Erzähltem, aus Handschriften, Briefen, Dokumenten, Zeitungsausschnitten u. dergl. alles ist von mir aufgeschrieben, je nach Inhalt in Hefte geteilt und dann ausgearbeitet worden. Es werden 3 Bände.«812 Es wird allerdings deutlich, dass Lazarus-Remy vor allem Lazarus bei seinem Manuskript des zweiten Bandes Die Ethik des Judentums zuarbeitete, das schließlich acht Jahre nach seinem Tod 1911 herausgegeben wurde.813 Lazarus’ Gesundheitszustand verschlimmerte sich gravierend, sodass LazarusRemys Tagebücher von 1902 und 1903 hauptsächlich Informationen über seine Körpertemperatur, Essgewohnheiten sowie sein Wohlbefinden dokumentieren. Im Dezember 1902 bat ihre frühere Haushaltshilfe Rosa Sittig um eine erneute Anstellung, was von ihr dankbar angenommen und nachträglich sogar als eine göttliche Fügung angesehen wird: »Gott schickte sie mir! – Nachdem ich endlich ihren Aufenthalt erfahren, nahm ich sie wieder. So war sie bei mir in der härtesten Zeit, die meiner harrte.«814 Lazarus’ Gesamtbefinden sei im Januar 1903 zwar zufriedenstellend gewesen, jedoch gab es immer wieder besorgniserregende Momente. Beispielsweise überfielen ihn nun fast jede Nacht hustenartige Anfälle, Zuckungen und Beschwerden aller Art, die beide wachhielten. Trotz der anstrengenden Nächte arbeiteten beide fleißig an ihren Werken weiter, Lazarus an seinem Schreibtisch am zweiten Band Die Ethik des Judentums und LazarusRemy am Esstisch an den letzten Kapiteln von Lazarus’ Lebenserinnerungen. Nebenbei schrieb sie noch Feuilletons für verschiedene Zeitschriften.815 So konnte sie es sich nicht verkneifen, das beschönigende Feuilleton des Berliner Tageblatts über den Eheskandal der Kronprinzessin Luise von Sachsen (Luise von Österreich-Toskana, 1870–1947) persönlich zu kommentieren.816 Ihre Stellungnahme wurde am 16. Februar 1903 ebenfalls im Berliner Tageblatt veröffentlicht und mit 20 Mark honoriert. Sie erhielt neben einer guten Bewertung von der Meraner Zeitung817 , die ihren Artikel als lesenswertes Feuilleton beurteilte, auch einige beistimmende Leserbriefe. »Wie vergnügt fuchtelte der Liebste mit diesem Blatt in der Luft herum, als er es mir brachte! Seine Bescheidenheit erfreute sich an der kleinsten Aufmerksamkeit.«818 Ihr Honorar sowie zusätzliche 10 Kronen schickte sie mit der Zustimmung ihres Mannes als Spende für »die armen galizischen Juden nach Wien [Herv. i.O.]«819 . Am 3. Februar 1903 erhielt Lazarus-Remy zu ihrem 54. Geburtstag von Moritz Lazarus eine kleine Volksbibliothek geschenkt, die er heimlich aus Lahr hatte kommen lassen.820 Am 4. April 1903 feierten sie still ihren 8. Hochzeitstag: »8 volle Jahre hatten wir 812 813 814 815 816 817 818 819

Ebd.: 176. Lazarus 1911. Lazarus-Remy 1927b: 177. S.Bibl. im Anhang. Lazarus 1903b. Meraner Zeitung. Deutsches Tageblatt (1867–1926). Digitalisate unter: Teßmann 2018. Lazarus-Remy 1927b: 178. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 21.02.1903, Arc.Nr. 01 133. 820 Die Volksbibliothek des Lahrer Hinkenden Boten. Schauenberg Verlag. 1888.

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uns nun, und 20 kannten, d.h. liebten wir uns und nicht eine Minute der Verstimmung! [Herv. i.O.]«821 Ab April 1903 begann Lazarus gesundheitliche Situation sich weiter zu verschlechtern und sie musste am 7. April Dr. Raphael Hausmann (1837–1912) kommen lassen. Sie zitierte Lazarus in ihrem Tagebuch: »Ja, er solle kommen und ihn untersuchen, ob er bloss krank, oder es ans Sterben ginge! ---- Mein armes Herz krampfte sich zusammen [Herv. i.O.].«822 Tief bewegt von seiner Aussage, machte sie sich selbst auf den Weg, um Dr. Raphael Hausmann zu holen: »Der stille, einsame Weinbergsweg, der zu Hausmanns ›Villa Imansruhe‹ führt, welch bitteres Schluchzen hat er gehört!! – Zu sehr waren all die Zeit die Tränen zurückgekämpft worden, jetzt brachen sie hervor, gewaltsam, unaufhaltsam. Es sah ja Niemand, – als Gott allein. Wie hab ich zu ihm laut gebetet [Herv. i.O.]. Es hörte ja Niemand, – als Gott allein.«823 Als Dr. Raphael Hausmann Lazarus genau untersucht hatte, beruhigte er beide, sodass er bereits ab dem 12. April wieder am zweiten Band der Ethik des Judentums zu arbeiten begann. »Kein Zureden sich zu schonen half! – Ich muss, ich muss; noch ein Vierteljahr, wenn Gott mir noch ein Vierteljahr schenkt, dann bin ich mit der Ethik fertig. – So pflegte er mir und Anderen zu antworten.«824 Um die übermäßige Belastung des Alltags und der Sorge um ihren kranken Mann aushalten zu können, nahm sie Baldriantropfen und notierte in ihrem Tagebuch: »die selbstverschriebene Cur scheint meinen Nerven gut zu thun.«825 Die letzten Tage von Lazarus’ Leben kamen. Diese Zeit wird von Lazarus-Remy ausführlich in ihrem letzten Kapitel ihrer Autobiografie Mein Leben II beschrieben. Am 13. April 1903 notierte sie in ihrem Tagebuch: »Es war furchtbar ernst in diesen Leidenswochen. Seit gestern aber lächelt er mich manchmal an, ich fürchte er lächelt, weil er hoffnungslos ist: er will zum Ende mir noch das liebe Lächeln zeigen, das mich immer so beglückte. Ach, wie seltsam erschütternd sieht es auf diesem blassen, eingefallenen Gesicht jetzt aus … dieses Lächeln!«826 Im Verlauf des Vormittags diktierte Lazarus ihr die Bestimmungen für seinen Todesfall, an wen sie sofort schreiben, an wen sie telegraphieren solle und was alles umgehend zu geschehen habe. »Nachdem ich begriffen, dass er wirklich von sich selbst sprach, von seiner Leiche [Herv. i.O.] … da rollten mir leise und langsam die heissen Tränen übers Gesicht, – aber ich blieb ruhig. […] Wie gut, dass ich mir in jener Stunde, keinen Zwang antat (wie immer sonst!) dass er meine Tränen sah! Hin und wieder unterbrach ich das Schreiben und küsste seine Hand, die blass und matt neben mir auf dem Bettrand lag. […] Der letzte Kuss…. Bei aller Zärtlichkeit, die ich ihm fort und fort bewies, schrie es dann doch 821 822 823 824 825 826

Lazarus-Remy 1927b: 178. The National Library of Israel, Department of Archives: 07.04.1903, Arc.Nr. 01 133. Lazarus-Remy 1927b: 178. Ebd. The National Library of Israel, Department of Archives: 01.01.1903, Arc.Nr. 01 133. Lazarus-Remy 1927b: 178.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

jahrelang in meiner Seele: ich hätte noch mehr für ihn tun können, noch mehr um ihn sein müssen!«827 Während Lazarus-Remy am selben Tag den Hausarzt verabschiedete, verstarb Lazarus allein in seinem Bett. Sie notierte rückblickend in ihrer AB ihre darüber empfundene Reue: »Und ich war nicht an seiner Seite, als er seinen letzten Seufzer tat, war nicht da, als sein letzter Blick mich noch hätte sehen können, – kein Abschiedswort, kein Abschiedskuss – er starb allein [Herv. i.O.] – sein brechendes Auge vermisste mich …. Nie habe ich es überwunden, – werde es nie überwinden.«828 Am Todestag selbst sei sie erstaunlicherweise völlig ruhig gewesen: »Sein Geist muss mir in den folgenden Stunden beigestanden haben, denn mich erfüllte eine unnatürliche, eine überirdische Ruhe. Nicht nur keine Träne, keine Klage, sondern überhaupt kein Wehegefühl. Es war, als sei meine Seele anästhesiert, die Gehirnnerven, welche den Seelenschmerz zum Bewusstsein bringen unempfindlich geworden.«829 Als der Hausarzt Dr. Hausmann den Tod von Lazarus bestätigte, setzte sie sich an seinen Schreibtisch und schrieb, wie er es ihr zuvor diktiert hatte, die Telegramme und Briefe. Entgegen ihrem Wunsch, allein mit Lazarus zu bleiben, ordnete Dr. Hausmann nach jüdischem Brauch an, dass ein Wächter die Nacht über bei Kerzenlicht und Psalmlesen beim Verstorbenen bleibe. »Mochte die altjüdische Sitte befolgt werden! Es war wohl in Lazarus’ Sinne«830 , notierte sie in Mein Leben II. Am 13. April 1903 verstarb Lazarus friedlich in seinem Bett und »seine Ethik blieb unvollendet«831 , mit diesen Worten beendet sie ihre Autobiografie Mein Leben II. Nach Lazarus’ Beerdigung, als Lazarus-Remy den Tod ihres geliebten Mannes zu realisieren begann, quälte sie sich mit ihrem Verlust, aber auch mit den Erinnerungen an Momente des Zusammenseins, die ihrer Meinung nach von ihr nicht völlig genutzt worden waren. »Nach Jahren erst fiel mir ein, was er mit den [seinen letzten] Worten: ›Du wolltest ja‹ meinte. Es war Pessach, der jüdische Ostertag und ich hatte ihm einige Zeit vorher gesagt, ›wenn am nächsten Pessach du dich nicht wohl genug fühlst die Sedergesänge zu singen, dann werde ich [Herv. i.O.] sie singen.‹ Ich kannte sie ja alle auswendig. Nun war gerade am 12. Sederabend und er wollte wohl mich an mein Versprechen erinnern. Und ich hatte es vergessen! – Die Bestürzung, dass er den Satz nicht vollendete, aufs Herz deutete, sein ergreifender Anblick, – alles raubte mir das Besinnen … Die Reue

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Lazarus-Remy 1927b: 179. Ebd.: 180. Ebd. Ebd. Ebd.

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darüber und über mancherlei andere Augenblicke in jenen Stunden, hat mich in den ersten Jahren nach seinem Tode furchtbar gequält.«832

3.3 Vermeintliches Alleinsein »Sich in Vergangenes liebend zu versenken. Mit klarem Geist die Gegenwart durchdenken. Aufs Nötigste die Willenskraft beschränken. Die Zukunft sorgenlos Gott anvertrauen, Heisst heiterschön sein Leben auferbauen.«833 Mit Lazarus’ Tod schließt sie ihre Schilderungen in ihren AB, allein ihre Tagebücher geben nun noch Informationen preis über ihr Befinden sowie ihren weiteren Lebensweg als Witwe. So finden sich nach Lazarus’ Ableben zwei immer wiederkehrende Worte in ihrem Tagebuch, »Einsam« und »Alleinsein«: »21. August: Welch ein stilles, ungestörtes Arbeitsleben in meinem herrlichen Heim kann ich jetzt führen, – aber ohne Dich!!! – 22. August: Fortwährend muss ich an Dich denken u[nd] darf doch nicht weich werden. […] 23. August: Qualvoll liegt auf mir das Gefühl der Einsamkeit. 24. August: Furchtbar wehmütig. Je schöner Alles: Garten, Natur, Frieden, Stille, Blumen, Berge – je tiefer entbehre ich Dich!! – Je süsser auch das ungestörte geistige Schaffen, desto bitterer dass Du nichts davon weisst!«834 Der Alltag fiel ihr schwer, alles erinnerte sie an ihren Mann und stimmte sie wehmütig. »Vorm.[ittags] Auf Rosa’s Zureden in den Garten gegangen, – aber all‹ das üppige Grün, all die Blumen, die vielen Erdbeerblüten – laut weinend kehrte ich ins Haus zurück – ich kann ihm keine Erdbeeren mehr pflücken!«835 Sie stürzte sich in die Aufgabe, die vielen Beileidsbekundungen zu dokumentieren und annähernd 75 Danksagungskarten zu schreiben.836 Im Juli 1903 kehrte langsam wieder Alltag bei ihr ein, der darin bestand, morgens um sechs Uhr aufzustehen und von 8–12 Uhr am Schreibtisch zu arbeiten, dann ging sie zum Mittagsessen in den Maiser Hof und spazierte danach eine Stunde in der frischen Luft. Von 16–17 Uhr diktierte sie ihrer Schreibhilfe Therese Reich oder ließ sie sauber ihre Manuskripte abschreiben. Anschließend las sie oder schrieb Antwortbriefe. Um 20 Uhr ging sie schlafen.837 Ihre Spaziergänge führten sie täglich zum Grab, wo sie frische Blumen hinterließ und immer darauf bedacht war, dass es im guten Zustand sei. »Dein Grab mein Heissgeliebter ist doch mein liebster Platz. Tag u[nd] Nacht möchte ich da sein den Efeu, die Blumen pflegen, da ich Dich nicht mehr pflegen kann. O, mein

832 Ebd.: 178. 833 The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 134. In ihrem Tagebuch von 1907 zitiert sie J. Sturm. 834 Ebd.: Tagebucheintrag von 1903, Arc.Nr. 01 133. 835 Ebd.: 29.04.1903. 836 Ebd.: Tagebucheintrag von April 1903: »Viele Zuschriften, auch von Franz Schasler, der von »brüderlicher Liebe« spricht.« 837 Ebd.: 08.07.1903: »Früh vor 6 Spaziergang – am liebsten zu deinem Grabe! Dann gleich nach dem Frühstück angestrengte Arbeit an d. Abschrift der Lebenserinnerungen.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Mann, mein Mann!!!«838 Jedes Jahr, wenn Lazarus’ Geburtstag anstand, richtete sie sein Grab schön her, so schmückte sie 1926 das Grab mit weißen Astern. »Ich machte davon um die Blumenpracht in der Mitte des gel[iebten] Hügels einen weißen Kranz. Es sieht wunderschön aus!«839 Ihre große Trauer über den Tod ihres Mannes verschriftlichte sie fast täglich in ihrem Trauertagebuch von 1903. »Wann werde ich die Trennung ertragen lernen? Schrecklich traurig!!!«840 , notierte sie am 9. Juli 1903. Das erste Jahr nach dem Tod von Lazarus war für sie sehr schwierig. Viele alltägliche Situationen, wie gemeinsames Essen, Sabbatfeier, Spaziergänge und Feste, musste sie nun allein durchleben und bewältigen. »Der Sabbathabend ohne Dich – - eine Qual, die ich mit scheinbarerer Gelassenheit übertünche, aber wehe, wenn ich denke.«841 Die einsamen Sabbate wurden für sie immer schwerer, sodass seit 1906 keine Einträge darüber in ihrem Tagebuch mehr zu finden sind. Erst ab dem 25. Februar 1910 beschrieb sie wieder, wie sie vor Lazarus’ Bild den Sabbatabend beging, was Ende 1910 wieder abklingt. Bis zu ihrem Tod verwendete sie das jüdische Segensgebet Schehecheyanu842 , das als Dank für neue Erfahrungen, Freude und schöne Feiertage gesprochen wird. Sie sprach das Gebet vor allem, wenn sie etwas Wunderschönes in der Natur sah oder wenn sie als Lazarus’ Witwe einen Ehrensold von den jüdischen Vereinen erhielt. Seit seinem Tod erhielt sie von vier jüdischen Vereinen Witwenunterstützung, darunter auch vom Brüderverein sowie von der Schillerstiftung jeweils 250 Mark monatlich. Voller Dankbarkeit freute sie sich über das Witwengeld, das sie vor allem vor und während des 1. Weltkrieges gut gebrauchen konnte. Seit dem 10. Mai 1903 erhielt sie von der jüdischen Gemeinde in Berlin monatlich 500 Mark als »Ehrensold« für ihren Mann: »Musste furchtbar weinen, – das erste Geld als Wittwe!«843 Auch von der Gesellschaft der Freunde, die ihre Mitglieder, die sich in einer Notlage befanden, unterstützten, erhielt sie eine Bewilligung von 1200 Mark als Jahresgehalt als Moritz Lazarus’ Witwe.844 Sie erhielt also regelmäßige Einnahmen von der Jüdischen Gemeinde Berlin, der Schillerstiftung, dem Brüderverein und der Gesellschaft der Freunde, wofür sie alljährlich große Dankbarkeit zeigte: »Ach, ich bin so froh! So dankbar! Schehecheyanu gesprochen.«845 Bis zuletzt erhielt sie auch von ihren treuen Leserinnen aus der Zeit als Feuilletonistin in Berlin Blumengrüße zum Geburtstag, wie beispielsweise von Fräulein Elisabeth von

838 Ebd.: 17.04.1904, Arc.Nr. 01 134. 839 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 15.09.1826, Arc.Nr. 01 134: Es sei ihr Garten »mit freier Aussicht zu den Bergen, unter blauem Himmel, bei leisem Vogelgezwitscher.« 840 Ebd.: Tagebucheintrag, Arc.Nr. 01 133. 841 Ebd.: 29.04.1904, Arc.Nr. 01 134. Vgl auch: ebd.: 08.05.1903, Arc.Nr. 01 133: »Ohne Dich Hawdala gesungen, leise, unter Thränen vor deinem Bilde stehend. Ebenso abends ›Gott Abrahams‹ … Furchtbar wehmütig.« 842 Ebd.: 18.03.1921, Arc.Nr. 01 134: Der Segen steht im Talmud (bspw. mBerachot 54a, Pesachim 7b, Sukkah 46a) »Den Segensspruch versäume ich nie.« 843 Ebd.: 1903, Arc.Nr. 01 133. 844 Ebd.: 19.06.1903. 845 Ebd.: Jan. 1911, Arc.Nr. 01 134. Im Anhang ihrer Tagebücher finden sich Auflistungen ihrer Einnahmen und Ausgaben. Siehe auch: ebd.: Tagebücher, Arc.Nr. 01 133–135.

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der Lühe. Die Politikerin Martha Wygodzinski (1869–1943), erste Frau in der Berliner Medizinischen Gesellschaft, sowie der treue Freund und Chefredakteur der Vossischen Zeitung Hermann Kletke (s.TL) vergaßen ebenfalls nie, ihr besonders zum Geburtstag Blumen oder eine Torte zu senden. Auch mit Max Remys Schwestern blieb sie bis zu ihrem Tode in herzlichem Kontakt, ebenso mit Anna Stephany (verst. 1926), der Frau ihres früheren Arbeitgebers, des Redakteurs der Vossischen Zeitung. »Sie [Herv. i.O.] wäre die rechte Freundin und Vertraute für mich, wenn sie in meiner Nähe lebte!«846 Als Anna Stephany starb, notierte sie in ihrem Tagebuch: »Ich war tieferschüttert … musste mit Mühe Tränen zurückhalten und habe im Leben doch so selten weinen können. Schrieb gleich an Grete m[it] ihrem Mann (vorläufige Karte), dass ich nun den letzten Menschen verloren, der mich verstanden und geliebt hat. Stehe nun ganz allein [Herv. i.O.].«847 Trotz der vielen Anerkennung, die sie immer wieder erhielt, von den jüdischen Vereinen, aber auch von Freunden und Verwandten, wie dem Neffen Arnold Lazarus848 oder von Gustav Karpeles, fühlte Lazarus-Remy sich immer wieder allein. In ihrem Tagebuch notierte sie: »Wie Dante fühlte ich mich am einsamsten [Herv. i.O.], als ich mitten unter Menschen war.«849 Vor allem fühlte sie sich von der Familie Steinthal und von Ernestine allein gelassen. Die Distanz, die schon vorher zwischen ihnen herrschte, wurde durch Lazarus’ Tod vergrößert: »Die lieben Verwandten – sind welche hier? – Nein! Merkwürdig, sie wissen doch alle, dass ich allein bin. Es lebe die Dankbarkeit.«850 Allein die Anwesenheit ihrer Katzen, wie Teddy, half ihr, das Alleinsein auszuhalten. »Wenn ich nicht Teddy hätte, wie unerträglich wäre diese Verlassenheit!«851 Der Verlust und ihre starke Sehnsucht nach Lazarus führten zu quälender Selbstkritik und persönlicher Schuldsuche: »Ich habe Dich immer unsäglich geliebt, aber mir ist, als wüchse meine Liebe zur wahren Leidenschaft, wenn ich jetzt in Ruhe bedenke, wie sanft, wie gut, wie unbeschreiblich edel Du warst. U[nd] wie seltsam selbstlos!! Nie hast du geklagt, nie über Dich gesprochen, selbst an jenem 26. Oktober 1895! – Welch ein sonderbares Schweigen über deine masslosen Schmerzen. 8 Jahre beisammen – u[nd] habe Dich nie recht ausgefragt, was Du fühlst, was Du leidest, […] O, mein Geliebter aus Güte hast du stets geschwiegen, – aber wie kann ich es mir verzeihen, dass ich so heiter neben Dir leben konnte?!«852 Am 4. Mai 1904 ließ sich Lazarus-Remy von ihrer geschätzten Nachbarin Frau Braun davon überzeugen, ihren Trauerschleier abzulegen, obwohl sie selbst am liebsten »bis an

846 The National Library of Israel, Department of Archives: Rückblick von 1910, Arc.Nr. 01 134. 847 Ebd.: 26.02.1926. 848 Lazarus 1928: 686: »Es war mir seit dem 1903 erfolgten Tode meines Onkels Moritz Lazarus stete Gewohnheit, auch zu seinem Geburtstag (15. September) seiner Witwe Grüße des Gedenkens zu senden. Nun ist sie selbst, […] anfangs dieses Jahres in die Ewigkeit abgerufen worden. Mein Gruß erreicht sie nicht mehr.« 849 The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch: 01.01.1919, Arc.Nr. 01 135. 850 Ebd.: Tagebucheintrag, Arc.Nr. 01 134. 851 Ebd.: 08.07.1917. 852 Ebd.: 15.+16.01.1904.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

[ihr] Ende in tiefster Trauer sein [mochte]!«853 Die Trauer dauerte trotzdem bei ihr weiter an, sie zog sich immer mehr in ihre Einsamkeit zurück und erfreute sich hauptsächlich noch an der Natur. Alle anderen schönen Dinge wie Besuche und postalische Geschenke wurden von ihr völlig ausgeblendet oder als Selbstverständlichkeit angesehen. Auch nach 20 Jahren wird von ihr ihr Trauergefühl wie am Todestag beschrieben. »20 Jahre seit er die lieben, gütigen Augen schloss. 20 Jahre!! Ein Traum. Aber ich gebe mich nicht der Wehmut hin – Ich darf nicht. Es ist noch Alles viel, viel zu lebendig in mir. Und ich will nicht weinen [Herv. i.O.]. Meinen Augen wegen nicht und überhaupt … tapfer sein. Jung bleiben. Arbeiten! Zuerst zum Friedhof.«854 Ihre tiefe Trauer, die für ihr Einsamkeitsgefühl verantwortlich war, verursachte auch gleichzeitig ihre Melancholie bzw. ihre Depression. »Ganzen Tag schrecklich melancholisch! Wie soll das werden? Fortwährend voll Reue, dass ich nicht noch aufmerksamer, zärtlicher, klüger, besonnener, hingebender war – gegen Dich, du Wonne meines Daseins! Ach, wie schwer, wie schwer hast du gelitten!! – ich kanns nicht überwinden!!«855 Das Alleinsein und die übermäßige Trauer über den Verlust von Lazarus, die sie nicht überwinden konnte, führten dazu, dass sie von ständiger Melancholie und Nervosität geplagt wurde. Sie fühlte sich nun schneller gereizt und sah im alltäglichen Verhalten ihrer Freunde und Bekannte stets böswilliges Interesse. Beispielsweise notierte sie im Juni 1906 ihren Ärger über ihre Mitbewohnerin Frau Meyer, die die Wohnung im Obergeschoss der Villa Ruth bewohnte: »Ärger mit Fr. Meyer, wegen ihrer ewigen Klopferei und Stauberei, trotz m[eines] geöffneten Fensters. Dabei soll ich arbeiten u[nd] wichtige Briefe erledigen! Kein Mitleid haben die Menschen! – Furchtbar nervös. Viel Weinen müssen den ganzen Tag.«856 Das erste Jahr nach Lazarus’ Tod habe sie ausschließlich geweint, nur an ihrem ersten Geburtstag ohne ihn blieb sie tapfer. »Mein erster Geburtstag ohne Dich!!! Gottlob, gesund – u. mit aller Gewalt unter den Blicken deiner Bilder mich tapfer gehalten. Nicht geweint! [Herv. i.O.]«857 Um sich von ihren trüben Gedanken etwas abzulenken, stürzte sie sich in die Arbeit und begann nun einige Artikel über Lazarus für diverse Zeitungen zu verfassen, darunter für den Zeitgeist sowie die Zeitung des Judentums. Dafür fasste sie beispielsweise das zweite und das 14. Kapitel (Kriegsakademie) der noch nicht veröffentlichten Biografie Moritz Lazarus Lebenserinnerungen zusammen. An die Neue Freie Presse sandte sie eine 12seitige Abschrift aus dem Kapitel Aus der Welt des Theaters seiner Lebenserinnerungen. Ende August 1903 befasste sich Lazarus-Remy mit Entwürfen für ein Grabdenkmal. Am 14. September 1903 wurde das Denkmal zu ihrer Zufriedenheit angebracht: »Gottlob, deine Tafel schön und würdig!!«858 Auch verfasste sie 853 Ebd. 854 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 13.09.1923, Arc.Nr. 01 134. Vgl. dazu ebd.: 26.06.1905: Zwei Jahre nach seinem Tod notierte sie: »Ich rede mir immerfort zu froh u. dankbar zu sein; ich habe alle Ursache, – bin mit Freiheit, Sorglosigkeit, schönem Heim, mit Liebe begnadet. Aber mein Trübsinn will nicht weichen. Wie sehr, wie bitter, wie unaussprechlich entbehre ich Dich, mein Popp! – o – ich darf gar nicht zurückdenken, dann bin ich fassungslos.« 855 Ebd.: 05.11.1903, Arc.Nr. 01 133. 856 Ebd.: 02.06.1906. 857 Ebd.: 03.02.1904, Arc.Nr. 01 134. 858 Ebd.: 15.09.1903, Arc.Nr. 01 133.

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zwei Artikel zum Geburtstag von Moritz Lazarus am 15. September 1903 für die Zeitung des Judentums in Berlin sowie einen 7-seitigen Artikel für die Österreichische Wochenschrift in Wien. In der Meraner Zeitung veröffentlichte sie am 16. September 1903 den Artikel Villa Ruth, in dem sie dankerfüllt an Lazarus erinnert. »Ach mein Mann: ich muss immer laut zu dir reden und dir danken, dass du mir dieses köstliche Heim geschaffen, mich auf diesen schönen Fleck Erde verpflanzt hast! – Ist es doch wie ein Garten ringsum! Und ich so frei mich darin zu ergehen!«859 Obwohl sie die Ruhe und den großzügigen Garten der Villa liebte und genoss, wurde ihr die Villa Ruth immer mehr zur Last. »Wegen Überbürdung durch Arbeit und Geldsorgen [Herv. i.O.]: die fast unerschwinglichen Steuern, Reparaturkosten etc. etc., und alles trage ich allein! – Dazu die Kriegsfurcht (300 wohlhabende Leute haben d[ie] Flucht ergriffen, Grausamkeiten).«860 Am 6. Februar 1915 wurde in Meran die Brotnot ausgerufen und alle Einwohner Merans wurden auf knappe Ration gesetzt. Am 18. Februar bekam sie bereits kein frisches Brot mehr: »Sehr sparsam mit meinem Restbrot umgegangen. Wie soll das werden?«861 Im Lauf des Weltkrieges (1914–1918) verschlimmerte sich die Lebensmittelknappheit, sodass sie 1917 in ihrem Tagebuch notierte: »Kein Kaffee, kein Kakao zu haben! Keine Butter, kein Mehl, und (heimlich) 1/8 Lit[er] Milch … etwa 2 Esslöffel! […] Friere fortwährend und meine erfrorenen Finger schmerzen bei jeder Berührung und hindern mich an allem. Mir ist als fröre sogar meine Arbeitslust ein. Und dabei Unterernährung. Ich magere so ab, dass ich meinen Körper nicht wiedererkenne!«862 Von den Essensmarken, die verteilt wurden, erhielt sie als Alleinstehende eine Brotkarte und zwei Zuckerkarten, allerdings gab es immer noch sehr selten Brot. Alle Bäckereien in Meran waren seit Februar 1917 entweder geschlossen worden oder öffneten nur dann, wenn sie selbst in der Lage waren, Brot anzubieten. Ab dem 10. März 1917 besuchte sie allmittäglich die Meraner Kriegsküche, in der die Einwohner eine warme Mahlzeit zum Mittag erhielten. Sie »war recht befriedigt von der Ruhe und Sauberkeit, die in dem Lokal herrschte. Suppe und Rüben!«863 Dazu kam am 9. Februar 1917 ein großer Wasserrohrbruch in der Villa Ruth, der erhebliche Schäden verursachte und Lazarus-Remy die wenigen Ersparnisse, die bereits durch die Inflation stark geschrumpft waren, aufbrauchen ließ. Als im Neujahr 1918 auch die Wasserrohre einfroren und kein Handwerker zu bekommen war, überlegte sie ernsthaft die Villa Ruth zu verkaufen: »denn bin all der Mühe und Sorge müde und möchte Zeit und Kraft für Geistiges sparen! […] ich könnte ja

859 Meraner Zeitung. Lazarus 1903c: 10. 860 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 09.01.1915, Arc.Nr. 01 134. 861 Ebd. Ab Mai 1915 kommt eine große Lebensmittelnot dazu. Ab Juli gab es auch keine Milch mehr, da zuerst Familien mit Kindern versorgt wurden. 862 Ebd: Tagebucheinträge vom 8.-12.02.1917: »Hungere! D.h. kann mich nicht satt essen, – u[nd] war immer eine schwache Esserin, aber jetzt habe ich einen wahren Heisshunger! Aber nichts zu bekommen oder so teuer, dass ich es nicht kaufen mag.« 863 Ebd.

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mein Leben ganz anders geniessen, wenn ich mich in Pension gehe.«864 Sie übergab alle notwendigen Papiere (Baupläne, Fotos, detaillierte Beschreibung und allgemeine Bemerkungen) einem Makler namens Neumann. Bereits am 9. Februar 1918 unterschrieb sie einen Vorvertrag mit Frau Stainer, der Frau des Bürgermeisters, die die Villa Ruth für 62,000 Kronen [sic!] kaufte und ab dem 1. Juni 1918 mit ihrer Familie einzog. Am 2. März 1918 wurde der Kaufvertrag gültig abgeschlossen: »Sehr froh, und ruhig über vollzogene Tatsache«865 , notierte sie. Sie verkaufte ihren großen Hausrat und verschenkte fast alle Bücher, Armsessel, Betten, Tische und Papiere. Briefe, Bücher und Fotographien, die sie für wertlos hielt, wurden verschenkt oder einfach verbrannt.866 Sie verschenkte an die Meraner Volksbibliothek annähernd 35 Bücher, unter anderem Werke von Goethe, Wieland, Klopstock, Homer und von Luise Mühlbach. Ihre Zeichnungen, auch die aus ihrer Studienzeit, begann sie seit dem 22. Dezember 1919 zu verschenken. Viele restliche Papiere, Bücher und Briefe vernichtete sie 1921, da sie »doch nicht dazu [kommen würde] alles zu lesen und zu bearbeiten.«867 Am 15. Mai 1918 verließ sie endgültig die Villa Ruth. Nach längerer Wohnungssuche zog sie in ein kleines Zimmer in der Pension Sonnenhof, mietete sich allerdings in der Villa Maria zusätzlich noch ein Arbeitszimmer, wo sie ungestört arbeiten konnte. Aufgrund ständiger Unruhen in der Pension Sonnenhof entschied sich Lazarus-Remy bereits am 1. April 1918, allein in die Giebelwohnung der Villa Maria einzuziehen. Als sie am 27. November 1919 so erkältet war, dass sie nicht mehr allein aus dem Bett kam, um jemanden zu rufen, war niemand da, der sich um sie kümmern konnte. Sie erhielt an dem Tag kein Mittag- und Abendessen. Erst am nächsten Tag kam ihre Mitbewohnerin Pauline vorbei, versorgte sie mit Lebensmitteln und rief einen Arzt. Sie vereinbarten, dass Pauline nun täglich zum Mittag vorbeikam, um zu schauen, wie es Lazarus-Remy erging, um im Notfall ihr etwas zu Essen oder einen Arzt holen zu können. Allerdings erwies sich Pauline nicht als sehr zuverlässig und ihr Wunsch, in guten Händen aufgehoben zu sein, wurde immer stärker. Als sie ihre Sorge und ihre Sehnsucht nach einem Haushalt mit Menschen, die sich um sie kümmern, dem mit ihr befreundeten Ehepaar Delago schilderte, erhielt sie von der Familie das Angebot, zu ihnen zu ziehen. Frau R. Delagos »laute, aufgeregte, wohlreiche Art macht mich immer etwas nervös, aber ich weiss, dass sie es gut meint und wenn auch sie auf ihren Vorteil bedacht ist, ist es kein Wunder! Ich wünsche ja auch, dass sie von mir Vorteile haben soll, ja, dass ich mich allmählich, wie zur Familie gehörig fühle.«868 Am 1. Mai 1921 zog sie zur Familie Delago: »Ganzen Tag ausgepackt. Klein Walterchen, Frieda und Fr. Delago geholfen Bücher einreihen, Bilder aufhängen, u.s.w. vortreffl[icher] Kaffee, gute Butter, vorzügl[iches] Mit-

864 Ebd.: 10.01.1918. 865 Ebd. 866 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von 1918, Arc.Nr. 01 134: Sie schenkte eine Bibelübersetzung, die Moritz Lazarus gehörte, zu Ostern 1918 dem Meraner lutherischen Pastor Dr. Paul Jaesrich (1864–1958), »als Zeichen [ihrer] Hochachtung«. Dem Meraner Museum übergab sie eine große Bücherkiste mit wissenschaftlichen Werken zur Verwahrung. 867 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 31.03.1921, Arc.Nr. 01 134. 868 Ebd.: 01.04.1921.

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tagessen, alles reichlich. Ein prachtvoller Tee abends – endlich einmal wieder einen wirkl[ichen] Genuss gehabt! Und alle so herzlich!«869 Nach vier Jahren entschied sich Lazarus-Remy aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Frau R. Delago, auch von dort wegzuziehen und zog am 17. Juni 1925 schließlich in ein kleines Zimmer im Hotel Royal in Untermais/Meran. Trotz ihrer eigenen Geldnot während des 1. Weltkrieges hielt sie ihr Versprechen, alljährlich zu Ehren ihres Hochzeitstages etwas Wohltätiges zu tun. Den 04. April werde sie alljährlich »mit verdoppelter Pflichterfüllung, mit heissem Fleiss, mit einer guten Tat«870 begehen. Obwohl ihre Spenden nicht immer wie geplant auf den Hochzeitstag fielen, tätigte sie mindestens einmal im Jahr eine größere Spende, neben den regelmäßigen Spendenbeiträgen, die sie bereits seit 1907 zahlte.871 So schenkte sie am 22. Oktober 1914 dem roten Kreuz 100 Kronen für die Soldaten des Ersten Weltkriegs. Am 23. Juli 1917 beteiligte sich sie mit einer einmaligen Spende von 1000 Kronen am Bau einer Kriegsküche in Untermais. Jeden 15. September richtete sie bis zu ihrem Tod eine Tempelspende an den jüdischen Gemeindevorstand in Meran. Am 20. Mai 1915 schrieb sie an den Vorstand des Brüdervereins in Berlin: »Hochgeehrte Herren, Angesichts der furchtbaren Kriegszeit, die überall so unendlich viel Leid und Sorge zur Folge hat, kann ich es mit meinem Gewissen nicht vereinen, so viel sorgloser leben zu dürfen als Tausende meiner Mitschwestern. Durch Ihre Güte erhalte ich bisher 1.000 Mark jährlich. Von jetzt an verzichte ich auf diese Summe zu Gunsten der Angehörigen gefallener oder verwundeter B.B. Brüder. Ich erhalte als Nichte aus der Stiftung meines vor einigen Jahren verstorbenen Onkels Baurat Arnold Sturmhoefel jährlich ca. 500 Mark Zinsenanteil (Erbin des Kapitals ist die Stadt Magdeburg), das ermöglicht mir den Verzicht. Den Ausfall von 1000 Mark werde ich durch noch grössere Einschränkung der Lebensweise – trotz Lebensmittelteuerung und wachsender Steuerlast – tragen. Wollen Sie den innigen Dank für das bisher mir grosszügige gespendete und meinen hochachtungsvollen Abschiedsgruss empfangen von Ihrer ergebenen Nahida Ruth Lazarus.«872 Während des Ersten Weltkrieges wurden zwar die Bezüge, die sie von den vier jüdischen Vereinen erhielt, gemindert, aber sie erhielt weiterhin ohne Ausnahme bis zu ihrem Tod Unterstützungen. Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die politische Situation und die finanziellen Mittel überall langsam wieder stabilisierten, erhielt sie am 20. März 1925 einen Brief der Jüdischen Gemeinde in Berlin mit der überraschenden Ankündigung, ihr zusätzlich monatlich 200 Mark Ehrensold zu zahlen. »Monatlich? Wohl ein Schreibfeh-

869 Ebd. 870 Ebd.: 13.05.1903, Arc.Nr. 01 133. 871 Ebd.: 13.09.1907, Arc.Nr. 01 134: »Schillerstiftung, Freie Schule, Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen, Meraner Königswarterstiftung, Meraner Vinzenzverein sowie Meraner Freiwilligen Feuerwehr.: Regelmäßige Beiträge 58 Mark [jährlich]. (wenig! Werde mehr tun!) – Armenpflege, Krankenhaus, Kleinkinderanstalt, Thierschutzbeitrag […] summa 93. Noch nicht 100! – Viel zu wenig. Muss in den künftigen Jahren nachgeholt werden.« 872 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag, Arc.Nr. 01 134.

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ler. Werden ja sehen. Bin froh und dankbar, dass sie alle für mich sorgen wollen.«873 Sie erhielt tatsächlich bereits am nächsten Tag 6300 Lire: »Nun bin ich reich! Gottlob, kann nun auch Anderen, Freude machen und brauche nicht ängstlich zu rechnen!«874 Es blieb nicht bei dieser zusätzlichen Zuwendung, im selben Jahr 1925 erhielt sie von weiteren jüdischen Vereinen Ehrensolde als Andenken an den verstorbenen Moritz Lazarus. So auch von der israelitischen Gemeinde aus Leipzig, die ihr ebenfalls monatlich 25 Reichsmark zahlten:. »Mein Popp! Wie würde er befriedigt sein über all diese vielseitige ehrenvolle Fürsorge seinetwegen!«875 Zum ersten Mal fühlte sich Lazarus-Remy nicht mehr alleingelassen, sie freute sich über diese Anerkennung und schrieb dankbar in ihr Tagebuch: »Gnadenvoller Gott, wie kann ich sorglos das schöne Leben geniessen! – Und fühle mich nicht mehr einsam, denn denke fortwährend an meine Lieben! An dich, Popp, und mein Mutting!«876

3.3.1 Tierschutzverein in Meran 1911 engagierte sich Lazarus-Remy vermehrt für den Tierschutz und für die Gründung eines Tierschutzvereins in Meran. Sie propagierte ihren Tierschutzverein in der Meraner Zeitung und veröffentlichte darin immer wieder aufklärerische Artikel über die hiesige Tierquälerei, wie beispielsweise eine Notiz über Tierquälerei in Schlanders oder über Wissenswertes über die Pferdezucht.877 Mit Unterstützung des Begründers des Meraner Museums Dr. Franz Innerhofer (1847–1918) wurde der Meraner Tierschutzverein am 16. November 1911 mit 50 Mitgliedern und Lazarus-Remy als Obmann-Stellvertreterin des Vereins gegründet. Die Inhalte der regelmäßig stattfindenden Sitzungen des Tierschutzausschusses veröffentlichte sie ebenfalls in der Meraner Zeitung. Sie engagierte sich nicht nur schriftlich für den Tierschutz, sondern versuchte durch aufklärerische Gespräche immer mehr Anhänger zu finden.878 So sprach sie beispielsweise am 9. Januar 1912 in der Meraner Schule über Tierquälerei und Tierschutz, um bereits die Kinder für den Tierschutz zu sensibilisieren. Am 17. Dezember 1913 wurde sie zum Ehrenmitglied des Tierschutzvereins gewählt. Gleichzeitig gab sie ihr Amt als Sprecherin auf, damit sie sich völlig auf ihre neue Propagandaidee eines Tierschutzkalenders konzentrieren konnte, der dann unter dem Titel Tiroler Tierschutz-Kalender 1914 erschien. Wie ihr Vater Max Schasler 873 Ebd. 874 Ebd.: 23.03.1925. 875 Ebd.: 31.07.1925. Vgl. dazu ebd.: Tagebucheintrag von April 1925: Sie erhielt u.a. auch eine Ehrengabe aus Amerika von Ellbogen und Ritterband von insgesamt 4715 Lire. 876 Ebd. 877 Lazarus-Remy 1912: Unter anderem veröffentlichte sie auch eine Hundegeschichte, in der sie die Tierquäler bei der Hundezucht sowie Tierversuche anprangert. »Da werden die Viecher bei lebendigem Leibe zerschnitten und zerschunden […] und dann werden sie geheilt und dann nochmals zerschnitten.« Weiteres s.Bibl. im Anhang. 878 Lazarus-Remy 1927a: 54: Sie diskutierte mit dem passionierten Jäger Johannes von Dallwitz (1855–1919) »über Tiere, ihren angeblichen Mangel an Verstand und so fort. Natürlich nahm ich lebhaft ihre Partei und kramte meine Erfahrungen aus in Bezug auf ihre bewundernswerten Sonderheiten: ihre Klugheit, Geduld, Treue, – diese wären echter als beim Menschen … denn, wenn Hunde wedelten oder Katzen schnurrten, wisse man genau, dass sie es redlich so meinten.« Vgl. dazu Lazarus-Remy: Juni 1911, Arc.Nr. 01 134: »Die Tiere haben mehr Tugenden als die Menschen: Treue, Uneigennützigkeit, Dankbarkeit, Gehorsam, Genügsamkeit, Anhänglichkeit.«

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(s.TL), der sich ebenfalls für den Tierschutz einsetzte, berührte sie der z.T. bestialische Tiertransport. »Die Ueberladung der von Tieren gezogenen Wagen, von den entsetzlichen Viehtransporten in überfüllten, nur zum Vergnügen stattfindenden Quälereien. Die Wettrennen. Treibjagden.«879 Bei unterschiedlichen Gelegenheiten versuchte sie für den Tierschutz zu motivieren und Mitglieder zu werben. Allerdings hatte sie nicht immer Erfolg, wie beispielsweise bei dem Ehepaar Dr. Bacher: »Mitglieder wollen sie nicht werden – […] scheuen die Konsequenz, wenn sie irgendwie intervenieren – - u.s.w. Was soll man von anderen indolenten Naturen sagen, wenn solche Leute, die Herren ihrer Zeit und ihres Geldes sind und rein nichts zu tun haben, als dem Genuss des Daseins zu leben, kein tätiges Mitgefühl für andere Wesen haben!!? D.h. beweisen.«880

3.3.2 Exkurs: Erster Weltkrieg »Überall Krieg! Es ist als ob die Menschheit förmlich heißhungrig darauf wäre, sich zu vernichten! Und alle Unvernunft und Blutgier unter dem Mantel Patriotismus und Heldentum!!«881 Am 28. Juli 1914 begann mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg. Für Lazarus-Remy hatte Kaiser Franz Josef I. (1830–1916) mit seiner Verweigerung seiner Einwilligung zum Ultimatum an Serbien 1914, einen »absichtlich entzündeten Funken [gesetzt], der den schauerlichen Weltkrieg entflammte«882 . Im Juli 1914 notierte sie in ihrem Tagebuch: »Dieser verbrecherische, weil ganz und gar unmotivierte Krieg, (die Schönfärberei der Regierung und der Presse führt mich nicht irre!) greift in alle, auch hiesige friedliche Verhältnisse ein, sogar in meine stille Villa Ruth. […] Dämonische Gewissenlosigkeit der Machthaber – und stumpfsinniges Europa, das keine Wege kennt, solch einem verbrecherischen Unterfangen Einhalt zu tun! Da zieht das an 50 Millionen Einwohner reiche Oestr[reich] Ungarn hinaus, das kleine Serbien mit seinen Millionen zu vernichten, weil – es angeblich ›Umtrieben‹ gegen Oesterreich pflegt. Nun? Lasst es doch! Nein, kleine, gemeine, infame Eifersucht ist es, weil Serbien nach Vergrösserung und Verbesserung strebt. Österreich hätte auf friedl[iche] Wege helfen sollen, dass sein kleiner, strebsamer Nachbar z.B. einen Hafen am Adriatischen Meer erhält, statt der künstlichen diplomatisch finanziellen Flickereien eines Albaniens als selbstständiges Fürstentum […] Traurige Komödie! Traurige Satire auf die vielgerühmte Kultur und Civilisation des Jahrhunderts. Ein Ekel ist’s.«883

879 Lazarus-Remy 1927a: 54. 880 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 19.11.1911, Arc.Nr. 01 134. 881 Ebd.: 05.08.1914. 882 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 22.11.1915, Arc.Nr. 01 134. 883 Ebd.: 31.07.1914.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Sie flüchtete sich in die Gartenarbeit, um aus der »unheimlichen Stimmung«884 herauszukommen. Auch begann sie, um die Abläufe des Krieges und die verschiedenen involvierten Länder mit ihrer Geschichte und Kultur zu verstehen, wieder zielgerichtet Geschichte und Geographie zu studieren und machte sich Notizen für einen neuen Roman Ein Glücklicher (1924), den sie in diesen Zeiten spielen ließ. »So erhält er ein kulturhistorisches Kolorit, und ich kann manches darin aussprechen, das mir auf der Seele liegt!«885 Sie zog es nun vor, die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts zu lesen, die ein Weltbild ohne Schönmalerei und Lügen vertrete. Für Lazarus-Remy waren in diesem Krieg vor allem »von den Machthabern Forderungen gestellt worden, welche gegen die Ehre und die Selbsterhaltung der betreff[enden] Völker waren. Österreich stellte (damit fing dieser grauenvolle Weltkrieg an) an Serbien Bedingungen, welche, wenn sie erfüllt worden wären, Serbien in den Augen der anderen Kulturstaaten ehrenlos und verächtlich gemacht hätten. Solche Bedingungen darf nicht einmal ein Vasallenstaat sich aufzwingen lassen. – Deutschland wiederum stellte an Belgien die Zumutung, die Neutralität zu brechen. – Wie sollte Belgien je zu seinem stamm- und sprachverwandten Nachbar Frankreich ein Friedens- und Vertrauensverhältnis bewahren können, wenn es dasselbe so schmählich hintergangen hätte, freiwillig dem Feinde die Wege zum Bruderland zu öffnen? – Für diese mutige Ehrliebe und Wahrung ihrer Unabhängigkeit werden nun diese beiden – (kleinen und schwachen) Regierungen und Völker so bestraft, dass diese Strafe einem Ausrottungsfeldzug gleicht – - – und das übrige Europa stimmt in wahnsinniger Zerstörungswut dem Vernichtungskampfe jubelnd zu! Ekel!«886 Vor allem die neuentwickelten Flugzeuge, die nun bewaffnet und in der Lage waren Bomben abzuwerfen, schockierten sie völlig. »Nicht einmal vom Himmel her, hat man Schutz und Sicherheit! Jetzt hat die Natur keinen entweihten Fleck mehr auf Erden.«887 Die erste Bombe, die von den Deutschen über Lüttich abgeworfen wurde, kommentierte sie am 12. August 1914 in ihrem Tagebuch: »Überall Krieg, Morden, Menschenvernichtung; mit ihren famosen Luftschiffen werfen jetzt die ›Kulturvölker‹ auf wehrlose Städte aus der Luft Bomben herab, – allen voran die Deutschen! (Lüttich).«888 Für sie war Otto von Bismarck (1815–1898) mit seiner bereits zuvor eingeführten Blut- und Eisen-Politik (Rede von 1862), die eine abscheuliche Gewaltherrschaft darstelle, die auslösende Kraft des Ersten Weltkriegs.889 Die Propaganda, dass der Krieg »edle Regungen, Opferwilligkeit der Frauen, Begeisterung der Jugend und Todesmut der Männer«890 auslöse, die Lazarus-Remy 884 885 886 887 888

Ebd. Ebd.: 15.08.1914. Ebd.: 06.10.1914. Ebd. Ebd.: 12.08.1914. Vgl. dazu ebd.: Tagebucheinträge vom 13.+14.10.1914: »Eine Bombe aus deutschem Flugzeug hat am Hauptbahnhof v. Reims 19 Personen getötet! – Kann man das »Krieg« nennen, wenn ahnungslose, wehrlose Menschen so gemordet werden? Und die Bomben deutscher Flieger mit ihren höhnischen Begleitzetteln. Wie furchtbar viel Hass wird gesäht! Von den »Gebildeten« – - – O, wie schäme ich mich dieser Menschheit! [Herv. i.O.]« 889 Lazarus-Remy 1927a: 54. 890 Ebd.

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beispielsweise aus der Kreuzzeitung (1848–1939) und anderen konservativen Blätter kannte, war für sie nicht nachvollziehbar und abstoßend. »Kriege sind und bleiben eine menschenunwürdige und gotteslästerliche Barbarei!«891 Die Argumentation, dass »der Krieg als Zuchtmittel bürgerlicher Borniertheit und als Sicherheit für die künftige Größe des Staates«892 diene, konnte sie absolut nicht teilen. Für sie gab es keine begreifliche Erklärung, wieso unschuldige Menschen sterben mussten: »mir tat das Herz weh all der Opfer gedenkend … besonders der armen Italiener … was gingen sie die Schleswig-Holsteinischen Zänkereien an? Diese Kinder des Südens – als Kanonenfutter nach dem Norden kommandiert – der sie nichts, rein gar nichts anging!«893 Als ihre Mieter Familie Gögele einen Brief ihres Sohnes mit einem Bild aus dem Lazarett erhielten, musste LazarusRemy beim Anblick der Männer, die z.T. nur noch ein Bein hatten, weinen.894 »Habe für nichts recht Sinn. Die Vorstellungen an die Qualen der Menschen und die Empörung über so viel Roheit (auch der lügenhaften Presse!) liegt mir schwer auf der Seele. Wie lange werden diese Menschenschlächtereien und Folterungen noch dauern?!!«895 Sie selbst konnte sich nicht mehr auf ihre schriftlichen Arbeiten konzentrieren und hoffte, dass sie die neuen Eindrücke, Erfahrungen und Gedanken nach dem Krieg verwerten kann. Dass Menschen in ihrem Bekanntenkreis lachen und plaudern konnten, schockierte sie noch am meisten. Für sie war es nicht nachvollziehbar, wie diese Menschen leben könnten, »als ob der schönste Friede in der Welt«896 sei. Sie entschied sich nicht mehr Schach spielen zu gehen und die Zeit allein in Ruhe in der Villa Ruth zu verbringen, mit stillem Lesen der Zeitungen. Über die Neue Freie Presse, für die sie selbst in den letzten Jahren viel Geschichtliches geschrieben hatte, notierte sie: »welch eine Verhimmelung, Lobhulderei, Phrasengeschwulst!! – Lüge! Lüge! Betrug!«897 Aber auch in der Meraner Zeitung beunruhigte sie ein Artikel des in Meran lebenden US-amerikanischen Reiseschriftsteller John Lawson Stoddard (1850–1931), der in seinem gewohnten hetzerischen Ton, voll von Übertreibungen und Verleumdungen, alle nichtdeutschen Völker als Schufte darstelle. »Ich mag die Meraner Ztg. gar nicht mehr lesen«898 , schrieb sie 1914 in ihrem Tagebuch. »An Dr. Jos[eph] S[amuel] Bloch [1850–1923] geschrieben, dass er mir das Blatt (Öster. Wochenschrift) nicht mehr schicken möge. Ich könne diese Verschönerungs- und Beschönigungsversuche des grauenhafften Krieges vonseiten seines Leitartiklers (Rabbiner Dr. Reich in Baden bei Wien) nicht mehr vertragen etc. Habe mir wohl dadurch einen neuen Feind gemacht, – aber ich kann nicht anders! – Es ist mir zu sehr zum Ekel diese bombastischen lügenhaften Bemäntelungen diese mass- und grenzenlose

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Ebd. Ebd.: 54f. Ebd: 55. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 21.02.1915, Arc.Nr. 01 134. Ebd: 05.09.1914. Ebd.: 08.09.1914. Ebd.: 13.08.1914. Ebd.: 19.09.1914.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Heuchelei und Zur- Schau-Tragung eines falschen ›Patriotismus‹ länger mit anzusehen. Lieber nichts! Nichts mehr lesen, nichts mehr wissen!«899 Hingegen gefielen ihr die Artikel aus dem Vorwärts, die sie sammelte, um sie in ihren späteren Werken wie beispielsweise ihrem Roman Ein Glücklicher (1924) zu verwerten. Der Vorwärts sei »ein vortreffliches Blatt, erfüllt von gesundem Menschenverstand und pol[itischer] Einsicht. Dabei interessant und weit entfernt von der irreführenden Phrasenhaftigkeit und gewissenlosen Aufhetzerei des übrigen Pressegesindels! Spricht immer für den Frieden und bahnt jetzt schon die künftige Versöhnung der armen (dummen!!) Völker an, die ja alle nur auf Kommando sich gegenseitig abschlachten.«900 Sie beschreibt ein Gespräch mit Professor Rathke am 24. September 1914, der »alles an den Deutschen trefflich und wunderbar«901 fände; sie schenkte ihm daraufhin eine Ausgabe des Vorwärts, der am 30. September bis auf weiteres verboten wurde. Als der Krieg sich über die Jahre hinzog, findet sich in ihren Tagebüchern immer wieder die eine Frage: »Wann wird die Menschenschlächterei aufhören?«902 »Wann wird die Zeit kommen, in der die Völker in Frieden und Freundschaft leben werden? Wann die Zeit da ihr einziger Wettstreit sein wird Entwicklung der Kultur, des Unterrichts, der Gestaltung eines menschenwürdigen Daseins auch für die Mittellosen? Wann werden die Millionen und Milliarden die heute Tag für Tag für Menschenschlächterei und Hasserzeugung ausgegeben werden. wann werden sie der Liebe [Herv. i.O.] und Volkswohlfahrt gewidmet werden? In einem Jahrtausend vielleicht? Gott gebe es!! – Denn sonst? Wozu diese Welt voll von geistigen Kräften? Vorbereitung…? Und zu dieser Vorbereitung gehört auch Hass, Qual und Grausamkeit und höchste Ungerechtigkeit?«903 Nach drei Jahren Kriegszeit begann sie wieder zu schreiben, um sich mit ständiger schriftlicher Arbeit zu »betäuben«904 , damit sie nicht ständig an die Grauen des Krieges denken müsse. Im Juli 1917 arbeitete sie neben der Verschriftlichung ihres Romans Ein Glücklicher (1924) an ihrer Berliner Novelle Berliner Baracken. Am 29. August 1918 unterhielt sie sich mit dem Sohn ihres Schachkameraden Wilhelm Pleticha, der ihr über seine dreijährige Kriegsgefangenschaft in Sibirien erzählte. Sie war von seinem »gefangenen- und Flüchtlings- Abenteuerleben in Sibirien, Kleinrussland und in den deutschen Dörfern an der Wolga«905 so fasziniert gewesen, dass sie seine Lebensgeschichte für

899 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 11.11.1914, Arc.Nr. 01 134. Vgl. dazu ebd.: 20.10.1914: In der Neuen Freien Presse habe sie ein Feuilleton des jüdischen Schriftstellers Oskar Blumenthal (1852–1917) gelesen: »predigt den Hass! Lauter Phrasengedresche, voll ödester Gemütsroheit. Ganz Blumenthal.« 900 Ebd.: 12.09.1914. 901 Ebd. 902 Ebd.: 17.08.1916. 903 Ebd.: 25.07.1917. 904 Ebd.: 05.08.1917. 905 Ebd.

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zwei Erzählungen nutzte. Am 12. September 1918 veröffentlichte sie die ersten zwei Häuslichen Scenen im Kriegsgebiet in der Meraner Zeitung und schrieb, aufgrund von sehr guter Resonanz, daraufhin die 3.-5. Fortsetzung ihrer Häuslichen Scenen im Kriegsgebiet. In der 4. Fortsetzung habe sie die Demoralisation, besonders der weiblichen Jugend, geschildert. Am 6. Oktober 1918 konnte sie endlich ihre »große innere Aufregung [schildern], wegen Friedensaussichten 4 wöchentl[icher] Waffenstillstand. Gott füge alles zum Guten!!«906 Sie hoffte nun, dass dieser grauenhafte Weltkrieg wenigstens das Gute hätte, dass nach Friedensschluss »die geopferten Völker bei der Neugestaltung mitbestimmen [dürften]! dass ihnen Recht und Freiheit [gegeben] wird!«907 Am 2. November 1918 kam aufgrund des Einmarsches der Italiener in Meran eine große Unruhe in der Stadt auf. Lazarus-Remy notierte nur dazu: »Ich würde mich freuen, wenn sie kämen, denn ich kenne das gute ital[iensiche] Naturell und fürchte nichts. – […] Viele liessen sich ihre Depots herausgeben. – Die österreichischen Soldaten in der Nacht abgezogen. Welche Ruhe jetzt und welche Wohltat nicht die massenhaft herumlungernden Müßiggänger zu sehen! Große politische Umwandlungen! Ich bete um Frieden und Freiheit der Völker!!«908 Die Italiener kamen und bereits am 5. November 1918 war Meran durch einen Wachposten an der Brücke von der Außenwelt zunächst abgesperrt. Lazarus-Remy begann nun jeden Tag ihr Italienisch aufzufrischen, indem sie die italienische Bibel las und fleißig die italienische Grammatik übte. In der Villa Ruth, wo der Bürgermeister lebte, wurden am 8. November 1918 sechs italienische Offiziere einquartiert, mit denen sie sofort einige Worte wechselte. »Einquartierung von ital[ienischen] Offizieren. Habe als Dolmetscher fungiert; es ging ganz flott. Alle Tage italienisch. Ein Offizier mir den ›Corriere della sera‹ geschickt.«909 Nachdem der Krieg am 11. November 1918 mit dem Waffenstillstand von Compiègne endete, genoss Nahida Ruth Lazarus, anders als ihre deutschsprachigen Mitbürger in Meran, die neue Zugehörigkeit Südtirols zu ihrem »geliebten Italien«910 . Sie politisierte und erörterte in ihren Tagebüchern wiederholt die Undankbarkeit der Tiroler, die nur feindselige Unzufriedenheit zeigten und gar kein Verständnis dafür, »wie die Italiener geduldig und gutmütig seien. Das fühlte ich ja von Anfang an und es schmerzt mich, Italien ist arm und bringt Opfer über Opfer und erntet nur Undank und Hass!«911 Der Meraner Bürgermeister Josef Gemaßmer (1874–1962) und sein Nachfolger Max Markart (1881–1942), der von 1922 bis 1935 der Stadt vorstand, setzten sich gegen die

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The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheinträge, Arc.Nr. 01 134. Ebd.: 19.10.1918. Ebd. Ebd. Ebd.: Tagebucheinträge vom 12.+13.12.1918: »Die Weltereignisse erfüllen mich mit Dank und Bewunderung. […] Die Weltereignisse nehmen meine ganze Seele gefangen. Republikerklärungen überall! – Das trügerische Kaiser- und Königspiel hat ein Ende! […] Gott gebe den neuen Männern der Zeit die rechte Kraft und Besonnenheit!« Ebd.: 26.03.1920.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

Assimilierungspolitik des italienischen Faschismus (1919–1945) ein und trugen zu einer fast gänzlichen Eigenständigkeit von Meran bei.912

4. Schriftstellerische Tätigkeit Seit 1904 arbeitete sie immer wieder für verschiedene Zeitungen und schrieb Feuilletons unterschiedlichen Inhaltes.913 Zum Ehrentag von Lazarus’ Geburtstag, ein Jahr nach seinem Tod, erschien am 13. und 15. April 1904 Das kleine Diner als Culturelement in der Nationalzeitung. Obwohl sie in ihren Witwenjahren als freie Feuilletonistin und vor allem als Nachlassverwalterin (s.Kap. I, 3.6) arbeitete, gab es immer wieder schwierige Phasen, in denen ihr Arbeitseifer durch ihre chronischen Einsamkeitsgefühle gehemmt wurde: »Noch immer keine Arbeitslust. Wo ist sie hin? Wie war ich früher arbeitslustig, schaffensfroh!! – Ob es wieder kommt? Mein jetziges Leben ist doch nur ein Vegetieren. Und diese trostlose Einsamkeit!!! Ich denke wieder so viel an Dich mein sanfter, milder, inner gütiger, trauter Popp!«914 Sie notierte bis zu ihrem Lebensende vermehrt in ihrem Tagebuch ihre Schwermütigkeit, die sie trotz aller Fassung und Vernunft immer wieder überfalle. Nur ihre Erinnerungen und die starke Treue Lazarus gegenüber motivierte sie dazu, weiter an ihren schriftstellerischen Werken zu arbeiten und vor allem für ihn als seine Nachlassverwalterin zu wirken. »Als ich die Baaderschen Brezeln sah – die Du so gern hattest! – musste ich plötzlich weinen. Wie sehe ich daran, wie künstlich meine Fassung ist!! […] Ach mein Mann, wie köstlich war unser kindlich harmlos-friedliches, innerlich beglücktes Zusammenleben! Du allein befähigst mich weiter zu leben und weiter zu arbeiten!!«915 Sie begann neben den Tätigkeiten als Nachlassverwalterin ihres Mannes nun wieder regelmäßig als freischaffende Feuilletonistin zu arbeiten. Auch entschied sie sich, motiviert durch Lazarus’ Schrift Sonntagsfeier, Vorträge im Gedenken an ihren verstorbenen Mann zu halten. »Deine ›Sonntagsfeier‹ wieder gelesen, die mich in meinem Entschluss (Vorträge zu halten) bestärkt. Ich will durch mein Beispiel beitragen, dass deine ›Version‹ erfüllt werde!«916 Bereits im Dezember 1903 begann sie ihren Vortrag Lazarus und die Schillerstiftung vorzubereiten, den sie dann im Oktober 1904 erfolgreich in ihrer Geburtsstadt Berlin hielt. Am 2. Februar 1907 nahm sie von Baurat Hermann Stiesing, dem Vorstand der Gesellschaft der Musikfreunde (Das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde), eine Einladung für zwei Vorträge in Wien an. Den ersten hielt sie bereits am 7. März 1907, der wie gewohnt sehr gut verlief. »Bin so froh und dankbar«917 , notierte sie in ihrem Tagebuch. Am 14. März 1907 folgte der zweite Vortrag über Lazarus als Menschenfreund im Festsaal des Niederösterreichischen Gewerbevereins, der ebenfalls glänzend vonstattenging. 912 In: ebd.: Meraner Zeitung. Nr. 212, 31.12.1923: 1. 913 Eine kleine Auflistung s.Bibl. im Anhang. 914 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheinträge vom 20.+21.08.1905, Arc.Nr. 01 134. 915 Ebd.: 07.03.1904. 916 Ebd.: 23.12.1903, Arc.Nr. 01 133. 917 Ebd.: 07.03.1907, Arc.Nr. 01 134.

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Damit auch ihre Werke nicht völlig in Vergessenheit gerieten, begann sie am 15. März 1911, sie zu sichten und zu ordnen, um daraus ein gesammeltes Werk zu verfassen. »Ich will gehöre [Herv. i.O.] nicht zu denen gehören, die aus Stolz od[er] Trägheit, aus Trübsinn oder Menschenverachtung das, was sie geistig leisten können, für sich behalten. Durchdrungen von der Überzeugung, dass ein Jeder seine Gaben und Leistungen an den Dienst der allgemeinen Kultur zu stellen, die Pflicht hat – auferziehe ich mich der Bearbeitung meiner Schriften. Alles was Phantasie und Erfahrung mich schauen und schaffen liessen, biete ich hiermit dar. [unleserlich] Nur etwas Pietät bitte ich für mein rastloses bei Lebzeiten unerkanntes Streben. N[ahida] L[azarus]. --- Motto: wenn unsere Kraft nicht strahlt nach aussen hin, wärs grad so gut, als hätten wir sie nicht. (Shakespeare).«918 Sie überarbeitete ihre Novelletten und Lustspiele und ordnete alles thematisch in Mappen ein. Über ihr bürgerliches Schauspiel Schicksalswege von 1879 notierte sie rückblickend: »bin sehr zufrieden: spannend, mit prächtigen Rollen – Schluss muss noch bearbeitet werden.«919 Auch las sie mit großem Vergnügen ihr kleines Schauspiel Sein Spiegelbild, und bemerkte, dass »das alles […] noch nicht aufgeführt!«920 sei. Bereits am 1. April 1909 begann sie an ihrer Autobiografie Mein Leben zu arbeiten.921 Sie beriet sich mit Karpeles (s.TL) über ihre Idee, eine dreibändige Autobiografie zu verfassen; Karpeles war davon begeistert. Sie machte sich sofort an die Arbeit und vollendete bereits bis November 1909 den ersten Band Mein Leben I und sichtete weiteres Material für die anderen zwei Bände. Für die Abschriften ins Reine engagierte sie die alleinerziehende Therese Reich, die seit dem Sommer 1903 mit ihrem Sohn Leo Reich in der Villa Ruth aufgenommen wurde.922 Nach dem Krieg 1918/19 nutzte sie ihre Zeit immer weniger für ihre schriftstellerische Tätigkeit. Sie malte nun ihre Bekannten und Freunde und verschenkte diese Portraits. 1917 begann sie ihre Manu- und Typoskripte, Werke und Notizen erneut zu ordnen und in Pappumschlägen zu sortieren, sodass sie fertige thematische Bände hinterlassen konnte.923 Darunter sei unter anderem auch eine Mappe Handerzählungen, die beispielsweise die Erzählungen Catintuza und Eifersucht beinhalte. Allerdings ist diese Mappe nicht in ihrem Archiv vorzufinden. Erst am 1. August 1919 entschloss sie sich, ihre autobiographischen Arbeiten der letzten Jahre wieder aufzunehmen. »Allerlei ergreifende Erinnerungen … […] keine Zeilen geschrieben und so angegriffen und abgespannt von all

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The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheinträge von 1911, Arc.Nr. 01 134. Ebd.: 17.07.1917. Ebd.: 02.11.1917. Ebd.: »Angefangen Papiere und Dokumente zusammen zutragen und zu ordnen für meine Biographie. Den Tag voll ausgefüllt.« Dabei las sie die Manuskripte ihrer Mutter und verbrannte in dem Zuge einiges. 922 Ebd.: Tagebucheintrag von 1910: »Vorläufig will ich sie als Abschreiberin beschäftigen, um ihr etwas Verdienst zukommen zu lassen, denn sie ist mittellos und ängstigt sich wegen ihrer Zukunft ab; ihr Mann in Wien kümmert sich nicht um sie und sie bangt immer, dass er auch die Alimente für ihr Kind bald nicht mehr schicken wird.« 923 Siehe Jerusalemer Nachlassverzeichnis im Anhang.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

der Rückerinnerung!!«924 Sie überarbeitete immer wieder ihre autobiographischen Manuskripte, kürzte seitenweise und versuchte ihre Lebensgeschichte so wahr wie möglich wiederzugeben. Die Überarbeitung der letzten Jahre habe dazu geführt, dass die Autobiografie, nun aus zwei Bänden bestehend, »viel gedankenreifer und kühner geworden, d.h. wahrer [Herv. i.O.]«925 geworden sei. Beide Bände ihrer Autobiografie wurden von Lazarus-Remy als Typoskript in ihrem literarischen Nachlass hinterlassen; allerdings ist nur der erste Band maschinengeschrieben erhalten.926 Für die Meraner Zeitung schrieb sie bis zu ihrem Tod vor allem Tagesjournalismus, z.B. etwas über das neueingeweihte Postgebäude, über das Verhalten der lärmenden Kinder während eines Kurkonzertes oder über das Verhalten der Einheimischen den Fremden gegenüber.927 Auch schrieb sie für das Maiser Wochenblatt regelmäßig Geschichtliches.928 1910 arbeitete sie wieder an einem neuen Roman mit dem Titel Die Fürstin, den sie als Modernen Mephisto bezeichnete und am 14. Dezember 1910 zur Neuen Freien Presse nach Wien schickte in der Hoffnung auf Veröffentlichung. »Gott gebe seinen Segen! Mir täte etwas Erfolg wohl Not!«929 Allerdings blieb das Werk unveröffentlicht. Nachdem die Meraner Zeitung am 1. März 1923 eingestellt wurde, brachte sie ihre kleinen Artikel zu der neuentstandenen Redaktion der Alpenzeitung mit dem faschistischen Redakteur Dr. Leo Negrelli (verst. 1974), wie beispielsweise ihr Manuskript Weiberkomplott. Ab dem 1. Juni 1926 weigerte sie sich, weiter für die Alpenzeitung zu schreiben, da diese ihr »wegen ihrer opportunistischen Frömmelei und versteckten Antisemitismus«930 antipathisch geworden sei. Im Juni 1926 beendete sie ihre Arbeiten an ihrem letzten Roman Die drei Männer. Das Manuskript ließ sie von einem jungen Mädchen namens Gusti auf der Schreibmaschine abtippen, wofür sie trotz vieler orthographischer Fehler pro Seite 2,5 Lire bezahlte. Durch ihr anhaltend stärker ausgeprägtes Augenleiden fielen ihr das Lesen und das schriftliche Arbeiten immer schwerer, sodass sie kaum noch zum Schreiben motiviert war. »Meine Augen sehr angegriffen; sie sind verschleiert, äußerst reizbar. Ich muss sie schonen.«931 Zuletzt beschränkte sich ihre schriftstellerische Tätigkeit begrenzten auf das ausführliche Tagebuchschreiben und das Korrigieren und Überarbeiten ihrer unveröffentlicht gebliebenen Autobiografien. 924 Ebd.: 19.08.1919. Vgl. auch ebd.: 22.09.1919: »Fleissig, aber melancholisch … wie bin ich als junges Mädchen herumgehetzt worden!!!« 925 Ebd.: 05.06.1927. 926 Vgl. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von 05.06.1927, Arc.Nr. 01 134. Im Hauptstaatsarchiv Dresden, wo das Manuskript der zweibändigen Autobiografie Mein Leben vorliegt, konnte man mir über das Verschwinden der getippten Version des zweiten Bandes keine Erklärung geben. 927 s.Bibl. im Anhang. 928 s.Bibl. im Anhang. 929 The National Library of Israel, Department of Archives: Rückblick von 1910, Arc.Nr. 01 134. Über ihr Werk notierte sie in: ebd.: 09.07.1910: »Kreuz und Quer spinnen sich die Fäden, – aber ich bin so kritisch, dass ich sie fast immer wieder zerreisse. . . Es soll Dichtung nach dem Leben werden. – aber das Stück Leben, das ich poetisch behandeln will, ist so schwer und hässlich (nicht gerade unpoetisch!) die Verlogenheit unserer Zeit!« Protagonist Emil Klein. Im letzten Kap. habe sie sich selbst wiedergefunden. 930 Ebd. 931 Ebd.: 16.08.1926.

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4.1

Nachlassverwalterin und Herausgeberin »Lassen Sie sich jedenfalls in keiner Weise in der Überzeugung erschüttern, dass die Abfassung und Herausgabe des Werkes, nicht nur eine Sache der Pietät gegen den Verewigten, sondern auch ein Verdienst, um die Geschichte und die Kultur der Gegenwart ist. Dieser Verdienst wird sich schließlich trotz aller Anfeindungen durchsetzen. Also nur guten Mut! Magna est veritas et praevalebit.«932

Als Lazarus nach langjähriger Erkrankung am 13. April 1903 verstarb, sah sich LazarusRemy besonders dazu verpflichtet, seinen schriftlichen Nachlass zu verwalten und vor allem zu veröffentlichen. Mit dieser neuen Lebensaufgabe, der sie sich mit viel Energie widmete, konnte sie ihre tiefe Trauer und lähmende Einsamkeit bewältigen. »Matt. Arbeitsunlustig. Möchte die Tage verschlafen bis – ja? Bis wann?? Ich muss ja deine Bücher vollenden. [Herv. i.O.]«933 Bis zu Lazarus’ Tod blieb der zweite Band seiner Ethik trotz aller Anstrengungen unvollendet.934 Ab dem 8. Mai 1903 begann die Witwe, Lazarus’ Materialien zum zweiten Band seiner Ethik des Judenthums zu sichten und zu ordnen. Sie notierte in ihrem Tagebuch dazu: »welche Fülle herzlicher Gedanken!! […] O, mein Mann! Mein Mann!! Hätte ich mehr von deiner ›Ethik‹ gesprochen, nach ihr gefragt, – viell[eicht] hätte es Dir wohl getan, du hättest viell[eicht] Dich zur Arbeit entschlossen und deine Nerven wären gesünder geblieben, als bei der müssigen Erwartung besserer Zeiten!«935 Sie erstellte das Register und motivierte sich ständig, gesund zu bleiben, um Lazarus’ Nachlass bearbeiten zu können.936 Das sah sie als ihre Lebenspflicht an. »Und je weiter die Jahre vergehen, desto dringender wird meine Sehnsucht sein Wort zu erfüllen. Es scheint mir wie eine heilige Aufgabe. Wer sollte denn dafür sorgen, wenn nicht ich?«937 Sie erstellte über den von ihr gesichteten Bestand der Materialen zum zweiten Band der Ethik eine Zusammenfassung und sandte diese am 5. Juni 1903 an Gustav Karpeles (s.TL). In ihrem Tagebuch notiert sie, dass sie es bereue, versäumt zu haben, Lazarus bezüglich

932 The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 134: Darin zitiert Nahida Ruth Lazarus aus einem Brief des deutschen Philosophen Rudolf Eucken (1846–1908) aus dem Jahr 1907. 933 Ebd.: 22.06.1903, Arc.Nr. 01 133. 934 Vgl. Lazarus-Remy 1927b: 176: »Aber ach! Ihm bangte davor ein unvollendetes Werk zu hinterlassen … und wenn es sein Leben kostete, er wollte die ›Ethik‹ zu Ende bringen! [Herv. i.O.]« 935 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 13.05.1903, Arc.Nr. 01 133. 936 Ebd.: 26.05.1903: »Sehr fleißig. betäube mich in Arbeit – aber immer Anfälle. Mit dem Register fertig!« 937 Ebd.: Rückblick von 1910, Arc.Nr. 01 134. Vgl. auch ebd.: Großes Tagebuch von 1903, Arc.Nr. 01 135: »Aber mein Leben, mein inneres Leben war er! Ich bin ein nützliches Werkzeug geworden für Viele, gebe Zeit, Kraft und geistige Anstrengung hin für andere und kein Tag darf vergehen, dass ich abends, wenn ich müde ins Bett sinke, mir nicht vorrechnen kann, was ich an dem Tage getan, geleistet, erreicht habe. Und ich bitte Gott vor dem Einschlafen, dass er mir ferner Kraft gäbe und mich recht, recht alt werden lasse, um noch vieles zu vollbringen … denn ich finde die Menschheit stumpf und schlecht und über alle Vorstellung erziehungsbedürftig.«

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

seines zweiten Bandes Fragen zu stellen. Nun sei sie auf Fremde angewiesen, um die aufkommenden Fragen zu klären: »Den ganzen Tag damit begangen, dass ich dein Manuscr[ipt] ›Ethik‹ heftweise in Auszügen für mich registriert und die Blätter gezählt habe, damit, wenn ich den Schatz einmal aus der Hand geben muss, ich eine Controlle über den Inhalt behalte. Eine sehr sehr wehmütige Arbeit! – Bei der ich mir bittere Vorwürfe mache, sie nicht bei deinen Lebzeiten gem[acht] zu haben, – mein Eifer und Interesse hätten dich erfreut, dich viell[eicht] zur Arbeit angeregt. Jedenfalls hätte ich Dich so Vieles fragen können, – und bin nun von Fremden abhängig!«938 Bis zu ihrem Lebensende verspürte sie die Verpflichtung Lazarus’ Nachlass eigenständig zu verwalten und herauszugeben, allerdings marterte sie die Tatsache, dass es am Ende doch erforderlich war, diese Arbeit an fachgerechte Herausgeber weiterzugeben.939 Die von Lazarus’ hinterlassenen Manuskripte zum zweiten Band der Ethik übergab sie im Juli 1903 zunächst dem Rabbiner Ismar Elbogen (1874–1943) und dem jüdischen Philosophen und Rabbiner David Neumark (1866–1924), wo sie fünf Jahre blieben, ohne dass die Publikation realisiert wurde. 1908 entschied sie sich, Neumark und Elbogen vertraglich daran zu binden, dass sie die Arbeit am zweiten Band der Ethik zu prüfen habe, bevor irgendetwas davon veröffentlicht werde.940 Als diese Regelung von Neumark und Elbogen abgelehnt wurde, forderte sie das gesamte Material zurück. Am 20. Oktober 1908 schickte sie das Manuskript der Ethik an den evangelischen Theologen und Hebraisten Karl August Wünsche (1838–1913), der sich bereit erklärte, den zweiten Band gemeinsam mit dem Rabbiner Jakob Winter (1857–1940) herauszugeben. Am 3. Juli 1911 erhielt sie den zweiten Band der Ethik gedruckt nach Hause geliefert. »Fast 8 Jahre hat es gedauert bis dein Werk, mein Mann! Mein Popp! Ans Licht trat! – Nun ist es da – das ganze Werk vollendet. Kein Torso! Sondern ein Ganzes! Und wenn mein Gefühl und mein Urteil mich nicht täuschen, wird dieser 2. Band einen noch grösseren Erfolg haben als der erste, denn er greift unmittelbarer ins volle praktische Leben ein; er ist mehr als ein Wegweiser, er ist ein sicherer Führer auf dem Weg, den (theoretisch) der erste Band zeigt.«941 Ein Jahr nach dem Tod von Lazarus (Mai 1904) fühlte sich Lazarus-Remy auch dazu imstande, an den Lebenserinnerungen weiterzuarbeiten: »ich glaube ich habe die Ruhe und Festigkeit gewonnen, um ohne zu grosse Nervenerschütterung an die Arbeit zu gehen. Ich bin gesund – also kein Zögern mehr!!«942 Am darauffolgenden Tag hatte sie bereits die Einleitung entworfen. Im August 1904 wurde das Manuskript der Lebenserinnerungen mithilfe von Alfred Leicht abgeschlossen.943 Lazarus-Remy formulierte noch ihre Ein938 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 13.05.1903, Arc.Nr. 01 133. 939 Vgl. Reese 2012: 7. 940 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von 1908, Arc.Nr. 01 134. 941 Ebd.: 03.07.1911. Vgl. auch Lazarus 1911. 942 Ebd.: 09.05.1904. Auch beginnt sie 1904 mit der Bearbeitung des Fragments Über Humanität von Moritz Lazarus. 943 S.Kap. I, 3.3.1.

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gangsworte zum Vorwort: »Der Mann, dessen Name mich wie mit einer Ehrenkrone schmückt, steht im Mittelpunkt dieser Erinnerungen. Schweizer Erinnerungen [Herv. i.O.] von Nahida Lazarus.«944 Anschließend saß sie an der Durchsicht ihres druckfertigen Typoskriptes, um Seite für Seite den Inhalt für sich nochmals stichpunktartig zu notieren, da sie beabsichtigte, das Original ohne eine weitere Abschrift wegzuschicken. Vorab wurden die Kapitel Aphorismen sowie Schweizer Erinnerungen von Gustav Karpeles (s.TL) in der Frankfurter Zeitung abgedruckt.945 1906 erschienen ihre Lebenserinnerungen von M. Lazarus,946 die sich nur mäßig verkauften. Im April 1907 notierte sie dazu in ihrem Tagebuch: »Nachricht von Reimer, dass Verkauf der Lebenserinnerungen sehr gering, – kaum in der Woche einige Exemplare. – Geduld! Und nicht den Mut verlieren!«947 Bis Dezember 1907 änderte sich nicht viel an den Verkaufszahlen, was sie sehr enttäuschte: »Kälte und Stumpfheit der Menschen (ganz abgesehen von der offenbaren Feindseligkeit böswilliger Gegner, die das Andenken von Lazarus verkleinern und vernichten möchten) beschweren mein Gemüt bis zur Melancholie.«948 Bis zu 1.600 Prospekte, die sie verschickte, stießen kaum auf Resonanz. Statt die Prospekte mit »Dank- und Freude, Genugtuung und Herzlichkeit«949 aufzunehmen, reagierten nur etwa 50 Empfänger überhaupt darauf. Trotz immer wiederkehrender Rückschläge setzte sie sich entschlossen für Lazarus’ Andenken ein. Voller Freude erhielt sie am 24. August 1907 eine Einladung zum Vortrag nach Berlin: »Freude! (endlich!) wegen Einladung eines Dr. Georg Joachim in der Montefiore-Loge in Berlin einen Vortrag zu halten. Der Brief war nach Meran geschickt und von dort zurück an den Absender gesendet worden. Wer weiss ob nicht Manches andere auf solche Weise nicht in m[eine] Hände gelangt ist. [Herv. i.O.]«950 Am 13. Oktober 1907 reiste sie von Meißen aus nach Berlin, wo sie im Hotel Bellevue Unterkunft fand und tags darauf im Mozartsaal ihren Vortrag hielt. Ihr geliebtes Berlin sei

944 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 16.01.1907, Arc.Nr. 01 134. 945 Ebd.: 02.09.1904. 946 Lazarus und Leicht 1906. Die drei angestrebten Bände wurden, auf Rat von Hausmann, auf ein Werk zusammengefasst. Vgl. auch Lazarus-Remy 1927b: 176: »Mein Geliebter schrieb mir nun auch den Titel auf: »Ein halbes Jahrhundert. M. Lazarus’ Lebenserinnerungen. Verfasst von Nahida Lazarus.« Wäre es doch bei diesem Titel geblieben!! dass irregeleitete Unfolgsamkeit ihn änderte und Lüge statt des wahren Wortes meines Mannes das Titelblatt verunehrte, das war der Anfang zu meiner Strafe und Reue. [Herv. i.O.]« 947 The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 134. 948 Ebd.: Tagebucheintrag vom 23.12.1907. Vgl. auch ebd.: 14.11.1907: »Schweren Gemüts wegen der Undankbarkeit und absichtl[ichen] Verlogenheit die sich in der »Festschrift« zur Einweihung der Lehranstalt d. Wissenschaft d. Judenthums im neuen Heim, Artillerie Str. zeigt. Ja, er wird als Begründer der Lehranst. erwähnt, aber Alles unterschlagen, was er allein, direkt und persönlich geleistet, – Alles wird allgemein behandelt, als wäre er gar nicht weiter daran beteiligt, er, die Seele des Ganzen!« 949 Ebd. 950 Ebd.: Am 28. Okt. 1911 erhielt sie aus der Schweiz eine Anfrage einen Vortrag zu halten, die sie mit Vertröstung auf 1913 beantwortete.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

durch die zeitgemäße Stadtmodernisierung kaum noch zu erkennen gewesen. Die geänderten Lebensverhältnisse seien hektisch, säkular und modern geworden, womit sie sich nicht identifizieren konnte: »mein schönes, ruhiges, vornehmes Berlin, wie hast du dich verunstaltet, durch deine benzinverstänkerten Automobil- durchstobten Strassen. Ein Dunst, wie früher nie, lagert in den Strassen und ein Höllenlärm peinigt die Nerven. Meine Sehnsucht nach dir ist hin, ertötet durch dein Gestobe, Geklingle, Getute und Gerase. Vorbei! Vorbei! – In Meran, in meiner stillen schönen Villa Ruth will ich wieder reine Luft und sanftes Behagen an Schönheit der Natur atmen. Gesundheit und Frieden suchen, Ruhe finden – Arbeitsruhe und Gemütsruhe – bis Gott mich an deine Seite ruft geliebtes Grab!«951 Am 22. September 1908, als der Philologe und Schüler Steinthals Moritz Guggenheim (1858–1908) verstarb, verfasste sie sofort einen Artikel, den sie von Gustav Karpeles (s.TL) veröffentlichen ließ. »Da erscheint wieder Laz[arus] als Menschenfreund in so hellem Licht! So wirke ich für ihn, wie und wo ich kann.«952 1909 gab sie dann aus dem Nachlass von Lazarus »sein Vermächtnis Erneuerung des Judentums«953 heraus. Sie notierte rückblickend im Dezember 1909: »Im Frühling erschien ›Erneuerung‹ und trug mir manch warmes und freundl[iches] Urteil manch herzl[iches] Wort ein, aber der äussere Erfolg blieb aus. Die Juden sind stumpf und träge in ihrer Gesamtheit, wenn der Einzelne – der 100derte ausgibt für Eitelkeiten – sich aufrafft 1,50 für ein Werk wie Erneuerung zu bezahlen, ist es eine Ausnahme.954 Gruyter ist natürlich enttäuscht und als ich ihn wegen ›Schweizer Erinnerungen‹ befragte, wies er mich wieder an Huber! Huber hat nun das Manuskript – Gott helfe, dass ich es zum Frühling veröffentlichen kann. Welche Arbeit.«955 Der Schweizer Verleger Hans Huber (1884–1973) lehnte allerdings im Januar 1910 ab und sie schickte das Typoskript weiter zum Dümmler-Verlag. »Und die deutsche Presse bleibt stumm. Ja, wenn mein Buch das ›Tagebuch einer Verlorenen‹ wäre! Von Prostitution handelte.«956 Allerdings wurde im Frühling 1910 ihr biographisches Buch Ein deutscher Professor in der Schweiz veröffentlicht, wofür sie viele anerkennende Kritiken sowie »eine Menge privater Zeichen der Freude und der Dankbarkeit für dieses Buch«957 erhielt. Am 28. November notierte sie in ihrem Tagebuch von 1911 schockiert:

951 952 953 954

Ebd.: Okt. 1907. The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 134. Ebd.: Autobiographische Notizen, Arc.Nr. 01 136. Vgl. Lazarus 1909 Ebd.: 24.06.1911: »Im Jahr 1910: 29 Ex[emplare] von ›Erneuerung‹ verkauft! --- Von den ca. 30 Millionen deutscher Juden haben 29!! Männer das ›Vermächtnis‹ eines Lazarus sich gekauft. – Moralische und geistige Misere! – Und für solche ›Glaubensgenossen‹ hat Lazarus recht eigentlich sein Leben hingegeben.« 955 Ebd. 956 Ebd.: 22.05.1910. Weiter heißt es in: ebd.: Tagebucheintrag vom 22. Mai 1910: Gryter teilte Nahida Ruth Lazarus mit, dass es nur einen schlechten Absatz der Lebenserinnerung gibt. »Das Buch sei eben zu teuer!« 957 Ebd.: Rückblick von 1910. Vgl. dazu auch Lazarus 1910.

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»Kommerzienrat Jul. Goldschmidt mit Frau (Nichte von Lazarus; Tochter seiner ältesten Schwester) hier, […]. Wussten nichts von unseren letzten Büchern, nichts von ›Erneuerung‹ – nichts von ›Leben-Erinnerungen‹, nichts von ›Deutscher Pr[ofessor] i[n] d[er] Schweiz!‹ – Verwandte!! Was soll man dann von Fremden erwarten?!«958 Enttäuscht von der wenigen Resonanz, vor allem aus den jüdischen Reihen, verzichtete sie auf weitere größere Nachlassveröffentlichungen und ließ zu Lazarus’ Ehrentagen vereinzelte Artikel drucken. So gab sie zum zehnjährigen Todestag 1913 Lazarus’ Autobiografie Aus meiner Jugend heraus.959 Für den 13. April 1923, den 20. Todestag, schrieb sie einen Artikel über Lazarus und Steinthal und schickte ihn an verschiedene Zeitungen: »Ob die Arbeit wieder umsonst ist? Nein. Schlimmstenfalls findet man sie in m[einem] Nachlass und wird sie gewiss drucken, denn sie wird gut.«960 Sie erhielt keine Antwort, weder von der Zeitung des Judentums noch von der Vossischen Zeitung oder der Neue Freie Presse. »Ob sie wohl mit Lazarus so rücksichtslos gewesen wären? – Aber mit einer Frau macht man keine Umstände! – Fleissig, obwohl ohne rechte Stimmung. Der Gedanke, dass all mein Fleiss umsonst ist – vielleicht! – ist doch lähmend, so sehr ich mich gegen Missmut wappne. [Herv. i.O.]«961 Erst am 29. April 1923 erfuhr sie, dass die Zeitung des Judentums nicht mehr bestehe. Am 9. Juni 1923 schickte die Neue Freie Presse ihren Artikel zurück mit der Angabe, er sei zu »specifisch«962 . Allerdings wurde ihr Artikel in der Meraner Zeitung abgedruckt, wofür sie auch zehn Lire Lohn erhielt. In ihren letzten Lebensjahren stieg bei ihr die Hoffnung, dass, »wenn [sie] tot sein wird, man ihrer vielleicht auch rühmend gedenkt!«963 Der Vorsitzende des Centralvereins Berlin Julius Brodnitz (1866–1936), der 1926 Lazarus-Remy besuchte und nach ihrem Tod (12.01.1928) einen Nachruf in der Central-Verein-Zeitung veröffentlichte, beschrieb sie als eine große Persönlichkeit, die sich dessen bewusst gewesen sei, was sie in ihrem Leben geleistet habe.964 »Wenn man unseres großen Lazarus gedenken wird«, so endet sein Erinnerungsschreiben, »darf man Nahida Remy nicht vergessen«965 . Lazarus-Remy vertrat mit »Stolz« und »Ehrgefühl«966 , dass sie und besonders ihr Mann etwas Gutes für die Nachwelt getan hatten.

4.2

Alfred Leicht (1903–1908) – Moritz Lazarus’ Student und Nachlassverwalter »Als einstiger Schüler meines Mannes an der Berliner Universität hatte er bereits dessen Vorlesungen fleissig stenographiert. Das regte den Gedanken in mir an, ob er nicht

958 959 960 961 962 963 964 965 966

Ebd. Lazarus 1913. The National Library of Israel, Department of Archives: 25.04.1923, Arc.Nr. 01 134. The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 134. Ebd. Ebd.: Arc.Nr. 01 135. Vgl. Brodnitz 1928: 29. Ebd. Vgl. ebd.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

einmal Lazarus’ Biographie würde schreiben können. […] Aber mein Mann stimmte mir nicht zu; er schien Bedenken zu haben. Auf meine spätere Frage lobte er den Fleiss und die Kentnisse des Mannes, bemerkte aber, dass es ihm an Stil, Wärme und Darstellungskraft fehle. ›Jedenfalls kann er nichts ohne deinen Beistand machen‹. [Herv. i.O.] Damit schloss er unser Gespräch und wir kamen nicht mehr darauf zurück. Aber – ich beging die grösste Sünde meines Lebens – und gehorchte später dem Ausspruch des Menschenkenners nicht. Die Strafe war hart, die Reue lebenslang.«967 Im Sommer 1903 entschied sich Lazarus-Remy, den deutschen Philologen und Lazarus’ Schüler Alfred Leicht (1861–1946) für die Verschriftlichung von Lazarus’ Autobiografie (Lebenserinnerungen) einzustellen. Seit dem 19. Juli 1903 kam Alfred Leicht, selbst aus Meißen (Sachsen) stammend, nun jährlich in seinen Sommerferien für einen Monat nach Meran, um täglich Lazarus’ autobiographische Texte sowie die bereits erstellten biographischen Manuskripte von Lazarus-Remy durchzusehen. Auch vom 18. Juli bis zum 13. August 1904 kam er nach Meran, wo sie ihn bereits erwartete. Liebevoll nannte sie Leicht in ihren Tagebüchern »Unserchen« und dokumentierte stichwortartig sein Arbeitspensum: »Unserchen angestrengt fleissig: gegen 70 Seiten geschrieben (z.T. doppelte Arbeit wegen meiner kritischen Bemerkungen!) Wenn er nur gesund bleibt!!«968 Mit tiefer Dankbarkeit für seinen Eifer in der Verschriftlichung der Lebenserinnerungen entwickelte sie eine zärtliche Beziehung zu Leicht. Er sei der einzige Mensch gewesen, der nach Lazarus’ Tod ihr sofort unterstützend und tröstend zur Seite stand. So erhielt sie an Lazarus’ Geburtstag (15. September 1903), den sie als Tag des Prüfsteins für den Grad der Pietät der Verwandten beschrieb, von diesen keine Zeile, auch nicht von näheren Freunden, außer vom »lieben, treuen Alfred Leicht, der gleich des Morgens mit einem liebevollen Brief sich bei ihr eingestellt hatte, der mit den Worten begann: ›Halten Sie sich tapfer am 15.‹«969 Dass Leicht für die trauernde Lazarus-Remy da war, bestärkte offensichtliche ihre Zuneigung zu ihm. Die Tagebucheinträge vom Sommer 1905, als Leicht zum dritten Mal einen Monat in Meran für seine Lazarus-Studien verbrachte, fehlen völlig. Erst am 18. August 1905 sind wieder Einträge vorhanden, was für Spekulationen Raum lässt: »›Belastetes Gemüt‹. Wie hat er sich diesmal anders enthüllt als ich ihn mir vorgestellt! – Aber auch für meine Einbildungen bin ich ihm dankbar.«970 An Lazarus’ Geburtstag am 15. September 1905 findet sich ebenfalls eine zweideutige Anmerkung: »Ehe es noch dämmerte, eine Erkenntnis über mich gek[ommen], als ob Laz[arus’] Geist sie mir eingeflösst: L[eicht] ist – doch nein, nicht hinschreiben. Mein Amt ist diesen Menschen gesund, froh u. glücklich zu machen, in Laz[arus’] Geist ihn fassen und führen. Das gelobe ich mir – und dies Gelöbnis ist meine Geburtstagsfeier, mein Popp! Mein Einziger! Mein Heissgeliebter!«971 967 Lazarus-Remy 1927b: 175. 968 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 03.08.1904, Arc.Nr. 01 134. Sie versucht ihn sogar zu zeichnen, in: ebd.: 03.08.1904: »Geliebtes Unserchen so fleissig, dass mir bange um ihn wird. Seit er hier ist gegen 150 S. geschrieben, – Von früh an sitzt er an deinem Schreibtisch!! – Sein Bild fertig, eingerahmt, und unter deines gehängt, mein Geliebter!« 969 Ebd.: Großes Tagebuch: 15.09.1903, Arc.Nr. 01 135. 970 Ebd.: Arc.Nr. 01 134. 971 Ebd.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Beide arbeiteten gemeinsam an den Lebenserinnerungen und gaben diese 1906 heraus. Daraufhin wurde ein Werbeprospekt erarbeitet, der die guten Besprechungen von Lazarus beinhalten sollte. Lazarus-Remy arbeitete Leicht zu, indem sie die notwendigen Schriftstücke und Briefe heraussuchte, Übersetzungsproben redigierte und kürzte. Mit ihrer Hilfe beendete Leicht Anfang Oktober 1907 den Prospekt zu seinem Buch Lazarus der Begründer der Völkerpsychologie und gab diesen bei Klinkicht in Druck. Im Frühling 1907 erkrankte der alleinerziehende Leicht, so dass sich Lazarus-Remy dazu entschied, zu ihm und seinen Kindern nach Meißen zu ziehen, um ihn pflegen und besser in seiner Arbeit unterstützen zu können (März 1907 bis zum 14. Mai 1908).972 »Der Arme ist leidend, […] Seinetwegen bin ich hier, finde mich in Alles, suche allem die gute Seite abzuwiegen, ihn zu erheitern und selbst heiter zu sein, sorge für ihn, soweit ich kann, rede ihm zu, tröste ihn, richte mich nach seinen Eigenheiten, um ihn bei guter Laune zu erhalten, bin freundlich, scherzhaft, besänftigend, – arbeite mit ihm, widme mich ihm und er liebt meine Gesellschaft so, dass er keinen Spaziergang ohne mich macht und ich nicht ohne ihn. […] ich nehme Teil an allem, gemütlich und geistig bin ich sein treuer hingebender Kamerad – und da kann er an ein fremdes fernstehendes Mädchen schreiben, es fehle ihm an täglichen Freuden!«973 Sie las den Brief von Leicht an die Französin Elisa L., worin er schrieb, dass es ihm an »täglicher Freude« fehle.974 Sie war darüber erzürnt und es kam nun zu fortwährenden Auseinandersetzungen zwischen den beiden. Als sie am 14. Mai 1908 wieder nach Meran zurückkehrte, erhielt sie im Juni 1908 sehnsuchtsvolle Zeilen von Leicht: »Ihm fehle was, – er sei mir ja immer Dank schuldig, aber er fühle sich ›ärmer geworden‹ […] u.s.w! Unbegreiflich diese Übertreibungen, als ob ich ihm Alles entzogen! Und was ists? Eine Spielerei mit Worten, die mir peinlich geworden ist, die ich einfach als unanständig empfinde. […] und in einem folgenden Brief klagt er ›Jemand haben, der mich fortreisst, mit elementarerer Gewalt, dem ich alles bin. Wäre schön!‹ – Du lieber Gott!. Nervös.«975 Ihre Einsamkeit, die durch Leicht gemildert wurde, kehrte wieder zurück und damit ihre melancholischen Zustände. Sie war über seine Zuneigung zu der Französin Elisa L., die

972 Ebd.: Großes Tagebuch, Arc.Nr. 01 135: »Für dich wirken, die Kenntnis über Dich verbreiten, das ist mein Lebenszweck. Mit diesem Ziel vor Augen reise ich nächsten Dienstag (Kitauv!) den 5. März von hier in die Welt.« Vgl. auch ebd.: Dez. 1907, Arc.Nr. 01 134: »Hoffentl. aber der letzte Weihnachtsabend hier, ich sehne mich unsäglich nach Ruhe, Würde u. Wahrheit. Aber ich werde immer dankbar sein, dass ich ein Jahr lang hier so vielerlei mit Leicht für meinen Heissgeliebten arbeiten und schaffen konnte u. so sorglos untergebracht war. Das Mannigfache, das meine Gesundheit hier geschädigt hat, wird ja in Meran nicht sein. meine Nervosität wird nicht tägl. neue Nahrung erhalten, – mein Schlaf wird sich bessern, u. so wird Alles noch gut. – Möge nur der arme, nervöse, schlecht genährte und überarbeitete L. diese Jahre ausdauern und unsere Zukunftspläne wegen freier, froher Arbeit für Lazarus in Villa Ruth verwirklichen können! – Das gebe Gott. Amen.« 973 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 31.07.1907, Arc.Nr. 01 134. 974 Ebd. 975 Ebd.: 24–28.06.1908.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

für die Übersetzung der Lebenserinnerungen ins Französische seit dem Herbst 1908 von Leicht eingestellt wurde, zutiefst enttäuscht und notierte: »Ein Gefühl tiefster Abneigung dagegen, dass die Französin, die mir durchaus nach allen was ich beobachtet und erfahren verdächtig ist … sich um dieses Werk von Lazarus kümmert, es berührt mich […] und mein Gefühl hat mich sehr selten getäuscht, wenn es so stark und konsequent blieb. L[eicht] ist in sie vernarrt und sieht Alles durch eine rosige Brille, was sie betrifft. Schlimm genug, dass eine Nahida Lazarus davon abhängig gemacht wurde.«976 Wie üblich beabsichtigte Leicht im Sommer für einen Monat (Juni 1909) nach Meran zu kommen und meldete sich und Elisa L. bei ihr an, was sie vehement ablehnte. »Er scheint empört, dass auch ich es wage … . Und wegen m[einer] Ablehnung die Französin, die er ins Haus genommen, zu mir einzuladen. Trotzdem ich ihm ehrlich und herzlich gestanden, dass ich Gemütsbewegungen fürchte, und mir meinen Frieden in V[illa] R[uth] nicht stören lassen darf. Der Friede, die Ruhe wären eine Lebensfrage für mich … . Aber das ist ihm völlig gleich, er bleibt dabei sich zu beklagen, dass ich ihm diesen ›unschätzbaren Dienst‹ nicht erweisen will, spricht nur von ihr, von sich – - ich existiere gar nicht mehr für ihn. Höchst seltsam, und wie ich fürchte sehr krankhaft. Deshalb siegt immer wieder mein Mitleid über das Gefühl der Kränkung.«977 Leichts Leidenschaft für die Französin Elisa L., die er bei sich aufgenommen hatte, habe den »Kameradschaftlichen Bund« zwischen Lazarus-Remy und ihm »um seine ganze sittliche Höhe und Harmonie gebracht.«978 Der Plan, dass Leicht sich mit 50 Jahren pensionieren lassen, zu ihr in die Villa Ruth ziehen und sich anschließend »dem Arbeiten und Wirken für Lazarus und der Betreuung und Verschönerung meines Lebens annehmen«979 solle, zerbrach von dem Zeitpunkt an, als er die Französin eingestellt habe. »Von der Sie mir bald versicherten, Sie konnten nicht mehr ohne sie leben – v[on] d[er] Zeit an haben Sie durch Ihre Treulosigkeit das B[and] zerrissen. […] Einsamkeit blieb mein Los. Jedenfalls kann ich sie nicht wiedersehen, so sehr schäme ich mich … nicht für mich; ich blieb treu, ich stellte Niemanden zwischen uns und hatte fort und fort die feste Absicht unseren wundervollen Zukunftsplan zu erfüllen. dass eine so jähe, so hässliche Zerstörung stattfand, lag nicht an mir.«980 Am 16. Mai 1910 veröffentlichte Leicht innerhalb eines Artikels in der Zeitung des Judentums Bilder, die aus dem persönlichen Besitz von Lazarus-Remy stammten und von ihr nicht an Leicht, sondern an Geiger gesandt wurden. Die Veröffentlichung der Bilder ohne ihre Zustimmung wird von ihr als böswillige Handlung angesehen.

976 977 978 979 980

Ebd.: 14.04.1909. Sie arbeiten an einer französischen Übersetzung der Lebenserinnerungen. Ebd.: 08.06.1909. Ebd.: Rückblick von 1909. Ebd.: 20.01.1914. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 20.01.1914, Arc.Nr. 01 134.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

»Es ist wohl noch nicht dagewesen, dass ein Mensch kaltblütig aus einem ›Freund‹ sich derart zu einem Feind metamorphosiert wie L[eicht] es mir gegenüber tut! L. ist fremd u. kalt und – mehr als unaufrichtig gegen mich geworden, und ich bin verbittert und vergrämt geworden, zeitweise wenigstens. Ich habe einen Freund verloren.«981 Der Kontakt zwischen den beiden, die sich eine Zeitlang sehr nahegestanden hatten, beschränkte sich auf Geburtstagsgratulationen und vereinzelten Reaktionen auf ihre Veröffentlichungen. 1927 erhielt Lazarus-Remy ein Schreiben vom erneut erkrankten Leicht, der noch einmal das Grab von Lazarus zu sehen wünschte, was sie ihm jedoch verweigerte. »An A[lfred] L[eicht] ganz aufrichtig die Wahrheit geschrieben, dass die Andeutung des Besuchs die Witwe Lazarus erschreckt hat, dass ich bei Wiederholung der Auseinandersetzungen wieder krank werden würde, dass ich nicht will, dass die heitere Ruhe, der beglückende Friede gestört, zerstört würde … darum kein Wiedersehen.«982 In ihrem Testament, das sie im August 1907 mit ihrem Anwalt Ernst Neumark aus Dresden neu aufsetzte, hatte sie bestimmt, dass Leicht alleiniger Erbe des handschriftlichen Nachlasses von Lazarus werde.983 Nach dem Zwischenfall mit der Französin Elisa L. änderte sie 1910 das Testament: »da Leicht sich so vollkommen mir entfremdet hat und mein Gegner geworden ist.«984 Am 5. Januar 1914 kam sie nach längeren Diskussionen mit Leicht, dem sie in den vergangenen Jahren jeglichen Zugang zum handschriftlichen Nachlass von Lazarus verweigert hatte, zu dem Entschluss, ihm noch zu Lebzeiten alles aus dem Nachlass von Lazarus zeitweise zu überlassen, was er für seine Recherchen benötigte (außer Briefen und persönliche Andenken), unter der Voraussetzung, dass er sie von jeder Bearbeitung und Veröffentlichung schriftlich unterrichte und auch Einsprüche von ihr berücksichtige. Zudem wurde der Nachlass von Lazarus notariell als verliehen an Leicht in ihrem Testament vermerkt, womit der Nachlass nach dem Gebrauch der Nahida Lazarus Stiftung in Leipzig übergeben werden musste. »Trotz der Unsicherheit Ihres Arbeitsraumes und mancher bedenklichen Umstände bin ich zu diesem schweren Opfer der Trennung von den mir so teuren Nachlasspapieren bereit … . Und habe nur den heissen Wunsch, dass damit eine endgültige befriedigende Lösung gefunden ist.«985 Ihr Sinneswandel resultierte aus einer sachlichen und gerechten Sichtweise: »Mag Leicht sich noch so sehr gegen mich versündigt haben, für Lazarus hat er nach Kräften gewirkt und dafür werde ich ihm stets dankbar sein.«986

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Ebd.: 16.05.1910. Ebd.: 08.02.1927. Ebd.: 09.08.1907. Ebd.: Rückblick von 1910: Sie kontaktierte als neue Unterstützung bei der Herausgabe von Moritz Lazarus’ Werken Oskar Klebinder (Geschäftsführer von Lazarus Hauptverleger Dümmler in Berlin sowie Waldeck Manasse, mit denen sie in vertraulichem und freundlichem Kontakt stand. Da beide mit ihr in freundlicher Beziehung standen und »in Drucksachen etc. Erfahrungen« haben, bat sie beide ausdrücklich, ihre Mitarbeiter zu werden. 985 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 05.01.1914, Arc.Nr. 01 134. 986 Ebd.: 23.05.1914.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

4.3 Lazarus-Remys Testament Zeitlebens blieb sie eine sparsame Frau und lebte den Rest ihres Lebens in einer bescheidenen Mietsstube im Hotel Royal, obwohl sie nun Besitzerin eines kleinen Vermögens war. Lazarus-Remys letzter Eintrag in ihrem Tagebuch fand am 6. Januar 1928 statt und sie notierte: »Gestern unwohl. Ab[ends] nur eine Tasse Pfefferminztee.«987 Sechs Tage später verstarb Nahida Ruth Lazarus am 12. Januar 1928 im ruhigen Schlaf in Meran.988 Bereits am 2. Februar 1909 notierte sie ihren letzten Willen, wonach ihr ganzes Vermögen in eine Moritz und Nahida Lazarus-Stiftung, mit ihrem Sitz an der Universität Leipzig, fließen sollte, die am 25. August 1913 von ihr in Nahida Lazarus-Stiftung umbenannt wurde.989 Die Frage, warum sie ausgerechnet der Universität Leipzig ihre Stiftung angetragen hat,990 kann anhand ihres handschriftlichen Testaments vom 3. Februar 1909 vermutlich aufgeklärt werden: »§1. Ich hebe meine früheren testamentlichen Verfügungen auf. – Unter den Gründen, die mich veranlassen die unter Verwaltung des Kuratoriums der Lehranstalt für die Wissensch[aft] d[es] Judentums zu Berlin stehende ›Mor[itz] Lazarus-Stiftung‹ nicht zu bedenken, hebe ich nur den Einen als ausschlaggebend hervor, dass nach Lazarus Tode in dieses Kuratorium Geh. Reg. Rat Prof. Dr. Cohen – Marburg gewählt wurde, welcher meinen geliebten Mann durch sein gemeines Pamphlet gegen dessen ›Ethik des Juden[tums]‹ so schwer beleidigte, dass sein Leben gefährdet schien; dass ferner aus demselben Kuratorium die Angriffe des Prof. Dr. Ludwig Geiger gegen meine Lazarus Andenken gewidmeten ›Lebenserinnerungen‹ hervorgingen – Angriffe, die mich aufs Tiefste verletzen mussten.«991 Die Stiftung wurde zur Universalerbin ihres Vermögens, womit arme Studenten der Philosophie sowie »leidende mittellose deutsche Privatgelehrte – ohne Unterschied der Konfession zum Zwecke des Studiums und der Erholung«992 unterstützt werden sollten. Ihr Vermögen konnte nach der Testamentsvollstreckung am 25. Juni 1934 auf 25.944,60 Reichsmark (umgerechnet ca. 172.012,698 €)993 festgelegt werden.994 Am 1. März 1934 trat die Nahida-Lazarus-Stiftung durch den Erlass der Satzung der Stiftung durch das Sächsische Ministerium für Volksbildung Dresden in Kraft und wirkte mit der Vergabe von zwei Stipendien an jüdische Wissenschaftler bis 1941, als die Arbeit der jüdischen

987 Ebd. 988 Vgl. Reese 2012: 8. Nach den Recherchen der Soziologin Dagmar Reese verstarb Nahida Ruth Lazarus laut dem Sterberegister der Stadt Meran am 13. Jan. 1928. Allerdings steht auf ihrem Grabstein als Todestag der 12. Jan. 1928 (jüd. Friedhof in Meran). 989 The National Library of Israel, Department of Archives: Schriftliches Testament von 1903, Arc.Nr. 01 134. Vgl. auch Reuß und König 2011: 56. 990 Vgl. ebd. 991 The National Library of Israel, Department of Archives: Schriftliches Testament von 1903, Arc.Nr. 01 134. 992 Reuß und König 2011: 56. 993 Vgl. Trapp und Fried 2006: 182ff.: Eine Reichsmark von 1924–1936 entspricht umgerechnet ca. 6,63 € (Stand 2016). 994 Reuß und König 2011: 56.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Stiftung in der NS-Zeit dann doch blockiert wurde. Unter mehreren Bewerbern wurden 1934 der vor dem Abschluss seiner Universitätszeit stehende Manfred Gersch (1909–1981) und 1935 der Psychologe und aus rassischen Gründen arbeitslose Dozent Albrecht Loeser (1897–1939) als Stipendiaten ausgewählt. Am 31. Mai 1941 erhielt die Nahida-LazarusStiftung aufgrund einer Änderung der Satzung den Namen: Stiftung zur Förderung von Studierenden der geisteswissenschaftlichen Disziplinen an der Universität Leipzig, wodurch jegliche jüdischen Aspekte der Stiftung ausgemerzt wurden. Seitdem wurden keine weiteren Aktivitäten der Stiftung aufgelistet, womit die Stiftung in völlige Vergessenheit geriet. Erst bei der Durchsicht von Akten aus dem Archiv der Universitätsbibliothek Leipzig stießen Cordula Reuß und Peter König auf die Akten der Nahida-Lazarus-Stiftung. Die Tatsache, dass sich ihre Stiftung »paradoxerweise mitten in der NS-Zeit entfaltete«995 , hätte Lazarus-Remy sehr erfreut. Sie kämpfte zeitlebens für die Aufklärung über und für die Beseitigung des Antisemitismus und forderte ihre Leser und Zuhörer auf, gerade dann aufklärerisch tätig zu werden, wenn es am notwendigsten sei. So kann die Zustimmung zur Stiftung im Jahre 1934, als schon mehrere antisemitische Gesetze in Kraft getreten waren, als ein eindrucksvolles Zeichen für die Zivilcourage der Vorstandsmitglieder der Nahida-Lazarus-Stiftung angesehen werden, die »sich inmitten des immer stärker um sich greifenden Antisemitismus für zwei jüdische Kandidaten bei der Stipendienvergabe«996 entschieden. Im November 1910 schenkte sie dem Meraner Museum neben dem wertvollen Moritz-Lazarus-Porträt des bekannten deutschen Malers Franz von Lenbach (1836–1904) ihre gesamte selbst gezeichnete Portraitsammlung von Lazarus’ Freunden, sowie ein Kapital von 5000 Kronen für die künftige Erhaltung und Erweiterung der Sammlung.997 Ihre Bedingung für diese Schenkung war ein eigenes Zimmer im Museum, das »ausschließich reserviert bleibt für ewige Zeiten. Das Zimmer soll den Namen: Nahida und Moritz Lazarus Stiftung tragen, ihm zum dauernden Gedächtnis.«998 Allerdings wurde ihr im Juni 1923 vom Meraner Museumsleiter Gudenus mitgeteilt, dass aufgrund der Auflösung ihres Lazarus-Zimmers die Schenkung als ihr Eigentum an sie wieder zurückgegeben werden musste. Aus welchem Grund das Meraner Museum eine so wertvolle Schenkung wieder abgab, konnte nicht geklärt werden. 1925 überließ sie endgültig der Moritz-Lazarus-Loge in Göttingen das Lenbachbild. Der Jüdischen Gemeinde in Berlin schenkte sie ihr selbstgemaltes pastellfarbiges Doppelbild von sich und Lazarus.999 Der Humboldt-Universität zu Berlin überließ sie eine Sammlung von 1366 Briefen und dem Meraner Museum

995 Ebd. 996 Ebd.: 57. 997 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 07.11.1910, Arc.Nr. 01 134. Zu den Portraitbildern gehörten u.a. Bildnisse des Historikers Theodor Mommsen (1817–1903) und des Philosophen Rudolf Eucken (1846–1926). Über ihre Bildersammlung schrieb sie das Buch Meine Bildersammlung, das vom Pätzelburger Verlag gedruckt wurde und im Jan. 1912 eine gute Besprechung von Pfarrer Alt im Maiser Wochenblatt erhielt. 998 Ebd.: Rückblick von 1910. Dort sollen nicht nur die Bilder, sondern auch Gegenstände, die ihm lieb und teuer waren, wie ein rechteckiger kunstvolle Eichentisch sowie seine Garnitur Eichensessel, verwahrt werden. 999 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 26.03.1925, Arc.Nr. 01 134.

I. Biografie von Nahida Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel

vermachte sie ihren »Schreibtisch mit allem Zubehör«1000 . Die Tatsache, dass LazarusRemys Schenkung von 80 Portraitbildern, darunter das wertvolle Lenbachbild sowie das Doppelbild, an das Meraner Museum (1910) 1923 wieder an sie zurückgegeben wurde, wirft Fragen bezüglich ihrer Schenkung des Schreibtisches auf. Denn ihr Wunsch, in Meran ein »geistiges Denkmal«1001 für Lazarus zu errichten, wurde mit der Rückgabe der Bildersammlung nicht erfüllt; trotzdem hinterließ sie dem Meraner Museum erneut ein Andenken, das bis heute an das Ehepaar erinnert.

1000 Ebd.: Notiz zu ihrem Testament von 1914. Der Briefnachlass von Moritz Lazarus in der HumboldtUniversität zu Berlin beinhaltet auch mehrere Briefe an seine Ehefrau Nahida Lazarus. Bei genauerer Durchsicht stellte sich heraus, dass ein Großteil der Briefe an seine erste Frau Sarah Lazarus adressiert war. Allerdings ist darunter auch ein Briefwechsel zwischen Nahida Ruth Lazarus und der Pianistin Clara Schumann (1819–1896) von 1895 und der Briefwechsel zwischen ihr und der Zunz-Stiftung von 1924, der sie ihren gesamten schriftlichen Nachlass, abgesehen von ihren handschriftlichen Autobiografien Mein Leben I+II, hinterlassen hat. 1001 Ebd.: 07.11.1910: »Wenn ich nicht mehr bin – warum soll das alles in fremde, gleichgiltige Hände kommen? Warum soll, was wir liebevoll und gedankenvoll gesammelt, geordnet und bewahrt haben, in alle Winde zerstreut werden, und – zersplittert – Sinn und Wert verlieren? Jetzt hat das Pietätsvolle eine Heimat – so Gott will – zur Freude und Erhebung von vielen Tausenden!! Im Lauf der Zeiten!« Vgl. dazu auch die Online-Adresse der jüdischen Gemeinde in Meran: http://www.ju edischegemeindemeran.com/moritz_und_nahida_lazarus.html.

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II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891) – bestimmt durch die jüdische Tradition und Emanzipation sowie durch die weibliche Emanzipation und Tradition des 19. Jahrhunderts

Durch die soziale und wirtschaftliche Veränderung im frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung eine Vorstellung komplementärer, nicht gleichwertiger Geschlechterrollen, die sich einerseits in der Trennung von Berufs- und Erwerbssphäre und andererseits in der Trennung von Haushalts- und Familiensphäre zeigte.1 Frauen und Männer, die bisher in einem partnerschaftlichen Verhältnis mit prinzipiell festgelegten, aber unterschiedlichen Aufgabenbereichen im ›ganzen Haus‹ zusammenlebten, wurde ein Unterordnungsverhältnis auferlegt, in dem biologisch begründet wurde, dass der Mann eine grundsätzliche Dominanz über die Frau habe.2 Diese ideologische Unterordnung der Frau unter den Mann wurde im Bürgertum propagiert, um die »familialen Machtverhältnisse in Frage stellenden Forderungen der Französischen Revolution und der Aufklärung«3 zu falsifizieren. Im späten 18. Jahrhundert kam es zu ersten Widerständen, die sich gegen die rechtliche Abwertung der Frau richteten. 1791 setzte sich die französische Revolutionärin und Schriftstellerin Olympe de Gouges (1748–1793) als erste Frauenrechtlerin für die Rechte der Frauen ein, da sie der Meinung war, dass nur die Frauen selbst an ihrer Situation etwas ändern konnten. Dabei betraf die weibliche Emanzipationsforderung zunächst vor allem Bildung und freie Berufstätigkeit. In dieser Zeit, als die Forderung nach jüdischer und weiblicher Emanzipation bedeutend war, veränderten sich auch die Sichtweise und das Verhalten der jüdischen Bevölkerungsanteile. Durch die erlangte rechtliche Gleichstellung der Juden im Deutschen Reich (1870/71) konnten viele Bürger jüdischen Glaubens in die bedeutenden Kulturzentren übersiedeln und in einflussreichen Berufszweigen und Lebensbereichen

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Spree 2011. Ebd. Ebd.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Fuß fassen, mit der Hoffnung endlich ein Teil der deutschen Gemeinschaft werden zu können.4 Anhand der Monografie Das jüdische Weib wird untersucht, inwieweit es der jüdischen Frau nach Remys Sichtweise möglich war, den weiblichen Emanzipationsforderungen sowie -vorstellungen zu folgen und gleichzeitig der jüdischen Tradition loyal zu bleiben. Im Jahr 1891 veröffentlichte sie das Buch Das jüdische Weib, in dem die damals, wie heute umstrittene Geschichte jüdischer Frauen thematisiert wird. Ihr Buch ist eine Parteinahme für das vom zunehmend radikaler werdenden Antisemitismus bedrohte Judentum des 19. Jahrhunderts. Dabei wird anhand ihres Buchs Das jüdische Weib die Entstehung der weiblichen Emanzipation und deren Einfluss auf die jüdische Tradition näher betrachtet, um so die Darstellung der modernen jüdischen Frauenrolle des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Ausgehend von dieser Quelle werden die komplexen Rollenzuweisungen, die Möglichkeiten zu handeln und das konkrete Handeln der jüdischen Frauen genauer betrachtet. Es lässt sich folgendes vorab festhalten: Es werden von ihr je nach Stand, Bildung und Status verschiedene weibliche Rollenmuster mit unterschiedlichen Handlungsoptionen aufgezeigt. So präsentiert sie zum einen die jüdische Frau als unwissende, schwache, aber vor allem gute Hausfrau, zum anderen aber auch als gebildete und klug agierende Partnerin ihres Mannes. Sie hebt jüdische Unternehmerinnen in Männerberufen hervor, deren Erfolge im geschichtlichen Verlauf unbeachtet blieben und somit in Vergessenheit gerieten. Und Jüdinnen, die sich vor allem durch ihre ›Religionstreue‹, wie Remy eine gläubige Jüdin definiert, auszeichneten, aber auch jüdische ›abtrünnige Frauen‹, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Glauben ablegten und sich taufen ließen. Nachdem im 1. Kapitel (Das jüdische Weib – Quellenlage, Aufbau, Struktur und verwendete Quellen innerhalb des Buches) das Buch zunächst einmal vorgestellt wird, wird im II. Kapitel auf Remys jüdisch-religiöse Deutungsmuster der jüdischen Frau innerhalb ihres Werkes näher eingegangen. Während in diesem Kapitel der Fokus auf ihrer normativen Sicht und Darstellung der Geschlechterrollen, Familie und Öffentlichkeit liegt, werden im darauffolgenden III. Kapitel Remys Intention und Legitimationsstrategien anhand ihres Umgangs mit Verschiedenheiten genauer betrachtet. Dabei soll die Frage geklärt werden, welche Problematiken und Wertungen sie angibt und welche Lösungsoptionen. Welche Geschichtssicht stellt sie dar und wie positioniert sie sich darin? Anhand religionsbezogener und außerreligiöser Legitimationsstrategien baut sie ein Argumentationsmuster von binären Oppositionen auf, indem sie auf die zwei Vergleichspolitiken

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Seit 1790–1870 gab es in Europa eine Welle der Gleichstellung der Juden; die deutschen Staaten gehörten zu den letzten Ländern, die die Gleichstellung vollzogen. Die politische Gleichstellung der Juden zielte auf die Aufhebung der starken Benachteiligung der Juden im 18./19. Jh. ab. Ausgehend von der Aufklärung, die die Vorstellung vertrat, dass allen Menschen die gleichen Rechte zustünden, wurde zuerst in den USA die Forderung nach der jüdischen Gleichstellung laut. Die Französische Revolution realisierte ebenfalls die Gleichstellung. In Deutschland wurde die rechtliche und politische Gleichstellung erst durch die Reichsgründung 1870/71 durchgesetzt, was allerdings nicht weniger Diskriminierung der Juden bedeutete. Zwar konnten die Juden nun am politischen (deutschen) Leben teilnehmen, aber eine soziale Ausgrenzung fand weiterhin statt. Vgl. dazu Rürup 1975.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

(Judentum = AT, Christentum = NT) des aufkommenden modernen Antisemitismus-Diskurses (ab 1870/71) eingeht.5 Dabei wird ihr Argumentationsmuster bezüglich der antisemitischen Polemiken, auf die Remy reagiert, identifiziert und kontextuell verortet.

1. Das jüdische Weib – Quellenlage, Aufbau, Struktur und verwendete Quellen innerhalb des Buches Durch den jüdischen Völkerpsychologen Moritz Lazarus erhielt die christliche Schriftstellerin Nahida Remy die Möglichkeit, ihre langjährigen Studien über die jüdische Tradition und Religion erstmalig in einem Buchprojekt festzuhalten.6 Sie veröffentlichte 1891 beim christlichen Verleger W. Malende ihr erstes populärwissenschaftliches Werk Das jüdische Weib.7 Das Buch fand zu seiner Zeit viel Beachtung und erschien bereits im darauffolgenden Jahr 1892 in zweiter und dritter unveränderter Auflage.8 Nach fünf Jahren erschien 1896 beim jüdischen Verleger Siegfried Cronbach die dritte wohlfeile Auflage ihres Werkes aufgrund ihrer Eheschließung mit Moritz Lazarus unter dem Namen Nahida Ruth Lazarus. Im Vergleich zu den drei zuvor erschienenen Ausgaben ist der Inhalt abgesehen von den nicht mehr vorhandenen Motti identisch geblieben, allerdings beinhaltet das Werk nun ein erstes Vorwort von ihr und ein Portrait ihrer selbst.9 1922 wurde das Werk bei Siegfried Cronbach in 4. Auflage mit einem zweiten Vorwort von LazarusRemy veröffentlicht, in dem das Werk als »ein sachlicher Beitrag im Dienst der Aufklärung, also der Versöhnung«10 beschrieben wird. Es fällt auf, dass bei der 4. Auflage die Motti11 entfallen und der Druckabstand enger gewählt wurde, sodass die Seitenzahl zwischen dieser und den früheren Auflagen variiert.12 Die 3. Auflage erfuhr durch die amerikanische Essayistin Louise Mannheimer (1856–1950) eine Übersetzung ins Englische.13 Das für die damalige Zeit innovative Werk erschien bereits bis 1895 in englischer, ungarischer, polnischer, niederländischer und

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Siehe Kap. II, 3.; 4. S.Kap. I, 2.2. Remy 1891a. Remy 1892b. Lazarus 1896. Lazarus 1922, Vorwort. Vgl. dazu The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 26.12.1922, Arc.Nr. 01 134: Hier notiert sie, dass in ihrem Vorwort der 4. Auflage ein Druckfehler vorhanden sei, »statt Wissenschaft (noch einmal) »Wahrheit. Warum hat er [Crombach] mir keine Correktur geschickt?! Immer die Rücksichtslosigkeit gegen uns Frauen!« Bis zur 4. Auflage wird in allen Ausgaben folgendes biblische Motto aufgegriffen (Jos 24,15) »Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen«, dass in Verbindung mit der folgenden talmudischen Auslegung »sein Haus, das heißt sein Weib« angegeben wird. Diese Metaphorik, in der das Haus für die jüdische Frau steht, zieht sich durch Remys Werk, was im Kap. II, 2.2.1 genauer untersucht wird. Aufgrund mehrerer Verlagsübernahmen und die damit einhergehenden Verlagsrechte, erschien Remys Buch unter drei Verlegern: W. Malende (1.+2. Auflage: 1891–1892), G. Laudien (3. Auflage: 1892) und Siegfried Cronbach (3. wohlfeile Auflage: 1896 und 4. Auflage: 1922). Zur näheren Publikationsgeschichte siehe Kap. I, 2.2.2. Siehe: Mannheimer 1895; Mannheimer 1897; Vgl. Kap. II, 5; Kap. IV, 1.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

hebräischer Übersetzung, sodass es auch internationale Bekanntheit erlangte.14 Die russische Ausgabe wurde 1899 von der Revolutionärin Sarah Sonja Lerch, geb. Rabinowitz (1882–1918) aus dem Deutschen ins Russische übersetzt und beinhaltet eigenhändige Illustrationen von Lazarus-Remy, so beispielsweise eine Federzeichnung der Judith, weshalb diese Ausgabe von ihr als ein »Prachtexemplar«15 bezeichnet wird. Eine solche breite Rezeption lässt den Schluss zu, dass die Autorin bestimmte Erwartungen des Lesepublikums traf und prägte. In 18 Kapiteln16 erörtert sie anhand zahlreicher Beispiele die »geschichtliche Wirklichkeit und Wirksamkeit jüdischer Frauen«17 , indem sie die ehrenvollen Leistungen und eindrucksvollen Charakterzüge der jüdischen Frauen hervorhebt, aber auch Kritik an denjenigen Jüdinnen übt, die die jüdische Tradition und Religion geringschätzen. Sie beginnt mit weiblichen Beispielen von Frauen aus dem Alten Testament und endet mit der Darstellung moderner jüdischer Frauen des 19. Jahrhunderts. Remy schreibt nicht ausschließlich von einzelnen bestimmten jüdischen Frauen, sondern zeigt vielmehr systematisch den historischen Verlauf der gesellschaftlichen Stellung der jüdischen Frau auf, in den sie besondere Persönlichkeiten jüdischer Frauen integriert. Am Werk Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst des reformjüdischen Historikers und Rabbiners Meyer Kayserling (1829–1905)18 orientiert, beschreibt sie neben den jüdischen Königinnen, Wohltäterinnen und Märtyrerinnen auch die Stellung der Frau im Christentum. Während Kayserling auf besondere Persönlichkeiten wie Eva Frank (1754–1816), aber auch auf einzelne Schriftstellerinnen und Dichterinnen aus Italien, England, Frankreich oder Spanien gesondert eingeht, fasst Remy diese im 16. Kapitel unter Jüdische Schriftstellerinnen pointiert zusammen. Ihr Werk präsentiert, im Gegensatz zu Kayserlings Jüdische Frauen der Geschichte, nicht nur die wohlhabenden und bedeutenden Jüdinnen der Zeitgeschichte, sondern auch Frauen, die sich vor allem aufopfernd in der familiären und erwerbstätigen Sphäre etabliert hatten, als Mutter, Hausfrau, Ehefrau und Arbeiterin.19 Damit präsentiert sie erstmalig die Jüdinnen, die sich in der sozialen Realität ihre Anerkennung durch harte Arbeit, Misserfolge und Mühe verdient haben. Auch blickt sie auf die Orte, an denen jüdische Frauen ihre persönliche Frömmigkeit pflegen, wie beispielsweise das rituelle Bad in der Mikwa, das ihr durch die strenge Abgeschlossenheit die Freiheit für Ruhe und körperlicher Erholung biete und gleichzeitig ihre innere Religiosität bestärke.20 Remys Blick

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Krasznainé F. Mari. (Hg.) 1894; Veröffentlicht u.a. in der ungarischen Zeitung: Gyula Majus 1892. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 10.10.1923, Arc.Nr. 01 134. Siehe: Remy, Nahida: еврейская женщина. [Die Jüdin]. Freie Übersetzung von Sonja Lerch, 1899. Vgl. auch Remy 1902. Inhalt: 1. Die Alten – 2. Christliche Auffassung von Weib und Ehe – 3. Isch und Ischoh – 4. Temperament und Talmud – 5. Die biblischen Frauen – 6. Jüdische Königinnen – 7. Im Finsteren Mittelalter – 8. Mehr Licht – 9. Praktische Culturarbeit – 10. Sarah Copia Sullam – 11. Die Mutter – 12. Die heilige Sprache – 13. Abtrünnige – 14. Die Töchter des Daniel Itzig – 15. Jüdische Künstlerinnen – 16. Jüdische Schriftstellerinnen – 17. Jüdische Wohlthäterinnen – 18. Die Jüdin der Gegenwart. Lazarus 1896: Vorwort. Kayserling brachte 1879 sein Werk Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst heraus. Remy nutzte die Schrift als Quelle für ihr Werk Das jüdische Weib. Vgl. Lazarus 1896: 310f. Vgl. ebd.: 191.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

richtet sich nicht ausschließlich auf die aschkenasischen und sephardischen Jüdinnen, sondern auch auf die Jüdinnen der Mizrachim aus muslimisch geprägten, aber nicht zwingend arabischen Ländern.21 Sie verweist allerdings in ihrem letzten Kapitel Die Jüdin der Gegenwart darauf, dass ihre Darstellung der letzten Jahrhunderte der jüdischen Frauengeschichte nur Westeuropa betrachtet, da die antisemitischen Zustände in Russland und Polen, wo die ungleich größere Masse der Juden heimisch gewesen sei, der jüdischen Frau wie den Juden überhaupt die öffentliche Mitwirkung verböte.22 »Aber unter diesen (den westeuropäischen Juden, die kaum eine Million Seelen umfassen), welch‹ eine Anzahl von Talenten, von stillgeübten Tugenden, von offenkundiger Arbeitskraft und imposanter Leistungsfähigkeit! Kein anderer Stamm zeigt Gleiches! Und dabei ist der jüdische Stamm an Zahl der kleinste; noch immer bewährt sich: ›Nicht wegen Eurer Vielzahl unter allen Völkern erkor Euch der Ewige und wählte Euch aus, denn Ihr seid die wenigsten unter den Nationen, sondern weil der Ewige Euch liebte‹ (Deut 7,7).«23 Remy verwendet in ihrem Buch Das jüdische Weib die methodologische Strategie des Vergleichs. Zunächst betrachtet sie mit einer hermeneutischen Herangehensweise das Wesen und die Stellung der Frau im Allgemeinen, um somit die Frau verstehen und erfassen zu können. Sie zeigt eine intersektionale Unterdrückung aufgrund der geschlechtlichen, ethnischen, klassenspezifischen und religiösen Zugehörigkeit der Frau auf, was sie als »die Sklaverei der Frau«24 bezeichnet. Dabei vergleicht sie getreu ihrer methodologischen Überzeugung in den ersten beiden Kapiteln zunächst die jüdische Frau mit Frauen »anderer Nationen«25 , um somit die Stellung der jüdischen Frau eingehender beurteilen zu können. Dabei orientiert sie sich an der zeitgenössischen Klassifizierung der Menschheit nach den ideologischen Konzepten von Volk/Nation, womit im 19. Jahrhundert antisemitische Diskurse legitimiert wurden (s.Kap. II, 3). Remy führt zunächst die Stellung der Frau in der Kulturwelt des Altertums auf und vertritt die These, dass die jüdische Frau zeitgleich durch die Bibel und den Talmud dem Mann als seine entsprechende Gefährtin gleichgestellt worden sei. Sie stützt sich auf die erste Benennung des Menschenpaares als ›Isch‹ und ›Ischoh‹ (hebr. ›Mann‹ und ›Mannin‹).26 Als Muster solcher Frauen, denen durch Jahrtausende hindurch »die erstaunliche und räthselhafte Erhaltung des jüdischen Stammes«27 gelungen sei, führt Remy eine Reihe von biblischen Frauenbeispielen an, unter anderem Eva, Sarah, Rahel, Jochebet,

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Vgl. Ben-Sasson 1979: 95f.: Mit Aschkenasim (Gen 10,3) werden die mittel- und osteuropäischen Juden bezeichnet. Von Deutschland ausgehend haben sich die Aschkenasim vor allem in Polen, Russland und auf dem Balkan angesiedelt. Bis zum Nazi-Regime gehörten 80 % der Juden zu den Aschkenasim. Ihnen stehen die Sephardim gegenüber. Darunter versteht man die Juden, die bis zu ihrer Vertreibung im 15. Jh. hauptsächlich in Spanien und Portugal lebten. Lazarus 1896: 308f. Ebd.: 321. Ebd.: 1. Ebd.: »Will man das Weib begreifen, studire man die Geschichte seiner Sklaverei. Um das jüdische Weib aber zu beurtheilen, muss man es mit den Frauen anderer Nationen vergleichen«. Ebd.: 34ff. Zur Semantik von »Stamm« vgl. Jacob 2004 und Miron 2004.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Miriam, Deborah und Judith.28 Auch schildert sie jüdische Frauen, die als Königinnen oder als Gemahlinnen anderer Fürsten den Thron ihrer Männer geteilt und einen mehr oder weniger wertvollen Einfluss auf politische Entwicklungen ausgeübt hatten. Und sie kommt zu dem Schluss, dass gerade im Judentum die Frauen eine hohe Stellung und Achtung vonseiten der Männer erhielten. Aufbauend darauf schildert sie im 3. und 4. Kapitel die Rechte und Pflichten der jüdischen Frau nach Thora und Talmud, um dabei Parallelen sowie Unterschiede zwischen den jüdischen und den nichtjüdischen Frauen aufzuzeigen. Somit erhalten die Leser in den ersten vier Kapiteln einen Überblick über die patriarchalisch geprägte Stellung der Frau der antiken Zeit. Sie stellt die jüdische Tradition im Vergleich mit den heidnischen, griechisch-römischen und christlichen Traditionen als überlegen dar.29 Systematisch schildert sie die historische Entwicklung der Stellung der jüdischen Frau, beginnend mit der Antike (5. und 6. Kap.), übergehend in das finstere Mittelalter (7. und 8. Kap.) und schließt das Werk mit der Schilderung beispielhafter Jüdinnen des 18. und 19. Jahrhunderts (9.-18. Kapitel). Remy beschreibt in dem Kapitel Das finstere Mittelalter jüdische Frauen, die standhaft an ihrem Glauben festhielten, in einer Zeit, in der grauenhafte Verfolgungen wüteten: »Allein der Glaube an den Einzigen hielt sie aufrecht«30 . In den darauffolgenden Kapiteln wird dann die Kulturarbeit der jüdischen Frauen seit der Emanzipation aufgezeigt, wie sie unter anderem als Mutter, Gattin, Gehilfin des Mannes und selbstständige Wirtschafterinnen gewirkt und viel Wohltätiges gestiftet haben. Sie verweist ferner darauf, was Jüdinnen auf dem Gebiet der Kunst, Literatur, Musik und Schriftstellerei bis zur Gegenwart (Ende des 19. Jh.s) geleistet haben. Dabei hält sie sich nicht an allgemeine Schilderungen, sondern listet besondere weibliche Persönlichkeiten auf, womit ihr Werk einen historischen Wert gewinnt. Obwohl das Werk vor allem die Besonderheiten der jüdischen Frauen aufdecken soll, verweist Remy in ihrem letzten Kapitel Die Jüdinnen der Gegenwart auch auf negative Beispiele und äußert Kritik gegenüber jüdischen Frauen der modernen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Es werden von ihr drei Bestrebungen in ihrem Werk anvisiert. Erstens soll ihr Werk Das jüdische Weib vor allem die damals dominierende christliche Sichtweise, von der im Vergleich zum Judentum höher gestellten christlichen Frau widerlegen. Zweitens soll anhand ihrer schonungslosen Kritik an den modernen Jüdinnen die edle Selbsterkenntnis der jüdischen Frau geweckt werden, um sie zur Umkehr zu ihren jüdischen Traditionen führen. Drittens möchte sie mit ihrem Werk der Ansicht entgegentreten, dass jüdische Emanzipation nur durch Konversion zum Christentum zu erreichen sei. Sie zeigt anhand vieler bedeutender jüdischer Persönlichkeiten auf, dass es für Juden möglich war, ihre emanzipatorische Freiheit zu erlangen, trotz oder gerade durch ihr starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum. Der Schwerpunkt des Werks liegt vor allem auf der Darstellung von unterschiedlichen Professionen, d.h. auf jüdischen Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Malerin-

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Vgl. Lazarus 1896: 306f. Lazarus 1896: 35: »Beide [Bibel und Talmud] haben die wichtigsten Gesetze und Gebräuche, die noch heute, wenn auch durch tausendjährige Lehrzeit entwickelt und verwandelt, im modernen Recht Gesetzeskraft haben.« Ebd.: 127.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

nen. Antithetisch angeordnet sind die ersten beiden Kap. (christliche Auffassung) und das 3. und 4. Kap. (jüdische Ansicht), auch das 5. Kap. bezieht sich antithetisch auf das 6. Kap. (biblische Frauen versus jüdische Königinnen). Dem 7. Kap. Im Finsteren Mittelalter setzt Remy das 8. Kap. Mehr Licht 31 entgegen. Dem 13. Kap. wird das 14. Kap. entgegengesetzt, in welchem den abtrünnigen Frauen die Töchter des Daniel Itzig als positive Beispiele entgegengestellt werden. Abschließend stehen das 15., 16. und 17. Kap. (Jüdische Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Wohltäterinnen) dem letzten 18. Kap. entgegen, in dem die Jüdinnen der Gegenwart beschrieben werden. Die Kap. 9. bis 12. werden aus der kontrastierenden Anordnung herausgenommen, wobei innerhalb der jeweiligen Kap. gegensätzliche Fallbeispiele aufgezeigt werden. Dieser zum Genre der populärwissenschaftlichen Bücher gehörende Text wurde von Remy als Aufklärungstext konzipiert. Remy verarbeitet darin eigene Positionen, im Zusammenhang mit geschichtlichen Ereignissen von der Antike bis zur Gegenwart der Neuzeit. Soziologisch-empirische Erhebungen werden nicht miteinbezogen. Somit kann ihre Herangehensweise als ein kulturhistorischer Zugang angesehen werden, der die Geschichte als Argument privilegiert. In der Vorrede zur vierten Auflage von 1922 beschreibt sie ihr Werk als »ein[en] sachliche[n] Beitrag« im »Dienst der Aufklärung, also der Versöhnung«32 , mit dem Ziel die unwissende nichtjüdische Bevölkerung aufzuklären und sich dem Antisemitismus zu widersetzen. Dabei richtet sie sich beispielsweise gegen das gängige Vorurteil, dass Frauen im Judentum weniger Wertschätzung erhielten als im Christentum, oder dass das Christentum die Stellung der Frau erhöht habe. Auch antisemitischen Vorurteilen, die sich auf die Charaktereigenschaften von Juden bezogen, wie dass die Juden geldgierig, egoistisch, dumm und durchtrieben seien, tritt sie in ihrem Werk strikt entgegen.33 Mit dem Verfahren des Vergleichs, unter der Berücksichtigung der Konzepte von Rasse, Volk/Nation und Religion, zeigt sie auf, dass Juden wesentliche Kulturarbeit geleistet haben, die in vielen kulturhistorischen Darstellungen unbeachtet blieb. Sie tritt mit ihrem Werk öffentlich für eine diskriminierte Minderheit ein und bekämpft gängige antisemitische Vorurteile. Gleichzeitig möchte sie mit ihrem populärwissenschaftlichen Werk Das jüdische Weib auch die jüdischen Leser erreichen, ihnen die jüdische Religion mit ihren Traditionen in Erinnerung rufen und durch die zahlreichen Beispiele das jüdische Selbstbewusstsein stärken. Nach der literaturgeschichtlichen und gattungstheoretischen Einordnung des Werkes bleibt noch die Frage, welche Quellen Remy verwendet hatte und in welcher Funktion sie diese einsetzte. Durch Lazarus erhielt sie in ihren Recherchen und schriftlichen Ausarbeitungen Unterstützung, indem er ihr Werke empfahl, und ihr Manuskript Korrektur las. Er beeinflusste damit ihre Studien über das (jüdische) Weib, sodass sie sich haupt-

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Schrattenholz 1891: 21: »›Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht‹, schreibt einer unserer bedeutendsten Schriftsteller [Goethe] vor nun 120 Jahren. ›Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, welche sie haben, vorsätzlich verschließen?‹.« Lazarus 1922, Vorwort. Vgl. Kap. II, 3.

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sächlich mit der reformjüdischen Strömung befasste.34 Lazarus gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den führenden Persönlichkeiten des deutschen Judentums und besaß besonders in den liberalen Kreisen großen Einfluss.35 Aus einer orthodoxen Familie stammend, engagierte er sich hauptsächlich für das Reformjudentum.36 Seine Streitschrift Die Erneuerung des Judentums (Ein Aufruf) wurde posthum 1909 veröffentlicht; darin beurteilte er die Neoorthodoxie und die Gleichgültigkeit seiner Glaubensgenossen gegenüber dem Judentum kritisch. Er forderte die Wiederherstellung des »prophetischen Judentums«, das wiederum in erster Linie aus Ethik bestehen solle.37 Darunter verstand Lazarus die »Läuterung und Erhebung« des Gemütes und der geistigen Kraft durch »Zucht«, »Sittung« und »Veredelung«38 . Durch den Vergleich von Lazarus’ Vorstellung der Erneuerung des Judentums und Remys Kritikpunkten an den modernen jüdischen Gläubigen wird deutlich, dass sie die liberal-jüdische Perspektive für sich übernahm, die sie durch Lazarus kennengelernt hatte. Remys liberale Haltung wird auch an ihrem Quellenverzeichnis am Ende ihres Buches deutlich. Sie gibt 28 Quellen an, darunter befinden sich zwei weibliche Biografien39 , sechs Monografien über die jüdische Frau40 , zwölf Abhandlungen41 über die 34

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Vgl. Barnavi 1993: 172f.: Es werden drei religiöse jüdische Strömungen unterschieden: das orthodoxe, das liberale und das konservative Judentum. Die jeweiligen Strömungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Gewichtung des Tanachs, der Mischna und des Talmuds. Vgl. Guttmann 1982. In Europa wird es überwiegend als liberales Judentum (oder auch als progressives Judentum) bezeichnet. Vgl. Kaplan 1981: 20: Innerhalb des Reformjudentums werden die jüdischen Gebote in ethische und rituelle Gesetze unterteilt. Während davon ausgegangen wird, dass die ethischen Gesetze unveränderlich seien, seien die rituellen Gesetze hingegen veränderbar, um sie den jeweiligen zeitlichen Gegebenheiten anzupassen. Vgl. ebd. Anders als die orthodoxen Juden hießen die liberalen Juden es für gut, dass die jüdischen Überlieferungen der modernen Zeit angepasst werden. Die orthodoxen Juden hingegen verteidigten den verbindlichen Charakter des jüdischen Gesetzes. Um die Jahrhundertwende hatte die liberale Richtung die Mehrheit der deutschen Juden erfasst. Die Orthodoxen machten 10–15 % des deutschen Judentums aus. Die Reformjuden, eine Minderheit, vertraten die modernste Auffassung. Lazarus 1909. Ebd. Castiglioni, Victorii (1890): Rachelis Citharae Cantus. Mit einer hebräischen und italienischen Biographie der Verfasserin; David, Ernest (1877): Sara Copia Sullam, une heroine juive au XVIIe siècle. Étude historique et biographique. Kurrein, Adolf (1885): Die Frau im jüdischen Volke. Vortrag gehalten zugunsten des Israelitischen Frauenvereins in Bielitz; Jung, Georg (1850): Geschichte der Frauen. Geschichte der Unterdrückung der Frauen und ihrer allmähligen Selbstbefreiung, bis zur Erscheinung des Christenthums; Klemm, Gustav Friedrich (1854): Die Frauen. Culturgeschichtliche Schilderungen des Zustandes und Einflusses der Frauen in den verschiedenen Zonen und Zeitaltern; Kayserling, Meyer (1878): Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst; Weill, Emmanuel (1874): La femme juive. La condition legale d’apres la Bible et la Talmud; Giuliari, Bartolomeo conte [Graf; 1760–1842]: Le donne piu celebre d. s. nazione. Morrais, H.S. (1880): Eminent Israelites of the Nineteenth Century; Jost, Isaak Markus (1859): Geschichte des Judenthums und seiner Sekten; Dessauer, Julius Heinrich (1846): Geschichte der Israeliten. Mit besonderer Berücksichtigung der Kulturgeschichte derselben. Von Alexander dem Großen bis auf gegenwärtige Zeit; Jellinek, Adolf (1869): Der jüdische Stamm. Ethnographische Studien; ebd. (1865): Jüdische Sprüchwörter; Goltz, Bogumil (1858): Der Mensch und die Leute. Zur Charakteristik der barba-

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Geschichte der Juden, drei jüdische Periodika42 , eine Enzyklopädie43 , eine Übersetzung des babylonischen Talmuds und eine Charakteristik der Bibel. Daneben listet sie die Monografie Das Leben Jesu des französischen Historikers und Orientalisten Ernest Renan (1823–1892).44 Von den siebzehn Autoren gibt sie von fünf Morrais, Kurrein, Kayserling, Giuliari, Munk und Friedländer keine Zitatnachweise innerhalb ihres Textes an. Allerdings kann anhand eines Vergleichs festgestellt werden, dass Remy ab dem siebten Kapitel (Im finsteren Mittelalter) dieselben Beispiele und Ausdrücke nutzt wie Meyer Kayserling.45 Von den gelisteten Autoren und Herausgeber ist die Hälfte jüdischer und die andere Hälfte nichtjüdischer Herkunft. Darunter finden sich bekannte evangelische Theologen, wie August Hermann Niemeyer (1754–1828)46 und Karl August Wünsche (1838–1913)47 , die durch ihre projüdische Haltung und ihr Engagement hervortraten.48 Daneben zitiert

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rischen und der civilisirten Nationen; Munk, Salomon (1871): Palästina, geographische, historische und archäologische Beschreibung dieses Landes und kurze Geschichte seiner hebräischen und jüdischen Bewohner; Baerwald, Hermann u.a. (Hg.): Regesten zur Geschichte der Juden im fränkischen und deutschen Reiche bis zum Jahre 1273. Hg. im Auftrage der historischen Commission für Geschichte der Juden in Deutschland, bearbeitet von J. Aronius; A. Dresdner. Frankfurt a.M.; Friedländer, Ludwig (1862): Darstellung aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine. Schleiden, Matthias Jacob (1878): Die Romantik des Martyriums der Juden im Mittelalter. Ebd. (1877): Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter. Lazarus, Moritz (1887): Treu und Frei. Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte (1843). Bd. 1–4; Die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie wurde u.a. von dem bedeutenden Vertreter der religiösen Reformbewegung Abraham Geiger (1810–1874) ins Leben gerufen. »Die Zeitschrift propagierte eine grundlegende Erneuerung des traditionellen jüdischen Ritus, der dem aufgeklärten ›Reformjudentum‹ zunehmend unzeitgemäß erschien. Die Einzelbeiträge decken alle wesentlichen Themen der jüdischen Literaturund Kulturgeschichte ab.« In: Compact Memory 2017. Die unparteiische Allgemeine Zeitung des Judenthums wurde von dem liberalen Rabbiner Ludwig Philippson (1811–1889) herausgegeben und setzte sich in den Beiträgen (bis 1870/71) vor allem für »die Vollendung der Emanzipation und die innerjüdische Reform ein und danach im Kampf gegen den Antisemitismus« In: Compact Memory 2018. Ersch, Johann Samuel; Gruber, Johann Gottfried (1818–1889): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. 3 Bd. Renan, Ernest (1864): Das Leben Jesu. Vollständige deutsche Ausgabe. Übersetzt von Alexander Patuzzi. In der AZJ sprachen Rabbiner Moritz Güdemann (1835–1918) und der Literaturhistoriker Gustav Karpeles (1848–1909) einen öffentlichen Plagiatsvorwurf gegen Remy aus. Vgl. Kap. II, 5.1. Daneben kann die Auflistung ihrer verwendeten Quellen um das von Remy nicht erwähnte, aber genutzte Werk von Lina Morgenstern »Die Frauen des 19. Jahrhunderts: biographische und culturhistorische Zeit- und Charactergemälde« (1888) ergänzt werden. Auf die Benutzung hatte Morgenstern selbst in ihrer Rezension hingewiesen. Niemeyer, August Hermann (1775): Charakteristik der Bibel. 5 Bd. Wünsche, August (1887): Der babylonische Talmud in seinen haggadischen Bestandtheilen. Wortgetreu übersetzt und durch Noten erläutert von Dr. August Wünsche. Remy übt jedoch auch Kritik an Wünsches Jesusrezeption, in: Lazarus 1896: 28: »Wer indessen der landläufigen Meinung huldigt, dass nämlich das Christenthum das Weib ›befreit‹ und ›erhöht‹ habe, wird u.a. von der phantasievollen Schilderung von Dr. A. Wünsche: ›Jesus und die Frauen‹ sehr erbaut sein«. Vgl. Kap. II, 3.2.1.

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sie zur Bekräftigung ihrer geschichtlichen Angaben drei nichtjüdische Historiker49 sowie die Schriften des pädagogischen Schriftstellers Bogumil Goltz (1801–1870) und des Biologen Matthias Jacob Schleiden (1804–1881).50 Neben dem bereits genannten Werk des reformjüdischen Historikers und Rabbiners Meyer Kayserling51 werden historische und philosophische Arbeiten hauptsächlich von reformjüdischen Gelehrten52 angeführt: wie vom Wissenschaftler Leopold Zunz (1794–1886)53 , von den liberalen Rabbinern Abraham Geiger (1810–1874)54 , Adolf Jellinek (1821–1893)55 und den Historikern Julius Heinrich Dessauer (1818–1882)56 , Isaak Markus Jost (1793–1860)57 sowie dem jüdisch-französischen Orientalisten Salomon Munk (1803–1867). Daneben zitiert sie spezielle Abhandlungen und Monografien über die Rolle der jüdischen Frau, wie beispielsweise Publikationen des österreichischen Rabbiners und Zionisten Adolf Kurrein (1846–1919)58 und des französischen Rabbiners Emmanuel Weill (1841–1925)59 und Bücher nichtjüdischer Gelehrter, wie das Werk des Kulturhistorikers Gustav Friedrich Klemm (1802–1867)60 und das des links-demokratischen Politikers Georg Jung (1814–1886).61 Remys ausgewählte Quellen verdeutlichen, dass sie in ihrem Buch zum einen die innerjüdische religiöse Reformbewegung unterstützte und zum anderen sich der projüdischen Meinung nichtjüdischer Gelehrter in der gesamtgesellschaftlichen politischen Diskussion um Nation und Antisemitismus des 19. Jahrhunderts apologetisch anschloss. So zitiert sie beispielsweise in ihrem Buch den ostpreußischen Schriftsteller und Pädagogen Goltz, der in seinem Buch eine Gegenwartskritik an jüdische Frauen richtet. Af-

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Der deutsche Historiker Gustav Friedrich Klemm (1802–1867); der französische Historiker und Orientalist Ernest Renan (1823–1892) und der deutsche Altphilologe und Kulturhistoriker Ludwig Heinrich Friedländer (1824–1909). Vgl. Kap. II, 3. Vgl. Kap. II, 3.2.1; Kap. II, 5. Vgl. Kap. II, 1. Ab dem 19. Jh. entwickelten sich im Judentum auf der Basis der hebräischen Bibel und des Talmuds verschiedene religiöse Richtungen, die dem Talmud und der nachtalmudischen Tradition unterschiedlichen Stellenwert zuwiesen. Dabei wird das liberale Judentum mit einer konservativen und reformjüdischen Ausrichtung vom orthodoxen Judentum unterschieden. Innerhalb des orthodoxen Judentums wird die jüdische Bibel als Offenbarung Gottes verstanden, die somit zeitlos gültig ist. Im liberalen Judentum werden hingegen die Richtlinien in der jüdischen Bibel abhängig vom ständig stattfindenden Prozess der Veränderung der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse verstanden, weswegen Änderungen an der Tradition möglich sind. Die gesammelten Schriften von Leopold Zunz, dem Begründer der Wissenschaft des Judentums. Vermutlich der folgende Aufsatz: Geiger 1837, Abraham 1837: Die Stellung des weiblichen Geschlechtes in dem Judenthume unserer Zeit. Darin plädierte Geiger dafür, dass sich die Stellung der jüdischen Frau stark verändern müsse und appellierte vor allem an die Rabbiner seiner Zeit. Jellinek 1869. Dessauer 1846. Jost 1821; Jost 1850. Kurrein 1885. Weill 1874. Klemm 1854. Jung 1850. Näheres zu Jung siehe: Yi 2005: 184f.

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firmativ nutzt sie seine Aussagen, die er als »Jüdinnen von einer Jüdin geschildert«62 betitelt, um ihren Standpunkt zu festigen. Sie nutzt die liberale Sichtweise reformjüdischer Gelehrter, um ihre Aussagen über das jüdische Weib zu stützen und orientierte sich damit an einer jüdischen Gruppe, die die Moderne mit den Traditionen der jüdischen Religion zu verbinden suchte.63 Durch das Aufkommen des Antisemitismus und das verstärkte Erscheinen antijüdischer Literatur und Hetzschriften kam es dazu, dass auch die Vertreter der jüdischen Aufklärung64 sich mit der Frage befassen mussten, warum die christliche Gesellschaft weiterhin dem Judentum feindlich gegenüber standen, obwohl die Juden sich die europäische Kultur, Lebensart und Verhaltensformen angeeignet hatten. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Ursache der anhaltenden Feindseligkeiten in der Unwissenheit der europäischen Gesellschaft über das Judentum und seine Geschichte lag.65 Aus diesem Grund wurde gezielt versucht, das jüdische und nichtjüdische Publikum durch belehrende Schriften aufzuklären.66 So zeigte der liberale Rabbiner Adolf Jellinek in seiner Abhandlung Der jüdische Stamm (1869) auf, dass auch die hebräische Sprache komplex und vor allem erzieherisch wertvoll ist, was Remy in ihrem Buch bejahend aufgreift.67 Jüdisch-liberale Rabbiner, Wissenschaftler und Historiker wie Jellinek, Zunz, Geiger und Jost setzten sich gezielt dafür ein, dass das kulturelle Vermächtnis der jüdischen Religion, Kultur und Literatur in »den Umkreis des kulturellen Erbes«68 integriert wurde. Die Balance, die das Reformjudentum dabei zwischen Modernität und Tradition zu wahren versuchte, bot Remy das, was sie als selbstständige, freidenkende und zugleich traditionsverbundene Frau suchte

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Vgl. Kap. II, 2.3.2. Standardwerk zum Reformjudentum, siehe: Meyer 1998. Maskilim, Vertreter der Haskala, die jüdische Bewegung der Aufklärung (aufkommend in Berlin im 18.-19. Jh.). Ihr Hauptvertreter war der bekannte Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786). So finden sich beispielsweise seit 1870/71 zahlreiche Artikel in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften, die den Antisemitismus thematisch aufgreifen: Im Jüdischen Familienblatt (Zur Unterhaltung und Belehrung für die israelitische Familie) sind seit 1884 23 Abhandlungen über den Antisemitismus erschienen. Im Dibre Emeth (Stimmen der Wahrheit an Israeliten und Freunde Israels) seit 1882 53 Artikel. In der Allgemeinen Zeitung des Judenthums findet sich seit 1870/71 fast in jeder Ausgabe ein Artikel über den Antisemitismus. So schreibt der Rabbiner Emanuel Baumgarten über die Wirkung des Antisemitismus im Judenthum und stellt fest. Siehe: Baumgarten 1894: 450: »Das Judenthum ist aber der Fortschritt. […] ›Israel ist nicht verwaist.‹ Auf denn, ihr Männer von biederem, gottesfürchtigem, wahrheitsliebendem, uneigennützigem Sinn! […] Und ›der Gott Israels schlummert nicht und schläft nicht;‹ er wird uns auch beistehen im Kampfe gegen Amalek-Antisemitismus; nur nicht die Arme sinken lassen!« Siehe: Kuttner 1894: 194f.: »Befreien wir uns auch von der Gleichgiltigkeit gegen das Judenthum, oder – was dasselbe ist – von der Unwissenheit in jüdischen Dingen. Denn gleichgiltig gegen das Judenthum kann nur der Unwissende sein. Lo am ho-orez chossid! – Wer das Judenthum kennt, muß es lieben. Machen wir es gut, was wir oder unsere Eltern an uns versäumt haben, indem wir uns und unsere Kinder bekannt machen mit der wahren Religion unserer Väter, mit dem unvergänglichen Schriftsatz der Bibel, mit der Geschichte der Juden, mit den Schriftwerken jüdischen Geistes alter und neuerer Zeit, mit dem Leben hervorragender Männer und Frauen unseres Stammes, mit den hauptsächlichsten Stücken unserer häuslichen und synagogalen Gebete!« Vgl. auch Curt 1895: 205–230; Levinstein 1896: 1–20. Vgl. Kap. II, 3.2.3. Ben-Sasson 1979: 141.

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und in ihrem Werk verarbeitete. An den Vertretern des liberalen Judentums orientiert, verfasste sie Das jüdische Weib, in dem sie »für das Gute, die Natur, Sitte, Gesetz und Culturerbschaft der wahren echten Jüdin streitet«69 , wie Moritz Lazarus in seinem Vorwort zum Werk zutreffend formulierte.

2. Remys jüdisch-religiöse Deutungsmuster der jüdischen Frau Mit jüdisch-religiösen Deutungsmustern der Jüdin sind bestimmende Rollenzuweisungen der jüdischen Frau gemeint, die von jüdisch-religiösen Institutionen geprägt waren, und die Remy in ihrem Buch aufgreift und verwertet. An dieser Stelle wird herausgestellt, welche Stellung die Frau anhand ihrer Rollenzuweisungen im Judentum erhielt und welche Position Remy im historischen Kontext dazu einnahm. Dabei wird ihre Sicht auf den rechtsgeschichtlichen Aspekt der Stellung der jüdischen Frau mitberücksichtigt, die auch die Gegebenheiten der ökonomischen Beziehungen der Geschlechter betrachtet und diese in den gesellschaftlichen Veränderungen kontextualisiert. Vergleichend blickt Remy nicht nur auf die jüdischen Frauen des 19. Jahrhunderts, sondern auch auf die ›alte Jüdin‹ aus der Antike und Mittelalter, und stellt diese den ›modernen Jüdinnen‹ der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts gegenüber. Um Remys Perspektive der jüdischen Frauenrolle bewerten zu können, muss auch die jüdische (Frauen-)Geschichte herangezogen werden. Mithilfe der frauenhistorischen Perspektive werden die Normen und Frauenbilder, Erfahrungen und Lebenswelten von Frauen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichend mit Remys Darstellungen betrachtet. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive wird die Geschlechterordnung der Gesellschaft in den Blick genommen, um vor allem die konstruktiven Aspekte des Geschlechterverhältnisses aufzuzeigen. Remys Ziel ist es, im Vergleich mit anderen Völkern/Nationen aufzuzeigen, wie weit fortgeschritten die jüdischen Gesetze in Bibel und Talmud bezüglich der Rechte der Frauen tatsächlich gewesen sind.70 Sie macht deutlich, dass andere Völker/Nationen mit ihren unterschiedlichen Glaubensrichtungen zur Zeit der Antike sich hinsichtlich der gemeinschaftlichen Regelungen voneinander wesentlich unterschieden. Dabei stützt sie sich vor allem auf Belege aus der hebräischen Bibel und dem Talmud. Während bei den ›alten Völkern‹71 die Frauen eine Stellung ähnlich der eines »Haustieres«72 innegehabt haben und allein zur Arbeit und Fortpflanzung bestimmt seien, gälte vergleichend dazu, die jüdische Frau ihrem Mann als fast ebenbürtig. Da die jüdischen Frauen, wie ihre Männer, als von Gott geschaffene Wesen anerkannt und respektiert werden, sei auch ihr Recht auf Leben und Sicherheit gewahrt.73 Deutlich wird dies, nach Remy, unter anderem an der Behandlung von neuge69 70

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Lazarus 1896: Vf. Vgl. u.a.: Lazarus 1896: 190. Darin zeigt Remy auf, dass im Talmud Aussprüche über die jüdische Frau enthalten sind, die in Anbetracht des Zeitalters so feinfühlig von der Würde der Frau berichten, ganz im Gegensatz zu der Geringschätzung der Frau, die u.a. im Orient zu finden sei. Vgl. ebd.: 1f.: Sie versteht unter den »alten Völkern« die Inder, Chinesen, Neger, Griechen und Römer zur Zeit des Altertums. Ebd. Vgl. ebd.: 35.

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borenen Kindern bei den unterschiedlichen Völkern. Mädchen und Jungen seien bereits nach der Geburt unterschiedlich in den Familien der anderen Nationen aufgenommen worden. Während die Geburt eines Sohnes überall mit Freude angenommen werden, seien die Mädchen missachtet worden. Die Töchter haben vor allem Nichtachtung erfahren, da sie den niedrigsten Platz im Vaterhaus innegehabt haben. Im Vergleich dazu beschreibt sie die Ankunft eines neugeborenen Mädchens im antiken Judentum, das eine annähernd gleichwertige Stellung wie ein Junge erhalten habe. »Wie ganz anders, wenn ein jüdisches Mädchen das Licht der Welt erblickt! Wenn auch (wie noch heute!) die Geburt eines Knaben ebenso lieber gesehen wurde, wie naturgemäss Kraft und Freiheit freudiger begrüsst werden als Schwäche und Abhängigkeit, – so fand das neugeborene Menschenkind doch all die Liebe und Sorgfalt, die seiner rührenden Hilflosigkeit zukam.«74 Da in den alten jüdischen Gesetzen und Geboten nicht vorgeschrieben wird, nach welcher Art das weibliche oder männliche Kind großgezogen und gepflegt werden soll, aber dass es stets mit liebender Fürsorge geschehen soll, wird dies von ihr als eine dem Judentum implizierende Natürlichkeit angegeben. Die Gelehrten der Mischna hätten sich dahin geeinigt und festgehalten, »dass die Kinder beiderlei Geschlechts, ohne Unterschied, die gleiche Anwartschaft hätten an die Fürsorge der Eltern.«75 Diese Bestimmungen, die Remy als sehr fortschrittlich akzentuiert, seien trotzdem aus einer rückständigen Zeit, welche nun mit dem Blick auf die Moderne neu formuliert und ausgelegt werden müssten. Den kulturhistorischen Kontext mitberücksichtigend, stellt sie die Frage, inwieweit die gläubige jüdische Frau des 19. Jahrhunderts ihren Traditionen treu bleiben und gleichzeitig eine emanzipierte Stellung erlangen könne. Sie behauptet, dass Tradition und Emanzipation keine Antagonismen darstellen müssen.

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Lazarus 1896: 36. Ebd. Die Belegstelle der Mischna wird von ihr nicht angegeben.

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Die Stellung der jüdischen Frau nach biblischem und talmudischem Recht76 – von Nahida Remy interpretiert

2.1.1 Das jüdische Eherecht Nahida Remy beschreibt die Stellung der Frau bei den ›alten Völkern‹ vergleichend mit den ehelichen Regelungen innerhalb der hebräischen Bibel und im Talmud, um aufzuzeigen, welche Stellung und Rollenzuweisung den jüdischen Frauen darin zugewiesen wird. Im Vergleich zu den Frauen der ›alten Völker‹, die »nicht viel mehr [als] ein machtund willenloses Hausgeschöpf, oder allenfalls im öffentlichen Dienst als ein Luxus- und Vergnügungsgegenstand«77 angesehen wurden, verweist Remy erstmalig aus der Sicht einer Christin auf die »hohe Stellung, welche das jüdische Weib in der alten israelitischen Gesetzgebung einnahm«78 . Sie zeigt auf, dass es trotz der »rauh« erscheinenden biblischen Vorschriften durch das talmudische Judentum zu einem Fortschritt in der Anerkennung der Frau im Judentum gekommen sei. Ausgehend vom Schöpfungsbericht Gen 2,18: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die ihm entspricht«79 , sei die Ehe innerhalb des Talmuds als von Gott eingerichtete Institution angesehen worden, die die ideale menschliche Form für eine glückliche Gemeinschaft darstelle. Das friedliche Miteinander sei als zentrale Grundlage des ehelichen Glücks wesentlich, was nach Remy bereits an den hebräischen Bezeichnungen von Mann und Frau verdeutlicht wird: »Isch und Ischoh heisst es. Mann und Mannin, oder Gatte und Gattin. Das Weib ist nicht die Sklavin ihres Mannes, sondern seine ›Gehilfin‹, wie Gott selbst sie nennt. Sie soll ihm helfend und rathend zur Seite stehen, sie soll ihm Liebe und Frie-

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Die besondere Stellung der jüdischen Frau kann vor allem am jüdischen Eherecht verdeutlicht werden, in dem die Pflichten und Rechte der jüdischen Frau am detailliertesten festgehalten wurden. Das biblische Eherecht sowie dessen Ausführung sind im Talmud integriert und bis heute gültig. Bis ca. 150 v. Chr. stellte die hebräische Bibel die schriftliche Norm dar, die allerdings nur wenige Texte über das Eherecht enthält, selbst religiöse Heiratszeremonien sind nirgends beschrieben. Jedoch wird im Alten Testament mehrfach von einem Hochzeitsfest gesprochen, das je nach finanziellen Möglichkeiten einen Umfang von sieben Tagen aufwies, wie beispielsweise die Hochzeitswoche von Jakob und Lea in Gen 29,27f. Angeführt werden im Alten Testament vor allem Eheverbote, zu denen auch das Inzestverbot (Lev 18) gehört, sowie die Freistellung des Ehemannes im ersten Ehejahr vom Militärdienst, damit »er fröhlich sei mit seiner Frau, die er genommen« habe (Dtn 24,5) und damit kein anderer seine Frau »heimhole« (Dtn 20,7). Erst durch das rabbinische Schrifttum wurden vor allem in der Mischna konkrete Regelungen bezüglich des Eherechts und somit der Stellung der jüdischen Frau festgehalten. In dem dritten Seder der Mischna (Naschim: Frauen) werden Regelungen über das Ehe- und Familienrecht innerhalb von sieben Traktaten ausführlich behandelt: 1. jewamot (Schwagerehe); 2. ketubbot (Hochzeitsverträge); 3. nedarim (Gelübde); 4. nazir (Nasiräer); 5. sota (Die Ehebruchsverdächtige); 6. gittin (Scheidebriefe) und 7. kidduschin (Trauung). Vgl. dazu Lazarus 1896: 35; 45. Die Rechte der Ehefrau ergaben sich konsequenterweise aus den Pflichten des Ehemannes und wurden in einer ketubba (Ehevertrag) vertraglich festgehalten. Näheres dazu siehe S. 190. Zum Eherecht im antiken Israel und hebräischen Bibel vgl.: Epstein 1942; Guenther 2005: 387–407. Lazarus 1896: 35. Ebd.: 45. Vgl. Gen 2,18.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

den wie ein schützendes Obdach bereithalten.«80 Durch den darauffolgenden göttlichen Segen, der dem ersten Menschenpaar zuteilwird: »Seid fruchtbar und mehret euch«81 , werde die Verpflichtung zur Fortpflanzung und somit zur Familiengründung zum wesentlichen Ziel einer jüdischen Ehe. Den ehelichen Bund sieht Remy daher als gewünschte und gebotene Ordnung Gottes, bei dem der Segen der Fruchtbarkeit im Vordergrund steht.82 Mit der anthropomorphen Metapher des jüdischen Ehebundes sei eine Parallele zum Gottesbund mit Israel formuliert worden, worin die Ehepartner ebenfalls treu wie Gott zu Israel sein sollen: »Das eheliche Bündnis wird ein Gottesbündnis genannt, das nicht nur äußerliche sondern Herzenstreue erfordert.«83 Die jüdische Ehe sei damit eine Offenbarungsebene, die das abbilde, was der Bund mit Gott bedeute, nämlich die Grundlage religiöser Gemeinschaft, weshalb im Judentum die Ehe grundlegend als wertvoll und erstrebenswert bewertet werde.84 Nach mosaischem Gesetz (Thora) sei es ein Gebot für den Mann zu heiraten, aber erst dann, wenn er seine Frau standesgemäß versorgen könne.85 Damit sah Remy eine Kinderehe indirekt ausgeschlossen, da erst ein berufstätiger Mann die finanzielle Möglichkeit besaß, eine Familie zu gründen. Allerdings betreffe das nicht das Alter der Braut; diese konnte wesentlich jünger als ihr Mann sein. Sie versteht die jüdische Ehe als die Erfüllung eines religiösen Gebots (hebr. ‫)ִמְצָוה‬, und als einen vor Gott geschlossenen heiligen Bund (hebr. (‫)ְּב ִרית‬, der geschlechtsbezogene Verpflichtungen mit sich brächte, die in Form der talmudischen Rechte und Verpflichtungen der jeweiligen Ehepartner konkretisiert seien (s.Kap. II, 2.1.2).86 Sie zeigt auf, dass aus der alttestamentlichen Bibelstelle Gen 2,24: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch« die Ehe ihren religiösen Gehalt erhalte. Damit sei die Ehe besonders im Judentum zu einem wichtigen Bestandteil des religiösen Lebens geworden.87 Um die jüdische Antrauungsart genauer zu betrachten, bezieht sie sich auf das mischnaische Eherecht, das die Eheschließungsbedingungen ausführlicher schildert. Darin ist festgelegt, dass ein jüdischer Mann eine jüdische Frau nur mit Geld, Urkunde oder Beischlaf erwerben und sich

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Vgl. Gen 1,27. Lazarus 1896: 48: »Nun hat isch noch ein Jod, ischah noch ein he, was zusammen den Gottesnamen Jah ergibt. Dies bedeutet: Wenn Mann und Frau in Frieden zusammenleben, so weilt Gott unter ihnen und segnet sie.« Vgl. dazu Stern 1879: 27f. Vgl. Gen 1, 28. Lazarus 1896: 52. Zur Interpretation von Gen 1, 28 vgl.: Daube 1977; Cohen 1989. Vgl. Ps 128,3: »Deine Frau wird sein wie ein fruchtbarerer Weinstock drinnen in deinem Hause, […]«. Lazarus 1896: 52. Vgl. Jes 54,5; Jer 31,31; Ez 16,8; Hos 2,21-22. Lazarus 1896: 49. Vgl. ebd.: 49; 53f. Ebd.: 49: Jedoch sollte der Mann Remy zufolge »bei der Wahl seiner Gattin nicht auf äusserliche Vorzüge und auf Vermögen sehen, sondern auf ihre sittlichen Eigenschaften. ›Gründe dir draussen dein Gewerbe oder bestelle dein Feld und dann baue dein Haus‹ (Spr 24,27).« Vgl. dazu Remy 1893d: 12: »Ein Anderer mahnt erst einen Weinberg anzulegen, ein Haus zu bauen u. dann erst das Weib hineinzusetzen; d.h. erst für die Existenzmittel u. dann für Familie zu sorgen; ein Princip, das zu allen Zeiten zeitgemäss war.« Vgl. Lazarus 1896: 49. Vgl. ebd.: 49ff.

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antrauen kann.88 Der Vater der Braut erhielt nach alttestamentlichem Recht bei seiner Zustimmung zur Verlobung und kommenden Eheschließung eine Brautgabe (Mohar)89 , die als Geld-, Sach- oder Dienstleistungen vom Bräutigam beglichen werden konnten.90 Die polemisierende Deutung des Mohar als ›Kaufpreis‹ weist Remy strikt ab, indem sie die jüdische Ehe nicht als eine Kaufehe auslegt, da die jüdische Frau nicht käuflich erworben, sondern der Mohar als Abfindung für die fehlende Arbeitskraft in der Familie der Braut angesehen werde. Zudem sei die inchoativ verheiratete Frau durch die rechtliche Funktion des Mohar vor Übergriffen durch andere Männer geschützt, wodurch der Mohar eine sichernde und schützende Funktion erfülle.91 Wurde ein unmündiges Mädchen als Braut auserwählt, übernahm ihr Vater stellvertretend für sie das Eheversprechen.92 Der polemischen Kritik, dass die unmündige jüdische Tochter somit dem Willen ihres Vaters ausgesetzt war, widerspricht sie mit ihrem Verweis auf die talmudische Bestimmung, dass die später mündiggewordene Tochter »vor Zeugen den ihr aufgedrungenen Bräutigam zurückweisen«93 konnte. Im Talmud sei damit »einem Missbrauch der väterlichen Gewalt vorgebeugt«94 worden, indem die Tochter, auch im Kindsalter, »der Eheschließung zustimmen [musste]; allerdings wurde ihr Schweigen auch als Zustimmung gewertet«95 . Dieses Recht der jüdischen Frau, womit eine Eheschließung gegen ihren Willen erschwert wurde, wird von Remy als innovative Regelung des Talmuds betont.96 Das Eheversprechen während des Verlöbnisses (schidduchin) ist bis heute im Judentum der Beginn einer rechtsgültigen Ehe.97 Während

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Vgl. mQid 1,1: »Eine Frau wird erworben auf drei Arten, […]: Sie wird erworben durch Geld, durch Urkunde oder durch Beischlaf«. Correns 2005: 289- 439. Hier S. 289. Vgl. dazu Homolka 2009: 72: Wird eine Eheschließung nicht nach einer dieser vorgegebenen »Antrauungsarten« vollzogen, so wird sie noch bis heute vom jüdischen Recht nicht anerkannt. Vgl. Gen 34,12: Hebräisch Mohar (‫מ ַֹהר‬ ֖ ) genannt. Vgl. dazu Lazarus 1896: 39. Vgl. Gen 29,15-30; 1Sam 18,25. Nach Ex 22,15-16 war ein Mann verpflichtet, wenn er mit einer nicht verheirateten Frau schlief, diese zu ehelichen und ihrem Vater die entsprechende Brautgabe zu bezahlen. Auch in den Elephantine-Papyri, die zur Abfassungszeit von Remys Werk noch nicht bekannt waren, lassen sich Belegstellen über Auszahlungen eines Mohar bezeugen. Lazarus 1896: 36f. Vgl. Kap. II, 2.5 und Kap. II, 3.1.3. Homolka 2009: 99: Seit der talmudischen Zeit besteht die jüdische Eheschließung aus drei Rechtsakten. Neben der Verlobung (schidduchin) findet nach einer vereinbarten Zeit die Antrauung (kidduschin) und die eigentliche Heirat (nissuin) statt. Im ersten Rechtsakt, der schidduchin, wurde bereits im biblischen und rabbinischen Schrifttum das gegenseitige Versprechen, miteinander die Ehe einzugehen, von Mann und Frau abgelegt. Vgl. bT Qid 2b: kidduschin »Heiligung, Weihe«, »weil durch diesen Akt der Mann seine Frau der ganzen Welt (das heißt allen anderen Männern) verbietet, ›gleich einem Objekt, das dem Tempel geweiht ist‹.« Lazarus 1896: 37. Stern 1879: 14: »Auch die Töchter sollten möglichst bald verheirathet werden, um sie vor Ausschweifung zu schützen«. In: Homolka 2009: 50. Vgl. auch Kid. 2a; Kid. 43bf.; Lazarus 1896: 37. Vgl. ShA: EH 42,1. Lazarus 1896: 37. Vgl. Homolka 2009: 69: Die Verlobte werde ab diesem Zeitpunkt als Gattin betrachtet, die sie bereits dem Eherecht unterliegt. Danach sei sie, im Gegensatz zum Mann, der mehrere Frauen heiraten durfte, für alle anderen Männer verboten. Ein Mann hingegen darf nach talmudischem Recht mehrere Frauen heiraten (vgl. mKet 10,1; 4,5), aber keine verheiratete Frau verführen (vgl. mQid 2a-b; Dtn 22,21; mKet 4,3). Vgl. dazu auch Locher 1986.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

in der biblischen Zeit die Verlobung vermutlich mündlich ausgehandelt wurde, wurde in der talmudischen Zeit eine ausführliche vertragliche Regelung (ketubba)98 von beiden Parteien schriftlich festgehalten.99 Die obligatorische ketubba wird vorab von den Familien der Brautleute ausgehandelt und schriftlich abgefasst. Darin wird die Brautausstattung (Mitgift)100 und das eigene Vermögen der Braut festgehalten und weitere individuelle Eheregelungen bindend notiert.101 Diese talmudische Regelung der ketubba sei aufgrund der Rechtssicherheit der jüdischen Frau formuliert worden, um im Todesfall des Ehemannes oder bei einer Scheidung die Frau nicht mittellos bleiben zu lassen. Die ketubba sei folglich eine finanzielle Absicherung der jüdischen Ehefrau: »In gleicher [bezüglich der Mitgift] Sorgfalt wird für das Wohl der Ehefrau gesorgt. Die Ketubbot beginnt nach der alten Formel mit den Worten: Sei mein Weib und ich will dir dienen, dich hochschätzen, ernähren und versorgen nach der Weise jüdischer Ehemänner, die ihren Frauen dienen, sie hochschätzen, ernähren und versorgen, in Wahrheit. [Herv. i.O.]«102 Zugleich ist nach Remy die festgeschriebene finanzielle Belastung des Ehemannes ein kluger Beschluss der talmudischen Gelehrten gewesen, womit sie ihm eine Scheidung erschwerten.103 So habe das talmudische Eherecht die wenigen biblischen Ehe- und Familienregelungen weiterentwickelt und durch einen obligatorischen Ehevertrag bestimmte rollenspezifische Rechte und Verpflichtungen, die dem gemeinschaftlichen Zweck der Ehe dienen sollen, festgelegt.104

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Im Tanach wird nur in Tobias 7,16 von einem Schriftstück bezüglich einer Eheschließung gesprochen. Auch der Islam kennt den Ehevertrag, nicht aber das Christentum. Ebenfalls werden im Islam im Ehevertrag rechtliche, aber auch gemeinschaftliche Regelungen des Zusammenlebens geregelt. Einer der ältesten und noch erhaltenen Texte einer ketubba stammt aus der Zeit um 450 v. Chr. aus Ägypten. Er handelt sich dabei um die Elephantine-Papyri, ein Dokument einer jüdischen Militärkolonie in Südägypten. Es wurden drei nahezu vollständige Eheverträge, die in dem Zeitraum von 450–420 v. Chr. geschrieben wurden, in Elephantine gefunden. Vgl. dazu Homolka 2009: 125; Yaron 1958. Zum jüdischen Ehevertrag (ketubba), vgl. Archer 1990; Neubauer 1920. Vgl. Homolka 2009: 61–69. Nach dem ersten Rechtsakt, der schidduchin, folgen zwei weitere rechtliche Prozesse (kidduschin und nissuin), die zur abschließenden Eheschließung führen. Nach jüdischem Recht wird die Braut im zweiten Rechtsakt der kidduschin durch das »Antrauungs-Versprechen« (erussin) des Bräutigams ihm rechtswirksam angetraut. Erst durch den dritten Rechtsakt, der nissuin, wird durch das Sprechen der schewa berachot (sieben Segensprüche) und die »Heimführung« der Braut in das gemeinsame Haus die eigentliche Heirat endgültig rechtskräftigt. Die abschließende Eheschließung wurde mit einem (Ehe-)Vertrag, der ketubba (hebr. Schriftstück), besiegelt. Vgl. auch Börner-Klein 2002: 1087. Vgl. Ri 1,14f.; Lazarus 1896: 38. Ebd.: »Das Schriftstück, worin der Mann seine Pflichten gegen die Frau regelt« und in dem beispielsweise festgehalten wurde, dass der Ehemann nur eine Frau heiraten oder im Fall einer Mehrheirat das persönliche Vermögen der jeweiligen Frau nur an ihre eigenen Kinder vererben durfte. Lazarus 1896: 38. Vgl. Gen 34,11f. Ebd. Ebd.: 58: »Bibel und Talmud geben für diesen Schutz innigen Liebes- und Eheglücks noch die sinnigsten, ja merkwürdigsten Beispiele,« wie beispielsweise das Amt des Brautführers. Das so wichtig war, dass dieser während der ganzen Hochzeitswoche von anderen Zeremonialpflichten befreit war. Der Brautführer war für die Erheiterung des Brautpaares und der Gäste zuständig. Der der zum Brautführer ausgewählt wurde, durfte sich dieser Sitte nicht entziehen.

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Während traditionellerweise die jüdische Ehevereinbarung von den männlichen Mitgliedern der Familien arrangiert wurde, verweist Remy auf die Liebesheiraten, die im Alten Testament erzählt werden, wie beispielsweise bei Jakob und Rahel.105 Die Liebe war im Judentum keine entscheidende Voraussetzung für eine Eheschließung, jedoch zeigt Remy anhand der Schilderung der Geschichte des Stammvaters Jakob auf, dass die Liebe bereits im Alten Testament als wesentlicher Bestandteil in einer menschlichen Partnerschaft angesehen wurde.106 Vergleichend dazu sei eine Heirat aus Liebe bei den Griechen und Römern als »unerhört und lächerlich«107 angesehen worden. Des Weiteren zeigt Remy auf, dass ein Heiratsantrag wie bei Jakob durch den Verlobten selber oder dessen Mittelsmann an den Vater der Braut herangetragen werden konnte.108 Auch seien erwachsene Mädchen »zum Zweck einer Vermählung in das Haus desjenigen gegeben [worden], der sie später für sich oder für seinen Sohn zur Frau zu haben wünschte.«109 Der Aufenthalt des Mädchens geschah unter der Bedingung, dass sie schnellstmöglich vermählt werde und bis dahin der neue Schutzherr während ihres Aufenthaltes die väterliche Pflicht übernehme, für ihre »leiblichen Bedürfnisse« zu sorgen und auf ihr »sittliches Verhalten Rücksicht«110 zu nehmen. Fand allerdings innerhalb von sechs Jahren keine Eheschließung statt, musste der Schutzherr sie wieder entlassen und ihr eine Entschädigung für ihre Arbeiten auszahlen. Sei nämlich die Angelobte nach sechs Jahren immer noch nicht »heimgeführt«111 worden, sei sie von jeglichen ehelichen Bündnissen befreit, selbst ihr eigener Vater habe keine Ansprüche mehr an sie, was wiederum gegen eine Kaufehe spreche. Die Regelung, dass die Angelobte nach abgelaufener Zeit »frei ihrer Person« sei, betont Remy als einen »ungeheuren Unterschied zwischen dieser in wenig Jahren gewonnenen Selbstständigkeit und dem sklavischen Zustand, in welchem Mädchen und Frauen anderer Nationen zeitlebens Mündel irgend eines Mannes bleiben.«112 Während polemische Stimmen die jüdische Frau in biblischen und talmudischen Aussprüchen als in einem abhängigen Verhältnis zu ihrem Mann bewerten, beurteilt sie die Stellung der jüdischen Frau als ein »selbstbewusstes Verhältnis«113 , in dem sie selbstbestimmt bleibt.

2.1.2 Rechte und Pflichten der Ehepartner nach dem jüdischen Eherecht Aus dem ehelichen Verhältnis ergeben sich folglich für beide Ehepartner gewisse Rechte und Pflichten. Dabei kann am jüdischen Eherecht am deutlichsten die geschlechtsspezifische Stellung der Ehepartner sichtbar gemacht werden. Während Remy Eph 5,22-24

105 Jakob, der sieben und wieder sieben Jahre arbeitete, um die Frau heiraten zu können, die er liebte. Vgl. Gen 29,20. 106 Vgl. Gen 24,67; Ri 16,4; 1Sam 18,20; Est 2,17; Pred 9,9; Hld; Lazarus 1896: 53. 107 Ebd. 108 Vgl. Gen 24,33ff.; Lazarus 1896: 53. 109 Ebd.: 36. 110 Ebd.: 37. 111 Lazarus 1896: 36: »Aber wenn er oder sein Sohn nach sechs Jahren sie nicht geheiratet hat, ist sie frei ihrer Person, und Niemand, auch der eigene Vater nicht, kann sie hindern zu gehen, denn sie hat das Recht auf ihrer Seite«. 112 Ebd. 113 Ebd.: 37.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

so versteht, dass die christliche Frau sich dem Ehemann unterzuordnen habe, da er das Haupt der Familie sei, betont sie mit Gen 2,24, dass im Judentum Mann und Frau gleichwertig das Haupt der Familie bilden. »Mann und Weib sollen sich zu einer moralischen Person ergänzen und zum Haupt einer Familie werden. Jeder Theil, seine Pflichten erfüllend, ist gleichberechtigt.«114 Ehemann und Ehefrau stehen folglich nach Remy gleichwertig als Ebenbild Gottes vor Gott.115 Sie gibt dies in folgenden eigenen Worten wieder: »das Weib ist die Ergänzung des Mannes, der Mann die Vollendung des Weibes. Beide werden ein Wesen, ein Fleisch.«116 Die Gleichwertigkeit zeige sich vor allem in den komplementären Geschlechterrollen, indem jeder Teil seine spezifischen Pflichten für eine intakte Familie zu erfüllen habe.117 Obwohl es sich bei den religiösen Rechte und Pflichten von Mann und Frau überwiegend um unterschiedliche geschlechtsspezifische Regelungen handelt, zeigt sie talmudische Stellen auf, nach denen die Ehepartner nach ihrer Interpretation die gleichen Rechte besitzen. Sie unterscheidet dabei zwischen Pflichten und Rechten der Ehepartner, die beiden Ehepartnern gleichmäßig zukommen (gemeinschaftliche Rechte und Pflichten)118 und solchen, die nur dem Ehemann oder der Ehefrau zustehen. Wesentlich ist dabei der bereits genannte Ehevertrag (ketubba), in dem detaillierte Regelungen zu Rechten und Pflichten beider Ehepartner schriftlich festgelegt sind. Sie zeigt auf, dass der Ehevertrag genuiner Bestandteil der religiösen Tradition ist, was im Vergleich mit dem Christentum eine Besonderheit des Judentums darstelle.119 Sie unterscheidet strikt zwischen ethischen und rechtlichen Rechten und Pflichten der Ehepartner und betont besonders die ethische Ebene.120 »Ein oft zitierter Talmudvers sagt: ›Wer seine Frau liebt wie sich selbst und sie höher achtet als sich selbst und seine Söhne und Töchter auf dem rechten Weg führt, von dem sagt die Schrift, ›Du sollst 114

Ebd.: 49: Gen 2,23 zeige, »wie Mann und Weib in gleicher Weise und in gleichem Werth zum Ebenbild Gottes erschaffen sind. » 115 Vgl. Gen 1,27: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als männlich und weiblich«. Vgl. ebd.: 53. 116 Ebd.: 34f.: Die gleiche Wertschätzung von Mann und Frau werde bereits »in der Wortbildung […] die Übereinstimmung, in der Lautähnlichkeit die Verschmelzung der beiden Begriffe: Mann-Isch; […] Mannin-Ischoh« verdeutlicht. 117 Vgl. ebd.: 49. 118 Lazarus 1896: 52–56: Der Mann sowie seine Frau haben beide das Recht sich nach zehn Jahren scheiden zu lassen, wenn keine Kinder geboren werden. Diese Regelung sei nach Remy der Beweis dafür, dass der Talmud gegen die Bigamie sei. Auch seien die wesentlichen Rechtsfragen, das Strafrecht und peinliche Recht für beide Ehepartner gleich. Des Weiteren sei in Kidduschin die Gleichberechtigung der Ehepartner besonders verhorgehoben, indem die »Propheten« stets die Anrede »Adam« (allg. Mensch) nutzen, »gleichviel ob Mann oder Weib.« Letztlich seien die Ehepartner beide dazu verpflichtet ihre Kinder und Waisen, die beide aufnehmen dürfen, gut zu erziehen, ihnen Bildung zu ermöglichen und ihnen bei der Gründung einer Familie beizustehen. 119 Vgl. ebd.: 58. 120 Homolka 2009: 98f.: Auch bei Homolka findet sich eine Unterteilung in ethische und rechtliche Rechte und Pflichten. »Auf ethischer Ebene schulden die Ehepartner einander vor allem Treue, Achtung und Liebe.« Dabei wird unter den ethischen Rechten und Pflichten, diejenigen verstanden, die sich auf die persönliche Ebene der Ehepartner beziehen und unter den rechtlichen, die Rechte und Pflichten, die das Vermögen der Ehepartner betreffen. Für Remy ist gerade innerhalb der Ehe- und Familienbeschlüsse die Besonderheit der Ethik des Judentums, d.h. ihre Sittenlehre, erkennbar. Vgl. Remy 1892b: 34ff.

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wissen, dass dein Zelt voll Frieden ist‹.«121 Remy nennt ähnliche Talmudstellen, die die ethische Ebene der Ehepartner hervorheben und in denen vor allem die Treue, Achtung und Liebe zueinander betont werden. »Sein Weib ehre er mehr« und ist dein »Weib klein, bücke dich und flüstre ihr in’s Ohr«122 . Sie zeigt noch weitere solche »charakteristische Wendungen in Aussprüchen, Anekdoten und Erzählungen«123 auf, die stets die Achtung des Mannes seiner Frau gegenüber empfehlen. Dazu gehört der für sie wesentliche Ausspruch: »Der Mann soll seine Sorgen mit der Frau teilen, damit er nicht daran zerbricht: ›Sorgen verrücken des Menschen Gedanken, darum trage er sie mit seinem Weibe‹.«124 Ein rabbinischer Ausspruch aus dem 3. Jahrhundert (bT BM 59) ermahne den Ehemann dazu, seine Frau sanft und rücksichtsvoll zu behandeln, »weil der Frau die Thränen näher stehen«125 . Und ein anderer verweise darauf, dass das Haus seinen Segen erst durch die Frau erhalten habe: »Sie lehrt die Kinder, sie befürwortet des Mannes Besuch des Gotteshauses und der Schulen und wenn er dann heimkommt, heisst sie ihn willkommen! Sie erhält das Haus fromm und rein und der Segen Gottes ruht auf allen ihren Dingen.«126 Seit dem 16. Jahrhundert werden, »unabhängig von dem jeweiligen Vertrag zwischen den Ehepartnern«127 , zehn Pflichten und vier Rechte für den Ehemann bestimmt. Die drei ersten und wesentlichen Pflichten des Ehemannes, die Unterhaltspflicht, die Pflicht zum Vollzug des Geschlechtsverkehrs und die Pflicht die eheliche Treue zu halten, werden auch von Remy als selbstverständliche Pflichten hervorgehoben, mit dem ethischen Ziel den Schutz und die Ehre der jüdischen Ehefrau zu wahren. »Selbstverständlich ist der Mann verpflichtet für ihren Unterhalt zu sorgen und ihren Besitz zu schützen, denselben ihren Kindern zu belassen, ohne Rücksicht auf die Kinder eines anderen Ehebettes, die Töchter auszustatten, u.s.w.«128 Die Pflicht für seine Familie zu sorgen, sei so fortschrittlich und noch immer zeitgemäß, womit Streit und Verbitterung angesichts mangelnder Lebensmittel im Haus entgegen gewirkt werde.129 Sie unterstreicht, dass nach dem Tod der Ehefrau ihre Kinder vom Vater weiterhin versorgt werden mussten. Ihre Söhne hätten zwar den Erbanspruch auf ihre ketubba, aber der Vater sei weiterhin

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(Hi 5,24) zitiert in: Homolka 2009: 99. Vgl. bT Jeb 62b; bT Sanh 76b. Vgl. Lazarus 1896: 50, 59: »Zahlreiche Aussprüche beziehen sich auf sanftes Benehmen des Mannes in der Ehe. […] Sehr fein folgendes: ›Die Lebenslust, ein Kind und ein Weib, nähere man wieder mit der Rechten, wenn man sie mit der Linken entfernt, hatte‹.« 123 Ebd.: 59f.; 50: So seien dies weitere »charakteristische Lebensregeln und Sprüche«: Und der Tod der Frau soll tragisch für den Mann sein und »Die Welt verfinstere sich ihm.« 124 Ebd.: 59. 125 Ebd.: 50. 126 Vgl. bT BM 59a; Lazarus 1896: 50. 127 Homolka 2009: 99: »So heißt es im Schulchan Aruch [ShA, EH 69,1-3]: ›Wenn ein Mann eine Frau heiratet, so verpflichtet er sich ihr gegenüber in zehn Sachen und hat Anspruch gegen sie auf vier Dinge, auch wenn es nicht niedergeschrieben wurde‹.« 128 Lazarus 1896: 38. 129 Ebd.: 59: »Ein anderer Spruch [der für ein sanftes Benehmen des Ehemannes in der Ehe stehe], der noch äusserst zeitgemäß ist, lautet: ›Der Mann sei bemüht, dass immer Brod im Hause ist, denn der Streit im Hause entsteht meist durch den Mangel an Nahrungsmittel‹ und sagen dann die Leute als Sprichwort: ›Wenn die Gerste aus dem Kruge ist, beginnt der Zwist‹.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

dazu verpflichtet, für seine Töchter zu sorgen, bis sie sich verloben und heiraten.130 Gerade auch an der Verpflichtung des Mannes seiner Ehefrau einen Teil seines Vermögens zu hinterlassen, sei »die weise Fürsorge für das Wohl des Weibes«131 zu erkennen. Damit spricht Remy einen in der ketubba festgehaltenen Geldbetrag an, der für die Ehefrau bestimmt ist, im Falle einer Scheidung oder des Todes ihres Mannes. »Bei der Leichtigkeit, mit der der Mann sich von seiner Gattin trennen konnte, war dies (da er ihr vorher diesen Antheil ausliefern musste), ein Mittel ihn zur Ueberlegung und Rücksichtnahme zu bewegen.«132 Des Weiteren wird von ihr die Pflicht des Ehemannes zu ehelichem Geschlechtsverkehr als das individuelle Recht der jüdischen Ehefrau auf ehelichen Verkehr ausgelegt, der wiederum den Schutz und die Versorgung der Ehefrau durch die daraus resultierenden Kinder im Falle ihrer Verwitwung impliziere.133 Eine weitere Pflicht des Ehemannes sei die standesmäßige Versorgung seiner Frau: »Der Mann soll sich nach seinen Vermögensverhältnissen kleiden, seine Frau aber über seine Verhältnisse«.134 Zudem müsse der Ehemann stets sicherstellen, dass die Frau medizinisch versorgt werden kann und seine Frau im Fall einer Gefangenschaft auslösen. Auch sei der Ehemann dazu verpflichtet für die Beerdigung seiner vor ihm verstorbenen Ehefrau zu sorgen.135 Stürbe er allerdings zuerst, müsse er nach jüdischem Recht dafür sorgen, dass seine Witwe von den Söhnen weiterhin ernährt und gekleidet wird und im Haus ihres verstorbenen Mannes wohnen bleiben darf.136 Nach Emmanuel Weill (1841–1925), einem Rabbiner zu Versailles, sei den Söhnen es nicht erlaubt gewesen, das ererbte Haus zu verkaufen, solange die verwitwete Mutter darin lebte.137 Rechtfertigend führt Remy dazu an: »Bei der thätigen Natur der jüdischen Frauen, lässt sich annehmen, dass sie für solche Vergünstigungen auch nach Massgabe ihrer Kräfte im Hause nach wie vor arbeiteten und werkthätig bliebe, für das Wohl der Familie.«138 Demgegenüber hat der Ehemann jedoch das Recht über das Eigentum seiner Frau zu verfügen. Zum einen über ihren Besitz, den sie in die Ehe mit einbringt, außer ihrer Mitgift (mohar), sowie über jegliches Vermögen, das sie während der Ehe erarbeitet.139 In diesem Zusammenhang steht dem Ehemann auch der Gewinn aus dem Eigentum seiner Ehefrau zu, den er jedoch nur zum Vorteil des Unterhaltes nutzen und nur mit Einverständnis seiner Frau veräußern kann.140 Remy sieht

130 Ebd.: 63: Nach dem jüdischen Weisheitslehrer Jesus Sirach (Ben Sira; um 200 v. Chr.) soll die Tochter von »ihrem Vater als ein sorgenerregender Schatz, den er stets zu hüten sich bemühen muss« angesehen werden. 131 Ebd.: 38. 132 Ebd.: 38f. 133 Vgl. Ex 21,9f.; Lazarus 1896: 52. 134 Lazarus 1896: 55. Vgl dazu: Homolka 2009: 100: »Generell gilt das Prinzip: ›Die Frau steigt mit ihrem Mann auf, sie steigt nicht mit ihm hinab‹ [bT Ket 48a; 61a].« 135 Vgl. Homolka 2009: 99f. 136 Vgl. Lazarus 1896: 39. Rabbi Jehuda HaNassi (ca. 165–217), ein Patriarch und jüdischer Gelehrter des Altertums, soll selbst dafür das Beispiel gewesen sein, da er seine Söhne dazu aufgefordert habe, sich um die Mutter im Falle seines Todes zu kümmern. 137 Ebd.: 39. 138 Ebd.: 40. 139 Vgl. Homolka 2009: 101. 140 Vgl. ebd.

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auch in dieser Verordnung keine Benachteiligung der jüdischen Frauenrolle, sondern befürwortet diese Regelungen, indem sie sie als Ausgleich für die vom Ehemann übernommenen Pflichten ansieht. So diene das Recht auf die Nutznießung ihres Eigentums als Entschädigung für die Pflicht des Ehemannes zur Auslösung seiner Frau im Falle einer Gefangenschaft. Auch diene das Recht des Ehemannes auf den Gewinn ihrer Arbeit als Entschädigung für seine Unterhalts- und medizinische Versorgungspflicht.141 Die Rechte der Ehefrau ergeben sich konsequenterweise aus den Pflichten des Ehemannes und werden im Talmud nach Remys Interpretation am Fall der Polygynie formuliert: »Nimmt er sich aber noch eine andere, so soll er der Ersten an Nahrung, Kleidung und ehelichem Recht nichts abbrechen.«142 Dabei wird dem jüdischen Ehemann, wie bereits beschrieben, die Pflicht des Beschützers und Versorgers zugewiesen und der Ehefrau die Begrenzung auf Haushalt und die Kindererziehung. Sie habe vor allem die Pflicht den Haushalt zu führen, was bis heute von antijüdischer Seite als Beweis für die erniedrigende Ansicht der Stellung der jüdischen Frau herangezogen wird.143 Remy hingegen hebt die Bedeutung der häuslichen Pflicht hervor: »Wer aber wiederum trug für die Heiligung des Hauses die nächste Sorge? Die grösste Verantwortlichkeit? Das Weib. Die Gattin. Die Mutter. Die Herrin und Mutter trug doppelt an der Bürde, aber auch an der Würde der häuslichen Pflichterfüllung.«144 Die häusliche Pflicht wird von ihr daher sehr geschätzt und hervorgehoben, denn »führte den Mann Amt und Geschäfte hinaus auf Strassen und Plätze, oder vertiefte er sich in das Studium und blickte dann oft wie träumend in seine Umgebung – so musste sein Weib mit hellen, scharfen Augen doppelt wachsam bleiben, für ihn, für sich, für Alle.«145 Des Weiteren habe die jüdische Ehefrau die Pflicht sich um die Kindererziehung zu kümmern und bei der Erwerbstätigkeit mitzuhelfen.146 Auch habe die Ehefrau nach mischnaischem Recht die Pflicht ihrem Ehemann stets an seinen Wohnsitz zu folgen, und das Recht den Erstwohnsitz in der Ehe festzulegen.147 Die Ehefrau habe allerdings das Recht, wenn der Wohnsitz ihrer Gesundheit schade oder nicht ihrem Lebensstil vor der

141 Vgl. Lazarus 1896: 38f. 142 Vgl. Ex 21,10. Zur Polygynie vgl.: Friedl 2000. 143 Vgl. Spr 31,13ff.; Homolka 2009: 100: »Die Mischna nennt in diesem Zusammenhang im Einzelnen: Mehl mahlen, Brot backen, Kleider waschen, Essen kochen, das Bett machen und Wolle bearbeiten. Falls der Mann jedoch Haushaltspersonal einstellen kann, ist die Frau von diesen Pflichten befreit, außer von den persönlichsten«. 144 Lazarus 1896: 41. 145 Ebd. 146 Ebd. Vgl. dazu Homolka 2009: 100. Dabei fällt die Mithilfe zur Erwerbstätigkeit in das eheliche Güterrecht. 147 Lazarus 1896: 40: »Merkwürdigerweise ist der Frau auch das Recht zugestanden, den Ort der ersten Niederlassung beim Eingehen der Ehe als festen dauernden Aufenthalt zu erwählen; eine Weigerung des Mannes kann zur Scheidung führen, ohne jede ehrenkränkende oder vermögenschädliche Folge für die Frau«. Für Remy ist diese Regelung der ersten Wohnortnachfolge des Mannes auch noch bis ins 19. Jh. ein sinnvolles Recht der jüdischen Frau: »Wie ungemein bedeutsam diese Bestimmung ist gegenüber einem gewissen unruhigen und unberechtigten Wandertriebe, der einer Anzahl Männer zu allen Zeiten eigen gewesen zu sein scheint, wird Jedem sofort offenbar«.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Ehe entspreche, vor Gericht eine Klage auf Wohnungswechsel einzureichen.148 In der Bestimmung zur Pflicht der Ehefrau ihrem Mann zu folgen und den daraus resultierenden Nebenbestimmungen sieht Remy »die Selbstständigkeit und Würde der jüdischen Frau« impliziert. Denn während bei den anderen Völkern/Nationen die Frau sich dem Wohnsitz des Mannes zu fügen habe, seien im »jüd. Gesetz […] zum Schutz der Frau die Ausnahmen fest [gelegt worden], innerhalb derer sie sich dieser Pflicht enthoben sieht. Die angegebenen Gründe sind mannigfach; zum Theil sehr delicater Natur: auch Gesundheitsrücksichten sind massgebend, wie natürlich.«149 Solche Ausnahmen, die nach Remy vor allem zum Schutz der Frau formuliert wurden, seien einmalig und bei den anderen Völkern/Nationen nicht gegeben. Für »noch bemerkenswerter«150 erachtet Remy die Wohnsitzbestimmung im Talmud, wo Ehemann und Ehefrau gemeinsam das Recht zugesprochen wird, den Ehepartner dazu verpflichten zu können, nach Jerusalem oder Judäa zu ziehen oder dort wohnen zu bleiben, wobei Jerusalem den Vorrang vor Judäa habe. Weigere sich ein Ehepartner den Wunsch umzusetzen, konnte dies ein Scheidungsgrund für beide Parteien sein, ohne jegliche Konsequenzen für Ruf und Stellung desjenigen, der den Wunsch äußerte. Hier habe »das tiefe Gefühl des Israeliten für sein heiliges Land einen sprechenden Ausdruck gefunden.«151 Neben den bereits genannten geschlechtsspezifischen Rechten und Pflichten wurden drei gemeinschaftliche Pflichten angeführt, die bis heute nach talmudischem Eherecht für eine gleichberechtigte Partnerschaft stehen. Zum einen die Pflicht beider Ehepartner zur Fortpflanzung, die Pflicht der Kindererziehung und die Pflicht die eheliche Treue und den Respekt gegenüber dem Ehepartner zu wahren. Obwohl die jüdische Frau vornehmlich die Rolle der Haushaltsführung und die Aufgabenzuweisung als Mutter und Ehefrau erhält, wurde nach Remys Interpretation von jüdischen Gelehrten der Ehemann vornehmlich dazu ermahnt, seiner Ehefrau Anerkennung zu zeigen, sie zu ehren, lieben und ihr durch sein Vermögen Annehmlichkeiten zu bereiten.152

2.1.3 Ehescheidung Trotz Scheidungsmöglichkeit im jüdischen Eherecht wird die Ehe vor allem als ein ›Bund fürs Leben‹ angesehen: »Ein Weib gefunden – Glück gefunden und Huld erlangt vom

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Vgl. mKet 13,10b; Lazarus 1896: 40f. Ebd.: 40. Ebd.: 40f. Lazarus 1896: 41: Judäa wird als der empfohlene Wohnort angegeben. Vgl. dazu mKet 13,11a. Lazarus 1896: 49. Hierbei stützt sich Remy auf die Aussagen des jüdischen Philosophen Moses Maimonides (ca. 1135–1204). Vgl. Homolka 2009: 99: »Die Rabbinen ordneten an, dass ein Mann seine Frau mehr als sich selbst achten und sie so sehr lieben solle wie sich selbst […] Er solle sie nicht einschüchtern, sondern sanft zu ihr sprechen, und er solle nicht mürrisch oder jähzornig sein. Auch befahlen sie, dass eine Frau ihren Mann sehr hoch achten solle – er solle in ihren Augen wie ein Prinz oder König sein. Sie solle nach seinen Wünschen handeln und alles vermeiden, was er hasst. Und dies ist die Art der jüdischen Frauen und Männer: heilig zu sein und rein in ihrem Eheleben, und indem sie so handeln, werden sie ihr gemeinsames Leben glücklich und lobenswert gestalten.« Siehe: MT Ishut 15,19-20.

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Ewigen« (Spr 18,22).153 Wie bereits beschrieben, wird die Ehe mit dem metaphorischen Vergleich des unauflöslichen Bundes zwischen Gott und Israel verglichen.154 Zur Bekräftigung zieht Remy Maleachis Anklage bezüglich Israels Untreue gegenüber Gott heran, die er dem Treuebruch des Mannes gegenüber seiner Frau gleichsetzt.155 Dazu zitiert sie Mal 2,14: »Weil der HERR Zeuge war zwischen dir und der Frau deiner Jugend, der du treulos geworden bist, obwohl sie doch deine Gefährtin und die Frau ist, mit der du einen Bund geschlossen hast.«156 Ein Ehebruch bedecke nach dem Ausspruch des Propheten Mal 2,13: »den Altar Gottes mit Thränen und Klagen.«157 Bereits im Dekalog wird darauf hingewiesen, dass der vor Gott geschlossene Ehebund nicht gebrochen werden soll.158 Aus diesem Grund gebe es zahlreiche Beispiele von rabbinischen Gelehrten im Talmud, die dazu ermahnen, sich nicht aus nichtigen Gründen scheiden zu lassen, sondern auch schwierige Momente innerhalb der Ehe gemeinsam auszustehen. So führt Remy Rabbi Chia bar Abba (2. Jh.) an, der in seiner friedlichen und innigen Ehe trotz launenhafter und streitsüchtiger Ehefrau das perfekte Beispiel dafür gebe, wie mit sanftem Entgegenkommen eine solche Bürde erduldet werden könne.159 Vernachlässigte allerdings eine jüdische Ehefrau ihre Pflicht »der häuslichen- und familiären Sitte«, so sei dies mit »härtester Strafe, [der Todesstrafe] bestraft«160 worden. Denn im Judentum sei der Ehebruch eine Sünde und »eine Nachsicht, ein […] Verzeihen, […] undenkbar: Die Vernichtung der Schuldigen schien die einzige Rettung, das einzige Auskunftsmittel einer Verseuchung des Heiligthums – des Familienlebens – vorzubeugen«161 , obwohl es zumeist eher zur Ehescheidung gekommen sei. Daher war das Recht des Mannes, sich im Falle eines Ehebruches von seiner Frau scheiden zu lassen, nicht nur eine Möglichkeit, sondern seine Pflicht. Einem Mann war es, wie es Remy betont, nach jüdischem Eherecht 153 154 155

In: Homolka 2009: 114. Vgl. Lazarus 1896: 49. Vgl. Mal 2,10-16; hier 2,15f.: »Nicht einer hat das getan, in dem noch ein Rest von Geist war. Denn er sucht Nachkommen, die Gott geheiligt sind. Darum so seht euch vor in eurem Geist, und werde keiner treulos der Frau seiner Jugend. Wer ihr aber gram ist und sie verstößt, spricht der Herr, der Gott Israels, der bedeckt mit Frevel sein Kleid, spricht der Herr Zebaoth. Darum so seht euch vor in eurem Geist und brecht nicht die Treue!« 156 Lazarus 1896: 49. 157 Ebd. Vgl. bT Git 90b. 158 Vgl. Ex 20,14; Dtn 5,18. Auch in der Weisheitsliteratur wird das eheliche Bündnis hochgeschätzt und der Ehebruch als etwas gegen den göttlichen Willen abgelehnt, wie beispielsweise in Spr 6,29. 159 Lazarus 1896: 63f.: Rabbi Chia soll eine »höchst launenhafte« Frau gehabt haben, die er aber dennoch überaus zärtlich behandelte und »so oft als möglich überraschte er sie mit den schönsten Geschenken. […] befragt über die Ursache dieser absonderlichen Zärtlichkeit ihr gegenüber antwortete er: »Wie immer die Frauen auch beschaffen seien, so sind sie doch unserer besonderen Achtung und Aufmerksamkeit werth, weil sie es sind, die unsere Kinder zur Tugend und Gottesfurcht erziehen und uns durch ihren Umgang von sündhaften Leidenschaften vernhalten. Eine solche Familiensinnigkeit kann uns nur Glück und Segen bringen und wahres Seelenheil auch in der zukünftigen Welt verschaffen.« 160 Lazarus 1896: 41. 161 Vgl. Dtn 22,22: »Wenn jemand dabei ergriffen wird, dass er einer Frau beiwohnt, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben, der Mann und die Frau, der er beigewohnt hat; so sollst du das Böse aus Israel wegtun.« Lazarus 1896: 42.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

verboten, mit einer Ehebrecherin verheiratet zu bleiben. Nach jüdischem Eherecht würde zwar der Ehebruch vonseiten der Frau geahndet werden, aber nicht der vonseiten des Ehemannes.162 Demzufolge bezeichnete ein Ehebruch nach talmudischer Begriffsdefinition den Betrug einer angetrauten oder verheirateten Frau gegenüber ihrem Mann. Umgekehrt habe ein verheirateter Mann, aufgrund des noch damals bestehenden Polygynie-Rechts, mit einer nichtverheirateten Frau Geschlechtsverkehr haben können, ohne dafür bestraft zu werden.163 Wurde eine Ehefrau von ihrem Mann der Untreue bezichtigt und es bestand ein Zweifel daran, konnte nach Num 5,12-31 der Test des »fluchbringenden Wassers« angewandt werden.164 Danach konnte ein eifersüchtiger Ehemann seine Frau, die er des Ehebruchs bezichtigte, zum Priester bringen, damit dieser seiner vermutlich treulosen Ehefrau zunächst ein Geständnis entlocke. Gestand sie nicht, konnte der Priester ihr den Trunk aus »bitterem und fluchbringendem Wasser« überreichen, der im Fall ihrer Untreue ihren »Bauch anschwellen und ihre Hüften einfallen«165 ließe, was ihre Schuld bestätige. Remy verweist auf diese Ehebruchsbestimmung, um gegen die zeitgenössische Kritik anzugehen, die innerhalb der Perikope (Num 5,12-31) die alttestamentliche Frauenfeindlichkeit bestätigt sah, da entsprechende Bestimmungen für untreue Männer in der Thora fehlen. Sie selbst deutet diese Perikope als eine »kluge Bestimmung«166 vonseiten jüdischer Gelehrter, die diese besonders zum Schutz der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft eingeführt haben. Bereits an der Zusammensetzung des Trunkes: heiliges Wasser, Staub von der Stiftshütte sowie Flüche, die mit dem Wasser abgewaschen werden, werde deutlich, dass eine Frau mit diesen Zutaten keine Schwellungen im Körper erhalten könne: »Ueber diese ganze Handlung liegt ein Schleier des Unheimlichen und Geheimnisvollen«167 , das den Aberglauben und vor allem das schlechte Gewissen der Beschuldigten anspreche. Es sei folglich bloß ein psychologischer Test, den die beschuldigte Frau durchzuführen hatte, um ihr ein Geständnis zu entlocken. Trank eine unschuldige Ehefrau solches Wasser, könne man davon ausgehen, dass es der Frau keine gravierenden Schäden zufüge. Die Probe sei, trotz zunächst erscheinender Grausamkeit, »ein kleiner, aber welch ein charakteristischer Beweis von Zartheit und sinniger Rücksicht für eine Unglückliche«168 , die zu Unrecht beschuldigt wurde. Allerdings sei diese Probe für eine schuldige Ehefrau nach Remy völlig angemessen, da gerade die Unschuldige dadurch »wie in einer Gloriole dastehe.«169 162 163

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Ebd. Weiterführende Literatur zum Ehebruch siehe: Goldman 1995. Lazarus 1896: 45: »Eine tödtliche Strafe aber traf den Schuldigen, der sich mit dem Weibe eines Anderen vergangen: er verletzte eben das Recht und den heiligen Besitz zweier Menschen und entbehrte der Fähigkeit, sein Unrecht durch eine Ehe wieder gut zu machen; er wurde einem Mörder gleich geachtet und erlitt Todesstrafe.« Ebd.: 42. Zum Sota-Verfahren im antiken Judentum siehe: Bietenhard 1956; Bietenhard 1986. Vgl. Num 5,18ff. Lazarus 1896: 43. Ebd. Ebd. Ebd.: 43–45: Der Ehemann könne allerdings, trotz Betrugsverdachts, auch auf die Probe verzichten, erhielt aber eine strenge Strafe, wenn er seine Frau wissentlich falsch beschuldigte. Ebenso durfte die angeklagte Ehefrau die Probe zurückweisen, was aber als Zugeständnis gewertet worden wäre und für sie folglich zu Ehescheidung und Vermögensverlust führte. Eine Ehefrau, deren Schuld

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Auch die Regelungen bezüglich der Ehescheidung stützen sich vor allem auf Aussagen der hebräischen Bibel.170 Die Bibelstellen, die von der Ehescheidung sprechen, erregten aufgrund ihrer einseitigen Auslegung der Scheidungsbestimmungen zum Vorteil des Ehemannes vor allem bei dem nichtjüdischen Leser »einiges Befremden«171 , was Remy zu revidieren versucht. Nach Dtn 24,1-4172 könne nur der Mann die Ehescheidung verlangen, »und oft aus scheinbar nichtigen Gründen«173 , was vonseiten antisemitischer Polemiker als Beweis für die geringe Stellung der jüdischen Frau angegeben werde. Dieser deuteronomische Ausspruch (Dtn 24,1-5), der explizit Details zum Scheidungsgesetz preisgebe, sei aufgrund seiner »Lückenhaftigkeit« allerdings bereits innerhalb des Talmuds »zum Schutz und zum Vortheil des Weibes«174 mit weiteren Regelungen ergänzt worden. Demnach könne nach der grundlegenden biblischen Ansicht nur der Ehemann mit einem schriftlichen Dokument (֙ ‫ )ֵס ֶ֤פר ְּכ ִריֻתת‬sich scheiden lassen, was zwar ein einseitiges, freies Scheidungsrecht allein durch den Mann bedeute, aber nach rabbinischem Recht neuformuliert worden sei.175 An diesem alleinigen Recht des Ehemannes, die Ehescheidung vollziehen zu können, sei von polemischer Seite die Abhängigkeit der jüdischen Frau von ihrem Mann festgemacht worden.176 Remy verweist darauf, dass zwar das alleinige Scheidungsrecht des Ehemannes auch in der talmudischen Tradition nicht

bewiesen wurde, durfte nach jüdischem Eherecht nicht mehr mit ihrem Mann zusammenbleiben, die Ehe musste geschieden werden. 170 Zur Ehescheidung im jüdischen Recht siehe Homolka 2009: 113–136. Vgl. auch Drori 2007; Cohn 1982. 171 Lazarus 1896: 45. 172 Dtn 24,1-4: »Wenn jemand eine Frau zur Ehe nimmt und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, weil er etwas Schändliches [‫ ]ֶעְרוַ ֣ת‬an ihr gefunden hat, und er einen Scheidebrief schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt und wenn sie dann aus seinem Hause gegangen ist und hingeht und wird eines andern Frau und dieser andere Mann ihrer auch überdrüssig wird und einen Scheidebrief schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt oder wenn dieser andere Mann stirbt, der sie sich zur Frau genommen hatte, so kann sie ihr erster Mann, der sie entließ, nicht wieder zur Frau nehmen, nachdem sie unrein geworden ist – denn solches ist ein Gräuel vor dem HERRN –, damit du nicht Sünde über das Land bringst, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbe gegeben hat.« 173 Lazarus 1896: 45f.: Remy stützt sich zum einen auf Dtn 24,1 und die Auslegung des Ausdrucks ‫ָּד ָ֔בר‬ ‫( ֶעְרוַ ֣ת‬Schändliches, wörtl. »die Nacktheit einer Sache«) in den rabbinischen Schriften. Beispielsweise wird bei Schammai »Schändliches« nicht genauer definiert, und eine Ehescheidung allein aufgrund eines Ehebruchs vertreten. Bei Hillel wird allerdings jegliches Fehlverhalten der Ehefrau als Scheidungsgrund aufgezählt, auch das Anbrennen von Speisen oder das Versalzen von Essen. Rabbi Akiba erlaubte die Scheidung sogar, wenn der Ehemann eine andere Frau schöner fand und berief sich auf den Ausspruch: »wenn sie keine Gunst in seinen Augen findet.« Vgl. mGit 9,10; bT Git 90a-b. Eine ausführliche Auflistung der verschiedenen Scheidungsgründe des Ehemannes findet sich bei: Homolka 2009: 116–118. 174 Lazarus 1896: 46. 175 Ebd. Nach talmudischem Eherecht, orientiert an Dtn 24,1, blieb die Ehe so lange rechtlich bestehen, bis der Ehemann seine schriftliche Einwilligung, im rabbinische Recht get (Scheidebrief) genannt, seiner Frau überreicht hatte. Weigerte er sich diesen auszuhändigen, konnte die Ehe nicht geschieden werden. Vgl. Homolka 2009: 121f. 176 Lazarus 1896: 45f.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

aufgehoben wurde, aber durch neue Befugnis für eine Trennung vonseiten der Ehefrau wesentlich ergänzt und erschwert wurde.177 »Der Talmud, dieser von Unwissenden oder Uebelwollenden oft so arg verläumdete Talmud, der offenbar mit Vorliebe die Partei des Schwachen und Hilflosen vertritt, […] der Talmud gestattet auch dem Weibe die Ehescheidung zu beantragen, und wenn ihre Klage berechtigt erscheint, wird der Mann von den Richtern genöthigt, ihr die Freiheit wieder zu geben.«178 Dabei sei nach mischnaischem Gesetz auch der Ehefrau erlaubt worden, den Scheidungswunsch vor Gericht vorzutragen. Dafür müsse sie allerdings vorab bestimmte Gründe vorlegen, damit ihr Ehemann vom Gericht dazu verurteilt werden konnte, ihr den Scheidebrief (get) auszuhändigen.179 Für eine Auflösung der Ehe vonseiten der Frau verweist Remy auf die Mischna: »unheilbare oder ansteckende Krankheiten, ein ekelhafter Beruf, Versäumnis des Mannes seine Frau zu versorgen, fortgesetzte Misshandlung, Untreue, [aber nur mit einer verehelichten Frau] und endlich auch, wenn sie nach zehnjähriger Ehe noch immer kein Kind von ihm hat.«180 Da es nach jüdischem Recht keine Verpflichtung der Ehefrau, Kinder zu haben, gebe, führe eine »erwiesene [Zeugungs-]Unfähigkeit des Mannes [nur] dann zur Trennung, wenn die Frau den bestimmten Wunsch zu erkennen gibt, einen Sohn zu besitzen, der sie in ihrem Alter schützt und erhält.«181 Sie verweist daneben auf die Tatsache hin, dass im Mittelalter bereits die wichtigste Veränderung im jüdischen Scheidungsrecht stattgefunden habe. Auf der Synode zu Metz (1020) sei von Rabbi Gerschom ben Jehuda (960–1040) unter anderem das Verbot (Cherem = Bann) erlassen worden, »die Ehescheidung zu beantragen ohne ausdrückliche Einwilligung der Frau, welche davon betroffen wurde«182 . Dieser bedeutende Schritt zeige nach Remy die normgebende gesetzliche Höherstellung der jüdischen Frau bereits zur Zeit des Mittelalters, indem jüdische Gelehrte sich gegen ausdrückliche Bestimmungen des Talmuds, die sich auf das alleinige Scheidungsrecht

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Ebd.: 46. Ebd. Bezüglich der Talmudpolemik, die Remy an dieser Stelle anspricht, siehe Kap. II, 3.1.3. Vgl. Lazarus 1896: 46. Im 6. mischnaischem Traktat gittin (Scheidebriefe) werden gestützt auf Dtn 24,1 verschiedene Gründe, die eine Ehescheidung rechtfertigen, aufgelistet und diskutiert. Siehe dazu Homolka 2009: 118–120. 180 Lazarus 1896: 46. Vgl. auch sexuelle Untreue des Ehemannes (ShA, EH 154:1); unheilbare Erkrankung (ShA, EH 154,3) oder die Aufnahme eines ekelhaften Berufes (mKet 7,9-10; bT Ket 77a; MT Ishut 25,1; ShA, EH 154,1). Keine angemessene Versorgung (ShA, EH 154,3) oder bei Zeugungsunfähigkeit (mJeb 6,6; bT Jeb 64a; MT Ishut 15,10; ShA, EH 154,7). Homolka 2009: 118: »In allen genannten Fällen genügt als Scheidungsgrund nicht ein einmaliges Fehlverhalten des Ehemannes; dieses muss vielmehr regelmäßig und gewohnheitsmäßig sein (ShA, EH 154,3).« 181 Lazarus 1896: 46: »Welch ein Gegensatz mit der spartanischen Sitte, die auch in Rom bestanden haben soll, die kinderlose Gattin einem Anderen zu ›leihen‹, nicht sowol der Kinderzeugung als der – Geschenke wegen, welche die Frau dabei empfing!« 182 Ebd.: Rabbi Gerschom ben Jehuda soll auch mit einem Erlass die Polygynie aufgehoben haben. Vgl. dazu Homolka 2009: 115: Unter Strafandrohung wurde im Schulchan Aruch (ShA, EH 119,6) festgesetzt, dass ein Ehemann die Zustimmung zur Scheidung vonseiten seiner Frau haben musste, womit »das Prinzip des gegenseitigen Einvernehmens Eingang in das rabbinische Scheidungsrecht« fand.

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des Mannes bezogen, aussprachen und diese durch ein Scheidungsrecht für die Ehefrau ergänzten.183 Damit habe die jüdische Frau unter anderem das Recht erhalten, nach ihrer »beantragten und gewährten«184 Ehescheidung ihre Güter behalten und ihre Kinder bei sich haben zu dürfen und vom geschiedenen Ehemann Unterhalt gezahlt zu bekommen.

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Die Stellung der Frau in der jüdischen Tradition

2.2.1 Die jüdische Frau als Priesterin des Hauses185 Für Remy sind nicht bloß die ästhetischen Merkmale der jüdischen Frau, d.h. ihre Schönheit und Grazie, auf die sie in ihrem Werk verweist, besonders wichtig, sondern vor allem ihre ethischen Ansichten und Verhaltensweisen, die besonders im Talmud Würdigung erhalten.186 Nicht die holde Jungfrau wird nach Remy darin, wie beim Minnesang, gepriesen, sondern die religiöse und sich aufopfernde jüdische Hausfrau, Mutter und Gattin.187 Sie zeigt vergleichend, dass während im mittelalterlichen Frauenkult durch das Rittertum die äußere Schönheit der Frau verherrlicht worden sei, im Judentum das »innere Heiligtum«188 der jüdischen Frau, d.h. ihre Sitte und Anmut verehrt wurde. Diese besondere Wertschätzung der jüdischen Frau in der hebräischen Bibel und im Talmud lasse sich an der immer wiederkehrenden Hausmetapher189 verdeutlichen, indem der biblische Ausspruch aus Jos 24,15 im Talmud als »sein Haus« im Talmud als »sein 183 Lazarus 1896: 46. 184 Ebd. 185 Remy 1893f: 16f.: »Das Haus wird als der eigentliche Tempel der Frau bezeichnet und als Hohepriesterin darin waltet die Mutter. Fachwissenschaft des Weibes, Ceremonien, öffentliche Wirksamkeit, alles dieses wird verpönt, mit der ausdrücklichen Motivierung: ›damit die Frau die Kinder erziehe‹. […] Der Mutter ward auch die Aufgabe das Familienleben mit religiösen Übungen zu durchflechten, damit die Kinder die Religion liebgewinnen sollten. [Herv. i.O.]« Unter der Metapher »Priesterin des Hauses« wird eine Jüdin beschrieben, die vor allem seit dem 19. Jh. innerhalb der familiären Sphäre als Gattin und Mutter ihr religiöses Wissen anhand von Traditionen und Bräuchen pflegt und an ihre Kinder weitergibt. Schmitz 2009: 210: »Auch innerhalb der Gemeinschaft der Pharisäer gab es bereits vor der Zerstörung des Tempels Ansätze, den Tempel symbolisch im eigenen Haus und das Tempelopfer in der koscheren Mahlzeit am eigenen Tisch zu finden. Nachdem der Tempel in Jerusalem 70 u.Z. zerstört worden war, bildete der heimische Tisch den Altar, an dem die Frau des Hauses die Priesterin war, die zum koscheren Mahl lud.« 186 Lazarus 1896: 144–146. Vgl. Kap. II, 3.2.1. 187 A. Jellinek Der jüdische Stamm: 99 wird zitiert in: ebd.: 146: »Das jüdische Weib war nie ein Gegenstand ritterlichen Cultus, seine reiche Gemüthswelt, die Tiefe seines Herzens, die Zartheit seines Geistes, die Fülle seines Seelenleben, die Weisheit seines Wesens, die Unwandelbarkeit der Muttertreue wurden anerkannt und gewürdigt und mehr als durch alle mittelalterlichen Turniere, welche der sinnlichen Erscheinung des Weibes huldigten, wird es durch die jüdischen Propheten gefeiert, indem sie ›Gott sein Volk trösten lassen wie eine Mutter ihren Sohn tröstet‹, und das israelitische Volk zum Vertrauen auf Gott ermuthigen, der dessen ebensowenig vergessen kann, wie eine Mutter ihres Kindes.« 188 Ebd. 189 Die Metaphorik des Hauses für die jüdische Frau zieht sich wie ein roter Faden, beginnend als ihr erstes Motto, durch Remys Werk. Vgl. ebd.: 15. Die Metaphorik ist entnommen aus Jos 24,15: »Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen«. Vgl. dazu auch Spr 24,27: »Richte erst draußen deine Arbeit aus und bearbeite deinen Acker; danach gründe dein Haus«.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Weib«190 ausgelegt werde. Die Konnotation Schutz und Wohnstätte werde damit auf die jüdische Frau übertragen, womit der jüdischen Frau innerhalb der häuslichen Sphäre eine geschätzte Stellung zugesprochen wurde. Am deutlichsten werde dies an der religiösen Handlung der Frau, wenn sie für den Sabbat ihr Heim segne. Es handelt sich dabei um ein religiöses Ritual, welches die Frau mit dem Heim verbindet und identifiziert, was die soziale Rolle der Frau innerhalb der Familienhierarchie verstärke.191 Solche alttestamentlichen und talmudischen Lobpreisungen der jüdischen Frau werden von Remy hervorgehoben, in denen vor allem die fleißige und gehorsame Frau gelobt und sogar als von Gott dem Mann ›geschenkt‹ beschrieben wird.192 Dieser wird die zänkische und launenhafte Ehefrau gegenübergestellt, wie die Ehefrau des Rabbi Chia (s.S. 187).193 Daneben führt sie auch die folgenden weniger optimistische Aussprüche aus dem Talmud an: »Wer hat die Hölle schon in dieser Welt? Der Gatte einer bösen Frau« sowie »ein böses Weib ist wie ein Tag Regenwetter«194 . Denn trotz solcher Stellen werde dem Ehemann immer wieder in der talmudischen Literatur empfohlen, sanftmütig zu sein und seine Ehefrau bestmöglich zu erfreuen: »In dieser frohen Hingebung der Frau lag des Mannes ganzes Glück, und dies Glück fesselte seine Treue an sein Haus.«195 Die Stellung der jüdischen Frau in ihrem häuslichen Umfeld wird von Remy für die zeitgenössische Jüdin als erstrebenswerte Rollenzuweisung empfohlen, in der sie als Hausfrau, Mutter und Ehefrau geachtet wird.196 Verglichen mit dem christlichen Familienleben, das nach Remy als »nothwendiges Übel«197 angesehen wird, hebt sie die hohe Stellung der Familie im Judentum hervor. Das Familienleben sei von jeher vor allem als »Heiligung des Lebens« angesehen worden, in dem das jüdische Hauptgesetz »das Familienleben rein und tadellos zu erhalten«198 Ausdruck fände. Das Familienleben preisgeben, heißt Remy zufolge so viel wie »die Grundmauern einzustürzen, auf denen sich das gottgefällige Dasein des echten Juden erhob«199 .

190 In: Lazarus 1896: 48f.: Diese talmudische Auslegung wird von Remy als zweites Motto zu Anfang ihres Werkes angegeben. »Rabbi Jose der Chronist versicherte, er habe sein Weib nicht anders genannt als ›mein Haus‹ (Vergl. domus und domina). Wer sein Weib liebt, wie sich selbst und dasselbe mehr ehrt, als sich selbst, an dem erfüllt sich der Spruch: ›Und du weisst, dass deine Hütte in Frieden ist.‹« Vgl. dazu Duschak 1864: 69. 191 Geiger 1837: 8: Entgegen zu Remys Sichtweise sieht A. Geiger, dessen Werk sie mitberücksichtigt hat, dies nicht als Ehre der jüdischen Frau an: »Nicht genug, dass es von jedem höher religiösen Leben ausgeschlossen ist, dass der entwürdigende Ausspruch: ›davon sind die Frauen befreit‹, sie an ihrer religiösen Natur irre werden läßt, dass die Ausübung von drei ihnen zugewiesenen Pflichten, Niddah, Challah und Lichtanzünden am Sabbathe, ihr hauptsächlicher, wahrlich nicht sehr strahlender Schmuck ist.« 192 Vgl. Lazarus 1896: 49. Vgl. Spr 19,14: »Haus und Habe vererben die Eltern; aber eine verständige Ehefrau kommt vom Herrn.«; Lazarus 1896: 24. Vgl. Spr 18,22: »Wer eine Ehefrau gefunden hat, der hat etwas Gutes gefunden und Wohlgefallen erlangt vom HERRN«. 193 Vgl. Lazarus 1896: 63f.; Vgl. auch Spr 19,13; Spr 21,9; 19. 194 Ebd.: 64. 195 Ebd. 196 Vgl. ebd.: 41. 197 Vgl. ebd.: 18. Zu Remys christlichen Familienauslegung siehe Kap. II, 2.4.2. 198 Ebd.: 41. 199 Ebd.

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Folglich brächte die Mutterrolle die höchste Freude und Ehre, die eine jüdische Frau in ihrem Leben erhalten könne. Die Mutter sei nach der Geburt zunächst für die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder zuständig, womit sie die Rollen der Erzieherin, Lehrerin und Führerin zugleich abdecke.200 Daher läge die Erziehung der Kinder zur Sitte, Sittlichkeit und religiöser Tradition ganz in der Verantwortung der Mutter. »Die Söhne erzog sie zur Gesundheit und Gottesfurcht, die Töchter obendrein noch in allen häuslichen Dingen, weiblichen Handfertigkeiten und nützlichen Arbeiten jeder Art.«201 Wenn die Söhne das sechste Lebensjahr erreicht hatten und zur Synagoge gehen durften, sei es die Pflicht der Mutter sie dahin zu bringen oder bringen zu lassen.202 Gelang der jüdischen Mutter die häusliche Erziehung, kam ihr Sohn mit sechs Jahren zur weiteren Erziehung zum Vater.203 Remy betont, dass der Ehemann bei Verweigerung seine väterliche Pflicht gegenüber seinen Kindern zu erfüllen, auf verschiedene Art dazu veranlasst werden konnte, schlimmstenfalls konnte er unter öffentlicher Bestrafung dazu gezwungen werden.204 Während nach Remy im Talmud vor allem die Väter ermahnt werden, ihre Kinder nicht gewissenlos zu behandeln, wird von der Mutter diesbezüglich im Talmud angenommen, »dass [sie] unmöglich (!) ihre Pflichten vernachlässigen könnte, oder gar sie verletzen«205 . Sie habe »von jeher eine Sorgsamkeit und eine Zärtlichkeit für ihre Kinder bewiesen, welche sie unter liebevollen Müttern als die Liebevollste kennzeichnet.«206 Eine Mutter zu werden, sei der höchste Ehrgeiz der Jüdin, denn damit erhielt sie einen hohen Stellenwert und bedeutungsvolle Anerkennung innerhalb ihrer jüdischen Gemeinschaft. Kinderlosigkeit hingegen werde als Strafe Gottes angesehen und verursache für die jüdische Frau trostlosen Schmerz.207 Obwohl im Judentum der Ehemann auch bis ins 19. Jahrhundert das Oberhaupt der Familie bildet, hob Remy die Stellung der jüdischen Frau nicht nur als Gefährtin, sondern auch als stützende Helferin an der Seite ihres Mannes hervor.208 So sei die jüdische Ehefrau neben den häuslichen Pflichten auch dazu angehalten, ihrem Mann je nach Möglichkeit bei der Arbeit auszuhelfen und bei sonstigen Angelegenheiten beratend zur Seite stehen. Denn in vielen Dingen habe Gott die Frau mit einem edleren Verstand versehen, weshalb dem Mann geboten sei, »ist dein Weib klein, bücke dich und flüstre ihr in’s Ohr«209 , was so viel bedeute, dass der Mann sich stets mit seiner Frau beratend austauschen soll. Sie betont damit, dass es stets jüdische Frauen gab, die ihren ›gehetzten‹ 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

Vgl. ebd.: 188. In: Lazarus 1896: 192. Vgl. ebd. Vgl. dazu bT Ber 17a. Ebd.: 195: Misslang die Erziehung allerdings, blieb der Sohn bei ihr: »im Hause an der Schürze der Mutter hängen.« Vgl. ebd.: 193. Ebd.: »Ein glänzenderes Zeugniss für die Hochachtung des Weibes von Seiten des Judenthums ist unnötig.« Ebd.: 187. Vgl. ebd.: 188. Vgl. ebd.: 48. Ebd.: 50; 59f. Für ein inniges und gemeinschaftliches Eheleben werde dem Ehemann unter anderem nahegelegt, sich mit seiner Frau bei Entscheidungen zu beraten, was nach Remy bei den Griechen unmöglich gewesen war, da der Rat einer griechischen Ehefrau »für null und nichtig« ge-

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Männern gewissenhaft bei der Arbeit halfen, obwohl sie zudem häusliche Arbeiten und die Kinder zur Gottesfurcht erziehen mussten.210 Als seine Gehilfin sei sie bemüht gewesen ihrem Mann, »der sich der Wissenschaft widmet, zu unterstützen, oder ihn gänzlich zu vertreten«211 . Dabei zählt sie verschiedene jüdische Frauen auf, die ihre Männer in schwierigen Situationen beratend unterstützten, wie beispielsweise jüdische Frauen, die einen Einfluss auf Fürsten und Könige gehabt hätten und diesen versöhnend und vermittelnd zugunsten der Gemeinschaft einsetzten.212 Auch sei im Alten Testament in Spr 31,10ff. das Ideal der echten, wirkenden und schaffenden jüdischen Frau beschrieben. In dieser Perikope wird das darin dargestellte Portrait einer jüdischen Frau nach der christlichen Tradition als ›Lob der tüchtigen Hausfrau‹ überschrieben, womit eine Reduktion der Frau auf häusliche Tüchtigkeit und Tätigkeit stattfände. Tatsächlich werde eine Zuständigkeit der Frau beschrieben, die neben der Organisation des Hauses auch eine wirtschaftliche Zuständigkeit der jüdischen Frau miteinschließe, wie beispielsweise in der Textilwarenproduktion oder Feldarbeit, womit Remy den erweiterten Tätigkeitskreis der Frau, der oftmals das Häusliche überstieg, hervorhebt. Solche tatkräftigen Frauen hätten auch eigens Geld erworben, womit sie gleichzeitig Verfügungsgewalt über ihren Besitz erhielten und als Grundbesitzerinnen in das Erbrecht einbezogen werden konnten.213 Mit Beispielen zeigt Remy auf, dass die jüdischen Frauen sich stets fleißig in häuslichen, familiären und wirtschaftlichen Angelegenheiten gezeigt haben, was allerdings eine Gemeinsamkeit mit »allen tüchtigen Frauen anderer Nationen«214 darstelle, da diese ebenfalls ihre Kräfte für das häusliche, wirtschaftliche und Gemeinwohl nutzten. Dazu zitiert sie aus dem Talmud: »Und wenn die Frau hundert Dienerinnen besitzt, hat sie die Pflicht zu arbeiten, denn Müssiggang führt zur Ausschweifung«215 , womit gleichzeitig die Arbeit der jüdischen Frau als »ein Schmuck, als eine Zierde des Biederweibes«216 angesehen wird.

halten wurde. Vgl. dazu ebd.: 48: »Kein Geschäft, das er unter ihrem Einfluss abgeschlossen, wurde für gültig angesehen.« 210 Ebd.: 127. 211 Lazarus 1896: 51. 212 Ebd.: 130: »Als Verwalterinnen und umsichtige Rathgeberinnen von entschieden diplomatischer Veranlagung haben sich Jüdinnen oft Lohn und Anerkennung erworben; sie verwandten den ihnen gewordenen Einfluss meist im Dienst ihrer Religion und der Menschheit«. 213 Vgl. ebd.: 159f. Als Beweis für die hier beschriebene tatkräftige Selbtsständigkeit der jüdischen Frau können die Elephantine-Papyri (aus dem 5. Jh.) herangezogen werden, worin jüdische Frauen beschrieben werden, die selbst wirtschafteten und selbstständige Rechtsgeschäfte verrichteten. S.Kap. II, 2.1.1. 214 Lazarus 1896: 160. 215 Ebd.: 155. 216 Ebd.: 160: »Heute bildet die ›Arbeit des Weibes‹ ein wichtiges Thema volkswirtschaftlicher Untersuchungen, das unter den Juden zwar wenig Federn, aber desto mehr weibliche Hände in Bewegung gesetzt hat.«

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2.2.2 Das Ideal der sittsamen und keuschen Jüdin Nahida Remy zufolge war die Sittsamkeit und Keuschheit »das Kennzeichen der Jüdin«217 des Alten Testaments. »Denn das Weib, so heisst es, sei die vollendetste Schöpfung der Natur, ihre Formen die idealsten, die der Künstler darzustellen vermag, die zu schauen allein das Recht des Gatten ist.«218 Ausführlich betont sie immer wieder die Züchtigkeit und Sittenreinheit der jüdischen Frau, wofür sie entsprechende Beispiele und Normen aus Bibel und Talmud anführt.219 Das eheliche Glück, in dem das Judentum bewahrt bliebe, sei daher nur dann vollkommen, wenn besonders die Ehefrau treu und tugendhaft sei, was in zahlreichen Sprüchen betont werde. Remy führt dazu den Ausspruch in Spr 31,30 »Anmuth ist trüglich, Schönheit vergänglich; ein gottesfürchtiges Weib allein ist rühmenswerth« als Maßstab des weiblichen Wertes mit ihrer Treue, Sittsamkeit, Schamhaftigkeit und Keuschheit an. Darum solle der Mann bei der Wahl der Gattin in erster Linie auf ihre sittlichen Eigenschaften Wert legen, als auf ihre Schönheit und ihr Vermögen.220 Talmudische Äußerungen würden sich vor allem gegen die Geldheirat aussprechen, da nur eine tugendhafte Frau den Ehemann glücklich mache.221 Dafür zieht Remy jüdische Frauen der vergangenen Jahrhunderte als Muster der familiären Hingebung, Treue und religiösen Anhänglichkeit heran. Als nennenswertes Beispiel wird von ihr die venezianische Dichterin Sara Copia Sullam (1590–1641) eigens im 10. Kapitel ihres Werkes aufgeführt, welche ihre Keuschheit bewahrte, trotz immer wiederkehrenden Liebesbekundungen vonseiten eines anderen Mannes.222 Nach Remys Auslegung des talmudischen Ausspruches im Traktat Ketubbot, war die Vorschrift, »dass Braut und Bräutigam nicht allein zusammen speisen sollen«223 , vor allem aus Angst, dass die sinnlichen Begehren zum vorehelichen Verkehr und somit zur Unsittlichkeit führen, formuliert worden. Damit werde vor allem der »Verdacht gegen die leidenschaftlichen Neigungen der Frauen«224 ausgesprochen, welche als sinnliche Begierde der Frau in talmudischen Ansichten häufiger und ausgeprägter beschrieben seien als die des Mannes. Deshalb solle ein jüdischer Mann stets achtsam sein »in Allem was irgend die Züchtigung der Frau verletze oder ihre Begierden erwecken«225 könne. An anderer Stelle im Traktat Qidduschin (bT Qid 82a) sei der jüdischen Frau verboten worden, 217

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Zitiert nach M. Lazarus aus Treu und Frei (1887), in: ebd.: 66: »Aber der innerste, der keimkräftigste Kern der Sittlichkeit, die Strenge der Zucht und die Innigkeit des Familienlebens blieb allezeit lebendig. Und diesen Kern der Sittlichkeit zu hegen und zu pflegen lag in der Hand der Frauen.« Lazarus 1896: 314f. Ebd.: 54: »Deshalb gibt der Talmud einerseits zahlreiche Verordnungen, um die Sittlichkeit zu schützen, die Züchtigkeit zu pflegen und zu sichern; man weiss ›dass Sinnenlust jeden Aufseher überlistet‹! – jedes Alleinsein mit einem fremden Manne wird streng verpönt, u.s.w.« Ebd.: 49. Ebd.: Der junge Mann wurde dazu ermahnt, »weise zu wählen und nicht nur nach Geld und Gut der künftigen Lebensgefährtin zu sehen, sondern nach Tugend und Ehre [Vgl. Spr 12,4]«. Stern 1879: 23: Ein Rabbi versichere: »Wer eine Frau um des Geldes willen heirathet, […] bekommt ungerathene Kinder, denn die Liebe, die beste Grundlage des Familienlebens fehlt.« Vgl. Kap. II, 2.5; Lazarus 1896: 166ff. Ebd.: 54. Ebd. Ebd.: 53f.: Mit einer kontextkritischen Sichtweise geht Remy an die Frage heran, warum in ehelichen Fragen, immer die Frau der leidenschaftlichen Neigung verdächtigt werden: »Warum gerade

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öffentlich zu unterrichten, »aus dem einfachen Grunde, weil sie als solche [Lehrerin] zu oft mit den Vätern der Kinder in Verkehr käme«226 . Folglich sei auf das Schamgefühl der Frau stets große Rücksicht genommen worden, sodass dem Ehemann die Pflicht oblag, das Haus aufgrund geschäftlicher oder privater Dinge zu verlassen, die Frau soll zuhause bleiben.227 Daneben führt Remy eiter an, dass die jüdische Frau das Recht hatte, von ihrem Mann mit viel Rücksichtnahme und Respekt behandelt zu werden, um ihre Scham stets zu schützen.228 Konkret seien in der Mischna Regelungen festgehalten worden, die die Frau im Falle von männlichem Missbrauch und Verführung absicherten.229 Beispielsweise müsse ein Mann, der eine Frau sexuell missbraucht hatte, diese ehelichen und für sie zeitlebens sorgen. Die geschändete Frau könne allerdings eine solche Eheschließung verweigern oder annullieren. Verführe oder misshandle ein Mann eine verheiratete Frau, sollte er wie ein Mörder mit dem Tod bestraft werden.230 Im Grunde seien alle Gesetze im Talmud so formuliert worden, dass die jüdische Frau nie zu Unrecht bloßgestellt werde, sei es psychisch oder physisch. So sei eine öffentliche Strafe stets mit einer »besonderen Fürsorge auf ihr Geschlecht und auf Wahrung ihres Schamgefühls rücksichtsvoll«231 ausgeführt worden. Während ein verurteilter Mann beispielsweise seine öffentliche Strafe völlig entkleidet antreten musste, erhielt eine verurteilte Frau in einem solchem Strafurteil einen lumpenartigen Sack zur Bedeckung ihrer Blöße.232 Diesbezüglich verweist Remy auf eine für sie aktuelle Situationslage im »heil. Russland«, wo »an weiblichen Gefangenen zum Entsetzen der übrigen Menschheit« Züchtigungen vorgenommen wurden, die »bei den alten Juden unerhört gewesen«233 seien. Selbst die aus Remys Sicht seltsam anmutenden Regelungen bezüglich der ›Unreinheit‹ (nidda) einer Frau während der Menstruation und nach der Schwangerschaft, werden von ihr als psychologisch helfende Normen, die ebenfalls die Reinheit der jüdischen Frau schützen sollen, ausgelegt.234 So sei es nach alttestamentlichem und

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der[sic!] Frauen? Möchte man fragen, wenn man vergisst, dass diese, wie alle Gesetze von Männern verfasst sind, und bekanntlich die Selbsterkenntniss eine seltene Tugend ist.« Ebd.: 54. Lazarus 1896: 56: »Auch auf das grössere Schamgefühl des Weibes wird Rücksicht genommen: Der Mann bewegt sich frei von Haus zu Haus. Das Weib aber bleibt daheim und schämt sich.« Ebd.: 59f. Ebd.: 45. Ebd.: »Die Fälle der Verführung eines Mädchens sind ebenfalls genau vorgesehen und werden je nach ihrer Schwere streng bestraft. Der Missbrauch der Gewalt des Mannes dem Mädchen gegenüber wird, ausser Anderem noch, nur durch die Schliessung der Ehe gesühnt, die – im Gegensatz zu den gewöhnlichen Fällen freier Entschliessung – unauflöslich ist. Der Schuldige war lebenslänglich an das Opfer seiner Verführung gebunden, doch sie konnte die Ehe mit ihm ablehnen.« Ebd.: 47. Ebd.: 47f. Ebd.: »Selbst bei Todesstrafen waltet die Achtung vor der Weiblichkeit. Der Mann geht nackt zum Tode, das Weib bleibt bekleidet und erhält einen Strick um den Leib, um – falls wie bei der Steinigung die Kleider zerreissen – die Gewänder damit zusammenhalten zu können.« Lazarus 1896: 191: »Aus demselben Grunde, der die Wallfahrt der Frauen verbietet, […] glaube ich, sind auch all die seltsamen Vorschriften wegen angebliche ›Unreinheit‹ entstanden. Ich meine, die alten Lehrer haben sich hierin weniger als vorurteilsvolle Orientalen denn vielmehr als aufgeklärte Männer gezeigt. Sie wussten recht gut: die Masse musste oft durch Aberglauben und Furcht gebändigt werden. Das unwissende und unruhige Mannesvolk damaliger Zeit musste in Zaum

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rabbinischem Recht streng verboten, mit einer ›unreinen‹ Frau zu schlafen.235 Beim Einsetzen der Menstruation müsse die Frau sich folglich »in eine strenge Abgeschlossenheit« geben, die erst Ende, wenn nach der Menstruation nochmals sieben ›reine‹ Tage vergangen seien. Am Ende müsse die noch unreine Frau, um ihre völlige körperliche Reinheit wieder zu erlangen, ein Ritualbad in der mikwa (Tauchbecken) nehmen. Obwohl selbst für Remy die jüdischen Reinheitsvorschriften bezüglich der Menstruation und Schwangerschaft einen gewissen peinlichen und mystisch-irrationalen Kern beinhalten, sieht sie darin eine einzigartige Möglichkeit für die ›unreine‹ Frau sich in diesen Phasen in die Isoliertheit zurückzuziehen zu können. Diese mindestens einwöchige Abgeschiedenheit diene folglich der Frau als Erholung, in der sie in völliger »Abgeschlossenheit eine Ruhe und körperliche Untätigkeit [genießen könne], die ihr wohl tat«236 .

2.2.3 Die religiöse Jüdin Ausgehend vom Verhalten des Moses in Ex 34,31f., der die Gesetzestafeln zunächst nur Aaron und den Obersten vorlas, sei diese erste männliche Auslegung der Worte Gottes als normgebend gedeutet worden. Erst danach seien allen anderen Israeliten, d.h. den Frauen und Kindern, die Gebote Gottes vorgetragen worden.237 Folglich seien die Frauen auch im rabbinischen Judentum vom Thora- und Hebräischstudium ausgeschlossen geblieben, womit die geistige Führungskraft völlig den Männern zugesprochen wurde. Denn die Frau in Gelehrsamkeit zu unterweisen, gleiche nach rabbinischer Auslegung einer Zuchtlosigkeit, weshalb Frauen, die innerhalb religionsgesetzlicher Diskussionen mitreden wollten, zurückgewiesen wurden.238 Eine jüdische Frau müsse allerdings nach Remy die entsprechende talmudische Auslegung folgendermaßen verstehen: »Als eine Befreiung der Frauen von Pflichten, die sie aus ihrer Häuslichkeit zerstreuen und anstrengen würden. Hat doch die Frau innerhalb der Häuslichkeit so viele und hohe Pflich-

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und Zügel gehalten werden. Dazu diente der ganze Aufwand theils mystischer theils peinlicher Vorschriften, welche die beabsichtigte und nothwendige religiöse Furcht hervorbrachten.« Vgl. Lev 18,19: »Du sollst nicht zu einer Frau gehen, solange sie ihre Tage hat, um in ihrer Unreinheit mit ihr Umgang zu haben.« Oder auch Lev 20,18: Wenn ein Mann bei einer Frau liegt zur Zeit ihrer Tage und mit ihr Umgang hat und so den Brunnen ihres Blutes aufdeckt und sie den Brunnen ihres Blutes aufdeckt, so sollen beide aus ihrem Volk ausgerottet werden.« Siehe dazu Homolka 2009: 102f.: »Die Spezifizierung dieses Verbotes ist eines der kompliziertesten Themen des rabbinischen Rechts. Mischna und Talmud widmen ihm einen ganzen Traktat (Nämlich den Traktat Nidda).« Remy legt die Auslegung des Traktates nidda wie folgt aus. Lazarus 1896: 191: »Wenn das, sonst durch Müh und Arbeit mannigfach geplagte Weib, noch geplagter sobald bereits etliche Sprösslinge an ihrem Rocke hingen, leidend war in den ihrem Geschlecht eigenthümlichen Zuständen, dann begab sie sich in eine strenge Abgeschlossenheit; […].« Vgl. ebd.: 189. Siehe Ex 34,31f.: »Da rief Mose und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihnen geredet hatte auf dem Berge Sinai.« Lazarus 1896: 189: »Im Talmud werden die Frauen – wohl zum Teil auch, weil den Waisen und Rabbinern das Beispiel der zwar unterrichteten aber auch frechen und sittenlose Hetären in Griechenland abschreckend vor Augen stand. – von der eigentlichen Bildung, dem strengen, schulgemässen Studium ausgeschlossen. Unterricht in der Wissenschaft erscheint ihnen wie ein Unterricht in der Koketterie. Vielwissen erschien ihnen (und manchen sehr jungen oder sehr alten Herrn Doctrinairn noch heute!) als eine Degradation ihrer Weiblichkeit.«

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ten zu erfüllen, dass etwas mehr oder weniger Schulgelehrsamkeit dagegen weniger in Betracht kommt.«239 Entsprechend Remys moderner Auslegung des talmudischen Eherechts (s.Kap. 2.1.1) sei die jüdische Frau aufgrund der Rücksichtnahme ihrer Verpflichtungen als Mutter, Gattin und Hausfrau von vielen religiösen Pflichten, die allerdings für den jüdischen Mann verpflichtend seien, befreit. ›Befreit‹, nicht ausgeschlossen, wie es Remy bewusst betont. Denn der Frau sei als nächste und höchste Aufgabe gestellt, Mutter zu sein.240 Befreit sei die Frau beispielsweise vom dreimal-täglichen Pflichtgebet, vom Anlegen der Tefillin (Gebetsriemen) am Morgen und von dem regelmäßigen Pflichtbesuch der Synagoge. Falls die Frauen die Synagoge besuchten, konnten sie sich, wie in der muslimischen Tradition, innerhalb des separaten Frauenbereiches aufhalten, damit sich die Männer nicht von ihrem Anblick ablenken ließen. Von den religiösen Ordnungen, von denen das weibliche Geschlecht ferner ›befreit‹ sei, gehöre auch die Ehre in der Synagoge zur Lesung aus der Thora aufgerufen zu werden. Das jüdische Gesetz und die religiöse Praxis begünstigen, wie Remy betont, die Rolle der Hausfrau und Mutter wesentlich, weshalb die religiösen Pflichten der Frau begrenzt seien. Die religiösen Pflichten der jüdischen Frau seien hauptsächlich an der häuslich-religiösen Anwendung orientiert, womit das Einhalten der jüdischen Speisegesetze, sexuellen Reinheitsgebote oder jüdischer Gebete und häuslicher Rituale gemeint sei. »Gerade indem die Frauen von den meisten rein ceremonialen Vorschriften entlastet waren, blieb ihnen die Freiheit ihre Zeit und ihren Einfluss auf Ausbildung des innerlichen religiösen Lebens anzuwenden.«241 Darunter verstand Remy ein religionstreues (Familien-)Leben, in dem die jüdische Mutter vor allem eine sittliche und gottesfürchtige Erziehung ihrer Kinder anstrebte. Dabei sei »das ganze Dasein im Hause«242 durchflochten mit religiösen Übungen. Aus den bereits genannten Gründen der Schamhaftigkeit und der Gesundheitspflege sei der jüdischen Frau auch »die Teilnahme an den Wallfahrten nach Jerusalem u.s.w. untersagt«243 . Zwar sei die Frau von den religiösen Zeremonien in der Synagoge sowie von der öffentlichen Lehre, d.h. dem Studium der religiösen Wissenschaft, ausgeschlossen worden, aber nicht von der Religionsunterweisung, die nach Dtn 31,12 ausdrücklich auch auf die Frauen ausgedehnt sei.244 Remy verweist darauf, dass nach Esra auch Frauen an der Vorlesung aus der Thora und »besonders an allen frohen und freudigen religiösen Ereig-

239 Ebd.: 189f.: »Weil ferner das Judenthum vorzugsweise eine Religion der That ist und weniger des Dogma’s und der Gefühlsschwärmerei – wurden die Frauen auch in Bezug auf die Ausübung von Religionsgebräuchen (kirchlichen Functionen) freier gestellt, ja, geradezu zurückgewiesen. Gewiss nicht aus Missachtung des Weibes – wie mancher allzu eifriger Vertheidiger des weiblichen Geschlechts voll überflüssiger Entrüstung behauptet, – sondern aus Hochachtung des Weibes, Bibel und Talmud meinen: das Haus ist der eigentliche Tempel der Frau, die Erziehung der Kinder ihr Gottesdienst, und die Familie ihre Gemeinde.« 240 Ebd.: 190–192. »Ward so die Frau von religiösen Pflichten, Ceremonien in der Synagoge, u.s.w. befreit, so motivirt der Talmud dies ausdrücklich, indem er sagt: ›damit die Frau die Kinder erziehe‹«. 241 Ebd.: 192. 242 Ebd. 243 Lazarus 1896: 190. 244 Dtn 31,12: »Versammle das Volk, die Männer, Frauen und Kinder und den Fremdling, der in deinen Städten lebt, damit sie es hören und lernen und den HERRN, euren Gott, fürchten und alle Worte dieses Gesetzes halten und tun.« Siehe: Lazarus 1896: 190.

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nissen, wie am Essen des Lammes am Passahfest«245 teilnehmen können. Des Weiteren hebt Remy zwei biblische Frauen als beispielhafte Gelehrte hervor, die aus der weiblichen Isoliertheit vortraten: Mirijam, die »als Prophetin an der Spitze der Weiber jubelnd die Stimme erhebt«246 und Deborah, die als Richterin erstmalig in der Antike politisch tätig gewesen sei. Sie zeigt damit, dass auch jüdische Frauen in öffentlichen Angelegenheiten tätig waren, und wie die Richterin Deborah und die Prophetin Huldah, ihr Wissen und Weisheit als einflussreiche Vermittlerinnen nutzten.247 Auch sei nach Angaben im Talmud eine Frau genannt, die ähnlich den emanzipierten Frauen des 19. Jahrhunderts den Ruf hoher Gelehrsamkeit innegehabt habe. Es handle sich um Beruriah, die Frau des Rabbi Meir und Tochter des gelehrten Märtyrers Rabbi Chanina ben Teradion (2. Jh.), die durch ihre Gelehrsamkeit und Auslegung der hebräischen Bibel hervorstach, sodass »sie ihrerseits von den Gelehrten oft um Rath und Urtheil befragt«248 worden sei. Von ihr sei unter anderem berichtet worden, dass sie, als sie ihren Mann hörte, wie er zwei boshafte Nachbarn mit den Worten des Psalms 104,35 verfluchte, ihn folgendermaßen zurechtwies; es stehe im Psalm 104,35 zwar geschrieben, »die Sünder sollen ein Ende nehmen auf Erden und die Gottlosen nicht mehr sein«, aber David habe damit gemeint, »nicht die Sünder, sondern die Sünde möge Gott von der Erde vertilgen, dann werden jene auch verschwinden«249 (bT Ber 1). Damit werde nicht der Untergang der Bösen gewünscht, sondern der Untergang des Bösen schlechthin, womit es keine boshaften Menschen, wie beispielsweise Verbrecher, mehr gebe. Dies sei eine Auslegung, worin sich ein gebildeter Geist und eine humane und weltgewandte Denkweise offenbaren, die keiner Magd entspreche.250 Zwar dürfe die jüdische Frau weiterhin auch kein Amt im Gemeindevorstand annehmen, aber sie erhielt die Möglichkeit in der Gemeinde wohltätige Aufgaben ausführen zu können, was als eine ehrenvolle Aufgabe der jüdischen Frau angesehen wird. Aus diesem Grund lege die jüdische Frau neben ihren häuslichen Pflichten auch viel Wert darauf, sich für das allgemeine Wohl nutzbar zu machen. Entsprechend dem mosaischen Ausspruch »Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen in seiner Sache«251 , werde den jüdischen Gemeindemitgliedern angeordnet, um der Gerechtigkeit willen stets die Armen in der Gemeinde zu unterstützen. Dieser Wohltätigkeitssinn ist nach Remy gerade ein wesentlicher Charakterzug der jüdischen Frau. Diesbezüglich zieht sie Moritz Lazarus’ Aussage aus seinem Beitrag Aus einer jüdischen Gemeinde vor fünfzig Jahren her-

245 Ebd. Vgl. Neh 8,2f. und 11f. 246 Ebd.: 76–78. 247 Ebd.: 77f.; 95. The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch, Arc.Nr. 01 135: Als am 4. Okt. 1893 in der Lehrerinnensitzung ein Vortrag von W. Löwenthal über die Stellung der Frau im Erziehungswesen gehalten wurde, beteiligte sich Remy, die sich den Vortrag anhörte, an der anschließenden Diskussion und verwies darauf, dass bereits bei den Semiten auch die Töchter zur Thoralehre motiviert wurden: »Jeder Vater ist verpflichtet, so Ben Asai, seine Tochter Thora zu lehren, damit sie etwas von den Gesetzen wisse, die zu ihrem Gunsten sind.« 248 Lazarus 1896: 135. 249 Ebd. 250 Ebd.: 135–137. 251 Vgl. Ex 23,6.

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an, betreffend die weibliche Gastfreundschaft im Judentum.252 Beispielsweise nehmen jüdische Familien einmal im Jahr an bestimmten Tagen durchreisende Fremde, Sänger der Synagoge oder Talmudjünger auf und verpflegen sie.253 Auch werden unter anderem mittellose Studenten finanziell unterstützt, damit sie sich während ihres Studiums Essen, Kleidung und Miete leisten konnten. Des Weiteren engagieren sich jüdische Frauen für verschiedene Frauenvereine, wie im 1843 in Münster gegründeten Israelitischen Frauenverein, der sich unter anderem für die weibliche Krankenpflege, Pflege der Wöchnerinnen und Unterstützung der Hilflosen und Armen einsetze.254 Unterstützt und finanziert werden die Frauenvereine von großzügigen Spenden und von ehrenamtlichen Tätigkeiten zumeist vonseiten jüdischer Frauen.255 Jedoch halfen sie nicht nur in jüdischen Vereinen und Institutionen mit, sondern beteiligten sich auch bei »interkonfessionellen [sic!] gemeinnützigen Anstalten«256 , an denen Jüdinnen mit christlichen Frauen zusammen organisierten und arbeiteten. Remy weist in ihrem Werk daraufhin, dass bei den Juden die Gründung derartiger Vereine, speziell unter den Frauen, bereits seit vielen Jahrhunderten gepflegt und ausgebaut worden sei, während bei den christlichen Institutionen diese erst im 19. Jahrhundert entstanden seien.257 Selbst in den kleinen jüdischen Gemeinden hätten sich die jüdischen Frauen stets für Krankenbesuch, Leichenbestattung, Unterstützung des Studiums und die Waisenerziehung eingesetzt. Anhand zahlreicher Beispiele innerhalb der Bibel und des Talmuds werde der zeitgenössischen Jüdin empfohlen, ihren familiären Alltag mit der gemeinnützigen Arbeit zu verbinden, was nach Remy auch den meisten jüdischen Frauen gelang, und das alles in religionsübergreifender Menschenfreundlichkeit.258 Die jüdische Frau habe sich folglich im Familiensinn, praktischer Kulturarbeit und Religionstreue bewährt, was für den jüdischen Frauencharakter »offenkundig«259 sei. Ihre Religionstreue wird von Remy vor allem im 7. Kapitel Das finstere Mittelalter beschrieben, in dem sie jüdische Frauen vorstellt, die sich im Zeitalter der Verfolgungen gegen ihre Peiniger stellten, gerüstet mit ihrer Glaubenstreue. Sie zeigt anhand einiger Beispiele auf, wie sich jüdische Mütter lieber selbst töteten, als sich durch die Taufe zum Christentum zu bekennen. So »stürzten sich Tausende mit ihren Kindern mit dem alten heiligen Ruf: ›Gott Israels ist einzig!‹ in die Flammen oder in die

252 Lazarus 1887: 279–309. 253 Lazarus 1896: 293f. 254 Vgl. Ebd.: 38; 161. Auch Remy erhielt nach dem Tod ihres zweiten Mannes Moritz Lazarus ebenfalls die Hilfe vonseiten jüdischer Gemeinden (vgl. Kap. I, 3.3). 255 Vgl. auch Kaplan 1997: 260. 256 Lazarus 1896: 301: »Auch hier bewiesen sie sich als die freigiebigsten Spenderinnen.« 257 Vgl. ebd.: 304f.: »Während also die weite Verbreitung der Liebesthätigkeit für die nichtjüdische gebildete Gesellschaft Europas eine ihrer schönsten neuen Errungenschaften bildet, – ist sie für die Juden eine alte Erbschaft.« 258 Remy 1892b: 165. Vgl. dazu Kuhn 2002: 57: »Das außergewöhnliche Engagement jüdischer Frauen in Wohltätigkeitsorganisationen und Fürsorgevereinen war in der jüdischen Sozialethik begründet und kann gleichzeitig, wie der Aktivismus katholischer und protestantischer Frauen, als Bemühen gesehen werden, sich eigene Einflussphären und Machtstrukturen in einer zunehmend männerdominierten Welt zu schaffen.« 259 Lazarus 1896: 165.

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Fluten, [um] den Schreckenstod, dem Folterleben unter ihren Peinigern«260 zu entrinnen. Als Beispiel aus neuerer Zeit führt Remy die Jüdinnen Esther Cohen (16. Jh.) und Maria Nunnes Pereyra (16. Jh.) auf, die sich für den Tod und gegen die Taufe entschieden.261 Solche jüdische Frauen bezeichnet Remy als religionstreue ›Heldinnen‹, die unter anderem die Dreieinigkeit Gottes, den Bilderkult, die Heiligenanbetung und die Vergötterung Marias nicht mit ihrem jüdischen Glaubensverständnis, »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir«262 , vereinbaren konnten.

2.3 Charakterisierung der deutschen Jüdin Ende des 19. Jahrhunderts 2.3.1 Die emanzipierte Jüdin des 19. Jahrhunderts »Und nun – die heutige Jüdin. Welche Stellung nimmt sie ein im Vergleich zu den vorangegangenen und dahingegangenen Glaubensgenossinnen? Indem ich mir diese Frage stelle, – fühle ich zum ersten Mal bei dieser Arbeit eine Beklommenheit, die ich sehr gut zu deuten weiß.«263 Nahida Remy spricht in ihrem Werk unter anderem mit den Worten des pädagogischen Schriftstellers Bogumil Goltz (1801–1870) offen und entschieden ihre Kritik an der Jüdin der Gegenwart aus, »die gewisse Kreise unserer heutigen jüdischen Frauenwelt tief treffen dürften und ihnen zu Herzen gehen sollten«264 . »An keinem menschlichen Geschöpf« zitiert Remy, habe sich die Wirkungen der Zeit deutlicher bemerkbar gemacht, als an den jüdischen Frauen, »wenn man die heutigen mit ihren Großmüttern vergleicht«265 . Dieser Vergleich fällt allerdings nach Remys Darstellung recht kritisch aus. Auf der einen Seite schildert sie die jüdischen Frauen, die fest und treu an der überlieferten Religion festhalten, die den Sabbat feiern und von denen der Talmud sagt: »Das Haus ist der eigentliche Tempel der Frau, die Erziehung der Kinder ihr Gottesdienst, und die Familie ihre Gemeinde.«266 Diese Jüdinnen gebe es auch im 19. Jahrhundert und werden von Remy ebenso geschätzt wie die jüdischen Frauen der Vorzeit (vgl. Kap. II, 2.1 und 2.2). Auf der anderen Seite aber gebe es die jüdischen Frauen, die von der modernen Emanzipation überwältigt, sich in die neu gewonnene Freiheit stürzten.267 Diesen Frauen sei dabei allerdings »der Stab der Religion aus den Händen entwichen«, weshalb sie nun haltlos seien und »das Gespenst des früher Unerlaubten wirft 260 Ebd.: S. 110. Siehe auch: ebd.: 116: Im 11. Jh. haben sich geschätzt hunderttausend Frauen mit ihren Kindern das Leben genommen, »um nicht dem Gotte Israels, dem Einzig-Einen ungetreu zu werden«. 261 Vgl. ebd.: 116f. 262 Ebd.: 124f.: »Und alle die an heidnische Götzendienerei erinnernden Zuthaten und Gebräuche.« 263 Ebd.: 307. 264 Zitiert in: N.N. 1892a: 484. 265 Lazarus 1896: 312: »Die Zeit arbeitet an ihnen sehr merklich und vielleicht zeigen sich an keinem menschlichen Geschöpf ihre Wirkungen merklicher als an den jüdischen Frauen, – wenn man die heutigen mit ihren Grossmüttern vergleicht.« 266 Lazarus 1896: 190. Vgl. Kap. II, 2.2.3. 267 Ebd.: 315: »Dumm und grausam haben Nichtjuden gegen ihre jüdischen Mitmenschen Jahrtausende lang gewüthet, – fast plötzlich, innerhalb einiger Jahrzehnte ist den Letzteren die ›Emancipation‹ geworden. Sie sind von einem Extrem zum Anderen geschleudert. Die Zeiten der Aufklärung haben mildere Sitten eingeführt: Der Jude wird nicht mehr verbrannt; er darf athmen und arbeiten wie und wo er will, – wenigstens in Nichtrussland.«

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noch immer seinen Schatten. Um ihn nicht zu sehen, wenden sie den Blick vom Alten dem Neuen zu, ergreifen es, thun als sei es ihnen längst gewohnt und rufen überlaut: Auch wir sind mündig! Auch wir sind gleichberechtigt!«268 Durch das rechtliche Gleichstellungsgesetz von 1871 fühlten sich auch die Juden als Bürger ihres Staates, womit eine zunehmende Bereitschaft zur Anpassung erkennbar war. Die aufkommenden Vorteile in Bildung und bürgerlichen Freiheiten, die die Juden durch die Gleichstellung erhielten, führten jedoch nach Remys Darstellung vermehrt zu moralisch-sittlichen und religiösen Nachteilen bei den jüdischen Gläubigen.269 Es gab nach Remy Juden, die trotz erlangter Emanzipation bestrebt waren, diese mit ihrer uneingeschränkten Treue zur jüdischen Tradition zu vereinbaren, um beiden Bereichen gerecht zu werden. Aber daneben gab es auch eine Vielzahl von Juden, die nach Remy eine gänzliche Assimilation an die deutsche Umwelt erstrebten und dafür eine vollständige Ablösung ihrer traditionellen und religiösen Verpflichtungen akzeptierten. Dabei handele es sich bei einer solchen Assimilation überwiegend nicht nur um eine äußerliche Nachahmung, sondern um die Bejahung der christlichen Gesellschaft und Kultur, wie Remy vehement kritisiert (s.Kap. II, 2.3.4). Allerdings misst sie dabei dem geschichtlichen Verlauf der Emanzipation eine grundlegende Schuld bei. Denn die modernen Jüdinnen, so rechtfertigt sie, seien die Kinder der Neuzeit, die durch ihre neu gewonnene Freiheit allem Modernen zugetan seien, ob gut oder schlecht.270 »Ob aber ihre Züge, mit der gewonnenen Sicherheit der Existenz nun nicht zu sehr die etwas entgegengesetzten Gefühle einer gewissen Selbstgefälligkeit und Unbekümmertheit zu Schau tragen?«271 Dies sei eine Frage, die sie »an die besser gestellten jüdischen Frauen moderner Kulturstaaten«272 richte. Sie selbst sei aber davon überzeugt, dass jene irregeleiteten Frauen, »trotz alledem noch einen guten Rest jenes glaubenstreuen Ehrgefühls besitzen und jener Hingebung, welche ihre Vorfahren beseelte«273 , was Remy durch öffentliche Kritik und Aufklärung in ihnen aufrütteln und entfachen möchte.

2.3.2 Die jüdische Tradition »Die Frauen sind in ihrem Hause nicht einfache Bürgerfrauen mehr, sondern bequeme Damen. […] Mit der Uebertretung der Form ist auch das religiöse Gefühl bei den meisten Frauen geschwunden, sie haben sich für das Aufgegebene nichts Neues geschaffen; Hohlheit und Gedankenlosigkeit über das Heiligste hat Platz gegriffen, wo einst der Glaubensmuth gewohnt und die Frauen zu Priesterinnen des Hauses, zu einfachen,

268 Ebd.: 315. 269 Moritz Lazarus vermerkt in seinem Vorwort zum Werk Das jüdische Weib, dass die genannten Tendenzen mehr bei den jüdischen Frauen sichtbar seien als bei den Männern. Vgl. ebd.: VI. 270 Ebd.: 312- 315, hier 315: »Angesichts dieses Umschlags scheint der jüdische Charakter die langgewohnte Fassung zu verlieren. Schmerz und Verfolgung war er gewöhnt, – Glück und Gunst ist er nicht gewöhnt. Die neue Freiheit berauscht ihn, die neue Helle blendet ihn.« 271 Ebd.: 144f. 272 Ebd. 273 Lazarus 1896: 317.

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kräftigen, strebsamen Gehilfinnen ihrer Männer, zu dem leuchtenden Stern an dem Himmel ihrer Kinder zu werden befähigte.«274 Der oben zitierte Wesenszug der modernen Jüdinnen resultiere aus der aufkommenden modernen Emanzipation, der nach Nahida Remy die Bedeutung für die Tradition fehle. Sie ist davon überzeugt, dass eine jüdische Akkulturation zur modernen Gesellschaft kompatibel mit den jüdischen Traditionen sei, vor allem, wenn man die neu entstandenen modernen Richtungen des Judentums mit ihren reformierten Auslegungen miteinbezöge.275 Denn offen für die Moderne und die europäische Kultur, setzte sich vor allem das neuentstandene Reformjudentum dafür ein, dass die Rollenzuweisung der Frau innerhalb des jüdischen Rechts entsprechend der Idee von der Gleichberechtigung von Frau und Mann neu bewertet und ausgelegt wird. So befürwortete das Reformjudentum eine gleichgestellte Geschlechterbeziehung, sodass beispielsweise auch Frauen immer mehr dieselben religiösen Rechte und die entsprechenden religiösen Pflichten wie die Männer erhielten, sowohl zu Hause als auch in der Synagoge.276 Remy nimmt diese Neuerungen auf und führt diesbezüglich in ihrem Werk an, dass in Deutschland zwar die Frau noch keine »Rednerbühne oder die Kanzel zu besteigen«277 vermochte, aber in Amerika bereits im Herbst 1890 zum ersten Mal eine Jüdin, Rachel (Ray) Frank (1861–1948), in jüdischen Synagogen zu predigen begann. Trotz der reformierenden Ansichten und Neuerungen im jüdischen Recht, orientiert an der aufgeklärten, modernen europäischen Kultur, zeige, so Remy sich die Jüdin »berauscht«278 von 274 Zitat von B. Goltz aus Der Mensch und die Leute. Zur Charakteristik der barbarischen und der civilisirten Nationen (Berlin 1858): 447. Zitiert in: ebd.: 313. Remy zitiert in ihrem Buch den ostpreußischen Schriftsteller und Pädagogen Bogumil Goltz (1801 1870), der in seinem Buch eine Gegenwartskritik an jüdische Frauen richtet. Affirmativ nutzt sie Goltz’ Aussagen, die er als »Jüdinnen von einer Jüdin geschildert« betitelt, um ihre Meinung zu festigen. Siehe Goltz 1858: 444–451. 275 Im 19. Jh. entstehen die unterschiedlichen jüdischen Richtungen, die den normativen Schriften hebräische Bibel und Talmud unterschiedlichen Stellenwert zuweisen. Es gab damals drei Richtungen: Orthodoxes Judentum, Reformjudentum und Konservatives Judentum. 276 Die religiöse Emanzipation der jüdischen Frau war ein längst diskutiertes Thema in der jüdischen Reformbewegung. 1830 hatte der Gründer der Reformbewegung, Abraham Geiger, die Gleichberechtigung der jüdischen Frauen in religiöser Hinsicht gefordert. 1846 wurde bei einer Rabbinerkonferenz in Breslau ein Papier mit sechs Punkten angenommen, das umfassend die Gleichstellung auf allen religionsgesetzlichen Gebieten begründete. 1855 erschien die Erstauflage der »Stunden der Andacht«, ein von Fanny Neuda verfasstes jüdisches Gebetbuch für jüdische Frauen, das bis in die 20er Jahre des 20. Jh.s 28 Auflagen erreichte. Diese und andere Grundlagen prägten die erste jüdische Frauenbewegung, aus der Bertha Pappenheim als Gründerin des Jüdischen Frauenbundes (1904) und später Regina Jonas, die erste Rabbiner der Welt (ordiniert 1935) hervorgingen. 277 Lazarus 1896: 299: »Da hat am jüdischen Versöhnungstage in Spokane Falls U.S. eine Miss Ray Frank zum ersten Male die Kanzel betreten und gepredigt. Der Gottesdienst wurde nach dem Ritus des Tempels Ahawoth Chesed in New-York abgehalten. Die feierliche Beredsamkeit der Predigerin hatte den Erfolg, dass nunmehr eine ständige Congregation gebildet wurde.« Zu dem Zeitpunkt gab es in Deutschland noch keine evangelischen Pfarrerinnen oder Rabbinerinnen, aber Ray Franks bedeutende religiöse Rolle führte zu innerjüdischen Debatten, ob Frauen Rabbinerinnen werden können, wodurch heute drei der vier religiösen jüdischen Gruppierungen (das Orthodoxe Judentum ausgeschlossen) Rabbinerinnen ordinieren. Vgl. dazu Hartman und Nadell 1998; Chaves 1999. 278 Vgl. Lazarus 1896: 315.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

der neuen Gleichberechtigung und Freiheit, wodurch sie pietätlos ihre jüdische Religion und Tradition vergaß. Nach Remy sei es gerade den jüdischen Frauen leichter gefallen, sich der deutschen Kultur und Tradition zu assimilieren, als ihren Männern. Denn diese besäßen durch ihren in der Jugend verpflichtenden Hebräisch- und Thoraunterricht ein jüdisches Grundwissen, was den Mädchen durch die geringen Kenntnisse des religiösen Verständnisses fehle.279 Während die jüdische Frau eine treue Ehefrau, eine liebevolle Mutter und sittsame Hausfrau gewesen sei, sei sie im 19. Jahrhundert nicht mehr so tugendhaft wie früher.280 Nach Remy lebe die moderne Frau, und damit schließt sie jegliche Konfession und Kultur mit ein, mehr für die Gesellschaft als für die Familie.281 Folglich übt sie starke Kritik an den modernen Müttern. Während Remy bei den biblischen Müttern, wie beispielsweise bei Rahel (Gen 30) und Hanna (1Sam 2,19), die bedingungslose Mutterliebe und aufopfernde Kindererziehung hervorhebt,282 sei für sie unter anderem das Abgeben der eigenen Kinder an fremde Tagesmütter völlig unverständlich. Dies sei für sie ein Verhalten von entarteten Müttern, die eine Untugend aufwiesen, die vor allem die jüdischen Mütter der Gegenwart von den zeitgenössischen Nichtjüdinnen übernommen hätten.283 Der Familiensinn sei das, was das jüdische Volk ausmache, mit seinen familiären Pflichterfüllungen und mütterlichen Zärtlichkeit, die sie in ihrem Werk eigens im 11. Kapitel Die Mutter betont.284 Remy wendet sich darin an die modernen jüdischen Mütter, mit dem Aufruf ihr unjüdisches Verhalten zu unterbinden: »Jüdische Mutter, wenn Du diesen Namen (der ein Ehrentitel war bisher), verdienen willst, dann geh

279 Vgl. Remy 1892b: 150f.: Da der »Unterricht von jeher dem jüdischen Volk als höchste Pflicht« galt, wurden unabhängig davon und von Anbeginn auch jüdischen Mädchen häufig mit ihren Brüdern innerhalb der Familie vom Vater mit unterrichtet, was den geringen Prozentsatz der jüdischen Analphabeten im 19. Jh. erkläre. Die jüdischen Mädchen erhielten bis Mitte des 19. Jh.s noch eine geringe religiöse Unterweisung, die aus religiösen Erzählungen sowie Morallehren und Lesen sowie Schreiben bestand. Vgl. dazu auch Kaplan 1997: 89. Nach Remys statistischen Angaben konnten 1875 15,1 % der katholischen Männer und 21,8 % der katholischen Frauen und 6,6 % der protestantischen Männer und 11,4 % der protestantischen Frauen weder schreiben noch lesen. Bei den Juden jedoch konnten 1875 nur 3,9 % der Männer und 5,9 % Frauen weder lesen und schreiben. Statistische Notiz in: Lazarus 1896: 151. 280 Vgl ebd.: 316. 281 Vgl. ebd.: 314; 317. 282 Ebd.: 196f.: »Rahel wird die ›mütterlichste aller Frauen‹ genannt, nicht der Zahl der Kinder wegen, da sie deren nur zwei hatte, sondern der Fülle ihrer Liebe wegen. […] Eine jüdische Mutter verzichtet für sich selbst auf das Nothwendigste, um nur ihren Kindern etwas zukommen zu lassen; wenn sie es sich auch des respectes wegen, der ihr gebührt, nicht merken lassen wird: sie will lieber darben, als dass ihrem Kinde zu seinem lieblichen oder geistigen Wohl etwas abgeht.« Siehe auch ebd.: 185: Die Zärtlichkeit der Mutter kenne nur eine Grenze: »die Glaubenstreue.« 283 Ebd.: 198: »Freilich weiss man, dass es viele [nichtjüdische] Mütter gibt, die sich so früh als möglich ihrer Kinder entledigen, wenn sie wohlhabend sind, und, wenn sie arm sind, dieselben in Fabriken schicken, oder auf die Strasse zum Bettelverkauf […].« Oder ebd.: 201: »Eine Untugend haben sie [die jüdischen Mütter] aber in neuerer Zeit von den Nichtjüdinnen angenommen, sie überlassen ihre Kinder zu sehr bezahlten Personen, – stundenlang! – Die Spielplätze im Thiergarten u.s.w. sind mit Kindern überfüllt, – aber wo sind die Mütter?« 284 Vgl. Lazarus 1896: 185. Zunächst hatte Remy versäumt, ein Kap. über die jüdische Mutter zu schreiben, weshalb Moritz Lazarus sie nochmals explizit sie dazu aufforderte. Dies sei die einzige inhaltliche Kritik an ihrer Arbeit vonseiten Lazarus’ gewesen. Vgl. Lazarus 1898b: 204f.

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Du selbst mit Deinem Kinde und spiele mit ihm. Dein Mann wird Nichts dagegen haben, und die Schneiderin kann ein anderes Mal kommen.«285 Damit kritisiert Remy das soziale bürgerliche Leben der modernen Jüdinnen, die ihre freie Zeit vor allem für den äußeren Schein, d.h. für das luxuriöse Schmücken der Wohnung sowie die Anfertigung von bürgerlich-angemessener Kleidung nutzten, wodurch sie ihre Kinder vernachlässigten. Die negative Konsequenz einer solchen Erziehung sei aus ihrer Sicht das auffällige und freche Verhalten der modernen Kinder.286 »Man hört oft die Klage, dass das Kind der Religionslehre so wenig Interesse entgegenbringe. Woher soll dasselbe kommen? Empfindet doch das Kind die Religion nur als eine Schullast mehr, von einem fremden Manne zu allen übrigen Aufgaben ihm aufgebürdet, statt dass die Empfänglichkeit dafür in der Familie sanft vorbereitet wurde? Dazu ist die Sabbathfeier da.«287 Aber auch diese altehrwürdigen jüdischen Traditionen, den Sabbat und andere Feiertage demütig zu begehen und mit Liedern und Festgesängen zu begleiten, wird nach Remy ebenfalls immer mehr von den jüdischen Eltern vernachlässigt.288 »Was hindert die Frau die nöthigen Vorbereitungen zu treffen, sich, und das Heim und die Kinder zu schmücken, ihnen in der sinnreichen Zeremonie des Lichteranzündens ein Symbol der Weihe und der Heiterkeit zugleich ins Herz zu pflanzen?«289 Die Erziehung des Kindes zur Pietät und Liebe zur Religion hinge daran und Remy appelliert vehement an die Eltern und vor allem an die Mütter, dass sie diese Tradition, welche die ganze Zukunft des religiösen

285 Lazarus 1896: 202. 286 Ebd.: »Arme Kinder! – Und da wundert man sich, dass sie meist so unkindlich, ja manchmal schon so frech sind!« 287 Ebd.: 319. Vgl. dazu auch das folgende Zitat von B. Goltz mit Anmerkung von Remy (hier in eckigen Klammern gesetzt). »Zu spät gehen ihnen die Augen auf, um das Versäumte nachzuholen. [Nicht einmal eine religiöse Grundlage wird von ihnen oft in die Kinder gelegt]: denn die neue Zeit hat auch an dem alten frommen Judenherzen gerüttelt«, in: ebd.: 313. 288 Ebd.: 317f.: »Die ebenso lieblichen wie ehrwürdigen Gebräuche bei der Sabbathfeier, warum werden sie vernachlässigt, ja ganz verworfen? – Es heißt: weil die Zeit mangelt, die Stimmung fehlt, die Umstände ganz andere geworden sind. Früher, ja, da war’s möglich, aber heute kommt der Mann um acht Uhr erst aus dem Comptoir oder aus dem Geschäft, er ist erschöpft, verdriesslich, die Frau ist auch müde, die Kinder müssen Schularbeiten machen, – wie soll da eine Sabbathfeier begangen werden?« 289 Ebd.: 319.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Gemüts bestimme, wieder in die Erziehung miteinfließen lassen.290 Bedeutsamer noch als für die Eltern sei daher die Erhaltung der Tradition vor allem für das Kind. »Wenn es die Freude auf den kommenden Sabbath mitfühlen lernt, wenn es die geschmückte Mutter in der Vorbereitung zur Feier beobachtet, sie die Lichter anzünden sieht, ihren Segen hört, wenn es dem heimkehrenden Vater entgegeneilt, dieser mit Handauflegen das Kind segnet, […]. Dann ahnt das Kinderherz was Religion ist und wird auch ihre Lehre in der weihevollen Stimmung aufnehmen, ohne die sie eine leere Formalität bleiben, gleichgiltig, wenn nicht unwillig ertragen, vielleicht bald gänzlich abgeschüttelt wird.«291 Neben der Verpflichtung für die Familie und den Haushalt werde es der jüdischen Frau nach talmudischen Regelungen nahegelegt, sich um das Wohl der Bedürftigen in der Gemeinde zu kümmern (s.Kap. II, 2.2.3).292 Nach Remy zeigen sich die Jüdinnen der Gegenwart bezüglich der religiösen Rituale zwar desinteressiert, dafür engagierten sie sich aber beispielhaft für die Wohltätigkeit. »Von dem Augenblick an, wo die Jüdin nicht mehr für das eigene Leben zu zittern brauchte, ging sie daran, sich dem Leben Anderer nutzbar zu machen.«293 Sie betont die jüdische Pflicht für Arme, Studenten und Hilfsbedürftige Geld zu spenden, um diese in ihren Gemeinden zu unterstützen.294 Neben materieller und finanzieller Unterstützung zeichne sich die Jüdin vor allem durch ihre »Sorge um die Kranken«295 als hilfsbereiter und nächstenliebender Mitmensch aus. Remy zeigt auf, dass gerade in Deutschland und England es vor allem die ausgebildete Vereinstätigkeit sei, die den jüdischen Frauen Möglichkeiten biete, ihre »Zeit, Kraft und Liebe in den Dienst der Menschheit zu stellen«296 . So habe sich beispielsweise Fanny Nathan (1803–1877) neben ihrer Pflicht für ihre Familie vor allem auch für die Wohltätigkeit engagiert. Als erste Frau, die »das anbrechende Morgenroth einer befreienden Gleichberech290 Ebd.: 317–319. »Wie viel Zeit er [der Vater] für Konzert- und Theaterbesuche, für Vergnügungslokale jeder Art erübrigt, oder wenn man ihn beim Skat sitzen sieht, wo man kaum weiss wann sie aufhören, – findet sich zu Alledem die Zeit, so findet sie sich auch um einmal in der Woche aus der Niederung des Lebens sich und seine Kinder zu der fröhlichen Feier eines Tages zu erheben, der in vergangenen Zeiten seine Strahlen über die ganze Woche gebreitet hat!« Remy kritisiert an dieser Stelle die Umwandlung des häuslichen Lebens im Verlauf des 19. Jh.s. Die Männer erhielten verstärkt die außerhäuslichen Tätigkeiten zugewiesen, so mussten sie sich um die geschäftlichen Arbeiten und um »die kommunalpolitischen Verpflichtungen, ihre Vereins- und Kasinogeselligkeit« kümmern. Und den Frauen blieb die häuslich-familiäre Sphäre. Vgl. dazu Frevert 1994: 83: »Der ehemals eng mit den innerhäuslichen Strukturen vertraute und verknüpfte »Hausvater« der Vormoderne verabschiedete sich sowohl von seinen hauswirtschaftlichen als auch von seinen Vaterpflichten.« Diese Separierung der männlichen und weiblichen Lebenswelt greift Remy auf und versucht der jüdischen Frau darin einen Platz zu definieren, in dem nicht nur die bürgerlichen Werte sondern auch die jüdische Tradition ausgelebt werden können. 291 Lazarus 1896: 319. 292 Ebd.: 160. Vgl. auch ebd.: 165: »Soweit die Pflicht für ihre Familie voll und ganz erfüllt war und die Umstände ihr noch Zeit und Gelegenheit gönnten, widmete sie sich fremden Interessen und suchte Leidwesen in Wohlergehen umzuwandeln.« 293 Ebd. 294 Ebd.: 247. 295 Ebd.: 296. 296 Ebd.: 299.

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tigung« nutzte, gründete Fanny Nathan 1856 das »Israelitische Waisenhaus für Westfalen und die Rheinlande«297 in Paderborn, was als ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. »Eine reiche Anzahl gemeinnütziger Stiftungen und Anstalten haben der Initiative und Beihilfe jüdischer Frauen Entstehen und Fortbestand zu verdanken, und zwar zum Theil Stiftungen und Anstalten von durchaus konfessionsloser Menschenfreundlichkeit!«298 So entstand vor allem während der Zeit des deutschen Kaiserreichs (1871–1918) eine Vielzahl an säkularen Frauenorganisationen, worin aufgrund gemeinsamer sozialer Wohltätigkeitsarbeit erfolgreich Beziehungen zwischen jüdischen und nicht jüdischen Frauen geschlossen wurden. Sie erhofften sich durch ihr ehrenamtliches Engagement den Antisemitismus der Zeit reduzieren zu können.299 Aus diesem Grund setzten nach Remys Darstellung zahlreiche vermögende Jüdinnen, bedingt durch ihre Religionstreue und Menschenfreundlichkeit, ihr Vermögen sowie ehrenamtliche Zeit in verschiedenen Vereinen »zur Linderung der Armut und jeglichen Elends«300 wohltätig ein. Diesbezüglich verweist sie auf Jahresberichte von wohltätigen jüdischen Institutionen sowohl aus verschiedenen Hauptstädten Europas als auch aus Jerusalem. Bemerkenswert sei dabei, »dass ausser den Asylen für Arbeiterinnen, Kinder, arme Wöchnerinnen, mittellose Durchreisende, den Feierabendhäusern für alte Lehrerinnen, den Dienstmädchenherbergen u.s.w. und abgesehen von allen Krankenhäusern, Ferienstationen für arme kränkliche Schuldkinder nebst Badekuren und unentgeltlichen Erholungsreisen etc. – ein Hauptaugenmerk auf den Unterricht gewendet sei. Da giebt es überall – auch in Palästina – ausser Näh- und Kochschulen für die Mädchen, Ackerbauschulen für beide Geschlechter, desgl. Handfertigkeitskurse, Werkstätten für aller Art Handwerk, Vereine zur Beförderung der Gartenkunst, der Gesundheitspflege, für die Ausbildung tüchtiger Dienstboten, und andere mehr.«301

297 Remy 1892b: 163. Fanny Nathan arbeitete Anfang der 30er Jahre des 19. Jh.s als Erzieherin in Frankfurt. 1832 leitete sie dort das Institut zur Ausbildung jüdischer Mädchen. 1855 gründete sie eine Stiftung und eröffnete 1856 das jüdische Waisenhaus in Paderborn. Sie führte das Waisenhaus ohne staatliche Zuschüsse, lediglich auf einer Basis von Wohltätigkeit und Spendenbereitschaft. Vgl. dazu Naarmann 1988. 298 Lazarus 1896: 165. 299 Vgl. Hyman 2006: 32. Vgl. dazu auch Kaplan 1997: 271. 300 Lazarus 1896: 296. 301 Ebd.: 299f.: Des Weiteren gab es auch Nachweisungsbüreaus, Pfennig- und Vorschusskassen, die »den jungen Leuten helfen [sollen] sich eine Existenz zu gründen, Werkstätten anzulegen, Handwerkszeug anzuschaffen, u.s.w. Daneben finden sich auch Vereine für ›Rettung verwahrloster Mädchen‹, zur ›Aufsicht unmündiger Strafentlassener‹. Natürlich gibt es überall Volksbibliotheken und die mannigfachsten Vorrichtungen zur Verbreitung von Volksbildung und zur Anregung des Selbststudiums. […] Die Listen der zahlenden jüdisch weiblichen Vereinsmitglieder weisen manche erstaunliche Leistung an persönlicher Opferwilligkeit auf. Die Details zu berühren ist meine Sache hier nicht, ich darf aber bekennen, dass ich oft überrascht und gerührt war; wer weiter nichts von dem Charakter der jüdischen Frau erfährt als was er durch gelegentliche Blicke in solche Stoss Jahresberichte entdeckt, wird von der Still und verborgen wirkenden Großherzigkeit erste und nachdenkliche Hochachtung empfinden.« Vgl. dazu auch Kaplan 1997: 254–258.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Beispielhaft benennt Remy unter anderem die Amerikanerin Rebekka Gratz (1781–1869), die »voll Anhänglichkeit an den Glauben der Väter«302 gerade die Verbreitung der Lehren des Judentums am Herzen lag. »Ehe noch Deutschland an die sich jetzt so imponierend entwickelnde Vereinstätigkeit dachte«, gründete R. Gratz eine israelitische Sonntagsschule in Philadelphia, »die erste Anstalt dieser Art in Amerika und leitete dieselbe durch zweiunddreissig Jahre als selbstständige Directorin mit Umsicht und Opferwilligkeit«303 . All die wohltätigen Frauen, die sie zudem noch in ihrem Werk erwähnt, beweisen, »wie auf dem fruchtbaren Arbeitsfelde der Humanität die Frau auch ohne schöpferische Talente durch Fleiss und Thatenkraft segensreich wirken«304 könne.

2.3.3 Die arbeitsame Jüdin Orientiert an dem bereits zitierten rabbinischen Ausspruch, »und wenn die Frau hundert Dienerinnen besitzt, hat sie die Pflicht zu arbeiten, denn der Müssiggang führt zur Ausschweifung«305 , zeigt Remy anhand zahlreicher Beispiele, »dass Arbeitskraft und Wille, eifriges Wirken und Streben im reichsten Maassee [sic!] unter den jüdischen Frauen vorhanden [war und] ist. Und gewiss nicht blos unter den sog. Gebildeten!«306 Sie räumt damit in ihrem Werk den arbeitsamen Juden und vor allem den Jüdinnen, die in jeglicher Arbeit, wie beim Verkauf, beim Ackerbau oder beim »vielgeübten«307 Handwerk, ihren Mann tatkräftig unterstützten, einen ehrenvollen Platz ein. Aufopfernd hätten diese Frauen ihren Haushalt ausgeführt und seien darüberhinaus außerhäuslichen Arbeiten nachgegangen und halfen daneben wohltätig anderen Hilfsbedürftigen bei der Haushalts- oder Personenpflege.308 »Alle diese stillen Heldinnen schlichter Pflichterfüllung bilden nur einen winzigen Bruchteil einer Menge ähnlicher Existenzen, die unbemerkt wie Tropfen im Meer dahinfliessen. So will es ja eben das Verhängniss, dass das bescheiden oder vornehm sich zurückhaltende und verbergende Gute nicht bemerkt, dagegen das aufdringliche

302 Lazarus 1896: 297. 303 Lazarus 1896: 297f.: »Ohne Unterschied des Glaubens und der Confession wirkte sie auch nach Kräften für ein Waisen- und Wittwenhaus in Philadelphia, aber ihre tiefste Liebe gehörte doch dem Volk, dem sie entstammte, was sie schon äusserlich durch regelmässigen Synagogenbesuch und pietätsvolle Beobachtung frommer Gebräuche bekundete.« 304 Ebd.: 298. 305 Ebd.: 155. 306 Ebd.: 307. 307 Ebd. 308 Vgl. ebd.: 310f.: »Auch ich kenne so manchen jüdischen weiblichen Charakterkopf. Da ist die Inhaberin eines kleinen Kramgeschäftes: von früh bis spät waltet sie fleissig in ihrem Laden; […] Eine Andere theilt in rastloser Arbeit ihre Zeit in Besorgung des Haushaltes eines nahen Verwandten und der Pflege einer Kranken, eine dritte erwirbt mühsam ihre und ihres leidenden Bruders Unterhalt durch Schneiderei, […] Unvergesslich ist mir die kleine schmächtige Fleischersfrau, die mit einer schweren Mulle beladen zu meiner alten Tante in Flatow kam. Die unwandelbare Freundlichkeit mit der sie die mitunter derben Neckereien über sich ergehen liess, gewann ihr mein fünfjähriges Kinderherz und hat vielleicht damals schon den Keim zu meiner Sympathie für jüdisches Wesen geweckt.«

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Unschöne und Unedle Jedem in die Augen fällt! Nun urteilt ein Jeder nach dem was er sieht, was er nicht sieht, danach fragt er nicht!«309 Im Kontrast zu den oben genannten arbeitsamen Jüdinnen benennt sie vor allem wohlhabende Jüdinnen der Gegenwart, die mit einer luxuriösen Lebensweise und dem Nacheifern des christlich-bürgerlichen Lebensstils negativ aufgefallen seien.310 Ihre Bildung und ihr Vermögen nicht für das Gute einsetzend, verschwenden sie ihre Zeit nach Remy für Nichtiges.311 Ihr Eifer führe allerdings »oft zur Uebertreibung; sie vergessen, dass der wahre Werth nicht nöthig hat sich anzupreisen, dass dagegen der Spitzbube zu versichern pflegt, er sei ein ehrlicher Mann.«312 Diesen Jüdinnen gegenüber, die sich Remy zufolge »ganz unjüdisch«313 in den Vordergrund zu drängen versuchten, kritisiert sie schonungslos, da gerade diese Frauen von polemischer Seite herangezogen werden, als Beispiel für den typischen Wesenszug ihrer Glaubensgenossinnen (laut, kokett, eitel, eklatant, unehrlich, trügerisch), denen sie nach Remy häufig nur noch mit ihrem jüdischen Namen angehörten. Für sie sind die drei damals angesehenen Berliner Salonièren Henriette Herz, geb. de Lemos (1764–1847), Rahel Varnhagen, geb. Robert (1771–1833) und Dorothea Veit-Schlegel, geb. Brendel Mendelssohn (1764–1839) enttäuschende Beispiele solcher Frauen.314 Um 1800 eröffneten in Berlin jüdische Frauensalons, worunter auch die Häuser dieser drei wohlhabenden jüdischen Frauen gehörten.315 Die Salons wurden für ihre Halböffentlichkeit bekannt, in denen sich Frauen und Männer, Juden und Nichtjuden sowie Adel und Bürgertum (z.T. durch geschäftliche Beziehungen der jüdischen 309 Zitiert nach Bogumil Goltz aus Der Mensch und die Leute. Zur Charakteristik der barbarischen und der civilisirten Nationen (Berlin 1858), in: ebd.: 311. 310 Lazarus 1896: 315: »Luxus der Wohnung, der Lebensweise, der Toilette, Prunk in Gastereien, im Auftreten, im Alleswissen, Besserkönnen – ja dies Alles fällt auf, aber es missfällt auch; es erregt den Unwillen der Anderen.« Vgl. auch ebd.: 312; 314. »Ebenso kann man in Strassen, Pferdebahnen, Theatern bemerken, dass christliche Damen und Kinder den jüdischen in lautem Benehmen und keckem Anstarren etc. kaum etwas nachgeben. Das Sonderbare ist nur: bei der Jüdin berührt diese Ungenirtheit viel unangenehmer; es ist als ob man an sie unwillkürlich den Anspruch stellt, dass sie, als Jüdin, das Leben ernster nähme […].« 311 Vgl. ebd.: 233ff. 312 Ebd.: 315. 313 Kaplan 1997: 77: »Diese [die Antisemiten] beschrieben besonders die osteuropäischen, implizit aber alle jüdischen Kinder als laut, schmutzig, undiszipliniert, ungesund, unsportlich und unmanierlich – mit anderen Worten: als ungebildet. […] Der Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der wichtigste jüdische Abwehrverein, mahnt Eltern wie Kinder, größere Vorsicht und Selbstbeherrschung als andere Deutsche an den Tag zu legen, andere warnten davor, ›Jargon‹ (womit sie Jiddisch meinten) zu sprechen oder allzu wild zu gestikulieren.« 314 Lazarus 1896: 234: »Trunken von den schöngeistigen und gesellschaftlichen Erfolgen, berauscht von dem Glanz den Dichter und Aristokraten auf sie ergossen, blendete sie doppelt die Sonne ihres Glückes, dass sie das edlere Ziel nicht erkannten. […] Wenn das Weib nur der Selbstverherrlichung lebt und sich in äusserlichen, vorzüglichen Dingen verliert, wird es verächtlich.« 315 Lund 2012b: »Als jüdische Salons sind private gesellige Zusammentreffen von jüdischen und nichtjüdischen Männern und Frauen verschiedener Stände und Schichten bekannt geworden, die jüdische Frauen in Berlin und Wien vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jh. initiierten. Wegen der zentralen Rolle der Frauen und der vielfältigen Kontakte zum nichtjüdischen Umfeld werden die Salons bis heute als Symbole der Emanzipation diskutiert.« Zur Literatur jüdischen Frauensalons Hahn 2002; Lund 2012a.

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Ehemänner oder Väter zum preußischen Adel) zum geselligen Austausch trafen.316 Die jüdischen Salonièren zeichneten sich vor allem in ihrer Bildung und Geselligkeit aus, was als das verbindende Element zwischen Juden und Nichtjuden fungierte.317 Neben der anfänglichen Literaturrezeption und -kritik dienten die Salons vor allem der Beziehungs- und Verbindungsfindung, die neben der gesellschaftlichen Anerkennung auch berufliche sowie finanzielle Unterstützung bringen sollte. Remy zeigt anhand der drei Beispiele auf, wie jüdische Salonièren durch den engen persönlichen Kontakt mit nichtjüdischen Männern oftmals aus Liebes- oder Eheschließungsgründen konvertierten. So trat Dorothea Veit zunächst zum Protestantismus über, als sie den deutschen Schriftsteller und Philosophen Friedrich Schlegel (1772–1829) heiratete, und konvertierte einige Zeit später endgültig zum Katholizismus. Henriette Herz ist nach dem Tod ihrer Mutter 1817, beeinflusst von dem deutschen evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), dem sie nach Remy völlig verfallen gewesen sei, zum Protestantismus konvertiert.318 Rahel Levin konvertierte mit 43 Jahren, als sie den deutschen Diplomaten und Historiker Karl August Varnhagen (1785–1858) heiratete. Diese von Remy als abtrünnig degradierten Jüdinnen (s.Kap. II, 2.3.4) stehen durch ihr negatives Verhalten exemplarisch für die modernen Jüdinnen, die nicht nachahmenswert seien.319 Für Remy ist es unbegreiflich, wie solche gebildeten und wohlhabenden Frauen, die einen wesentlichen Einfluss in den angesehensten Salons der Zeit hatten, wo sich unter anderem Dichter, Künstler, Philosophen aber auch Diplomaten trafen, diesen ungenutzt für das Wohl des Judentums ließen. »Was hätten diese drei Frauen für einen unermesslichen Einfluss haben können, zu Gunsten religiöser Toleranz, zur Bekämpfung mittelalterlicher Vorurtheile, zur Anbahnung der heissersehnten und längsterwarteten Gleichberechtigung ihrer Glaubensgenossen mit den Bekennern der Religion ›allgemeiner Menschenliebe‹! – Doch Rahel, Henriette Herz, Dorothea, sie wussten Nichts davon!«320

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Zitiert in Lund 2012b: »Die preußische wie österreichische »Judenpolitik« hatte dazu geführt, dass, neben der diskriminierten Mehrheit, einige reiche jüdische Familien Wohnhäuser im Zentrum der Stadt besaßen und trotz ihres fragilen rechtlichen Status mit Personen des Adels und des Bürgertums gut vernetzt waren. ›Gerade weil Juden außerhalb der Gesellschaft standen, wurden sie [die jüdischen Salons] für kurze Zeit eine Art neutraler Boden, auf dem sich die Gebildeten trafen‹.« Vgl. Arendt, Hannah (2001): Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: 72. 317 Vgl. Schostak 2007: 17f. 318 Lazarus 1896: 233: Nach Remy habe Schleiermacher einen schlechten Einfluss auf Henriette Herz gehabt, indem er »ihre ursprünglich reine Empfindung mit Unklarheit und Unaufrichtigkeit trübte! Weil Schleiermacher ein Theologe war, glaubte sie in echt weiblicher Naivität [wie ihre damaligen Mitschülerinnen!], ihm am meisten vertrauen zu können.« Vgl. dazu auch ebd.: 228: Der »feinsinnige und feinsinnliche Theolog« bewegte sich »mit so ausgesprochener Vorliebe […] in dem Kreis schöner Jüdinnen […], dass er sich Verwarnungen seiner kirchlichen Obern desshalb zuzog.« 319 Ebd.: 235f.: »Um solchen Männern näher zu rücken (wenn auch nur in der Einbildung) mochte manch weibliches Herz den Werth der angestammten Religion geringer schätzen als die confessionelle Ebenbürtigkeit mit jenen nichtjüdischen Geistesgrössen.« 320 Ebd.: 234.

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Trotz der für Remy enttäuschenden Konversionen der Salonièren zum Christentum, weist sie dem jüdischen Salon321 auch eine gelungene deutsch-jüdischen Symbiose zu, in dem ein geistig-literarischer Austausch mit einem Ton und Umgang herrsche, der »über das Niveau der üblichen oberflächlichen und frivolen Unterhaltung [gehe], die leider, besonders in gewissen Wiener-Kreisen, bis heute gang und gäbe«322 sei. Kontrastierend mit den Salonfrauen, die trotz ihres Übertritts zum Christentum oftmals weiterhin als Jüdinnen betrachtet wurden, nennt Remy exemplarisch die jüdische Salonière Fanny (Vöglche) von Arnstein, geb. Itzig (1758–1818) aus Wien, die ohne Taufe gesellschaftlichen Erfolg erreichte.323 Als Mitglied in verschiedenen Frauenvereinen, »die sich ausschliesslich aus Damen der hohen und höchsten Aristokratie zusammensetzten«, habe sie manches Vorurteil gegenüber Jüdinnen »so auf die einfachste, natürlichste Weise«324 verschwinden lassen. Fanny Arnstein, die Tochter des wohlhabenden Bankiers Daniel Itzig (1723–1799) sei daher ein Paradebeispiel dafür, wie jüdische Frauen interreligiös wohltätig aktiv sein können.325 Neben ihren künstlerischen Interessen habe sie auch literarische Beziehungen gepflegt und höhere Interessen vertreten, wie beispielsweise ihren ehrenamtlichen Einsatz für die Frauenvereine. Sie sei ein positives Beispiel dafür, dass wohlhabende Jüdinnen der Moderne in Frauenvereinen oder anderen gesellschaftlichen Gruppierungen aufklärerisch tätig sein konnten. »Frauenvereine bildeten sich an allen Ecken […] und die Frauen […] wurden durch der Jüdin Beispiel und Beredsamkeit hingerissen, sich diesen Wohltätigkeitsbestrebungen anzuschließen. […] Man dachte nicht mehr daran, dass sie [Fanny Arnstein] eine Jüdin sei, man sah nur die Vertreterin allgemeiner Menschenliebe, die eifrige Mitbürgerin, die unermüdliche Helferin und Spenderin.«326 Anhand des Beispiels von Fanny Arnstein gelingt es Remy aufzuzeigen, dass Kontakte und Freundschaften auch mit christlichen Frauen zustande kamen, auch ohne eine damit einhergehende Entfremdung von der eigenen jüdischen Identität und Gemeinschaft.327 Daneben zählt Remy eine große Anzahl von gebildeten Jüdinnen auf, die als freischaffende Schriftstellerinnen pädagogische Schriften herausgaben und sich für die Gründung verschiedener pädagogischer Vereine engagierten. 321

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Lund 2012b: »Obwohl von den jüdischen Salonfrauen ein Großteil konvertierte, meist verbunden mit der Eheschließung mit einem Nichtjuden, stellten sie weder zeitlich noch quantitativ die Avantgarde eines Auflösungsprozesses dar. Dass die Salons soviel Beachtung fanden, hat vor allem mit der Rolle zu tun, die der Berliner jüdischen Gemeinde an der Schwelle zur Moderne zugemessen wurde.« Lazarus 1896: 248. Ebd.: 248f. Vgl. auch Lund 2012b. Lazarus 1896: 248f.: »Manches gute Werk gedieh so in gemeinschaftlicher Arbeit, manches gute Wort ward zum Keim weiterer Fruchtbringender Gedanken und Entschlüsse.« Vgl. ebd.: 246f., 249: Fanny agiere stets unter dem Motto: »Der Reichtum im Dienst der Künste und Gewerbe.« Womit sie beispielhaft zeigte, dass man eine Üppigkeit der Existenz mit der Förderung der Industrie kombinieren kann. Ebd.: 249. Diesen Befund konnte auch Marion Kaplan in ihrer ausführlichen Untersuchung feststellen und belegen. Vgl. Kaplan 1997: 271.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

»Kindererziehung und Frauenbildung sind naturgemäss die beiden Gebiete, auf denen die jüdischen Frauen am erfolgreichsten wirkten. Abgesehen von den Verhältnissen anderer Länder […] zeigt Norddeutschland allein eine stattliche Anzahl wahrhaft fleissiger ja angestrengter Arbeiterinnen auf diesem Felde.«328 So habe beispielsweise die Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt, geb. Benas (1825–1920) ihr Vermögen und ihre Bildung humanen Zielen gewidmet. Sie habe pädagogische Abhandlungen über die Frauenfrage und die weibliche Erziehung herausgegeben und sei Begründerin des konfessionslosen Vereins für Familienerziehung und Volkswohl in Leipzig gewesen.329 Ebenfalls hätten sich besonders die beiden Frauenrechtlerinnen Lina Morgenstern, geb. Bauer (1830–1909)330 sowie Jenny Hirsch (1829–1902) für eine bessere Stellung und Ausbildung des weiblichen Geschlechts eingesetzt. Lina Morgenstern, die auch als Pionierin der Wohlfahrtspflege des 19. Jahrhunderts galt, wurde streng jüdisch erzogen und gründete 1848 den Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder und 1859 den Berliner Frauenverein zur Beförderung Fröbel’scher Kindergärten, um dem in Preußen wirksamen Kindergartenverbot entgegenzuwirken.331 Jenny Hirsch genoss ebenso eine strenge religiöse Erziehung. 1860 wurde sie Journalistin bei der Berliner Damen- und Modezeitschrift Der Bazar. 1865 war sie die Mitbegründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) und ein Jahr später die des Vereins zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts. Diese drei jüdischen Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen gehören für Remy zu den ersten Vorkämpferinnen der edlen Frauenemanzipation des 19. Jahrhunderts.332 Sie ehrt daneben weitere zahlreiche jüdische Schriftstellerinnen, die mit ihrem »geistreichen und graziösen Wirken«333 aufklärerisch für die Humanität gewirkt haben und unermüdlich praktisch schaffend und fördernd wohltätig waren. »Allerorten wagen sich jetzt Vertreterinnen geistiger Berufsarten hervor! Während sie in Amerika die Kanzel betreten (Ray Frank) und Zeitungen redigieren [Anna Ottendorfer (1815–1884)], beschränken sie sich in Deutschland noch auf literarische Erzeugnisse, die in der abgeschlossenen Häuslichkeit verfasst, dennoch allgemein soziale Fragen berühren.«334 Die deutschen Schriftstellerinnen hätten nach Remy zunächst nur für ihre Familien oder dem Freundeskreis geschrieben und gedichtet und wenn sie sich allerdings doch »in die Öffentlichkeit zu treten [trauten], dann unter dem Mantel einer strengen Anonymität. Galt doch vor einem halben Jahrhundert noch die weibliche Schriftstellerei oft als

328 Lazarus 1896: 301. 329 Vgl. ebd. 330 Die Schriftstellerin Lina Morgenstern verfasste eine positive Rezension zu Remys Werk Das jüdische Weib. Siehe Kap. II, 5.1.1. 331 Ebd.: 302. Vgl. auch Kaplan 1997: 268–274. 332 Lazarus 1896: 302f. 333 Ebd.: 283f.: »Ein solches Buch betitel sich: Rebekka und Amalia, Briefwechsel zwischen einer Israelitin und einer Adligen über Zeit- und Lebensfragen. (Leipzig 1847)«; es stammt von der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Johanna Goldschmidt (1807–1884). 334 Ebd.

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ein ›Unfug‹, der gelegentlich sogar von der Kanzel scharf gegeißelt und verdammt wurde.«335 Aber es haben »allmählich auch diese Bedenklichkeiten der vernünftigeren Anschauung Platz gemacht, dass jegliches Können des Einzelnen nur eine neue Quelle zur allgemeinen Förderung der Volksseele eröffnet.«336 In Charlotte Montefiore (1818–1854) habe die Wissenschaft des Judentums eine verständnisvolle Wegbereiterin und Förderin gefunden.337 Als letztes Beispiel für ein literarisches und gemeinnütziges sich Einsetzen für die Frauen- und Judenemanzipation nennt Remy die Amerikanerin Henriette Oppenheimer (1807–1881), die eine tatkräftige Anteilnahme an den Interessen ihrer Glaubensgenossen und im Kampf gegen die Vorurteile der Unwissenden und die Anfeindungen Übelgesinnter aufzeige.338 »Der Religion der Väter von ganzer Seele ergeben«339 , habe sie sich lebenslang als »wahre« Jüdin und reflektierte Denkerin erwiesen. Die Vielzahl an Schriftstellerinnen, die Remy listet, zeigt, dass auch Jüdinnen, die aus ihrer Sicht einen »liebenswürdigen«340 Charakter und vielseitige Bildung hatten, einen Anschluss an das christliche Bürgertum erreichen konnten, ohne ihre Würde und vor allem ihren Glauben ablegen zu müssen. Die genannten Schriftstellerinnen zeichnen sich daneben durch eine scharfe Beobachtungsgabe, Wissbegierde und unermüdlichen Fleiß, aber vor allem durch ihre Religionstreue und den daraus resultierenden Familien- und Wohltätigkeitssinn aus. Eine lange Reihe an jüdischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts könne sie allerdings nicht namentlich benennen, da diese »unter erfundenen Namen [veröffentlichten], die ihnen besser klingen als die Namen ihrer Väter und Gatten, und diese werden es kaum gern sehen, wenn ich hier ihre Maske lüfte; es gelüstet mich auch nicht ihr wahres Gesicht zu sehen oder zu zeigen.«341 Im Gegensatz zu den oben genannten positiven Beispielen jüdischer Schriftstellerinnen, die vor allem religiöse Themen in ihren Werken behandelten, sei es für die »Schaar jüngerer und jüngster Feuilletonsschreiberinnen, Novellen- und Romanschriftsellerinnen« kennzeichnend, »zum großen Teil das Unterhaltungsbedürfniss des lesenden Publikums«342 zu befriedigen. »Die meisten dieser Damen [seien] nicht mehr mit der früheren jüdischen Neigung erfüllt, [um] in ihren Dichtungen die Gattentreue, Mutterliebe und Religiosität zu huldigen; sie glauben im Gegentheil, den modernen (oft nicht verstandenen) Stichwörtern: ›Naturalismus‹, ›Realismus‹ gemäss, recht viel ›Picantes‹, ›Sensationelles‹, Schwüles und Schwülstiges schildern zu müssen; – der Ehe- und Treuebruch ist ein Lieblingsthema geworden, ein ganz und gar unjüdisches!«343

335 Lazarus 1896: 273. 336 Ebd.: 274. Vgl. auch Beutin 2008: 321f. 337 Lazarus 1896: 274: »Als gute Jüdin liebte sie es die Lieder und Festgesänge an Sabbat und Feiertagen zu begleiten. Eine fromme, liebliche Sitte, die leider immer mehr unter den jüdischen Frauen abnimmt, so sehr sie auch Musik treiben und Gesangstunden nehmen.« 338 Vgl. ebd.: 287. 339 In: ebd. 340 Vgl. ebd.: 272. 341 Ebd.: 291. Zur Namensgebungspolitik siehe: Bering 1988; Hahn 1991. 342 Ebd.: 291. 343 Ebd.

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Remy benennt in ihrem Werk Das jüdische Weib Jüdinnen, die »überall an dem gemeinsamen Werk zum Wohl des Ganzen«344 mitarbeiteten, wie unter anderem aus England, Amerika, Deutschland, Frankreich und Italien. Aber auch Jüdinnen, wie Adelheid Zunz, geb. Bermann (1802–1874), die ihre ganze Energie und Liebe für ihre Familie eingesetzt hätten, seien nennenswerte Jüdinnen, die dabei ebenfalls wesentlich für den Kulturfortschritt tätig gewesen seien. Denn als »mitdenkende und mitstrebende Frau«345 habe beispielsweise Adelheid Zunz ihren Mann Leopold Zunz (1794–1886), den Vorkämpfer der Emanzipation der Juden in Deutschland, tatkräftig bei der Realisierung seiner Ziele unterstützt. »Wer möchte ausserdem wol alle die Frauen namhaft zu machen, welche ohne in eigenen, für die Oeffentlichkeit bestimmten Thaten und Werken hervorzutreten, den folgenreichsten Einfluss in der Stille übten! Allein schon als mitdenkende und mitstrebende Frauen ihrer dem Dienst der Wissenschaft geweihten Männer haben auch sie für den Culturfortschritt das Ihre gethan.«346

2.3.4 Die getaufte (»abtrünnige«) Jüdin Den »abtrünnigen«347 Jüdinnen widmet Remy in ihrem Werk Das jüdische Weib eigens ein ganzes Kapitel. Mit der Definition ›abtrünnig‹ bezeichnet sie die Frauen, die sich vom jüdischen Glauben abwenden. Diese Frauen sind für sie Produkte der Entartung, was sie als ›abtrünnig‹ kennzeichnet.348 Für sie war ein »Übertritt aus der Religion der Väter in eine fremde, bisher feindliche«349 Religion nur mit einem tatsächlichen oder moralischen Zwang zu erklären. Besonders über den Austritt so vieler hochgestellter Frauen aus dem Judentum in der Mendelssohn’schen Epoche, die in der Zeit der Aufklärung nicht solchen Zwängen unterlagen, kritisiert Remy aufs schärfste. Hervorstechend seien dabei die eigenen Töchter des Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786), sowie die 344 Lazarus 1896: 304: »In Holland und Ungarn scheint dagegen die Richtung mehr noch eine rein literarische zu sein: hier blüht die erbauliche und religiöse Dichtung, aber noch herrscht eine gewisse Scheu vor der Öffentlichkeit, Amerika erzeugt jedenfalls die furchtlosesten Kämpferinnen für die Rechte der Frau; was die Rechte der Juden anbelangt, so gibt es dort darüber keine Frage mehr.« 345 Ebd.: 164. 346 Ebd. Zur Funktion von Remys Listen, siehe Kap. II, 3. 347 Ebd.: 225f. 348 Ebd.: »Alle die Frauen, welche im Lauf der letzten Jahrhunderte schwachen Geistes genug waren, das Beste was sie hatten, ihre Religion zu verleugnen, thaten es gezwungen durch bittersten Zwang, den Tod vor Augen. Jene Anderen, die aus Gleichgültigkeit oder Eigennutz das Gottesbekenntnis wechselten, wie man Handschuhe wechselt, thaten gut sich auszusondern was einer Gemeinschaft, die nur noch ein leeres Wort für sie war; zwar bereichert sich die andere Religionsgemeinschaft, welche solche Abtrünnige in sich aufnimmt, selten an ihnen … aber für den jüdischen Gesammtorganismus ist es besser, dass er die abgestandenen und abgestorbenen Theile ausstösst. Das Judentum verliert, wie gesagt, an solchen Produkten der Entartung Nichts.« Entartung ist ein Stichwort, das seit Mitte des 19. Jh.s vermehrt auftauche. Vgl. dazu auch Pick 1989. 349 Der deutsche Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) war ein liberaler Denker der Aufklärung und Wegbereiter der Haskalah (jüdische Aufklärung). Vgl. dazu Moses Mendelssohn Zentrum 2018: Er genoss »hohes Ansehen auch bei den nichtjüdischen intellektuellen Eliten seiner Zeit, und er bemühte sich als einer der ersten überhaupt um einen offenen Dialog zwischen Vertretern des Christentums und des Judentums.«

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bereits genannten Salonièren Rahel Levin und Henriette Herz.350 »Henriettes Schönheit, Rahels Genie, Dorothea’s Freigeist – welche kläglichen Berühmtheiten, wo sie als Förderinnen freier Menschenwürde und Religionstreue Nachruhm gewonnen und unendlich Segen gespendet hätten!«351 Remy unterscheidet in ihrem Werk Das jüdische Weib vier Arten von Abtrünnigkeit. 1. Abtrünnig durch die äußerliche (Zwangs-)Taufe; 2. Abtrünnig durch die (Zwangs-)Taufe und Simulation des christlichen Glaubens; 3. Abtrünnig durch die (Zwangs-)Taufe und Gleichgültigkeit gegenüber der jüdischen Religion und 4. Abtrünnig durch die Taufe »aus Gründen gemeinen Eigennutzes«352 . Die erste Gruppe der Abtrünnigen, die sich zwar zwangsweise taufen ließen, aber dennoch heimlich ihren Glauben und dessen Gebräuche ausübten, hätte es vor allem ab dem Ersten Kreuzzug 1096 vermehrt gegeben. Bei einer solchen erzwungenen Konversion bliebe der innere Wandel unangetastet, sodass es sich dabei eher um einen oberflächlichen Mitgliedschaftswechsel handle, als um einen Wandel persönlicher Religiosität, wofür sie Verständnis aufbringen konnte.353 Als Beispiel nennt sie die iberischen Juden, die Marranen, genannt werden, die im 15. Jahrhundert unter Zwang zum Katholizismus konvertieren mussten, ihre jüdische Tradition allerdings im Geheimen weiter erfüllten.354 Daneben beschreibt sie das vor allem bei den aschkenasischen Juden auftretende Phänomen der Selbsttötung und Tötung der eigenen Kinder oder Ehepartner, um der Folter zu entrinnen.355 Beeinflusst von der christlichen Märtyrerverehrung finden diese tragischen rituellen (Selbst)Mörderinnen und -Mörder bei Remy eine hohe Wertschätzung und werden von ihr als Helden und Heldinnen sowie Märtyrer und Märtyrerinnen gerühmt.356 Nach Remy seien gerade die Frauen und Mädchen beständiger in ihrem Glauben gewesen, da sie seltener Übertraten als ihre Männer, denn »sie zogen den Tod einem Leben der Lüge und Heuchelei vor«357 . An diesen Heldinnen werde eine tiefe Religiosität sichtbar, der sie stark, mutig und todeswillig machte. »Die Frauen waren es, die oft den verzweifelnden Männern Muth einflössten, Muth zum Weiterleben oder zum schnellen Tode. Als im ersten Kreuzzuge die Pöbelschaaren die Juden in Mainz mit dem Tode bedrohten, wenn sie sich nicht taufen ließen,

350 Lazarus 1896: 224–226: Moses Mendelssohn »wurde zum Fackelträger der Aufklärung für die Juden. [Aber] seltsames Verhängnis, fast alle Kinder Mendelssohns verleugneten die Grundsätze ihres Vaters.« 351 Ebd.: 234. 352 Ebd.: 222. 353 Ebd.: 221. Vgl. dazu Kaplan 2012: 136: »Zahlreiche Juden wurden ermordet, weil sie sich nicht dem Willen ihrer Angreifer unterwarfen, die bei ihren Übergriffen ›Tod oder Christentum!‹ schrien. Viele Juden kamen jedoch mit ihrem Leben davon, weil sie sich taufen ließen.« Zwar ist die genaue Zahl derjeniger, die sich damals haben taufen lassen, unbekannt, aber es wird auf viele Tausende geschätzt. 354 Näheres dazu siehe unter: Wohlrab-Sahr 2012: 21. 355 Lazarus 1896: 222f. Aus Religionstreue, großer Gottesfurcht und vor allem zur »Heiligung des göttlichen Namens« (Kiddusch ha-Schem), töteten sich viele Juden lieber selbst, als dass sie sich taufen ließen. Vgl. Haverkamp 2005: 14–24. 356 Lazarus 1896: 114; 124: »Märtyrerinnen der span. Inquisition waren u.A. Thamar Barrokas, Beatrix Nunnez, Isabel Alvarez (Eigenthümer einer vielbesuchten Synagoge).« 357 Ebd.: 113.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

versammelten die Frauen sich mit ihren Kindern und forderten die Männer auf, erst sie und dann sich selbst zu tödten. Wenn man ihnen die Wahl anheimstellte zwischen Tod und Taufe, stürzten sich Tausende mit ihren Kindern mit dem alten heiligen Ruf: ›Gott Israels ist einzig!‹ in die Flammen oder in die Fluten, den Schreckenstod dem Folterleben unter ihren Peinigern vorziehend.«358 Diese erste Gruppe der Abtrünnigen, die sich unter Zwang hätten taufen lassen, übten folglich heimlich ihren jüdischen Glauben aus, womit sie sich nach Remys Angaben durch das Einhalten ihrer religiösen Gebräuche bei den Christen wieder verdächtig gemacht hätten. Sei dies von der nichtjüdischen Gemeinschaft beobachtet worden, habe diese Gruppe der Abtrünnigen meist ein noch viel schlimmeres Martyrium zu befürchten als ihre Vorgänger, die sich sofort für den Tod entschieden haben.359 Die zweite Gruppe, die ebenfalls unter Zwang übertrat, schaffe es allerdings sich so zu verstellen, dass sie als falsche Christen ein zufriedenes Leben führen konnten. Sie konnten »besser ihre innerliche Gesinnung« verleugnen und sie folgten »den Gesetzen ihres im Geheimen bewahrten Judentums in tiefster Verborgenheit«360 . Die dritte Gruppe der Abtrünnigen kennzeichne sich vor allem durch ihre Gleichgültigkeit gegenüber ihrer jüdischen Religion. Sie seien »von Natur [aus] mattherzig oder durch Leiden abgestumpft«, denn sie ließen alles bedenkenlos über sich ergehen, »was und wer da auch kommen wollte. […] Sie wären ebenso zum Islam oder Buddhismus übergetreten, wenn man sie endlich in Ruhe ließ!«361 Diese Gruppe der Übergetretenen sei Remy zufolge am unglücklichsten, denn »ohne Gott und ohne Glauben fanden sie für ihre Entwürdigung und Entmündigung kein Gegengewicht in der Weihe des Schmerzes«362 . Zwar zeigt Remy gegenüber den Zwangsgetauften (Gruppe 1–2) ein gewisses Verständnis und Mitgefühl, aber sie verherrlicht und präferiert den Märtyrertod, den sie ausnahmslos als den richtigen Weg kennzeichnet. Lieber einen Märtyrertod »als sich mit einer Lüge zu beflecken«363 , schlussfolgert sie. Die Lüge bestehe für Remy darin, sich durch die Taufe nur äußerlich zur »Religion ihrer Henker [zu] bekennen. Ob sie dies mit Aufrichtigkeit tun konnten, ist zweifelhaft, denn was bitterer Zwang erpresst, ist verhasst«364 . Demgegenüber gebe es die vierte Gruppe der Übergetretenen, die sich ebenfalls taufen ließen, aber »sei es in Wahrheit, sei es in Selbsttäuschung, sei es – und das war die häufigste Erscheinung – aus Gründen gemeinen Eigennutzes«365 . Obwohl es sich hierbei um freiwillige Übertritte handle, war Remy davon überzeugt, dass solche Taufen vor allem egoistisch motiviert vollzogen wurden und nicht aus Überzeugung. So »geschah es bei vielen aus lediglich ehrgeizigen Gründen; doch auch kleinlichere Motive 358 Lazarus 1896: 109f. 359 Ebd.: 221: »und verfielen endlich auch einem Martyrium, das meist noch schlimmer war, als das oft jähe Ende der Brüder, die bis in den Tod getreu geblieben waren.« 360 Ebd.: 222: »Sie vermochten ihre Zwingsherren so gut zu täuschen«, dass sie für Fürsten, Prälaten, Könige als Leibärzte, Beamte und hohe Würdenträger arbeiteten. 361 Ebd. 362 Ebd. 363 Ebd.: 221. 364 Ebd. 365 Zitiert von M.J. Schleiden aus Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter (1877), in: ebd.: 222: »Solche gibt es bis auf den heutigen Tag.«

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gewöhnlichen Eigennutzes bilden die zweideutigen Triebfedern zum Uebertritt«366 , um eine höhere soziale Stellung, gesellschaftliches Ansehen, beruflichen Erfolg oder einfach eine vollständige Integration zu erhalten. Diese Gruppe zeige »sich christlicher als die Christen und [denuncirten, verfolgten, schmähten sowie schändeten], wie jene, ihre Vorbilder, ihrerseits nun die früheren Glaubensgenossen.«367 Es gab unter den freiwilligen Neuchristen überaus bestrebte Personen, die dem oftmals misstrauischen neuen Lebensumfeld ihren Glaubenseifer zu beweisen suchten. Sie nutzten die Verunglimpfung ihrer alten Religion und des Talmuds, um sich bei ihren neuen Religionsmitgliedern einzuschmeicheln. So kam es dazu, dass gebildete Konvertiten dabei halfen, die ›jüdischen Geheimlehren‹ zu erschließen, wie beispielsweise der bekannte jüdische Apostat Nikolaus Donin (13. Jh.), der als früherer Talmudist sein Wissen gegen die Juden einsetzte. 1239 verfasste er eine Anklage gegen den Talmud, den er Papst Gregor IX. (1145–1241) vorlegte, welcher darauf den Talmud als Ursache für die Verweigerung der Taufe vonseiten der Juden ansah. Das war zwar nur ein geringer Prozentsatz der ehemaligen Juden, die so etwas taten, jedoch verursachten diese enormen Schäden, da sich die Antisemiten auf solche Aussagen stützten.368 Obwohl die Zeit der Aufklärung günstige Umstände gebracht habe, seien durch »die verlockenden Ideen einer neuen Emanzipationstheorie«369 vor allem die jüdischen Frauen, wie die bereits genannten Töchter des Philosophen Moses Mendelssohn, beeinflusst worden. Diese jüdischen Frauen verfolgten Remy zufolge mit ihren Taufen und interreligiösen Eheschließungen allein das Ziel in hohe Kreise zu heiraten, »ohne Bedenken der jeweiligen Folgen, nur den Titel, Orden oder Wappen der Grafen- und Fürsten vor Augen«370 . Dieses eigennützige Ziel, das von vielen weiblichen Angehörigen der jüdischen Oberschicht für ihre gesellschaftliche Anerkennung und Erfolg genutzt worden sei, sowie die kulturelle Angleichung vor allem im Bereich der Sprache und des Lebensstils haben Remy zufolge zur völligen Entfremdung von der jüdischen Gemeinde geführt. Dabei sei die Taufe für diese Frauen oftmals kein religiöser Akt gewesen, sondern eine symbolische Handlung, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen.371

366 Lazarus 1896: 239f.: »Da wünscht ein literarischer, musikalischer oder sonstiger Emporkömmling der Bühne oder der Feder allgemeiner zu imponiren und da sich der Name Cohn, Levy oder Abraham in der Zeitungsspalte, oder auf Conzert- und Theaterprogrammen nicht ›gut macht‹, so nennt er sich eben anders und lässt sich nebenbei taufen. Ein Anderer wünscht den Söhnen ein leichteres Examen und schnelleres Fortkommen, – wenn er sie taufen lässt, ist er der Protection dieses oder jenes Herren Geheimrathes oder Ministers sicher. Jener könnte seine Töchter an Grafen und Barone verheirathen; grosse Schulden und kahle Köpfe geniren ihn nicht – die kaum erwachsenen Mädchen werden getauft und bald darauf gnädige Gräfinnen und dergleichen; damit sie sich ihrer Eltern nicht schämen, lassen auch diese hinterher sich taufen.« 367 Ebd.: 222. 368 Vgl. dazu Noack 2001: 23. Siehe auch Kap. II, 3.1.3. 369 Lazarus 1896: 225. 370 Ebd.: 293f. Erfreulich seien hingegen für Remy die gemischtreligiösen Ehen gewesen, die »aus wirklicher, echter Neigung [entstanden], die nach Stand und Namen nicht fragten, wie jene des Bruders der Kaiserin von Österreich (Prinz Ludwig von Bayern) mit der Juwelierstochter Henriette Mendel.« 371 Vgl. ebd.: 234.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Remy zeigt in ihrem Buch Das jüdische Weib zwar für die jüdischen Frauen, die aus Todesangst und Zwang ihre Religion verleugneten, Verständnis, für die jüdischen Frauen aber, die aus Gleichgültigkeit oder Eigennutz ihren Glauben wechselten, »wie man Handschuhe wechselt«372 , konnte sie zeitlebens kein Verständnis aufbringen. Diese in bewusster Entscheidung getauften Frauen und Männer sollten dementsprechend aus der jüdischen Gemeinschaft ausgegrenzt werden. Trotz ihrer Kenntnis über den vorherrschenden Antisemitismus zeigt sie kein Verständnis für die jüdischen Frauen, die sich in der modernen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vom Judentum abwenden und sich für das Christentum entschieden haben. Sie schlussfolgert, dass diese Frauen nur abtrünnig werden konnten, aufgrund einer Mischung von übertriebenem Patriotismus, den Erfahrungen des gesellschaftlichen Ausschlusses und dem daraus resultierenden Wunsch nach vollständiger Integration, aber vor allem aus der Entfremdung von der jüdischen Tradition.373 Die Ursachen für die Entfremdung bei den jüdischen Frauen sind für Remy neben einer Gleichgültigkeit vor allem die Unkenntnis über die angestammte Religion. Durch das vorherrschende Halbwissen und durch missverständliche jüdische Lehren fühlten sich Remy zufolge die Jüdinnen nicht mehr an ihren Glauben gebunden. Die innerste religiöse Überzeugung und die Achtung vor dem Judentum, vor seiner Geschichte und Literatur fehle dieser Generation, sodass sie sich bedenkenlos vom Judentum abwende.374 »Gerade dieses tiefe Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Religion der Väter kennzeichnet diese Art des Uebertritts als ganz besonders gewissenlos. Wer und was zwang diese wie Dictatorinnen in der Gesellschaft herrschenden, verwöhnten und verehrten Frauen zu dieser traurigen Wortbrüchigkeit? dass sie sich ihrer eigentlich schämten, empfindet man häufig.«375 Dagegen könne laut Remy nur eins helfen, die Wiederbelebung des historischen und religiösen Sinns bei den Juden und vor allem bei ihren Kindern in der Erziehung zuhause und in der Schule, damit ihnen ihre wesentliche Verbindung mit dem Judentum wieder ins Bewusstsein gerufen werde.376 »Durch die ganze großartige Geschichte ihres Volkes, wenn die Frau diese Geschichte prüft, findet sie in ihr die erhabensten Taten verzeichnet,

372 Lazarus 1896: 225. »Aber für den jüdischen Gesammtorganismus ist es besser, dass er die abgestandenen und abgestorbenen Theile ausstösst.« Vgl. auch ebd.: 241: Und die sollen sich auch auf »christliche Kirchhöfe« begraben lassen und dann stehe auf ihren Grabstein nicht gemeißelt: »Hier ruht ein Katholik/Protestant, sondern ein getaufter Jude.« 373 Ebd.: »Weil sie den Schatz nicht mehr kennen, der ihrem Volk eigen und anvertraut ist. Mögen sie ihr Judenthum wieder kennen und lieben lernen – - und es wird keine Abtrünnige mehr unter ihnen geben! Es wird dann nur noch Abtrünnige geben, unter denen die nicht lernen und lieben wollen.« 374 Vgl. ebd.: 223. 375 Ebd.: 231. 376 Ebd.: 254f.: »Aus dieser Vertiefung und Veredelung des Gemüthes ging das Sehnen Sarah Levys hervor, nicht nur nach Bekämpfung fremder und feindlicher Vorurtheile der Unwissenden, sondern auch nach Besiegung der unter den Glaubensgenossen sich bemerklich machenden Gleichgiltigkeit gegen die heiligen und schönen Gebräuche ihrer Religion, an denen sie mit ganzer Seele hing.«

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ganz einzige Taten, die sie mit Stolz erfüllen müssten eine Jüdin zu sein!«377 Vergleiche man die »einstige jahrtausendlange Sklaverei und die endlich errungene Gleichberechtigung« der Juden, müsse die Jüdin nach Remy »frei und froh sein« über die rechtliche Gleichstellung, »die würdiger und wertvoller zu gestalten zum großen Teil in ihrer eigenen Hand«378 läge. Doch dafür müsse die jüdische Frau »wieder die Geschichte ihres Volkes und seine heilige Sprache«379 kennen lernen und in ihren Familien die religiöse Tradition des Judentums waren. »So lange nicht ein jüdisches Selbst- und Ehrgefühl ein lebendiges Bewusstsein von der großen Aufgabe des Judentums und seiner Bekenner, ein gerechter freier Stolz auf die Großartigkeit jüdischer Geschichte, der ein jeder Jude als ein Glied mit angehört, so lange diese Güter den Kindern nicht übertragen werden, ist ihnen die volle innere Einheit entzogen, ein mächtig wirksamer Sporn zur Ehrenhaftigkeit und Tüchtigkeit der Gesinnung abgestumpft, ein begeisterndes Gefühl in ihnen getötet. Ein begeisterndes Gefühl, das ist es! Und das tut Not!«380 Damit betont sie die zentrale Rolle der Jüdinnen bezüglich des Umgangs mit der religiösen Tradition, in der sie vor allem für die Weitergabe von Religiosität innerhalb der Familie verantwortlich seien.381

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Vergleich mit Remys Darstellung der deutschen Christin des 19. Jahrhunderts

2.4.1 Remys Interpretation von Weiblichkeit in den christlichen Lehren im Vergleich zur jüdischen Tradition Nach Remy sind mithilfe der »theologische[n] Dialektik« absichtlich biblische Aussagen zu Gunsten des Christentums umgedeutet worden, sodass es »nur dem vollkommen unbefangenen Leser der Bibel« möglich sei, »den klaren und wahren Sinn des Wortlautes zu erkennen«382 . So enthalte das Neue Testament nichts, was »die verbreitete und stets mit Emphase wiederholte Redensart: das Christenthum habe das Weib befreit, und das Christenthum habe die Ehe veredelt, oder dergl[eichen] – bestätigt; Im Gegentheil wird

377 Ebd.: 218f. 378 Lazarus 1896: 217f.; 320: »Unter Zittern und Zagen und Todesgefahren hat die Jüdin vergangener Jahrhunderte sich mit der Religion der Väter und mit der heiligen Sprache beschäftigt in voller, sorgloser Freiheit darf es die heutige Tochter Israels! Ohne Scheu, mit Stolz darf sie die Culturgeschichte ihres Volkes studiren, denn so sehr sie auch bei seinen Verfolgungen mitleiden mag, so sehr wird ihre Seele entflammt sein in Bewunderung seiner Heldengrösse und Gottesfurcht! Und je mehr sie sich der neueren Zeit nähert, desto freier und froher wird ihr der Blick, denn welche Wandlung, welch‹ ein Fortschritt offenbart sich da! Freilich erst nur noch für eine Minderheit.« 379 Ebd.: 218; 242: »Sie sollen und müssen das heilige Feuer der Begeisterung entzünden, die Flamme der Liebe entfachen, der Liebe zu dem Höchsten, das ihre Väter ihnen hinterlassen, der Liebe zur Religion«. 380 Ebd.: 219. 381 Vgl. auch Kaplan 1997: 87–111. 382 Lazarus 1896: 28.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

die Liebe, das Weib und die Ehe fort und fort zurückgesetzt vor der ›Liebe zu Gott‹!«383 . Mit derartigen Behauptungen versucht Remy aufzuzeigen, dass die Frau, beeinflusst durch die Aussagen des Neuen Testaments und der Kirchenväter, durch das Christentum keine höher geachtete Stellung erhielt. So empfehle beispielsweise der Apostel Paulus im Neuen Testament dem Mann, sich einer Frau nur dann zuzuwenden, wenn er seine natürlichen Triebe nicht zügeln könne. Dies hätte allerdings zur Folge, dass ein Mann, der seinem sexuellen Begehren nicht entsagen könne, dies nur in einer Ehe legitim auszuleben habe.384 Während im Christentum das sexuelle Verlangen und Ausüben allein dem Mann zugesprochen wurde, sei hingegen die Sexualität im Judentum als wichtige und berechtigte Grundlage einer Ehe für beide Ehepartner anerkannt worden. Aus diesem Grund habe die jüdische Frau ebenfalls das Recht sich scheiden zu lassen erhalten, wenn ihr Ehemann seine sexuellen Pflichten ihr gegenüber nicht ausübe. Damit verweist sie auf den wesentlichen Aspekt, dass im Gegensatz zur damalig verbreiteten Meinung, dass nur dem Mann ein Recht auf sexuellen Verkehr zustand, die Frau im Judentum durch das gleichberechtigte Anrecht auf Sexualleben eine sozial höhergestellte Stellung inne habe.385 Dagegen sei die soziale Stellung der christlichen Frau durch die neutestamentliche Abneigung und Empfehlung sie zu heiraten oder sie gar zu berühren, zunächst gänzlich gesenkt worden.386 »Das arme Weib musste nun dafür büssen, dass es so reizvoll war! Es wird gelästert, verfolgt mit glühenden, schwülen Ausrufungen des Hasses.«387 Mit derartigen scharfen Randbemerkungen karikiert Remy in ihrem Werk Das jüdische Weib das Anliegen der christlichen Geistlichen das weibliche Geschlecht durch ihre Herabsetzung und sexuelle Dämonisierung zu kontrollieren, anstatt dem Mann die eigene sexuelle Selbstkontrolle zu lehren.388 Dabei werde besonders das Reizvolle und Schöne an der Frau verachtet und als »eine Seuche, eine giftige Schlange, eine Thorheit, welche die Vernunft zur Unzucht verführt, […] und als faul, geil, geschwätzig und vorwitzig«389 entwertet. Dabei stützt sie sich auf die Perikope Gen 2–3, worin Eva durch die Übertretung des göttlichen Verbots das menschliche Geschlecht verdorben habe, weshalb sie im christlichen Sprachgebrauch metaphorisch als die »Eingangsthür zum Teufel«390 beschrieben werde. In diesem Zusammenhang verteidigt sie die für sie ›reine‹, ›edle‹ und ›schuldlose‹ Eva391 , die ihrer Meinung nach im Alten Testament in der vollkommenen Unverdorben383 Ebd.: »Wer indessen der landläufigen Meinung huldigt, dass nämlich das Christenthum das Weib ›befreit‹ und ›erhöht‹ habe, wird u. A. von der phantasievollen Schilderung von Dr. A. Wünsche: ›Jesus und die Frauen‹ sehr erbaut sein.« 384 Vgl. Kap. II, 2.4.2; Lazarus 1896: 18. 385 Vgl. ebd.: 29f. 386 Ebd.: 33; 19. Siehe 1Kor 7,1f.: »Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren. Aber um Unzucht zu vermeiden, soll jeder seine eigene Frau haben und jede Frau ihren eigenen Mann.« 387 Lazarus 1896: 21f. 388 Vgl. ebd.: 21f.; 29. 389 Ebd.: 21f. 390 Ebd.: 22: Nach dem christlichen Schriftsteller Tertullian (ca. 150–220 n. Chr.) soll die Frau immer die Augen voller Tränen gefüllt haben, »büssend für das Verbrechen das menschliche Geschlecht verdorben zu haben.« 391 Ebd.: 68: »Es heisst, sie sei nun ungehorsam geworden. Was heisst das? – Was wusste sie von ›ungehorsam‹ werden? – Die eine Stimme sagt: ›thu’s nicht‹; die andere: thu’s, und sie folgt in göttlicher Naivetät der zuletzt gehörten Stimme. Ihre völlige Unbekanntschaft mit Lug und mit Betrug, ihr

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heit der Natur befindend beschrieben sei. Eva sei dadurch nicht fähig gewesen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, weshalb sie auch keinen Grund gehabt habe, das Gebot Gottes zu beachten und das verlockende Angebot der Schlange abzulehnen. Mit einer solchen Neudeutung des biblischen Textes übersetzte sie die anschließende Strafe Gottes für Eva mit »mehren und mehren will ich die Schmerzen deiner Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du Kinder gebären, doch nach deinem Mann sei dein Verlangen und er sei dir ähnlich.«392 Damit entfernt sich Remy völlig von der christlich-traditionellen Übersetzung, die die kursiv markierte Stelle konsistent mit »aber er soll dein Herr sein«393 übersetzte und als Befehl Gottes für eine männliche Dominanz über die Frau verstand. Diese Dominanz werde ebenfalls im paulinischen Ausspruch, »der Mann sei nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen«394 , deutlich, wonach allein der Mann um Gottes Willen existiere und der Frau eine ebenbürtige Existenz abspreche. Aus diesem Grund solle die christliche Frau »nach Möglichkeit (fast nach Unmöglichkeit!) tugendhaft sein, um des Mannes würdig zu werden. Dem Manne zu gehorchen ist jedoch die Hauptsache und nur insofern wird sie geliebt und gelobt, als sie sich des Mannes Zufriedenheit erwirbt.«395 Folglich stellte die christliche Weiblichkeit nach Remys Interpretation eine mit der Erbsünde begonnene moralische Minderwertigkeit der Frau dar, von der sie sich nur durch ein tugendhaftes Leben ausgerichtet am Mann lösen konnte.396 Im Gegensatz dazu und zu dem folgenden paulinischen Ausspruch ›aber das Weib fürchte den Mann‹ (Eph 5,33) verweist sie auf die Feinfühligkeit der talmudischen Gelehrten, die über die jüdische Frau urteilten.397 So hieße es bei dem jüdischen Philosophen und Rechtsgelehrten Maimonides (12. Jh.s): »die Weisen [haben] geboten, dass der Mann die Frau ehre mehr als sich selbst, und sie liebe wie sich selbst, und im Verhältnis zum Vermögen soll er ihr Annehmlichkeiten bereiten; er darf ihr auch keine Furcht einflössen, sondern muss gelassen und sanft mit ihr umgehen, weder in sich gekehrt noch heftig sein.«398 Ein weiterer talmudischer Ausspruch, den Remy heranzieht, verweist darauf, dass »jeder Mensch esse und trinke weniger als seine Vermögensverhältnisse erlauben; nach sei-

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reiner Kindersinn liess unmöglich in ihr irgendeinen Zweifel, gar ein Misstrauen aufkommen. Das ungestörteste Zutrauen, der echteste wahrhaftige Glaube findet in ihr die lieblichste Verkörperung. […] Aber indem sie der zweiten Stimme folgt, ist sie nicht nur rein, sie ist auch edel; ihre erste That ist es, und diese That will das Höchste, Heiligste was Menschen je erstrebt haben: Erkenntniss des Guten und des Bösen!« Vgl. Gen 3,16. Lazarus 1896: 32. Vgl. Gen 3,16. Vgl. 1Kor 11,9. Lazarus 1896: 32. Ebd.: 32f. Ebd. Ebd. Vgl. dazu Remy 1893d, 22: Den neutestamentlichen Aussprach (Eph 5,33) habe sie nie begreifen können. »War es nicht genug, dass der Mann durch d. grössere Körperkraft und – Körperschonung, welche die Natur ihm verliehen, u. durch die Wissenschaft u. Gesetzgebung, die er sich selbst verliehen, dem Weibe unendlich überlegen war? – Wozu da noch das Schreckgespenst der Furcht-? Wie lieb habe ich die alten Rabbinen um dieses gute kluge Wort; ›er darf ihr keine Furcht einflössen!‹.« Zitiert in: Lazarus 1896: 49f. Vgl. Eph 5,33 nach der Lutherübersetzung von 1912.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

nen Verhältnisse kleide er sich, aber sein Weib ehre er mehr als es seine Verhältnisse erlauben.«399 Demgegenüber sei im Neuen Testament kein Ausspruch zu finden, der auch dem Ehemann die Pflicht auferlegt, sich um die Wohlbefinden der Ehefrau zu bemühen.400 »Das arme Weib, wenn vielleicht auch noch so brav, d.h. gehorsam und unterthänig, bleibt im Bann geringschätzender Gleichgiltigkeit oder offenbarer Verachtung. Weib bleibt eben Weib. […] Nichts destoweniger fahren die Evangelisten fort, das ewig Weibliche als ein sowol gefährliches wie minderwerthiges Element im Haushalt der Natur zu behandeln.«401 So sei beispielsweise die Frau für den christlichen Mann in der Schwangerschaft am ›verhasstesten‹, weil sie sich nicht nur »schwächer, langsamer also unfähiger zeigt, als sonst, sondern auch weil die äusserlichen Kennzeichen ihres Zustandes dem Manne widerwärtig waren.«402 Während Remy für die Unreinheitsregelungen (Nidda) bezüglich der Menstruation und der Schwangerschaft im Judentum Verständnis aufbringen kann (s.Kap. II, 2.2.2), denunziert sie diese im Christentum als »altbarbarische Auffassung«, die die Unreinheit der christlichen Frau vor allem »in religiösen Vorschriften gebrandmarkt!«403 habe. Sie schlussfolgert, dass viele alte katholische Gesetze und Gebräuche, die für die Frauen bestimmt waren und z.T. noch bestehen, vor allem durch eine »Antipathie gegen die Schwangerschaft zurückzuführen«404 seien. So seien beispielsweise die alten katholischen Feste Mariä Purificatio (Reinigung) und Kirchgang der Kindbetterin der Beweis für die pejorative Vorschrift der Unreinheit der Frau, wobei Remy darauf hinweist, dass diese Festtage seit der Neuzeit nicht mehr als Sünd-, sondern vielmehr noch als Dankopfer betrachtet werden.405 Für sie selbst allerdings sei die Schwangerschaft ei399 Vgl. ebd.: 50. Siehe auch Kap. II, 2.1. 400 Vgl. Lazarus 1896: 33. Vgl. dazu auch ebd.: 32f.: »Doch nichts kann wohl die christliche Nichtachtung des Weibes im Allgemeinen schlagender kennzeichnen als Folgendes: Tertullian […] glaubt, › dass die Auferstandenen alle Fehler und Mängel verlieren: Blinde werden sehen, Lahme gehen, die Weiber aber werden auferstehen als – Männer!‹.« 401 Ebd.: 33; 26. Das »Ewig-Weibliche« aus dem berühmten Schlusswort vom Chorus mysticus in Faust II (Vers 12104ff.; 1832), ist zum Schüsselbegriff geworden für das reinste verkörperte Ideal der Weiblichkeit. Remy zitiert auf S. 89 den jüdischen Gelehrten Adolf (Aron) Jellinek (1820–1893), der ebenfalls das Ewig-Weibliche des jüdischen Volkes betont. Gerade das Ewig-Weibliche sei bei den Juden stets gepriesen und verherrlicht worden. Dabei werde vor allem das innere Heiligtum der Frau verehrt: die reiche Gemütswelt, Tiefe ihres Herzens, Zartheit ihres Geistes, Fülle ihres Seelenlebens, Weichheit ihres Wesens und Unwandelbarkeit der Muttertreue. Vgl. dazu auch Jellinek 1869: 99; Kayserling 1879: 7f. 402 Lazarus 1896: 2. 403 Vgl. ebd. 404 Vgl. ebd. 405 Vgl. ebd.: 2f. Am Fest der Mariä Purificatio (Mariä Lichtmess oder Das Fest der Darstellung des Herrn; 2. Febr.) wird daran erinnert, wie Maria die jüdische Unreinheitsvorschrift einhielt. Im Alten Testament wird festgelegt, dass eine Mutter vierzig Tage nach der Geburt eines Sohnes als unrein gilt (Lev 12,2-4). Anschließend musste die Mutter sich reinigen und ein Reinigungsopfer darbringen, wofür Maria in den Tempel pilgerte (vgl. Lev 12,4-8; Luk 2,22). Beim Kirchgang der Kindbetterin wird der erstmalige Gottesdienstbesuch einer Mutter gefeiert. Auch diese christliche Tradition orientiert sich am alttestamentlichen Reinigungsritual. Am 2. Febr. 1912 habe der Papst Pius X.

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ner der »wunderbarsten Vorgänge im Naturleben«, in dem sichtbar wird, wie in einem ›zarten Weib‹ die »geheimnisvolle Erschaffung eines neuen Menschen«406 stattfindet. Neben den geschilderten christlichen Äußerungen über die Stellung der christlichen Frau führt sie Aussprüche an, die Tertullian und Jesus Christus zugeschrieben wurden, und die aus ihrer Sicht kennzeichnend für die geringe Achtung des Familiensinns im Christentum gewesen seien, womit ebenfalls auch der Stellenwert der christlichen Mutter herabgesetzt werde.407 Im Kontrast zu der von ihr geschilderten Innigkeit des jüdischen Familiensinns408 versucht sie anhand bestimmter neutestamentlicher Aussprüche, die Jesus zugeschrieben werden, zu verdeutlichen, dass die Familie im Neuen Testament einen ›geringeren‹ Stellenwert habe, denn »fragte nicht Jesus, als seine Mutter ihm mit einer Frage nahte: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?‹«409 . Auch könne der Jesus zugeschriebene Ausspruch »›so Jemand nicht hasset seinen Vater, seine Mutter […], der kann nicht mein Jünger sein‹, [nach Remy] nur symbolisch gemeint sein, aber die Kühnheit dieses Ausspruches ist doch characteristisch für den mangelnden Familiensinn und das Streben nach Auflösung aller durch Liebe und Anhänglichkeit geknüpften verwandtschaftlichen Verhältnisse zu Gunsten der rein abstracten Lehre.«410 Ein solches Verhalten vonseiten der Kinder, so zeigt es Remy auf, wird nach deuteronomischen Gesetz mit den schwersten Flüchen geahndet und im Judentum nicht toleriert.411 Maria aber, die Mutter Jesu, habe sich Remy zufolge vorbildlich als jüdische Mutter gezeigt, indem sie »still und liebevoll des Sohnes Worte ›im Herzen bewahrt‹ und es ihm nicht nachträgt, dass er sie – als ihm gemeldet wird, seine Mutter und seine Brüder ständen draussen und wollten ihn sprechen, fast verleugnet mit der Frage: ›Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?‹ und auf die Jünger deutend, fortfährt: ›Dies ist meine Mutter, und dies sind meine Brüder‹.«412

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(1835–1914) die Aufhebung des Festes der Mariä Reinigung sowie von drei weiteren Feiertagen verfügt. Die »liberale Meraner Zeitung« archiviert in: plädiert für Beibehaltung, weil das Volk daran »gewöhnt« sei (!!)«, kritisiert Nahida Ruth Lazarus in ihrem Tagebuch, in: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag, Arc.Nr. 01 134. Lazarus 1896: 2. Vgl. ebd.: 33: »Selbst dass sie Mutter wird, ärgert die Frommen sehr. Eine Art Empörung ergreift Tertullian beim Anblick von Mutter und Kind. ›Keine Kinder!‹ ruft er aus, ›die Kinder werden ein Bleigewicht sein an dem Tage, da wir freie Füsse haben müssen!‹.« Die Familie sei das, was das jüdische Volk vor allen anderen Völkern ausmache. Vgl. ebd.: 185 sowie Kap. II, 2.2.1. Vgl. Joh 2,4. Lazarus 1896: 22. Vgl. Lk 14,26. Lazarus 1896: 22f. Vgl. Dtn 27,6. Lazarus 1896: 194. Vgl. dazu auch Remy 1893f: 17: »Schön ist d. jüd. Sprichwort: ›unter den 4 Dingen, deren sich auch der Vornehmste nicht rühmen kann [weil sie sich von selbst verstehen!) ist, dass er aufsteht vor seiner Mutter‹. Charakteristisch ist auch Folgendes: D. Rabbinen haben gelehrt: wenn ein Sohn, sein Vater und sein Lehrer zusammen im Gefängnis sitzen, – (es handelt sich um die Auslösung), dann geht er seinem Lehrer vor, sein Lehrer geht seinem Vater vor, – aber seine Mutter geht Allen vor! [Herv. i.O.]« Vgl. Lk 2,51; Mk 3, 31–35. Lazarus 1896: 22f.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Sie interpretiert den »mangelnden Familiensinn«413 im Hinblick auf die modernen christlichen und jüdischen Mütter, die ihre Kinder ihrer Meinung nach schlecht erzögen, indem sie diese entweder in Instituten oder von Hofmeistern und Gouvernanten betreuen lassen. Es gäbe ihrer Meinung nach nur noch wenige zeitgenössische Mütter, die sich selbst um die Pflege, Ernährung und Erziehung ihrer Kinder sorgen, womit die Eltern, die ihre Kinder abgaben, für sie ein höchst unsittliches Beispiel darstellen.414 Die finanziell geringer gestellten christlichen Mütter hätten nach Remys Schilderungen zufolge ihre eigenen Kinder sogar für ein zusätzliches Einkommen in Fabriken oder zum Bettelverkauf geschickt, und kamen diese ohne Geld oder Essen nach Hause, hätten sie von ihren Müttern Beschimpfungen, Schläge oder noch Schlimmeres erhalten.415 Mit solchen provokanten Beispielen neuerer Zeit versucht sie vergleichend aufzuzeigen, welche mütterliche Liebe ihrer Meinung nach besonders bei den jüdischen Müttern vorzufinden war, welche sie allerdings bei den modernen Jüdinnen wiederum vermisse (s.Kap. II, 2.3.2).416

2.4.2 Ehe und Familie versus Zölibat Im Folgenden wird Remys taktische Darstellung der antiken sowie paulinischen christlichen Sichtweise über die Ehe und Familie erläutert, die die Stellung der Frau im frühen Christentum widerspiegle, und damit die damalige gängige Behauptung widerlege, dass »das Christenthum das Weib befreit und […] die Ehe veredelt«417 habe. Sie versucht mit fundierten Belegen aus der hebräischen Bibel und Talmud aufzuzeigen, dass die Ehe und Familie bereits im antiken Judentum als erstrebenswert und als einziger Ort betrachtet wurde, in dem gerade ein menschliches, erfüllendes und gottgewolltes Leben stattfinden kann.418 Vergleichend dazu habe die Ehe im frühen Christentum einen geringeren Stellenwert gehabt. Aus ihrer Interpretation von paulinischen Aussagen folgert Remy, dass das frühe Christentum nicht zur Ehe geneigt gewesen war und diese nur duldete, damit neue Christen geboren werden.419 Im Unterschied zum Judentum, wo von jeher die Ehe

413 Vgl. Kap. II, 2.3.2. 414 Lazarus 1896: 201: Sie überlassen ihre Kinder lieber »geschwätzige[n], dummdreiste[n], gleichgültige[n], oft geradezu rohe[n] Weibspersonen, ohne Ahnung und ohne Rücksicht, was den Kindern zuträglich ist oder nicht.« Nach ihrer persönlichen Lebensbeschreibung kann an dieser Stelle auch Kritik an der Erziehungsart ihrer eigenen Mutter herausgelesen werden, da diese ebenfalls Remy als Kleinkind immer wieder abgegeben hatte. Vgl. Kap. I, 1. 415 Vgl. Ebd.: 200f. Die wirtschaftliche Lage verlangte von vielen Müttern, ebenfalls zum Unterhalt beizutragen, sodass sie dadurch gezwungen waren, ihre Kinder in unterschiedlichen Institutionen zur Pflege abzugeben oder ebenfalls arbeiten zu schicken. Siehe auch Schlesinger-Eckstein 1902: 55f. 416 Lazarus 1896: 200f.: »Ich wage es zu behaupten, dass keine jüdische Mutter solcher Unnatur fähig ist. Ich glaube nicht einmal, dass eine jüdische Mutter ihr Kind in die Fabrik schickt. Ist die Noth zu bitter, dann trennt sie sich eher mit blutendem Herzen von ihrem Kinde und schickt es ins israelitische Waisenhaus, wo es unter Aufsicht steht und eine tüchtige Erziehung erhält.« 417 Lazarus 1896: 28. 418 Vgl. ebd.: 48. Im Judentum ist die Familie immer eine bedeutende Institution gewesen. Vgl. Kap. II, 2.1.1; Kaplan 1997. 419 Vgl. 1Kor 7,38: »Heiraten ist gut, nicht heiraten ist besser.« Siehe: Lazarus 1896: 17; 19.

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als ein heiliger Bund zwischen den Ehepartner darstellt und gottgewollt sei,420 empfehle Paulus nach Remys Interpretation seiner Aussagen dem Menschen nicht zu heiraten und seinem Beispiel, wenn man es könne, zu folgen. Das Weib und die Ehe werden bei Paulus »höchstens als nothwendiges Uebel« betrachtet und »derjenige, der seine Tochter verheirathet, begeht gerade keine Sünde, sagt Paulus, aber derjenige, der sie nicht verheirathet, thut ein gutes Werk«421 . Damit sei Remy zufolge der Kerngedanke von Paulus enthüllt: »die Ehe ist nicht der vollkommenste Zustand des Menschenpaares, sondern ein Nothbehelf wegen der Bedürfnisse der rohen Natur.«422 Sie interpretiert die paulinische Aussage in 1Kor 7,9 als eine »Entkleidung der Ehe ihrer sittlichen Idealen«, womit er die Ehe »zum Abzugskanal für unreine Säfte«423 mache. Sie vermisst in seiner Auffassung den göttlichen Auftrag zur Eheschließung und Fortpflanzung, und somit das Heilige am christlichen Ehebund, womit das Göttliche innerhalb der menschlichen Gemeinschaft auf der Erde ausgedrückt wird.424 Im Gegensatz zum jüdischen Eheverständnis setzte das antike Christentum durch die vorrangige Pflicht zur alleinigen ›Liebe zu Gott‹ vor allem die Frau sowie die Ehe zurück. »Als ob nicht diese Liebe zu Gott in einem liebevollen Eheleben ganz besonders und vorzugsweise gepflegt werden könnte!«425 Vergleichend dazu sei die »ganze talmudische Richtung fürs Heirathen. Wer nicht heirathet, mindert das Ebenbild Gottes auf Erden«426 . Damit verleiht Gott nach Remys Interpretation selbst der menschlichen Wirklichkeit der Ehe einen Verweischarakter auf seinen Bund. Denn mit dem göttlichen Befehl, »seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde!«427 werde die Ehe nicht nur auf die Fortpflanzung reduziert, sondern ein Eheverständnis vermittelt, das von Zuneigung, Liebe und Gemeinschaft geprägt sei. Dagegen stelle der »christliche Pessimismus von der Erbsünde« die eheliche Liebe und Gemeinschaft als »eine Niedrigkeit der Natur und verpöne somit jede Vermählung«428 . Die fortfahrende Verleumdung und Verachtung der Ehe bei den christlichen Kirchenvätern, die sich ebenfalls auf die genannten paulinischen Aussagen stützten, zeigen ebenfalls keine Erhöhung der Frau auf.429 Mit der Herabwürdigung der Ehe als un-

420 Ebd.: 49: »Im Sittengesetz der Thora ist es für den Mann ein Gebot zu heirathen, jedoch dann erst, wenn er im Stande ist eine Familie zu erhalten und dieselbe standesgemäss zu versorgen.« 421 Lazarus 1896: 18. 422 Ebd.: »Aber er verheirathe sie dennoch, wenn sie nicht Enthaltsamkeit üben kann, ›denn besser ist’s, verheiratet sein, als Brunst leiden‹.« (vgl. 1Kor 7,9). Vgl. auch ebd.: 20: »Indem Christus und die Apostel die Ehe als ein nothwendiges Übel hinstellen und fortdauernd auf die Löblichkeit und Seligkeit des Cölibats hinweisen, ist es den Kirchenvätern nicht zu verdenken, dass sie auf dem vorgezeichneten Wege weiter gingen«. 423 Ebd.: 19. Vgl. auch ebd.: 29: Zitat von 1Kor 7,28: »Doch werden solche (die freien) leibliche Trübsal haben. Ich verschonte aber Euer gern.« 424 Ebd.: 19: »Was ist in dieser Auffassung aus dem heiligsten Verbande, aus der göttlichsten Gemeinschaft, die es auf Erden giebt, geworden!« 425 Ebd.: 28: Dazu gibt Remy das Werk von A. Wünsche »Jesus und die Frauen« an, in der die »landläufige Meinung […], dass nämlich das Christenthum das Weib ›befreit‹ und ›erhöht‹ habe«, näher ausdiskutiert wird. 426 Ebd.: 53. 427 Ebd.: 52. Siehe: Gen 1, 28. Vgl. Kap. II, 2.1.1. 428 Ebd. 429 Ebd.: 20: »Je weiter wir kommen, desto mehr Verläumdung und Verachtung der Ehe.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

reinem Zustand, der eine Folge der natürlichen Verderbtheit der menschlichen Natur sei, hätten sich die »Heiligen Kirchenväter« an der »Verletzung der Ehrfurcht vor Gottes Naturgesetzen«430 schuldig gemacht. Um den unreinen Zustand der Ehe zu untermauern, sei stets auf den »›Sündenfall Adam’s und Eva’s‹ als verhängnisvolle Voraussetzung«431 verwiesen worden. Remys Darstellung einer früh-christlichen Abneigung gegenüber der Ehe widersprach ihrem alttestamentlichen Eheverständnis, in dem die gegenseitige Achtung, Liebe und das Begehren gelehrt werde. »Wenn die Fortpflanzung nicht aus Liebe der Geschlechter zueinander, sondern als Ergebniss kalten Pflichtgefühls (damit die Welt nicht aussterbe) – vor sich gehe! Dann hätte sie Gnade vor den Augen der heiligen Eiferer gefunden! Dann konnte man sie als Ergänzung zum allgemeinen Märtyrerthum auf die Conduitenliste einschreiben, welche zur Aufnahme ins Paradies berechtigen, – aber so!«432 Sie könne die Abneigung der Kirchenväter der Ehe gegenüber der Jenseits- und Gegenwartsvorstellung des Christentums nachvollziehen, »wenn man bedenke, dass sie die Freuden des Jenseits, die Seligkeit des Himmels priesen und die muthlose und entmuthigende Ansicht vorbereiteten, die Erde sei ein Jammerthal und das Leben nicht werth gelebt zu werden.«433 Allerdings seien solche »drohenden Worte« der Kirchenväter leicht widerlegbar gewesen, denn es gab bereits im frühen Christentum Liebesehen, wo die Paare ihre Partnerschaft mit Freude und Liebe, d.h. »in innigster Gemeinschaft des Leibes und der Seele«, vollzogen hätten, und damit »schon hier auf Erden glücklich wurden und ihren Frieden fanden«434 . Aus diesem Grunde plädiert Remy dafür, dass die Menschen ihre Vernunft und die Möglichkeit lieben zu können, im Diesseits in einer Ehe auch ausleben dürfen sollen. Da die neutestamentliche Ehe aber nicht als der vollkommene Zustand des Menschenpaares angesehen werde, sondern als Ort sexueller Befriedigung, werde die Jungfräulichkeit von Paulus auch als Idealbild für eine Christin hervorgehoben. Die Enthaltsamkeit und Keuschheit gelte demnach als Bestimmung für einen auserwählten Christen, schlussfolgert Remy.435 Dies sei auch nach paulinischer Aussage das 430 Ebd.: 21. 431 Lazarus 1896: 20. 432 Ebd.: 20; 52: Als jedoch Kriege, Aufstände und Verfolgungen (um 70 n. Chr.) durch viele Generationen hindurch zahlreiche Opfer forderten, habe auch die »rabbinische Weisheit allerlei ehegesetzliche Vorschriften, besonders zu Gunsten der Vermehrung getroffen.« 433 Ebd.: 26f.; 29: »Allein ist diese Geringschätzung des wichtigsten und heiligsten Verhältnisses auf der Welt nicht ganz natürlich in einem System, das den Menschen, trotz aller ihm verliehenen Geistesgrösse und Gemüthsinnigkeit, die Aussicht gibt, nur erst ›im Jenseits‹ reif, glücklich und vollendet werden zu können? – Dennoch gab es verhätnismässig immer nur wenige Säulenheilige und die Frommen rächten sich für die unabweisbare Institution der Ehe an dem schwächeren Theil derselben, an der Frau.« Als Belegstelle gibt sie dazu 1Joh 2,15 an: »Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters.« Zur Ehe im Paradies vgl.: Müller 1954. 434 Lazarus 1896: 27: »Wie konnten sie es gern sehen, dass so und so viele Menschen in innigster Gemeinschaft des Leibes und der Seele, schon hier auf Erden glücklich wurden und ihren Frieden fanden, und so gewissermassen ihre drohenden Worte lügen straften.« 435 Ebd.: 17: »Nachdem gar Christus inbezug auf die Geschlechterverhältnisse den Satz ausgesprochen hatte: ›Es sind aber Einige, die sind verschnitten um des Himmels willen‹, seitdem verlor die

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ideale Schicksal für eine christliche Frau, indem sie in völliger Keuschheit und Gottergebenheit »als Schwester im heiligen Geist, als [Braut] Christi«436 lebe. Als »kluger Menschenkenner«437 habe Paulus bewusst jungfräuliche Frauen für missionarische Zwecke auserwählt, da diese sich Remy zufolge in der christlichen Bekehrung geschickter erwiesen. Paulus habe sich einen ›Corpsgeist‹ bei Frauen ausgebildet, denen er allerdings auch »manche Gunst und Freiheit«438 gestattet hätte. »Besonders die Wittwe, wenn sie sich nicht wieder vermählte, erfreute sich einiger Privilegien.«439 Zur Bekräftigung ihrer Ansicht über die erfolgreiche Missionstätigkeit der Frauen zieht sie Jesu Jüngerinnen heran, durch die »in die neue Secte jenes Element der Schwärmerei und des Wunderglaubens«440 eingeführt worden seien. Die Jüngerinnen Jesu seien nach Remy »Anhängerinnen einer neuen Sekte« geworden, ohne dass es ihnen »bewusst wurde, dass sie es nicht blos mit einer Persönlichkeit, sondern mit einem Prinzip zu thun hatten«441 . Für sie seien die Jüngerinnen zwar in einer »gewissen Beschränktheit des Geistes [und] wortlosen Willfährigkeit« Jesus gefolgt, aber sie scheinen ihr »sämmtlich gut und sanft, hingebend und lenksam«442 gewesen zu sein, was Remy zufolge Paulus nicht gehindert habe, die Frauen weiterhin sowohl als gefährlich als auch als minderwertig zu stigmatisieren. Entgegen dem alttestamentlichen Ausspruch »Seid fruchtbar und mehret Euch und füllet die Erde!«443 sei für die frühen Christen nicht nur die Jungfernschaft für die Frauen, sondern auch der Zölibat für die Männer erstrebenswert gewesen, entsprechend dem Vorbild von Jesus Christus. Begründet wurden diese beiden Idealbilder, wie bereits hingewiesen, auf die Bestimmung des auserwählten Christen zur alleinigen

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Verehelichung ihren letzten Rest von Ansehen. ›Maria und Christus, die Jungfernschaft und das Cölibat‹ waren die Bestimmung der Auserwählten.« Vgl. Mt 19,12. Lazarus 1896: 18. Ebd.: »Der kluge Menschenkenner wusste wohl, dass das für eine Idee entflammte Gemüth des Weibes mit unwiderstehlicher Zauberkraft ausgestattet ist zur Bekehrung zweifelnder oder ungläubiger Geister, zur Anspornung lässiger Seelen.« Vgl. dazu Kaplan 1997: 103: Tatsächlich galten unter den christlichen Deutschen die Frauen als das religiösere Geschlecht. Die Frauen hielten aufgrund geringerer (wissenschaftlicher) Bildung länger an der Religion fest, »deren Weltsicht spirituelles Denken immer stärker ausschloss. […] Die Frauen gingen häufiger zur Kirche und traten häufiger in religiöse Vereine ein als Männer, und unter den Katholiken neigten sie zur beibehaltung von religiösen Symbolen.« Lazarus 1896: 18. Ebd. Zitiert nach E. Renan Das Leben Jesu (1864), in: ebd.: 25: »Drei bis vier treue Galiläerinnen begleiteten stets den jungen Meister und wetteiferten um das Vergnügen, ihn zu hören, und abwechselnd Sorge für ihn tragen zu dürfen.« Beispielsweise nennt sie Maria Magdalena (von Magdala), die Jesus bis zum Tod und auch noch danach treu blieb, »denn sie war das Hauptwerkzeug zur Begründung des Glaubens an die Wiederauferstehung.« Vgl. ebd.: 26: »Jesu Prinzip«. Darunter versteht Remy die normativen und moralischen Regeln (Prinzipien), die Jesus Handeln ausmacht. Diese seien in seinem Denken und Handeln erkennbar, womit er eine reformatorische Richtung im Judentum auslöste. Vgl. ebd. Vgl. Gen 1,28; Mt 19,12.

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Gottesliebe.444 Dies hatte zur Folge, dass im 11. Jahrhundert der Pflichtzölibat für die Geistlichen kirchenrechtlich vom Papst Benedikt VIII (980–1024) auf der Synode von Pavia eingeführt wurde, was bis heute in der römisch-katholischen Kirche kirchenrechtlich verankert ist.445 Vergleichend dazu werde die jüdische Ehe nach talmudischen Aussagen als Pflicht für jedermann angesehen, womit die Vorstellung des Zölibats keinen Platz darin fände.446 Zwar kenne auch der Talmud Gelehrte, die sich gegen die Ehe und für das Studium des Religionsgesetzes entschieden hätten, allerdings priesen die Gelehrten das nicht als exemplarische Lebensführung für die Menschheit an.447 Remy stellt vergleichend heraus, dass im antiken Christentum und Judentum die Ehe mit einem religiös legitimierten dreifachen Sinn betrachtet wurde: zur Fortpflanzung, zur Vermeidung außerehelicher Sünden und für die gemeinschaftliche Gefährtenschaft. Allerdings werde die Wertschätzung der Ehe innerhalb der unterschiedlichen religiösen Richtungen auch verschieden gewichtet. Mit gezielten neutestamentlichen und antikchristlichen Aussagen der Kirchenväter zeigt sie auf, dass die Ehe im frühen Christentum vergleichend zum Judentum einen geringen Stellenwert innehatte und das Christentum folglich die Ehe nicht erhöht haben könne. Am Beispiel des Pflichtzölibats bezüglich der Priesterehe und der Frage der Bestimmung der Frau zur Jungfräulichkeit kennzeichnet sie darüber hinaus die bestehende Problematik des katholischen Eheverständnisses, worin ihrer Meinung nach auch im 19. Jahrhundert noch der geringere Stellenwert der Ehe sowie der Frau sichtbar werde.

2.4.3 Rechte und Pflichten der christlichen Ehepartner Remy führt im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der christlichen Ehepartner die römisch-christliche Gesetzgebung an, die an »dem berühmten Satz« festhielt: »die Ehe ist eine Vereinigung zwischen Mann und Frau, eine Gemeinschaftlichkeit des ganzen Lebens, des menschlichen und göttlichen Rechts. – Wenn man recht hinsieht, traut man seinen Augen kaum. Wie? Wirklich, eine Gemeinschaftlichkeit? Also die Frau kann ebenso wie ihr Mann Ämter oder Ehren bekleiden, im öffentlichen Dienst als Staatsbürgerin neben ihrem Gatten Pflichten erfüllen? Wenn sie kinderlos ist, oder die Kinder verheirathet, in Stellung sind, konnte die Frau allerdings ihre Kräfte, wie ihr Mann, dem Vaterlande weihen – Nicht doch! Davon kann keine Rede sein, da die Frau nur im Hause und in der Familie wirken darf.«448 444 Lazarus 1896: 17: »Maria und Christus, die Jungfernschaft und das Cölibat waren die Bestimmung der Auserwählten.« 445 Vgl. Lazarus 1896: 21. 446 Ebd.: 54: Entgegen dem Pflichtzölibat sei nach dem Talmud sogar dem Hohepriester die Ehe geboten. Rabbi Jehudah empfehle sogar, »einige Tage vor dem Versöhnungstage dem Hohepriester eine weitere Frau ›vorzubereiten‹, für den Fall, dass seine Gattin plötzlich sterben würde.« Vgl. dazu auch Stern 1879: 12. 447 Lazarus 1896: 53. Vgl. auch Remy 1893d: 11: »Interssant ist die Überlieferung von Ben Asai; er hat nicht geheiratet, lehrte aber, dass der Mensch erst zu Zweien seine Vollendung erhielte. Auf den berechtigten Einwand, dass er sehr schön lehre, aber nicht schön handle, da er die eigene Lehre nicht befolge, antwortet er: […] ›Was soll ich tun? Meine Seele hängt nun mal ausschliesslich an der Wissenschaft‹.« 448 Lazarus 1896: 30.

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Für Remy ist die oben zitierte antike Gesetzgebung, die die zwischenmenschliche Gemeinschaftlichkeit der christlichen Ehepartner betone, eine einfache ›Redensart‹ ohne (kirchen)rechtliche Grundlage.449 Denn die christliche Frau sei in der Antike nach dem staatlichen Recht, das sich am kirchlichen orientierte, nicht dem Mann gleichgestellt gewesen. Sie habe sich dem Ehemann unterzuordnen, da er nach Eph 5,22-24 das Haupt der Familie sei.450 Folglich blieb eine unverheiratete Frau bis zu ihrer Vermählung dem Willen ihres Vaters oder dem nächsten männlichen Verwandten unterstellt. Diese Regelung blieb noch bis ins 19. Jahrhundert unter dem Gesetz der »elterlichen Gewalt«451 wirksam. Mit diesem Beispiel zeigt sie auf, dass die christliche Frau im Vergleich zur Jüdin nicht bessergestellt war, da beide aufgrund ihres weiblichen Geschlechts rechtlich der Gewalt des Mannes unterstellt waren. Gestützt auf die natürlichen Gegebenheiten, wodurch die Frau dem Mann physisch und psychisch unterlegen sei, sei der Mann im frühen Christentum zum Oberhaupt der christlichen Familie erhoben worden. Die Schwäche wird auch von Remy als weibliche Eigenart angenommen, die das weibliche Geschlecht, z.T. bis heute, stigmatisierte. Sie verweist damit erneut auf die Diskrepanz zwischen der alleinigen Pflicht der christlichen Frau ihrem Ehemann in allen Dingen stets tugendhaft und gehorsam zu sein, und der Polemik, dass »das Christenthum das Weib erhoben und mit einer Glorie umgeben [habe], denn es habe die Gemeinschaftlichkeit des ganzen Lebens, des menschlichen und göttlichen Rechts«452 eingeführt. Im Gegensatz dazu verweist Remy auf den heiligen Kirchenvater Johannes Chrysostomus (344–407), nach dem dem Mann der notwendigere und nützliche Teil des Lebens und der Frau der geringere und mangelhafte zugesprochen werde. Für Remy könne jedoch gerade der »nothwendigere und nützlichere Theil nicht ohne den Geringeren sein, durch den er entstanden ist. Man kann sich wohl ein Haus ohne ›Staat‹ denken, aber keinen Staat ohne ›Haus‹.«453 Dem gegenüber akzentuiert sie mit zahlreichen Belegstellen aus der hebräischen Bibel und dem Talmud die gleichwertige Bewertung der jüdischen Frau, die darin ebenfalls als ein menschliches Wesen mit Bedürfnissen und Gefühlen angesehen wird.454 Nicht Untertänigkeit

449 Ebd.: 31: »Und trotzdem ihr alle Rechte und jede Selbstständigkeit und Ebenbürtigkeit neben dem Gatten vorenthalten ist, redet man von einer ›Gemeinschaftlichkeit?‹ Es ist eben diese ›Gemeinschaftlichkeit‹ eine Redensart wie tausend andere, die die Welt beherrschen.« 450 Lazarus 1896: 32: »Die Weiber seien unterthan ihren Männern, als dem Herrn; denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus ist das Haupt der Gemeinde und er ist seines Lebens Heiland. Aber wie nun die Gemeinde ist Christus unterthan, also auch die Weiber ihren Männern in allen Dingen.« Vgl. Tit 2,5; 1Kor 11,2. »Die Weiber sollen sein »ihren Männern unterthan«, auf dass nicht das Wort Gottes verlästert werde.« Remy hat an dieser Stelle fälschlicherweise Tit 1,2 als Quelle angegeben. 451 Vgl. Schlesinger-Eckstein 1902: 39f. Auch im Neuen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 wird die elterliche Gewalt nur dem Vater zugesprochen, wobei eine verwitwete Mutter dieses Recht übertragen erhielt, falls der Vater darin keine Einschränkung testiert habe. 452 Lazarus 1896: 32: »Es heisst es noch von allen Kanzeln und in allen Büchern und Reden der Kirchenlehrer […]«. 453 Ebd.: 29. 454 Ebd.: 32; 49f.: Vgl. Eph 5,21-33, die christliche Haustafel, worunter die christliche Ordnung zwischen den Eheleuten verstanden wird.

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und blinder Gehorsam sei von der jüdischen Frau gefordert worden, sondern vor allem Sitte und Sittlichkeit, womit die jüdische Auffassung von der Ehe eine »durchaus höhere [sei], als man sie sonst findet«455 . Entgegen den von ihr aufgezeigten jüdischen zwischenmenschlichen Regelungen innerhalb der Ehe hätte die christliche Ehefrau innerhalb des antiken Familienrechts keine gleichberechtigten Rechte und Pflichten mit ihrem Ehemann gehabt. Obwohl die christliche Ehefrau, wie die Jüdin, zu Kindererziehung und Haushaltsführung verpflichtet sei, habe sie im Gegensatz zum Judentum kaum Rechte und Bestimmungsgewalt innerhalb ihrer Familie gehabt, auch nicht bei ihren Kindern, da es allein dem Ehemann erlaubt gewesen sei, über seine Frau, Kinder und dem Haushalt zu bestimmen.456 Der christliche Ehemann sei wie im Judentum alleiniger materieller Verwalter des Vermögens der Familie gewesen. Der Unterschied liege jedoch darin, dass im Judentum die Ehefrau ihren persönlichen Besitz, den sie auch selbst erwirtschaften konnte, nutzen durfte, während der christlichen Frau ein solches Recht auf Eigennutz ihres Vermögens nicht zustand.457 Diese Regelung bestand nach Remy z.T. in den meisten europäischen Staaten auch noch im 19. Jahrhundert, wonach alles, was die Ehefrau besaß und alles, das sie durch Erbschaft oder eigene Arbeit erwarb, rechtlich dem Eigentum des Ehegatten zugeschrieben wurde.458 »Charakteristisch für die Missgunst der Ehe erscheint jene von christlicher Seite stammende sonderbare Ungerechtigkeit im Erbrecht, nach welcher der überlebende Ehegatte erst nach den Seitenverwandten siebenten Grades (die dem Ehepaar vielleicht ganz fremd vielleicht feindlich gegenüberstanden!) erbberechtigt ist. Soviel ich weiß, besteht diese Abnormität noch heute im Erbrecht.«459 Da sich das jüdische Eherecht separat zum staatlichen Recht entwickelte und funktionierte, blieben die zeitgenössischen Jüdinnen aufgrund der ketubba (Ehevertrag, s.Kap. II, 2.1.1) von den staatlichen Eheregelungen verschont. Daneben sei es auch der christlichen Frau, wie der Jüdin, nicht erlaubt gewesen, ohne Zustimmung ihres Mannes Verträge abschließen. Allein ihrem Ehemann habe es zugestanden, das Recht Ämter und Ehren zu bekleiden und im öffentlichen Dienst als Staatsbürger Pflichten zu erfüllen sowie seine Kräfte dem Vaterland zu weihen.460 Auch habe er das alleinige Recht gehabt, zu adoptieren und als Zeuge sowie Schiedsrichter fungieren zu dürfen. Denn die 455 Ebd.: 48: »Nicht von schweigender, dumpfer Unterordnung ist die Rede, sondern von liebevoller Gesellung, von einem Hand in Hand gehen in allem Thun und Wollen.« 456 Lazarus 1896: 30: »So! Nun dann wird sie über ihre Kinder bestimmen, wird selbstständig Rechte im Hause ausüben. Nein, das ist ihr auch nicht erlaubt. Der Mann allein hat Rechte und Bestimmungen.« Vgl. Kap. II, 2.1.2; s. auch Kaplan 1997: 73: »Das deutsche Recht erlaubte den Vätern die vollständige Bestimmung über ihre Kinder. Die Entscheidungen des Vaters hatten mehr Gewicht als die der Mutter, und er hatte das Recht, über das Vermögen der Kinder zu verfügen. Erst nach dem Tod ihres Mannes erhielt eine Frau rechte über die Kinder zugesprochen, und auch die konnten begrenzt werden.« 457 Lazarus 1896: 30f.: »Ah! Also bleibt nur die rein materielle Verwaltung ihres Besitzthums, ihres Vermögens? Gott bewahre! Das ist ihr erst recht vorenthalten. Der Mann ist fast ganz alleiniger Herr des Vermögens.« 458 Vgl. Schlesinger-Eckstein 1902: 39f. 459 Lazarus 1896: 29. 460 Vgl. ebd.: 30.

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christliche Ehefrau sei noch bis 1896 für unfähig erklärt worden, als Trau- oder Testamentszeugin tätig zu sein.461 Zudem habe der christliche Ehemann bis ins 19. Jahrhundert das alleinige Recht besessen, Vormund für ein verwaistes Kind zu werden, was im jüdischen Eherecht beiden Ehepartnern zugesprochen sei.462 Auch durfte die christliche Frau nach dem antiken Kirchenrecht, ebenfalls wie im antik-jüdischen Recht, wie Remy betont, nicht in der Gemeinde vorsprechen.»Eure Weiber lasset schweigen in der Gemeinde, denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sollen unterthan sein, wie auch das Gesetz sagt.«463 Somit seien auch im Christentum rituelle Handlungen im Gottesdienst sowie das Priesteramt nur dem Mann erlaubt gewesen, sodass auch innerhalb der christlichen Gemeinschaft Frauen von den zentralen religiösen Positionen ausgeschlossen blieben.464 Beispielsweise habe »kein weibliches Wesen […] je am Altar, wie der erste beste dumme Junge bei einer heiligen Handlung eine Handreichung thun dürfen.«465 Hier zeigt Remy eine deutliche Parallele auf, da es den Frauen im Judentum sowie im Christentum beschränkt erlaubt gewesen war, religiöse Traditionen und Handlungen auszuführen. Im Zuge der weiblichen Emanzipation des 19. Jahrhunderts sei weiterhin auf das Bild der Frau als minderwertiges Wesen, das nicht in der Lage sei, Bildung aufzunehmen, verwiesen worden (s.Kap. II, 3.2.1). Diesbezüglich seien vor allem theologisch-anthropologische Argumente herangezogen worden, die von der ausschließlichen Ebenbildlichkeit des Mannes mit Gott, von der biblisch bezeugten geistigen und körperlichen Minderwertigkeit der Frau bis zu ihrer Unfähigkeit zur Ausübung öffentlicher Ämter reichte.466 Remy stellt fest, dass selbst in den frauenfreundlichsten Vorstellungen zu Ehe und Familie des 19. Jahrhunderts die christliche Frau, gestützt durch paulinische und patristische Lehren, im ehelichen Verhältnis z.T. weiterhin dem Mann untergeordnet 461 Lazarus 1896: 31: »Sie konnte nicht Vormund, nicht Zeuge, nicht Schiedsrichter sein, sie konnte nicht adoptieren, kurz sie blieb das Mündel ihres Mannes.« Erst 1896 wird im Neuen Bürgerlichen Gesetzbuch der unverheirateten Frau das Recht zugesprochen, als Vormund fungieren zu können. Die verheiratete Frau erhielt zwar die Möglichkeit für eine Vormundschaft, allerdings nur mit der Erlaubnis des Ehemannes. Vgl. Schlesinger-Eckstein 1902: 40. 462 Ebd. 463 Lazarus 1896: 32: »Wollen sie aber etwas lernen, so lasst sie ihre Männer befragen. Es steht den Weibern übel an unter der Gemeine zu reden.« Vgl. 1Kor 14,34f.; 1Tim 2,11f. »›Wollen sie aber etwas lernen, so lasst sie ihre Männer befragen. Es steht den Weibern übel an unter der Gemeinde zu reden‹ [1Kor 14,34]. Freilich folgt gleich darauf: ›Ist aber Jemand unwissend, der sei unwissend‹.« Vgl. 1Kor 14,34. 464 Ebd.: 31: »Durfte die Frau das Priesterthum ausüben? Nein. Selbst ihre Religionsübungen waren ursprünglich beschränkt und in Manchem von denen des Mannes als minderwerthig, unheilig, ausgeschlossen oder geschieden. Kein weibliches Wesen hat je am Altar, wie der erste beste dumme Junge bei einer heiligen Handlung eine Handreichung thun dürfen.« Seit den 60er Jahren des 19. Jh.s wurde in evangelischen Konfessionen das Pfarramt ohne Einschränkungen auch für Frauen geöffnet. 465 Ebd. Die Jüdin Regina Jonas (ermordet in Auschwitz 1944), wurde 1935 die erste ordinierte Rabbinerin des liberalen Judentums. Vgl. dazu Klapheck 1999. 466 Ebd.: 32: »›Ein Weib lerne in aller Stille, mit aller Unterthänigkeit‹. ›Einem Weibe gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie des Mannes Herr sei, sondern sie sei stille‹. ›Die Weiber sollen sein, ›ihren Männern unterthan‹, auf dass nicht das Wort Gottes verlästert werde‹.« Vgl. dazu 1Tim 2,11.

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blieb.467 Während der weiblichen Emanzipation wurde die Rolle der Frau weiterhin, gestützt mit auf der Bibel basierenden Argumenten, auf den häuslichen Bereich und die Fortpflanzung festgeschrieben. Durch die weiterhin bestehende gesetzliche und traditionelle Oberhand des Mannes über das weibliche Geschlecht wird die Stellung der Frau nach Remy mit den unzeitgemäßen Einschränkungen deklassiert, während dem Mann diverse Freiheiten zugesprochen werden. Sie verweist diesbezüglich auf die Zeit der Aufklärung und die zeitgenössische weiblichen Emanzipation, in der dieses Verhältnis der Geschlechter zueinander als widersinnig in Frage gestellt und erste Widerstände gegen solche festgefahrenen sozial-religiösen Gebräuche und Regelungen entgegengestellt worden sind.468 So sei mit der bürgerlichen Frauenbewegung gleichzeitig auch die Wohltätigkeitsbewegung entstanden, an der sich interreligiös Frauen in dominierender Zahl und somit in eigenen Einflusssphären beteiligten.469 Auch die christlichen Frauen engagieren sich Remy zufolge beispielhaft mit aufrichtigem Mitleid und religiösem Pflichtgefühl bei den organisierten Hilfstätigkeiten. Während bei den Juden Remy zufolge die Gründung solcher gemeinnützigen Vereine, vor allem unter den Frauen, »als eine seit vielen Jahrhunderten gepflegte altehrwürdige Sitte«470 galt, seien in Deutschland erst in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten großen Wohltätigkeitsanstalten entstanden. Remy zeigt in ihrem Werk auf, dass die Frauen unabhängig ihrer Konfession und Stellung vor allem in der Moderne die Möglichkeit des ehrenamtlichen Engagements als emanzipatorischen Weg nutzen und gewinnbringend einsetzten. »Vielseitige und weitverzweigte Vereinsthätigkeit zur Linderung menschlicher Noth und Hebung menschlicher Kraft bildet heute das Gemeingut der höheren Schichten der Gesellschaft in allen Städten und Staaten des civilisierten Europas. Seit einem Menschenalter hat diese edle Blüte der Humanität sich Blatt für Blatt entfaltet, und in immer weiteren Kreisen Anerkennung gefunden.«471

2.4.4 Ehescheidung und Wiederheirat »Habt Ihr nicht gelesen, dass der im Anfang den Menschen gemacht hat, der machte, dass ein Mann und ein Weib sein sollte und sprach: darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hängen und werden die zwei ein Fleisch sein? So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch – Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.«472 467 Ebd.: 31: »Der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus ist das Haupt der Gemeinde und er ist seines Leibes Heiland [Eph 5,22]. […] Aber wie nun die Gemeinde ist Christus Unterthan, also auch die Weiber ihren Männern in allen Dingen [Eph 5,24].« 468 Ebd.: 304f. Vgl. auch Schlesinger-Eckstein 1902: 44f.; Kaplan 1997: 254–303. 469 Lazarus 1896: 300: »Unzählig sind ausserdem die interconfessionellen gemeinnützigen Anstalten an denen Jüdinnen mit christlichen Gesinnungsgenossinen zusammen regsten Antheil nehmen.« 470 Ebd.: 304f.: Der Börsenkrach von 1873 und die darauffolgende Arbeitslosigkeit und soziale Unruhe beschleunigten die Zunahme von kirchlichen und privaten Wohltätigkeitsorganisationen, die überall »wie Pilze aus dem Boden schossen.« Vgl. auch Schlesinger-Eckstein 1902: 44f.; Kaplan 1997: 254–303. 471 Lazarus 1896: 304. 472 Ebd.: 27. Siehe Mt 19,4-6; 1Kor 7,10f. Vgl. dazu auch Brooten 1982.

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Remy zitiert die Jesu zugeschriebenen biblischen Verse, um die Rechte der Ehepartner bezüglich der Ehescheidung im Christentum zu verdeutlichen. Gegenüber dem zuvor geschilderten jüdischen Verständnis von der Ehe und Ehescheidung (s.Kap. II, 2.1.3) sei in den obigen zitierten Versen eine Verschärfung festzustellen, in dem Jesus die Ehescheidung verwerfe. »Obwohl der Frau oder dem Manne Befreiung von dem drückenden entsittlichenden Joch eines körperlichen Zusammenseins, ohne innere seelische Gemeinschaft gerade im Geist der Moral und der Religion wohl zu gönnen ist, aber er verwirft die Scheidung, ›um das fatale Geschlechtsverhältniss in einer einmaligen Ehe zu beschränken‹ (A. Jung). – Theologische Dialektik hat das Wort: ›Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden‹.«473 Das kirchliche Eheverständnis und die daraus folgenden Einschränkungen für die Ehescheidung stützen sich in der Tat vor allem auf die von Paulus und Jesus zugeschriebenen Aussagen über die Ehe und die Ehescheidung474 , weshalb die Kirchenväter die Ehe nach Mt 19,9 als bindend ansahen und die Scheidung derselben daher strengstens verboten.475 Orientiert an den synoptischen Aussagen über die Ehescheidung hätten bereits die römisch-christlichen Kaiser die Ehescheidung gesetzlich fast unmöglich gemacht.476 Konstantin der Große (3./4. Jh. n. Chr.) habe 331 n. Chr. die Ehescheidung in Einvernehmen erschwert und das Verbot der einseitigen Ehescheidung erlassen.477 Wie im Judentum seien im Falle eines Scheidungswunsches bestimmte Trennungsgründe und strenge Maßregelungen für den Schuldigen aufgesetzt worden, nach denen allein eine Scheidung stattfinden dürfte, womit »die Befugniss auf[gehoben sei], sich in gütlicher gegenseitiger Einwilligung [zu] trennen.«478 Idealerweise halte die christliche Ehe, bis der Tod die Ehepartner scheide. Im Falle einer Scheidung allerdings war nach Remy eine zweite Heirat im Christentum bis ins 19. Jahrhundert verpönt gewesen, auch den Geistlichen wurde eine Zweitehe als »ehrsamer Ehebruch«479 verboten. »Wer zuwider handelte, auch

473 Lazarus 1896: 27f.: Der neutestamentliche Ausspruch sei »Gerade im umgekehrten Sinn im Volke populär […], als ob es nämlich bedeute, dass Liebende sich auch besitzen sollen, – während an dieser Stelle nicht von Liebenden, sondern im Gegentheil von Nichtliebenden die Rede ist.« Vgl. Mt 19,9. 474 Vgl. Landmesser 2002: 1094. 475 Vgl. George 2002: 1095: Die Ehe wird bis heute in der katholischen Kirche als ein von Gott gestiftetes Band zwischen ihm und den Ehepartnern angesehen, das das Mysterium der Vereinigung Christi mit der Kirche abbilde, weshalb sie sakramental und unauflöslich ist. 476 Lazarus 1896: 29f.: »Ebenso ist es eine kluge Benachtheiligung der Ehe, dass die Scheidung nicht nur in den Äusserungen des N[euen] Testaments, sondern in der Gesetzgebung der christlichen Kaiser förmlich erschwert wurde.« Siehe die Synoptiker: Mt 5, 27–32; Mk 10,2-12 und Lk 16,18. Vgl. dazu Fander 1989: 200–256. 477 Lazarus 1896: 29f. Vgl. auch George 2002: 1095. 478 Lazarus 1896: 30: »Erst ein allerdings von keinen dogmatischen Bedenken angekränkelter heidnischer Nachfolger hob dieses Gebot wieder auf, in der richtigen Erkenntniss, dass ›Hass und Antipathie oft stärker seien als die menschliche Vernunft‹.« Als Trennungsgründe wurden akzeptiert: Unzucht, religiöse Verschiedenheit und Klostereintritt. Vgl. dazu George 2002: 1095. 479 Lazarus 1896: 20.

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die Laien, die zum zweiten Mal heirateten, wurde bestraft und öffentlich beschämt.«480 Verstarb allerdings ein Ehepartner, sei es dem verwitweten Ehepartner erlaubt gewesen, erneut zu heiraten. Wenn sich die Witwe jedoch nicht wieder vermählte, erhielt sie nach paulinischen Aussagen einige Privilegien. So verweist Remy ironisch darauf, dass die christliche Witwe nicht mit ihrem verstorbenen Ehemann begraben werden müsse, wie beispielsweise die Witwe nach den hinduistischen Lehren des Manu.481 Sie werde auch nicht zur Schwagerehe gezwungen, wie im Alten Testament verordnet, und durfte auch nicht »wie eine Sache testamentarisch Anderen vermacht werden«482 . Somit sei die christliche Witwe für Remy die erste Frau, die tatsächlich an »Individualität«483 gewann. Allerdings auch nur solange sie auch unverheiratet bliebe, um ihr »Seelenheil«484 zu wahren. Denn Paulus sei unermüdlich darin gewesen, den Witwen »die Entsagung eines neuen Liebesbundes zu empfehlen und entwarf […] folgendes Idealbild der ›wahrhaften‹ Wittwe«485 : sie solle stets beten und jegliche ›menschliche Neigung‹ mit der Asche ihres Mannes begraben. Auch nach der talmudischen Ansicht werde es den Ehepartnern nahegelegt, nur einmal zu heiraten. So habe Rabbi Simon ben Nachman gesagt, dass es für alles Ersatz gebe, nur nicht für die erste Frau, die Jugendgattin. Wenn dem Mann aber diese erste Frau stirbt, »so ist es, als ob ihm der Tempel zerstört worden würde«, was Rabbi Alexander mit folgendem Ausspruch, »und dann verfinstere sich ihm die Welt«486 , ergänzt habe. Hatte der jüdische Ehemann das Unglück, dass seine erste Frau starb, werde ihm nach talmudischer Sichtweise die Wiederheirat empfohlen, denn es stehe geschrieben: »Es ist nicht gut, dass der Mann allein sei.«487 Remy stellt in ihrer Auseinandersetzung mit der jüdischen und christlichen Ehescheidung fest, dass wie im Christentum, wo die Ehescheidung bis heute aus katholischer Sicht als inakzeptabel gilt, auch im Judentum eine Scheidung als Tragödie und spirituelles Übel angesehen wird, da es sich dabei um ein Auseinanderbrechen einer geheiligten Verbindung handele.488 Dennoch diene die Ehescheidung im Judentum als ein notwendiger Ausweg aus einer entfremdenden Zerrüttung. »Denn wo die Ehe ihren spirituellen Kern verloren hat, wird auch ihre Heiligkeit verletzt. Würde eine Ehe aufrechterhalten, obwohl Mann und Frau einander nicht mehr lieben, könnte ein weiteres Zusammenleben den Kindern mehr schaden, als die Scheidung dies tut.«489 Wurde eine 480 Ebd. 481 Vgl. ebd.: 18. Weiterführende Literatur zur Witwenverbrennung und -bestattung (Sati) siehe: Fisch 1998. 482 Vgl. ebd.: 18f. 483 Vgl. ebd.: 19. Weiterführende Literatur siehe: Stählin 1974; Weiler 1980; Weiler 1988. 484 Vgl. ebd. 485 Lazarus 1896: 19: »Wenn sie sich noch des Lebens freuen wollte, sie wäre eine lebendige Todte (vivens mortua est).« Vgl. 1Tim 5,5f. 486 Ebd.: 50. 487 Vgl. Gen 2,18. Lazarus 1896: 34; 48. 488 Vgl. ebd.: 60. Vgl. dazu Homolka 2009: 114; Bis heute hält die römisch-katholische Kirche, als einzige der großen christlichen Konfessionen, an der absoluten Unauflöslichkeit der Ehe und damit auch am Wiederheiratungsverbot fest. »Durch das im Jahre 1900 in Kraft getretene BGB wurde die Scheidung prot. Tradition gemäß auf Fälle einer durch den anderen Ehegatten verschuldeten Ehestörung beschränkt.« In: George 2002: 1095–1097. 489 Homolka 2009: 114f.

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Ehe geschieden, konnten die geschiedenen Eheleute nach jüdischem Recht wieder heiraten, vor allem aus dem Grund einer möglichen und erwünschten Wiederheirat des geschiedenen Paares. »Laune, Übereilung und Temperamentsfehler, u.s.w. finden im Talmud eine weise Berücksichtigung. Vieles davon ist in den Ehescheidungsgesetzen vorgesehen. Die geschiedenen Gatten können sich wieder mit einander verheirathen, denn Reue und gewonnene Einsicht nähern die früher in gegenseitigem Zorn Entbrannten von Neuem, ja oft bewirkt erst die vorherige Trennung die Erkenntnis, wie lieb man sich im Grunde hat und wie man nach dem Bibelspruch ›Eins‹ geworden ist, ohne sich dessen bisher voll bewusst gewesen zu sein!«490 In dieser Regelung käme zum Ausdruck, wie bedeutsam die Ehe im Judentum angesehen werde und dass eine Trennung grundsätzlich als ein Unglück galt. Die Wiederverheiratung sei aber in dem Fall verboten, wenn die Frau bereits eine neue Ehe eingegangen war. Ein erneut verheirateter Mann allerdings durfte daneben auch seine frühere Frau heiraten, da die Polygynie bis zum Mittelalter noch gesetzlich erlaubt gewesen sei. »Dagegen würde – und das scheint sehr merkwürdig – kein Hinderniss [einer Wiederheirat der geschiedenen Eheleute] vorliegen, wenn [die geschiedene Frau], statt sich zum zweiten Mal zu vermählen, ein vorübergehendes, illegitimes Liebesverhältniss mit einem Anderen eingegangen wäre.«491 Auch in dieser befremdlichen Bestimmung erweist sich nach Remy »der Talmudist […] als ein gründlicher Denker und daher auch als ein gerechter Menschenfreund.«492 Denn die Frau habe eine »temperamentvolle Art«, die aus »ein[em] Augenblick weichmüthiger Schwäche oder leidenschaftlicher Selbstvergessenheit«493 zu einem Fehltritt führen könne, den sie danach bereue. Denn die Frau sei »von der Mutter Natur mit starkem, gesunden Liebesbedürfniss oder allzu lebhafter Herzensgüte ausgestattet«, sodass sie ihrem ersten Ehemann wieder eine »redliche und treue Lebensgefährtin«494 werden und bleiben kann. Seien aber die geschiedenen Ehepartner erneut gewillt, die Ehe aufzunehmen, sei dies im Judentum stets als eine wundervolle und begrüßungswerte Tatsache aufgenommen und unterstützt worden. Denn die Ehe sei für das Judentum »ein Zustand, der Heiligkeit und Glück herstellt. Eine heilige und glückliche Ehe ist die Erfüllung eines wesentlichen Teils jenes von Weisheit und Liebe getragenen Plans, den Gott für das Leben des Menschen vorsieht.«495 Wurde die Ehe allerdings aufgrund eines Todesfalles beendet, stand es dem verwitweten Ehepartner zu, wieder zu heiraten.496

490 491 492 493 494 495 496

Lazarus 1896: 60. Lazarus 1896: 60. Ebd. Ebd. Ebd. Homolka 2009: 136. In: ebd.: 134: »Das Judentum erhebt keine Einwände gegen die erneute Heirat von Menschen, die verwitwet oder geschieden sind. Im Gegenteil ist es der Meinung, dass es grundsätzlich nicht wünschenswert ist, wenn der Mann ohne eine Frau lebt oder eine Frau ohne einen Mann (MT Ishut 15,16; ShA, EH 1,8).«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

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Fazit: Remys Idealbild der jüdischen Frau

»Sein Haus, das ist sein Weib«497 , diese Auslegung des Talmuds, die Remy ihrem Werk als Motto voranstellt, enthalte für die alte und die neue Zeit eine unantastbare Wahrheit, in der die besondere Stellung des jüdischen Weibes ersichtlich werde. Anhand zahlreicher Gesetzesbestimmungen, die sie in ihrem Werk Das jüdische Weib aufgreift, wird ersichtlich, dass bereits das antike Judentum den Frauen eine hohe Stellung und besonderen Schutz zugesichert habe. Sie betont, dass nach alttestamentlichem und talmudischem Recht vor allem die Würde und Selbstständigkeit der jüdischen Frau gewahrt bleibt, »wie bei keiner anderen Nation damaliger Zeit«498 . Die hebräischen Gesetze seien nicht nur »menschenfreundlicher und seelenkundiger, sondern auch die ungeschriebenen Gebräuche zeugen für Zartheit und Rücksichtnahme.«499 So ist sie der Ansicht, dass beispielsweise entgegen der noch im 19. Jahrhundert bestehenden antijüdischen Polemik, dass die jüdische Ehe eine Kaufehe500 darstelle, diese keine Erniedrigung der Frau bei der Verehelichung nach jüdischem Verständnis bewirke. Zum einen sei der Mohar als Entschädigung für die fehlende Arbeitskraft ausgezahlt worden, der zum anderen wiederum in die Mitgift der Braut einfloss.501 Vor allem die Gleichwertigkeit der Ehepartner wird von ihr besonders hervorgehoben, da von der jüdischen Ehefrau kein blinder Gehorsam verlangt wurde, sondern ein gemeinschaftliches Handeln innerhalb der Beziehung, in der beide Parteien gleichwertig »Hand in Hand gehen in allem Thun und Wollen«502 . Damit orientiert sich Remy in ihrer Argumentation am Eheverständnis des neuentstandenen Reformjudentums, das unter anderem auch die gleichberechtigte und in Liebe gegründete Ehe, mit gleicher rechtlicher Verantwortung, befürwortete, während im orthodoxen Judentum der Mann nach »natürlichem Recht«503 das Oberhaupt in der Familie blieb (s.Kap. II, 2.2.1). Die Jüdin unterstand Remy zufolge nicht mehr ihrem Ehemann, sondern nach reformjüdischer Auslegung von Gen 2,18 als die beratende Gehil-

497 Lazarus 1896: 48: »Sein Haus in der Bibel wird im Talmud geradezu gedeutet: ›sein Haus, das heisst sein Weib‹.« 498 Ebd. 499 Ebd. 500 Kaplan 1997: 151–155, hier 151: Von antisemitischer Seite wurde die Mitgift als typisch jüdische Geschäftemacherei stigmatisiert, wo die Töchter wie Kühe verhandelt worden seien. Allerdings war es im 19. Jh. auch im deutschen Bürgertum sowie bei der Bauernschaft üblich Heiraten zu arrangieren, in denen auch der finanzielle Status eine wesentliche Rolle spielte. Doch obwohl arrangierte Ehen aus ökonomischen Gründen im deutschen Bürgertum üblich und unter den reichen Bauern vorherrschend gewesen waren, kritisierten genau diese »gesellschaftlichen Gruppen die Juden für Praktiken, die sie als zynisch, materaialistisch, anachronistisch und ›fremd‹ denunzierten. Sorgfältig darauf bedacht, ihre eigenen Motive bei der Eheschließung zu verschleiern, ließen diese Kommentatoren ihrer Feindseligkeit gegen Juden als Geschäftsleute, Makler, ›Ausbeuter‹ und soziale Aufsteiger freien Lauf.« 501 Vgl. Lazarus 1896: 36–39; Kap. II, 2.1.1. Der »Kaufpreis« floss tatsächlich zumeist wieder in die Ausstattung (Mitgift) der Braut, die von ihrem Vater mitgegeben wurde. Vgl. dazu Correns 2005: 289439, hier 289. 502 Lazarus 1896: 48. 503 Vgl. Kaplan 1997: 90–93. Siehe auch: Brimmer-Brebeck und Leutzsch 2008.

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fin und gewissenhafte Mutter an der Seite ihres Mannes.504 Darin nehme allerdings das Rollenbild der Mutter weiterhin eine besondere Stellung ein. Dessen annehmend, stilisiert sie in ihrem Werk ein Idealbild des tugendhaften weiblichen Geschlechts, das sich ihrer Meinung nach zuerst im Idealbild der jüdischen Mutter des Alten Testaments niederschlug. Die Hauptaufgabe der jüdischen Mutter sei es den Haushalt zu führen und ihren Kindern und ihrem Mann beizustehen. Als vorbildliche Jüdin sei sie Remy zufolge, wenn sie als Mutter neben der Haushaltsführung und der moralischen Unterstützung ihres Mannes vor allem sich in der religiösen Erziehung der Kinder wirksam zeige. Denn sie hebt deutlich hervor, dass vor allem die Mutter für die Kindererziehung zuständig war, wodurch die Religion als Norm- und Sozialerziehung eingesetzt wurde. Folglich sei die Kindererziehung, das bedeutet die Erziehung durch die Mutter, das Fundament jeglicher (religiöser) Identitätserziehung. Denn erst durch die häusliche Lehre des Glaubens an Gott vermittle die Mutter ihren Kindern ein sittliches Denken, Urteilen und Willen, womit sie eine wichtige Instanz für die jüdische Identitätsbildung darstelle.505 Die Historikerin Marion A. Kaplan (1946) zeigt anhand ihrer Studien über das jüdische Bürgertum auf, dass tatsächlich jüdische Kinder vom Glauben der Mutter, »wie er sich im Haus und in der Küche (positiv oder negativ) ausdrückte, mehr beeinflusst wurden, als vom Synagogenbesuch des Vaters oder ihrem eigenen Religionsunterricht.«506 Remy hebt demzufolge besonders die Wertschätzung und Achtung der sittlichen Lebensweise im Judentum hervor, die die Jüdin ihrer Meinung nach pflichtbewusst von jeher in ihrer Familie bewahrt habe und die die Grundlage für den erhaltenden Bestand der jüdischen Gemeinschaft bilde.507 Bisher kann zusammenfassend ausgesagt werden, dass das Bild jüdischer Weiblichkeit, das Remy in ihrem Werk konstruiert, zwar von einer physischen und psychischen Unterschiedlichkeit der Geschlechter ausgeht, die allerdings keine absolute Divergenz bedeutet. Orientiert an der Bibelstelle Gen 1,27 vertritt sie nämlich die reformjüdische Auffassung, dass für Gott keine Hierarchie zwischen den Geschlechtern bestehe und folglich jüdische Frauen nicht weniger Wert seien als ihre Ehemänner.508 Im innerjüdischen Reformdiskurs des 19. Jahrhunderts setzten sich unter anderem jüdische Gelehrte und Publizisten für eine Reformierung der Geschlechterbeziehung und des

504 Lazarus 1896: 48: »Wird dem Manne im Talmud irgendein wichtiger Vorschlag gemacht, z.B. nach einem anderen Orte zu ziehen, dann sagt er: ›Ich will gehen und es mit meinem Weibe berathen‹.« Vgl. auch ebd.: 51: Eine »typische Gehilfin« sei die Frau des Rabbi Akiba (um 50/55v. -35 n. Chr.) gewesen, die »ihm jede häusliche Last und Mühe« abgenommen habe, damit er sich seinen Studien widmen konnte. 505 Eine ähnliche Sichtweise findet sich bei dem evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der ebenfalls die Entwicklung der religiösen Gesinnung nur in der Familie möglich sah, während jedoch der eigentliche Religionsunterricht nicht der Schule, sondern der Kirche zustehe. Vgl. Lazarus 1896: 188; 192; 310. 506 Kaplan 1997: 95f. 507 Vgl. Lazarus 1896: 188; 192; 310. Vgl. auch Kaplan 1997: 88: Die jüdische Frau seien M. Kaplan zufolge tatsächlich mit der Familie identifiziert und »primär für sie verantwortlich gemacht [worden]. So wurde die Erhaltung der geschlechtsspezifischen Rollenteilung (durch die Familie) verbunden mit dem Überleben des jüdischen Volkes und der jüdischen Tradition.« 508 Vgl. Lazarus 1896: 34.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

talmudischen Traditionsbezugs ein.509 Deutlich wird dies unter anderem an den jüdischen Ehegesetzen, die sich im ständigen Wandel befanden. In den neuzeitlichen Eheregelungen gab es keine Trennung mehr bezüglich den Pflichten für Männer und Frauen, es sei denn diese resultieren aus den natürlichen Gesetzen beider Geschlechter, wie beispielsweise die Nidda-Regelungen oder die Pflicht des Ehemannes seine Familie zu ernähren.510 Auch entwickelte sich in der Moderne aufgrund des neuentstandenen Reformjudentums im Gegensatz zu der talmudischen Regelung, die die jüdischen Frauen in Bezug auf die Ausübung von kirchlichen Funktionen bisher »freigestellt«511 haben, ein neues Verständnis von jüdischer Weiblichkeit. Dabei wurde der jüdischen Frau wie dem Mann zugesprochen, die »Tiefen der Religion«512 erfassen zu können, wodurch von reformjüdischer Seite vermehrt auch Jüdinnen erlaubt wurde, an der Religionslehre sowie -ausübung teilzuhaben. Dieses emanzipatorische Phänomen wurde allerdings zuerst in Amerika durch Rachel (Ray) Frank (1861–1948) durchgesetzt, der bereits 1890 als Jüdin die Gestaltung eines öffentlichen Gottesdienstes samt Predigt in einer Synagoge erlaubt wurde.513 Remys Argumentationsmuster orientiert sich folglich stark an der reformjüdischen Interpretation des jüdischen Eherechts, wonach die Pflichten und Rechte dem jeweiligen Geschlecht zugeschrieben wurden. Demnach plädiert sie innerhalb ihres Buches für eine jüdische Frauenrolle, die sich zwar ihren traditionellen Aufgaben zu fügen hat, aber diese gleichzeitig nach Möglichkeit mit den modernen emanzipatorischen Sichtweisen des 19. Jahrhunderts zu kombinieren versucht. Denn »ein ganz treues Festhalten an den Überlieferungen des alten Bundes« stehe nicht im Widerspruch »mit den höchsten Anforderungen des politischen und sozialen Lebens«514 der Moderne. Zeitgeschichtlich zeigt sie diesbezüglich eine Vielzahl an jüdischen Frauen auf, die sich nicht nur als Mütter, Gattinnen, Hausfrauen, Denkerinnen, Religionsheldinnen und Wohltäterinnen bewährt haben, sondern auch als Heilkundige, Hebammen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Dichterinnen.515 Anhand der erwähnten jüdischen Frauen macht sie deutlich, dass es auch für Jüdinnen möglich war, im christlichen Bürgertum sozial und gesellschaftlich erfolgreich zu sein. Die von ihr aufgestellte Idealvorstellung einer Jüdin, die den Familiensinn, die Religionstreue und die praktische Kulturarbeit miteinander zu kombinieren vermag, wurde nach Remy bereits von der Jüdin Sara Copia

509 A. Geiger, Begründer des Reformjudentums, forderte bereits 1830 die Gleichstellung der jüdischen Frauen in religiöser Hinsicht. 1846 wurde in der Rabbinerkonferenz in Breslau die Gleichstellung der Geschlechter auf allen religiös-gesetzlichen Gebieten begründet. 510 Vgl. ebd.: 34. Bis heute ist im Deutschen Mutterschutzgesetz von 2017 (§§ 3–6) festgehalten, dass schwangere und stillende Frau einen bestmöglichen Gesundheitsschutz erhalten. Im Falle einer Scheidung muss der besser Verdienende Unterhalt für den geschiedenen Ehepartner und Kinder zahlen. Da noch heute zumeist der Ehemann ein höheres Einkommen erwirtschaftet, muss er dieser Verpflichtung nachgehen. Vgl. Deutschland 2018, hier § 1361; § 1570. 511 Lazarus 1896: 190. Vgl. Kap. II, 2.2.3. 512 Ebd.: 299. 513 Zu Rachel Frank siehe: Umansky 2007. 514 Vgl. Lazarus 1896: 286. 515 Vgl. ebd.: 166.

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Sullam (1590–1641) im 17. Jahrhundert vorgelebt. Die venezianische Dichterin sei seit ihrer Kindheit in den Geist des Judentums mit seinen Grundsätzen des Glaubens sowie in die Geschichte des Volkes eingedrungen, sodass sie, »wie jeder edlere Mensch dem treu blieb, was [sie] als das vorzüglichere kennen gelernt hatte«516 . Nur aus diesem Grund blieb Remy zufolge Sara Copia Sullam stets ihrer jüdischen Religion treu, denn bloß »eine unwissende Jüdin [könne sich bekehren lassen, da sie] sich nicht bewusst sei, was sie mit ihrem Religionsbekenntnis verliere.«517 Auch habe sich die Venezianerin Sara Copia Sullam nicht nur in ihrer Treue zu den Grundsätzen ihres Glaubens bewährt, sondern auch als Gattin, Hausfrau, Denkerin, Dichterin und Wohltäterin. Für Remy ist sie das Paradebeispiel dafür, dass es Jüdinnen möglich ist, ihrem Glauben treu zu bleiben und gleichzeitig emanzipiert zu leben. Solche Frauen, wie ebenfalls die genannten Töchter des Daniel Itzig, hätten einen wesentlichen Dienst an der Kulturarbeit in der Vergangenheit geleistet und können Remy zufolge »deren auch in der Zukunft«518 leisten. An diesen Jüdinnen sollten sich die modernen jüdischen Frauen nach Remy ein Beispiel nehmen und lernen, wie sie ihr Wissen, »Vermögen und gesellschaftliche Stellung zu Gunsten der Sittlichkeit und Humanität«519 einsetzen können. Sara Copia Sullam, ebenso wie die Töchter des Daniel Itzig, hätten bewiesen, dass es möglich sei, eine »taktvolle Lebensführung« mit »weltlicher Vergnügungssucht«520 und ernste Denkweise mit Werktätigkeit zu vereinen. Aus diesem Grund fordert Remy die Jüdinnen der Moderne in ihrem Buch dazu auf, sich ihres jüdischen Glaubens und ihrer Tradition wieder zu besinnen und sich tatkräftig für eine religiöse Toleranz, für die Bekämpfung von noch bestehenden mittelalterlichen Vorurteilen, für die religiöse sowie rechtliche Gleichberechtigung und für die allgemeine Menschenliebe einzusetzen. Remy zufolge könne die Jüdin dies nur durch Liebenswürdigkeit gegenüber jedermann sowie eine Wohltätigkeit ohne Unterschied der Konfessionen erreichen, weshalb sie der jüdischen Wohltätigkeitsarbeit einen besonderen Stellenwert zuschreibt.521 Folglich war sie davon überzeugt, dass die moderne Jüdin ihre traditionelle Rollenzuweisung als Hausfrau mit dem bürgerlichen Bild der Weltdame problemlos vereinen könne.522

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Ebd.: 175. Vgl. auch Harrán 2009. Lazarus 1896: 172. Zwischen ihr und einem Mann katholischen Glaubens entsteht ein Briefwechsel, der immer inniger, selbst leidenschaftlich wird. Er will sie zu seiner Religion hinüberziehen. Obwohl auch sie ihm zugetan ist, widersteht sie diesem und bleibt bei ihrem Mann in Venedig. 518 Vgl. ebd.: 241. 519 Vgl. Lazarus 1896: 241. 520 Ebd.: 244. 521 Vgl. Kap. II, 2.3.2; Kaplan 1997: 254–303. 522 Lazarus 1896: 247: »Die politische Lage Europas zur Zeit des Niederganges des napoleonischen Sternes, […] welche Gegensätze bewegten damals den Vaterländischen Sinn! Den Freiheitskämpfen folgten Denunziationen und Polizeimassregeln. Die Revolutionsideen wurden unterdrückt, demokratische Bestrebungen verfolgt, man kehrte zurück zu den alten Vergewaltigungen; Metternich triumphierte, die Jesuiten kamen wieder, der Unterricht der Jugend fiel ihnen wieder anheim, die alten Vorurteile, auch gegen das Volk Israel, drohten neu aufzuleben! Da galt es den Samen der Heuchelei und der Zwietracht zu ersticken, und das Weib, die Jüdin machte von ihren Waffen gebrauch: sie bezauberte durch Liebenswürdigkeit und tat Gutes, ›denen, die da hassen‹.« Vgl. Mt 5,44.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Aus diesem Grund sieht Remy die aus ihrer Sicht zahlreichen Konversionen der intellektuellen Juden im 19. Jahrhundert (s.Kap. II, 2.3.4) als einen problematischen Zustand der Auflösung des Judentums an, aus dem sich die Juden der Neuzeit befreien sollten. Laut Berliner Statistiken kann allerdings aufgezeigt werden, »dass der Bevölkerungsverlust durch die Taufbewegung nicht so sehr quantitativ alarmierend«523 war, wie es nach Remys Schilderungen zunächst erscheint. Weniger als 0,5 Prozent aller Juden in Deutschland konvertierten tatsächlich, was zwischen 1871 und 1918 etwa 23.000 Personen waren, wovon 75–80 Prozent zur protestantischen Kirche übertraten.524 Anhand solcher Statistiken kann ebenfalls festgestellt werden, dass nicht nur jüdische Frauen konvertierten, da rund drei Viertel aller jüdischen Konvertiten zwischen 1873 und 1906 männlichen Geschlechts waren. Allerdings stieg bis 1912 der Anteil der Frauen bis zu 40 Prozent, da sich durch die weibliche Emanzipation vermehrt jüdische Frauen auf den Arbeitsmarkt drängten und ihre beruflichen Aussichten durch eine Konversion zu verbessern erhofften.525 »Auch wenn der Anteil derjenigen, die konvertierten, überschaubar blieb, so erregten die Taufen doch Aufmerksamkeit, da viele der Konvertiten aus angesehenen Familien stammten und intelligent, charismatisch und begabt waren.«526 Solche Konversionen wurden, wie es Remy in ihrem Werk nachdrücklich betont, als Bedrohung der Existenz des Judentums und als Symbol eines zunehmenden Niedergangs des jüdischen Gemeinschaftsgefühls wahrgenommen.527 Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnen die Berliner Statistiken zudem eine deutliche Zunahme der interreligiösen Ehen.528 Der Anpassungsdruck stieg für die Bürger jüdischen Glaubens durch das Aufkommen des Antisemitismus des 19. Jahrhunderts drastisch an, vor allem weil nun einige Berufszweige erneut für Juden unerreichbar blieben und nur noch als Christ erlangt werden konnten.529 Aus diesem Grund lässt sich in der Tat vor allem bei den gebildeten Juden eine erhöhte Anzahl an Konvertiten oder interreligiösen Eheschließungen 523 524 525 526

Nipperdey 1990: 396. Vgl. ebd. Vgl. Kaplan 1997: 320. Hertz 2012: 177. Vgl. dazu Ruppin 1918: 29: Die »Assimilation« erschien dem zionistischen Soziologen Arthur Ruppin (1876–1943) als »die gefährlichste Krisis, welche die Juden seit ihrer Zerstreuung je bedroht« habe. 527 Honigmann 1989, hier 10. Vgl. auch N.N. 1894d: »Uns deutschen Juden wird die Mission nichts anhaben, aber einen schweren Schaden erleiden wir durch den Abfall eines Theils unserer Intelligenz, der Übertritt, um Karriere zu machen. Hiergegen bei der Erziehung und in der Schule anzukämpfen, wird erst dann möglich sein, wenn die heutige Generation die Achtung vor dem Judenthum, vor seiner Geschichte und Litteratur wiedergefunden hat, die ihr so häufig fehlt; der feste Schutz des deutschen Judenthums kann nur die jüdische Wissenschaft erlangt werden.« Siehe auch Samter 1906: 96; 80; 97; 122ff. 528 Hertz 2012: 182: »In vielen deutschen Städten zeigten Juden eine immer größere Bereitschaft, ihr Judentum durch die Heirat eines christlichen Partners zu verlassen.« Vgl. dazu Meiring 1998, hier Tabelle 2: 98. 529 »Eine beträchtliche Zahl Juden war eifrig bemüht, die vollkommene Ablösung von ihrer Herkunft und einschränkungslose Loyalität zur europäischen Kultur durch die Verleugnung ihrer Vergangenheit und Religion zu demonstrieren.« Jedoch sah die Umgebung in der Aufnahme der Juden einen Akt der »Großzügigkeit; der Jude mit seinem mängelbehafteten Erbe, der erst vor kurzem die geistige Welt und die Weltbegriffe der europäischen Gesellschaft anerkannt hatte, solle sich bescheiden und mit einer Randstellung zufrieden geben.« In: Ben-Sasson 1980: 126.

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feststellen. Auch wenn die befürchtete Konversionswelle weitaus kleiner ausfiel als von Remy dargestellt, blieb die Sorge innerhalb der jüdischen Gemeinschaft um die zahlreichen Juden bestehen, die eine mangelnde Verbundenheit ihr gegenüber aufzeigten.530 Besonders auffällig ist für Remy das immer stärker werdende Phänomen der Entfremdung und des Verlustes der jüdischen Tradition, vor allem bei den Jüdinnen. Als Lösungsoption fordert sie die Jüdinnen der Moderne auf, sich wieder intensiv mit der jüdischen Tradition, Religion und Geschichte zu beschäftigen, damit sie diese kennen und wieder »lieben«531 lernen. Nur so können die Juden Remy zufolge ihre Individualität wahren und emanzipiert in der neuentstandenen bürgerlichen Gesellschaft leben. »Wer sich die Achtung der Welt und sich Selbsterachtung erringen will, vor allem aber in seinem Gewissen beruhigt sein will, der suche das Tüchtige zu leisten auf seinem natürlichen Platz, in seiner natürlichen Stellung, nicht aber indem er um des Scheins und um eitler Beweggründe Willen, sich der natürlichen Stellung entschlägt, wo man ihn doch nur duldet, aber nicht lobt.«532 Anhand der von ihr aufgeführten zahlreichen Jüdinnen, die sich beispielhaft in ihrer Religionstreue hervorgetan haben, appelliert sie energisch an das religiöse Pflichtgefühl der Jüdinnen und verweist darauf, dass sie stolz auf ihre jüdischen Traditionen und Glaubenslehren sein können und nicht versuchen sollen, diese abzustreifen. Denn »dem jüdischen Weibe ist die erstaunliche und räthselvolle Erhaltung des jüdischen Stammes gelungen. Das ist sein Ruhm nicht blos in der Geschichte des eigenen Stammes, sondern in der Weltgeschichte.«533 Remy erstellt ein Konstrukt des Weiblichen, indem sie der (jüdischen) Frau vor allem die häusliche und private Sphäre zuweist mit einer ebenbürtigen Stellung der Ehepartner. Obwohl die Frau vor allem für ihre Familie, d.h. ihren Kindern und ihrem Ehemann, wirken soll, soll sie sich nach ihrer Begabung und Möglichkeiten stets weiterbilden und wohltätig wirken.534 So rät sie ihren Leser, die sich »in körperlicher und geistiger Vollkraft« befänden, »sich irgendeinem ersten Studium [zu] widmen und ihre Kräfte durch Verbreitung von Kenntnissen nutzbar [zu] machen. […] Mehret Euch und füllet die Erde! [Herv. i.O.] Hat auch auf sie [die Jungfern etc.] Anwendung, wenn auch nur in geistiger Beziehung.«535 Denn die Jüdin solle in der Lage sein, die jüdischen Lehren, aber auch anderweitige Literatur kritisch zu hinterfragen und sich eigenständig neues Wissen anzueignen. Allerdings scheint nach Remys Beobachtung »das Bedürfnis, durch eigene Prüfung sich eine Meinung zu bilden, […] trotz des forschenden Charakters unserer Zeit bei

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Vgl. Samter 1906: 80–122. Lazarus 1896: 241. Vgl. ebd.: 254. Lazarus 1896: 66: Den »Kern der Sittlichkeit zu hegen und zu pflegen lag in der Hand der Frauen.« Vgl. Kap. II, 2.2. 534 Ebd.: 150: »Unterricht galt von jeher dem jüdischen Volk als höchste Pflicht.« 535 Ebd.: 132: »Die Juden kannten die bemitleidenschaftswerte Klasse der alten Jungfern und der alleinstehenden Frauen nicht, von denen die moderne Gesellschaft ein bedenkliches und bedauerliches Übermass aufzuweisen hat, sie wussten nicht, dass es Frauen gibt, ohne Gatten, ohne Kinder, ohne Eltern und Geschwister.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

den [jüdischen] Frauen wenig vorhanden zu sein.«536 Aber genau dies möchte sie mit ihrem apologetisch-aufklärerischen Buch ändern. Die Jüdinnen sollen sich wieder selbst autodidaktisch, vor allem durch das Studium der jüdischen Literatur, auf ihre Tradition rückbesinnen und dementsprechend handeln.537 Somit wird Remys Idealbild der jüdischen Frau deutlich. Die ideale Jüdin pflege den Familiensinn, bewahre und lehre ihre Kinder die Religionstreue und nutze ihre Bildung stets sinnvoll einzusetzen. Trotz des Zeitalters der weiblichen Emanzipation beabsichtigte Remy nicht das patriarchale Geschlechtermodell zu kritisieren, indem die Frau immer mehr in die männlichen Sphären eindringt, sondern zu legitimieren, indem sie für eine andersartige Akzentuierung der weiblichen Sphären plädiert, die eine Entfaltung der geistigen Bildung und humanistischen Handlungsfreiheit impliziert. Damit stimmt sie mit dem gängigen bürgerlichen Rollenbild der reformjüdischen Elite des 19. Jahrhunderts überein, die ebenfalls betonte, dass die Männer vor allem in der Öffentlichkeit zu agieren, die Familie zu ernähren und aktiv an der Wissenschaft teilzunehmen haben, während die Frauen ihren idealen Platz zu Hause an der Seite ihres Mannes und der Kinder hätten.538 Dementsprechend vertritt sie eine konservative Rollenzuschreibung der Frau, in der sie dafür plädiert, dass die moderne (jüdische) Frau nur durch das Kennen und Einhalten der alttestamentlichen Tugenden eine geehrte und bedeutende Position in der bürgerlichen Moderne erreichen kann.539

3. Remys argumentative Strategie, Apologetik und Bewertung Das Judentum befand sich Ende des 19. Jahrhunderts in einer Randposition, in der die Stabilität und Existenz der jüdischen Gemeinschaft sowie die errungene Emanzipation der Juden durch den aufkommenden modernen Antisemitismus erneut bedrohte wurde. Nahida Remy versucht innerhalb ihres Werkes Das jüdische Weib mithilfe von religionsbezogenen und außerreligiösen Legitimationsstrategien540 vor allem die jüdische Frau gegenüber

536 Ebd.: 206. 537 N.N. 1891c: 623. In diesem Zeitschriftenaufsatz der The Menorah schreibt eine jüdische Leserin von Remys Werk Das jüdische Weib: »Die Verfasserin ist Christin und hat nicht allein fast Alles in den modernen Sprachen über das jüdische Weib und das jüdische Familienleben Geschriebene gelesen, sie versteht es auch, die Bibel im Urtext zu lesen. Ist das nicht tief beschämend für uns, die modernen jüdischen Frauen? Wir sind beide in streng religiösen Häusern groß geworden, wir haben beide die Religionsschule von der Pike auf besucht, ja lesen können wir auch die Bibel im Urtext, aber verstehen??« The Menorah (a monthly magazine für the Jewish home). Herausgegeben von Frederick de Sola Mendes: 1886–1906 in New York, Official Organ of the B’ne B’rith. Neben den amerikanisch-jüdischen Beiträgen enthält die Zeitschrift auch deutsch-jüdische Beiträge. 538 Vgl. Hyman 2006: 30. 539 Vgl. Lazarus 1896: 316. 540 Die Unterteilung von religionsbezogenen und außerreligiösen Legitimationsstrategien entstand während der Untersuchung des Werkes. Es wurde deutlich, dass Remy eine klare Trennung von zwei binären Einflüssen auf die Stellung der jüdischen Frau vornimmt. Dabei unterscheidet sie zum einen zwischen den internen Einflüssen, die die jüdische Frau innerhalb ihrer eigenen jüdischen Gemeinschaft erfährt (religionsbezogenen Legitimationsstrategien) und den externen Einflüssen, denen die jüdische Frau durch die moderne Gesellschaft und weibliche Emanzipation, die ebenfalls

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den modernen gesellschaftlichen, vor allem antisemitischen Forderungen zu schützen und dabei ihre gleichwertige Stellung innerhalb der modernen Gesellschaft zu legitimieren. Dabei nutzt sie die religionsbezogenen Legitimationsstrategien, um die Stellung der jüdischen Frau innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu verorten und anhand zahlreicher Belegstellen aus der hebräischen Bibel und dem Talmud als normativ anzuerkennen. Gleichzeitig verbindet sie taktisch ihre Argumentation mit gezielten historischen Darstellungen aus der Geschichte des Lebensumfeldes der jüdischen Frau, die auf die Problematik der Judenfeindlichkeit sowie der antisemitischen Vorurteile des 19. Jahrhunderts aufmerksam machen. Mit ihren strategisch ausgewählten Beispielen verweist sie auf vergangene und gegenwärtige antisemitische Agitationen, die sie miteinander vergleicht und kritisch bewertet. Auch ist sie davon überzeugt, dass die Rolle der jüdischen Frau nur dann gewissenhaft beurteilt werden kann, wenn diese mit der Stellung der Frauen anderer Nationen, d.h. unter anderem auch mit dem Konzept von Volk/Nation, verglichen wird.541 Der Begriff Volk/Völker wird von ihr im Sinne von Bevölkerung verwendet, die sich in einer Nation sammelt. Damit können Remy zufolge unter anderem das christliche und jüdische Volk, das durch objektive Verhältnisse wie die Sprache, Religion und Abstammung geprägt ist, gemeinsam in einer Nation beheimatet sein und sich dieser völlig zugehörig fühlen.542 Demnach verknüpft sie den Begriff Volk nicht mit dem rassisch aufgeladenen Gedankengut, wie es in den öffentlichen antisemitischen Diskursen Ende des 19. Jahrhunderts üblich war. Sie setzt somit die unterschiedlich abstammenden Menschengruppen gleichwertig nebeneinander, sodass ein objektiver Vergleich möglich ist. Mit der Methodik des internationalen Vergleichs gelingt es ihr aufzuzeigen, dass gerade das weibliche Geschlecht bei fast allen Völkern von Anfang an in Stellung und Behandlung eine »vollkommene Nichtachtung und Verkennung der weiblichen Eigenart«543 erfuhr. Vor allem innerhalb ihrer Vergleichspolitiken (nationale, kulturelle und religiöse Vergleiche), in denen sie die jüdische und die christliche Frau der Antike und der Moderne vergleichend gegenüberstellt, übt Remy nicht nur an der neuzeitlichen jüdischen Frau scharfe Kritik, sondern auch an der christlichen Bürgerin des 19. Jahrhunderts.544 Ihre christliche Kritik, die bei den damaligen und heutigen christlichen Leser

durch antisemitische Einflüsse bestimmt waren, ausgesetzt war (außerreligiösen Legitimationsstrategien). 541 Lazarus 1896: 1: »Will man das Weib begreifen, studire man die Geschichte seiner Sklaverei. Um das jüdische Weib aber zu beurtheilen, muss man es mit den Frauen anderer Nationen vergleichen.« Bei Remys Verwendung der Begriffe Volk/Nation fällt auf, dass der Begriff Nation zwölfmal (einmal als »jüdische Nation«: 181) und Volk fünfundsechzigmal (darunter zweimal das »christliche Volk«: 120/241) auftaucht und im Plural (Völker) der Begriff siebenunddreißigmal verwendet wird. 542 Damit übernimmt Remy Moritz Lazarus’ Verständnis von Volk/Nation, das er unter anderem in seiner Abhandlung Was heißt national? (als Rede gehalten 1879) erläutert. Vgl. Lazarus, Moritz: Was heißt national?, in: Lazarus 1887: 53–113, hier 70f. 543 Lazarus 1896: 1: Mit den »alten Völkern« meint Remy die antiken unzivilisierten/wilden Völker und die zivilisierteren Völker, wie die Römer und Griechen. 544 Vgl. Kap. II, 4.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Befremden erregt, wird in diesem Kapitel herangezogen und im Zuge ihrer intendierten apologetischen Intention sowie dem antisemitischen Kontext genauer betrachtet.545 Die zweite (außerreligiöse) Legitimationsstrategie bezieht sich auf die externen Verhältnisse der weiblichen Emanzipation, die die jüdische Frauenrolle beeinflussten. Die Debatten um den Stellenwert der Frau wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker. Ausgehend von der Aufklärung wurde auch bei den Frauen eine rechtliche Gleichstellung sowie persönliche Unabhängigkeit gefordert. Die erste Frauenbewegung entwickelte sich bereits in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, in der auch Remys Mutter, Nahida Sturmhoefel (1822–1889), sich als eine der ersten Frauenrechtlerinnen aktiv engagierte.546 Die Frauen forderten vor allem das Recht auf Bildung und Arbeit, d.h. auf Zulassung zu höheren Studien und zu den freien Berufen sowie die gleichen politischen Rechte, beispielsweise das Wahlrecht.547 Neben den Frauen, gab es auch vereinzelte männliche Publizisten, wie den SPD-Politiker August Bebel (1840–1913), die sich ebenfalls für die Gleichstellung der Frauen einsetzten.548 Während die wirtschaftlichen Forderungen der Frauenbewegung durch die Erweiterung des Mädchenunterrichts und Zulassung der Frauen zu den akademischen Berufen, wie beispielsweise der Beruf der Lehrerin und der Ärztin, erfüllt wurden, blieben die öffentliche Forderung nach politischer Gleichberechtigung sowie die Forderung nach Emanzipierung des Familienrechts bis ins 20. Jahrhundert unerfüllt.549 Orientiert am feministischen Diskurs gelingt es Remy anhand zahlreicher gelisteter Frauen aufzuzeigen, dass sich auch Jüdinnen an den weiblichen Emanzipationsbestrebungen beteiligten (s.Kap. II, 2.5). Neben den wesentlichen historischen Tatsachen, die Remy in ihrem Werk schildert, ist gerade ihre umfassende Liste jüdischer Frauen von Anbeginn der Geschichte der Juden überaus bedeutend. Solche Listen über besondere Personen wurden und werden noch heute vor allem angefertigt, um quantitativ und historisch belegen zu können, dass eine bestimmte Menschengruppe etwas Bedeutendes erreicht hat. Diese Listen werden vermehrt nach bestimmten Kategorien, wie Künstler, Historiker, Theologen oder Wissenschaftlern, geführt, und waren in der Moderne vor allem von der Relation von Christsein und Mann-sein bedingt. Das weibliche Geschlecht erhielt in solchen Betrachtungen, bedingt durch die weiblichen Aversionsbestrebungen des 19. Jahrhunderts, zumeist

545 Vgl. Kap. II, 3.1.2. 546 Vgl. Frevert 1994, hier 88: Solche Frauen, wie Sturmhoefel d.Ä., die sich von dem unselbstständigen Geschlechterverhältnis haben befreien können und sich »eine relativ unabhängige Existenz als Schriftstellerinnen, Lehrerinnen oder Ärztinnen aufgebaut hatten«, kämpften nun »für eine Schulund Berufsbildung junger Mädchen nach männlichem Vorbild«. 547 Frevert 1994: 75–94, hier 84f. Zur frühen Frauenbewegung vgl.: Gerhard 1987. 548 Vgl. Bebel 1979. Für seine Zeit stellt er darin die bahnbrechende Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau. 549 Erst Ende des 19. Jh.s wurden Frauen im Deutschen Kaiserreich zu den medizinischen Studien zugelassen. Vgl. Frevert 1994, hier 76. Bezüglich der bürgerlichen Bildungssituation siehe Kap. II, 3.2.2.

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eine abwertende Konnotation.550 Im 19. Jahrhundert begann eine neue Betrachtungsund Herangehensweise, indem diskriminierte Minderheiten bzw. Gruppen, wie eben die Frauen, aber auch Homosexuelle oder Juden, ebenfalls begannen bedeutsame Personen anzugeben und aufzulisten.551 So entstanden beispielsweise in den USA, ausgelöst durch die Diskriminierung der afrikanisch-amerikanischen Frauen, Listen von eben solchen Frauen, die in die Geschichte eingingen.552 Wenn solche Listen angefertigt und veröffentlicht wurden, steckt bis heute stets ein intentionaler Zweck dahinter. So nutzte auch Remy die Methodik der Auflistung von jüdischen Frauen als Kulturträgerinnen vor allem für die Legitimierung ihrer Argumentationsstruktur. Mit der Hervorhebung jüdischer Frauen konnte sie endgültig belegen, dass es bemerkenswerte Jüdinnen weltweit und zu jeder Zeit gab, die die Kultur, auch die der Deutschen, wesentlich geprägt und unterstützt hatten. Damit gelingt ihr ein unbestreitbarer Nachweis gegen die damalige antijüdische Polemik, dass Juden und vor allem Jüdinnen keine Kulturarbeit geleistet hätten.553 Gleichzeitig soll ihre Liste von gebildeten jüdischen Frauen, die sich für ihr Judentum sowie für die jüdische und weibliche Emanzipation als interreligiöse Akteurinnen einsetzten, das Selbstbewusstsein der Jüdin der Gegenwart stärken und zur Nachahmung aufrufen. 550 Treitschke 1965: 248ff.: Der Vertreter des modernen Antisemitismus, Heinrich Treitschke (1834–1896), setzte sich daneben ebenfalls gegen die »unglückselige Idee einer Emanzipation der Weiber« ein. 551 Vgl. Beachy 2015: 25–78. Der deutsche Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) gilt mit seiner Rede am deutschen Juristentag von 1867, in der er für die Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Beziehungen plädierte, als erster Vorkämpfer der Emanzipation von Homosexuellen. Seine öffentliche Forderung der Streichung des § 175 (strafrechtliche Homosexuellenverfolgung) blieb allerdings unbeachtet und verhöhnt. Es folgten literarische Veröffentlichungen, auch vom Berliner Arzt Magnus Hirschfeld (1868–1935), die für ihre Argumentation schwule Männer wie Platon, Sokrates, Leonardo da Vinci, Tschaikowsky, stützend aufzählten. Lesbische Frauen blieben in solchen Listen unberücksichtigt. Erst seit den 80er Jahren des 19. Jh.s wurde auch von jüdischer Seite vermehrt gegen den antisemitischen Strom mit der Gegenwehr von Listen vor allem mit der Relation Judesein und Mann-sein gearbeitet. Dabei wurden Listen von bedeutenden jüdischen Personen angefertigt, die unter anderem die Namen von Abraham, Moses, Spinoza bis Einstein enthielten. Auch bei diesen Listen blieben die Frauen unbeachtet, da sich die Argumentationskette vor allem auf bedeutende jüdische Männer stützte. Diese Männer-Listen dienten bis ins 20. Jh. dazu, dem antisemitischen Umfeld zu beweisen, dass auch Juden eine bedeutende Rolle in der Kulturarbeit leisteten. Beispielsweise das Werk von Landau 1895. Vorwort: 2: »Das soll man bedenken und soll aus der hohen Krone des weltbeschattenden Baumes, den man Wissenschaft heisst, und in dem man sich so stolz und erhaben fühlt, gelegentlich einmal hinabsteigen und den Damm, der uns trägt, betrachten und die Wurzeln, aus der die Laubkrone ihre belebenden Säfte saugt, beschauen.« 552 1851 stellte die christliche Frauenrechtlerin Sojourner Truth (1798–1883) die inzwischen prominent gewordene Frage »Ain’t I a woman?«. Sie kritisierte die Tatsache, dass schwarze Frauen nicht nur aufgrund ihres Geschlechts und der Klasse, sondern auch durch den Rassismus determiniert waren, und kämpfte in der Frauenbewegung vor allem gegen die Unterdrückung der schwarzen Frauen. Vgl. Grossman 2013: 73–79. 553 Vgl. Kap. II, 3.2.2; Siehe auch: Lazarus 1896: 138: Die Lücke innerhalb ihrer Frauen-Liste zwischen biblischer Zeit und Moderne, d.h. dem Mittelalter, erklärte Remy wie folgt: »von den Frauen ist lange keine Rede; man braucht nicht desshalb anzunehmen, dass sie thatenlos oder unwissend waren; dazu hatten sie stets zu viel Anregung und Anleitung durch ihre häuslichen religiösen Pflichten und Gebräuche, die sie streng befolgten.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Remy betrachtet folglich in ihrem Werk die jüdische Frau im Kontext des innerjüdischen Reformdiskurses, des feministischen und antisemitischen Diskurses, worin die Jüdinnen mit der Relation Jude-sein und Frau-sein doppelt negativ determiniert waren.554 »Sowohl Geschlecht als auch Rasse stellten in der bürgerlich-modernen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts maßgebliche, anthropologisch fundierte Ordnungsmuster dar, die soziales Handeln und individuelle Wahrnehmungen gleichermaßen zu beeinflussen vermochten. Beide waren zudem eindeutig hierarchisch konzipiert: dass die ›arische Rasse‹ gegenüber der ›semitischen Rasse‹ einen höheren Wert besaß, galt als ebenso selbstverständlich wie die Überlegenheit des männlichen über das weibliche Geschlecht.«555 Die historischen Relationen Rasse, Volk/Nation und Religion wurden bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem in antisemitischen Diskursen, wie der Judenfrage, gezielt eingesetzt, um normierende Argumente für und wider eine bestimmte Religion, Nation oder Rasse aufzuzeigen. Dabei wurden die drei Relationen wahllos miteinander kombiniert oder sogar einzeln stark gemacht. In der Zeit des Übergangs von einem feudalistischen zu einem bürgerlichen Gesellschaftsmodell (18./19. Jh.) entstand in Deutschland erstmalig das Konzept von Volk/Nation, in dem, orientiert an der Schrift Germania von dem römischen Historiker Publius Cornelius Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.), das Germanentum als leitführender Marker aufgestellt wurde.556 Der deutsche Bürger der Gegenwart solle sich an der Leitfigur des Germanen orientieren, was im 19. Jahrhundert im Terminus Deutschtum gipfelte.557 In diesem nationalen Diskurs diente das Germanentum folglich als identitätsstiftende Grundlage, die dem Deutschtum durch seine ›germanische‹ Ursprünglichkeit eine zentrale Bedeutung in der Geschichtsschreibung zuwies. Neben dem Germanentum kam Ende des 18. Jahrhunderts die Relation des Griechentums hinzu. Dabei vertraten unter anderem die deutschen Dichter Johann Peter Eckermann (1792–1854) und Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) oder der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) die These, dass das Griechentum das Vorbild für alles Schöne und für die Lebensfreude sei, d.h. die Freude an den Künsten und der Liebe ausdrücke, das Christentum hingegen mit seiner pessimistischen Diesseitsvorstellung zu ernst sei.558 Mitte des 19. Jahrhunderts kam das Rassenkonzept hinzu, worunter die Menschen und Völker in bestimmte Rassen unterteilt wurden, was wiederum zu einer hierarchi-

554 Zur Judenfrage s. Bein 1980. Mit der Judenfrage wurde ab Mitte des 19. Jh.s vor allem vonseiten der Judengegner die Frage diskutiert, ob die Juden tatsächlich einer Gleichstellung würdig seien, wobei ihnen jegliche Fähigkeit der Assimilierung aberkannt wurde. Bei der Frauenfrage handelt es sich um einen öffentlichen Diskurs des 19. Jh.s, in der die gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung von Frauen in der modernen Gesellschaft gefordert wurde. Vgl. Gerhard 2009. 555 Frevert 1994, hier 78. 556 Vgl. Ehringhaus 1996. 557 Vgl. Jahn 1810. 558 Vgl. dazu Eckermann 1836: 542: »Der griechischen Kunst, Philosophie und Literatur haftet der Charakter des Großartigen an, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung und welche Eigenschaften man sonst noch aufzählen könnte.«

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schen Kategorisierung der Rasseneinteilung führte. Während die Arier bekanntlich den oberen Platz einnahmen, landeten die semitischen Völker in der Einteilung ganz unten, wodurch eine Identitätsbestimmung geschaffen wurde, die sich durch Abgrenzung ausdrückte.559 Selbst Jesus Christus, der offenkundig Jude war, versuchte man, in die Arierschiene zu zwängen, wofür sich der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) sowie Adolf Hitler (1889–1945) stark machten.560 Im 19. Jahrhundert gehörte die Rassenlehre zu der wichtigen Argumentationskette im deutsch-antisemitischen Diskurs um die Judenfrage. So stellte beispielsweise der deutsche Philosoph Eugen Dühring (1833–1921) in seinem Werk Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage die These auf, dass die Juden keine »Religion, sondern eine Rasse«561 seien. Diese Debatte um den Stellenwert der Juden innerhalb des germanisch-arischen Diskurses nimmt auch Remy in ihrem Werk auf, bezieht sich in ihren Legitimationsstrategien auf die normativen Konzepte von Rasse, Volk/Nation, Religion und fügt die Relation des Geschlechts hinzu, um für sich und ihre Leser endgültig die antisemitische Frage zu klären, ob die Juden berechtigt seien, einen gleichwertigen Platz im Deutschtum zu erhalten.562 Dabei nutzt sie die methodologische Herangehensweise des Vergleichs zwischen Jüdinnen und Christinnen des 19. Jahrhunderts sowie des Vergleiches von christlichen Aussagen (Neues Testament und Kirchenväter) mit den hebräischen Schriften (Altes Testament und Talmud), um die Kategorien Jüdinnen versus Nichtjüdinnen (Rasse, Volk/Nation, Geschlecht, Religion) sowie Germanentum/Christentum versus Judentum (Volk/Nation, Rasse, Religion) genauer zu untersuchen.

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Religionsbezogene Legitimationsstrategie

3.1.1 Der moderne Antisemitismus Obwohl seit dem 22. April 1871 vom Reichstag des neuen Kaiserreiches alle Bürger, ungeachtet ihrer Abstammung und Religionszugehörigkeit, mit dem Gesetz über die gleichen Bürgerrechte gleichgestellt wurden, hielt die nichtjüdische Umwelt noch immer Distanz zu den jüdischen Bürgern. In verschiedenen Bereichen dauerte sogar die Diskriminierung fort und die Bürger jüdischen Glaubens wurden weiterhin nur als Juden betrachtet, obwohl diese nun vom rechtlichen Standpunkt aus Franzosen, Engländer oder Deutsche waren. 559 Die Diskussion um die Rassenklassifizierung von Semiten und Arier wurde vor allem durch das Werk De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation (Discours d’ouverture du cours de langues hébraïque, chaldaïque et syriaque au Collége de France. 2e édition. Paris, Michel Lévy Frères, 1862) des französischen Historikers und Orientalisten Ernest Renan (1823–1892) entfacht. Siehe dazu Schütz 1994: 46. Renan stellte sich allerdings mit Entschiedenheit gegen den modernen Antisemitismus und Rassismus nach 1870. Vgl. dazu Sand 2009. 560 Vgl. Fenske 2005. 561 Vgl. Dühring 1881: 159. 562 Sie stellt sich damit gegen folgende vermehrt auftauchende antisemitische Aussagen, wie diese vom deutschen Historiker Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Arndt 1814: 188: »Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandtheilen rein zu erhalten wünsche.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

»Diese Entwicklung hatte ihre Ursache teils in den judenfeindlichen sozialen und kulturellen Traditionen der europäischen Völker, die die politischen und rechtlichen Veränderungen überdauert hatten, und teils in der Reaktion auf die Integration der Juden in ihre Umwelt, die Schnelligkeit, mit der sie sich vollzog, und ihr erkennbarer Erfolg.«563 Die erreichte Gleichstellung und die damit einhergehende Integration der Juden in verschiedene Lebensbereiche der nichtjüdischen Gesellschaft trug einerseits dazu bei, den Juden ihre Umwelt näher zu bringen, aber andererseits auch die Angst bei den nichtjüdischen Bürgern zu schüren. Da die Menschen jüdischen Glaubens, die bis zur Gleichstellung vorwiegend ständisch abgesondert lebten, vermehrt in die bedeutenden Kulturzentren übersiedeln durften und in einflussreichen Berufszweigen und Lebensbereichen Fuß fassten, wurde ihre Präsenz für die nichtjüdischen Bürger deutlich bemerkbarer. Die nun erreichte Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft bot vielen gebildeten Juden einen raschen sozialen und finanziellen Aufstieg, was den Neid und Hass in der Öffentlichkeit deutlich anschürte. Die Wirtschaftskrise im Jahr 1873, ausgehend vom Gründer-/Börsenkrach im Oktober, ließ den modernen Antisemitismus aufkeimen, in dem eine Welle von antisemitischen Vorwürfen auftrat, die vor allem den Juden die Schuld an Deutschlands Schwierigkeiten gab.564 Zum ersten Mal wurde diese Anklage von der katholischen Zeitung Germania erhoben, in der erklärt wurde, dass die Juden für die Leiden des deutschen Volkes verantwortlich seien. Damit kam nun die Judenfrage vermehrt in den Vordergrund mit der Forderung, die Emanzipierung der Juden aufzuheben.565 Es folgte daraufhin eine Vielzahl von Artikeln, Publikationen und Flugschriften mit antijüdischem Inhalt, worin der jüdischen Gemeinschaft vermehrt das kapitalistische (wuchernde) Handeln bis hin zur Weltverschwörung vorgeworfen

563 Ben-Sasson 1980: 182. 564 Die frühesten Belege für den Begriff »Antisemitismus« seien im letzten Drittel des 19. Jh.s (1881) aufgetreten, und werden dem Publizisten Wilhelm Marr (1819–1904) zugeschrieben. Damit entstand neben dem bereits verwendeten Begriff des mittelalterlichen »Antijudaismus«, der vor allem die religiöse Kategorie abdecke, der moderne Antisemitismus, womit gleichzeitig auch die Kategorien von »Rasse« und »Nation/Volk« betrachtet wurden. So tauche der Begriff »Antisemit« erstmalig während W. Marrs Ankündigung seines »antisemitischen Wochenblatts« auf, der in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums vom 2. Sept. 1879 kritisch erwähnt wird. Das englische Adjektiv »anti-semitic« kommt allerdings bereits 1851 bei Thomas Carlyle vor. Siehe dazu Berding 1988: 85. Zum Nichtvorkommen des Begriffs »Antisemitismus« bei W. Marr, vgl.: Ferrari Zumbini 2003: 169–174. Siehe auch: Gräfe 2007. Thomas Gräfe zeigt in seinem Forschungsüberblick über den modernen Antisemitismus auf, dass die »Konfrontation der Moderne [19. Jh.] in den christlichen Konfessionen judenfeindliche Einstellungen begünstigte und inhaltlich formte. Daher ist der christlich-konservative Antisemitismus als eigenständiger Strang des modernen Antisemitismus zu begreifen und nicht als Fortwirken des Antijudaismus in die Moderne hinein.« Er begründet seine Schlussfogerung damit, dass »im modernen Antisemitismus religiöse Vorurteile und Feindbilder nicht in theologischen bzw. religiösen Deutungszusammenhängen verblieben. Ihre eigentliche Bedeutung und Funktion in judenfeindlichen Diskursen erlangten sie erst in argumentativer Verbindung mit säkularen Stereotypen und Feindbildern. Diese Kombination erleichterte die Konstruktion einer unwandelbaren Wesenmäßigkeit des ›Juden‹, indem der historische bzw. biblische Jude dem modernen Juden gegenübergestellt wurde.« In: ebd.: 125. 565 Vgl. Bein 1980: 2.

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wurde. So verwendete beispielsweise der deutsche Journalist Otto Glagau (1834–1892) die Bezeichnung des »raffenden Kapitals« in seiner Artikelserie über die Börsenspekulation (1874), um kenntlich zu machen, dass die Juden durch ihre Machtherrschaft bereits eine »Degeneration des deutschen Liberalismus«566 erreicht hätten. Darin stellte er weiterführend erstmalig provokativ die These auf, dass »die soziale Frage […], die Judenfrage«567 sei. Später veröffentlichte er sein Werk Der Culturkämpfer, mit dem er belegen wollte, dass durch das Judentum die ideale Gesinnung schwinde, die Sitten verfielen und die Wissenschaft, Literatur, Kunst sowie Technik zurückginge: »Es blüht der Materialismus, die rohe Genußsucht; Geld um jeden Preis! Ist die Losung. Verrohung und Verwilderung ergreifen die Gesellschaft, die schwersten und unnatürlichsten Verbrechen nehmen überhand. Zu den Dieben, Betrügern und Fälschern stellen die Juden ein unverhältnißmäßiges starkes Contigent. Der wahre Culturkampf, vor dem wir jetzt stehen, ist der Kampf gegen die Verjudung des deutschen Volkes. Dieser große Culturkampf ist kein Religions=, sondern ein Rassenkampf, ein socialer und wirthschaftlicher Kampf. Es ist der Kampf gegen einen fremden, in der Cultur ungleich tiefer stehenden Stamm, der Kampf gegen List, Perifidie und Gaunerei, Schacher, Wucher und Jobberei. Von diesem Kampf hängt der Bestand unserer Cultur, die Existenz der Eingeborenen ab.«568 Der deutsche Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) publizierte eine Reihe Hetzschriften, in denen die Probleme des Staates als ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Juden- und Germanentum dargestellt wurde, wobei die Juden im Begriff seien, die Oberhand zu gewinnen.569 Auch der katholische Theologe August Rohling (1839–1931) nutzte für seine antisemitischen Publikationen vor allem die rassistischen und religiösen Argumentationskonzepte. In seiner Schrift Der Talmudjude von 1871 setzte er sich für einen Antitalmudismus ein, was lange Zeit von antisemitischer Seite als Grundlagenwerk herangezogen wurde.570 Vor allem in der Phase von 1879 bis 1881, bekannt als der Berliner Antisemitismusstreit, erschienen zahlreiche antisemitische Schriften und Artikel, in denen hauptsächlich der rassische Aspekt der Judenfrage thematisiert wurde. Ausschlaggebend war jedoch die Veröffentlichung eines Aufsatzes von dem konservativ-preußischen Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896), der im November 1879 in den Preußischen Jahrbüchern erschien und zur Polemik zwischen anerkannten Professoren führte. Darin stellte

566 Die Artikelserie erschien 1874 in der Gartenlaube, einem literarischen Magazin für die Mittelschicht. Zitiert in: Raphael 1996: 108. 567 Vgl. ebd. 568 Glagau 1880: 17. Zitiert in: Schrattenholz 1891: 14f. 569 Vgl. dazu beispielsweise Marr 1879. Zitiert in: ebd.: 15f.: Darin versichere er »die allgemeine Feindschaft gegen die Juden wurzele in der Scheu derselben vor wirklicher Arbeit und in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Feindschaft gegen alle Nichtjuden. – ›Nicht die Axt und der Pflug, die List und die Verschlagenheit des realistischen Schachergeistes waren die Waffen, mit welchen die Juden das Abendland eroberten und namentlich aus Deutschland ein Neu-Palästina gemacht haben‹. Herr Marr hat außerdem noch mehrere andere Kriegserklärungen geschrieben: (›Vom jüdischen Kriegsschauplatz‹), worin er mit großem Eifer sich abmüht, auch seinerseits die ›realistische Verjudung der Gesellschaft‹ nachzuweisen.« 570 Rohling 1872. Zu Rohling vgl. Noack 2001: 79–97. S.Kap. II, 3.1.3.

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Treitschke die jüdische Bevölkerung als »nationale Sonderexistenz« dar und bezeichnete sie als »Gegner der nationalen Einigung Deutschlands«571 . Daraus resümierte Treitschke, dass »die Juden […] unser Unglück!«572 seien. Neben dem Theologen und Historiker für jüdische Geschichte Heinrich Graetz (1817–1891), der als einer der Ersten die Äußerungen Treitschkes erwiderte, stellten sich weitere, insbesondere jüdische Wissenschaftler, öffentlich gegen Treitschkes Aussagen.573 Es wird deutlich, dass Remys Werk Das jüdische Weib zu einem Zeitpunkt erschien, als der moderne Antisemitismus bereits völlig entfaltet und zunehmend gut organisiert war, mit dem Ziel, das Judentum aktiv zu bekämpfen. Dafür wurden vermehrt Antisemitenparteien gegründet, wie beispielsweise die Christlich-Soziale Arbeiterpartei (CSAP), die 1878 unter anderem vom protestantischen Hofprediger Adolf Stöcker (1835–1909) gegründet wurde. 1880 richtete Stöcker (mit der CSP (seit 1881 Christlich-Soziale Partei)) eine antisemitische Petition an den Reichskanzler, worin die »Einschränkung der Einwanderung ausländischer Juden, Ausschluß der Juden von allen obrigkeitlichen Stellungen, Beschränkung ihrer Verwendung im Justizdienst [sowie die] Aufstellung ausschließlich christlicher Lehrer in der Volksschule«574 verlangt wurde. Da die Petition das Ziel einer Änderung der staatsbürgerlichen Gleichstellung nicht erreichte, versuchten die politischen Agitatoren seither vermehrt, ihre antisemitischen Ansichten beim Volk zu verbreiten, in der Hoffnung, mit einer Volksmehrheit eindringlicher und einschneidender auf die Regierung einwirken zu können. Somit sickerten antisemitische Tendenzen vermehrt in soziale Institutionen und Gruppierungen, sodass der moderne Antisemitismus bereits im Bildungsbürgertum und bei den Studenten fest verankert war. So wurden die Juden, trotz gleichwertiger Stellung, innerhalb der sozialen Gruppen und Institutionen mittels eigens formulierter »Arierparagraphen«575 unter anderem vom sozialen Leben, Studium und studentischen Verbindungen oder Sportvereinen ausgeschlossen. Ebenfalls fanden Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Anzeigen gegenüber Juden statt, die angeblicher Gewalttaten oder Ritualmorden angeklagt wurden. Neben dem Stereotyp des »Krawattenjuden«, womit der assimilierte Jude gemeint war, kam mit der Zuwanderung der jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa das Stereotyp des »Kaftanju-

571 Treitschke 1965: 13. 572 Ebd. 573 Es setzten sich unter anderem der Mediävist Harry Breslau (1848–1926), der Breslauer Rabbiner und Philosoph Manuel Joël (1826–1890), der Völkerpsychologe Moritz Lazarus (1824–1903) sowie der Philosoph Hermann Cohen (1842–1918) gegen H. Treitschkes Polemik ein. Am 12. Nov. 1880 wurde eine Deklaration von fünfundsiebzig Professoren der Berliner Universität herausgegeben, worin darauf hingewiesen wurde, dass H. Treitschkes antisemitische Aussagen vor allem »die Vorschrift des Gesetzes wie die Vorschrift der Ehre, dass alle Deutschen in Rechten und Pflichten gleich« seien, verletze und dass »die Durchführung dieser Gleichheit […] nicht allein bei den Tribunalen, sondern bei dem Gewissen jedes einzelnen Bürgers« zu verantworten sei. Zitiert in: Boehlich 1965: 205f. 574 Zitiert in: Schrattenholz 1891: 21. 1881 erreichte allerdings der Deutsche Volksverein mit seiner antijüdischen Petition, die eine Unterschriftensammlung von 225.000 Unterschriften implizierte, ein Einwanderungsverbot ausländischer Juden sowie die Ausweisung der bereits eingewanderten polnischen Juden. Vgl. dazu auch Battenberg 1998. 575 Vgl. Benz 2010: 28.

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den«576 hinzu, der den orthodox-frommen Juden darstellte. Die ›Kaftanjuden‹ kamen seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zumeist aus Russland geflohen, wo nach der Ermordung der Zarenfamilie grausame Judenprogrome stattfanden.577 »Die deutschen Juden mußten nun den Antisemitismus in seiner neuen, virulenteren Form bekämpfen und zugleich die ausländischen Glaubensbrüder und -schwestern aufnehmen, die häufig durch ihre Kleidung, ihre Armut und ihre Berufe auffällig waren.«578 Ausgehend von den bereits kurz umrissenen judenfeindlichen Vorstellungen und Agitationen wird im Folgenden auf einige antisemitischen Vorurteilsbildern näher eingegangen und diese werden mit Bezugnahme auf Remys Legitimationsstrategien kontextuell verortet und bewertet.

3.1.2 »Die christlichen Regisseure« des Antisemitismus Remy führt in ihrem Werk Das jüdische Weib ihren Lesern schonungslos, mit z.T. erschütternden Beispielen, die mittelalterliche Verachtung und Misshandlung der Juden vor Augen. Mit derartigen antijüdischen Begebenheiten möchte sie, an die zu Unrecht gefolterten jüdischen Menschen erinnern, und damit Parallelen zu den antisemitischen Agitationen des 19. Jahrhunderts aufzeigen.579 Minutiös beschreibt sie in ihren Darstellungen, wie Juden aufgrund falscher Beschuldigungen zu Hunderten gefoltert und ermordet wurden.580 Als ein eindringlich erbarmungsloses Beispiel für die ungerechte 576 Die Juden in Russland lebten anders als die Juden in Europa in einer durch Armut und Enge gekennzeichneten Gemeinschaft, wo sie ihre religiösen Gebräuche und Traditionen in Takt hielten. Aus diesem Grund wurden die russischen Juden zumeist mit langen Kaftanen und mit Schläfenlocken in Verbindung gebracht, was im 19. Jh. vor allem für ein rückständiges Judentum stand. Im Gegensatz zu den Stereotypisierungen der Juden als »Krawattenjude« und »Kaftanjude« hebt Lazarus-Remy vor allem den für sie nicht merklichen Unterschied der äußeren Gestalt der Juden hervor. So beschreibt sie in Lazarus 1897c: 100: beispielsweise den jüdischen Psychologen Moritz Lazarus (1824–1903) als blonden und blauäugigen Mann und wundert sich über seine scheinbare jüdische Herkunft. »Da lernte ich den Präsidenten des Berliner Zweigvereins der Schillerstiftung kennen, Professor Moritz Lazarus, ahnungslos, dass der Verfasser des ›Lebens der Seele‹, der Begründer einer neuen Wissenschaft, der Völkerpsychologie, ein Jude sei.« 577 Vgl. Lazarus 1896: 47, 320f.: In Russland, wo ca. 5 Millionen Juden beheimatet waren, fanden Ende des 19. Jh.s Pogrome statt, die dazu führten, dass mehr als zwei Millionen Juden sich auf in den Westen machten. Ihr Ziel war vor allem Amerika (New York und Chicago) und Palästina. Berlin war für viele Ostjuden oft eine Zwischenstation, wovon Lazarus-Remy in ihrer Abhandlung In den Berliner Baracken (1891) sowie ihrem Aufsatz Warum? (1891) berichtet. Vgl. auch Kaplan 1997: 260: In den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s kam es in Osteuropa zu zahlreichen antisemitischen Verfolgungen. »In Russland wurde eine Politik der gezielten Verarmung der jüdischen Bevölkerung betrieben, begleitet von ›spontanen‹ Gewaltausbrüchen, die in den Pogromen von 1903 und 1905 gipfelten. In Österreich-Ungarn und Rumänien gingen antijüdische Ausschreitungen Hand in Hand mit dem systematischen Ausschluß von Juden aus bestimmten Bildungsberufen und Schulen.« S.Kap. I, 2.2.2. 578 Vgl. ebd. 579 In: Lazarus 1896: 107; 112. »Die trockenen Berichte unaufhörlicher Gräuelthaten der Christen gegen die Juden, Jahr für Jahr, durch die Jahrhunderte hindurch, füllen die Seiten der Geschichtswerke in ununterbrochener Folge.« 580 Beginnend mit der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 n. Chr.), durch das Zeitalter der Kreuzzüge hindurch (zwischen 1095/99 und dem 13. Jh.), wurden die Juden seit 1391 in Spanien verfolgt und zur Taufe gezwungen. Dabei wurden Zehntausende Juden getötet, die nicht zum Christentum

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Behandlung, schildert Remy die Massenverbrennung von Juden durch die Spanische Inquisition (Autodafé) am 30. Juni 1680 in Madrid. Dabei wurden zwanzig Menschen jüdischen Glaubens zur Unterhaltung der Gäste einer Hoffestlichkeit verbrannt.581 Auch in Deutschland, so zeigt Remy schockiert auf, wurden Juden noch im 18. Jahrhundert, im »Zeitalter der Aufklärung, der Humanität und der Wissenschaft«582 , gefoltert und ermordet. Sie beendet ihre Auflistung der grauenvollen Begebenheiten, um ihren Lesern den Grund und den Ursprung der Judenverfolgung schildern zu können, den sie einzig im Christentum sieht: »Die ausschliesslichen Regisseure der Judenverfolgung sind die Bischöfe, diese eigentlichen Träger der Bornirtheit, Unwissenheit und Unsittlichkeit unter den Christen.«583 Die Bischöfe, die für ihr »faules und unsittliches Leben« finanzielle Mittel bräuchten, hätten dafür vor allem die »ungläubigen Juden« finanziell und rechtlich skrupellos ausgebeutet.584 Dass dies der eigentliche Zweck der mittelalterlichen Judenverfolgungen war, sei nach Remy anhand der »Concilbeschlüsse, Gesetze und [der] Vorgänge selbst«585 apodiktisch bewiesen worden. Um ihre Angaben zu stützen, dass das Christentum einen großen Anteil am Antijudaismus und an der Judenverfolgung mitverschuldet hatte, stützt sie sich auf Aussagen von christlichen Autoritätspersonen, wie die des Erzbischofs James Kardinal Gibbons (1834–1921), der mitteilte, dass das »Christentum an dem Judentum eine große Schuld abzutragen«586 habe. Auch der deutsche Biologe M.J. Schleiden (1804–1881), laut Remy »ein unparteiischer Kenner der jüdischen Geschichte«, habe darauf aufmerksam gemacht, dass die eigentlichen »Scheußlichkeiten«587 der bis dahin andauernden Judenverfolgungen erst unter den Christen aufgetreten seien. Die Mönche predigten nach Schleiden die Vernichtung der Juden und »hatte

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übertraten. Als die Pest 1347–1353 über die europäischen Länder zog, gerieten die Juden schnell in den Verdacht, die Brunnen verseucht zu haben, und wurden daraufhin erneut verfolgt, gefoltert und ermordet. Auch in der Zeit der Aufklärung (17.-18. Jh.) blieben die Juden nicht verschont. Vgl. ebd.: 111f. Ebd.: 123: »Die in Madrid anwesende Gattin des französischen Gesandten Mad. de Villars berichtet: ›Die Grausamkeiten, die gegen diese Bejammernswerthen ausgeübt wurden, kann ich Ihnen nicht beschreiben‹.« Vgl. dazu Kamen 1980. Lazarus 1896: 123. Vgl. dazu Schrattenholz 1891: 39: »Von 1481 bis 1808 hat diese fromme Institution blos in Europa 32,000 Menschen verbrannt und 340.000 gefoltert!« In: Lazarus 1896: 114. In: ebd.: 115; 126. Ebd.: »Seltsam: was Jesus gebot, wird nicht gehalten, – und was er nicht gebot, gelehrt: Dreieinigkeit, Bilderverehrung, Feier des Sonntags (eine willkürliche Verlegung des Sabbaths, den in den ersten fünf Jahrhunderten Juden und Christen gemeinsam feierten) und – Judenverfolgung. Du sanfter Rabbi von Nazareth ahntest nicht, wie deine Worte der Liebe und der Güte von denen, die sich nach dir Christen nennen, Lügen gestraft wurden und – werden.« Ebd.: 241: »Es ist ihm verpflichtet für die größte Wohlthat, deren je das christliche Volk theilhaftig geworden, für die von erhabenstem Geist erfüllten Erzählungen des Alten Testamentes, die mit ihrer höchsten, überirdischen Weisheit der Trost der Nationen gewesen sind. Der Stifter unserer heil. Religion war ein Jude der Abstammung nach und so war es auch seine Mutter und die Apostel. (Erzbischof Gibbons)« Ebd.: 218f.: So seien beispielsweise die christlichen Kreuzzüge »zur Ehre Gottes« geführt, die Juden dabei »zur Ehre Gottes« getötet und zwangsmissioniert worden. Vgl. dazu ebd.: 114; 109. Zu Schleidens Engagement für das Judentum vgl. Scholz 2001; Benyoetz 2001: 137–140.

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so ein ›Christ‹ die Bevölkerung aufgehetzt, dann zog er weiter, das Volk aber ergriff Juden und Jüdinnen, verbrannte, mordete sie und eignete sich dann ihr Eigentum an.«588 Die jüdischen Grundbesitzer fielen besonders oft den antijüdischen Verfolgungen und Angriffen zum Opfer, denn während es vom Geld und Schmuck hieß, »wie gewonnen so zerronnen«589 , besaß Grundeigentum einen bleibenden wirtschaftlichen Wert. So erpressten beispielsweise die Stellvertreter der Inquisition unter der Anschuldigung der Häresie vor allem von Juden jahrzehntelang außerordentliche Geldsummen.590 Zu der Missgunst gegenüber dem wirtschaftlichen Erfolg der Juden (s.Kap. II, 3.2.1) kam »noch der neidische Hass gegen die damals geistig und sittlich so viel höher stehenden Juden [hinzu]. War doch Jeder derselben, der ihnen [den Geistlichen] entgegentrat, eine beschämende Satire auf ihre eigene Unwissenheit und Bornirtheit. In den häufig angestellten Disputationen zwischen christlichen Priestern und jüdischen Lehrern unterlagen jedesmal schmählich die Ersteren; wussten diese doch meistentheils nicht einmal in der Bibel Bescheid, die bei den Juden in Fleisch und Blut übergegangen war.«591 So habe der antijüdische Erzbischof Agobard von Lyon (769–840) sich darüber beschwert, »dass die Juden Predigten in ihren Synagogen hielten, die nach Aussagen der meisten Christen besser und erbaulicher seien, als die der christlichen Priester.«592 Mit derartigen provokanten und gezielten Beispielen zeigt Remy auf, mit welcher Ungerechtigkeit die Juden immerfort bis in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts diskriminiert, verfolgt und schuldlos angeklagt wurden.593 So wurden auch im 19. Jahrhundert die antiken antijudaistischen Stereotype wieder populär, um Unglücke, die die Christen trafen, zu begründen. Erneut wurden Juden angeklagt, das Trinkwasser zu ›vergiften‹, womit an die Pestvorwürfe zur Zeit des Schwarzen Todes (1348–1350) angeknüpft wurde. Auch bei tragischen Unfällen von christlichen Kindern, wurden ebenfalls die Juden des »Kinderschlachtens«594 bezichtigt. Obwohl bereits Ende des 19. Jahrhunderts (1890) stichhaltig festgestellt wurde, dass die Pest von einem Rattenfloh übertragen wird, sodass es sich bei der Pest um keine Vergiftungen, sondern um eine übertragbare Krankheit handelt, hält sich das antijudaistische Stereotyp der Juden als Brunnenvergifter in der antisemitischen Hetzkampagne konstant bis ins 21. Jahrhundert.595 Auch wurden die emanzipierten Juden des 19. Jahrhunderts stets mit den Klischees des Kinder- und Ritualmordes in Verbindung gebracht.596 Dabei stützte sich die antisemitisch-christliche Argumentationskette auf die neutestamentliche Erzählung vom Verräter Judas Ischariot, der sich aufgrund seiner jüdischen Habgier unaufrichtig gegen Jesus Christus und 588 589 590 591 592 593

Lazarus 1896: 113. Vgl. ebd.: 118. Lazarus 1896: 118. Ebd.: 115. Ebd. Vgl. ebd.: 118: Nur unter den Türken hätten die Juden, das gefunden, was die Christen ihnen versagt hatten, »ein ruhiges Leben ohne Lüge und Heuchelei«. 594 Vgl. ebd.: 111; 115. 595 Heil 2002. Vgl. auch Schwarz-Friesel 2016b. 596 Vgl. Lazarus 1896: 115.

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Gott verhalten habe.597 Dieser den Juden ›erbeigene‹ Charakterzug setze sich durch die rituelle Ermordung von Christenkindern sowie durch Hostienschändung fort, worin die Schändung des Leibes Christi selbst gesehen wurde.598 »Unter dem Einfluss des modernen Antisemitismus des 19. Jh.s. sind die Opfer aber nicht mehr primär junge Männer, sondern Christenmädchen und Jungfrauen. Während der mittelalterliche Aberglaube u.a. davon berichtet, die Juden benötigen das Blut, um Hörner zu beseitigen, mit denen alle Judenkinder geboren werden, als Gegenmittel, um ihren ureigenen Judengestank zu lindern, oder Christenblut helfe als Medizin bei komplizierten Geburten, so lauten die Behauptungen des modernen Rassismus: sexuelle Perversion, Blutschande und Schächtmord.«599 Remy zeigt einen Zusammenhang der mittelalterlichen Vorwürfe mit denjenigen der antisemitischen Akteure des 19. Jahrhunderts auf, die fast wörtlich die absurden Inhalte wiedergaben.600 So gelingt es Remy, anhand der historischen Begebenheiten stichhaltig zu belegen, dass gerade »die Bekenner der Religion ›allgemeiner Menschenliebe‹!« das »Dogma erhoben, dass Juden zu tödten Christenpflicht sei.«601 Nicht die Juden hätten sich im Verlauf der Geschichte bestialisch und mörderisch gezeigt, sondern die »mönchischen Blutsauger und Henkersknechte, die, als sie erkannten, dass gerade die jüdischen Frauen die starre Anhänglichkeit an den [jüdischen] Glauben«602 förderten und weitergaben, vor allem die Verfolgungen der Jüdinnen noch weiter verschärften. Die Jüdinnen haben sich Remy zufolge vor allem durch ihre interreligiöse Menschenliebe durch

597 Siehe Lk 6,16: »Judas, den Sohn des Jakobus, und Judas Iskariot, der zum Verräter wurde.«; Mt 26,14-16; Mk 14,10f. Vgl. dazu Gruber 2004: 165. 598 Erb 1996: 74: »Von außerordentlichen großer Kontinuität und mörderischer Konsequenz waren die Ritualmordbeschuldigungen gegen die Juden. Ihnen wurde vorgeworfen, Christen, häufig männliche Kinder, zu rauben oder zu verkaufen, sie langwierig zu quälen und schließlich zu ermorden mit dem Ziel der neuerlichen Verhöhnung der Passion Jesu (erste nachantike Beschuldigung: 1144 in Norwich).« Vgl. auch Grözinger 1996: 63–65. 599 Erb 1996: 74. 600 Lazarus 1896: 111; 115: »Die Mähr vom ›Kinderschlachten‹ wurde als Vorwand jetzt öfter benutzt […]«. Vgl. dazu Braun 1996: 83: »So finden die ›Wunder der blutenden Hostien‹ auch in der Gegenwart von Juden statt. Mehr noch: Den Juden wurde unterstellt, dass sie selbst die Hostien (die in den meisten Legenden zunächst die Form des Jesuskindes annahmen) durch Messerstiche zum Bluten brächten. Solche Legenden wurden zum Anlass für wiederholte Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden, und die hatten Auswirkungen bis weit in die Neuzeit.« 601 Lazarus 1896: 234; 112: »Nachdem in Deutschland und Frankreich der Ausrottungskampf Millionen Menschen hingemetzelt hatte, begannen in Spanien die grauenvollsten Vernichtungsthaten gegen die Juden. Man tödtete sie nicht nur, sondern man erfand auch neue Martern. Man zog ihnen die Haut mit eisernen Kämmen vom Leibe herunter, man schnitt ihnen die Waden auf und goss siedendes Pech in die klaffenden Wunden, man riss ihnen Finger- und Fussnägel ab – - genug davon!« 602 Ebd.: 115: »Im Jahre 1501 wurden 67 Jüdinnen verbrannt; als ein Mönch, der einer Jüdin Gewalt anthun wollte, von dieser in der Nothwehr getödtet wurde, überfielen die Rächer die Gemeinde und gegen viertausend Menschen wurden grausam erschlagen, darunter besonders viele furchtbar gemisshandelte Frauen.«

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alle Zeiten hindurch als humanistisch erwiesen.603 Sie zählt zahllose jüdische Opfer auf, die von Christen verfolgt, gefoltert und ermordet wurden, obwohl gerade sie fortwährend vorgaben, »ihre Religion sei die Menschenliebe« und alles geschehe zu »Ehren Gottes«604 . Remy schlussfolgert, dass gerade das Christentum durch die Forderung und Realisierung der massenhaften Tötung der Juden eine Blutgier aufzeige, die völlig der christlichen Nächstenliebe widerspreche: »Seltsam, dass die unbeschreibliche Heldenhaftigkeit der Einen, die unmenschliche Blutgier der Anderen sich nicht endlich erschöpfte! dass sie durch Jahrtausende bis ins neue Jahrtausend dauerte! […] Ob es eine Geschichte der Judenverfolgung gibt? Man sollte meinen, eine solche sei nie zu Ende geführt.«605 Würde der Volkscharakter einer Nation nach seinem religiösen Bekenntnis und Agieren beurteilt, könne man angesichts der geschilderten »menschenheitsschändenden«606 Handlungen der christlichen Vertreter zu keinem positiven Ergebnis für das Deutschtum kommen. Im Gegensatz zu den Humanitäts-Debatten des 19. Jahrhunderts, die vor allem dem Christentum die absolute Humanität und religiöse Vollmacht zusprachen, gelingt es Remy in ihrem Werk aufzuzeigen, dass die Akteure des modernen Antisemitismus sowohl christliche Prediger als auch christlich-geprägte Parteivorsitzende gewesen waren, wie beispielsweise die genannten Treitschke, Stöcker, Glagau, Rohling oder Dühring. Sie verdeutlicht, dass eben diese christlich geprägten Menschen und viele andere antisemitische Akteure gerade im Zeitalter der Aufklärung, Humanität und Wissenschaften einflussreich und erfolgreich wirkten.607

3.1.3 Die Talmudpolemik Der Zionist und Arzt Karpel Lippe (1830–1915) verweist in seinem Werk Das Evangelium des Matthaei vor dem Forum der Bibel und des Talmuds (1889) darauf, dass seit Jahrhunderten christliche Antijudaisten bereits gegen den Talmud polemisiert haben, indem sie kurze Zitate oder auch ganze Passagen des Talmuds für antijüdische Agitationszwecke entstellt und gefälscht haben.608 So veröffentlichte beispielsweise 1871 der katholische Professor Dr. August Rohling (1839–1931) seine judenfeindliche Publikation Der Talmudjude, die vor allem das Ziel verfolgte, die Juden und ihre Tradition anhand von entstellten und

603 Vgl. ebd.: 154f.: »So leitete Menschenliebe vor Allem und Thatendrang die jüdischen Frauen schon sehr früh zur Ausbildung in der häuslichen Heilkunde und im Hebammendienst.« Vgl. auch Kap. II, 3.2.2. 604 Ebd.: 109; 141: »Durch die Kreuzzüge wurde die Menschenmetzelei kirchlich sanktioniert, d.h. gut geheißen: Zu Ehren Gottes!« 605 Lazarus 1896: 108. 606 Ebd. Zur Nächstenliebekritik siehe Kap. II, 6.1.2. 607 Ebd.: 122f.: »Und die Hierarchie nährte den Wahn und den Aberglauben als Zaun gegen die immer siegreicher andringende Aufklärung der Geister.« Zur Humanitätsdebatte siehe Kap. II, 6.1.2. 608 Noack 2001: 20–23. Karpel Lippe verfasste unter anderem Die Gesetzsammlung des Judenspiegels. Zusammengestellt und gefälscht von Aron Briman (1885) und Der Talmudjude. Vor dem katholisch-protestantisch-orthodoxen Dreirichterkollegium (1881). Vgl. beispielsweise die juden- und talmudfeindlichen Abhandlungen des katholischen Professors und späteren Bischofs von Paderborn Dr. Konrad Martin (1812–1897) und von Konstantin Ritter de Cholewa-Pawlikowski (1848 und 1866).

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verfälschten Talmudzitaten, die er angeblich fundiert theologisch belegen könne, zu verleumden.609 Mit den darin enthaltenden rassischen Anschuldigungen reihte sich Rohling in die zeitgenössischen antisemitischen Diskurse ein, womit er großen Erfolg erzielte. Sein Werk erschien insgesamt in 22 Auflagen (1871–1924) und wurde jahrzehntelang immer wieder in unterschiedlichen Publikationen rezipiert. Der Hannoveraner Rabbiner und Seminardirektor Theodor Krone (1845–1919) wandte sich als erster gegen Rohlings Talmudpolemik und verfasste eine zweibändige Kritik, in der er die Rohling’schen Aussagen als Fälschungen entlarvte.610 Während von jüdischer Seite mit Krones Apologetik die von Rohlings Hetzschrift ausgehende Gefahr als beseitigt angesehen wurde,611 zitierten antisemitische Autoren vermehrt die gefälschten und erfundenen Talmud-Zitate und propagierten diese als »Sensationsnachrichten […], wodurch die Bevölkerung Deutschlands und Österreichs zu starkem Judenhaß aufgereizt wurde«612 . Die antitalmudischen Autoren nutzten oft gebildete und getaufte Juden, wie beispielsweise den bereits genannten Nikolaus Donin (13. Jh.) oder aus der neueren Zeit den Aron Briman (1859–1934), um ihre Aussagen gesicherter belegen zu können.613 Briman fungierte zeitweilig als Berater von Rohling und erzielte mit seinem antisemitischen Werk Judenspiegel (1883), worin er die bereits bekannten gefälschtenTalmud-Zitaten wiederholte, ebenfalls erstaunliche Wirkung.614 Es handelte sich bei den Zitaten z.T. um Falsifikate, um absichtliche Druckfehler oder um genuine Zitate, die allerdings völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurden, sodass damit die talmudische Dialogform als Diskussion und Auslegung unterschlagen wurde. Die gefälschten Talmudzitate sollten folglich vor allem der antisemitischen Argumentationskette dienen, die mithilfe des Rassenkonzeptes und neben den gängigen antijüdischen Stereotypen des wuchernden, lügenden, sittenlosen und gehässigen Juden, der vor allem die Welteroberung und die Unterwerfung aller nichtjüdischen Völker anstrebte, auch den Juden, der die Frau geringschätzt und schändet, zu verleumden suchten.615 Remy spricht sich in ihrem Werk gegen solche Angriffe gegenüber den Juden aus und weist mit besonderer Kenntnis der zeitgenössischen Talmud-Diskussion vehement bestimmte antisemitische Talmudzitate zurück. Während sie in ihren Vortrag Was ist der 609 Rohling 1872. 610 Vgl. Kroner 1871a: 46f.; Kroner 1871b. 611 N.N. 1871: 674: »Wir brauchen uns über dieses Machwerk nicht weiter auszulassen, denn Dr. Kroner trat ihm sofort mit einer Broschüre entgegen […], in welcher er nachwies, dass der Herr Professor [A. Rohling] 61 Talmudstellen citirt hat, von denen 29 verdreht oder entstellt, 27 gar nicht vorhanden, also erfunden sind, und bei 3 sich Druckfehler finden.« 612 Noack 2001: 23–35: »Obwohl jene entstellten, verzerrten oder nur mißgedeuteten Talmud-Aussagen durch Judaica-Fachkundige in aller Öffentlichkeit ad absurdum geführt worden sind, wurden sie durch unzählige antisemitische Agitatoren verbreitet.« Noack konnte dies anhand zahlreicher Belege aus den Jahren von 1848–1932 in ihrer Arbeit Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten fundiert belegen. 613 Nikolaus Donin setzte nach seiner Taufe seine talmudischen Kenntnisse als Werkzeug gegen die Juden ein. Er verfasste 1239 eine Schrift, in der er den Talmud als Ursache für die Verweigerung der Taufen vonseiten der Juden anklagte. Vgl.: Noack 2001: 23. 614 Vgl. dazu Briman 1883; Briman 1884. 615 Eine eingehende Darstellung des Juden als Wucherer, Schmarotzer, Blutsauger, Weltverschwörer und des antisemitischen Antifeminismus findet sich im Kap. II, 3.2.1.

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Talmud? 616 ausdrücklich die Talmudpolemik abzuwehren sucht, bezieht sie sich in ihrem Buch Das jüdische Weib (1891) vor allem auf die gefälschten Talmudaussagen, die speziell die Stellung der Frau im Judentum zu diskreditieren beabsichtigten.617 So schrieb beispielsweise Rohling in seinem Werk Der Talmudjude (1871) zehn Talmudstellen über Das Weib, in denen er unter anderem folgendes angibt: »Was sagt aber die jüdische Frau dazu, wenn ihr Gemahl gar unter dem eigenen Dach zu einer andern geht? Sie hat nach dem Talmud kein Recht, etwas zu sagen: ›des Mannes Sache ist es sein Weib zu behandeln, sagt der Talmud, nach seinem Sinn, wie ein Stück Fleisch, das er beim Metzger gekauft‹ (Tr. Sanhed.f. 58. 2), und ›sie ist bestimmt zu dulden, ohne zu klagen, wenn der, welcher sie bezahlte (d.h. zur Frau nahm), sie gebraucht nach seinem Geschmacke und seiner Laune.‹ oder ›Tr. Nedarimf. 20. 2, wo der Mann gar autorisirt wird: naturali omisso cet‹.«618 Remy zeigt dagegen auf, dass der Talmud wie auch die Bibel die sittlichsten »Bestimmungen über Stellung und Behandlung der Frau«619 beinhalten. Entsprechend der reformjüdischen Ansicht, dass die göttlichen Gebote in den Anforderungen einer sich verändernden Welt neu gedeutet werden müssen, betont sie die innovative Seite des Talmuds und hebt damit die besondere Stellung der jüdischen Frau innerhalb des Judentums hervor. So listet sie in ihrem Werk zahlreiche Aussprüche talmudischer Weisheit auf, die sich auf sanftes und zuvorkommendes Benehmen des Mannes innerhalb der Ehe beziehen.620 Gleichzeitig gelingt es Remy mit der Argumentationsstrategie des kulturellen Vergleichs aufzuzeigen, dass gerade die Frauen im Römer- und Germanentum, die als erstrebenswerte Kulturen hervorgehoben wurden, eine Leibeigenschaft erfuhren, in der sie als Eigentum des Mannes mit völliger Verfügungsgewalt betrachtet wurden. Der griechische und römische Mann konnte mit seiner Frau umgehen, wie er beliebte, dazu gehörte, dass er sie auch ausborgen, verschenken oder zum Gebrauch anbieten durfte.621 Die griechische Frau sei allein zur Arbeit und Fortpflanzung bestimmt gewesen, womit

616 Remy. S.Kap. II, 6.1.1. 617 Aufgrund der großen positiven Resonanz auf ihr Werk Das jüdische Weib wurde Remy dazu angehalten, auch themenspezifische Vorträge für die jüdische und christliche Öffentlichkeit zu halten. 1893 hielt sie ihren ersten Vortrag zum Thema: Das Weib im Talmud, in dem sie, wie in dem darauffolgenden Vortrag Was ist der Talmud?, die Talmudpolemik weit mehr anprangerte und redigierte. Remy 1893f: 1: »Wer hat schon vom Talmud gehört? Bald hier, bald dort, in der Presse, im Reichstag, in Vereinen und Versammlungen ist von ihm die Rede, und merkwürdig, je geringer die Sachkenntnis, desto größer die Ungeniertheit mit welcher über ihn geurteilt wird.« S.Kap. II, 6.1.1. 618 Zitiert in: Kroner 1871a: 41f.: »Sind solche Aussprüche nicht schändlich? Und merke, lieber Leser! Der erste Ausspruch steht am angegebenen Orte nicht; er soll in den neuen Talmudausgaben vorhanden sein, er steht aber nicht. Und der zweite Ausspruch? Er steht auch nicht am angegebenen Orte. Wohl aber wird dort sogar für den ehelichen Umgang die strengste Sittlichkeit zur Pflicht gemacht.« 619 Lazarus 1896: 35; 49f.: Sie zählt eine Reihe von »überaus zärtlich[en]« Sprüchen über die Behandlung der jüdischen Frau auf, die bereits im Kap. II, 2 näher ausgeführt wurden. 620 Remy 1893d: 5: »Züge ehelicher Liebe werden zur Nacheiferung empfolen, und eheliche Treue spiegelt sich in zallosen halbernsten, halbscherzhaften Erzählungen wieder. [Herv. i.O.]« 621 Vgl. Lazarus 1896: 4.

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sie als ein niedrigeres Geschöpf als ihr Ehemann angesehen wurde. Es sei von ihr keine Sittlichkeit oder Sitte verlangt worden, sondern nur Gehorsam gefordert gegenüber der Männerwelt. Somit beschreibt Remy die Frauenrolle der angeblich kulturell höhergestellten Völker als »Lastenträgerin des Mannes«, die wie ein »Haustier«622 vom Mann gehalten und beherrscht wurde. »Da die Schätzung d. weibl. Geschlechts für den jeweiligen Culturstand eines Volkes kennzeichnend sein soll, ist dies höchst charakteristisch: der Stammheros nach welchem das jüd. Volk sich benennt: Israel dient 7 Jahre u. wiederum 7 Jahre, um ein geliebtes Weib heiraten zu können, –f. Griechen u. Römer unerhört u. lächerlich, für d. Bedeutung d. Weibes aber in Israel typisch.«623 Im Judentum, der viel älteren Kultur, werde »nicht blinde[r] Gehorsam der Frau […] gefordert, sondern dass sie Sitte u. Sittlichkeit bewahre, – nicht v. gedankenloser Unterordnung ist die Rede, sondern v. verständnisvoller Gesellung; nicht zum Werkzeug wird sie erniedrigt, sondern zur Gehilfin erhoben. Hand in Hand soll sie mit d. Manne gehen, ihm helfend u. rathend zur Seite stehen, ihm Liebe u. Frieden wie ein schützendes Obdach [Herv. i.O.] bereithalten.«624 Auch die von Rohling angeprangerte Kaufehe, die eine Erniedrigung der Jüdin ausdrücke, konnte Remy anhand des talmudischen Eherechts widerlegen, indem sie aufzeigte, dass die jüdische Frau nicht als ein erkauftes Gut betrachtet und gehandelt wurde, sondern dass die jüdische Eheschließung bis heute, ebenso wie im Christentum, ein heilig geschlossener Bund zwischen Gott und den Ehepartnern sei.625 Es finden sich nach Remys Ausführungen zur Stellung der jüdischen Frau in der Bibel und im Talmud zahlreiche Aussprüche, aus denen sichtbar wird, dass der Talmud »ein eifriger Fürsprecher der Ehe ist«626 . Denn im Gegensatz zu der christlichen Lehre, welche die Frau als ein »notwendiges Übel [Herv. i.O.]«627 bewerte, dem man am besten aus dem Wege ginge, so zeigt Remy auf, sei der Talmud durchaus für das Heiraten. 622 623 624 625 626

Vgl. ebd. Remy 1893d: 2. Remy 1893d: 21. Vgl. Kap. II, 2; Lazarus 1896: 59. Vgl. Kap. II, 2.1.1. Remy 1893d: 9f.; 14f.: »Mehrere Tractate des Talmuds – Jebamoth, Kiduschin, Ketuboth, Gittin, Sota u.a.m. enthalten die gesetzlichen Vorschriften inbezug auf Verlobung, Vermählung, Ehescheidung, u.s.w. Es wäre unmöglich sie auch nur in knappester Kürze zu skizzieren, nur erwähnen will ich z.B. die eigenartige Liebenswürdigkeit der alten Talm. als Friedensstifter. – Wenn Zorn, Missverständniss oder Charakterfeler die Gatten entfremdet, findet talmudische Nachsicht u. Einsicht immer noch Wege des Friedens. – Die Reue erfährt eine weise Berücksichtigung, Schwäche, Selbstvergessenheit werden nicht härter bestraft, als sie es verdienen. [Herv. i.O.]« 627 Ebd.: 9f.: »Er sagt geradezu: wer nicht heiratet, mindert das Ebenbild Gottes auf Erden, u. Mann u. Weib vereint, verdienen erst den Ehrennamen ›Mensch‹. – Der Unverehelichte bleibt sein Lebenlang ein Raub sündiger Gedanken; er lebt ohne Freude, Glück u. Segen. Die Ehe ist so heilig, dass im Gegensatz zu anderen Confessionen, der Priester vermählt sein musste. Am hochfeierlichsten Tage des Jahres, am Jom-Kippur verbietet der Talmud d. Hohepriester d. Ausübung seiner Functionen, wenn er unvermählt war. Ja, es klingt sonderbar, aber entspricht nur d. strengen Auffassung

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Daneben haben einige Bibelstellen, in welchen von dem alleinigen Scheidungsrecht des Ehemannes die Rede ist, Befremden bei den nichtjüdischen Lesern erregt (s.Kap. II, 2.1.3). Erneut wurden diese Stellen zum Nachteil der Stellung der jüdischen Frau ausgelegt und antisemitisch interpretiert. Dagegen zeigt Remy allerdings auf, dass »der Talmud, […] dieser von Unwissenden od. Übelwollenden so arg verleumdete Talmud, der offenbar stets die Partei der Schwachen ergreift, […] den lückenhaften Bibeltext [Herv.i.O.] zum Schutz u. Vorteil des Weibes ergänzt [habe], – der Talmud gestattet auch dem Weibe die Ehescheidung zu beantragen und auf der Synode zu Metz im J. 1020 wurde sogar von Rabbenu Gerschom [Herv.i.O.] […] dem Manne verboten die Ehescheidung zu beantragen, ohne ausdrückliche Einwilligung der Frau.«628 Des Weiteren konnte Remy der antitalmudischen Polemik, die durch eine verzerrte und falsche Wiedergabe biblischer und talmudischer Stellen die männlichen Juden und vor allem die rabbinischen Gelehrten als Frauenschänder diffamieren versuchen, vehement entgegentreten.629 Mit echten Belegen aus der Mischnah bezüglich der Verletzung der Frauenehre zeigt sie zahlreiche Strafbestimmungen auf, die die Sittsamkeit und Keuschheit der jüdischen Frau ehren und wahren sollen. Männer, die diese zu verletzen beabsichtigen, wurden schlimmstenfalls mit der Todesstrafe bestraft.630 Anhand der Befreiung der jüdischen Frauen von der Pflicht an der religiösen Lehre sowie Zeremonie teilzuhaben, wurde ebenfalls mit antitalmudischer Beweisführung versucht, die Stellung der Frau innerhalb des Judentums herabzusetzen.631 Es sei zwar den jüdischen Frauen verboten worden, das Studium der jüdischen Gesetzeslehren wahrzunehmen, aber diese negativ klingende Anordnung sei vor allem aus Rücksicht der weiblichen Verpflichtungen bestimmt worden.632 Die Familie sei »ein Feld der Wirksamkeit« der jüdischen Frau, welches, »wenn wirklich gründlich und liebevoll gepflegt, in der Tat die unausgesetzte, ununterbrochene Aufmerksamkeit und Tätigkeit der Frau in Anspruch nimmt und ihr Seelenleben vollkommen ausfülle.«633 Remy zieht allerdings eine talmudische Aussage heran, in der von Ben Asai (2. Jh.) empfohlen wurde, die

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der Ehe als einer heiligen, den Menschen veredelnden Institution. [Herv. i.O.]« Vgl. auch Kap. II, 2.1.1. Ebd.: 20f. Vgl. Kap. II, 2.1.3. Kroner 1871a: 37: »3. ›Rabbi Elias erklärt im Talmud, er wolle trotz des Versöhnungstages viele Jungfrauen schänden, da ja die Sünde draußen vor der Thüre des Herzens, das Innere der Seele von den Bosheiten des Menschen unberührt bleibe.‹ (Tr. Jomaf. 19, 2).« Diese falsch angegebene Talmudstelle wird von Th. Kroner als verdreht und entstellt entlarvt. Vgl. Kap. II, 2.1.3; Kap. II, 2.2.2. Kroner 1871a: 41: »15. ›Die öffentlichen Gebete in der Synagoge verlangen nach dem Talmud die Gegenwart von 10 Männern; neun Männer und eine Million Weiber machen die Versammlung nicht vollständig, Gottes Gegenwart fehlt, denn das Weib ist nichts.‹ (Tr. 16. Sanhed.f. 2. 1; Megil.f. 23. 2; Sota 17.f. 20. 1).« Lazarus 1896: 131: »Diese eigentümliche anscheinend ungerechte Vorschrift lässt sich dadurch erklären, dass das ganze Interesse und die ganze Hingebung der Frau einzig und allein der Familie erhalten bleiben sollte.« Ebd.: 132.

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Töchter ebenfalls in der Thora zu unterwiesen, »damit sie im Notfall etwas von den Gesetzen wisse, die zu ihren Gunsten«634 seien. Anhand von Remys zahlreichen Gegenbeispielen von echten Talmudstellen, die ausführlich im Kapitel II, 2 betrachtet wurden, konnte sie die gehobene Stellung der jüdischen Frau innerhalb der »alten israelitischen Gesetzgebungen«635 belegen. »Freilich, [so gesteht Remy in ihrem Vortrag Das Weib im Talmud zu,] finden sich, besonders in der Halacha, Bemerkungen u. Bestimmungen, die nicht nur streng, sondern hart, nicht nur geringschätzig, sondern verächtlich erscheinen. Man kann, wenn man will, aus den verschiedenen Tractaten eine ganze Blumenlese unfreundlicher Äusserungen zusammenklauben. Es gab eben zu allen Zeiten Weiberfeinde!«636 Sieht man von diesen »Narren«-Äußerungen ab, treffe man vornehmlich auf eine »tiefe Menschenkenntnis und weise Vorsicht der Rabbinen«, die besonders durch eine Fürsorge gegenüber der Frau sowie eine »pietätvolle Rücksichtnahme« sowie »Huldigung«637 gekennzeichnet sei. Folglich seien in der hebräischen Bibel und im Talmud Bestimmungen formuliert worden, die in den »wichtigsten Gesetze[n] und Gebräuche[n], […] wenn auch durch tausendjährige Lehrzeit entwickelt und verwandelt, [auch] im modernen Recht Gesetzeskraft«638 haben, wodurch die Bedeutung der ethischen Kultur des Judentums für die allgemeine Kulturentwicklung sichtbar werde. Wer ihren Worten noch nicht glauben könne, aber nach der Wahrheit strebe und »tiefer in diesen Quell köstlicher und gemüthsinniger Lebensweisheiten« tauchen möchte, »um selbst die zartesten Gedankenperlen hervor zu holen«639 , dem rät Remy die Schrift des jüdischen Orientalisten Emanuel Oskar Deutsch (1831–1872) Der Talmud zu lesen, in der zu erkennen sei, was der Talmud tatsächlich sei und was er bedeute.

634 Vgl. Remy 1893d: 11: Jedoch kritisiert Remy auch an dieser Stelle, dass die modernen Jüdinnen, dieser religiösen Verpflichtung oder »Ehre«, wie sie es empfindet, nicht nachkommen. »Doch heute noch darf man fragen, wie viele Töchter u. Frauen gibt es, die etwas von den Gesetzen, die zu ihren Gunsten sind, verstehen?« 635 Lazarus 1896: 45. 636 Remy 1893d: 19f.: »Ich habe derartige Äusserungen in drei Gruppen geordnet. I Aussprüche, welche im Talmud selbst widerlegt u. berichtigt werden. II welche nur scheinbar hart, im Grunde milde sind, wie fast alle, die sich auf Ausschliessung d. Frau v. religiösen und cerem. Handlungen beziehen. III von Narren – wie es einige (Wenige!) unter den 1000 von klugen und weisen Männern des Talmuds, auch gibt u. deren Bemerkungen, obwol wertlos, von echt jüd. Pietät, mitaufgenommen worden sind.« Vgl. dazu Kroner 1871a: 39; 46: »Der Talmud kennt aber nur Menschen als Menschen. Unsere Lehrer sind alle fehlbar, so wie es alle Menschen sind.« Sowie »die Meinung eines einzelnen Lehrers in einer Debatte über ein gesetzliches Thema ist nur dann maßgebend, wenn sie von der Majorität gleichstehender oder vom ganzen Volk angenommen wurde.« 637 Lazarus 1896: 55; 35. 638 Ebd.: 35. 639 Ebd.: 50f. Vgl. auch Deutsch 1869; Kroner 1871a: 47: Auch Th. Kroner rät seinen Lesern dazu, den Talmud besser kennenzulernen, indem man ihn selbst liest: »Darum, werther Leser, willst du in Wahrheit den Talmud kennen lernen, so geh und lerne ihn an der Quelle.«

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3.2 Außerreligiöse Legitimationsstrategie 3.2.1 Antisemitische Stereotype Auch die politische Frauenbewegung, die sich vor allem um und nach 1900 gegen die Diskriminierung von Frauen in unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Bereichen einsetzte, bemächtigte sich neben der Einschränkung der geschlechtlichen Ungleichheit des Rassekonzeptes, das im Kontext der Humanwissenschaft im 19. Jahrhundert vermehrt im antisemitischen Diskurs eingesetzt wurde. So kam es auch in den »nationalen und konfessionellen, vereinzelt aber auch in den liberalen und sozialistischen Frauenvereinen zu judenfeindlichen Äußerungen und Vorfällen«640 , sodass in den seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts vermehrt entstehenden Frauenvereinen, aufgrund bestimmter antisemitischer Vorwürfe, jüdische Mitglieder zurückgewiesen oder sogar die mitgliedsstarken sowie gut organisierten jüdischen Frauenvereine in ihrem Bestreben ignoriert oder behindert wurden. Innerhalb der Frauenvereine, -parteien und -verbände wurde der Frauendiskurs ebenfalls anhand der Geschlechter- und Rassenkonzepte geführt, wobei die Jüdin dabei stets die Verlierer-Rolle einnahm.641 Auch während der später aktiven Frauenbewegung (seit 1903), die bemüht war, Veränderungen in der traditionellen Ordnung der Geschlechter herbeizuführen, wurden vermehrt antisemitische Stereotype verwendet. Susanne Omran zeigt in ihrem Werk Frauenbewegung und Judenfrage642 , dass neben dem Aspekt der Ausschließung von jüdisch-weiblichen Mitgliedern auch die antisemitischen Stereotype in politischen Forderungen/Programmen als Formulierungen Platz fanden. Beispielsweise nutzen Abolitionistinnen eine aktive Bekämpfung von Prostitution, »indem sie die Förderung und Nutzung von Prostitution mit Begrifflichkeiten in Verbindung setzten, die über antisemitische Stereotype im Bewusstsein der Öffentlichkeit als spezifisch jüdisch gekennzeichnet waren.«643 Anhand zahlreicher antisemitischer Schriften von Frauen wird deutlich, dass auch die bürgerlichen Frauen seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts Anteil an den judenfeindlichen Bestrebungen hatten.644 Durch die geführten Diskurse über jüdische Frauen, ausgehend von den Frauenvereinen, findet anhand der Relationen von jüdischer Rasse und weiblichen Geschlecht, bedingt durch die beiden politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts jüdische sowie weibliche Emanzipation, eine judenfeindliche Aufladung der Frauenfrage statt, die progressiv bis in die NS-Zeit fortgeführt wurde.645 Dabei wurden nicht nur die Jüdinnen

640 Gräfe 2007: 47. 641 Kaplan 1997: 214: »Während immer mehr Frauen der Mittelschicht im späten 19. Jahrhundert in die Berufswelt eintraten, verschloß der Antisemitismus den Jüdinnen die Tür zu manchem ›neuen Frauenberuf‹.« 642 Vgl. Omran 2000: 436. 643 Dabei wurden antisemitische Stereotype von der exzessiven Sexualität des dekadenten Großstädters, über den Mädchenhandel bis hin zur Analogie zum Wucherer eingesetzt. Vgl. Gräfe 2007: 49. 644 Vgl. dazu das Werk der Schriftstellerin: Jurik 1885, sowie ihre Tageszeitung Patriotische Zeitung, die sie seit 1885 erfolgreich herausgab. 645 Döll 1908: 145: So formulierte der antisemitische Philosoph Eugen Dühring (1833–1921) bezüglich der aufkommenden Frauenbewegungen 1908 folgende These: »Doch mag dieser mißgeformte Augenblickszustand immerhin vorzugsweise den Hebräerinnen zur Last geschrieben werden und

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aufgrund ihrer Weiblichkeit degradiert, auch die männlichen Juden erhielten eine Stigmatisierung anhand weiblicher Attribute. So nutzten die antisemitischen Agitatoren antifeministische Stereotype, um Juden beispielsweise als »ängstlich, feige, eitel oder sinnlich«, folglich »als gänzlich unmännlich« also »weibisch«646 zu diffamieren. »Indem man Juden männliche Charaktermerkmale absprach und ihnen stattdessen weibliche Züge verlieh, verstärkte man einerseits ihre kollektive Abwertung; andererseits aber konstruierte man implizit und explizit Analogien zwischen zwei Menschengruppen, die vorab zu geborenen Außenseitern der bürgerlichen Gesellschaft stilisiert worden waren.«647 So erhielten die Juden neben der Stigmatisierung als semitische Rasse auch die des weiblichen Geschlechts, sodass diese erkünstelten Konzepte zusätzlich zur Konstitution einer weiteren Unterlegenheit der Juden im antisemitisch-feministischen Diskurs führten. Wie die Frauen, seien die Juden von Geburt an zweitklassig und vor allem dem christlichen Staat, der als männlich kodiert wurde, unterlegen. »Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht/einer Rasse stattete sie nach allgemeiner Überzeugung mit einer Reihe angeborener und damit unveränderlicher Eigenschaften aus, die, wenn überhaupt, nur um den Preis der Selbstaufgabe abgelegt und überwunden werden konnten.«648 Remy wendet sich in ihrem Werk gegen diese antisemitische Überzeugung, die dem Juden aufgrund seiner angeblichen biologischen Rasse sowie Weiblichkeit eine übertriebene sexuelle Begierde, die bis zu sittenlosem Inzest führe, sowie gierige Goldsucht, die den Wucher bei den Juden befördere, akkreditierte. Das Negativstereotyp der »schönen Jüdin« als »weibliche Unheimliche«649 gewinnt im Kontext der gesellschaftlichen Verän-

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auch hier den Gedanken wieder bestätigen, dass der jüdische Sinn die Dinge, mit denen er sich befaßt, unfehlbar abseitsführt, quertreibt und verpfuscht.« Vgl. auch das antisemitische und antifeministische Buch des zum Protestantismus konvertierten Juden Otto Weininger (1880–1903): Weininger 1980 (Nachdruck der 1. Auflage von 1903). »So wenig wie es in der Wirklichkeit eine ›Würde der Frauen‹ gibt, so unmöglich ist die Vorstellung eines jüdischen ›gentleman‹.« Zitiert in ebd.: 421. Vgl. dazu Leuenberger 2007: 83: »Nach Weininger sei die Logik der Frauen wie der Juden mangelhaft, beide missbrauchen die Sprache, hätten eine materialistische Gesinnung, doch während die Frau wenigstens in Mann und Kind einen Schwerpunkt habe, könne sich der Jude für nichts wahrhaft einsetzen.« Frevert 1994: 77. Vgl. auch Wendland 1896/97 abgedruckt in: Kampe 1988: 297–299. Frevert 1994: 75–94, hier 77. Frevert 1994: 78. Ende der 90er Jahre des 19. Jh.s kam die Ablehnung der männlichen Juden an universitären Studentenverbindungen auf, was damals noch eine große soziale Bedeutung hatte. Begründet wurde der Ausschluss mit der angeblichen jüdischen Satisfaktionsunfähigkeit, womit den jüdischen Studenten das Männlichsein abgesprochen wurde. Um die Weiblichkeit des gesamten jüdischen Volkes biologisch belegen zu können, wurden von verschiedenen Ärzten und Psychologen Statistiken herausgegeben, die beweisen sollten, dass männliche Juden an Hämorrhoiden leiden, was als männliche Menstruation dargestellt wurde. Zur Analyse der antisemitischen Feminisierung der jüdischen Männer, vgl.: Hödl 1997. Leuenberger 2007: 83: »Im abendländisch-christlichen Kulturkreis wurde die moralische Einschätzung weiblicher Schönheit wesentlich von Augustins Deutung des Sündenfalls als interpersonelle sexuelle Verführung bestimmt. Die Jüdin als zweifache ›Andere‹ hatte vom Frühmittelalter an ihren Platz in einer Reihe von biblischen Negativstereotypen. Von der Kirche mit dem Tabu belegt und daher für den christlichen Mann noch begehrenswerter, trat sie meist als Konvertitin in Er-

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derung der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts ebenfalls wieder an Aktualität, was zu einer zunehmenden sexuellen Dämonisierung der »schönen Jüdin«650 als Prostituierte führte. So wurde propagiert, dass die Jüdin ein anormales sexuelles Verlangen habe, dass dazu führe, dass von christlicher und antisemitischer Seite die jüdische Frau als erotische Frau, die eine Gefahr für die Männerwelt darstelle, gebrandmarkt und der Verkehr mit einer Jüdin untersagt wurde. Selbst der Begriff ›die Jüdin‹ hatte jahrzehntelang, sogar bis zur Wannseekonferenz (1942), im deutschen Sprachraum eine erotische oder sexuelle Konnotation erhalten, was für die Gefährdung des deutschen Mannes und für die »Symbolisierung einer Aushöhlung deutscher Kultur«651 stand. In der antisemitischen Hetzkampagne wurde diesbezüglich die biblische Geschichte der schönen Salome (in Mk 6,22-29 namenslos) herangezogen, verbunden mit der Geschichte der Judith (Jdt 13,17-19), um die christliche Männerwelt vor der heimtückischen und fleischlichen Verführungskraft der Jüdin zu warnen.652 Ebenfalls auf die biblische Erzählung von der tanzenden Jüdin (Salome) eingehend, betont Remy in ihrem Werk, dass die schöne Jüdin von jeglicher Schuld frei sei, denn die Idee, den Kopf des Johannes des Täufers zu erbitten, sei ihr von ihrer Mutter eingeflüstert worden.653 Neben dem Stereotyp der schönen Verführerin wurde der antisemitische Vorwurf des anomalen Sexualtriebes des Juden ebenfalls anhand biblischer Belege zu beweisen gesucht. So wurden unter anderem die Erzählungen von Abraham und Sarah (Gen 20,12), von Tamar (2Sam 13,1-22) sowie von Lots Töchtern (Gen 19,30-38) herangezogen, um die Juden ihrer natürlichen Sittenlosigkeit sowie des Inzests zu bezichtigen.654 Die Ehe zwischen Abraham und Sarah, seiner Stiefschwester, wurde in antisemitischen Hetzkampagnen genutzt, um zu belegen, dass die jüdische Kultur angeblich aus zahlreichen Inzestehen bestehe, womit sie ihre rassische Eigenart zu bewahren suchte.655 Remy nimmt diesen antisemitischen Vorwurf auf und verweist mithilfe eines Kulturvergleichs auf die historische Tatsache, dass Geschwisterehen im altorientalischen sowie

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scheinung«. Zum Stereotyp der Jüdin als aus der traditionellen Geschlechterrolle ausbrechenden, sexuell hemmungslosen Frau, vgl. dazu Jakubowski 1996. Durch die industrielle Revolution sowie das daraus resultierende Bevölkerungswachstum kam es zu einer Vermehrung von Prostitutionsfällen im 19. Jh. Da die Frauen eine geringere (Aus)Bildung erhielten, blieb vielen nun in Armut lebenden Frauen oftmals keine andere Wahl, als mit der Prostitution ihr Gehalt aufzubessern. Diese Problematik wurde von antisemitischer Seite dem Juden angelastet. Vgl. Volkov 2001a, hier. S. 71ff. Damit folgt Volkov dem im Zusammenhang mit der Emanzipation stehenden negativ konnotierten Verbindung zwischen Weiblichkeit und Judentum im Diskurs der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jh.s. Vgl. dazu Gilman 1993a: 153ff. Hahn 1993: 11. Siehe auch Krobb 1993. Beide Frauen wurden bereits in den »Weiberlisten« des 16./17. Jh.s zur negativen Kennzeichnung des jüdischen Weibes als falsche Verführerinnen genutzt. Vgl. dazu Wiltschnigg 2003: 68; Gilman 1993b. Lazarus 1896: 103: »Herodias, die Gattin des Herodes […], welche sich von ihrem Schwager entführen liess und darauf von Johannes dem Täufer öffentlich getadelt wurde, ist berüchtigt durch den schändlichen Rath, den sie ihrer Tochter Salome gab.« Bei Lev 18,6ff. wird jedoch der Inzest verboten. Vgl. Weininger 2014: 241; Zu antisemitischen Stereotypen vgl. auch den Sammelband von: Schoeps und Schlör 1996.

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griechischen Kulturraum nicht von vornherein verboten waren.656 Die Verfasser solcher antijüdischer Thesen ließen Remy zufolge stets religions- und sozialgeschichtliche Aspekte unberücksichtigt und fällten ihr Urteil unbedacht.657 Denn sie bezogen das Faktum nicht mit ein, dass die Vetternehe im Hochadel bis ins 18. Jahrhundert auch in Europa gesetzlich erlaubt und praktiziert wurde.658 Wer aber Zeiten und Sitten der Jahrhunderte verwechsle, »mag allerdings oft stutzig werden, doch liegen die Dinge bei aller Lückenhaftigkeit des Berichts über Abrahams Leben, einfach genug.«659 Die Ehe zwischen Abraham und seiner Stiefschwester Sarah erklärt sich als Rest des alten Patriarchats, welches nur die Verwandten mütterlicherseits als Blutsverwandten ansah.660 Auf die Erzählung allerdings von der Vergewaltigung Tamars durch ihren Halbbruder Amnon (2Sam 13,1-22) gehe sie nicht näher ein, da diese Jüdin unschuldig »entweiht«661 wurde und daher straflos sei. »Man erfährt Nichts weiter von ihnen [Tamar und Dina], ein wohlthätiger Schleier breitet sich über die entwürdigten Opfer, während z.B. Lots Töchter durch ihre That zu Stammmüttern zahlreicher Geschlechter werden.«662 Lots Töchter (Gen 19,30-38) sowie die Erzählung von der verwitweten und kinderlosen Tamar (Gen 38) werden als weiteres Beispiel für verwandtschaftlichen sowie anstößigen Geschlechtsverkehr herangezogen, da es sich hierbei um den Beischlaf der Töchter handelt, zum Zwecke der Erzeugung von Nachkommenschaft mit ihrem (Schwieger)Vater. Durch das alttestamentliche Recht der verwitweten und kinderlosen Frauen auf das Levirat (Schwagerehe) wurden die nächsten männlichen Familienmitglieder auf die Zeugung von Nachkommenschaft für die Witwe verpflichtet.663 Wurde dieses Recht der kinderlosen Witwe verletzt, wie in der genannten biblischen Erzählung (Gen 38), konnte die Witwe ›schadlos‹ das Recht einfordern, allerdings nicht rücksichtslos erzwingen. »Rechtmässig ist die Handlung nicht, Juda [der Schwager Tamars] meidet ihren Umgang hernach selbst. Aber eigentliche Absicht unreine Begierden zu erfüllen, ist es

656 Lazarus 1896: 70: »Die Spötter vergessen (oder wissen nicht), dass die Ehe unter Geschwistern bei alten Völkern erlaubt war.« Beispielsweise gibt es zahlreiche griechisch/hellenistische Erzählungen von Geschwisterehen unter den olympischen Göttern, wie die Ehe zwischen Zeus mit seiner Schwester Hera, wodurch in früheren griechischen Herrscherfamilien Geschwisterehen als legitim betrachtet wurden. 657 Ebd.: »Wie viel hat sich Abrahams Gattin und dieser selbst an unverständiger Bespöttelung gefallen lassen müssen! Welchen schiefen Auffassungen begegnet man fort und fort, weil die mit ihrem Urtheil so schnell Fertigen sich nicht die Mühe geben, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, das erste Erfordernis für Jeden, der gerecht urtheilen will.« 658 Vgl. ebd. Die Vetternehe zwischen den Angehörigen des europäischen Hochadels wurde trotz der kirchlichen Restriktionen bis ins 20. Jh. hinein durchgeführt. 659 Ebd.: »Freilich fragt man sich wol auch u.A. warum liebte Abraham sein Weib Sarah so sehr? Um welcher Eigenschaft willen? Genug, meine ich, dass er sie so sehr liebte, dass er an ihrer Seite begraben zu werden wünschte.« 660 Vgl. in Biberfeld 1891: 38: den Vermerk von E. Biberfeld zu Remys Aussage: »Targum Onkelos zu Exodus VI, 20«. 661 Lazarus 1896: 61. 662 Lazarus 1896: 62. 663 Vgl. Gen 38; Dtn 25,5-10; Ruth und Mk 12, 18–27. Weiterführende Literatur zur Leviratsehe siehe: Weisberg 2009.

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auch nicht, sondern ein kühn gewähltes Mittel, zu einem Recht zu kommen, das ihr nach den Landesgesetzen zukommt.«664 Auch sei das alttestamentliche Recht der Leviratsehe (Schwagerehe) nach Remy »vielleicht zum Theil ebenfalls aus dem Bestreben hervorgegangen, der Wittwe so bald als nur möglich einen neuen Beschützer zu sichern«, womit »die Rücksicht auf die Unverletztheit und den Vollbestand der Familie bis zur äussersten Grenze und bis zur letzten Consequenz getrieben«665 werde. Selbst der deutsche Schriftsteller Gottfried Seume (1763–1810), der sich nach Remy vor allem als »vorurteilsloser Denker und Menschenfreund«666 ausgezeichnet habe, habe ebenfalls die erschreckende Handlungsweise der beiden Töchter Lots, die sich heimlich in das Bett des betrunkenen Vaters legten, missverstanden und diese des anzüglichen Vergehens gegen Natur und Sitte bezichtigt. Da allerdings das prekäre Inzest- sowie Sittenlosigkeitsthema immer wieder Gegenstand der antisemitischen Hetzkampagne war, stützte sich Remy in ihrer Argumentation auf eine christliche Autoritätsperson, den evangelischen Theologen August Hermann Niemeyer (1754–1828), der sich gegen antisemitische Äußerungen kritisch einsetzte.667 Die Erzählungen über die verwitweten Frauen, die mithilfe einer List mit ihren (Schwieger)Vater Geschlechtsverkehr hatten, wie im Fall der Tamar (Gen 38), müssten nach Niemeyer zeitgeschichtlich betrachtet und bewertet werden. Das Motiv der Frauen lag in der »Gewohnheit der Zeit«668 , weshalb die sittlichen Vorstellungen sowie Handlungsmöglichkeiten verschiedener Gesellschaften nicht miteinander verglichen werden könnten. Remy löst die negative Konnotation der schönen und verführerischen Jüdin, indem sie die jüdische Frau in ihrem Werk als eine stets sittliche und ehrbare Frau beschreibt und mit zahlreichen historischen Gegenbelegen sowie zeitgenössischen Frauenbeispielen untermauert (s.Kap. II, 2). Die Schönheit der Jüdinnen, die viele Männer ansprach, wird zwar von Remy ebenfalls erwähnt, jedoch als positiver Aspekt der jüdisch-weiblichen Eigenart wertgeschätzt.669 Daneben sei die Jüdin, so zeigte es Remy anhand zahlreicher rabbinischer Aussagen auf, die »Hüterin der Sitte u. dadurch als Trägerin d. Cultur [Herv. i.O.]«670 . Die Sittlichkeit sei gerade der ethische Wesenszug des Judentums, der vor allem von der Jüdin bewahrt und ausgeübt werde: »Ihr, der Frau, lag es ob, das Familienleben rein zu erhalten, und die Reinheit des Familienlebens bildete

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Lazarus 1896: 63. Ebd.: 47. Vgl. ebd.: 62. Siehe auch: Seume 1853: 71. Lazarus 1896: 62: »Der Gegenstand ist peinlich, da er aber zu den missverständlichen Dingen gehört, durch welche die Bibel oft verkannt und verlästert worden, mögen hierüber noch die Worte des ausgezeichneten christlichen Bibelkenners Niemeyer folgen.« 668 Ebd.: 46. Vgl. Kap. II, 2.1.3. 669 Lazarus 1896: 127, 228, 248, 144: »dass die Jüdinnen eine eigenthümliche Anziehungskraft für Jeden unbefangenen Betrachter besitzen ist offenbar. Durch alle Jahrhunderte hindurch wird ihre eigene Schönheit besungen, und findet man in Bibel und Talmud zahlreiche Stellen, welche auf die körperliche Kraft der Jüdischen Frauen hinweisen; auch Tacitus, bekanntlich kein Freund dieses Volkes rühmt von ihnen, dass sie gesund sind und ›Strapazen ertragen‹.« Es finden sich mindestens 30 Stellen in ihrem Werk, in denen sie die »schöne Jüdin« hervorhebt. 670 Remy 1893d: 21. Vgl. auch Kap. II, 2.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

das Hauptgesetz zur Erhaltung Israels, baute die Grundmauern auf denen das gottgefällige Dasein des echten Juden sich erhob. [Herv.i.O.]«671 Damit entspricht Remys Weiblichkeitskonstrukt der im 19. Jahrhundert gängigen Zuschreibung des bürgerlichweiblichen Geschlechtscharakters, in der die bürgerliche Frau zwar als schwach und hingebungsvoll, aber auch als schamhaft, keusch, schicklich, liebenswürdig, taktvoll, anmutig und schön beschrieben wird.672 Demzufolge sollte eine vorbildliche Ehefrau vor allem demütig, sittsam, ordentlich und sparsam sein.673 Alles Tugenden, die Remy im Judentum vorkommend aufzeigt. Den gehässigen Vorwurf, dass jüdische Frauen eitel und selbstverliebt seien, da »am Judenweibe […] immer Etwas« hänge, gesteht Remy zu, versucht allerdings, diesen mit der »Pflege der [ehelichen] Sittlichkeit« sowie mit dem »Wettkampf gegen freie u. freche Frauen anderer Nationen [Herv. i.O.]«674 zu legitimieren. Durch die körperliche Pflege und modische Ausstattung der Frau solle der jüdische Mann an das häusliche Ehe- und Liebesleben gefesselt werden, was im sittlichen Interesse der Talmudgelehrten sei. Die »Hebräerin am Putztisch«675 war ein beliebtes antisemitisches Thema, dass stets aufgegriffen wurde, um die Gier der Juden nach Schmuck, Gold und schönen Kleidern zu belegen. Um sich diesen Luxus leisten zu können, verlange der Jude vor allem Geld, was sich

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Ebd.: »Wer aber trug dafür die nächste Sorge, d. grösste Verantwortlichkeit? Das Weib. – Daher sehen wir d. Jüdin eine Würde und Unabhängigkeit gewahrt, wie bei keiner and. Nation damaliger Zeit. – Die hebr. Gesetzgeber sind nicht nur menschenfreundlicher u. seelenkundiger, sond. auch religiöser, – u. desshalb ist auch ihre Auffassung des Weibes eine durchaus höhere, als man sie sonst – damals – fand! [Herv. i.O.]« Vgl. Lazarus 1896: 1: Mit der »angeborenen Schwäche« des Weibes, die Remy ebenfalls in ihrem Werk erwähnt, ist bei ihr eine körperliche Schwäche gemeint, die die Frau daran behindere, sich gegen den Mann, der körperlich stärker sei, zur Wehr zu setzen. In ihrem Tagebuch von 1919 notierte sie weiterführend: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag, Arc.Nr. 01 134: »das Schießen […] sei ›unweiblich‹, d.h. unnatürlich für ein Weib. Eigenart des Weibes ist Schonung, Milde, Mitleid, Heilung, das Gegenteil: Grausamkeit, Tötung, Vernichtung, Schmerzbereitung etc. ist gegen die Natur des Weibes – also unweiblich. 3. Januar 1919. Als Ergänzung zu obigem: das Kochen ist weiblich das Schlachten unweiblich.« Vgl. Doff 2004: 6. Siehe auch: Lässig 2006: 62: Dem jüdischen »vollkommenen Mann« wurden im 19. Jh. folgende Werte zugeschrieben, die sich ebenfalls mit dem Wertekanon des neuen deutschen Bürgertums übereinstimmten: »Als geschlechterspezifische Eigenschaften wurden ihm vor allem Stärke, Unternehmergeist und Aktivität, Verantwortungsbewusstsein, hohe Selbstdisziplin, Beharrlichkeit und das Handeln nach festen inneren Grundsätzen, Bildung, Rationalität und Wissenschaftsgeist« zugesprochen. Lazarus 1896: 55. Siehe auch: Remy 1893d: 8: »Andererseits aber ist der Talmud feinsinnig genug, das natürl. Recht, ja, die natürliche Pflicht d. Weibes zu gefallen keineswegs einzuschränken, sondern im Gegenteil ungezwungen walten zu lassen. – Die Rabbinen zeigen sich hier, wie so oft als echte, rechte Menschenkenner; ihr Freisinn war Frömmigkeit. – Man bedenke, dass d. jüd. Weib in schweren u. schwierigen Zeiten manchen Wettkampf gegen freie u. freche Frauen anderer Nationen zu bestehen hatte! – Es war natürlich, ja, es war sittlich, dass d. Lehrer d. jüd. Volkes dem jüd. Weibe eine gewisse Anmut u. Anziehungskraft wünschten! [Herv. i.O.]« Lazarus 1896: 55. Vgl. auch Remo 1896: 106: Das talmudische Gebot: »Man nähre sich unter seinem Vermögen, kleide sich danach und schmücke seine Frau darüber hinaus,« wird, wie Remy erläuterte, nicht als ehrenvolle Behandlung der jüdischen Frau angesehen, sondern von antisemitischer Seite als Befehl zum Wucher umgedeutet.

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im Wucher niederschlage.676 Äußerlicher Luxus, wie eine vornehme Wohnung, Lebensweise und Toilette, sei daher, so schlussfolgert auch Remy, das Laster der Jüdinnen, das ihnen stets als gehässiger Vorwurf zugeschrieben wurde.677 »Die Antisemiten hatten ihre Aufmerksamkeit auf die Konfektionsindustrie gelenkt, in der Juden eine führende Rolle einnahmen, und hetzten gegen die ›verjudete Mode‹.«678 »Die Juden sollen ihre Geldgier nur auf verwerflichem, unmoralischem Wege und zur Verwirklichung schlechter Zwecke befriedigen!«679 So sei bereits beispielsweise an der alttestamentlichen Erzählung »von Jakobs betrügerischem Handeln an seinem Bruder«680 (Gen 27,35) der ›lügenhafte‹ und ›betrügerische‹ Charakter der Juden ersichtlich. Der jüdischen Religion wurde sittliche Minderwertigkeit vorgeworfen, die beispielsweise an dem antiken Vorurteil des Christusmordes und der skrupellosen Neigung zum Verbrechen und Betrug festgemacht wurde.681 Auch die neuerrungene Emanzipation mit dem Recht auf Bildung und darauf, bürgerliche Berufe auszuüben, wurde den Juden als »die trickreiche Ausnutzung des formalen Rechts«682 (z. B. durch den jüdischen ›Wucherer‹ und ›Winkeladvokaten‹) zwecks Macht- und Geldgewinn angelastet. Als Beispiel wurden reiche jüdische Bankiersfamilien wie die Rothschilds oder Fuggers angeführt, um die Juden für den »raffenden Kapita-

676 N.N. 1884: 1: »Welch‹ ein Gegensatz zwischen einem deutschen Weibe und der Judenfrau! Dem Juden ist die Frau nur ein Gegenstand, seinem selbstsüchtigen Zwecke zu dienen, und nur, weil von ihr nichts Hohes verlangt wird, und weil sie, wie der männliche Jude, im Golde ihr Ideal sieht, im Golde, das der Mann für sie mit schafft, sind die jüdischen Ehen als im Allgemeinen glücklicher zu bezeichnen. Der Deutsche verehrt im deutschen Weibe das Ideal der Keuschheit und Sitte, des häuslichen Fleißes und des inneren Friedens.« 677 Lazarus 1896: 55: »Mag auch manches jüdische Weib darin des Guten zu viel gethan haben (und besonders auch heutzutage bis zur Ueberladung gehen).« Vgl. dazu The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag von 1923, Arc.Nr. 01 134: Am 22. Apr. 1923 spielt sie mit einer gerade nach Meran angereisten jüdischen Gesellschaft Schach. »Eine schreckliche Gesellschaft: laut, mauschelnd, aufdringlich, rücksichtslos. Eine der ›Damen‹ erzähle mit rauchiger Bierstimme und in einem grässlichem russ. Jüd. Jargon, wie sie auf dem Grenzzollamt 5000 Cigaretten durchgeschmuggelt habe und was (wie viele Millionen Mark) sie für dies und das ausgegeben habe und kokettierte (eine dicke Person) mit einem weissen Sural, indem sie eine Spanierin vorstellen wollte, u.s.w. […] Ach, wie begreife ich den Antisemitismus!!!« 678 Kaplan 1997: 49. 679 Schrattenholz 1891: 7. 680 Vetter 1989: 20. 681 Grözinger 1996: 57–59; 61: Bereits im Neuen Testament findet sich der Vorwurf gegen die Juden, die Jesus Christus gekreuzigt haben sollen. Allerdings konnte dieser Vorwurf wissenschaftlich negiert werden, da nicht die Juden, sondern das römische Recht zu Jesus Christus’ Kreuzigung führte. Nach Johannes Chrysostomos (344–407), »eine[n] der vehementesten Judenfeinde der alten Kirche, habe der Mord an Jesus Christus die Juden ›ein für allemal verdorben und sie in diese elende Lage gebracht‹.« 682 Als Beweis dienten erneut biblische Geschichten, hier über das Pharisäertum, dass die Vorlage für angebliche Korruption, Arroganz und Heuchelei der zeitgenössischen Juden bildete. Vgl. dazu Gräfe 2007, 125f.: »Im Deutschland des 19. Jh.s wurden die Juden – wurde das ›jüdische Element‹ mit der Hilfe von Begriffen, die aus dem Wort ›Wucher‹ abgeleitet waren – ›überwuchern‹ etwa oder ›bewuchern‹ – angeklagt, alles, ›was ihm erreichbar ist‹ im Bereich der Politik und der Gesellschaft, zu korrumpieren.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

lismus«, d.h. einen Kapitalismus des »Wuchers und des Parasitentums«683 , anstatt des Schaffenden anzuklagen. Für Remy stehen allerdings die genannten jüdischen Familien(-namen) als Beweis dafür, dass Reichtum am ehrbarsten im Dienst der Wohltätigkeit und Wissenschaft einsetzbar sei.684 Darin hätte sich vor allem die Familie Rothschild vorbildlich gezeigt.685 »Mehrere von ihnen [den Frauen der Familie Rothschild] haben sich, [als] ein Vorbild für ihre jüdischen Mitschwestern, ausser durch ernste Bildung und Belesenheit, besonders durch religiöse Treue und innige Anhänglichkeit für ihr Judentum ausgezeichnet.«686 Wie beispielsweise Charlotte von Rothschild (1819–1884), die mit Vorträgen aufklärerisch gewirkt habe. Dem depravierenden Vorwurf des Wucherers und Schacherers tritt Remy in ihrem Werk vehement entgegen. »Es ist immer noch nicht allgemein bekannt genug, dass die Juden gerade im Gegensatz zu dem Vorwurf, der ihnen so häufig gemacht wird, und der den Haupttrumpf ihrer Gegner bildet: dass die Juden am wenigsten die Geldgeschäfte liebten, sondern dagegen den Landbau, Handwerk, das Studium und die praktische Wissenschaft, sowie Heil- und Rechtswissenschaften.«687 Geldgeschäfte seien Remy zufolge für die Juden etwas Unheiliges, »da schon die Bibel und der Talmud sich gegen Zinsnehmen und dergleichen äußern. […] Und war ihr menschenfreundlicher Sinn doch stets mehr auf Erleichterung der Verlegenheiten des Anderen bedacht als auf Erschwerung. (vgl. Ex 23; 19,9-15). […] Doch ebenso wenig allgemein bekannt ist, dass ihnen durch ein Jahrtausend hindurch fast überall, bald hier, bald dort, verboten war, sich mit einem anderen Beruf, als etwa Handel zu beschäftigen.«688 Eine Ausnahme war der Ärztestand, denn »von der Krankheit heilen, ließ man sich gern durch den geschickten Arzt, auch wenn er ein Jude war.«689 Seit der Diaspora (597 v. Chr.) durch das ganze Mittelalter und bis zur Neuzeit wies man das jüdische Volk an, sich ausschließlich in den Städten aufzuhalten, wo beispielsweise durch Papst Paul IV. (1476–1559) die Juden in den ersten Ghettos isoliert wurden.690 Selbst der aufgeklärte König Friedrich der Große (1712–1786), der 1740 bis 1786 König von Preußen war, duldete 683 Raphael 1996: 108: »Otto Glagau verwendete den Begriff des ›raffenden Kapitals‹, im Gegensatz zu dem des ›schaffenden Kapitals‹, in einer Serie über die Börse und die Finanzspekulation, die 1874 in der Gartenlaube, dem literarischen Magazin für die Mittelschicht, erschien.« 684 Lazarus 1896: 214. 685 Ebd.: 217: »Wenn so die Leute den Namen Rothschild hören, dann denken sie nur an die Millionen, welche in der Familie erworben sind; was sonst noch diese Millionäre – etwa im Vergleich mit anderen – tun und treiben, danach fragen sie nicht!« 686 Ebd.: 214. 687 Ebd.: 153. 688 Ebd. 689 Lazarus 1896: 153. 690 Als Vertriebene aus ihrem Land wurden die Juden zu Kosmopoliten, die hauptsächlich als Handwerker, Landwirte und Weinbauer ihren Lohn verdienten, nur der kleinere Teil widmete sich dem Handel. Nach Schleiden waren die Juden so lange Landwirte, bis die Christen ihnen dieses Arbeitsrecht verboten. Vgl. ebd.: 109.

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nicht den Aufenthalt der Juden auf dem Land.691 Als 1750 von Friedrich II. Generalprivilegien erteilt wurden, wurde den Juden für den darin zugesicherten »Schutz« eine »ungeheure Abgabenlast und Beschränkung auferlegt«692 . Daneben wurden die Juden vom bürgerlichen Gewerbe, von den Künsten und der Wissenschaft ausgeschlossen, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als der Handel mit Geld und Waren.693 Remy macht in ihrem Buch deutlich, dass die Juden ein friedliches Leben in ihren neuen Umgebungen hätten führen können, wenn nicht christliche Vertreter mit ihrem »blinden oft auch erheucheltem Bekehrungseifer gegen sie«694 aufgetreten wären, und den Christen zwar das Zinsnehmen verbaten, aber den Juden dieses weiterhin erlaubten und durch die Einschränkungen weiterer Erwerbsmöglichkeiten, außer im Handel, diese darauf festlegten. »Heute gehen die Antisemiten nicht viel anders vor, wenn sie in hetzerischer Rede und Broschüren klagen, dass die Juden sich lediglich auf die Studienzweige werfen, in denen sie zur Wohlhabenheit, zu Reichthum gelangen können.«695 Der antisemitische Publizist Theodor Fritsch (1852–1933) veröffentlichte 1887 seinen bekannten Antisemiten-Katechismus, in dem er »die schachernde und wuchernde Thätigkeit« dem Juden als rassische Eigenart zuweist, der nicht in der Lage sei, einen Ertrag bringenden Ackerbau zu betreiben: »Wer aber das wahre Wesen des jüdischen Volkes studirt hat, der weiß recht wohl, […] Juden zum Ackerbau anhalten, wäre gerade so erfolgreich, als wollte man Säue vor den Pflug spannen [sic!]. Die Schachernde und wuchernde Thätigkeit des Judas ist in seiner Rassen-Eigenart unausrottbar begründet, und da deshalb von einer Belehrung und Besserung keine Rede sein kann, so muß unsere bescheidenste Forderung zum Schutze unseres Volkes lauten: Die Emancipation der Juden ist aufzuheben.«696

691 Ebd.: 223: »zum Unglück sollte der freigeistige Fürst [Friedrich der Große], der so großartiges für sein Vaterland und dadurch für die Welt und die Menschheit gestiftet, kein Verständnis für dieses wunderbare Volk besitzen.« Diesbezüglich verweist Remy auf das »Wunderbare des jüdischen Volkes«, »das uns unsere Zehn-Gebote gegeben, dessen Propheten wir lesen, dessen Psalmen wir im Gotteshause sangen und singen, das Volk, dass die heilige Schrift geschrieben, interessierte den großen König nicht.« Vgl. dazu Schrattenholz 1891: 32. 692 Vgl. Lazarus 1896: 223f. 693 Vgl. ebd. 694 Ebd.: 109. Vgl. Kap. II, 2; Raphael 1996: 115: »Sie wurden dazu gedrängt von den Fürsten und von den Bischöfen, denen das Kirchenrecht es verbot, Zinsen einzunehmen und die nur allzu glücklich waren, sich der Juden als Geldeintreiber zu bedienen. Und wenn sich die die öffentlichen oder privaten Schulden angehäuft hatten, konnte man die Juden des Ritualmordes oder der Brunnenvergiftung anklagen, ihre Ghettos verschließen und den Juden morden. Der Kaiser, Beschützer der Juden, erteilte den Verfolgern sein Pardon – für eine angemessene Geldsumme, die sie zum Ausgleich für die Verarmung seiner Güter zu bezahlen hatten.« 695 N.N. 1894c: 37. 696 Zitiert in: Schrattenholz 1891: 24f. Vgl. dazu Erb 1987; Raphael 1996: 103: »Die Rolle des Wucherers stellt dabei eine Konstante dar, die das Abendland ihm seit dem Mittelalter und bis in die heutige Zeit aufgezwungen hat. Erst das von der Kirche im 12. Jh. erlassene Verbot, Geld gegen Zinsen zu verleihen, schuf die enge Verbindung zwischen dieser Form des Geldverleihs und den Juden, damit wurde der Begriff des Wuchers zu einem Begriff der Schande.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Entgegen diesem antisemitischen Vorwurf, dass Juden keinen Ackerbau betreiben können, beweist Remy, dass gerade diese Erwerbsbereiche nach der erfolgreichen Emanzipation von Juden gerne aufgegriffen wurden. »Ackerbau und Handwerk, das ihnen Jahrhunderte lang verboten war, wie schnell haben sie es ergriffen! In Berlin allein zählte man vor 6–7 Jahren 1.200 jüdische Handwerker.«697 Der Antisemitismus nötigte die modernen Juden des 19. Jahrhunderts dazu, sich für Industrie, Handwerk und Landwirtschaft ausbilden zu lassen. »Tatsächlich machten Juden in diese Richtung hin gewisse Anstrengungen und nutzten auch die Vorteile, die das Wachstum der deutschen Industrie bot.«698 Nicht nur die männlichen Juden hätten in der Zeit der Gleichberechtigung den Ackerbau und Handwerk betrieben, sondern auch ihre Frauen, die ihren Ehemännern stets tatkräftig beistanden.699 In Russland habe es annähernd 100,000 jüdische Ackerbauern gegeben, von denen »mehr als die Hälfte gezwungen [wurden], ihre Güter innerhalb weniger Monate, ja Wochen oder Tage zu verkaufen, d.h. zu verschleudern! Dann aber wird den Verarmten wieder zum Vorwurf gemacht werden, dass sie nicht Ackerbau treiben!«700 Die Juden seien aufgrund ihrer Verworfenheit sowie ihrer selbstverschuldeten Existenz in der Diaspora nicht dazu in der Lage, sich an das Land, in dem sie leben, zu assimilieren, sodass sie das einzige Volk blieben, das stets eine bleibende Fremdheit sowie Heimatlosigkeit empfand.701 Entgegen solcher Hasspropaganda zeigt Remy, dass bereits im Alten Testament gefordert wurde, dass die Juden, wohin sie 697 Lazarus 1896: 108f.: »Da ihre Vorältern wegen Unterdrückungen schon seit Jahrtausenden ausgewandert waren, fanden die Enkel überall bereits kleinere oder grössere Niederlassungen vor. Schon unter der Römerherrschaft waren Juden in Cöln ansässig. Sie waren Handwerker, besonders aber Landwirthe* [Herv. i.O.]), Weinbauer durch ererbte Gewohnheit und Uebuog, nur der kleinere Theil widmete sich dem Handel. Ihre Geschicklichkeit, ihr Fleiss und ihr friedliebendes Wesen schien allmählich die Abneigung der Anderen zu überwinden und vielleicht wäre ihnen endlich ein menschenwürdiges Dasein gegönnt worden, wären jetzt nicht die Christen in blindem oft auch erheucheltem Bekehrungseifer gegen sie aufgetreten.« 698 Kaplan 1997: 220. 699 Lazarus 1896: 308: In allen Bereichen standen die Jüdinnen ihren Ehemännern helfend und aufopfernd zur Seite. »Unter den 9500 jüdischen Familien, die es in Jaffy (Rumänien) gibt, leben über 6000 vom Handwerk, das die Frau mit den Töchtern meist so gut versteht und ausübt wie Mann und Vater. In Amsterdam und in Rotterdam, wo die meisten, ja fast alle Packträger und Schiffslader Juden sind, haben die Frauen derselben ein hartes Arbeitsleben, aber unverdrossen theilen sie die Mühsal mit den Abends müde und beschmutzt (aber nie betrunken!) heimkehrenden Männern«. 700 Ebd.: 308; 320f.: Am zahlreichsten seien die Juden in Russland und Polen (5–6 Millionen) und »die Ärmsten führen dort ihr trauriges Dasein unter größerem oder geringerem Druck, welche ihnen kaum eine Mitwirkung (zumal der Frauen) an der Öffentlichkeit gestattet.« Es gab in Russland im 19. Jh. Spezial- und Ausnahmegesetze, die die Juden verfolgten »und in blutiger langsamer Tortur« hinrichteten. »Es bleiben also nur die Länder des europäischen Westens, in denen, Alles zusammen gerechnet, kaum eine Million jüdischer Seelen sich befinden« Aber darunter eine Anzahl an Talenten! »Von stillgeübten Tugenden von offenkundiger Arbeitskraft und imposanter Leistungsfähigkeit! Kein anderer Stamm zeigt Gleiches und doch ist der jüdische Stamm an Zahl der Kleinste.« Vgl. Dtn 7,7f.: »Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern-, sondern weil er euch geliebt hat.« 701 Gräfe 2007, 125f.: »Nach der Zerstörung des Tempels und ihrer Zerstreuung unter alle Völker seien die Juden, bedingt durch Gottes Urteil und ihre eigene Verstocktheit, dauerhaft unfähig, emotionale Bindungen gegenüber ›Gastland‹ und ›Wirtsvolk‹ zu entwickeln, weshalb ihre Assimilation niemals gelingen könne.«

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auch vertrieben wurden, das Wohl der Stadt zu fördern hatten: »Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN [Herv. i.O.]; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl« (Jer 29,7). Damit wurde die jüdische Anpassung an das neue Lebensumfeld gefordert, was die späteren jüdischen Lehrer aufnahmen und als Pflicht für jeden Juden auferlegten, dass »an jedem Ort der Niederlassung die Landesgesetze so zu halten seien, als ob es ihre eigenen wären«.702 Remy verweist darauf, dass im antisemitischen Diskurs alttestamentliche Stellen genutzt wurden, um judenfeindliche Vorurteile zu stützen und zu verbreiten. Dabei zielten die antisemitischen Propagandisten der genannten Beispielperikopen nicht auf ein exaktes Verstehen der Bibelstellen, sondern nutzten die prekären Schilderungen, um die vermeintliche sittliche Schwäche den Jüdinnen und dem Judentum anzuhaften. »Ja, aber das germanische Weib wird mir entgegnet, – ich kenne die Lobeshymnen über das germanische Weib! – Wir haben über dasselbe die berühmte Bemerkung des Tacitus. – Tac. [Herv. i.O.] beabsichtigte offenbar seinen sittenlosen Landsmänninen ein Vorbild vorzuführen, und deshalb betont er so ganz besonders die Hoheit u. Würde der germanischen Frau [Herv. i.O.].«703 Aus derselben Quelle könne man Remy zufolge ersehen, dass alle schwere Arbeit im Haus und auf dem Feld, vor allem das »Lastenschleppen und die Urwaldausrottung«, auf den »Schultern des germanischen Weibes«704 lastete, während ihr Mann sich um die Pferde und seine Waffen kümmerte. »Wo bleibt da die Würde, wenn das Weib die niedrigsten Knechtesdienste leisten musste, während der Mann auf der Bärenhaut lag? [Herv. i.O.].«705 Im Talmud jedoch habe sie allerdings nirgends finden können, dass die Jüdin »verspielt oder vertrunken wurde!706 Auch nicht vergöttert, wie zur Minnezeit, der Vielbesungenen! Kein Rabbi dürfte aus Verehrung das Waschwasser seiner Angebeteten (Doch nein, der Ausdruck wäre bei den Juden eine Blasphemie) also seiner Dame getrunken haben, – und keiner Jüdin wäre ein Rumeskranz geflochten worden, wie jener Isabella, die eines Gelübdes wegen 10 oder 12 Jahre lang ihr intimstes Kleidungsstück

702 Vgl. Lazarus 1896: 108. 703 Remy 1893d: 15f.: »Auch wissen wir, dass der germ. Mann dem Trunk und dem Spiel ergeben war. Im doppelten Rausch d. Trunkes u. d. Würfels verspielte er häufig sein ganzes Hab und Gut, auch Kind u. Knecht, ja – er verspielte sein Weib!!- Ich kann in Alledem Nichts finden, was von besonderer Hoheit u. Würde des Weibes zeugte, kann d. Stellung d. germ. Frau unmöglich so hoch taxieren, wie es allerdings in Schulbüchern u. Damenzeitungen, in Lexica u. Lyrik ausnahmslos geschieht. [Herv. i.O.]« 704 Ebd. 705 Ebd. 706 Lazarus-Remy 1927b: 157: »Du ahnst nicht, [Nahida] welche Schätze an Arbeitskraft Gesundheit, Sittlichkeit und Idealismus unwiederbringlich durch die Trunksucht im Allgemeinen verloren gehen, und Volksvermögen. Unlängst las ich eine Statistik, dass die Deutschen am Alkohol in erschreckender Überzahl beteiligt sind. In Oesterreich haben sie allein in einem Jahr mehr als 1200 Millionen Gulden für Bier, Wein und Schnaps ausgegeben, vielmehr also als die anderen oesterreichischen Staaten zusammen. […] Die Alkoholfrage gehört zur Völkerpsychologie -sie ist eine der schmerzlichsten und demütigsten für mich als Deutscher. […] doch die Juden sind nur in wenigsten Procenten beteiligt.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

nicht wechselte … solchen Unsinn habe ich im Talmud nicht gefunden, wohl aber die wichtigsten Bestimmungen zur Schonung und Sicherung des weiblichen Geschlechts, die durch 1000j[ahre] Lehrzeit entwickelt, zum Teil heute noch Gesetzeskraft haben. Diese Fürsorge enthält eine grössere Huldigung als jede Vergötterung! [Herv.i.O.]«707 Anhand Remys Verteidigungsstrategie des Vergleichs zwischen jüdischen und nichtjüdischen Frauen konnte sie herausstellen, dass die jüdische Frau eine viel höhere soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft und der Familie innehatte, als die Vergleichsfrauen.708 Der Kulturfortschritt, der von den wilden Völkern über das Griechen- und Römertum bis hin zum Christentum (= Deutschtum) bezüglich der Frauenrolle stets hervorgehoben wurde, wird von ihr in ihrem Werk relativiert. Das weibliche Geschlecht habe auch in den angeblichen Leitkulturen (Griechen, Römer und Christen) keine Gleichberechtigung mit dem männlichen Geschlecht erhalten, sondern wurde als Eigentum des Mannes angesehen, das mit Mangel an Intelligenz und als Sünderin schlechthin stigmatisiert wurde. Damit relativiert Remy das Fortschrittsmodell des 18./19. Jahrhundert, das vor allem herangezogen wurde, um die niedrigere Stellung der Juden und des Judentums zu beweisen. Sie zitiert diesbezüglich den Völkerpsychologen Moritz Lazarus, der die Methodik des Vergleichs als Argumentation seiner völkerpsychologischen Aussagen nutzte, um so ihre Position zu festigen. »Inmitten der Zuchtlosigkeit des west- und oströmischen Reiches u. der Völkerwanderungen hat Israel sich erhalten, während andere Völker zu Grunde gingen, nicht durch den Krieg, sondern durch die daraus gefolgte Zuchtlosigkeit des Privatlebens. Nicht der Krieg hat jene Völkerschafften aufgezehrt, von denen trotz einstiger weltherrschender Grösse nur noch die Namen übrig sind – - dies beweisen, – was nicht oft genug wiederholt werden kann, – die Juden! Denn härter u. grausamer als irgend ein Volk sind sie vom Kriege betroffen worden. Aber der innerste der keimkräftigste Kern der Sittlichkeit, die Strenge der Zucht, die aufopfernde Wohltätigkeit und Nächstenliebe sowie die Innigkeit d. Familienlebens blieb allezeit lebendig.- Und diesen Kern der Sittlichkeit zu hegen und zu pflegen, lag in der Hand der Frauen. [Herv. i.O.]«709

3.2.2 Jüdische Kulturarbeit »Die moderne Wissenschaft, die unermüdlich die entlegensten Denkmäler aller Culturvölker ans Licht zieht, hat verhältnissmässig wenig von den Schätzen gehoben, die in jüdischen Werken niedergelegt sind und die doch als insgeheim fortwirkende Kräfte ihren Einfluss bei Entstehung und Entwicklung der Civilisation geübt haben.«710 Remy möchte der damals gängigen Sichtweise, dass die Juden keine Kulturarbeit geleistet hätten, entgegentreten und anhand ihres Werkes Das jüdische Weib ihre nichtjüdischen und jüdischen Lesern aufklären, dass es in der Tat eine jüdische Kulturarbeit

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Remy 1893d: 16f. Vgl. Lazarus 1896: 1. Siehe auch Kap. II, 2. Remy 1893d: 25f. Lazarus 1896: 34.

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gegeben hat und noch gebe, die auch oder gerade von jüdischen Frauen gefördert und geleistet wird.711 So könne es nach Remy »dem [zeitgenössischen] Culturforscher auffallen, dass Vieles, das zu Gunsten der Frauen und des Familienlebens gewirkt, alten jüdischen Gedanken und Gebräuchen entstammt.«712 Denn sei es den Juden möglich gewesen, ein ungestörtes Leben zu führen, nutzten sie die Möglichkeit, sich weiter zu entwickeln und ihre Kompetenzen für weitere verschiedene Berufsarten zu widmen, wie beispielsweise als Bauern, Gewerbetreiber, Seidenzüchter, Färber, Weber, worin ihre Frauen eifrig »mit Umsicht und Geduld«713 mithalfen. Außer in vielen weiteren Handwerken erwiesen sie sich als angesehene Träger und Förderer der Industrie und der Wissenschaft. »Sie waren die Einzigen, bei welchen die freie Entwicklung der Gedankenarbeit in Philosophie (und besonders Religionsphilosophie) Raum findet, welche die Ethik in einer Weise ausbauten, wie kein anderes Volk.«714 Zu Recht betont Remy, dass die Juden die ersten Kenntnisse in der Astronomie erworben hatten, worin sie die berühmten Schulen zu Montpellier und Salerno gründeten, und am Fortschritt in der Botanik, Medizin, Kosmographie und Grammatik beteiligt waren, »vorausgesetzt, dass es ihnen erlaubt wurde«715 . Die jüdischen Frauen, so zeigt sie auf, wandten sich hingegen »den geselligen Künsten«716 zu, in denen sie ihre Talente in Gesang und Musik pflegten. Es entstanden jüdische Gesangsschulen, die einen so guten Ruf erhielten, »dass sogar Christen ihr Vorurteil um des Nutzens und des Genusses wegen überwandten und diese besuchten.«717 Vor allem gelang es den männlichen Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts aktiv an der Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft teilzuhaben.718 Allerdings gelingt es Remy auch, jüdische Frauen aus Vergangenheit und Gegenwart aufzulisten, die neben ihrer bewundernswerten Persönlichkeit wesentlich an der Kulturarbeit der Weltgeschichte An711

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Schrattenholz 1891: 18f.: Der Schriftsteller Gustav Stille (1845–1920) wirft in seinem Werk Der Kampf gegen das Judenthum (Germanicus Verlag, Leipzig 1891) den Juden vor, dass sie stets bemüht seien, »die Sitten und gesellschaftlichen Zustände zu corrumpiren, und leider nur zu oft mit bestem Erfolge. Zu diesem Zweck bedient er sich vor Allem der Presse, dann der Litteratur im weiteren Umfange und der Kunst. […] Hervorragende, bahnbrechende Leistungen in Kunst und Wissenschaft, wirkliche Neuschöpfungen, bedeutende Entdeckungen und Erfindungen haben die Juden seiner Meinung nach nicht aufzuweisen. Den jüdischen Frauen in der Literatur stellt er als ›arische Dichterinnen-Götzen‹ die Bettina, Johanna Schopenhauer und – Ottilie Wildermuth entgegen.« Vgl. auch ebd.: 13: »Ein Jude kultiviert eine Wissenschaft nicht ihrer selbst willen, sondern um mit Kenntnissen zu schachern. Deshalb knüpft sich keine epochemachende wissenschaftliche Entdeckung, keine durchgreifende, nützliche Erfindung an den Namen eines Juden.- Er hat auch in der Kunst nicht Ideale, sondern Zwecke.« Lazarus 1896: 34. Ebd.: 257: »Es ist ein merkwürdiges Schauspiel zu beobachten, wie der von allen Künsten und Kunstgewerben ausgeschlossene jüdische Geist, der anderthalb Jahrtausend hindurch in der Zwangsjacke verfolgungssüchtiger Tyrannei geschmachtet hatte, wie er kaum seiner Fesseln entledigt, Talente und Fähigkeiten zeigte, als hätte er diese tausend und fünfhundert Jahre hindurch Alles getan, zur Übung dieser Talente, statt sie völlig verkümmern lassen zu müssen.« Lazarus 1896: 153. Ebd. Ebd.: 153f. Ebd. Später sei es Nicht-Juden unter Strafandrohungen (strenge Geld- und Gefängnisstrafen) verboten gewesen, jüdische Gesangschulen zu besuchen. Vgl. Frevert 1994, hier S. 80.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

teil gehabt hätten. Sie berichtet von edlen Denkerinnen, die ebenfalls wie manche Männer forschten, lehrten und Berufe oder Künste ausübten, während sie nach allen Kräften die Wohltätigkeit förderten.719 Mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert entstand die Möglichkeit einer massenhaften Verbreitung von Wissen, Nachrichten und Meinungen, ohne die Kontrolle durch die Kirche und Obrigkeit. So nennt Remy beispielsweise den deutschen Philosophen und Humanisten Johannes Reuchlin (1455–1522), der der erste bedeutende deutsche Hebraist gewesen sei, den sie als unparteiischen Menschenfreund beschreibt und der als Nicht-Jude die hebräische Sprache und Schrift erlernte.720 Er setzte sich dafür ein, aufzuklären, dass der Talmud keine gegen das Christentum gerichteten Stellen enthalte, woraufhin ein Häresieprozess (1511) gegen ihn nachfolgte.721 Vermehrt nahmen im 15. Jahrhundert auch gebildete Juden den Buchdruck wahr, um vornehmlich die »unheilvollen Vorurteile gegen ihren Stamm und ihre Religion zu beseitigen.«722 In diesem Zeitalter entstand auch das jüdische Gebetsbuch Seder und der Schulchan Aruch (Rechtskodex), eine religiöse Zusammenfassung der Halacha von Josef Karo (1488–1575) verfasst.723 Auch Jüdinnen zeigten ein besonderes Interesse an der Schriftkunde und Schriftstellerei und wurden sogar selbst, wenn es Mittel und Lebensstellung zuließ, Buchdruckerinnen.724 Sie gründeten Buchdruckereien und führten diese eigenständig, wobei sie als freie Schriftstellerinnen zumeist unter Pseudonym oder anonym auch eigene Dichtungen und Abhandlungen, die vorwiegend religiöse oder lehrhafte Inhalte besaßen, veröffentlichten.725 Dabei verfolgten die Jüdinnen das Ziel, anerkannte und instrukti-

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Zitiert nach A. Jellinek Der jüdische Stamm (1869), in: Lazarus 1896: 147: »Die geistige Sphäre des Weibes ist vom jüdischen Stamm nie engherzig und mit männlichem Hochmuth umschrieben worden. Das jüdische Weib wird Richterin und leitet die öffentlichen Angelegenheiten; in ausserordentlichen Nöthen tritt sie als Prophetin auf mit lauter Rede, ›öffnet den Mund mit Weisheit, hat milde Lehre auf der Zunge‹ (Spr. 31,26), ist weder orientalisch ausgeschlossen von der thätigen Theilnahme an der Sache seines Volkes, noch ›trägt es Männertracht‹, und ein ›female Speaker‹ wie Miss Anna Dikinson in New-York hätte bei den alten Hebräern weniger Aufsehen erregt, als bei den praktischen Amerikanern. Auch die Geschichte der jüdischen Literatur und der jüdischen Aerzte widmet den Frauen mehrere Blätter.« Vgl. ebd. Willi 2011. Vgl. dazu Lazarus 1896: 147f.: »Es war im jüdischen weiblichen Charakter tief begründet, dass die beiden Berufsarten, welche den Anbruch einer neuen Civilisation vorbereiteten: Der Buchdruck und die ausgebildete Heil- und Arzneikunde der Frauen ganze Theilnahme und Thatkraft anregten; verhalf doch der neuerfundene Buchdruck den beinah der Vernichtung preis- gegebenen Schätzen ihrer heiligen und ehrwürdigen Schriften zu neuem Leben und wurde er doch im Dienst eines Reuchlin und anderer unparteiischer Menschenfreunde zu einem mächtigen Hebel die unheilvollen Vorurtheile gegen ihren Volksstamm und ihre Religion zu beseitigen.« Zum Reuchlinkonflikt vgl. Boer 2016. Lazarus 1896: 147f. Vgl. ebd.: 149. Beispielsweise veröffentlichte die jüdische Schriftstellerin Rebekka Tiktiner (16./17. Jh.) ihr Werk Über die Pflichten der Frauen (1609). Vgl. ebd.: 151. Edition von Tiktiners Werk: Rohden 2009. Vgl. Lazarus 1896: 148; 270: Die jüdischen Buchdruckerinnen druckten auch Lebensbeschreibungen »verdienstvoller Männer, moralische Erzählungen, Legenden, Märchen für Kinder und Unterhaltungswerke für Jugendliche.« Remy zählt unter anderem folgende Buchdruckerinnen auf: Estellina Konat (1476), Gütel Kohen, Czerna Meisels, Sarah Jafu und Reichel Jüdels.

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ve Schriftwerke für die Ausbildung ihrer Kinder, für die Anregung ihrer Geschlechtsgenossen sowie zur Bekämpfung »unheilvoller Vorurteile«726 zu vervielfältigen. Die »Erweckung des religiösen Gefühls und bürgerlicher Tugenden bei Mann und Weib und Kind stand ihnen mit anderen weltlichen Interessen in erster Reihe.«727 Die Vervielfältigung und Verbreitung jüdischer Werke seien zu einem gemeinsamen Band der zerstreuten Gemeinschaft geworden. »Jeder Jude hatte [nun] die Pflicht nicht blos das Gesetz zu üben und zu vermehren, sondern selbst zu lesen und aus den Quellen zu schöpfen.«728 Um allerdings die religiösen Werke auch für Nicht-Gelehrte verständlich und zugänglich zu machen, kam Ende des 15. Jahrhunderts die deutsche Sprache in das jüdische Schrifttum. Zunächst als ein Gemisch von jüdischen Buchstaben und deutscher Sprache, das als Jiddisch bekannt wurde.729 Es erschienen bis ins 20. Jahrhundert jiddische Übersetzungen der hebräischen Bibel sowie Gebets- und Erbauungsbücher, aber auch Erzählungen, Legendensammlungen und Volksbücher.730 »Man bedenke, dass dies unter dem Druck fortdauernden Hasses und fortwährender Verfolgung vonseiten der anderen Völker geschah!«731 Neben der Tätigkeit als Buchdruckerin haben sich die Jüdinnen vor allem im Bereich der Heilkunde hervorgetan. »Dem Vorurtheil zum Trotz, [widmeten sich die Jüdinnen] im Dienst der Menschenliebe und getrieben durch die Eigenschaft, die ganz besonders das weibliche Geschlecht zu zieren berufen ist: die Keuschheit – sich dem Studium der Heilkunde und der Geburtshilfe.«732 Das Frauenstudium war ein über ein Jahrhundert lang stark diskutiertes Thema gewesen. Auch Ende des 19. Jahrhunderts flammte die Debatte bezüglich der Immatrikulation von Frauen an Hochschulen auf, wobei sich der von Remy genannte deutsche Historiker Heinrich von Sybel (1817–1895) vehement gegen das Frauenstudium aussprach.733 Sybel vertrat die damals gängige Sichtweise, dass Frauen aufgrund körperlicher sowie geistiger Fähigkeiten nicht in der Lage seien ein Studium erfolgreich zu absolvieren.734 Trotz der Behauptung von der geistigen Minderwertigkeit der Frau, mit der das Eindringen der Frau in die Hochschulen und gelehrten Berufen männlicherseits bekämpft wurde, erhielten 1840, bedingt durch den erfolgreichen Einsatz der Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts, in Zürich Frauen die Erlaubnis, als

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Vgl. Lazarus 1896: 147f. Ebd.: 270. Zitiert nach I.M. Jost Geschichte des Volkes Israel (1864), in: ebd.: 149. Vgl. ebd.: 150. Siehe auch Aptroot und Gruschka 2010. Und folgendes Kap. II, 3.2.3. Ebd.: »Einer der ältesten Versuche ein auch für Frauen lesbares Volks- und Unterhaltungsbuch zu schaffen, ging von einer Frau Litte aus Regensburg aus.« Vgl. auch Roemer 2002: 17. 731 Lazarus 1896: 150. Jüdische Publikationen wurden von Nicht-Juden als polemische Aktivität gegen das Christentum angesehen. So wurde ihnen beispielsweise vorgeworfen, dass die zahlreichen jüdischen Veröffentlichungen ein Beweis dafür seien, dass es den Juden damit ernst sei, mit der Verbreitung ihrer religiösen Schriften die Weltherrschaft an sich zu reißen. Vgl. dazu Piper 1996. 732 Lazarus 1896: 154. 733 Ebd.: 158: »Heutzutage ist ja das Vorurteil gegen Ausübung der Heilkunde (selbst Herr von Sybel ist der Meinung, die Frau könne eher Medizin studieren, als irgend eine andere Wissenschaft) vonseiten der Frauen im Verschwinden, wenn auch ihrem Studium an den Universitäten noch vielfach Hindernissen gegenüberstehen.« 734 Vgl. Kuhn 1996: 22.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

erste Hörerinnen die Hochschule zu besuchen. Auch in Amerika erkämpften viele Frauen, »was in der lieben, philisterhaften, von Pedanterie angekränkelten ›alten‹ Welt mit Ausnahme der Schweiz etwa, noch nicht möglich war.«735 Während in London 1849 das erste Frauencollege eröffnete, wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts (1891) die Frauen auch im deutschen Kaiserreich zu den medizinischen sowie pädagogischen Studien zugelassen, wobei es in der Entscheidungsfreiheit der Hochschulen, z.T. bei den Professoren selbst, lag, ob sie Frauen als Hörerinnen zulassen wollten oder nicht.736 In den Jahren von 1894–1909, in denen in Deutschland Frauen an den universitären Vorträgen teilhaben durften, hatten jüdische Frauen neben dem Antisemitismus, der an den Universitäten stark ausgeprägt war, vor allem auch mit Sexismus zu kämpfen.737 »Die jüdischen Frauen hatten dank ihrer Klassenherkunft die Voraussetzung für eine bessere Berufsausbildung und eine gehobenere berufliche Stellung als andere Frauen. Doch die doppelte Bürde, Frau und zugleich Jüdin zu sein, lastete auf ihnen. Ihre Diskriminierung als Jüdinnen beeinflußte ihre Berufswahl, und die strikten Rollenvorstellungen hielten sie, verglichen mit den Männern, in niedrigeren Stellungen.«738 Den jüdischen Künstlerinnen, die ebenfalls durch die Zeiten hindurch wesentlich an der Kulturarbeit beteiligt waren, widmet Remy eigens ein ganzes Kapitel, wobei sie zwischen der Theater- und Musikkunst sowie der bildenden Kunst unterscheidet. Mit ihren musikalischen Talenten haben »die jüdischen Künstler und Künstlerinnen ihre ersten und nachhaltigsten Erfolge errungen.«739 Unter den vielen beschriebenen Beispielen jüdischer Musikerinnen nennt sie unter anderem die erfolgreiche jüdische Violinenspielerin Karoline Stern (1800–1885), die von ihrem Vater, ebenfalls einem Violinenspieler, ausgebildet wurde. Bereits als sechzehnjähriges Mädchen trat sie im Nationaltheater in Trier im Stück Unterbrochenes Opferfest als Myrrha auf.740 Dabei ist es für Remy vor allem wichtig, die Frauen zu würdigen, die als Jüdinnen erfolgreich waren, eben trotz ihrer Religionstreue. Es seien Jüdinnen gewesen, die glaubenstreu und gleichzeitig sympathische Zeitgenossinnen waren. Sie genossen zwar auch ihren Erfolg und Ruhm, allerdings stets, ohne ihre Selbstwürde und sittsame Weiblichkeit zu verlieren.741 Als nennenswertes Beispiel führt Remy die beachtenswerte jüdische Pianistin Clotilde Kleeberg (1866–1909) auf, die »zu den sympathischen Erscheinungen [gehören], welche zeigen, dass öffentliche Kunstthätigkeit sehr wohl mit bescheidener Weiblichkeit vereinigt werden kann. Meist von ihrem frommen Vater auf ihren Kunstreisen begleitet, vergisst sie auch nicht, eine gute Jüdin zu sein.«742 Von den zahlreichen dramatischen Künstlerinnen, den Schauspielerinnen am Theater, hebt Remy vor allem Rachel Felix (1821–1858) hervor. Beeinträchtigt durch eine Brust735 Lazarus 1896: 158. 736 Zu den anderen Studiengängen wurden die Frauen dann erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jh.s an deutschen Universitäten offiziell zugelassen. Vgl. Kaplan 1997: 190; Schlüter 1992. 737 Kaplan 1997: 207. 738 Ebd.: 226. 739 Lazarus 1896: 258. 740 Ebd. 741 Vgl. ebd.: 261. 742 Lazarus 1896: 261.

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krebserkrankung konnte sie nicht mehr die gleichen Leistungen erbringen wie ihre gesunden Kolleginnen, die nun »Erfolge errangen und [damit] die kranke Seele Rahels verwundeten. Trotz Rhum und Reichtum fühlte sie sich tief unglücklich. […] sie hätte wenigstens gesellschaftlich ihre Lage verbessern, und in einem Ehebund das so oft überwältigende Gefühl der Verlassenheit auf die natürlichste und glücklichste Weise von sich scheuchen können; aber zu einer Verbindung, wie sie allein sie hätte schließen mögen, wäre ein Austritt aus der jüdischen Religion unumgänglich gewesen! Sie blieb aber dem Bekenntnis ihrer Eltern treu.«743 Dagegen kenne Remy »noch andere schöne und talentvolle Vertreterinnen der [zeitgenössischen] Schauspielkunst«744 , die, so vermutet sie, wahrscheinlich aus geschäftlichen oder privaten Gründen ihre jüdische Herkunft verleugneten und zum Teil ihre jüdischen Namen veränderten. Im Bereich der bildenden Künste, wie Malerei und Bildhauerei, haben sich Remy zufolge die jüdischen Frauen, aufgrund geringer Talente, weniger beteiligt. »Für die bildenden Künste ist eine Objektivität des leiblichen und geistigen Auges notwendig, die dem subjektiven jüdischen Charakter weniger angeboren war und noch nicht anerzogen ist.«745 Allerdings blendet sie die innerjüdische bildende Kunst aus, wie beispielsweise die jüdische Buch-, Grab- sowie Synagogenkunst der Spätantike.746 Daneben haben die Juden ihre Talente erfolgreich im Lehrerberuf eingesetzt, was für einige Künster sogar wichtiger gewesen sei als der »laute Beifall des Publikums. […] Denn durch Fleiß und Erfahrung vorzüglich zum Lehren geeignet, zeigen sie Ausdauer, Energie und Klugheit im Benehmen mit den Schülern.«747 So setzte sich beispielsweise Lady Katie Magnus, geb. Emanuel aus London (1844–1924), die Remy als energische kleine Frau und fruchtbare Schriftstellerin beschreibt, besonders in ihrer Hingabe und Fürsorge für den Unterricht der Kinder ärmerer Klassen ein, wie beispielsweise den der eingewanderten Juden aus Russland.748 Die von ihr gelisteten positiven Frauenbeispiele zeichneten sich neben ihrer uneingeschränkten Religionstreue und ihrem Verdienst als Buchdruckerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen vor allem in folgenden Charaktereigenschaften aus: unerschütterliche Willenskraft, ungewöhnliches Talent, Sanftmütigkeit, Ausdauer, Entschlossenheit und aufopfernder Ehrgeiz. Zwar sei der Erfolg auch diesen Frauen wichtig gewesen, aber die würdevolle Mutterschaft sei wertvoller, sodass viele jüdische

743 Ebd.: 262f. 744 Ebd.: 266f.: »Sicher ist, dass eine Anzahl der talentvollsten dramatischen Darstellerinnen sowohl, wie berühmte Sängerinnen und Tonkünstlerinnen von jüdischen Eltern stammen, doch in missverstandener Auffassung dessen, was ›Ehre‹ sei, und fordere, unter veränderten oder willkürlich angenommenen fremden Namen, besonders beflissen sind in christlichen und junkerlichen Häusern intime Beziehungen zu unterhalten, sich mit ihnen zu vermählen und zu verschwägern. Sie würden es kaum wünschen, hier genannt zu werden.« 745 Ebd.: 268. 746 Vgl. Schubert und Schubert Kurt 1983; Künzl 1992. 747 Lazarus 1896: 267. 748 Vgl. ebd.: 279; Magnus 1881.

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Künstlerinnen sich gegen ihre Karriere entschieden.749 Viele der von ihr gelisteten Jüdinnen lebten in der Zeit vor der jüdischen Emanzipation; jedoch gelingt es Remy, zahlreiche jüdische Schriftstellerinnen (s.Kap. II, 2.3.3), Wohltäterinnen (s.Kap. II, 2.3.2) sowie Künstlerinnen zu benennen, die sich zur Zeit der jüdischen Emanzipation, wo das Bestreben nach der bürgerlichen Verbesserung der Juden und Frauen und ihre Integration in die moderne bürgerliche Gesellschaft sowohl von antisemitischer als auch antifeministischer Seite erschwert wurde, trotz alledem auszeichneten.750 Traditionelle Vorurteile hätten zwar das weibliche Geschlecht bis zur Gegenwart immer wieder »auf eine geistig unfruchtbare Passivität innerhalb d. Hauses beschränkt«751 , aber seitdem der »Verkehr u. Wissenschaft d. gesamte Völkerleben erhöhte u. befreite, wurde auch d. Gesichtskreis d. Weibes grösser u. weiter. Es trat aus der Enge heraus, nicht um d. Gefallsucht zu fröhnen, sondern um seine Thatkraft z. bewähren u. sich in d. Dienst d. Humanität zu stellen. Verlangte man früher, dass d. Weib um Nichts sich kümmere als um Kind u. Kochtopf, – so fordert heute der Mann u. die Gemeinde, dass d. Weib auch gemeinnützlich mitarbeite u. mithelfe, dass es ausser seiner häuslichen Pflicht noch Interesse u. Leistung für die Mitmenschen übrig habe [Herv. i.O.]: Es ist dies eine Ehrenpflicht u. Errungenschaft der Neuzeit. Nicht für die Juden. – Für die Juden ist eine allseitige u. vielfache Werkthätigkeit der Frauen eine alte Erbschaft, eine geheiligte Tradition.«752 Die Frauen nutzten nun vermehrt ihren Wohltätigkeitssinn, um mithilfe der im 19. Jahrhundert zunehmend entstehenden Frauenvereine weibliche Organisationen zu bilden, um ihre öffentlich-sozialen Aktivitäten auszuweiten, in denen sie ihren eigenen religiöswohltätigen Standpunkt ausleben und ihm Ausdruck verleihen konnten.753 »Obwohl dadurch die eindeutige Aufteilung in eine öffentliche und eine private Sphäre, die der bürgerlichen Geschlechtertrennung zugrunde lag, in Frage gestellt wurde,

749 Lazarus 1896: 258: Beispiel die Schauspielerin Karoline Stern (1800–1885), die »doch trotz ihrer Erfolge, […] noch jung mit 41 Jahren ihre Künstlerlaufbahn [verließ], um dem ihr höheren Beruf als Mutter ihrer Kinder zu leben.« 750 Frevert 1994: 76: »Hatten in den Salons des ausgehenden 18. Jh.s Frauen und Juden, häufig in Personalunion, eine dominierende gesellschaftliche Rolle spielen können, blieben sie von den bürgerlichen Assoziationsprozessen des Vormärz ausgeschlossen. Auch in nachfolgenden Generationen begegnete man immer wieder einer spezifischen Kombination von Antisemitismus und Antifeminismus.« Beispielsweise verweigerte die 1811 gegründete Christlich-Deutsche Tischgesellschaft nicht nur den Frauen, sondern auch den Juden die Mitgliedschaft. So wurde es den Jüdinnen zwar erlaubt, beispielsweise für die christliche Rot-Kreuz-Gruppe (seit 1859) zu arbeiten, aber sie wurden aus jeglichen gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen. Vgl. dazu Kaplan 1997: 179. 751 Remy 1893d: 1. 752 Ebd.: »Beweis [dafür sei]: der Talmud [Herv. i.O.].« 753 Kaplan 1997: 254: »Der soziale und fürsorgerische Aktivismus der Frauen, die bis 1908 von jeder politischen betätigung ausgeschlossen waren, kann in der Tat als eine Art Frauenpolitik interpretiert werden, als eine Möglichkeit für Frauen, sich parallel zu den politischen und wirtschaftlichen Bereichen, die von Männern dominiert wurden, eigene Machtstrukturen zu schaffen.«

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konnte dieses soziale Engagement innerhalb des bürgerlichen Modells leicht gerechtfertigt werden, da es die häusliche Verantwortung der Frau einfach von ihren eigenen Familien auf die Bedürftigen innerhalb der größeren Gesellschaft ausdehnte.«754 Die in der Familie praktizierten ethischen Werte und religiösen Traditionen konnten nun auch außerhalb der familiären Sphäre von den (jüdischen) Frauen weitergegeben werden, was viele Jüdinnen als die Erfüllung ihrer religiösen Pflicht ansahen.755 Durch die Forderungen der Frauenrechtlerinnen nach gleichberechtigter Bildung und Arbeit wurden nun vorzugsweise in den Gebieten der öffentlichen Fürsorge und Erziehung Arbeitsplätze für Frauen geschaffen, »die hier neben ihren männlichen Kollegen, aber anders als diese auf eine humanere, personenbezogene und ›sittlichere‹ Lösung sozialer Probleme hinwirken konnten.«756 So entstanden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten weiblichen Berufe sowohl in der Wohlfahrtspflege als auch in den neuentstandenen akademischen Berufen als offiziell ausgebildete Lehrerinnen und Ärztinnen. Folglich nutzten die Frauen, als allmählich auch die Beschränkungen für Frauen an Hochschulen aufgehoben wurden, auch die erstrebte Möglichkeit eine höhere Bildung sowie angemessene Berufe zu erlangen.757 Remy empfiehlt ihren jüdischen Leserinnen gerade diese modernen Möglichkeiten zu nutzen, »um ihren engen und beengenden Kreis häuslicher und äußerlicher Fragen zu erweitern, und sich durch Studium eine freie und frohe Weltanschauung zu schaffen.«758 Sie setzt sich für eine bürgerliche Rollenzuweisung der jüdischen Frau ein, in der sie sich zwar vor allem in der häuslich-familiären Sphäre zu etablieren habe, aber gleichzeitig auch die bildungsbürgerlichen Möglichkeiten nutzen solle, um sich sozial, kulturell sowie apologetisch einzusetzen. Mit ihrem Werk Das jüdische Weib konnte Remy den Bürgern jüdischen Glaubens beweisen, dass es immer wieder Jüdinnen gab, die sich als

754 Hyman 2006: 32. 755 Vgl. Kaplan 1997: 262–285. 756 Frevert 1994: 92: »Auf einer langen Tradition weiblicher Erziehungs- und Sozialarbeit im kirchlichen und kommunalen Sektor fußend, entwickelten Frauen erfolgreiche Strategien, ihre Vorstellungen einer geistigen und sozialen Mütterlichkeit im Frauenbildungswesen und in der neu entstehenden Sozialführsorge konzeptionell und personell durchzusetzen. Indem sie sich dabei vor allem um Frauen, Jugendliche und Kinder kümmerten, begriffen sie ihr Engagement zugleich als Akt schwesterlicher Solidarität, der darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Lösung und zumindest zur Entschärfung sozialer Klassenkonflikte leisten sollte.« 757 Hyman 2006: 32: »Insbesondere vor 1920 machten jüdische Frauen einen außerordentlich hohen Anteil aller Universitätsstudentinnen in Mitteleuropa – also Deutschland, Österreich, und der Schweiz, aus, wobei sie eher zu Medizin und den Geisteswissenschaften neigten als zur Rechtswissenschaft, wo Juden und Frauen beträchtliche Hindernisse auf dem Weg zu beruflicher Position überwinden mussten.« 758 Lazarus 1896: 218: »Es könnte Manchem scheinen als sei die jüdische Frau vorzugsweise bestimmt zur Trägerin einer solchen Weltanschauung. […] Zieht sie dann den Vergleich zwischen einst und jetzt – zwischen Jahrtausend langer Sklaverei und endlich errungener Gleichberechtigung, (die würdiger und werthvoller zu gestalten zum grossen Theil in ihrer eigenen Hand liegt), sie kann dann nicht anders als frei und froh zu werden! – Doch freilich, kennen muss die jüdische Frau wieder die Geschichte ihres Volkes und seine heilige Sprache.«

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Religions- und Kulturträgerinnen bewährt haben.759 Sie greift in ihrem Werk diesbezüglich vielfältige Themen auf, wie Moral, Erziehung, Ehe und Bildung, mit dem Ziel, den jüdischen Frauen aufzuzeigen, dass sie mit der modernen bürgerlichen Bildung, die ihnen ebenfalls zusteht, selbst in der Lage seien zu entscheiden, in welcher Form sie eine Familie gründen und führen und ob sie auch außerhalb der familiären Sphäre ihre Fähigkeiten und Kenntnisse erweitern und der Kulturarbeit zur Verfügung stellen möchten. Remy hält es allerdings für erstrebenswert, beide Optionen zu verknüpfen, indem die jüdische Frau einen sittlich-religiösen Haushalt führe und gleichzeitig ihre (religiöse) Bildung und ihr Vermögen vor allem für die Wohltätigkeit und Aufklärung einsetze.760 Die Frauen, die nicht in der Lage seien, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse durch das (Selbst)Studium zu erweitern, sollten sich im intensiven sozialen Engagement und in der Unterstützung ihres Ehemannes beweisen, was ebenfalls bedeutungsvoll für den Kulturfortschritt sei.761 »Wer aber selbst unwissend, jedoch vermögend ist, der bemühe sich wenigstens Gelehrte zu unterstützen u. d. Bildung zu fördern, und auch der Unwissende schaffe sich Bücher an, um sie armen Studenten zu leihen, – es wird geradezu zum Lebensprincip gemacht, dass weder Noth, noch Armut, u. Mangel oder sonstige Schwierigkeiten d. Menschen in seinen Streben nach Wissen u. Erkenntniss hindern dürfen. [Herv. i.O.]«762

3.2.3 Exkurs: Die hebräische Sprache Die Bedeutung der hebräischen Sprache wurde im 19. Jahrhundert anhand zahlreicher Abhandlungen, die sich mit dem Nationalitätsgedanken eines Volkes befassten, bezüglich der jüdischen Emanzipationsdebatte kontrovers diskutiert.763 In der rassistischen Sprachwissenschaft fand eine Degradierung der jüdischen Sprache statt, indem nur die arischen Sprachen als komplex angesehen und die semitischen als primitiv abgewertet wurden. Die semitischen Sprachen seien im Vergleich dazu unklar, unschön und vor allem nicht komplex, und hätten keinerlei ästhetischen und erzieherischen 759 Ebd.: »Wenn sie diese Geschichte prüft, findet sie in ihr die erhabensten Thaten verzeichnet, ganz einzige Thaten, die sie mit Stolz erfüllen müssen eine Jüdin zu sein.« Siehe auch ebd.: 166: »Nicht nur als Gattinnen und Hausfrauen, als Religionsheldinnen und Wohlthäterinnen haben die jüdischen Frauen sich bewährt, sondern auch als Denkerinnen und Dichterinnen.« 760 Lazarus 1896: 165: »Soweit die Pflicht für ihre Familie voll und ganz erfüllt war und die Umstände ihr noch Zeit und Gelegenheit gönnten, widmete sie sich fremden Interessen und suchte Leidwesen in Wohlergehen umzuwandeln.« 761 Ebd.: 307: »Zwar […] zeigte sich, dass Arbeitskraft und Wille, eifriges Wirken und Streben im reichsten Maasse unter den jüdischen Frauen vorhanden ist. Und gewiss nicht blos unter den sog[nannten] ›Gebildeten!‹.« Siehe auch ebd.: 164: »Wer vermöchte ausserdem wol alle die Frauen namhaft zu machen, welche ohne in eigenen, für die Oeffentlichkeit bestimmten Thaten und Werken hervorzutreten, den folgenreichsten Einfluss in der Stille übten! Allein schon als mitdenkende und mitstrebende Frauen ihrer dem Dienst der Wissenschaft geweihten Männer haben auch sie für den Culturfortschritt das Ihre gethan.[…] hier sei nur schliesslich einer bescheidenen Gelehrtenfrau gedacht, die als ein Typus gelten kann, für jene stille anregende Mitwirkung des Weibes an dem Streben ihres Mannes: Frau Adelheid Zunz, die Gattin des hochberühmten Berliner Schriftgelehrten Leopold Zunz.« 762 Remy 1893f: 17f. 763 Vgl. Lazarus 1896: 219; Fuchs 1887.

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Wert.764 Remy zeigt in ihrem Werk unter Bezug auf den liberalen Rabbiner Adolf Jellinek (1820–1893), wie komplex, ästhetisch-schön und vor allem erzieherisch wertvoll die hebräische Sprache tatsächlich ist.765 »Das Studium der hebräischen Sprache ist […] ein treffliches pädagogisches Hülfsmittel, um das Denken anzuregen und zu wecken, den Verstand zu schärfen und zu kräftigen, den Geist frisch und wach zu erhalten.«766 Das diskriminierte Judentum wurde als eine Rasse mit nationaler Eigentümlichkeit und alten Sitten und Gebräuchen stigmatisiert, die durch das Festhalten an ihrer nationalen Sprache nicht in der Lage sei, ein Heimatgefühl für ihr Gastland zu entwickeln. So kam es spätestens Ende des 18. Jahrhunderts dazu, dass die Juden neben der sozialen auch der Sprachstigmatisierung ausgesetzt wurden, wodurch der Gebrauch sowohl von Hebräisch als auch von Jiddisch durch bestimmte gesetzliche Verordnungen eingeschränkt oder ganz verboten wurde.767 Für die assimilationsbestrebten Juden galt daher die fehler- und akzentfreie Anwendung der deutschen Sprache faktisch als Eintrittskarte in das bürgerlich-soziale Leben. Folglich wurde der Gebrauch einer nicht-jüdischen Sprache als ein aktiver kultureller Integrationsprozess angenommen, während die weitere Anwendung der jüdischen Sprachen als unvereinbar mit dem Ziel der jüdischen Gleichstellung galt. Während die hebräische Sprache im antisemitischen Sprach-Diskurs als eigenständige Sprache der Juden angesehen wurde, beherrschte tatsächlich der überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung lediglich eine rudimentäre Lesefähigkeit der hebräischen Sprache, weshalb seit dem 18. Jahrhundert das Jiddisch (die JüdischDeutsche-Sprache) immer mehr als Kommunikationsmittel bevorzugt wurde.768 Die hebräische Sprache, ob nun Jiddisch oder Hebräisch, wurde von antisemitischer Seite generell als ›mauscheln‹ abgewertet. Der Jude »mauschelt […] um sich in böser, betrügerischer Absicht melodisch-nuschelnd unverständlich zu machen. Es mauschelt der Ganove, Betrüger, Spitzbube, das unheimliche fahrende Volk, der Geheimbündler, Räuber und Spießgeselle, der Zigeuner, Ob-

764 Fuchs 1887. Vgl. dazu Johnston 2014: 434: »Die Historisierung der Bibel [19. Jh.] und die Etablierung der Sanskrit-Philologie in Europa gingen mit einer zunehmenden Differenz zwischen semitischen und indoeuropäischen Studien einher. Mit Hinzutreten der Wertung ›arisch‹ zum Indoeuropäischen bei gleichzeitiger Abwertung des Semitischen sahen sich jüdische Gelehrte zu eigenen Beiträgen herausgefordert, mit denen sie die Befunde und Methoden ihrer christlichen Kollegen vor allem mit Blick auf die Beurteilung der religiösen und kulturellen Leistungen der Semiten infrage stellten.« 765 Vgl. Lazarus 1896: 219–220. 766 Zitiert nach A. Jellinek und mit Hervorhebungen von Remy. Lazarus 1896: 220. »Zur Charakteristik der jüdischen Verstandesschärfe hebe ich hervor, dass das Hebräische für ›suchen‹, ›forschen‹ auch, für ›trennen‹, ›scheiden‹ vierunddreissig, für ›knüpfen‹, ›verbinden‹, ›combiniren‹ fünfzehn, für ›eilen‹ acht Ausdrücke kennt, sowie als Beleg für den jüdischen Enthusiasmus, und für das jüdische Pathos, dass es für ›Zorn‹, fünfzehn, für ›schreien‹ fünfundzwanzig (!) für ›zerbrechen‹ dreissig, für ›bewegen‹ elf verschiedene Formen des Hebräischen gibt.« 767 So sollten beispielsweise die Handelsbücher der jüdischen Kaufleute in deutscher Sprache geführt werden. Vgl. Volkov 2001b: 87–89. Siehe auch: Aptroot und Gruschka 2010. 768 Roemer 2002: 11.

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dachlose, Penner und Outsider, und sie alle übertrifft der Jude, wenn er im Trüben fischen geht.«769 Ausgehend von der Haskala (18. Jh.) kommt der Wunsch auf, die hebräische Sprache durch das Jüdisch-Deutsche zu erneuern.770 Dies war aber nicht Remys Meinung. Sie nimmt eine ähnliche Stellung ein, wie der Zionismus, der für ein aktives Hebräisch-Studium eintrat. Die hebräische Sprache stelle nämlich die innige Verbindung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart der jüdischen Bevölkerung her. Denn nach Dtn 33,4 sei die Religion das Erbe Israels, womit jeder Mensch jüdischen Glaubens die Pflicht habe, die hebräische Bibel im Urtext lesen, verstehen und weitergeben zu können.771 Dazu sei die Kenntnis der hebräischen Sprache allerdings unerlässlich. Die mehrheitliche Unkenntnis der heiligen hebräischen Sprache bei den Juden sei ein Beweis dafür, wie gleichgültig die jüdische Geschichte und Religion den modernen Juden, vor allem den Jüdinnen geworden sei.772 Für Remy ist es unverständlich, dass die modernen Jüdinnen trotz »forschenden Charakters der Zeit«773 kein Bedürfnis entwickelten, durch eigenständige Prüfung sich eine objektive Meinung bilden zu können. »Nur so scheint es erklärlich, dass bei den jüdischen Frauen meist eine solche Unkenntnis der hebräischen Sprache herrscht, die ihnen, obwohl sie die vorgeschriebenen Gebete in derselben gelernt haben, ein Buch mit sieben Siegeln ist.«774 Diese Unkenntnis und Gleichgültigkeit der Jüdinnen gegenüber ihrem Glauben und ihrer heiligen Sprache schockiert Remy, was in ihrem Werk eigens in einem Kapitel Die heilige Sprache zum Ausdruck kommt. Es geht ihr bei ihrer Kritik nicht darum, den Juden die hebräische Sprache als eine Art Nationalitätssprache wieder anzupreisen, sondern darum, dass die Urtexte im hermeneutischen Sinn gelesen und verstanden werden können, ohne dass man vom Dritten abhängig ist. Sie appelliert an die zeitgenössischen Juden, dass sie die hebräische Sprache erneut für sich entdecken und beherrschen lernen, damit sie sich eigenständig in die jüdischen Schriften einlesen und in der Lage seien, sich den antisemitischen Vorurteilen zu widersetzen (s.Kap. II, 3.1.3; 3.2.1). Denn durch das Studium der hebräischen Sprache und Texte könne der jüdische Gläubige seine Geschichte, Religion und Tradition 769 Daxelmüller 1996: 144f. »Das ›Mauscheln‹ ist vornehmlich vom ›Jiddischen‹ geprägt. Doch um welches ›Jiddisch‹ es sich handelt, um das in Osteuropa gesprochene Jiddisch mit seinen zahlreichen Dialekten […], um das Jüdischdeutsche (Westjiddische) mit seiner reichen dialektalen Vielfalt, um das ›Hebräische‹, das Rotwelsche, Jenische, Welsche oder um eine mit Begriffen des Romani angereicherte Kunstsprache, bleibt stets offen.« 770 Roemer 2002: 21: »Das hohe Alter [der hebräischen Sprache stand] nicht nur für die ausgezeichnete Stellung des Hebräischen unter den Sprachen, sondern auch für seine Distanz von der Welt der Gegenwart. Es stand für die Gebundenheit der Sprache an ihren Ursprung, an das Wort ihres göttlichen Urhebers und an die Tora, in der es festgehalten ist, an die Schrift, die das Gesetz der Sprache darstellt. Das Ziel der Maskilim hingegen war es, der hebräischen Sprache als Nationalsprache neue Möglichkeiten des profanen, des wissenschaftlichen und literarischen Ausdrucks zu erschließen, und dazu war es notwendig, die Sprache zu verändern.« 771 Siehe Dtn 33,4: »Mose hat uns das Gesetz geboten, das Erbe der Gemeinde Jakobs.« Vgl. dazu Lazarus 1896: 218. 772 Ebd.: 207: »Woher sollen die Frauen den Wert des Hebräischen kennen, da selbst ihre Männer es kaum mehr kennen und nur noch die Gelehrten es treiben!« 773 Ebd.: 206. 774 Ebd.

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kennenlernen, sodass er nicht mehr verunsichert oder im ungünstigen Fall von seiner eigenen Religion abgebracht, d.h. bekehrt werden könne. Indem die jüdische Frau die hebräische Sprache erlerne, müsste sie selbst die innige Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart verspüren, was sie folglich dann als Religionstreue ihren Kindern weitergebe.775 Die hebräische Sprache sei ein Schatz des Judentums und »würde die moderne Jüdin ihn kennen und verstehen lernen, wäre dies ihr Lieblingsstudium«776 , schlussfolgert Remy. Denn dann würden vor allem die Jüdinnen »einen Wert darauf legen, dass auch ihre Kinder die Sprache ordentlich lernen.«777 Die Ehrenhaftigkeit und Tüchtigkeit sei jedoch bei den meisten Jüdinnen abgestumpft, »ein begeisterndes Gefühl, das ist es, und das tut Not.«778 Remy beklagt folglich den Mangel an »Wissen und Wollen« der jüdischen Frauen und verweist erneut auf ihre zahlreich gelisteten »glühenden Verehrerinnen der hebräischen Sprache«779 , die nicht alle jüdischen Glaubens waren. »Wer sich einmal in den Geist der hebräischen Sprache vertieft, wird unwiderstehlich von ihrem Zauber gefesselt. So haben nicht nur Jüdinnen sich ihrem Studium ergeben; von der heiligen Paula bis zur schwedischen Königin Christine, der geistvollen Tochter Gustav Adolfs und der berühmten Anna Maria Schurmann haben Nichtjüdinnen sie geliebt, gelernt und geübt.«780

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1912 verfasst Nahida Ruth Lazarus eine kurze Abhandlung über Eine Frage an unsere jungen Jüdinnen, in der sie ebenfalls die jüdische Mutter dazu auffordert, ihre Kinder in der hebräischen Sprache zu unterweisen. Lazarus 1912: 3, Spalte 2: »ich halte das Erlernen der hebräischen Sprache (aber von frühester Kindheit an!) für ein eminent wichtiges pädagogisches Heilmittel für die heranwachsende neue Generation der Juden; aber ich bezweifle, dass es anwendbar ist, ja, ich – verzweifle an jeglichem Erfolg …. Die Mütter sind nicht da, welche die Kinder lehren, sie einleben in diese Dinge. – Kein Vorwurf und keine Kritik, nur meine Beobachtung: keine Frage ist den Frauen so wichtig als die Toilettenfrage.« Lazarus 1896: 206: »Wüssten sie, welchen Schatz ihnen ihre Väter in der hebräischen Sprache hinterlassen, welche Tiefe und Süssigkeit, welche Kraft und Erhabenheit in ihr liegt, wie all das Hohe und Herrliche in der Bibel noch höher und herrlicher in der Ursprache erklingt, wie dagegen Rauhes und Rohes gemildert ist, wie Dunkles aufgeklärt wird und anscheinende Widersprüche als ebenso viele Gedankenperlen sich enthüllen, – manche Frau würde aus der hebräischen Sprache ihr Lieblingsstudium, machen.« Ebd.: 210. Ebd.: 219. Ebd.: 207; 210: »Durch frühere Jahrhunderte hindurch hatte die heilige Sprache, welche den Völkern die 10 Gebote und die Vorgeschichte der Menschheit übermittelte, glühende Verehrerinnen,« wie beispielsweise die Töchter des Daniel Itzig sowie die Töchter Rothschilds, in: ebd. Vor allem in Russland gäbe es viele nicht berühmte jüdische Frauen und Mädchen, welche gut Hebräisch lesen, schreiben und verstehen konnten. Ebd.: 210: Wahrscheinlich »gehörte auch George Eliot zu ihren Verehrerinnen; wenigstens zeigen manche ihrer bedeutendsten Werke, dass sie das Hebräische in Geist und Wortform erfasst hatte. Auch Dorothea Moore, und eine Prinzessin von Württemberg, Antonie, seien als fertige Kennerinnen der heiligen Sprache gerühmt« worden.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

4. Fazit »Sind die alten Juden ihrer Zeit so sehr vorangeeilt? Oder sind die neuen Gesetzgeber hinter den alten Juden zurückgeblieben?«781 Mit dieser provokativen Aussage wird deutlich, dass Remys Buch Das jüdische Weib ein apologetischer Beitrag im jüdisch-christlichfeministisch-antisemitischen Diskurs des 19. Jahrhunderts war. Anknüpfend an den antisemitischen Diskurs, in dem die Akteure eine politische Marginalisierung und Ausgrenzung der gleichgestellten Juden erstrebten, greift sie in ihrem Buch die normativen Konzepte von Rasse, Volk/Nation und Religion auf, im Gegenzug aufzuzeigen, dass das Judentum ebenfalls Träger kultureller und religiöser Werte war und ist. »Wenn es etwas giebt, was einen beim Kampfe gegen solch unsinnige Behauptungen traurig stimmen kann, so ist es neben dem Charakter dieser Behauptungen die Thatsache, dass ein solcher Kampf überhaupt heute noch möglich ist. Wahrlich, der große Kant hat Recht: Wir leben in einem ›Zeitalter der Aufklärung‹, aber nicht in einem ›aufgeklärten Zeitalter!‹.«782 Die oft wiederholte antisemitische Behauptung, dass die Juden keine Kulturarbeit geleistet hätten, d.h. dass sie keinen Beitrag in der Literatur, Kunst, Humanität und Wissenschaft erbracht hätten, resultiere aus dem Halbwissen und dem Desinteresse der modernen judenfeindlichen Geschichtsschreiber.783 Tatsächlich gab es zeitgeschichtlich immer wieder hervortretende jüdische Astronomen, Ärzte, Grammatiker, Exegeten, Schriftgelehrte, Theologen, Geschichtsschreiber, Dichter und Philosophen, die beweisen, dass die Juden ebenfalls an der Kulturentwicklung beteiligt waren. Mit viel Feingefühl und dem Hinweis auf geschichtliche Fakten schafft es Remy, in ihrem Werk mit solchen antisemitischen Vorurteilen aufzuräumen. Sie listet, entgegen dem antisemitischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, in dem unter anderem die Jüdin als arrogante, vulgäre, prahlerische und kulturlose Verführerin diffamiert wurde, Jüdinnen auf, die kultiviert, gebildet und sittlich waren. Sie bescheinigt, unter Berufung auf anerkannte nichtjüdische Gelehrte wie den deutschen Biologen M.J. Schleiden (1804–1881) gerade den Juden eine ausgeprägte Humanitätsliebe und Wohltätigkeitswillen.784 Damit knüpft sie an den christlich-apologetischen Diskurs an, der dem Christentum eine universelle Nützlichkeit für die Moderne zusprach und dem Judentum jegliche Rationalität, Ethik und kulturelle Werte absprach. Im Religionsvergleich zwischen Judentum und Christentum, der immer zum Nachteil für das Judentum ausfiel, bildete das Christentum die wahre Religion, die unter anderem der Frau eine höhere Stellung zuwies.785 Remy erschloss hingegen in ihrem Buch, dass die Stellung der jüdischen Frau im Vergleich zur christlichen Frau privilegierter war, zwar hatten die Jüdinnen ebenfalls nicht

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Lazarus 1896: 35. Ebd.: 123. Vgl. auch Remy 1893d: 22f. Vgl. Lazarus 1896: 34. Remy 1893d: 2: »Er [Der Talmud] spricht oft u. viel von der Frau u. er zeigt sie fast durchweg gereift, geschäftig, selbstbewusst, selbständig und sittlich.« Vgl. Kap. II, 3.1. 785 Vgl. Kap. II, 2.4.1.

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die gleichen Rechte wie die Männer, besaßen aber trotzdem mehr Rechte als nichtjüdische Frauen derselben Zeit. Denn in keiner anderen Kultur und Religion, so zeigt sie auf, gab es gesetzliche Vorkehrungen bezüglich der Absicherung der Frau.786 Damit gehört sie zu den wenigen projüdischen Publizisten, die sich im antiantisemitischen Diskurs an die allgemeine Öffentlichkeit richteten.787 Mithilfe von Kultur- und Religionsvergleichen (Christentum versus Judentum) und Listen von jüdischen Kulturträgern wurde sowohl vonseiten jüdischer Gelehrter als auch jüdischer und nichtjüdischer Publizisten versucht, unter anderem das antisemitische Rassenkonzept zu widerlegen. Remy versucht mit der Methodik der Vergleichspolitiken (u.a. Judentum = AT, Christentum = NT) aufzuzeigen, dass Jüdinnen in mancherlei Hinsicht den Christinnen sogar ähnlich gewesen seien, verweist aber gleichzeitig darauf, dass die Christen sich teilweise schlimmer verhielten, als es den Juden von antisemitischer Seite unterstellt wurde. So gipfelt die Abwertung des Verhaltens der christlichen Bauersfrau in Remys ästhetischer Darstellung der jüdischen Frau: »Wie mit der Massigkeit so steht es mit der Sparsamkeit: Das von der Bäuerin achtlos fortgeworfene Hasenfell hebt die arme Judenfrau auf und weiß es zu verwenden.«788 Anhand ihrer Schilderung ähnlicher Beispielerzählungen sowie der wichtigsten dazugehörigen Vorschriften der Bibel und des Talmuds konstruiert Remy ein Gegenbild von der jüdischen Frau und ihrer Stellung innerhalb des Judentums. Sie beabsichtigt nicht, die jüdische Frau zu idealisieren, sondern anhand des Kultur- und Religionsvergleichs aufzuzeigen, dass auch jüdische Frauen ebenfalls gute Mütter, Hausfrauen, Ehefrauen, Wohltäterinnen und Kulturträgerinnen waren. Während sie die jüdische Frau des Alten Testaments als das Idealbeispiel einer guten Jüdin propagiert, entsprach die modernbürgerliche Jüdin nicht ihrem Idealbild einer Jüdin. Dass ihr Ziel, wie bereits erwähnt, nicht das alleinige Loben der Jüdin war, wird daher auch daran sichtbar, dass Remy offen Kritik gegenüber den jüdischen Frauen äußert, um ihnen »einen Spiegel vorzuhalten, in welchem diese beschämt ihren klaffenden Gegensatz gegenüber dem Ideal der Bibel und der jüdischen Vergangenheit erkennen sollten.«789 In Remys Darstellung der jüdisch-bürgerlichen Frau fließt neben den antisemitischen Debatten auch der feministische und der innerjüdische Reformdiskurs mit ein. Remy betont, dass die modernen Frauen ebenso wie die Juden des 19. Jahrhunderts für ihre Gleichstellung hart zu kämpfen hatten. Während den jüdischen Männern durch die

786 Vgl. Kap. II, 2.1; siehe auch Kaplan 1997: 298. 787 Tatsächlich war Remy von den wenigen Publizisten sogar die einzige Frau, die das Wort an die Öffentlichkeit richtete. 788 Lazarus 1896: 309. Vgl. dazu Kaplan 1997: 47: Die jüdischen Frauen in der Bismarckzeit kennzeichnete ihre Sparsamkeit. »Die Frauen führten detaillierte Haushaltsbücher, in denen sie jeden Pfennig festhielten, den sie ausgegeben hatten. Ersparnisse bildeten die Grundlage für die Ausbildung der Kinder, für die Mitgift der Töchter und für geschäftliche Investitionen. Die Hausfrauen lernten, dass sie große Mengen einkaufen mußten, weil das billiger war, als kleinere Mengen zu erstehen. Viele nähten weiterhin die Kleider für ihre Kinder, auch wenn sie im Laufe der Jahre zu Wohlstand gelangt waren. Selbst unter den Wolhabenden galt Sparsamkeit als Tugend.« 789 N.N. 1891d.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Gleichstellung erlaubt war, in die Städte zu ziehen und am politischen Leben teilzuhaben, blieben die Jüdinnen aufgrund ihres Geschlechts von vielen neuen Privilegien ausgeschlossen. Dennoch profitierten sie von den errungenen Fortschritten ihrer Männer, da es ihnen nun möglich war, ebenfalls ein städtisch-bürgerliches Leben zu führen und an dem neu errungenen Wohlstand beteiligt zu sein.790 So beschreibt Remy bürgerliche Jüdinnen, die sich bei den zahlreichen neuentstandenen wohltätigen Organisationen ehrenamtlich engagierten und die neuen Bildungsmöglichkeiten nutzten. Diese jüdischen Frauen seien ein positives Beispiel dafür, dass es in der Zeit des aufkommenden Antisemitismus (ab 1870/71) möglich war, ein »normal«791 -bürgerliches Leben kombiniert mit der jüdischen Religion und Tradition zu führen. Trotz der zahlreichen Jüdinnen, die Remy in ihrem Werk beispielgebend aufführt, übersieht sie das wesentliche Problem, dass es nämlich für die Jüdinnen des Bürgertums ein Balanceakt war, ihre Tradition sowie die Assimilation an die bürgerlich-christliche Gesellschaft zu kombinieren, während die antisemitischen Akteure eine »gesellschaftliche Verachtung, moralische Verurteilung und ästhetische Abneigung«792 gegen sie erfolgreich propagierten. Durch das immer mehr diskutierte Rassenkonzept wurden die Juden trotz politischer Gleichstellung dazu genötigt, nach außen hin gänzlich national-bürgerlich zu erscheinen, während sie im familiären Kreis ihr Jüdisch-sein weiterhin auszuleben versuchten. Remy konzentriert sich auf diese ›heimliche‹ Erfüllung der jüdischen Identität, indem sie die Familie und die Jüdin als das ›Haus‹ ehrt und die jüdische Frau vor allem in der familiären Sphäre wirken sehen möchte. Die Symbolik der Frau als das Haus wird von ihr aus der talmudischen Metaphorik übernommen und damit die Pflege und Weitergabe der ethnischen und religiösen Identität innerhalb der Familie betont.793 Gestützt auf mehrere biblische und talmudische Zitate und Aussagen verschiedener jüdischer Gelehrter gelingt es Remy in ihrem Buch, ebenfalls ein fortschrittliches Geschichtsbild des Judentums aufzuzeigen, in dem sie beim Vergleich mit dem Christentum den christlich-apologetischen Diskurs kritisiert.794 Anhand des Umgangs mit der Frau, die allein im Christentum eine höhere Stellung habe, wird die ausschließliche Degradierung des Judentums sichtbar. Remy greift diese Polemik auf, ebenso wie die Talmud-Polemik, um mit handfesten Gegenargumenten die Gleich- bzw. Höherwertigkeit des Judentums aufzuzeigen und folgt damit dem Beispiel der Publizisten jüdischer Antikritik der christlichen Apologetik.795

790 Vgl. Kaplan 1997. 791 Vgl. Kap. II, 2.3. 792 Kaplan 1997: 295, 48: »Da das Jüdischsein nun zunehmend zur privaten Angelegenheit wurde, zu etwas, worüber man nur innerhalb der Familie sprach, dass man nur in der Familie empfand und praktizierte, wurde die Rolle der Mutter als kulturelle Vermittlerin immer komplizierter. Sie musste der Familie helfen, ihre Zusammengehörigkeit und ihre Tradition zu wahren, während sich diese an die bürgerliche protestantische Gesellschaft anpasste.« 793 Lazarus 1896: Das Motto ihres Buches lautet: »sein Haus, das ist sein Weib« (vgl. Jos 24,15). Vgl. auch Kap. II, 2.2.1. 794 Vgl. Kap. II, 2.3.3; Kap. II, 3.2.1. 795 Vgl. Kap. II, 3.1.3.

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So betont sie angelehnt an den innerjüdischen Reformdiskurs der Geschlechterbeziehungen die entscheidende Rolle der jüdischen Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter, die innerhalb der Familie die religiöse Praxis einzuhalten und an ihre Kinder weiterzugeben hatte, worin die Jüdin allerdings auch an ihre Grenzen kam. Denn die bürgerlichjüdische Frau erhielt nun die Aufgabe, das neue Wertesystem und die Verhaltensweisen des Bürgertums in ihrer Familie auszuleben und gleichzeitig ihren Kindern nahe zu bringen. Das bedeutete, dass die jüdischen Kinder nun neben der jüdischen Erziehung auch in der deutschen (Hoch)-Kultur sowie in Benehmen und Stil ihrer deutschen Altersgenossen unterwiesen werden mussten. Dabei übernahmen die Juden »den Kleidungsstil, die Bildung, die kulturellen Formen und Sitten der Gruppe, die ihrem finanziellen Status oder ihren Ambitionen am nächsten kam, und die sie in ihrer meist städtischen Umgebung vor Augen hatten.«796 Durch die Problematik der vermehrten antisemitischen Angriffe standen die Jüdinnen nun auch unter dem Zwang, mit stets dezentem Auftreten und korrekt-bürgerlichem Benehmen zu beweisen, dass sie zur bürgerlichen Elite gehörten. So wurden unter der sorgfältigen Aufsicht der jüdischen Mutter »ein harmonisches Familienleben und höfliche, artige Kinder schließlich zum lebendigen Beweis für die gelungene Akkulturation der Juden an das deutsche Bürgertum.«797 Diese völlige Akkulturation an das moderne Bild der christlich-bürgerlichen Frauenrolle ist allerdings der Grund für Remys scharfe Kritik an der modernen Jüdin.798 Viele Jüdinnen vernachlässigten nämlich in ihrem Assimilationsbestreben ihre jüdische Religion und Tradition.799 Da sie nun eine Art neuen häuslichen Kulturauftrag zu erfüllen hatten, indem sie eine angenehme Gesellschafterin auch für die nichtjüdischen Gäste zu sein hatten, mussten sie auch bürgerlich-deutsche Werte, eine bestimmte Bildung und Lebensweise annehmen.800 Dabei, so kritisiert Remy, hätten die modernen Jüdin796 Kaplan 1997: 299. 797 Ebd. 798 Remy 1893d: 22f.: »Dieser vorurteilslosen Betrachtung u. Behandlung des weibl. Geschlechts verdanken die Juden die grosse geistige Regsamkeit u. zielbewusste Thatkraft ihrer Frauen. Mehr, viel mehr, als die auf Furcht dressirten Ehefrauen anderer Confessionen, standen die Jüdinnen ihren Männern in allen weltlichen u. geschäftl. Angelegenheiten zur Seite. Diese allseitige weibl. Energie kam auch der Gelehrsamkeit zu Gute. Dank seiner ›Gehilfin‹ behielt der jüd. Mann Musse zum Studium. Das ist eine durch alle Jahrhunderte dauernde Erscheinung! – Nur heutzutage viell., wo das jüd. Weib mehr Modedame ist und statt original zu bleiben, eine Copie anstrebt … heute mag das anders geworden sein, der Talmud aber berichtet mehrfach von Frauen, welche das Studium ihrer Männer u. dadurch die Wissenschaft selbst förderten. [Herv. i.O.]« Vgl. auch Lazarus 1896: 314. 799 Lazarus-Remy um 1927b: 151: So schildert Remy ein für sie typisches Beispiel einer jüdisch-bürgerlichen Familie aus Magdeburg. Remy wurde nach ihrem Vortrag über das Weib im Talmud in Magdeburg am 07. Dez. 1894 anschließend bei der Familie des jüdischen Oberstabsarztes Dr. Rosenthal zum Festmahl eingeladen, zu dem Schweineschinken serviert wurde. Wie der Hausherr, rührte sie den Schinken nicht an. Als die Tochter Philippine Rosenthal daraufhin bemerkte, dass sie weder Juden noch Christen seien und somit den Schinken ruhig essen könnten, sprach Remy diesbezüglich ihre Meinung offen aus: »Pietät für religiöse Tradition sei unschätzbar wertvoll. Dagegen Indifferentismus einen öden, unfruchtbaren Boden darstelle, auf dem keine edlen Früchte wachsen könnten, sondern nur dürre Selbstsucht und leere Hoffnungslosigkeit!« 800 Kaplan 1997: 298f.: »Die ›Dame‹, […] repräsentierte die soziale Stellung ihres Ehemannes. Als das Bürgertum danach strebte, seine gesellschaftliche Stellung durch Konsumverhalten zu verbes-

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nen dieses Bestreben der Assimilation zu ernst genommen, sodass sie »in ihrem Hause nicht einfache Bürgerfrauen mehr [seien], sondern bequeme Damen«801 , die den Bereich der jüdischen Haushalts- und Kinderführung völlig vernachlässigten und sich vor allem auf das gesellschaftliche Leben konzentrierten. So musste nicht nur das bürgerliche Heim stilvoll eingerichtet sein, sondern auch die Hausherrin musste nun in ihrem Auftreten repräsentativ, das bedeutete luxuriöse Kleidung und Schmuck tragend, die soziale Stellung ihres Mannes verkörpern.802 Was Remy an der bürgerlichen Jüdin kritisierte, war allerdings ein bedeutungsvolles Element öffentlicher Selbstdarstellung bürgerlicher Schichten.803 Nach Remys Meinung allerdings würden die modernen jüdischen Frauen, beeinflusst durch die Bestrebungen der christlich-feministischen Aktivistinnen, zu einer säkularen Lebensweise verführt. Bedingt durch diese moderne Zeitentwicklung waren sie keine echten Jüdinnen mehr, die alttestamentliche Rolle der Frau als Mutter, Hausfrau und Gehilfin ausübten, sondern sich vor allem für das moderne Gesellschaftsleben interessierten. Der luxuriöse und gesellige Lebensstil wurde erstrebt, wo die eigene jüdische Religion und Tradition immer weniger Platz fand. Die moderne Jüdin verleugne ihre religiösen Rituale und Traditionen und gebe ihre jüdische Herkunft auf, um ihre Stellung in der christlich-bürgerlichen Gesellschaft zu verbessern.804 Tatsächlich führte der neu aufkommende und sich stark vermehrende Antisemitismus sowie die weibliche Emanzipation mit der endlich errungenen Möglichkeit der Frauen berufstätig zu werden, zum plötzlichen Anstieg der ›abtrünnigen‹ jüdischen Frauen.805 Die jüdischen Frauen, die sich außerhalb ihrer geschützten privaten Sphäre eine berufliche sowie soziale Beschäftigung suchten, stießen vermehrt auf antisemitische Gegenwehr, wodurch sie oftmals eine doppelte Diskriminierung erlitten.806 So erhielt die Jüdin aufgrund sexistischer Vorurteile (Kategorisierung des Geschlechts) beispielsweise Beschränkungen bei der Zulassung zu Studiengängen und war gleichzeitig als Frau jüdischen Glaubens (Kategorisierung der Rasse) judenfeindlichen Agitationen ausgesetzt. Die moderne

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sern, wurde die Frau in Verbindung mit dem Konsum häufig zugleich als Schöpferin und Trägerin des Status gesehen. Ihre Bedürfnisse, Wünsche und Vergnügungen wurden Ausdruck der Position, die ihre Familie in der Gesellschaft einnahm.« Vgl. Lazarus 1896: 313–315. Lazarus 1896: 315f.: »So, bei reinster Gesinnung und bestem Willen verfehlen sie mitunter den richtigen Weg; dazu gehört dass sie auffallen wollen: Luxus der Wohnung, der Lebensweise, der Toilette, Prunk in Gastereien, im Auftreten, im Alleswissen, Besserkönnen – ja dies Alles fällt auf, aber es missfällt auch; es erregt den Unwillen der Anderen.« Frevert 1994: 91: »Ihre Außenseite, auf sonntäglichen Promenaden und geselligen Veranstaltungen ostentativ vorgeführt, galt als Spiegel sozialen Erfolgs und Ausdruck bürgerlicher Saturiertheit.« Vgl. Kap. II, 2.3.4. Vgl. Kaplan 1997: 108f.: »Die Steuerakten von Berliner Konvertiten aus den Jahren 1873–1906 zum Beispiel zeigen, dass […] bis 1880 relativ wenige [jüdische] Frauen [konvertierten]. Zwischen 1873 und 1906 stellten Frauen ein Viertel aller Konvertiten. 1908 jedoch war ihr Anteil auf 37 % und 1912 auf 40 % gestiegen.« Vgl. Kap. II, 2.3.4.

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Jüdin wusste, dass sie keine Aufstiegschancen hatte, solange sie an ihren religiösen Pflichten festhielt.807 Jüdische Gelehrte, wie der Historiker Heinrich Graetz, verwiesen auf den politischen Einfluss der Antisemiten und die daraus resultierende politische Marginalisierung und Ausgrenzung der Juden, wodurch »der Staat die Juden, die ihre beruflichen Chancen erhöhen wollten, zur Konversion drängte, und damit nicht nur die Abtrünnigkeit förderte, sondern auch charakterloses Verhalten.«808 Vor allem von den jüdischen Frauen wurde erwartet, dass sie in ihrer Familie die religiöse Frömmigkeit auslebten, sodass sie die alleinige Schuld an der Vernachlässigung jüdischer Werte und folglich an der stetigen Degeneration der jüdischen Religion bekamen, womit sich Remy der innerjüdischen Gelehrtenmeinung der Emanzipationszeit anschloss.809 Daneben übernimmt sie das moderne reformjüdische Rollenmodell der jüdischbürgerlichen Frau, die die eigenen religiösen Bräuche mit dem christlichen Lebensstil zu vereinbaren habe, wofür Remy zahlreiche positive Beispiele der Moderne anführt.810 Diesen Jüdinnen sei es gelungen, innerhalb ihrer aktiven Vermittlung der Akkulturation auch Platz für die religiösen Traditionen zu lassen, sodass sie weiterhin nach dem jüdischen Festtagskalender lebten, koschere Speisen aßen und sich an die Bräuche hielten. Auch zeichneten sich viele Jüdinnen in ihrer Kulturarbeit aus, in der sie sich vor allem in der Wohltätigkeitsarbeit bemerkenswert einsetzten. Wohltätigkeit spielt im Judentum, wie Remy betont, eine zentrale Rolle, was sie anhand vieler Beispiele in der Bibel und in den Gesetzestexten nachweisen konnte. Durch die zahlreichen wohltätigen Organisationen, wo sich viele Jüdinnen interreligiös einsetzten, entstanden nicht nur enge Bindungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch erfolgreiche Gespräche und Verbindungen mit christlichen Frauen. Diese Frauen spielten eine entscheidende Rolle bei der Herstellung und Erhaltung christlich-jüdischer Bindungen, die jegliche Vorurteile überwanden. Remy zeigt die jüdische Wohltätigkeitsarbeit als einen Ort auf, in dem die Jüdinnen ihren Zusammenhalt festigen und ihre religiösen Werte ausgedrückt in der Nächstenliebe aufrechterhalten und weiter pflegen konnten.811 Damit konnte sie im Religionsvergleich zum Christentum nicht nur eine Gleichwertigkeit, sondern im Bereich der Wohltätigkeitsarbeit sogar eine Höherwertigkeit des Judentums herausstellen. 807 So erhielten beispielsweise jüdische Lehrerinnen oder Dienstmädchen so lange keine Einstellung [sic!], bis sie sich taufen ließen. Vgl. auch Kaplan 1997: 109f; 245. 808 Ebd.: 245. 809 Kaplan 1997: 87: »Während des gesamten Kaiserreichs gaben religiöse Führer und die populäre Meinung gleichermaßen den Frauen die Schuld für den Niedergang des Judentums – als Religion wie als Bevölkerungsgruppe.« Vgl. dazu ebd.: 321: Es gibt dafür zahlreiche Beispiele, die Remys Meinung wiedergeben: Der Freitagabend von 1859: 61; Israelitisches Gemeindeblatt vom 12.10.1892; vom 15.05.1903, 21.08.1903 und vom 24.07.1908. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten wurden die Frauen von Rabbinern für den religiösen Niedergang verantwortlich gemacht. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) formuliert in seinem Aufsatz Das Zion der jüdischen Frau (1901) ebenfalls die »Schuld der Jüdin am Niedergang ihres Volkes«. Siehe: Buber 1920: 33: Denn die Jüdin eifere in Allem dem Fremden nach, sodass »der innere Ausbau des Judentums lahmgelegt« werde. 810 Kaplan 1997: 90. 811 Vgl. Kap. II, 2.3.3.

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Im Horizont von M. Kaplans Untersuchung der bürgerlichen Jüdin des 19. und 20. Jahrhunderts erscheint Remys Kritik an den zeitgenössischen Jüdinnen streng und unreflektiert.812 Allerdings muss ihre Argumentations- und Legitimationsweise im historischen Kontext betrachtet werden. Während M. Kaplan retrospektiv eine nachfühlende Haltung gegenüber den völlig akkulturationsbestrebten Jüdinnen aufbringt, kann Remy mit ihrem apologetischen Ziel kein Verständnis für jegliche Vernachlässigung oder gar Ablegung jüdischer Traditionen akzeptieren. In einer Zeit, wo strategisch gegen die Juden gekämpft wurde, was in der NS-Zeit seinen Höhepunkt erreichte, appellierte sie an die Juden, sich gerade nicht durch Konversionen oder Mischehen dem deutschen Bürgertum anzupassen, sondern sich bewusst gegen diese judenfeindlichen Akteure zu stellen und als eine zusammenhaltende Gemeinschaft aufzutreten, die für ihre bürgerlichen Rechte kämpft.813 Sie begründet ihre Meinung späterhin damit, dass sie sich durch ihren eigenen Übertritt zum Judentum (1895) mit der diskriminierten Minderheit verbindet, womit sie ihren apologetischen und appellierenden Aussagen noch mehr Gewicht verleiht, was sie auch in ihrem Vorwort zur 3. Auflage ihres Werkes Das jüdische Weib voranschickt: »Als ich dieses Buch schrieb, war ich Christin. Heute bin ich Jüdin; ich mußte Jüdin werden, nachdem ich durch meine Forschungen erkannt und vollends in meinem ›Culturstudien über das Judentum‹ bekannt, was die jüdische Religion bedeutet. Die Gesinnung also, welche diese Werke diktierte, ist nicht nur dieselbe geblieben, sondern sie ist bestärkt und besiegelt.«814 Man kann also davon ausgehen, dass der Zweck und die Tendenz ihres Buches ursprünglich aus ihrer innersten Überzeugung hervorgegangen ist und dass das offene Wort innerhalb ihres Werkes, welches sie zu denjenigen Jüdinnen der Gegenwart, die ihrer Meinung nach den Beruf als »Priesterinnen des Hauses und Hüterinnen der Religion«815 vollkommen verkannten, ehrlich und vor allem als wohlwollende Kritik gemeint war. Daneben wurde aufgezeigt, dass Remy auch im Zuge ihrer Verteidigung des jüdischen Frauenbildes Stellung zu relevanten antisemitisch-christlichen Polemiken nahm, sodass ihr 812

Kaplan 1997: 108f.; 86: Kaplan zeigt anhand zahlreicher Studien auf, dass, Jüdinnen entgegen Remys Vorwurf eher weniger Mischehen eingingen oder ihre Religion wechselten als jüdische Männer. Auch sei es der Mehrheit der jüdisch-bürgerlichen Frauen gelungen »Frömmigkeit und Häuslichkeit« miteinander zu verbinden. »Die Statistiken über Konversionen und Mischehen zeigen, dass Männer eher dazu neigen, ihre Verbindung zum Judentum und zur jüdischen Gemeinschaft abzubrechen.« 813 Lazarus-Remy 1927b: 137: Wie die Anfang des 20. Jh.s entstandenen jüdischen Frauenvereine, die sich für die Erhaltung der jüdischen Traditionen einsetzten. Remy wurde auch immer wieder eingeladen, sich bei den Frauenvereinen zu engagieren, allerdings sah sie ihr projüdisches Tätigkeitsfeld eher in der Veröffentlichung ihren apologetischen Studien, Publikationen sowie Vorträgen. »Frau Henriette Goldschmidt in Leipzig, Minna Cauer, Hannah Bieber-Böhm liessen meine Erklärung, dass auf ihrem Gebieten in Frauenvereinen so viele und ausgezeichnete Kräfte tätig seien, dass aber mein Feld populärer Bibelforschung fast noch garnicht angebaut sei, und ich mich darauf beschränken müsste, um nicht der Oberflächlichkeit und Zersplitterung zu verfallen, nicht gelten.« 814 Lazarus 1896, Vorwort zur dritten (wohlfeilen) Auflage. 815 Vgl. Ebd.: 315.

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Buch Das jüdische Weib zwar an die jüdischen Frauen gerichtet war, aber einen umfangreichen Adressatenkreis intendierte, in dem neben den jüdischen Männern auch die Akteure des antisemitischen Diskurses und ›neutrale‹ Christen angesprochen wurden. Damit ist ihr Buch vor allem eine apologetische Schrift des antiantisemitischen Diskurses, in dem sie sich für das Selbstbild und Selbstbewusstsein der Jüdin des 19. Jahrhunderts einsetzte, und vonseiten der reformjüdischen Öffentlichkeit anerkennende Zustimmung erhielt.816

5. Rezensionen des Werkes Das jüdische Weib Auf Wunsch des Verlegers W. Malende verfasste der damals anerkannte Völkerpsychologe Moritz Lazarus (1824–1903), der Betreuer des Werkes Das jüdische Weib (1891),817 ein umfangreiches Vorwort mit dem Ziel, möglichen »Vorurteile[n], denen es von vornherein begegnen könnte, [entgegenzutreten], damit nichtjüdische und jüdische Leser es mit jener Unbefangenheit aufnehmen, in welcher es geschaffen«818 sei. Tatsächlich wurde seine eingehende und empfehlende Vorrede über das populärwissenschaftliche Werk als »vollgültige Gewähr seines Wertes«819 angesehen und war entscheidend für Remys literarischen Erfolg. Mit Lazarus’ berühmtem Namen wurde ihr Werk auch für das jüdische Publikum interessant und bedeutend, da sie als christliche Autorin noch unbekannt in jüdischen Kreisen war. So schreibt ihr damaliger Lehrer und Betreuer in seiner Vorrede unter anderem: »das vorliegende Buch ist nichts weniger als eine Streitschrift; für die Verfasserin existiere keine ›Judenfrage‹, sie streitet nicht für die Juden, nicht für die Jüdin und am wenigsten gegen sie. Ja doch, sie streitet auch: sie streitet für das Gute der Jüdin, für die Natur, Sitte, Gesetz und Culturerbschaft der wahren echten Jüdin.«820 Damit verweist Lazarus auf die, Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt erschienenen, christlichen Schriften über Juden, die allerdings mehrheitlich gegen das Judentum gerichtet waren.821 Durch eine »Feinheit und Schärfe« der »Beobachtung der Gegenwart und Studium der Vergangenheit«822 habe Remy ein genaues Bild von der jüdischen Situation erhalten. Und sie beabsichtige in ihrem Werk, diese »wahre Erkenntnis« über die Menschen eines anderen Stammes, einer fremden Religion sowie »ein genaues Bild von der Eigentümlichkeit in der Natur, im Charakter und Geschichte des jüdischen

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Vgl. Lazarus-Remy 1927b: 151. S.Kap. II, 1. Lazarus 1896: III. B.R. 1891: 185f. Lazarus 1896: V. Ebd.: »Wenn heutzutage irgend eine Schrift über ›Juden‹ erscheint, dann – dass Gott erbarm! – droht oder verspricht sie, eine Streitschrift für oder wider sie zu werden.« 822 Ebd.: IV: »Wie mannigfaltig und vielseitig die Verfasserin in beiden [Vergangenheit und Gegenwart] sich bewährt, zeigt fast jedes Capitel, ja schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis.«

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Weibes«823 aufklärerisch darzustellen. Als Christin sei ihr gelungen, ein projüdisches Werk »unbefangen«, »gründlich« und vor allem »von Vorurteilen frei« zu schreiben, wodurch gleichzeitig ihre »herzliche Hingebung fürs Thema«824 der Kulturgeschichte des jüdischen Weibes zu erkennen sei. Remy, so beschreibt es Moritz Lazarus, habe sich in die Kulturgeschichte der Jüdin »verliebt«, jedoch sei damit keine »blinde, sondern [eine] wahre Liebe«, die die Vorzüge, aber auch die Fehler »des geliebten Gegenstandes«825 , er- und anerkennt. Ihre eindringliche Beurteilung der jüdischen Frauen resultiere aus einer »Strenge der Liebe und Sympathie«826 . Denn in ihr ließe »die Verfasserin nicht die eigene, sondern die Stimme der Geschichte ertönen, die Stimme der tief ergriffenen, hell beleuchteten und klarsinnig dargestellten Geschichte des jüdischen Weibes.«827 Daher sei ihr Urteil der früheren sowie zeitgenössischen Jüdinnen »aus freiem Geiste mit voller Unbefangenheit« entstanden, und steigert »es sich in Bezug auf vergangene Zeiten zur Vorliebe, so erhebt es sich für die Gegenwart zur Schärfe«828 . Dabei urteilte Remy zwar »offen, scharf und derb, aber immer gerecht« gegen die Jüdinnen, »welche heute das Erbgut ihrer Cultur vernachlässigen, ihren hohen, vormals so edlen und so tapferen erfüllten Beruf verkennen und dem Tand des Tages nachjagen, anstatt dem Geiste ihrer ehrwürdigen Geschichte zu dienen.«829 Für eine gerechte Beurteilung der modernen Jüdin nutzte Remy vornehmlich den Maßstab der alttestamentlichen Jüdin, den sie »nicht blos in gutem Glauben, [sondern] auch mit guten Recht«830 anlege. Des Weiteren betont Lazarus die objektive Herangehensweise ihrer Analyse und Schilderungen: »Sie secirt nicht, sie schildert vielmehr; sie schildert in gut und reich gewählten […] Beispielen der geschichtlichen Wirklichkeit und Wirksamkeit jüdischer Frauen.«831 Wobei sie gerade die »höchsten Leistungen der Jüdin [als Mutter] sowie die vorzüglichsten Persönlichkeiten«, wie beispielsweise die Jüdin Sara Copia Sullam oder die Töchter des Daniel Itzig positiv hervorhebe. Remy habe dabei herausgearbeitet, dass die Kraftquelle 823 Ebd.: IIIf.: »So wird eine Frau in die Eigenart der Sinnesrichtung, der Gefühlserregung und der sittlichen Bewährung des weiblichen Geschlechts unstreitig tiefer eindringen können als ein Mann. – Die Menschen anderen Stammes, fremder Religion und ferner Zeiten werden wir leichter durchschauen, wenn wir, nicht zu Lieb und nicht zu Leide, unsere Gedanken mit redlicher Absicht auf wahre Erkenntniss schöpfen. Das Buch ist offenbar aus dem Bedürfniss entstanden, ein genaues Bild von der Eigenthümlichkeit in der Natur, im Charakter und in der Geschichte des jüdischen Weibes zu gewinnen; durch Beobachtung der Gegenwart und Studium der Vergangenheit sollte dieser Zweck erreicht werden.« 824 Lazarus 1896: III: »Schriften über Juden sind selten ohne Vorurtheil: Schriften von Frauen sind selten gründlich; dies Buch über das jüdische Weib ist von christlicher, weiblicher Hand; – allein es ist gründlich und von Vorurtheilen frei.« 825 Ebd.: V: »Es will mir scheinen, als ob es der Verfasserin so ergangen, wie es dem oft ergeht, der sich lange und eingehend mit einem Gegenstande beschäftigen muss: sie hat sich in die Culturgeschichte des jüdischen Weibes ein wenig verliebt! Aber nicht mit jener Art von Liebe, welche blind macht, sondern mit der wahren Liebe, welche hellsehend zunächst für die Vorzüge, aber auch für die Fehler des geliebten Gegenstandes macht.« 826 Ebd. 827 Ebd.: VI. 828 Ebd.: V. 829 Ebd.: Vf. 830 Vgl. ebd.: V. 831 Ebd.: IV.

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für die Entstehung solcher jüdischen Charaktere sowie Leistungen vor allem die Religionsliebe und -treue, die Liebe zur heiligen hebräischen Sprache sowie zum jüdischen Schrifttum sei.832 Lazarus appelliert am Ende seines Vorworts an die jüdischen Leserinnen seiner Zeit, dass sie sich dieses Werk als »Mahnruf« zu Herzen nehmen sollten, damit es sie ansporne zur »stolze[n] Selbsterkenntniss«833 . Denn durch die jüdische und die weibliche Emanzipation des 19. Jahrhunderts seien »Vorteile neuzeitlicher Bildung und bürgerlicher Freiheit« aufgekommen, die jedoch »zugleich moralische Nachteile«834 vor allem bei den jüdischen Frauen mit sich brächten. Dies sei auch für Moritz Lazarus zwar verständlich, aber trotzdem »nicht entschuldbar«835 , weshalb gerade Remys Werk aufklärerisch und appellatorisch wirken solle. »dass doch die heutigen Jüdinnen den Mahnruf dieser Stimme hören, dass sie es doch recht zu Herzen nehmen wollten, das edle Erbgut ihrer Vorfahren ungeschmälert und ungetrübt zu erhalten! Darum wünsche ich diesem Buche vor Allem jüdische Leserinnen. […] Aber zuversichtlich wird ihnen auch dies, aus dem tiefen Quell der dreitausendjährigen Stammesgeschichte geschöpfte, köstliche Büchlein nicht blos zum Spiegel stolzer Selbsterkenntnis, sondern auch zum Sporn selbstbewusster Läuterung und Veredlung werden.«836 Remys erstes populärwissenschaftliches Werk Das jüdische Weib, das sich sowohl an jüdische als auch an nicht-jüdische Leser richtet, wurde von ihr aus christlicher Perspektive verfasst, was das Werk gerade in Anbetracht der kontextuellen Umstände sehr spannend macht. Dies ist eines der wenigen projüdischen Werke des 19. Jahrhunderts, das nicht aus jüdischer Position verfasst und publiziert wurde. Es gab nur wenige Nichtjuden, die sich für die Juden aussprachen, worunter Remy als weibliche Autorin oder später Rednerin erstmalig projüdisch auftritt.837 Als Autodidaktin schrieb sie dieses bedeutende Werk, ohne jegliche wissenschaftliche Ausbildung, allein mit der Unterstützung ihres Betreuers Moritz Lazarus. Gerade die wenigen Personen, wie der bereits genannte deutsche Biologe Matthias Jacob Schleiden (1804–1881), die sich aktiv für die Juden einsetzten, waren von sehr großer Bedeutung für das Judentum.838 Sie dokumentierten eine projüdische Solidarität, die den diskriminierten Juden zeigte, dass sie nicht allein gegen die antisemitischen Agitationen zu kämpfen hatten. Remy machte sich, indem sie 832 833 834 835 836 837

Vgl. ebd. Ebd. Lazarus 1896: VI. Ebd. Ebd. B.R. 1891: 185f. »Wenn man nun diese bekannten Männer, ernste Forscher, durch Vertiefung und vorurteilslose Beurteilung des jüdischen Schrifttums sich angeregt fühlten, begeistert für die Juden, ihre verkanntes und vielgeschmähtes Judentum, zu plädieren (einzutreten), wieso sollte es dann nicht auch eine Nichtjüdin, wie Remy können. Die warmfühlend und für alles Gute kämpfende, die sich gedrängt fühlte mit Wärme und Liebe der Geschmähten, Verfolgten und Verleumdeten sich anzunehmen und mit Begeisterung das als wahr Erkannte zu verkünden, ja als Christin fühle sie sich doppelt gedrängt, das Unrecht, das von manchen ihrer Glaubensgenossen noch immer auf das Judentum gehäuft wird, nach ihren Kräften gut zu machen.« 838 Zur nichtjüdischen projüdischen Publizistik vgl.: Levenson 2013; zu Lazarus-Remy: ebd.: 123–131. Schleiden wird von Levenson nicht erwähnt.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

sich als Frau und Christin öffentlich mit dem Thema der Judenfrage auseinandersetzte, damit angreifbar. Sie stellt sich mit Zivilcourage und viel Mut gegen eine starke bürgerlich-gebildete antisemitische Elite, der sie nun durch ihr projüdisches Werk auch innerhalb ihrer familiären Sphäre ausgesetzt war.839 Mit ihrem bemerkenswerten Engagement konnte Remy den bedrängten Juden zeigen, dass sie in dieser schweren Zeit christliche Unterstützer hatten, um somit ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sie gleichzeitig aufzufordern, für eine Veränderung zu kämpfen und nicht durch Verleugnung und Ablegung ihres Glaubens nachzugeben. Ihre Solidarität mit den Juden innerhalb ihrer Werke ist ein Alleinstellungsmerkmal, was in dieser Form viele Jahre nicht nochmals vorkam. Auch Lazarus betont diese Besonderheit des Werkes, das »aus christlicher und weiblicher Hand«840 entstanden ist. Gerade seine Betonung auf ›weibliche Hand‹ macht deutlich, dass es für die damalige Zeit für Frauen nicht üblich war, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern, gerade bezüglich eines so brisanten Themas. Aber sie könne gerade als Frau die »Sinnesrichtung«, »Gefühlsregelung« sowie die »sittliche Bewährung des [jüdisch] weiblichen Geschlechts«841 besser nachvollziehen als ein männlicher Autor. Remy erkannte für sich die apologetische Aufgabe, die zeitgenössischen Jüdinnen über ihre Religion und Geschichte aufzuklären und sie auf ihr modern-bürgerliches Verhalten kritisch hinzuweisen. Aus diesem Grund ist ihr Werk Das jüdische Weib nicht nur eine Verteidigungsschrift für die nichtjüdischen Leser, sondern auch eine Aufklärungsschrift für die jüdischen Frauen. Mit ihrem Werk trifft Remy den Nerv der Zeit, sodass ihre zwei Hauptintentionen, den nichtjüdischen Leser in einer Zeit der steigenden antisemitischen Bewegungen aufzuklären und das jüdische Selbstbewusstsein vor allem der jüdischen Frauen zu stärken, anerkennend aufgenommen wurden. Die zahlreichen Werbeannoncen sowie Rezensionen unterschiedlicher Zeitungen zu Das jüdische Weib, die Remy in ihrem Nachlass neben der Originalausgabe ihres Werkes von 1891 aufgehoben hat, stehen bekräftigend für ihren literarischen Erfolg.842 Die meisten nichtjüdischen Rezensionen, die sie aufgehoben hat, wurden 1891/1892 verfasst. Nachdem ihr Werk in der 3. (wohlfeilen) Auflage 1896 erschien, und Remy selbst zum Judentum konvertiert war, stieß das 839 Lazarus-Remy 1927b: 132: Zu Weihnachten 1891 schenkte Remy der Familie Remy (den Schwestern ihres ersten Ehemannes Max Remy: Marie und Anna Remy sowie ihrem angeheirateten Onkel mit seiner Tochter Bertha Remy) ihr Werk als Weihnachtsgeschenk. Trotz weihnachtlichem Motto: »Frieden auf Erden« wurde ihr Geschenk zwar »empört« angenommen, aber weder gelesen noch toleriert. »psychologisch passend wieder ihr Verhalten, als ich die günstige Rezension der Vossichen das Tageblatt, die wundervolle Besprechung des Evangelischen Gemeindeboten erwähnte. Ernste, kalte Mienen, eine steinerne Haltung und kein Wort freudiger oder auch nur freundlicher Theilnahme. Das nenne ich eine Herzenskälte. […] Grosses Erstaunen meinerseits. – Natürlich mein Buch! – Er [der Onkel Remy] ist empört über dasselbe: Ich kröche vor dem Judentum! U.s.w. Antisemitischer Blödsinn.« 840 Lazarus 1896: III. 841 Ebd. Es gab neben Remys Werk über die Jüdin zahlreiche jüdische Abhandlungen über die jüdische Frau, wie beispielsweise von Meyer Kayserling: Die Jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst. 1879; Adolf Kurrein: Die Frau im jüdischen Volke. Vortr. Bielitz 1885; Emmanuel Weill: La femme juive. Sa condition legale d’après la bible et le Talmud. Paris 1874 oder Grace Aguilar: Die Jüdin. Leipzig 1860. 842 U.a. auch: N.N. 1892c; N.N. 1892b.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Werkauf große Resonanz, sodass auch im Ausland für Das jüdische Weib geworben und das Buch positiv besprochen wurde.843 Darunter findet sich eine Rezension des ungarischen Rabbiners Simon Lévy (1838–1898)844 oder eine ausführliche Besprechung vom Rabbiner Dr. Diamant Gyula (1868–1892)845 aus Budapest. Vor allem bekannt wurde die englische Übersetzung ihres Werkes von der amerikanischen Essayistin Louise Mannheimer (1856–1950).846 Diese hielt in Amerika mehrere Vorträge, unter anderem am 5. Juni 1895 in Louisville Kentucky, über Remys Werk und warb damit für die darin enthaltenen Intentionen. »Mrs. Mannheimer is herself an indefatigable and powerful laborer in the same field, and she was listened to with close attention throughout her talk.«847 Auch in Cincinnati hielt Mrs. Mannheimer am 4. Juni 1895 einen Vortrag über Remys Leben und Werk Das jüdische Weib: »The audience was extremely attentive, the lecture being absorbingly interesting, and the eloquent manner in which Mannheimer extolled the good work which Nahida Remy is performing in battling against prejudice and antiSemitism, is deserving of the highest praise.«848 Ebenso wurde Remys literarische und apologetische Leistung in der amerikanischen Zeitung The Menorah als einzigartig in der literarischen Geschichte gewürdigt. »Nahida Remy, now Mrs. Lazarus, was peculiarly qualified to write the story of the Jewish woman, by a thorough and exhaustive study of the subject and by an enthusiasm and love for it, which stands unique in the history of literature.«849

843 Darunter auch Rezensionen aus der The Jewish Chronicle vom 27. Nov. 1891. The Jewish Chronicle wurde 1841 gegründet und ist die älteste kontinuierlich erscheinende jüdische Zeitung der Welt, die sich entschieden für den Zionismus aussprach. Am 17. Jan. 1896 erschien der Artikel »A Solution of the Jewish Question« von Theodor Herzl, dem Vater des politischen Zionismus (1860–1904) Vgl. dazu Cesarani 2005. 844 Lévy 1892. Remy vermerkte folgenden Abschnitt. In: The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebuchnotiz vom 19.08.1895, Arc.Nr. 01 133: »Les comparaisons peuvent so conduire à des injustices. Le progrès de la tolérance et de la concorde universelle exige que, fiers de notre religion et de notre glorieuse histoire, nous respections et admirions ce qui se trouve de grand, de bau et de venerable ailleouis sans rechercher s’il y a quelque part quelque chose à repiendre.« Für die ungarische Übersetzung erhielt Remy 50 Mark. 845 Gyula Majus 1892. 846 Mannheimer 1895. 847 Kurze Rezension, vorgefunden in: The National Library of Israel, Department of Archives: Newspaper clippings on »Das jüdische Weib«. Zeitung und Jahr unbekannt, Arc.Nr. 01 130. 848 Kurze Rezension, betitelt mit: »The Jewish women’s columbian exposition association. Local branch.« In The National Library of Israel, Department of Archives: Zeitung und Jahr unbekannt, Arc. Nr. 01 130: »The lesson inculcated by the work of Nahida Remy is calculated to materially advance the intellectual character of our Jewish women, and Mrs. Mannheimer’s beautiful essay has a tendency to instil into the minds of those who are indifferent to Jewish literature a higher appreciation of our faith.« 849 N.N. 1895b.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

5.1

Jüdische Zeitungen und Zeitschriften850

Nahida Remy geht mit einer starken Argumentations- und Beweisführung gegen die antisemitischen Vorurteile des 19. Jahrhunderts an und publiziert mit ihrem Buch eine der wenigen projüdischen Schriften nicht-jüdischer Autoren. Erschreckenderweise ließe sich feststellen, dass es mit wachsendem Antisemitismus immer weniger projüdische Stimmen gab. Selbst von jüdischer Seite wurde Remys eindeutig apologetisches Werk mit Skepsis aufgenommen. Als Das jüdische Weib erstmalig 1891 erschien, verwies der Rabbiner und Arzt Dr. Chajim Eduard Biberfeld (1864–1939)851 in zwei von ihm veröffentlichten Rezensionen über Das jüdische Weib in der Israelitischen Monatsschrift 852 auf die Unmöglichkeit, die Vorurteile gegenüber dem Judentum zu widerlegen.853 »Wer […] die Vorherrschaft der ›real-politischen‹ Lebensanschauung in unserer Zeit mit klarem Blick erkennt, der wird weder von dieser einen Schwalbe noch selbst von einem ganzen Schwalbenstriche die Ankündigung des nahenden Sommers erwarten. Eine Zeit, die sich noch den ›Ritualmord‹ und ähnliche Tollheiten aufbinden lässt, ist wahrlich so erbärmlich tief gesunken, dass man für einen Augenblick fast an ihrer Existenzfähigkeit zweifeln möchte, sicherlich aber ihr eine heroische Tat der Selbstbefreiung von abgestandenen Vorurteilen nicht zumuten darf.«854 Vor allem stellte sich nach dem Erscheinen ihres Werkes auf christlicher und vor allem auf jüdischer Seite vermehrt die Frage, wieso eine Nichtjüdin ein projüdisches Werk verfasste.855 Anhand eines Briefwechsels zwischen einer Leserin und Remy, veröffentlicht in der AZJ856 vom 5. Mai 1893, wird dieses außergewöhnliche und bemerkenswerte Phänomen aufgeklärt. Die reformjüdische Leserin, die Frau eines Lehrers für jüdische Ge-

850 Siehe: Soxberger 2012: »Die Presse spielte eine wichtige Rolle im Diskurs über jüdische Identität in der Moderne seit der Haskala. Die historischen jüdischen Zeitungen und Zeitschriften, Kalender, Almanache und Jahrbücher seit der Haskala dokumentieren eine teils innerjüdische, teils in die Allgemeinheit zielende Auseinandersetzung um politische, gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse, Ziele und Vorstellungen, um Abwehr und Selbstbehauptung gegenüber Judenfeindschaft und Antisemitismus.« Zur jüdischen Presse, vgl.: Lappin 2008. 851 Biberfeld engagierte sich am Aufbau des orthodoxen jüdischen Schulwesens in Berlin und war 1902 Gründungsmitglied des Vereins der traditionell-gesetzestreuen Rabbiner Deutschlands. Vgl. dazu Brocke 2009. 852 Israelitische Monatsschrift. Wissenschaftliche Beilage zur Jüdischen Presse. Berlin 1881–1914. 853 Vgl. Biberfeld 1891. 854 Ebd. 855 N.N. 1893b: 212: Die Frage, »die betreffs der Dame [Nahida Remy] in zweifelnden und ungläubigen Seelen« auftauchte und eine Lösung für »jenes Rätsel, welches in jener außerordentlichen Erscheinung liegt, dass eine Dame, eine Nichtjüdin, mit solcher Begeisterung von jüdischem Schrifttum, vom Judentum und von den Rabbinen spricht, verlangte,« wurde durch den Briefwechsel beantwortet. Viele ihrer jüdischen Leserinnen und späteren Zuhörerinnen, die das Judentum kaum mehr gekannt und dessen Traditionen vernachlässigt haben, zeigten vor allem nach Remys Vorträgen Reue und Freude über das stolze neuendeckte Wissen über ihre Religion. Siehe dazu LazarusRemy 1927b: 151: »Sie haben ja das Judentum gar nicht gekannt! Haben es nicht geliebt – wie denn auch, da sie nichts von ihm wussten!« 856 Siehe Compact Memory 2018: AZJ.

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schichte und Literatur, wandte sich in einem Leserbrief in der AZJ direkt an Remy, um von ihr auf die folgenden Fragen eine persönliche Antwort zu erhalten: »Welchem inneren Beweggrunde verdankt ein Buch von solchem, wissenschaftlichem Inhalte und solch hinreißender Beredsamkeit wie Ihr ›jüdisches Weib‹ seiner Entstehung? Ist es der reine Forschertrieb, der Sie trotz Abstammung, Erziehung und Zeitrichtung eine fremde Weltanschauung verherrlichen lässt auf Kosten vieler Dinge, die Ihnen durch Geburt und Überlieferung heilig sein müssten? Oder sind Sie eine so glaubensstarke Christin, dass Sie objektiv auch fremde Religionssysteme durchdenken und würdigen können, ohne mit dem eigenen Glauben in Konflikt zu geraten? In jedem Falle stehe ich vor Ihrem hochbegabten Geiste wie vor einem Rätsel. Lassen Sie mich nicht vor zweifelnden Mitschwestern jüdischen und christlichen Glaubens ohne Antwort auf ihr warum und wieso?«857 Von Remys ausführlicher Antwort führe ich folgende Stelle an, welche den Kern ihrer Intention in ihren eigenen Worten wiedergibt: »Sie schicken voraus, dass Sie die Gattin eines Mannes sind, dessen Beruf es ist, Geschichte und Literatur des jüdischen Volkes zu lehren. Haben Sie sich auch gründlich damit beschäftigt? Ich vermuthe nein, den [sic!] dann hätten Sie sich kaum zur Wortführerin der Zweiflerinnen machen können. Sie hätten nämlich dann mein Streben vollkommen verstanden. Stattdessen nennen Sie mich ein ›Räthsel‹, ein ›Wunder‹, eine ›Auserwählte meines Geschlechts‹. Ein Räthsel -? Was that ich denn? Ich erwarb mir durch Studium Kenntnisse. Das kann Jeder. Ein Wunder -? Weil ich von dem Gegenstande meines Studiums ergriffen war? Das würde Jeder. Eine Auserwählte -? Weil ich meiner Ergriffenheit Worte verleite, um auch Andere zu begeistern? Es ist ein Tribut dankbarer Wahrheitsliebe. Das sollte Jeder. […] Nur deshalb ist leider Gottes solch ein Abstand zwischen mir und den ›Zweiflerinnen jüdischen und christlichen Glaubens‹ fühlbar, weil sie in Unkenntniß und deshalb in Gleichgiltigkeit verharren gegenüber der Geschichte und Religion des eigenen Volkes. Hätten insbesondere die Jüdinnen die Geschichte ihres Volkes kennen und lieben gelernt, sie würden es durchaus verständlich finden, dass ein theilnahmvoller [sic!] Mensch, gleichviel welcher Konfession, beim Kennenlernen derselben von Bewunderung erfaßt wird, denn die Weltgeschichte bietet kein zweites so fesselndes und rührendes Schauspiel dar, als in der Geschichte der Leiden und Religionstreue Israels, des einzigen Volkes, das den Glauben an den EinzigEinen-Gott, allein, aufrecht hielt und bewahrte. […] Meine christliche Herkunft und Erziehung machte mich nicht blind gegen das Ergebniß meines Studiums, mein Glaube hat sich desto selbstständiger entwickelt, je mehr mein vergleichendes Wissen zunahm. Ich gerathe dabei nicht in einen ›Konflikt‹, denn nie sind mir ›Dogmen‹, also Meinungen fehlbarer Menschen, ›heilig‹ gewesen; dergleichen habe ich stets kritisch geprüft, angenommen oder nicht, nach Auswahl und Ueberzeugung. Sie sehen, bei alledem ist nichts Wunderbares und Räthselhaftes, sondern einfache Wirkung unbefangener Selbstbelehrung und der natürliche Wunsch, das Gelernte, besonders, da es so Schönes und Gutes betrifft, Anderen mitzutheilen; ja dies erscheint mir als Pflicht bei der

857 N.N. 1893b: 212.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Erkenntniß, dass der so tiefbetrübende künstlich geschürte Rassenhass nur bei der allgemeinen blinden Unwissenheit möglich ist.«858 Somit wird Remys Motivation für ihr apologetisches Handeln deutlich, es ist der Versuch, diese Unkenntnis der Menschen über die jüdische Geschichte und das völlige Verkennen der jüdischen kulturellen Schätze, welche unter anderem in der jüdischen Literatur verborgen ruhen, zu beseitigen. Diese Unkenntnis habe Schuld daran, dass es Menschen gab und gebe, die sich von antisemitischen Vorurteilen haben überzeugen lassen und die projüdischen Stimmen, wie ihre, hinterfragen. Remy ist es bewusst, dass sie mit ihrem einzelnen Werk Das jüdische Weib nicht schafft, den Antisemitismus insgesamt zu bekämpfen. Doch ist ihr Engagement ein erster Schritt dahin, weitere projüdische Stimmen zu motivieren, aktiv zu werden. Allerdings sei das Ziel ihres Werkes nicht, einen Christen über eine ihm fremde Religion und ihre Lehre zu belehren, sondern die moderne jüdische Frau, die sich selbst vergessen habe. »Vollkommen Recht hat Frau Remy, wenn sie zu innigstem Anschluss an die Religion der Väter mahnt. Die Tatsachen mindestens sprechen für sie; wir sehen, wie unter der Emanzipation, die nur zu oft auch eine Befreiung vom Glauben bedeutet, die eigenartigen Vorzüge des jüdischen Familienlebens schwinden. Manches, dessen sich der Jude vordem innerlich freudig bewusst sein durfte, ist schon dahin. Ungern sähe man auch das Beste schwinden, sehe man das ausstreben, was man einmal unter dem Begriff: Ein jüdisches Weib, umfasste und verstand.«859 Der Rezensent des Jüdischen Literaturblattes860 bringt Remys ehrenwerte Leistung auf den Punkt: »Es ist ein Zeugnis für den hohen und edlen Sinn der Frau Remy, dass sie die echte Poesie des jüdischen Familienlebens erkannt hat, dass sie sich von dem äußeren Anschein prosaischer Nüchternheit, nicht hat verwirren lassen. Wenn wir es täglich sehen wie mächtig die Vorurteile gegen Juden und Judentum sind, wie selbst hochintelligente und durchaus redliche Menschen nicht völlig davon frei sind, so werden wir Frau Remy, die Christin dem Bekenntnis und der Abstammung nach, um so höher achten, dass sie erhaben über alle diese Irrungen dasteht, die so manchem das Urteil trüben; sie ist auch nicht voreingenommen zu Gunsten der Juden; aber allerdings ist sie erfüllt von einer heiligen Begeisterung für die Bibel, für das grosse Martyrium der Juden im Dienste der Religion, für die jüdischen Frauen, die die Wahrheit mehr als ihr Leben geliebt haben.«861

858 N.N. 1893b: 212f. 859 Remo 1896: 105f.: »Wahrlich, die Erfüllung jener Jesajanischen Prophezeiung scheint nahe, dass dereinst beim Zusammenbruche des idealen Volksbewusstseins Frauen dazu berufen sein würden, das Feuer der Liebe zur Religion wieder zu entfachen. Und heute haben wir es bereits so weit gebracht, das jüdische Frauen erst durch die Nichtjüdin an diese ihre Pflicht gemahnt werden müssen!« 860 Das Jüdische Literaturblatt erschien als Beilage der Israelitischen Wochenschrift (1870–1903). 861 B.R. 1891: 185f.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Die jüdische Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Lina Morgenstern (1830–1909), die in dem Werk Das jüdische Weib als bedeutungsvolle Persönlichkeit der Moderne genannt wurde, ehrt in ihrer Rezension Remys »bewundernswürdige Vertiefung in das Studium der hebräischen Sprache sowie in die Kulturgeschichte der Juden.«862 Der größte Teil der zeitgenössischen gebildeten Jüdinnen müsse sich nach diesem Werk beschämt fühlen, da sie erst dadurch kennenlernen, wieviel »Unbekanntes, Edles Erhebendes und Tüchtiges, aus ihrer Rasse hervorgegangen«863 sei. Vor allem seien die Aufzählungen der jüdischen Frauen interessant, »die sich aus Unwissenheit zur Wissenschaft und Gelehrsamkeit erhoben«, sowie die Jüdinnen, welche gleich nach Erfindung der »Buchdruckkunst Buchdruckereien anlegten, Setzerinnen wurden und in Dichtungen sich kund thaten.«864 Neben der positiven Bewertung vermerkt Lina Morgenstern allerdings bezüglich Remys geschilderten und bewerteten Leistungen der zeitgenössischen Jüdinnen Kritik. Denn bei der Schilderung des Lebens und Wirkens der Jüdinnen in der Gegenwart, in der Schriftstellerei, der Kunst und Humanität »fehle die bis dahin gerühmte Gründlichkeit der Verfasserin, wie ihre Objektivität. Auch hätte bei mancher Mitteilung die Quellenangabe eine genaue sein müssen.«865 So habe Remy vieles wörtlich aus dem von Morgenstern verfassten Werk Die Frauen des 19. Jahrhunderts entnommen, ohne dieses Buch dabei zu erwähnen oder unter den benutzten Quellen zu nennen.866 »Doch das sind Kleinigkeiten, die den Wert des rühmenswerten Buches durchaus nicht herabsetzen sollen.«867 Denn wichtiger als jegliche Plagiatsvorwürfe sei die Intention des Werkes, so Morgenstern. Denn »kein anderes [sei] so geeignet wie dies Werk, das Vorurtheil Andersgläubiger zu besiegen und die Schwankenden unter den Juden zur Treue an ihr Religionsbekenntnis und der Gemeinschaft zu mahnen, als dies Buch einer Christin.«868 Dieser Meinung schlossen sich der Rabbiner Moritz Güdemann (1835–1918) sowie der Literaturhistoriker Gustav Karpeles (1848–1909) an, die ebenfalls in der AZJ einen öffentlichen Plagiatsvorwurf aussprachen, »aber im Interesse der Sache«869 auf weiteres

862 Morgenstern 1891: 5: »Ein Werk von hoher Bedeutung und besonders verdienstvoll, da eine Christin es geschrieben, die ohne jedes Vorurteil und mit bewunderungswürdiger Gründlichkeit die Geschichte des Judentums studierte, in dem seelischen Bedürfnis, ein genaues Bild von der Eigenart, dem Charakter und der Geschichte der jüd[ischen] Frau zu geben.« 863 Morgenstern 1891: 6. 864 Ebd.: Remy gelang es aufzuzeigen, dass es eine Vielzahl an Jüdinnen gab, die sich beispielsweise im Mittelalter als Ärztinnen und Hebammen hervortaten. Lina Morgenstern orientiert sich an Remys gelisteten jüdischen Frauen und hebt beispielhaft Estelina Konat, Gütel Kohen, Czerna Meisels oder Sarah Jafu hervor. 1590 wurde in Venedig Sara Copia Sullam geboren, eine der bedeutendsten und interessantesten Frauen an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit. Vgl. auch Kap. II, 2.5. 865 Vgl. Morgenstern 1891: 6. 866 Ebd.: Beispielsweise sei der in ihrem Werk Das jüdische Weib zitierte Brief über Sarah Levy im Original an L. Morgenstern gerichtet und in ihrem Werk zum ersten Mal erschienen. Vgl. Morgenstern 1888. 867 Morgenstern 1891: 6. 868 Ebd. 869 Vgl. Karpeles 1891: Güdemann hatte 1859 veröffentlicht: Das Leben des jüdischen Weibes. Sittengeschichtliche Skizze aus der mischnisch-talmudischen Epoche. Abgedruckt bei H. Sulzbach, Breslau 1859

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Hinterfragen verzichteten. Remy reagierte allerdings prompt auf die Plagiatsvorwürfe der beiden Männer mit einem Antwortschreiben: »Auf die Reklamation der Herren Dr. Güdemann und Dr. Karpeles in voriger Nummer dieser Zeitung, dass ich ihre Werke benutzt, ›ohne sie zu zitieren‹, entgegne ich, dass ich von Dr. Gündemann überhaupt noch nie ein Buch gelesen oder auch nur gesehen habe. [Herv. i.O.] – Die jüdische Literaturgeschichte von Dr. Karpeles kam erst in meine Hand, als ich den letzten Revisionsbogen korrigierte und mich überzeugte, dass mein Kapitel: Sara Copia Sullam bereits Alles enthielt. Seine ›Frauen in der jüdischen Literatur‹ kenne ich auch heute noch nicht. Es wäre mir wünschenswert, durch genaue Belege zu ersehen, wie die geehrten Herren zu ihrer völlig irrtümlichen Behauptung gekommen sind, die mich um so peinlicher berührt, als ich grundsätzlich keine Zeile benutze, ohne mich dem Verfasser durch Zitierung seines Namens dankbar zu erweisen. [Herv. i.O.]«870 Zwar preist auch der Rezensent der Zeitschrift Der Israelit 871 , des Zentralorgans für das orthodoxe Judentum (1860–1938), Remys Buch als »vortreffliches, ausgezeichnetes Buch« kritisiert allerdings, »und das mit Nachdruck und Entschiedenheit, die gewiss von der modernen Bibelforschung irregeführten Anschauungen der Verfasserin über das Buch Esther (S. 94)«, sowie »eine Reihe von Versehen, die wir hier im Einzelnen nicht aufzählen wollen.«872 Aber auch hier verweist der Rezensent darauf, dass die angegebenen Kritikpunkte die »Anerkennung des Gesamteindruckes nicht schmälern«873 sollen. Denn kein anderes Buch, und Der Israelit wiederholt die zuvor genannten Gründe, sei »so sehr geeignet, in den Schwankungen und durch schlechtes Beispiel religiös Irregeleiteten der jüdischen Gemeinschaft das Ehrgefühl zu wecken und sie zum Verharren bei der alten Fahne zu ermuntern, als dieses Buch einer Christin.«874

5.2

Nichtjüdische Zeitungen und Zeitschriften

Remy notierte in ihrem Tagebuch von 1892: »Ich habe viele ausgezeichnete Kritiken über ›Das jüd[ische] Weib‹ erhalten. Was mich besonders freut und innig erquickt ist, dass

870 871 872 873 874

(28 S.). Karpeles veröffentlichte 1871: Die Frauen in der jüdischen Literatur, 1. Auflage 1871, 2. umgearb. Aufl. 1889. Remy 1891b. Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum (1860–1938). N.N. 1892a: 483. Ebd. Ebd. Vgl. dazu B.R. 1891: 185f. »Freilich muss es wohl um das Judentum nicht so schlimm bestellt sein, als Manche glauben oder sich zu glauben einreden, um ihren Abfall zu beschönigen, wenn ein solches Buch möglich ist, wenn unser Glaube, unser Grundbuch, unsere Geschichte so viel treue Teilnahme in einem Herzen erregt, das nicht in jüdischen Überlieferungen erzogen ist. […] Gegenüber solchen Vorzügen widerstrebt es uns, Kleinigkeiten herauszusuchen, die vielleicht nicht ganz correkt sind, um dadurch unsere Überweisheit leuchten zu lassen. Das wäre nicht Kritik, sondern Krittelei.«

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

fast Alle – trotz einzelner Schroffheiten meines Buches – meine Gemütsinnigkeit und meine Weiblichkeit erkennen. [Herv. i.O.]«875 Von all den günstigen Besprechungen hebt sie ausdrücklich die des Neuen Evangelischen Gemeindeboten876 von 1892 hervor, die den »Hauch edelster Weiblichkeit« sowie ihre »tiefreligiöse Auffassung«877 im ganzen Werk anerkennend betonte. In ihrem Werk seien die edelsten Charakterzüge der jüdischen Frau geschildert: »die Sorge der jüdischen Frau für alle häuslichen und geschäftlichen Angelegenheiten, die Pflege und Erziehung der Kinder«878 sowie auch das liebenswürdige Temperament derselben. Dabei wird vom Neuen Evangelischen Gemeindebote anerkennend hervorgehoben, dass es Remy gelungen sei, anhand einer ausführlichen Liste sowohl von alttestamentlichen Frauengestalten als auch von Vertreterinnen des Judentums neuerer Zeit zu belegen, dass stets »der höchste Beruf des [jüdischen] Weibes, Mutter, Ehefrau und Gefährtin des Mannes in Freud und Leid, in Arbeit und Leben zu sein«879 war. Erstmalig wird auch von christlicher Seite das erhebliche Ziel ihres Aufklärungswerkes erkannt und gewürdigt, dass das Werk auch für »christliche Leser von außerordentlichem Interesse«880 sei. Denn es sei »in gegenwärtiger Zeit der antisemitischen Verhetzung gegenüber angebracht, darauf hinzuweisen, wie tief die moderne christliche Auffassung der Ehe ihre Wurzeln im Judentum und im Alten Testament hat.«881 Bezüglich Remys scharfer Kritik gegenüber den »abtrünnigen« Jüdinnen des 19. Jahrhunderts wird in dieser christlichen Rezension »voll und ganz […] den Warnungen vor einem leichtfertigen und un[überlegten] Übertritt zum Christentum«882 zustimmt. Während in Moritz Lazarus’ Vorwort zum Werk Das jüdische Weib Remys negative neutestamentliche Darstellung der christlichen Frau und Ehe völlig ausgeblendet wird, wird im Neuen Evangelischen Gemeindeboten darauf kurz eingegangen. »Etwas schlecht kommen die Frauen im Neuen Testament fort. Heut [sic! 1892] wird die einseitig paulinische Auffassung der Ehe und der späteren Kirchenväter zu scharf gefasst und auch Jesu Auffassung von der Unverbrüchlichkeit der Ehe nicht in ihrer prinzipiellen Bedeutung gewürdigt.«883

875 The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch: Jan. 1892, Arc.Nr. 01 135: »Die Frau als Dichterin und Schriftstellerin ist eine weitaus häufigere Erscheinung geworden als in früheren Jahrhunderten, und eine eigenartigere. Während früher die schriftstellernden Frauen bestrebt waren, männlichen Vorbildern zu folgen, während es ihnen als der höchste Ruhm galt, wie ein Mann zu schreiben, so hat die moderne Dichterin zumeist als Weib der Welt etwas zu sagen und ist sich ihrer speziellen Befähigung als Darstellerin weiblichen Denkens und Empfindens bewußt.« Vgl. dazu Schlesinger-Eckstein 1902: 57. 876 Neuer Evangelischer Gemeindebote. Herausgegeben von Prediger Rhode in Berlin. 877 N.N. 1891d, enthalten in: The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch: Jan. 1892, Arc.Nr. 01 135: »Es weht ein Hauch edelster und idealster Weiblichkeit durch das ganze Werk: eine tiefe religiöse Auffassung des Verhältnisses des Weibes zum Manne und der Ehe, als der gottgewollten Naturordnung«. 878 Ebd. 879 N.N. 1891d. 880 Ebd. 881 Ebd. 882 Ebd. 883 Ebd.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Während die Rezension des Neuen Evangelischen Gemeindeboten sich positiv über Remys Werk äußert und ihre kritischen Äußerungen bezüglich der neutestamentlichen Stellung der Frau und Ehe verständnisvoll akzeptiert, wird in der folgenden Rezension der Danziger Zeitung884 Remys Bild der jüdischen Frau völlig in Frage gestellt. »Dieser herzliche Antheil, den die Verfasserin an dem jüdischen Frauenleben nimmt, [habe] sie zuweilen zu Vorurteilen nach der anderen Seite geführt, und es wäre zu wünschen, dass sie das 2. Kapitel ihres Werkes (christliche Auffassung vom Weibe in der Ehe) einer recht gründlichen kritischen Durchsicht unterzöge und so die unterschiedslose Zusammenwürfelung von Ausführungen der Evangelien, Aposteln und Kirchenvätern vermiede.«885 Sie habe sich so sehr in das Thema verliebt, dass sie sich »durch den Glorienschein, der Tradition und den Mythos um einige antike Frauengestalten gewoben, blenden«886 ließ. Ihr Buch wird daraufhin, »wie das ›Journal d’Alsace‹ richtig bemerkt, [als] ein Dithyrambus zu Ehren des jüdischen Weibes«887 beschrieben. In den Westermanns Monatsheften wird der besagte Lobeshymnus auf die Jüdin ebenfalls kritisch aufgenommen, indem darauf hingewiesen wird, dass Remy angeblich nicht wisse, »dass bei anderen Völkern in gleicher Lage den armen Frauen noch viel mehr zugemutet [werde], und was sie mit derselben schweigenden Hingabe und Liebe für ihre Kinder thun [würden]. Ein geistreicher Mann wäre imstande, aus dem Buch in wenigen Tagen ein neues Werk mit dem Titel Die deutschen Frauen, Die Frau bei den Romanen, Japanern u.s.w. herzustellen – er brauchte für die angeführten Personennamen nur andere, entsprechende zu setzen. [Herv. i.O.]«888 An dieser Rezension wird deutlich, dass die Intention ihres Werkes als Aufklärungswerk vom Rezensenten der Westermanns Monatshefte nicht verstanden wurde. Sie verschweigt nicht die Tatsache, dass es ebenfalls in anderen Kulturen Frauen gab und gibt, die Wesentliches für ihre Familien und die Kulturarbeit leisteten, sondern betont vielmehr, dass die jüdische Frau zur Zeit des Talmuds eine etwas angesehene Stellung innehatte als zeitgenössische Frauen anderer Nationen. Ihr Ziel war vor allem nachzuweisen, dass es entgegen der gängigen judenfeindlichen Meinung auch jüdische Frauen gab und gibt, die innerhalb ihrer religiösen Gemeinschaft geachtet wurden und sich durch besonderes Verhalten als Mutter und Ehefrau sowie im sozialen Engagement hervorgehoben ha-

884 Die liberale Danziger Zeitung bestand von 1858–1930. Seit 1893 bis 1919 war Dr. Balduin Herrmann (1856–1932) Chefredakteur des Blattes. 885 R. 1892. 886 Ebd. 887 Ebd. 888 N.N. 1893c: »Das Kapitel ›Im finsteren Mittelalter‹ läßt gar wohl noch eine andere Beleuchtung zu: gesündigt wurde nicht bloß auf der einen Seite; das Genauere gehört in eine noch nicht geschriebene Geschichte der ›auri sacra fames‹, die wir als tragisches Kunstwerk in Wagners Ring des Nibelungen besitzen.«

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ben.889 Allerdings stößt sie immer wieder auf ähnliche Kritiker, die ihr unter anderem unterstellten, dass ihr geschichtliche Kenntnisse sowie die Unbefangenheit des Blicks fehle, um über die Jüdin wahrheitsgetreu schreiben zu können. Aus diesem Grund werde es »die Verfasserin […] nicht wünschen, dass wir das Buch ernst nehmen.«890 Um die historische Zuverlässigkeit des Werkes weiter zu diskreditieren, führt der Rezensent des Grenzboten891 die Äußerungen der zwei Historiker Wilhelm Roscher (1817–1894) und Karl Adolf Menzel (1784–1855) ran, die es mit der Wahrheit »genauer«892 nehmen. »Als die volkswirtschaftliche Unentbehrlichkeit der Juden aufhörte und ein nationaler Handelsstand aufzublühen begann, da begannen auch die Judenverfolgungen: sehr gegen den Willen der Kirche, aber vorzugsweise von kaufmännischer Eifersucht der Städte geschürt. Also für die meisten Länder im Zeitalter der Kreuzzüge [d.h. also in der zweiten Hälfte des Mittelalters]; in Deutschland seit 1096.«893 Aus den Einzelheiten, mit denen Roscher die Lage der Juden in der ersten Hälfte des Mittelalters charakterisierte, führt der Rezensent folgendes für seine Gegenargumentation an: »Selbst unter Heinrich II. (dem Heiligen!) konnte ein herzoglicher Kaplan zum Judentum übertreten, ohne andre Strafen als eine gelehrte Widerlegung. Noch Heinrich IV. setzte 1090 in einem Speierschen Privilegium für die Verwundung eines Juden ein höheres Wergeld fest als der Sachsenspiegel für die eines Ritterbürtigen. In Paris besaßen die Juden die Hälfte alles Grundeigentums. Die große judenstatistische Reise des Benjamin von Tudela klagt über schlechte Behandlung der Juden eigentlich nur in Byzanz.«894

889 Remy 1893d: 21: »Daher sehen wir d. Jüdin eine Würde u. Unabhängigkeit gewahrt, wie bei keiner and. Nation damaliger Zeit. […] desshalb ist auch ihre Auffassung des Weibes eine durchaus höhere, als man sie sonst – damals – fand! [Herv. i.O.]« 890 N.N. 1893a: »dass sie nicht correct deutsch schreiben kann, ist ihr ja hinlänglich gesagt worden. Hat denn Professor M. Lazarus das Buch nicht gelesen und corigirt? Sonst müsste man aufs neue grammatische Lectionen ertheilen.« 891 Die Grenzboten war ursprünglich eine national-liberale Zeitschrift (1841–1922), die mit der Übernahme der Redaktion von Johannes Grunow (1845–1906) 1878 eine konservative Richtung annahm. 892 N.N. 1894a: 413: »Als Probe für die historische Zuverlässigkeit des Buches wählen wir drei Sätze aus, [die mit widerlegt werden sollen]: ›Es ward zum Dogma erhoben, dass Juden zu töten Christenpflicht sei.‹ (S. 112). ›Die ausschließlichen Regisseure der Judenverfolgungen sind die Bischöfe, diese eigentlichen Träger der Borniertheit, Unwissenheit und Unsittlichkeit unter den Christen, als die sie sich von Anfang an erweisen.‹ (S. 114.) ›Die grauenhaften Zeiten in der ersten Hälfte des Mittelalters lassen keine freiere Regung im Leben der jüdischen Frau aufkommen. Man begegnet kaum anderswo einem Namen, als bei der Folter und Autodafés.‹ Die Autos haben bekanntlich 1481, also am Ende der zweiten Hälfte des Mittelalters ihren Anfang genommen. Das zweite der drei angeführten Sätzchen ist einer Schrift von Schleiden entnommen.« Vgl. dazu die Werke Roscher, Wilhelm: System der Volkswirtschaft. Sieben Bände, 24. Auflage 1854–1906; Menzel, K.A.: Die Geschichten der Deutschen, 12. Bände. Breslau 1817. 893 Zitiert von W. Roscher aus dem dritten Bd. seines Werkes System der Volkswirtschaft: 140, in: N.N. 1894a: 414. 894 Ebd.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Menzel, der in seinem Buch die Judenfrage des frühen Mittelalters ausführlich behandle, habe fundiert belegen können, wie die Gesetzgebung der christlichen Kaiser seit Konstantin gegen die Juden mehr und mehr in eine Gesetzgebung für die Juden umschlug, und welche gewaltige Machtstellung die Juden dann im fränkischen Reich gleich von Anfang an eingenommen hätten.895 Des Weiteren habe Menzel herausstellen können, dass die Juden seit der Diaspora und bereits vor dem Untergang ihres Staates eine »mächtige Handelsgesellschaft«896 gewesen sei, was seine scheinbar so wunderbare Erhaltung erkläre. Die Juden hätten einen »schwunghaften Sklavenhandel mit Christenkindern« nach den Sarazenenländern betrieben, was unter anderem vom Rezensenten als Beweis herangezogen wurde für die »verschlagene Neigung« der Juden, die »eifrigen Christen zu erbittern und die weniger frommen zum Übertritt ins Judentum zu verleiten«897 . Remys Bericht und Aussagen über eine Gerichtsverhandlung gegen eine Berliner Arbeiterfrau, die der Misshandlung ihrer Tochter angeklagt wurde, wurden vom Rezensenten des Grenzboten herangezogen, um die Relevanz der zeitgenössischen Judenfrage zu untermauern.898 »Damit hat die Verfasserin unbewußterweise den Kern der Judenfrage bloßgelegt. Wie kommt es, dass jüdische Frauen das durchsetzen können, ihre Kinder nicht in die Fabrik zu schicken? Die Verfasserin hat im ersten Kapitel gezeigt, wie die Sklavenarbeit dem Griechen seinen freien heitern Lebensgenuss möglich machte. Nun, bei uns ist es die Schmutz- und Rackerarbeit ›freier‹ Arbeiter, die den höhern Ständen ermöglicht, des Lebens froh zu werden, sei es in edlere angenehmere Beschäftigung, sei es im Genusse. Nun gehören die Juden bei uns durchweg dieser zweiten begünstigten Klasse an; kein Jude geht in die Fabrik, kein Jude steigt in den Kohlenschacht, kein Jude arbeitet als Tagelöhner oder Kleinbauer, kein Jude und keine Jüdin dient als Knecht oder Magd, keine Jüdin giebt sich zur Dirne her, obwohl, wie uns von Kundigen versichert wird, 895 Zitiert wurde aus Menzels Werk Die Geschichten der Deutschen. Bd. 2: 544ff, in: ebd. 896 Zitiert aus Menzels Werk Die Geschichten der Deutschen. Bd. 2: 544ff, in: N.N. 1894a: 414f.: »Während die übrigen Landesbewohner der Last des Kriegsdienstes erlagen, und ihr zu entgehen, scharenweise in Leibeigenschaft traten, trieben die Juden, durch das Gesetz des Honorius von dieser Verbindlichkeit frei, einträgliche Handelsgeschäfte; während die Kirche von den Christen den Zehnten, die kaiserlichen Grafen aber das schwere Lösegeld des Heerbanns erpressten und das Joch hundertfältiger Abhängigkeiten und Dienstpflichten auf ihren Racken legten, blieben die Juden allein, gleich den höchsten Reichsbeamten, unmittelbare Untertanen des Kaisers, in der allgemeinen Knechtschaft der Welt fast die einzigen Freien. Hierzu nehme man den Druck der kirchlichen Zeremonialgesetze, die zum Teil mit Geldstrafen, Schlägen und Gliederverlust verpönte Verpflichtung zum Fasten und zum Gottesdienst, und man wird es nicht wunderbar finden, dass die Synagogen einigen ersehnte Zufluchtsörter schienen, von der Mehrzahl des Volkes aber mit den Augen des Neides und der Erbitterung angesehen wurden.« 897 Ebd. 898 Remy schrieb diesbezüglich in ihrem Werk: Lazarus 1896: 199: »Ich wage es zu behaupten, dass keine jüdische Mutter solcher Unnatur fähig ist. Ich glaube nicht einmal, dass eine jüdische Mutter ihr Kind in die Fabriken schickt. Ist die Not zu bitter, dann trennt sie sich eher mit blutendem Herzen von ihrem Kinde und schickt es ins israelitische Waisenhaus, wo es eine tüchtige Erziehung erhält.« Es wird deutlich, dass Remy in ihrem Bestreben die jüdische Frau zu verteidigen, stellenweise dazu neigte, einige Lebensbeispiele idealisierend darzustellen, was zu ihrem Nachteil ausgelegt wurde. Vgl. dazu auch N.N. 1894a: 414f.

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sehr viele jüdische Herren und Judenjungen sehr viele christliche Mädchen zu Dirnen machen. Wie kommt das? Das ist die Judenfrage!«899 Abschließend versucht der Rezensent verständnisvoll Remys ›Verirrung‹ durch eine unvollständige und parteiische Betrachtung der historischen Verhältnisse zu erklären. »Psychologisch unbegreiflich ist die Verirrung der Dame durchaus nicht. Sie hat von einigen grauenvollen Judenverfolgungen gelesen, sie hat für die Verfolgten leidenschaftlich Partei genommen, diese sind ihr Idealmenschen geworden, und wer sucht, der findet leicht, was er sei seinen Zweck brauchen kann, in allerlei Büchern. Was andre Menschen Gutes getan und Schlimmes erlitten haben, das wird darüber vergessen.«900 Jedoch habe das Werk nach dem Rezensenten des Grenzboten auch etwas Wertvolles, zum einen »die aus wenig zugänglichen Quellen genommenen Mitteilungen über merkwürdige Jüdinnen alter und neuer Zeit« und zum anderen habe es eine Verfasserin, dessen Arbeitsenergie »achtungswert« sei, da »sie sogar den Talmud studiert und zu seinem bessern Verständnis Hebräisch gelernt [habe] – und ihr idealer Eifer. Das Buch im ganzen aber [werde] mehr Schaden anrichten, als Nutzen stiften, denn es ist eine übertreibende und teilweise unwahre Verherrlichung nicht bloß des jüdischen Weibes, sondern des Judentums überhaupt auf Kosten aller anderen Völker und Religionen.«901 Im Gegensatz zu solchen antijüdischen Rezensionen gab es, wie bereits zu Anfang vorgestellt, auch Stimmen, die Remys apologetisches Statement verstanden und anerkannt haben. So klingt beispielsweise die Buchbewertung in der links-liberalen Tageszeitung Berliner Börsen-Courier 902 wieder etwas positiver: »Das jüdische Weib – betitelt sich ein mit der Gründlichkeit und Tiefe des Gelehrten, mit der Frische und Lebendigkeit des Dichters und dem Feingefühl der Frau geschriebenes Buch, von Frau Remy, das soeben im Verlage von G. Laudien in Leipzig erschienen ist.«903

899 Ebd.: 415. 900 N.N. 1894a: 415: »Dazu kommt, dass die Verfasserin, moderne Ansichten über die Stellung der Frau huldigend, die christliche Auffassung der Ehe empörend und im Judentum auch ihr Eheideal verwirklicht findet; alttestamentliche Geschichten, die dazu nicht passen, werden einfach übersehen.« 901 Ebd.: 413. Der Rezensent kritisiert im letzten Satz der Rezension auch Remys selektive Nutzung von Quellen. Vgl. dazu auch Kap. II, 5.1. 902 Der Berliner Börsen-Courier (1868–1933) war eine linksliberale Tageszeitung, mit dem jüdischen Chefredakteur George Davidsohn (von 1868 bis 1897). 903 N.N. 1891b. Siehe auch: N.N. 1891a: Auch in der bürgerlich-liberalen Vossischen Zeitung, für die Remy zu der Zeit bereits jahrelang arbeitete, wird ihr Werk als ein »sehr zeitgemäßes Buch von hohem sittlichen Ernst und unbefangenem Urteil, manchem gewiß unbequem, wie jedes Ringen nach der Wahrheit,« beurteilt. Vgl. dazu Lazarus-Remy 1927b: 131.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Der Rezensent A.S. der Frankfurter Zeitung904 verweist darauf, dass trotz der vielen größeren Werke und kleinerer Schriften über Stellung, Ansehen und Wertschätzung der jüdischen Frau innerhalb ihrer Gemeinschaft und deren Literatur das »frühere landläufige Urtheil über deren Zurücksetzung und Mißachtung [nicht] gänzlich aus der Welt geschaffen [werden konnte], […] und wahrscheinlich liegt der Grund hierfür in der Thatsache, dass es jüdische Schriftsteller waren, welche sich um die Richtigstellung des Urtheils Mühe gaben, und die man natürlich nicht frei von Parteilichkeit hielt.«905 Wie Moritz Lazarus sieht der Rezensent A.S. in Remys projüdischem Engagement vor allem den Vorteil, dass sie aus der Sicht einer christlichen Frau spricht und urteilt. Sie könne dadurch freier sprechen als es ein jüdischer Autor damaliger Zeit gedurft hätte, und vor allem könne sie »unerschrockener die Anschauung verfechten, dass, umgekehrt von der Anschauung, die gang und gäbe ist, es habe das Christenthum die Stellung der Frau gehoben, es gerade dieselbe gedrückt hat.«906 Im liberalen Leipziger Tageblatt 907 und Berliner Tageblatt 908 wird ihr Werk vor allem für die jüdischen und christlichen Leserinnen als lesenswertes Buch erachtet: »Die ersteren werden gar Vieles aus dem Buche lernen, das ihnen notthut, und die letzteren werden vielleicht manches Vorurteil ablegen, das sie gegen die jüdischen Frauen seit unvordenklichen Zeiten genährt.«909 Sie sei nach keiner Richtung hin zu Zugeständnissen bereit und spreche in ihrem Werk »frei heraus mit ihrem Urteil«, womit sie schonungslos die Schwächen aufdecke, die sie »an dem jüdischen Weibe, namentlich an dem modernen«910 , finde. Trotz scharfer Kritiken vor allem vonseiten antisemitischer Autoren wird Remy von den meisten christlichen Rezensenten als Verfasserin eines populärwissenschaftlichen Werkes über die jüdische Frau wertgeschätzt und ihre apologetischen Intentionen werden anerkennend aufgenommen.911 Denn durch ihr »gründlich und trefflich verwertetes Quellenstudium« sei

904 Die Frankfurter Zeitung (1856–1943) wurde nach der Reichsgründung 1871 eine der wichtigsten außerparlamentarischen liberal-bürgerlichen Stimmen. Der damalige Eigentümer der Frankfurter Zeitung war der jüdische Verleger Leopold Sonnemann (1831–1909). 905 A.S. 1891. 906 A.S. 1891. 907 Das Leipziger Tageblatt war eine liberale Zeitung (1807–1925), mit dem jüdischen Chefredakteuren Dr. Carl August und David Fest (1821–1831). 908 Der Jude Rudolf Mosse (1843–1920) gründete das linksliberale Berliner Tageblatt (1872–1939), das überregional gelesen wurde. 909 Lazarus 1896, Anhang: Zitatausschnitt aus dem Berliner Tageblatt (1892). Vgl. dazu M.-e. 1891: »Dieses vielleicht einzig dastehende Werk ist in erster Linie für jüdische Leserinnen bestimmt und will ein Mahnruf an sie sein, den uralten Traditionen ihrer eigenartigen Cultur treuer anzuhängen, sich ihrer mehr bewußt zu bleiben, als sie jetzt dazu geneigt scheinen.« 910 Zitiert nach einem Ausschnitt im Anhang ihres Werkes, was vom Verlag für Werbezwecke angehängt wurde, in: Lazarus 1896. 911 M.-e. 1891: »Dies ist doppelt bemerkenswerth, da sie selbst Christin ist.« Vgl. dazu die Rezension des Berliner Tageblatt. 1892. Zitiert in: Lazarus 1896, Anhang: »Man freut sich ob solch einer tapferen Gesinnung, und man mag nur wünschen, dass es dieser vortrefflichen litterarischen Gabe nicht an verständnisinnigen Lesern fehle.«

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ihr Werk Das jüdische Weib auch für die »weitesten Kreise interessant und [werde] gleichzeitig manches aus Unkenntniß der thatsächlichen Verhältniße herrührende Vorurtheil besieg[en].«912

6. Vorträge, Publikationen und Publikationsprojekte Remy beabsichtigte mit ihren weiteren populärwissenschaftlichen Schriften sowie ihren gezielten öffentlichen Vorträgen (s.Kap. II, 6.1) zum einen die antisemitischen Behauptungen wie beispielsweise, dass die jüdische Bevölkerung eine Bedrohung für die gesellschaftliche und nationale Entwicklung des deutschen Volkes sei, zu widerlegen,913 zum anderen ihre jüdischen und vor allem nichtjüdischen Leser und Zuhörer bezügliches der jüdischen Kultur und Religion aufzuklären. Dazu nutzte sie insbesondere ihre schriftstellerischen sowie rhetorischen Fähigkeiten, da sie ihr apologetisches Engagement als Pflicht ansah, um antisemitische Vorurteile sowie blinden Hass gegen die Juden zu bekämpfen. »Anfang der 80er Jahre bestimmte mich die in meiner Geburtsstadt Berlin auftauchende Anfeindung der Juden zu Studien über dieses so interessante Volk. Ich lernte die hebräische Sprache, verschaffte mir Zeit- und Streitschriften für und wider Israel und vertiefte mich in die einschlägige Literatur. Da bemerkte ich eine grosse Lücke. […] Von dem Bewusstsein durchdrungen, dass jeder Einzelne Pflichten für die Gesammtheit hat, versuchte ich es, den Anfang zu einem solchen Werk zu schaffen, um der Unwissenheit zu begegnen, das Verständnis, also die Verständigung zu fördern.«914 Das daraufhin entstandene Werk Das jüdische Weib erhielt als erste ihrer seit 1891 veröffentlichten »Verteidigungsschriften«915 vor allem vonseiten der jüdischen Leserschaft viel Anerkennung und Wertschätzung.916 Daneben nutzte sie ihren Übertritt zum Judentum als Mittel, um sich bewusst in der Öffentlichkeit für das Judentum auszusprechen

M.-e. 1891. Vgl. dazu Berliner Tageblatt. 1892. Zitiert in: ebd.: »Wertvoll ist es insofern, als Frau Remy ihren Stoff ganz beherrscht, und nicht nach flüchtig Studiertem, sondern nach selbst Erlebten, selbst Beobachtetem eine Portrait-Skizze des jüdischen Frauen-Typus entwirft, wie wir sie so treffend ähnlich noch bei keinem Schriftsteller gefunden haben. Sie kennt das jüdische Volk zu allen Zeiten und in allen Ländern, sie kennt seine Individualität, seine Schwächen, Größen, Tugenden, Laster, Eigenheiten, ja mehr – den Ursprung derselben. Daher ist das Werk als Beitrag zur Kulturgeschichte hochbedeutend.« 913 Man beschuldigte die Juden der geschäftlichen Ausbeutung des Landes und des Bevölkerungsbetruges (Geldwuchers), der Erzeugung der nationalen wirtschaftlichen Not sowie der aktiven Teilnahme an antichristlichen Bestrebungen. Vgl. Kap. II, 3. 914 Lazarus 1898a, Vorwort. 915 Ebd.: 203: »Im Grunde war sie darüber erfreut, dass ein christlicher Geschäftsmann der herrschenden Richtung Lust und Muth zu einer Vertheidigungsschrift der Juden besaß; denn, dass es eine Vertheidigungsschrift werden musste, auch ohne jede apologetische Nebenabsicht, ergab sich aus dem Thema selbst.« 916 Vgl. Kap. II, 5. Auch wurde Remys Werk Das jüdische Weib immer wieder in christlichen Zeitschriften, wie in der Münchner illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben Die Jugend von 1900, positiv erwähnt oder Abschnitte daraus zitiert. Siehe dazu Schmidhammer 1900: 11.

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und einzusetzen, was im nachfolgenden Kapitel III: Konversion als Konsequenz ihrer apologetischen Handlungen genauer untersucht werden wird. Wie der bekannte Biologe und Naturforscher Matthias Jacob Schleiden (1804–1881), dessen Werke einen großen Einfluss auf Remy hatten, habe sie bei ihren autodidaktischen Studien zu ihrem populärwissenschaftlichen Werk Das jüdische Weib erstaunt festgestellt, dass auch Juden aktiv Anteil an der kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung genommen haben, was in den zeitgenössischen Geschichtswerken »stillschweigend übergegangen«917 wurde. Dadurch angeregt, hatte sie, ihrem inneren Wahrheitsdrang folgend, ihre ersten Studien über die jüdische Geschichte und Traditionen in ihrem Werk Das jüdische Weib veröffentlicht sowie in ihren daran anknüpfenden Vorträgen öffentlich vorgetragen, um dem Judentum und dem jüdischen Schrifttum Anerkennung zu erweisen. Nach einem Vortrag in Holland im Januar 1894 notierte sie in ihrem Tagebuch: »dass im toleranten Holland auch insgeheim Antisemitismus herrschte, überraschte mich und je wärmer holländische Zeitungen meine aufklärende und versöhnende Wirksamkeit rühmten, desto mehr bedrückte mich die Frage: Ist es denn ein so Grosses die Wahrheit zu sagen und gerecht zu sein?«918 Anlässlich ihres ersten Vortrages über die Nächstenliebe im Alten Testament in Prag am 17. Dezember 1892 wurde ihr 18. Kapitel über Die Jüdin der Gegenwart aus ihrem Werk Das jüdische Weib in einer jüdischen Zeitung abgedruckt, »damit die Leser sich einen Begriff machen können, mit welcher Gründlichkeit jene berühmte Christin das Wesen des Judenthums erfasst [habe und] mit welcher Unparteilichkeit sie dasselbe beurtheile.«919 Remy verwertet ihre Studien zum jüdischen Weib in ihrem am 10. Dezember 1893 in Landsberg a.d.W. gehaltenen Vortrag Das Weib im Talmud.920 Fast zehn Jahre später wird derselbe wortwörtlich unter dem Titel Die Frauen und der Talmud von Nahida Ruth Lazarus im Israelitischen Familienblatt veröffentlicht.921 Ihre kulturhistorischen Erkenntnisse bezüglich des Mehrwertes der jüdischen Schriften bringt Remy vor allem in ihrem Vortrag Was ist der Talmud? (1893) heraus. Das dazu gehörige Vortragsmanuskript wurde ebenfalls wortgetreu auf Deutsch und in englischer Übersetzung in der The Menorah veröffentlicht.922 Des Weiteren verarbeitet sie ihre Erkenntnis, dass das Judentum Humanität zeige, in ihrem Vortrag über Die Nächstenliebe im Alten Testament (Dezember 1892). In ihren Notizen wird thematisch auch an ihrer ersten Vortragsreihe (25. Dezember 1892 bis zum 9. Januar 1893) über das Gebet in der Bibel (I.) und im Talmud (II.) angeknüpft, welche zwar als Manuskript in ihrem Nachlass nicht mehr vorhanden ist, aber als Abhandlung

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Lazarus 1898a, Vorwort. M.J. Schleiden (1804–1881), als Biologe und objektiver Denker bekannt, hatte zwei Werke veröffentlicht, in denen er, ebenfalls als Nichtjude, voller Anteilnahme von den unvergleichlichen Verfolgungen und Diskriminierungen der Juden sowie von seiner begeisternden Anteilnahme an der Kultur und Wissenschaft des jüdischen Volkes spricht, die vor allem Remys Interesse weckten. Vgl. dazu Schleiden 1877; Schleiden 1878. Lazarus-Remy 1927b: 148. Quelle unbekannt. Der Kapitelabdruck betitelt mit Die Jüdin der Gegenwart von 1892: 278f. findet sich In: The National Library of Israel, Department of Archives: Newspaper clippings on »Das jüdische Weib«, Arc.Nr. 01 130. Vgl. Stern 1879; Kap. I, 2.2.3; s.TL. Lazarus 1903a: 11f. Remy 1895.

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Gebet in Bibel und Talmud im Mai 1892 abgedruckt wurde.923 Die Abhandlung Gebet in Bibel und Talmud umfasst 43 Seiten und wurde ursprünglich als ein Kapitel eines größeren Werkes konzipiert, das im Herbst 1892 erscheinen sollte.924 Im selben Jahr erschien die Abhandlung allerdings zunächst in zweiter Auflage und floss, wie anfangs geplant, dann 1893 in das umfangreiche Werk Culturstudien über das Judenthum mit ein, das im Apolant Verlag veröffentlicht wurde.925 Jedoch wurden vom Verleger Emil Apolant (1846–1903) zunächst einige Veränderungen gewünscht, zu denen sich Remy schweren Herzens bewog: »Auf seine [Apolants] Veranlassung einige allzu aufrichtige Stellen gemildert. Immer schreien sie nach Wahrheit und sagt man sie, werden sie uns Feind.«926 Schließlich erschien die Abhandlung 1898 als zweite Auflage ihrer Culturstudien unter dem Titel Das jüdische Haus, das als dreibändige Reihe erscheinen sollte.927 Das Werk besteht aus 13 Kapiteln, die folgende thematische Schwerpunkte aufgreifen: 1. Tägliche Andacht, 2. Fragliches, 3. Princessin Sabbath, 4. Sittenlehre als Gottesdienst, 5. Weltgerichtstag und Versöhnungsfest, 6. Ostern, Pfingsten, Laubhütte und Tempelweihe, 7. Purim und Neumondstag, 8. Seelenfeier und Segensspruch, 9. Das Gebet in der Bibel, 10. Das Gebet im Talmud, 11. Hymnen, 12. Die heilige Sprache und 13. Ein Blick in christliche Gebetbücher. Bereits am Inhalt wird Remys methodische Herangehensweise auch innerhalb dieser Verteidigungsschrift deutlich, siehe Kap. 6 und Kap. 13. Wie bei ihrem ersten populärwissenschaftlichen Werk Das jüdische Weib nutzt sie auch hier die Methodik des Vergleichs, um die gängigen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum zu revidieren oder gerade herauszustellen. So werde beispielsweise am Priestersegen, der zu einem der berühmtesten Erbauungsworte der christlichen Kirche geworden ist, der ethische Grundgedanke des jüdischen Glaubens deutlich: »›Es segne Dich der Ewige und behüte Dich, es lasse der Ewige sein Antlitz Dir leuchten‹ [Num 6,24-26] – u.s.w. […]: es gibt sittliche Forderungen, die kein Maass haben; kein 923 Remy 1892a: Es handelt es sich vermutlich um die Veröffentlichung von Remys Vortragsreihe zum Thema Gebet in Bibel und Talmud, die sie in zwei Schwerpunkte (1. Das Gebet in der Bibel: Religiöse Gebräuche und 2. Das Gebet im Talmud: Volkssitten) zergliedert, und am 22. Apr. 1892 zum ersten Mal in Berlin vorgetragen hatte. Vgl. Kap. I, 2.2.3. Ihre weiteren Vorträge, die sie thematisch vor allem ihrem Übertritt zum Judentum (Mein Seelenkampf (1897); Warum ich Jüdin wurde (1897) widmet, werden im folgenden Kap. III, 2.2 mitberücksichtigt. 924 Remy 1892a, Vorwort des Verlegers: Das geplante Werk sollte unter dem Titel Die jüdische Volksseele in drei Bd. erscheinen: 1. Bd.: Gebete der Juden. 2. Bd.: Gebote der Juden. 3. Bd.: Gebräuche der Juden. Siehe auch: Lazarus 1912: 4, Spalte 1: »Die totale Gleichgültigkeit der Juden hat mich gehindert, die zwei letzten Bände zu schreiben. Sie sind tot noch ehe sie geboren wurden.« 925 Remy 1893b. 926 Lazarus-Remy 1927b: 140: Im Juni 1893 wurde unter anderem das 3. Kap. Prinzessin Sabbath aus ihren Culturstudien über das Judenthum in der Israelitischen Hausfrauen-Zeitung veröffentlicht. Vgl. Remy 1893c: 297f. 927 Vgl. Lazarus, Nahida Ruth: Das Gebet in der Bibel, in: Lazarus 1898a: 195–119. Sowie Lazarus, Nahida Ruth: Das Gebet im Talmud, in: ebd.: 220–241. Weitere Bände sind jedoch nie erschienen. Nahida Ruth Lazarus notierte in ihrem Begleitschreiben zu ihrer Abhandlung Eine Frage an unsere jungen Jüdinnen von 1912: Lazarus 1912: 4, Spalte 1: »Lazarus war über dieses mit meinem Herzblut geschriebenen Buch so begeistert, dass es zum Teil die tiefere Ursache war, dass er es wagte sein Leben an das meine zu knüpfen … Die Juden kennen das Buch kaum. Sie haben es nicht beachtet, obwohl sie mich schon als Verfasserin des Buches das ›Jüdische Weib‹ kannten.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

Maass im Raum, in der Grösse, oder auch kein Maass in der Zeit; diese können immer und immer mehr erfüllt werden, dazu gehört vorerst Sorge für den Armen und dann Gesetzesstudium. (Diese Thatsache ist sehr bemerkenswerth. Sie sollte den Nichtjuden zu ernstem Nachdenken und zu vielseitiger Prüfung zwingen). [Herv. i.O.]«928 Obwohl Remy ihr Werk Das jüdische Weib vor allem in ihren Vorträgen inhaltlich aufgreift, lassen sich in ihren weiteren populärwissenschaftlichen Schriften immer wieder vereinzelte Schnittstellen vorfinden. So verweist sie nicht nur auf die vermehrt auftauchende Säkularisierung der Jüdinnen hin, sondern geht auch in diesen Schriften thematisch auf antisemitische Vorurteile ein.929 Beispielsweise betont sie auch im Jüdischen Haus die besondere Menschenliebe, die das Judentum besonders in seiner »Elternliebe, Wohlthätigkeit, Früh- und Abendstudium im Lehrhause […]; Gastfreundschaft, Krankenpflege, Bräuteausstattung (um die Ehe, also die Sittlichkeit im Umgang der beiden Geschlechter zu befördern), Leichenbegleitung, Gebetsandacht und Friedensstiftung zwischen den Menschen [auszeichne]. Welch‹ ein Wort! Friedensstiftung unter den Menschen. Ein Wort von ungeheurer Tragweite, von unerreichter Grösse. Ich frage: wo, bei welchem Volk findet sich Aehnliches? Doch weiter, ›Studium der Lehre aber wiegt Alles auf‹. Natürlich, denn sie enthält Alles und eben nur Unkenntnis derselben, leistet dem Bösen Vorschub. [Herv. i.O.]«930 Es wird deutlich, dass Remy auch hier die Argumentationsführung anhand des Konzeptes von Volk/Nation aufgreift und die höhere Stellung des Judentums gegenüber den anderen Nationen und Religionen betont. »Hier tritt der jüdische Geist in den denkbar schärfsten Gegensatz zu allen anderen civilisirten (und noch uncivilisirten) Nationen. Griechen, Römer und Germanen […]. Meines Wissens ist es zu keiner Zeit irgend einem Volke eingefallen seinem Schöpfer für

928 Lazarus 1898a: 4; 78: »Nach mehreren Bibelversen als Abschluss der Gebete zur Thora-Lesung folgt nun die Predigt. So oft ich eine solche hörte, war ich gefesselt durch ihre direkte Beziehung auf Leben und Wirklichkeit. Auch zeigt sie im Gegensatz zu den meisten nichtjüdischen Predigten, – deren ich sehr zahlreiche und von Redner verschiedenster Richtung und Bekenntnisse gehört habe – keine so auffallend geringe Meinung vom Durchschnittsverstand der Erbauung-Suchenden. Speciell evangelische Prediger schienen mir diese geringe Meinung zu besitzen. [Herv. i.O.]« 929 Lazarus 1898a: 9: »Es fällt auf, dass im Widerspruch mit der ziemlich allgemein verbreiteten Ansicht, dass der Jude einseitig sei und sein Interesse auf die eigene Glaubensgenossenschaft beschränke, – in seinen Gebeten so oft und so eindringlich die Bitte an Gott wiederkehrt, er möge doch alle Völker die auf ihn hoffen, um sich sammeln und ihnen Gutes erweisen. […] Nirgends ist von einer Abschliessung die Rede. ›Alle, die zur Welt gekommen‹ sollen wissen, dass allein Gott in allen Reichen der Erde herrscht, dass er sich aller Geschöpfe erbarmt!« Siehe weiter ebd.: 258f.: »Von Unkundigen wird oft behauptet, Israel kenne die Demuth nicht. […] Den Herren ist wohl nicht bekannt, dass das ganze alte Testament erfüllt ist von diesem Geist der Demuth in Israel, dass als ein Kennzeichen ihres Gesetzgebers Moseh angeführt wird, er sei der ›demüthigste Mensch‹ unter der Sonne? [Herv. i.O.]« 930 Ebd.: 5; 72: »Verschmelzung von Dasein und Sittlichkeit – und noch ein Anderes ist der jüdischen Volksseele von jeher eigenthümlich: die rastlose stets bekundete Theilnahme für den Mitmenschen.«

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Empfang von Unterricht zu danken. Der Jude allein dankt Gott für seine Erziehung und Belehrung. [Herv. i.O.]«931 Zudem verweist sie ausdrücklich darauf, dass die Gebetsordnung von jeglichen »heidnischen Zuthaten« frei sei, denn keine andere Religion habe die absolute Einheit und vollkommene Einzigkeit Gottes in seinen Gebeten und Lehren so »fleckenlos«932 erhalten, wie sie. »[…] unabweisbar drängt sich das Bekenntniss auf: Das ist Religion und die Juden haben die Religion; sie allein üben in ihren Gebeten den reinen Dienst des einen, wahren Gottes, dessen erstes Gebot lautet: ›Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.‹ Die Juden haben keinen anderen Gott neben dem Einen-Einzigen. [Herv. i.O.]«933 Ergriffen von dieser Erkenntnis und den verborgenen Schätzen des Judentums appelliert sie erneut aufs Eindringlichste, dass »doch Juden (und Nichtjuden!!) endlich den Schatz erkennen [möchten], der für jedes edlere Gemüth hier zu heben ist.«934 Ihre vertieften Studien über das jüdische Schrifttum sowie über das Leben und Wesen der Juden nutzt sie folglich auch in dieser populärwissenschaftlichen Abhandlung Das jüdische Haus als Mittel, um zum einen gegen die judenfeindlichen Vorurteile zu wirken und zum anderen auf die bestehenden Mängel im jüdisch-religiösen Leben aufmerksam zu machen. Dabei stützt sie sich in ihrer Argumentationskette neben zahlreichen Talmudstellen vor allem auf jüdische und christliche Theologen, wie den jüdischen Wissenschaftler Leopold Zunz (1794–1886), den liberalen Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874), den jüdischen Historiker Isaak Markus Jost (1793–1860), den evangelischen Orientalisten Theodor Nöldeke (1836–1930) oder den evangelischen Theologen Rudolf Friedrich Grau (1835–1893). In ihrem Werk Das Gebet in Bibel und Talmud (1892) führt Remy bereits ihre Kritik an den modernen Jüdinnen an, die ihrer Meinung nach die Bibel nicht mehr kennen: »Bei meinem heutigen Vortrag muß ich von der Voraussetzung ausgehen, dass Ihnen die in der Heiligen Schrift vorkommenden Gebete nicht gegenwärtig sind, denn – (von den gelehrten Herren selbstverständlich abgesehen) das Bibellesen ist ja nicht mehr in dem Maße Gewohnheit der Menschen, namentlich der Frauen, als es zum Heile derselben wünschenswerth wäre.«935 Sie erwähnt es selbst in ihrem Vorwort von Das jüdische Haus, dass ihr Hauptziel ihrer populärwissenschaftlichen Werke vor allem Aufklärung sei.

931 Ebd.: 3. 932 Ebd.: 319: »Die Verehrung Gottes findet in ihren Gebeten einen klassischen Ausdruck, ihre glaubensstarke, herzensreine und vernunftvolle Andacht darf den unparteiischen Beurtheiler mit der Ueberzeugung erfüllen: Das ist Religion.« 933 Ebd.: 319f. 934 Lazarus 1898a. Vorwort von 1898. Siehe auch ebd.: 322: »Man muss hoffen, dass die Christen wenigstens in ihrer Gottesverehrung allmählich sich auf den semitischen Ursprung derselben besinnen. [Herv. i.O.]« 935 Remy, Nahida: Religiöse Gebräuche, in: Remy 1892a: 5f.: »In dieser Thatsache, dass fast jede Familie die Bibel besitzt und fast keine sie kennt, liegt ein kulturhistorisches Problem von großer Tragweite verborgen.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

»Ich besprach mich mit gelehrten Männern und sie gestanden, dass ein auf wissenschaftlicher Grundlage aufgebautes, aber in Ton und Darstellung für die weitesten Leserkreise geeignetes Werk über das jüdische Volk nicht existire. Von dem Bewusstsein durchdrungen, dass jeder Einzelne Pflichten für die Gesammtheit hat, versuchte ich es, den Anfang zu einem solchen Werk zu schaffen, um der Unwissenheit zu begegnen, das Verständniss, also die Verständigung zu fördern. [Herv. i.O.]«936 Es gelingt ihr in ihrem Werk Das jüdische Haus, das Judentum von seiner charakteristischen Seite darzustellen und dessen religiöse Sitten, Gesetze, Gebete, Gebräuche sowie Andachtsübungen in volkstümlicher Weise begründet zu beschreiben. Aufgrund des großen Umfanges des Gesamtwerkes Das jüdische Haus (322 Seiten) und dessen komplexer Thematik betreffend religiöse Sitten und Gesetze, kann in dieser Arbeit darauf nicht näher eingegangen werden. Wichtiger ist es an dieser Stelle aufzuzeigen, wie Remy ihr erfolgreichstes populärwissenschaftliches Buch Das jüdische Weib vor allem in ihren Vorträgen, zu denen sie aufgrund ihres Erfolges angefragt wurde, verwertet. Im Dezember 1893 wird in einer Zeitungsrezension Remys in Landsberg a.d.W. gehaltener Vortrag Frau im Talmud937 besprochen und ihr projüdisches Engagement in der Öffentlichkeit als Christin geehrt. Ihr Vortrag hätte »allgemeines Aufsehen erregt, erstens da trotz der fortschreitenden Emanzipation der Frauen es noch immer zu den Seltenheiten gehört, einem öffentlichen Vortrag einer Dame zu lauschen, andererseits war es das Thema des Vortrages selbst, welcher die Stellung der ›Frau im Talmud‹, dieses vielgenannten, oft geschmähten und gänzlich unbekannten Werkes, behandeln sollte, dass die Neugier und das Interesse erweckte. Doch was am meisten Bewunderung hervorgerufen, war der Umstand, dass die Dame als Nichtjüdin ein solches Thema behandelte.«938 Remy war die erste christlich-weibliche Person, die öffentlich ein projüdisches Votum aussprach. Vor allem ihre Tätigkeit als Rednerin vor einem jüdisch-christlichem Publikum, erhielt beifällige Anerkennung.939 »Die Erfahrung bestätigend, dass das gespro-

936 Lazarus 1898a: Vorwort von 1893: »Und – bitte! Man komme schliesslich nicht mit dem Einwand, diese Arbeit hätte einem Manne überlassen bleiben müssen! – Kann ich für mein Geschlecht? – ich bin unabhängig. Das ist meine Legitimation. Wer so frei dasteht, dass ihm weder Christ noch Jude etwas anhaben kann, als allein Gott und das eigene Gewissen, der darf nicht nur, er muss Aufklärung verbreiten helfen. [Herv. i.O.]« 937 The National Library of Israel, Department of Archives: Rezension, Arc. Nr. 01 130: Die hier erwähnte Rezension wurde von Remy als ausgeschnittener Zeitungsausschnitt aufbewahrt, allerdings ohne jeglichen Vermerk aus welcher Zeitung und welchem Jahr sie diesen entnommen hatte. Das Jahr kann anhand des Inhaltes und des Verweises auf den gehaltenen Vortrag in Landsberg a.d.W. am 10. Dez. auf 1893 geschätzt werden. 938 Quelle unbekannt. Die Rezension findet sich in: The National Library of Israel, Department of Archives: Rezension, Arc. Nr. 01 130. 939 N.N. 1894b: »Wir werden Gelegenheit haben, eine äußerst belesene Frau zu hören, die in den bedeutendsten Städten Deutschlands, außerdem z.B. in Prag, in Haag, in Rotterdam und Amsterdam, hier sogar in einer christlichen Kirche von der Kanzel herab, zu einer oft über tausendköpfigen Zuhörerschaar mit großem Beifall gesprochen hat.«

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chene Wort unendlich wirksamer [sei], als das gedruckte«940 , motivierte sie dazu, auch weiterhin öffentlich zu jüdischen Themen zu sprechen. Sie wurde unter anderem mit der erfolgreichen englischen Schriftstellerin und Journalistin George Eliot (1819–1880) verglichen, die sie jedoch durch ihre »ungewöhnliche Kenntnis der Wissenschaft des Judentums weit überragte. Dieses Lob bedrückte mich … war es wirklich schon verdient?«941 Nur ihr Lehrer Moritz Lazarus (s.TL) nahm die Vorträge mit nüchternem Ernst wahr und gab ihr zu verstehen, dass er »dem Judentum ein grosses Opfer [bringe], indem er sie öffentlich sprechen lasse.«942 Selbst innerhalb ihrer Familie veränderte sich die Meinung bezüglich ihres projüdischen Engagements. Die Schwägerinnen Marie und Anna Remy hörten sich die ersten Vorträge Das Weib im Talmud an und waren daraufhin über Remys öffentliche Arbeit und Werke »geradezu religiös […] umgestimmt«943 . »Sie verziehen mir sogar Das Jüdische Weib.«944 Nach Beendigung ihrer ersten Vortragsreise im Januar 1893 erhielt sie einen Brief von ihrer Schwägerin Anna Remy, in dem sie ihr anfängliches Entsetzen gegenüber Remys Engagement revidierte: »Ich habe den Eindruck gewonnen, dass du allerdings viel Gutes wirken kannst, indem du die modernen Juden und ganz besonders die Jüdinnen auf Gott und Göttliches hinweist. dass es ihnen einen tiefen Eindruck machen muss, wenn mitten in der traurigen Zeit des (uns echte Christen so unsäglich beschämenden) Antisemitismus eine Christin ihre Fahne hochhält, lässt sich begreifen. Gott sei mit dir!! Deine Anna.«945 Immer wieder wurde Remy anerkennend von christlicher Seite angesprochen und ihr projüdisches Engagement gewürdigt. Beispielsweise wurde Remy im Januar 1894 nach ihrem Vortrag in Rotterdam von zwei Christinnen angesprochen, die erstaunt über die für sie neuen Informationen über die Juden waren. »Auch zwei Damen von Suermondt [Herv. i.O.] beschlagnahmten mich. Sie bekannten – und sind mir dadurch erinnerlich geblieben – dass sie und ihr Kreis von jeher ein starkes Vorurteil gegen Juden gehabt hätten, aber jetzt betrachteten sie sie mit anderen Augen und würden sich noch mehr über sie unterrichten, um gerechter zu urteilen.«946 Jedoch gab es auch skeptische Meinungen bezüglich Remys Vortragstätigkeit. So erhielt sie nach ihrem Vortrag in Breslau im Frühjahr 1893 von einer jüdischen Breslauer Schrift-

940 Lazarus-Remy 1927b: 137; 142: »Sehr auffallend war es mir noch hinterher, wie energisch alles Gesprochene wirkte, auch das scheinbar Geringfügige, ob laut oder leise das Wort, ob Erhabenes oder Komisches; gleichviel was und wie – die verschiedenartigste spontane Wirkung war sofort bemerkbar. […] der Vortrag: Das Weib im Talmud gab zu dieser Erfahrung den häufigsten Anlass. Oft schien es ein Zwiegespräch, so sah ich mich verstanden und beantwortet. Ein wunderbares Ding, um solche geistige Fühlung zwischen Redner und Publikum!« 941 Ebd.: 136. 942 Ebd. 943 Ebd.: 137. 944 Ebd. 945 Brief vom 09.01.1893. Zitiert in: ebd.: 142. 946 Lazarus-Remy 1927b: 148.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

stellerin »ein impertinentes obendrein rekommandiertes Schreiben«, mit dem Wunsch, ihre Beweggründe erfahren zu wollen, denn sie erschiene allen als ein Wunder, »aber an Wunder glaube man nicht mehr«947 . Dies gab ihr den Anlass, sich in der AZJ entsprechend zu äußern, was eine beeindruckende Resonanz erhielt, sodass ihre Antwort ins Englische, Französische, Holländische, Hebräische und Polnische übersetzt und in mehreren jüdischen Zeitungen im Ausland veröffentlicht wurde.948 Der jüdische Schriftsteller Benjamin Wolf Segel (1866–1931) wies Remy in einem persönlichen Schreiben vom Dezember 1893 auf einige fehlende »ungünstige Belegstellen [Herv. i.O.]« in ihrem Vortrag Das Weib im Talmud hin, woraufhin sie ihm antwortete: »dass nicht erschöpfende Gelehrsamkeit, sondern lebendig wirkende Mission [ihr] Beruf sei.«949 Deutlich wird dies an dem 1893 erschienenen bibliophilen Band mit dem Titel Freiheit, Liebe, Menschlichkeit!, der nicht nur als Aufruf konzipiert wurde, sondern auch als Kampfansage gegen den aufkommenden Antisemitismus des 19. Jahrhunderts.950 »Solche Führer unter einer Fahne zu vereinen im Kampfe wider den Antisemitismus, das war der leitende Gedanke des vorliegenden Werkes. Der Geist der Humanität, der Geist der Wahrheit und des Rechtes rief die Getreuen auf und ›Alle, Alle kamen!‹«951 Es handelt sich dabei um Ein Manifest des Geistes von hervorragenden Zeitgenossen, genauer gesagt, haben sich 123 Autoritäten jeglicher Konfession darin apologetisch geäußert. Darunter findet man Gustav Karpeles, Lazarus und Remy, die fünf Thesen gegen den Antisemitismus formulierte. In ihrer ersten These verweist sie auf die Tatsache, dass Jesus Christus ebenfalls ein Jude war und fragt diesbezüglich, wie es sein kann, dass ein »liebenswürdiger, talentvoller [und] geistreicher Mensch an Wert«952 verliere, nur weil er Jude sei. Der Antisemitismus sei schuld daran, dass durch Lügen und Täuschungen die Menschen in »das tiefste Dunkel«953 geraten und das Wahre nicht mehr erkennen. Denn »schlimmer als die Bosheit [sei] die Unwissenheit. Die Unwissenheit über Juden und Judenthum erzeugt den Boden, auf dem die Giftpflanze Antisemitismus fortwuchernd um sich greift.«954 Gegen diese Unwissenheit geht sie zeitlebens mit ihren Verteidigungsschriften und Vorträgen vor.

6.1

Zitierungen ihres Werkes in ihren Vorträgen Was ist der Talmud? und Das Weib im Talmud955

Bei den beiden oben genannten Vortragsthemen handelte es sich um eine Vortragsreihe, die Remy in Kombination anbot. Beginnend mit der Erschließung und Wertschätzung des viel umstrittenen und verkannten Talmuds wurde im zweiten Vortrag Das Weib im Talmud über die Stellung, den Wert und die Bedeutung der Frau im Judentum und 947 948 949 950 951 952 953 954 955

Ebd.: 143. Vgl. Kap. II, 5.1.1. Vgl. Ebd. Die deutsche Version findet sich in: N.N. 1893b. Ebd. Remy 1893a. N.N. 1893d: 5. Remy 1893a: 41. Ebd. Remy 1893a: 41. Die Vortragsreihe hielt Remy im Herbst 1893 bis Anfang Jan. 1894. Näheres dazu s.TL und Kap. I, 2.2.3.

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wie diese sich vor allem aus dem Talmud ergeben, vorgestellt.956 Sie versucht in ihrem Vortrag Das Weib im Talmud vornehmlich die traditionellen Vorurteile gegenüber der jüdischen Frau zu revidieren, indem sie aufzeigt, dass die jüdische Frau durch die talmudischen Sittengesetze humanere, reinere und edlere Pflichten und somit Freiheiten erhält.957 Denn eine »unbefangene Menschenfreundlichkeit des Talmuds«958 zeige sich auch in der gesellschaftlichen Stellung der Frau. »Das Haus wird als der eigentliche Tempel der Frau bezeichnet und als Hohepriesterin darin waltet die Mutter. Fachwissenschaft des Weibes, Ceremonien, öffentliche Wirksamkeit, alles dieses wird verpönt, mit der ausdrücklichen Motivierung: ›damit die Frau die Kinder erziehe‹. […] Der Mutter ward auch die Aufgabe das Familienleben mit religiösen Übungen zu durchflechten, damit die Kinder die Religion liebgewinnen sollten. – Ein Gedanke so wahr und so wichtig, dass jede Mutter und jeder Vater ihn sich unauslöschlich einprägen sollte! [Herv. i.O.]«959 Sie zeigt ebenfalls in ihrem Vortrag über Das Weib im Talmud auf, dass die jüdische Mutter eine besondere Rolle innehatte, als Bewahrerin der religiösen und moralischen Erziehung ihrer Kinder. »Während die formale Weitergabe des Judentums innerhalb des institutionellen Rahmens der Synagoge, des Religionsunterrichts oder der Schule stattfand, wurde von den Müttern erwartet, dass sie mit den Kindern beteten und ihnen religiöse Geschichten erzählten.«960 Beiden Vorträgen (Was ist der Talmud? und Das Weib im Talmud) liegt ferner der kritische Diskurs bezüglich der im 19. Jahrhundert entfachten Talmudpolemik zugrunde.961 Von antisemitischer Seite wurde dem Talmud jeglicher religiöse und ethische Gehalt abgesprochen, was schlimmstenfalls sogar dazu führte, dass der Talmud zu den verbotenen Büchern gezählt wurde, was zu Talmudverbrennungen führte.962 Mit der Talmudverbrennung in Paris 1242 erreichte die von dem Konvertiten Nikolaus Donin (13. Jh.) geschürte antitalmudische Denunziation ihren ersten Höhepunkt. Im Talmud, der die he-

956 Den Vortrag hielt Remy am 10. Dez. 1893 in Landsberg a.d.W. Siehe dazu N.N. 1894b: »Wer will nicht alles über den Talmud, dieses viel umstrittene, vielverkannte und das so äußerst Wenigen zugängliche Riesenwerk ein Urtheil fällen! Hier hält eine Dame, eine christliche Dame einen Vortrag, dessen Thema dem Talmud entnommen ist.« 957 In dem »verrufenen Talmud« werde der jüdischen Frau auch eine schönere und erhabenere Stellung der Ehe und im Familienleben eingeräumt als dies in christlichen Schriften vorzufinden sei. Vgl. Remy 1893f: 16f.: »Besonders schön und ethisch empfindsam sei der Talmud in Bereichen, die die jüdische Frau betreffen.« Siehe auch Kap. II, 2.2.1. 958 Remy 1893f: 16f. 959 Ebd.; Vgl. auch Kap. II, 2. 960 Kaplan 1997: 95. Vgl. dazu auch Remy 1893d: 16f.: Die Väter dagegen hatten nur ihre eigenen religiösen Pflichten zu erfüllen, um als gute Vorbilder zu gelten. Die Mütter mussten also das Judentum aktiv weitergeben, während die Väter nur religiös zu sein hatten. 961 Stern 1879: 5: »Während es [der Talmud] auf der einen Seite als Fundgrube exorbitanter Weisheit gepriesen wird, ist es für Andere nur ein Sammelsurium von Irrthümern und Thorheiten, oder gar ein unreiner Quell sittlich verwerflicher Lehre.« Vgl. Kap. II, 3.1.3. 962 Lazarus 1896: 112: »Ebenso wiederholen sich jetzt die barbarischen Verbrennungen hebräischer Werke. In Paris, kurz nach der Verbrennung Maimonidischer Werke wurden über 1200 Bücher, Talmudexemplare nebst Commentarien u. s. w. verbrannt.«

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

bräische Bibel auslegte, vermutete man »die schlimmsten Missbräuche und Scheußlichkeiten und darum den Grund für den Unglauben der Juden«963 . Die mittelalterliche Talmudpolemik erhält Ende des 19. Jahrhunderts einen erneuten Aufschwung. In zahlreichen Veröffentlichungen polemischen und apologetischen Charakters wurde über den Wert und Unwert des Talmuds diskutiert, worauf sich Remy in ihrem Vortrag Was ist der Talmud? bezieht.964 »Wer hat schon vom Talmud gehört? Bald hier, bald dort, in der Presse, im Reichstag, (in Vereinen und) Vereinsversammlungen ist von ihm die Rede, – in Kreisen, die ihm fern stehen – u. merkwürdig, je geringer die Sachkenntniss, desto grösser die Kühnheit (Ungeniertheit) mit der über ihn abgeurteilt wird. Was ist d. T[almud]? [Herv. i.O.]«965 Sie berichtet einführend von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Talmudpolemik, als ihr ein Berliner Briefschreiber versichern wollte, dass der Talmud keine ›Weisheit‹ enthalte. »Um mich abzuschrecken, suchte er Worte und Dinge heraus, die man öffentlich nicht sagt«966 , aber die Wundergeschichten des Talmuds, die er ihr als Beweis aufzählte, gab sie ihren Zuhörern weiter. Remy verweist mit dieser Anmerkung darauf, dass mystische Poesien und poetische Mysterien in allen religiösen Schriften vorkommen, »sie fliessen aus derselben Quelle religionsphilosophischer Allegorie. Ich frage: ist es recht, das was hier als ›Offenbarung‹ geheiligt wird, dort als Blödsinn zu brandmarken? Unfreundlich, ja, feindselig werden trennende Unterschiede gemacht, statt vielmehr die Ähnlichkeiten zu suchen! Altes und Neues Testament, der Koran und der Talmud, sie sind sich alle darin ähnlich, dass sie auf denselben Grundpfeilern stehen, – mag das Gotteshaus mit einem Kreuz, mit dem Halbmond, oder mit dem Wappen Davids gekrönt sein – Die Grundmauern fussen allemal auf Gottesverehrung und Menschenliebe! [Herv. i.O.]«967 963 Grözinger 1996: 59–61. 964 Vgl. dazu Stern 1879: 6. Zur Talmudpolemik im 19. Jh., vgl.: Benz 2011: 312–314. Polemische Veröffentlichungen sind u.a.: Fischer 1892; Lippe 1881; Martin 1876; Rohling 1872; Cholewa von Pawlikowski 1881; Briman 1884. Apologetische Publikationen sind u.a.: Cohen 1888; Stern 1879; Kroner 1871a, 1871b. 965 Remy 1893f: 1. Ebenso notierte Th. Kroner Kritik an August Rohlings antitalmudischen Äußerungen: In Kroner 1871a: 46f.: »Das Eine aber müssen wir nun festhalten. Der Herr Professor kennt den Talmud fast gar nicht und kann nicht ein Blatt in demselben ohne Fehler lesen, wenn er nicht vorher noch lange Studien an der Hand eines Talmudkundigen gemacht. […] Wenn aber der Herr Professor den Talmud nicht kennt, so ist ihm Nichts von dem, was er über den Talmud sagt, zu glauben. Einem Unwissenden glaubt man nicht. So wie er im Talmud unwissend ist, so und noch mehr ist er es in den andern citirten rabbinischen Schriften. Ich glaube sogar, dass er noch keine einzige von denselben je in Händen gehabt. Darum, werther Leser, willst du in Wahrheit den Talmud kennen lernen, so geh und lerne ihn an der Quelle. [Herv. i.O.]« 966 Remy 1893f: 1f.: »und [nun erzählt er mir einige Wundergeschichten d. Talmuds]. Und erzählt dann u.A. vom Leviathan, der einen 300 M. langen Fisch aufgegessen, vom Ochsen, der auf 1000 Bergen liegt u. den Jordan auf 1 Schluck austrinkt, vom Ei, das, als es hinfiel u. zerbrach, 60 St[ädte] überschwemmte, vom Löwen, der, als er brüllte 4oo M[eter] weit allerlei Unheil verursachte, u.s.w. [Herv. i.O.]« 967 Remy 1893f: 2f.: So weist sie beispielsweise auch darauf hin, dass der Briefschreiber, der ein Christ war, wissen müsse, dass es im Neuen Testament Erzählungen von »rosenfarbenen Tieren mit 7

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Bei allen Völkern könne man folglich innerhalb der Literatur mystisch-symbolische Erzählungen vorfinden, denn die Allegorie sei von jeher ein »beliebtes Gewand«968 für die Gedanken und praktischen Lehren gewesen. Und wie in der Religion, so fände man auch in der Sittenlehre und in der Legendendichtung überall Ähnlichkeiten und »vielleicht stammt das Meiste sogar aus denselben Quellen!«969 . Sie betont in ihrem Vortrag, dass gerade dieser »geistige Austausch bekannt u. betont werden [sollte] und nicht immer d[er] Unterschied!«970 Folglich hätten nicht bloß jüdische, auch christliche Gelehrte Erzählungen symbolisch (metaphorisch) ausgeschmückt, ebenso wie »viele andere Weltweise auch, wie Pythagoras z.B. ihre Lehren in Dunkelheiten u. Rätsel zu hüllen liebten. [Herv. i.O.]«971 Als Untermauerung ihrer Argumentation bezieht sich Remy auf den lutherischen Hebraisten Johann Christoph Wolf (1683–1739), der gesagt habe: »fürwahr, selbst unser Heiland hat nach dem Beispiel seiner Vorfahren (d.h. der Talmudisten) in Predigt durch Rätsel und Gleichnisse sehr viel seinen Zuhörern vorgetragen, von welchen einiges im talmudischen Werke vorkommt; denn das Gleichnis vom reichen und armen Manne liest man dort mit den nämlichen Worten, wie im Neuen Testament, ebenso von den Arbeitern im Weinberge, welche in der jerusalemischen Gemara vorhanden«972 sei. Sie gesteht zu, dies allerdings auch für die metaphorischen Erzählungen innerhalb des Neuen Testaments, diese »künstlichen Auslegungen«973 als Weisheit auszulegen. »Es ist unbestreitbar, dass so gut wie anderwärts im Talmud ein kindlich freier [ehrlicher] Glaube an Geister, Besessene und Wunderkuren vorkommt. Auch bei den Besten

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Häuptern [Off 17,2f.] oder von den Löwen und Kälbern mit 6 Flügeln [Off 4,7f. und 6,13] gibt. Er muss gelesen haben, – dass Sterne wie reife Feigen vom Himmel fielen und Hagelkörner zenterschwer, – dass ein Engel mit dem Regenbogen um den Kopf und einer Wolke umgebunden, mit einem Fuß auf der Erde, mit dem anderen auf dem Meere stehend brüllte wie ein Löwe, – dass ein anderer Engel mit einem Hieb alle Reben der Erde abschnitt, dass der Saft wie Blut floss und die Welt überschwemmte und den Pferden bis zum Zaume reichte. Dieses und viel Seltsameres noch steht im Neuen Testament.« Ebd.: 4: »Griechische, ägyptische, indische, skandinavische Glaubenskreise [Mythologien] wetteifern förmlich in ihren Phantasiegebilden, – warum sollte allein das rabbinische Schrifttum davon frei sein? – Denker und Dichter aller Racen u. Nationen [Zeiten u. Zungen] haben ihrer Einbildungskraft freien Lauf gelassen, warum sollten allein Israels Söhne sich trockner, pedantischer Nüchternheit befleissigen? Das wäre unnatürlich! also Ja unmöglich. Man wundere sich also nicht ferner über die Wunder und Wunderlichkeiten des Talmuds, und sage mir nicht immer, er enthalte so viel Thörichtes! Der, wer so spricht, ist selbst ein Thor, aber auch bestreiten, dass er Thörichtes enthält, ist Thorheit, […].[Herv. i.O.]« Ebd.: 3: »Und prüft m. gar die Sagen u. Sprichwörter d. Volkes, dann findet m. mitunter fast wörtl. Übertragungen aus d. talm. Witz- u. Wortschatz. Umgekehrt haben auch offenb. d. Talmudisten a. d. Volksdichtung geschöpft! – Es ist eben – wenn auch nicht immer streng historisch beglaubigt – ein d. Jahrhunderte währendes gegenseitiges Geben u. Empfangen. [Herv. i.O.]« Ebd. Ebd.: 5. Remy 1893f: 5: Derselbe J. Ch. Wolf weise auch auf die Fabeln des Äsop hin, auf Homer, auf die römischen Satiriker und auf Erasmus, die alle »nicht gleich und nicht leicht in ihrer tieferen Bedeutung verständlich« seien. Ebd.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

zeigt sie die historische Schranke! – - – Wenn also Unwissenheit am Talmud herumnörgelt, so thut sie es doch einigermaßen bona fide, und man darf hoffen, das Übel durch Belehrung wenigstens zu lindern. – Wenn aber Bosheit ihn schmäht, dagegen hilft kein Recept – Bosheit ist unheilbar – und ich werde keine sittliche Empörung an sie verschwenden. – [Herv. i.O.]«974 Remy versucht es weiterhin mit Aufklärung und erläutert verständlich die Entstehungsgeschichte sowie den komplexen Aufbau und Inhalt des Talmuds. »Vom Talmud aber, als von einem Ganzen kann man nur bildlich und äusserlich, nur statistisch u. historisch reden, denn innerlich bildet er weder eine geschlossene Einheit noch eine durchgehende Gleichheit. Wer also über die Gesamtheit des Talmuds ein Urteil fällt, welches nicht diese Mannigfaltigkeit ausdrückt, begeht notwendig einen Fehler, sein Urteil mag Lob oder Tadel enthalten.«975 Remys Schilderung des Talmuds hebt vor allem die enorme Sammlung geistiger Weisheiten des Judentums aus mehreren Jahrhunderten hervor, die die »Gesundheitslehre, Astronomie, Botanik, Anstandsregeln und Naturwissenschaftliches, Medizinisches und Anatomisches, Seelenkunde und vor allem die feinste und schärfste Gesetzeskunde [enthalte]. – Dazwischen Märchen und Dichtungen erhebender u. erheiternder Art, – für Alles dieses u. viel mehr noch ist der Talmud eine unerschöpfliche Fundgrube, eine Schatzkammer für Alles was Menschengeist und Menschenherz bewegt! [Herv. i.O.]«976 Remy zeigt in Reaktion auf die Talmudpolemik, dass im Talmud ein sittlicher Geist enthalten sei, der eine reine und edle Moral ausspreche und der sich auf drei Grundzüge stütze: 1. Religionstreue, 2. Menschentum und 3. Forschung. Was die Religionstreue betrifft, schreibt Remy, dass der Talmud »über alles gewöhnliche Mass u. über alle religiösen Empfindungen hinaus […] die Hingebung an Gott u. dessh.[alb] die Treue in der [sic!] Religion«977 lehre. Ferner predige der Talmud mit Nachdruck »allgemeines Menschentum«978 , und verweise darauf, dass in den Forderungen und Vorschriften der Thora von Adam als ›Mensch‹ die Rede sei und nicht vom Priester, Leviten oder Israeliten. »Ja, es wird ausdrücklich gesagt: ein gebildeter Nichtjude steht höher als ein ungebildeter Hohepriester. […] Bei dieser reinmenschlichen Auffassung ist Toleranz selbstverständlich u. zwar fordert d. T[almud] nicht wie andere Confessionen negativ, bloße Duldung … sondern er fordert positiv: Unterdrückung der Abneigung und fordert Liebe und Friedensstiftung unter allen Menschen. [Herv. i.O.]«979

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Ebd. Ebd.: 7. Ebd. Ebd.: 14. Ebd.: 14f. Remy 1893f: 14f.: »Dieser demokratische Sinn d. T[almuds] dringt überall auf Gleichberechtigung der Menschen, u. ironisiert die leeren Classenunterschiede u. Standesvorurteile. – Nur Laster u. Götzendienst erniedrigen ihn, und nur Tugend und Wissenschaft erhöhen ihn. [Herv. i.O.]«

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Der dritte Hauptgrundsatz im Talmud, die Forschung, sei das Herz der alten Talmudisten. Unerschöpflich seien die Aufrufe der Rabbinen, dass jeder Mensch jüdischen Glaubens sich dem Studium der hebräischen Sprache widmen solle. »Eines jeden Juden Pflicht ist es, sein Kind in die hebräische Sprache einzuführen und ihm die Thorah zu erschliessen, dass er weiss: ›durch den Unterricht der Kinder erhält die sittliche Welt Dauer u. Bestand‹. [Herv. i.O.]«980 Wie in allen ihren Verteidigungsschriften und -vorträgen appelliert Remy abschließend beständig an die modernen Juden ihrer Zeit: »aber wehmütig muss ich es bekennen: die heutigen Töchter u. Söhne Israels haben andere Ansichten, als ihre alten Lehrer. Nicht der Selbstbelehrung gilt ihr eifriges Bestreben, sondern äusserlichem Vorteil u. Vergnügen, – Nicht eine Weltanschauung zu gewinnen, erscheint ihnen wichtig, sondern sich zu amüsieren…. [Herv. i.O.]«981 Die bedenklichste Gruppe seien ihrer Meinung nach die Halbgebildeten unter den Juden selbst, »die sich in ihrer Gleichgiltigkeit gefallen, sie zur Schau tragen, statt die Verläumdungen ihrer altehrwürdigen Religions- und Lit.Urkunden gebührend zurückzuweisen.«982 Sie ermahnt erneut zum Handeln, um antisemitische sowie talmudische Polemiken zu unterbrechen. »Wie kann man es erleben, dass wo eine überzeugende Beweisführung zu Gunsten des Talmuds möglich ist, ja ganz nahe liegt, ein verlegenes, vertuschendes Zugeständnis zu seinen Ungunsten ertönt…. Nur aus Mangel an Kenntnis! – In Folge dessen schöpfen selbst Wohlwollende Verdacht u. verhalten sich Gutmeinende ablehnend. [Herv. i.O.]«983 Vor allem die Unkenntnis und Gleichgültigkeit kennzeichnet Remy als Ursache für die ›Abtrünnigkeit‹ der Juden. »Täglich mache ich die Erfahrung, wie wenig die Juden noch von den Schätzen ihres Judentums wissen! – Sie selbst (d.h. die Juden im Allgemeinen) liefern durch ihre Gleichgültigkeit und Unwissenheit dem Antisemitismus die Waffen unbewußt in die Hände! – Gott bessre es! [Herv. i.O.]«984 Würden allerdings die säkularen Juden selbst ihre jüdisch-religiöse Selbsterkenntnis wieder erlangen und ihre Gleichgültigkeit und Unglauben ablegen, dann würden auch die Andersgläubigen »einst sich sagen: Nein, die Literatur und Religionsurkunden unserer Mitbürger sollten uns nicht ferner fremd bleiben, sollten uns nicht ferner mit Misstrauen erfüllen. Wir 980 Ebd.: 17: Jerusalem, so heiße es (im Babylonischen Talmud, Traktat Schabbat: bT Schab 119b), sei nur deshalb zerstört worden, weil der Jugendunterricht in seiner Mitte vernachlässigt wurde. »Das Studium wird eine der 3 Säulen genannt, auf welchen die Welt steht. – desshalb soll der Mensch sich in allen Ausgaben beschränken, nur nicht in den Ausgaben, welche der Unterricht seiner Kinder erfordert.« 981 Ebd.: 18. 982 Ebd.: 6: »Aus Bequemlichkeit oder Anbequemungssucht rufen sie achselzuckend: Was geht uns der Talmud an? Was kümmert er uns? Was wissen wir von ihm? Wir kennen ihn nicht…. Aber selbst Jene, die ihn etwas kennen, die Etwas von ihm wissen, schädigen oft durch Unbestimmtheit u. Unsicherheit, wo eine schlagfertige Abwehr geboten und gegeben ist! [Herv. i.O.]« 983 Ebd.: 6. 984 Ein undatierter Briefausschnitt von Remy an Sophie Herzberg. Zitiert in: Lazarus 1928: 686.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

wollen sie kennen und würdigen lernen, denn näher als alles Fremdländische steht uns doch wohl die Gedankenwelt der unter uns wohnenden Brüder! Mag man dann immerhin noch afrikanischen Sand und Schutt nach alten Steinen und Scherben aufwühlen. – Sie künden uns immer nur Längstvergangenes – aus den Folianten des Talmuds aber spricht eine ewig-junge Weisheit und bekundet unwiderleglich, dass die Menschheit nichts Wunderbareres gesehen hat, als den geistigen Entwicklungsgang des Volkes, das uns – Christen u. Juden – die Bibel schenkte! – [Herv. i.O.]«985

6.2

Zitierungen ihres Werkes in ihren Vorträgen Nächstenliebe im Alten Testament und Nächstenliebe im Talmud

Aufgrund des komplexen Themas der Nächstenliebe im Alten Testament sowie des umfangreichen Quellenmaterials des Tanachs untergliedert Remy die Thematik in eine Vortragsreihe, die sich als Manuskript in ihrem Nachlass befinden.986 Während der 1. Vortrag (I.) anhand der Thora (5 Bücher Mose) »die Nächstenliebe im Schutz und Schirm des Gesetzes« zeige, wird die Nächstenliebe im zweiten Vortrag (II.) anhand der übrigen hebräischen Schriften innerhalb der »Geschichte, Philosophie, Dichtkunst sowie der Ethik«987 verortet. Einleitend geht Remy auf die antisemitischen Polemiken ein, die versuchen mit verfälschten jüdischen Glaubenslehren das Judentum zu diskreditieren. Neben den bekannten Aussprüchen, dass »der Judengott des Alten Testaments ein Gott der Rache«988 sei sowie dass das »das Weib im Judentum sehr niedrig dastehe, und erst das Christentum es ›befreit‹ und ›erhöht‹«989 habe, wurde beharrlich vertreten, dass das Alte Testament die Nächstenliebe nicht kenne.990 So habe sich beispielsweise auch der Schriftsteller und Theologe Johann Gottfried Herder (1744–1803) für das Christentum als die Religion der Menschheit ausgesprochen, da für ihn allein »das Christentum […] die reinste Humanität auf dem reinsten Wege«991 gebiete. Auch der Schriftsteller und Augenarzt Johann 985 Remy 1893f: 20. Siehe auch: Lazarus-Remy 1927b: 136: »Zum Schluss, als der talmudische Gedanke zum Ausdruck kam: Gott selbst verarmt, durch den sittlichen Mangel seiner Bekenner, fügte ich unwillkürlich hinzu: wenn Gott arm werden kann, so kann er doch auch reich werden, durch Bemühung seiner Kinder? Wir wollen Gott wieder reich machen! Durch unser eigenes Tun und Streben, durch unsere eigene Vervollkommnung! – Als ich aufs Podium stieg, sah ich mich von Menschen umringt, in deren Augen Tränen glänzten.« 986 Zum ersten Mal hält Remy ihren Nächstenliebe-Vortrag (genau betitelt mit Die Nächstenliebe nach den Satzungen des Judenthums) am 17. Dez. 1892 im Grand-Hotel in Prag. Vgl. Kap. I, 2.2.3. 987 Remy (1892): Nächstenliebe im Talmud (Vortrag Nr. 2), in: The National Library of Israel, Department of Archives, Arc.Nr. 01 125. 988 Remy (1892): Nächstenliebe im Alten Testament (Vortrag Nr. 1), in: ebd.: »Zum Beweis citirt man stets den Anfang d. 5 V. Cap. 20, II.B.M.: ›ich bin ein eifriger Gott, ahnend die Schuld der Väter am III u. IV Geschlecht‹ – den Schluss aber, auf den es doch hauptsächlich hier ankommt: ›der aber Gnade übt am 1000 Geschlecht‹ unterschlagen die Herren, weil er ihre Lehre vom ›Gott der Rache‹ Lügen straft. [Herv. i.O.]« 989 Bezüglich der Stellung des Weibes im Judentum siehe Kap. II, 2. 990 Remy (1892): Nächstenliebe im Alten Testament (Vortrag Nr. 1), 1f. Zur antisemitisch aufgeladenen Debatte um die jüdische Nächstenliebe in der Neuzeit, vgl.: Leutzsch 2003. 991 Zitiert In: Cordemann 2010: 223. Siehe dazu Schrattenholz 1891: 52f.: »Was den edlen Herder betrifft, so wird dieser Hohepriester reinster Humanität von den Antisemiten in einer Weise citirt,

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) vertrat die Ansicht, dass das Christentum die höchste und schönste Humanität aufzeige.992 Auch wurde unter anderem von der protestantischen Theologie die Humanitäts-Diskussion aufgegriffen und ausdrücklich die exklusive, christliche Menschenliebe betont, womit impliziert bekundet wurde, dass die anderen Weltreligionen weniger Wert haben. Diese Diskussion greift Remy in ihrem Vortrag ebenfalls auf und verweist auf die Dringlichkeit der Aufklärung. »Man sollte es kaum für möglich halten, dass von vielen Seiten fort und fort behauptet wird: das alte Test[tament] kenne die Nächstenl[liebe] nicht. Von der Kanzel, beim Religionsunterricht, in Erbauungsbüchern und Zeitschriften, am Familientisch und in Gesprächen mit Theologen und Nichttheologen – gleichviel ob protestantische od[er] katholische, orthodoxe od[er] freisinnige – immer wieder kann man es hören: das alte Testament kennt die Nächstenliebe nicht, das neue Testament hat diesen Begriff erst eingeführt. Denn – ich bringe ein klassisches Beispiel! – Martin Luther in seinem Katechismus, im Abschnitt über die Nächstenliebe, citirt zwar das Wort: ›Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst‹, aber als Belegstelle führt er – nicht etwa das Original: III Buch Moseh Cap. 19 an, sondern: ›Matthäus 22,29‹, wo dieser Ausspruch wiederholt wird. [Herv. i.O.]«993 Es wurde nachdrücklich ein Gegensatz zwischen Judentum und Christentum geschaffen und polemisch hervorgehoben: »seht, damals! herrschte Grausamkeit u. Hartherzigkeit, jetzt aber ist das Erbarmen, die Liebe, die Nächstenliebe da!«994 Das Christentum sei die Religion, die erstmalig die Feindesliebe predigte995 , wogegen das Judentum vor allem den Feindeshass verbreite. Ostentativ zeigt Remy an mehreren Stellen auch in ihrem Werk Das jüdische Weib auf, dass gerade auch im Judentum, ausgehend vom Alten Testament, die Nächstenliebe und somit die Feindesliebe gelehrt und ausgeübt wurde. Die »allgemeine Menschenliebe«996 sei charakteristisch für das Judentum, denn Gott

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die für die Kampfweise dieser Patrone charakteristisch ist. Herr Fritsch (›Antisemiten= Katechismus‹ Seite 40) führt nämlich eine Stelle aus jenes Denkers ›Ideen zur Geschichte der Menschheit‹ an. […] Die Stelle ist nicht allein mit nichtsnutziger Absichtlichkeit aus dem Zusammenhange des Textes gerissen, sondern auch jesuitisch= antisemitisch entstellt. [und er zitiert diese Stellen]«. Jung-Stilling 1775: 722. Remy (1892): Nächstenliebe im Alten Testament (Vortrag Nr. 1), 2. Diese Diskussion greift LazarusRemy auch in ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! (1898) auf, indem sie darin den moralsittlichen Wert des Alten Testaments hervorhebt. Vgl. Lazarus 1898b. Vgl. auch ihren Konversionsvortrag Warum ich Jüdin wurde (1897), der anhand der anaphorischen Wiederholung des Schlagwortes »Die Bibel!« an ein apologetisches Loblied auf das Alte Testament erinnert. So beginnt sie darin: Lazarus 1897b, 1897c: »Die Bibel! Ich trennte mich nicht mehr von ihr. Was es eigentlich war, was mich so an dieses Buch fesselte, ist schwer zu sagen. Freilich, die meisten seiner Gedanken waren für einen Kinderkopf zu hoch, die Ausdrücke zu fremdartig, manches Wort hatte ich noch nie gehört, aber all die Stellen, welche von Gottes Gegenwart sprachen, von Geduld, Zuversicht, Hoffnung [Herv. i.O.], Wiedervergeltung, alle diese Stellen suchte ich auf, las sie mit Eifer und Inbrunst, stärkte und erquickte mich an ihnen.« Zitiert aus einem Leitartikel eines evangelischen Kirchenblattes [leider unbekannt] in: Remy (1892): Nächstenliebe im Alten Testament (Vortrag Nr. 1). Vgl. Mt 5,46f; Mk 12,28-37. Siehe dazu Lazarus 1896: 28 Lazarus 1896: 234; 154: »Einstweilen muss der tapferen, braven Weiber gedacht werden, die dem Vorurtheil zum Trotz, im Dienst der Menschenliebe und getrieben durch die Eigenschaft, die ganz

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

habe den Menschen geschaffen, weshalb es die Pflicht des Menschen sei, das Leben zu erhalten. So sei beispielsweise die jüdische Heilkunde und Geburtshilfe typisch, um die Menschenliebe innerhalb des Judentums zu kennzeichnen.997 Hingegen seien viele Kriege vonseiten christlicher Machthaber und im Namen Gottes geführt worden, worin sie keine aktiv praktizierende Nächstenliebe sah, sondern menschenverachtende Hinrichtungen zur »Ehre Gottes«, obwohl sie vorgaben, »ihre Religion sei die Menschenliebe«998 . Im Gegensatz dazu benennt Remy zahlreiche Jüdinnen in ihrem Werk, wie beispielsweise Fanny Arnstein (1758–1818), die gerade durch ihre »Liebenswürdigkeit« und guten Taten an »denen, die da hassen«999 hervortraten. Sie appelliert an ihre Zuhörer, dass solche Behauptungen überprüft und revidiert werden müssen, »denn nicht blinder Glaube mehr, sondern sachliche Prüfung ist die Losung der fortschreitenden Zeit. […] Auch wir Laien müssen helfen der Wahrheit Schritt vor Schritt diesen Boden zu erkämpfen; es ist ein Kampf um den Frieden.«1000 Jedem gebiete die einfache Gerechtigkeit, Entstellungen von Tatsachen entgegenzuwirken, wozu eine selbstständige Prüfung, ob solche judenfeindlichen Aussprüche wahr sind, notwendig sei. In ihren Vorträgen widmet sie sich dieser prüfenden Aufgabe, indem sie ihren Zuhörern Gegenbeispiele nennt. Sie führt alttestamentliche Personen an, die durch ihr humanes Verhalten beispielhaft und vorbildlich agierten. So beschreibt sie zunächst die »ehrfurchtgebietende Patriarchengestalt Abrahams«1001 als ein Vorbild für edle Menschlichkeit. Sein gastfreundschaftliches Verhalten gegenüber jeglichen Fremden, auch nichtjüdischen, stehe, wie bei Lot und Rebekka, für »uneigennütziges Wohlwollen und ein rastloses Sinnen und Sorgen für Andere«1002 . Die daraufhin folgende Anrede Jakobs an die fremden Hirten im entfernten Land: »meine Brüder, woher seid ihr?«1003 sei ebenfalls kennzeichnend für die jüdische menschenfreundliche Art und Gesinnung (vgl. Gen 29,4). Ebenso sei die Geschichte Josefs in Ägypten besonders lehrreich, da sie Züge bloßer Werktätigkeit für die Menschen enthalte (vgl. Gen 37–50). Bevor sie weiter zu den gesetzlichen Bestimmungen in Bezug auf den Verkehr der Menschen untereinander eingeht, schildert sie abschließend noch die Lebensgeschichte von Mose, dessen Demut und Menschenliebe zu »seinen eigenartigsten Charakterzügen«1004 gehörten (vgl. Dtn 12,3).

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besonders das weibliche Geschlecht zu zieren berufen ist: die Keuschheit – sich dem Studium der Heilkunde und der Geburtshülfe widmeten.« Vgl. Ex 1,15; 21. Siehe: Remy 1892b: 154f. Vgl. Lazarus 1896: 141. Vgl. Mt 5,44. Siehe: ebd.: 247. Vgl. auch Kap. II, 2.3.3. Remy 1892c: 2. »Die Gründe warum seit fast zwei Jahrtausenden systematisch irrtümliche Auffassungen verbreitet wurden, diese Gründe wird eine spätere Zukunft aufdecken; die Achtung vor der geschichtlichen Wahrheit gewinnt immer mehr Boden.« Ebd.: 3. Vgl. Gen 1,13; Gen 18,1-16 Ebd.: 5. Vgl. Lots Gastfreundschaft in der Stadt Gen 19,1-11 und Rebekkas freundschaftliche Geste in Gen 24. Näheres zur alttestamentlichen Gastfreundschaft siehe: Bultmann 1992; Hiltbrunner 2005. Vgl. Remy 1892c: 5. Vgl. ebd.: 6ff.

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In den Gesetzeslehren werde bereits anhand des bedeutsamen Ausspruches »ein Gesetz soll für die Eingeborenen und für den Fremden sein, der sich in eurer Mitte aufhält«1005 (vgl. Ex 12,49) die menschenfreundliche Lehre und Gesinnung des Judentums erkennbar. »Die milde und menschenfreundliche Auffassung zeigt sich schon in der Bezeichnung ‫ ֵּגר‬für ›Fremd‹, ha Geir hagor besauchom, der Wohnende unter euch. – Man vergleiche damit die Auffassung anderer Völker, welche im Wort ›fremd‹ den Nebenbegriff des Feindseligen verbanden; so heisst bei den Römern der Gast: Hostis zugleich Feind und bei den Griechen war jeder Fremde ein Barbar. Bei den Juden aber gilt der Geir, als Schutzgenosse und Mitbürger, der auch zu religiösen Handlungen hinzugezogen wurde; die ganze Culturhöhe- und Bedeutung des Judentums, Israels spiegelt sich in diesem Gegensatz. [Herv. i.O.]«1006 Ferner heißt es, »den Fremdling kränke nicht und bedränge nicht, denn Fremdlinge wart ihr im Lande Ägypten« und »ihr kennt ja den Seelenzustand d. Fremden«1007 . Und dann verweist Remy auf das »großherzige Wort, das [sie] als Nichtjüdin immer besonders ergriffen« habe: »denn wie ihr, so ist auch der Fremdling gleich vor den Augen des Ewigen«1008 . Zudem werde auf das Eingehendste vor jeder Schädigung des Nächsten gewarnt: »Wenn du Geld leihest dem Armen neben dir, sei nicht gegen ihn, wie ein Gläubiger, lege ihm nicht Zins auf. […] Keine Wittwe und Waise bedrücke. Wenn du sie bedrückst, und sie zu mir schreien, höre ich ihr Geschrei und mein Zorn entbrennt.«1009 Nicht nur Schädigungen an Hab und Gut, Leib und Leben, sondern auch sittlicher und moralischer Art sollen vermieden werden: »So z.B. Verbreitung böser Gerüchte, falsches Urteil, Umgang mit Bösen, Heuchelei, Bestechung und Beeinflussung von massgebenden Personen zu Gunsten Anderer. Wahrlich all diese, aus tiefster Menschenkenntniss geschöpften Bestimmungen zielen auf ein Ideal der Nächstenliebe hin, das in unseren Tagen noch nicht erreicht ist.«1010 Es wird jedoch nicht nur das Böse-Sein und Unrechttun abgelehnt, sondern vor allem zum Gut-Sein und Rechthandeln aufgefordert. »Tatkräftige Hilfe soll Einer dem Anderen gewähren, wo und wie er kann. Nicht nur dem Genossen oder dem Fremdling, was als selbstverständlich gilt, nein, auch dem Feinde soll man menschlich hilfreich sich erweisen!«1011 In Levitikus fände man »rein menschliche Gebote der Nächstenliebe!« wieder,

1005 Remy 1892c: 8. 1006 Ebd. 1007 Ebd.: 9: »Ihr kennt die Bitterkeit u. Kümmernisse, die Ohnmacht und Öde des Einsamen unter der Menge. Fern sei es von euch, das Gemüt dessen zu belasten der unter euch lebt, sondern wie ein Bruder sei euch der Fremde.« Vgl. Ex 22,20; Ex 23,9. 1008 Vgl. ebd.: 14. 1009 Zitiert in: ebd.: 9. 1010 Ebd.: 10. 1011 Selbst dem Tier des Feindes soll man helfen. Vgl. Ex 23,4f. »Ich weiss nicht, ob in irgend einem anderen Gesetzbuch oder Religionswerk Stellen von solcher Herzensgüte vorkommen.« Siehe: ebd.: 10f.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

wie beispielsweise das »herrliche Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«1012 In Lev 19,18 stehe das »wahrhaft göttliche Wort, […] im Alten Testament, als Original, im neuen wird es nur wiederholt, ja zwei, dreimal kommt es im Alten Testament vor, zuletzt auf den Fremden selbst angewendet, nicht blos auf den Nächsten: ›Auch den Fremden, der sich bei dir aufhält, liebe ihn wie dich selbst‹. [Herv. i.O.]«1013 Während das Neue Testament auf ein Jenseits verweise und den Menschen gänzlich von einem Vermittler abhängig mache, fordere das Alte Testament für das Diesseits die »volle u. selbständige Idealität der Lebensführung. Arm und Reich, Hoch und Niedrig, Eltern, Kinder, Gatten, Freunde, Unmündige, Staatsbürger, – alle sollen nicht blos miteinander, sondern füreinander leben, denn – das Sinai-Gesetz lehrt eine practische Moral des Menschen dem Menschen gegenüber und wieder gipfelt die Forderung jeglicher Pflichterfüllung in dem Gebot des III B. Moseh Cap. 19: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. [Herv. i.O.]«1014 Mit dem Nächsten sei nicht allein der gemeint, der Gutes tut und an Gott glaubt, sondern »jeder Mensch [sei] dein Nächster; jeder der im Ebenbild Gottes geschaffen wurde. […] Im Talmud sagt Jemand: Alle die den Willen Gottes erfüllen, sind Kinder Gottes, sonst nicht – da tritt ein Anderer entschieden entgegen und sagt: Ob Einer den Willen Gottes erfülle oder nicht, Kind Gottes bleibt er dennoch!«1015 Trotz zahlreicher Belegstellen für die alttestamentliche Nächstenliebe verneinen antisemitische Polemiker die Tatsache, dass das Alte Testament, d.h. das Judentum, den Begriff der Nächstenliebe kenne. »Und wer wagt es? Männer, welche die Wahrheit predigen, welche die Jugend belehren!«1016 Wer die Wahrheit wissen möchte, könne bereits allein durch die Prüfung der fünf Bücher Mose eine wesentliche Anzahl menschenfreundlicher und nächstenliebender Aussprüche vorfinden. Die weiteren philosophischen, prophetischen und poetischen Bücher erläutern die bereits erwähnte mosaische Gesetzgebung des Pentateuchs bezüglich der Nächstenliebe.1017 Diese Schriften böten zwar in ihrem zugrunde liegenden Gedankengang viele Beweise für die alttestamentliche Nächstenliebe, allerdings müsse sie sich bezüglich des Umfanges ihres Vortrages auf die kanonischen Bücher beschränken, »obwohl auch die Apokryphen, z.B. ben Sirach, Weisheit Salomonis und anderes überreich an Aussprüchen echter Menschenfreundlichkeit«1018 seien. Die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige seien zwar vor allem kriegerischen Charakters, sodass »der milde Strahl der Nächstenliebe« darin weniger zur Geltung käme, aber man treffe

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Ebd.: 11f. Remy 1892c: 12. Remy 1892d: 2f. Ebd.: 3. Remy 1892c: 12. Vgl. Remy 1892d: 1. Vgl. ebd.: 5.

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»mitten in allen Kriegsberichten immer wieder auf Äußerungen des Wohlwollens. Durstige werden getränkt, Hungrige gesättigt, Wanderer gepflegt, Verirrte heimgeführt, ja David sorgt dafür, dass Kriegsbeute nicht bloss den Siegern zufällt, sondern, dass auch die zurückgebliebenen Schwachen und Kranken ihren Anteil erhalten.«1019 Es folgen die Bücher der Propheten Jesaja und Jeremias, die zahlreiche Aussprüche bezüglich der Fürsorge für Flüchtlinge, Arme, Waisen und Witwen enthielten.1020 Ezechiel enthalte im 47. Kapitel 23 Verse, die sich ausschließlich mit den Pflichten gegen den Nächsten beschäftigen, und am Ende werde besonders des Fremdlings gedacht: »Er soll euch sein wie ein Einheimischer unter den Söhnen Israels und in welchem Stamm der Fremdling sich aufhält, daselbst gebet ihm ein Erbteil, spricht der Herr der Ewige.«1021 Die sogenannten kleinen Propheten (Zwölfprophetenbuch) zeichnen sich vor allem in ihren Aussprüchen über eine »grossartige Vergeltungstheorie« und über deren Mitleid aus, die »wie eine Schnur von Perlen aneinandergereiht« mit der »zeitgemässen wehmütigen Frage« des Propheten Maleachi schließen: »Wie? Ist nicht ein Vater uns allen? Hat nicht ein Gott uns geschaffen? Warum ist denn treulos einer gegen den Anderen?«1022 Die Klagelieder sowie das Hohelied wurden von Remy in ihrem zweiten Vortrag ausgespart, da »jene lediglich dem tiefsten Leid, diese der höchsten Lust«1023 geweiht seien. Aussagen bezüglich der Nächstenliebe fänden sich innerhalb der Psalmen zwar zahlreiche, allerdings seien sie zu philosophisch, um sie in ihrem Vortrag flüchtig zu zitieren. Sie verweist auf den ›einfachen‹ Psalm 41,2: »Heil dem, der des Dürftigen Fürsorger ist, am Tage des Unglücks rettet ihn der Ewige«1024 . Remy zeigt die unendliche Fülle der auf der Nächstenliebe beruhenden Aussprüche im Buch der Sprichwörter (Sprüche Salomos) auf, die sie allerdings nicht näher ausführen könne. Aus Kohelet zitiert sie: »Besser zu zwei, als Einer, denn wenn Einer fällt, richtet ihn der Andere wieder auf, aber wehe dem Einzelnen, der da fällt und kein Zweiter der ihn aufrichtet!«1025 Die Bücher Esther, Daniel, Esra, Nehemia und Chronik enthalten ebenfalls »noch Manches an Recht und Gerechtigkeit für den Nächsten«1026 , jedoch müsse sie in ihrem Vortrag zum Schluss kommen, den sie mit dem Buch Ruth vollendet. Während Hiob mit seiner tatkräftigen Hilfeleistung für die männliche Nächstenliebe stehe, sei Ruth mit ihrer zärtlichen Hingebung »das Ideal weiblicher Nächstenliebe [Herv. i.O.]«1027 . Zum einen zeige die »feinsinnige und gemütvolle biblische Erzählung«

1019 Ebd.: 8f. 1020 Remy 1892d: 11f.; 13. Vgl. Jes 58,7-12; Jer 7,5-6. Jeremias habe als erstes die Aufhebung der Sklaverei gefordert, »während bei allen anderen Völkern – auch bei den christlichen – die Sklaverei noch Jahrtausende fortdauerte.« Vgl. Jer 34,9. 1021 Ebd.: 13f. Vgl. dazu Hes 47,22-23. 1022 Vgl. Mal 2,10. Siehe ebd.: 17. 1023 Ebd. 1024 Ebd. 1025 Vgl. Prediger 4,1-12, hier Vers 9–10. Siehe: ebd.: 18. 1026 Ebd.: 19f.: »Ich weiss nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, dass ich ein Buch der Bibel ausgelassen habe, – und zwar das liebenswürdigste. Eben desshalb nämlich, weil es das liebenswürdigste ist, habe ich es uns für zuletzt ausgespart: das Buch Ruth.« 1027 Ebd.: 20.

II. Das jüdische Weib von Nahida Remy (1891)

vor allem, »wie groß der Lohn der Menschenliebe sei«1028 , der sich anhand des gütigen Benehmens des reichen Boas gegenüber der armen ährenlesenden Ruth äußert. »Ruth selbst aber erscheint wie die Verkörperung der Nächstenliebe, ebenso wie ihre Worte, die für alle Zeiten der klassische Ausdruck echter Nächstenliebe wurden. Ein mädchenhaftes Weib, so schön wie sittsam, voll Würde und Lieblichkeit – so wird sie beschrieben, doch mehr als durch allen äusserlichen Reiz, fesselt sie durch die Hingebung an die heimkehrende verwittwete Naomi. […] Zur Belohnung für eine so hohe Auffassung der Menschenliebe wird die eingewanderte Ruth Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts. – Wie die fremde Ruth steht Israel unter den Nationen.«1029 Für Remy ist es wichtig aufzuzeigen, dass die Nächstenliebe des Alten Testaments sich ganz besonders in den Bestimmungen über die Behandlung der Armen, Fremden und Ausländer offenbart. Wenn dies nun berücksichtigt wird, ebenso wie die Tatsache, dass Israel selbst schwer unter dem Joch der Fremdherrschaft gelitten hat, »wie es verachtet und erniedrigt, gequält und ausgebeutet« wurde, so erfasse sie immer wieder ein »tiefes Staunen, wie es möglich war, dass dieses selbe Volk so verzeihen und vergessen konnte! – Noch an den Wunden blutend, die ihm geschlagen, zeigt es eine Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die beispielslos ist in der Geschichte anderer Völker.«1030 Und diese Menschenfreundlichkeit sei das Ergebnis »klaren Denkens«1031 , das sich im jüdischen Gesetz fest verankert habe. Aus diesem Grund sollen sich die Jüdinnen und Juden zu ihrem ehrenwerten Erbgut bekennen und sich ebenso wie einige Gelehrte durch Aufklärung und Verteidigung apologetisch einsetzen.1032 »Und es wird die Zeit kommen, wo die Völker kundiger und darum gerechter sich erinnern werden, dass sie die Lehre der Nächstenliebe Israel zu danken haben! Dann wird, ohne nationale Schranken die Nächstenliebe den Thron auf Erden einnehmen und Israel als Ahnherr dieses Thrones anerkannt werden. [Herv. i.O.]«1033

1028 Ebd.: »Fast jedes biblische Wort hier dient als Text zu einer Belehrung über Wert und Wesen der Wohltätigkeit.« 1029 Vgl. Ruth 1,16-17: »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.« Zitiert in: Remy 1892d: 20. 1030 Ebd.: 4. 1031 Ebd. 1032 Vgl. Cohen 1888. 1033 Remy 1892c: 20; Remy 1892d: 21.

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III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum als mögliche Konsequenz ihrer apologetischen Handlungen?

Der Begriff Konversion stammt aus dem lateinischen conversio und bedeutet übersetzt Umwendung, Umkehr. Im religiösen Kontext ist damit die Annahme neuer religiöser Traditionen, Glaubensgrundsätzen und Bräuchen durch eine Person gemeint. In der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung wird in Bezug auf Konversionen zumeist von Übertritten von Juden zum Christentum gesprochen, worüber auch zahlreiche Abhandlungen und Untersuchungen vor allem im Zusammenhang mit der Reconquista (1200–1492), den mittelalterlichen Zwangstaufen sowie der großen Konversionswelle im ausgehenden 19. Jahrhundert vorhanden sind.1 In der in dieser Arbeit relevanten Zeitspanne des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dominieren vor allem die Übertritte der assimilationsbestrebten Juden zum Christentum. Dabei entfällt bei diesen Betrachtungen allerdings zumeist die kleinere Gruppe von Konvertiten, die zum Judentum übergetretenen Christen.2 Allerdings ist gerade die Betrachtung dieser Randgruppe von Konvertiten interessant, besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden antisemitischen Stigmatisierung der Juden als »artfremde Rasse«3 . So wurden beispielsweise im ausgehenden 19. Jahrhundert die Übertritte zum Christentum gesellschaftlich oft erwünscht oder toleriert, Konvertiten, die zum Glauben einer Minderheit übertraten,

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Siehe dazu u.a. Bursch 1996; Carlebach 2001; Endelman 1987; Hertz 2012; Hertz 1992; Honigmann 1989; Kisch 1973; Niewöhner und Rädle 1999; Samter 1906. Langer 2012: 92: »Der umgekehrte Weg, von der beherrschenden Gruppe zur Minderheit, kommt weniger in den Blick, erscheint vielleicht noch als ein Phänomen der Moderne, unter Intellektuellen und Künstlern, oder aber als Folge von persönlichen Beziehungen.« In der Tat finden seit 1945 mehr Übertritte von Christen zum Judentum statt, was in der aktuellen Forschung vermehrt Berücksichtigung findet. Vgl. dazu Steiner 2015: 11: Nach Auskunft der befragten Rabbiner konvertieren heute vorrangig christliche Deutsche, die aus eigenem Antrieb das Judentum annehmen möchten und zumeist über keinen familiären jüdischen Hintergrund sowie Integrationsraum verfügen. Im Vergleich dazu galt noch im 19. Jh. ein Übertritt von Christen zum Judentum als »ungeheuerlicher und anstößiger Vorfall.« Vgl. Fritsch 1944: 205, 332.

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bekamen hingegen starke skeptische Kritik sowie Ausgrenzungen innerhalb ihres alten sozialen Umfeldes zu spüren.4 Auch Lazarus-Remy nahm Ende des 19. Jahrhunderts die neuentstandene Religionsfreiheit wahr, womit nicht nur die religiösen Minderheiten das Recht auf freie Religionsausübung erhielten, sondern jedem Bürger das Recht zukam, die Religion wechseln zu können. Sie konvertierte, historisch gesehen, zwar in einer modern-säkularisierten, aber auch antisemitischen Zeit aus dem Christentum zum Judentum, was in ihrem sozialen Umfeld von christlicher als auch jüdischer Seite mit viel Skepsis aufgenommen wurde, wobei ihre seriösen Konversionsabsichten immer wieder hinterfragt wurden.5 In diesem III. Kapitel Lazarus-Remys Konversion zum Judentum als mögliche Konsequenz ihrer apologetischen Handlungen? wird herausgestellt, welche Beweggründe Lazarus-Remy insbesondere zum Übertritt zum Judentum bewogen. Konvertierte sie, um ihre persönliche religiöse Identität zu stabilisieren oder doch wegen finanzieller oder materieller Vorteile? Oder trat sie vielleicht auch, wie die Soziologin Dagmar Reese vermutet, aufgrund der Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs durch die Heirat mit dem bekannten Prof. Moritz Lazarus zum Judentum über? Oder handelt es sich bei ihrer Konversion doch um eine Lösung für ihren persönlichen religiösen Glaubenskonflikt mit dem inneren Wunsch nach Akzeptanz und um Anschluss in einer religiösen Gemeinschaft zu erhalten? Dabei stellt sich weiterführend die Frage: auf welche biographischen Problemlagen ist ihre Konversion zum Judentum genau bezogen, und worin besteht die Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet? Impliziert kommt damit auch die Frage auf, warum Lazarus-Remy gerade zum Judentum konvertierte. Wie sehen ihre religiösen Vorstellungen und Überzeugungen aus? Es stellt sich aber auch die wichtige Frage, wie es zu einer Konversion einer deutschen Christin, die im antisemitischen Deutschland zum Judentum übertrat, gekommen ist. Ist ihre Konversionsgeschichte auch ein beispielhaftes Modell für eine autonome und selbstbestimmte Entscheidung, mit der sie die einen radikalen Glaubenswandel vollzog? Oder zeigt sich in ihrer Konversion zum Judentum doch eine labile Persönlichkeit? Diese Fragen sowie mögliche Motive für ihre Konversion werden im Folgenden anhand ihrer persönlichen religiösen Erfahrungen, der gesellschaftspolitischen Einflüsse sowie unter Berücksichtigung ihres sozialen Umfelds kontextuell genauer untersucht. Dabei wird die Pluralität ihrer individuellen Motive anhand einer genaueren Untersuchung ihres Umgangs mit religiösen Glaubensvorstellungen und mit dem öffentlichen Übertritt und dessen Inszenierung herauszustellen sein. Hierbei wird differenziert aufgezeigt, welche individuellen Motive, Handlungsspielräume und persönliche Überzeugungen sie zum Übertritt bewogen haben. Schließlich werden im Fazit Lazarus-Remys persönlicher Erfolg oder Misserfolg des Religionswechsels hinsichtlich der zuvor herausgearbeiteten Konversionsmotive diskutiert. Bei allen Untersuchungsebenen dient vor allem ihre autobiographische Konversionserzählung Ich suchte Dich! von 18986 als Basistext für die Rekonstruktion ihres Konversionsweges, untermauert mit den Informationen aus der unveröffentlichten Autobiogra-

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Vgl. Laudage-Kleeberg 2012: 10. Vgl. Reese 2009. Vgl. auch Kap. III, 3. Das eigenhändige Manuskript der Konversionserzählung umfasst ca. 60 Seiten und steht als Digitalisat online zur Verfügung: Lazarus 1898c.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

fie Mein Leben I+II.7 Unterstützend werden Lazarus-Remys publizierte Konversionsvorträge (von 1897)8 sowie ihre persönlichen Tagebucheinträge (von 1881 bis 1895) hinzugezogen. Sie hielt am 13. April 1897 erstmals einen Vortrag, in dem sie über ihren Konversionsweg (Ein Seelenkampf ) berichtete. Anfang Juni 1897 hielt sie denselben Vortrag in Zürich, allerdings mit neuer Betitelung (Warum ich Jüdin wurde). In ihren Vorträgen, die sie ein Jahr bevor sie die Konversionserzählung Ich suchte Dich! veröffentlichte, hielt, verarbeitet sie inhaltlich bereits die wesentlichen Aspekte ihres Werkes. Anhand eines Vergleichs der beiden Konversionserzählungen (Ich suchte Dich! und des abgedruckten Vortrags Ein Seelenkampf/Warum ich Jüdin wurde) wird deutlich, dass beide Texte ein apologetisches Ziel verfolgen. Zum einen betont sie darin die Besonderheit des jüdischen Glaubens und zum anderen übt sie in der Reflexion ihrer christlichen Erziehung Kritik am Christentum aus.9 Der Aufbau ist bei beiden Texten identisch, indem sie zunächst über ihren ›Seelenkampf‹ berichtet, den sie durch das Selbststudium über das Judentum und ihr Vertrauen auf Gott beenden konnte.10 Ein großer Unterschied ergibt sich hinsichtlich des Textumfanges, sodass Lazarus-Remys Kernaussagen über ihre religiöse Einstellung im abgedruckten Vortrag gebündelt vorzufinden sind. »Ich sagte, das Judentum kennt keinen Dogmenzwang. Könnte ich doch aussprechen, was das für mich bedeutet, frei zu sein vom Dogmenzwang, nicht gedankenlos oder heuchlerisch nachplappern zu müssen, was Andere uns vorsagen, Fremde uns befehlen!«11 Anhand dessen und der hier erstmalig erstellten Biografie (s.Kap. I) werden Lazarus-Remys Selbstverständnis als eine der wenigen christlichen Konvertiten12 des späten 19. Jahrhunderts und ihre zunächst prekär erscheinenden Konversionsgründe genauer untersucht. Konversionserzählungen werden in der Konversionsforschung anhand unterschiedlicher Dimensionen der Konversion genauer definiert.13 Dabei wird nach Laudage-Kleeberg die Konversion zum einen als ein klassischer Wechsel der Religions- oder Konfessionszugehörigkeit betrachtet werden. Zum anderen ist aber unter der Berücksichtigung des ausgewählten Untersuchungszeitraumes, in diesem Falle des späten 19. Jahrhunderts, auch der »Wandlungsprozess einer Person«14 im sozialen und politischen Kontext zu betrachten. »Während die erste Dimension auf den äußeren Prozess des Wechsels von A nach B und in diesem Sinne auf die Veränderung eines Merkmals der sozialen Identität abstellt, zielt die zweite auf die Veränderung der persönlichen Identität, die sich

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Vgl. Kap. I. Konversionsvorträge: Lazarus 1897a: Ein Seelenkampf ; Lazarus 1897b, 1897c: Warum ich Jüdin wurde; Zu Lazarus-Remys Vorträgen s.TL. Vgl. Kap. I, 1.2.2; 1.2.3; 1.2.4. Vgl. Kap. I: 11. Lazarus 1897c. Näheres siehe Kap. III, 1. Siehe die genauere Beschreibung der Konversionsdimensionen von Laudage-Kleeberg 2012: 20. Zu Konversionsschriften siehe auch: Rütter 2014. Laudage-Kleeberg 2012: 20.

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beim Konvertiten vollzieht. Beides kann miteinander verbunden sein, aber zweifellos ist auch Mitgliedschaftswechsel ohne Veränderung der persönlichen Identität möglich.«15 Mit dieser Betrachtung der zwei Dimensionen des Konversionsbegriffes wird es möglich, Lazarus-Remys Übertritt nicht nur im Hinblick eines Wechsels von einer Religion zur anderen zu betrachten, sondern auch ihren Wandlungsprozess dabei mit zu berücksichtigen, der sich von einer kirchlich distanzierten Protestantin zu einer philosemitischen Anhängerin der jüdischen Minorität vollzog. Wesentlich ist hierbei insbesondere die Betrachtung des historischen Kontextes, in dem ihre Konversion stattfand und der auch politische Konversionsmotive im Fall von Lazarus-Remy nicht ausschließen lässt. So betrachtet beispielsweise Kratz-Ritter Lazarus-Remys Übertritt als Antwort auf den Berliner Antisemitismusstreit des 19. Jahrhunderts und Reese definiert in ihrem Aufsatz Philosemitismus als Kalkül? sowohl Lazarus-Remys Engagement und Mitgefühl für die Juden als auch ihre Konversion und Eheschließung als eine von ihr kalkulierte Handlung.16 Des Weiteren geht Reese in ihrer Abhandlung davon aus, dass die verwitwete Remy zielstrebig den angesehenen Völkerpsychologen Moritz Lazarus heiratete, um ihre finanzielle und soziale Lebenssituation abzusichern, womit Reese LazarusRemys Philosemitismus als kalkulierte Handlung beschreibt, um in die intellektuelle Gesellschaftsschicht zu gelangen. Levenson macht in seinem Artikel An Adventure of Otherness: Nahida Remy/Ruth Lazarus darauf aufmerksam, dass der deutsche Philosemitismus im 19. Jahrhundert tatsächlich ambivalente Züge trage, die jedoch nicht von Lazarus-Remy aufgegriffen wurden.17 So würden beispielsweise Levenson zufolge christliche Institutionen erklären, dass sie die Juden mit ihren religiösen Traditionen gleichberechtigt anerkennen und akzeptieren, obwohl sie insgeheim das Ziel der Bekehrung verfolgten, das sie dann durch den wachsenden Antisemitismus auch erfolgreich erreicht hätten.18 Gegenüber Reeses Ansicht, dass Lazarus-Remy alleine aus pragmatischen Gründen zum Judentum konvertierte, werden in der folgenden Analyse Lazarus-Remys Konversionsgründe genauer untersucht und aufgezeigt, dass sie eine Kombination unterschiedlicher Motive für den Übertritt zum Judentum hatte. Dazu werden zunächst Lazarus-Remys religiösen Erfahrungen und die daraus resultierende theologische Reflexion untersucht und herausgearbeitet (Kap. III, 2.1). Des Weiteren wird die Bedeutung des gesellschaftlichen Umfeldes für ihre Konversion genauer betrachtet. Dabei wird wie bei Kratz-Ritter der aufkeimende Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts als mögliche Ursache für ihre Konversion untersucht (Kap. III, 2.3). Ebenso wird ihre Liebesbeziehung und Eheschließung mit dem jüdischen Völkerpsychologen Moritz Lazarus genauer betrachtet, da auch dieser Lebensabschnitt als möglicher Konversionsgrund in Betracht gezogen werden muss (Kap. III, 2.2).

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Ebd. Vgl. Kratz-Ritter 1994; Reese 2009 Levenson 1995: 102: »Remy’s philo-semitism, which led to her conversion to Judaism and her adoption of the name Ruth Lazarus, was remarkably free from the ambivalence, patronizing, and stereotyping characteristic of German philo-semitism.« Vgl. ebd.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

1. Exkurs: Konversionsverfahren im liberalen Judentum Im jüdischen Sprachgebrauch wird eine Person, die zum Judentum übertritt, vor allem als Proselyt (griech. Hinzugekommener) bezeichnet. Mit dem griechischen Begriff προσήλυτος (proselytos) übersetzte die Septuaginta (um 300/200 v. Chr.) das Hebräische ‫( גר‬ger, ein Fremder).19 Erst um 60/70 n. Chr. bezeichnet der Begriff Proselyt hauptsächlich den zum Judentum Konvertierten, der auch die gleichen Rechte besaß, wie diejenigen, die als Juden geboren wurden.20 In der Zeit des antiken Judentums waren Konversionen an keine Vorgaben außer dem religiösen Statuswechsel, gebunden.21 Brachte ein Nichtjude, der in Israel lebte, seine Verbundenheit zum Volk Israel zum Ausdruck, wurde dieser in der Gemeinde aufgenommen und als dazugehörig gezählt.22 Als Beispiel kann hier die Moabiterin Ruth genannt werden, die mit dem Bekenntnis: »dein Volk soll mein Volk sein und dein Gott soll mein Gott sein«23 (Ruth 1,16) zum Judentum konvertierte. In der rabbinischen Tradition (ab 70 n. Chr.) wurde diskutiert und festgelegt, unter welchen Bedingungen ein ›Fremder‹ zum Judentum konvertieren konnte. Während Rabbi Jehuda ha-Nassi allein die Proselytentaufe ohne Beschneidung für ausreichend erachtet hatte (vgl. bT Jeb 46b), verlangte sein Sohn, Rabbi Jose, dass der Übertretende auf das ganze mosaische Gesetz, also auch die Beschneidung, verpflichtet werde. Diese Forderung ist bis heute gesetzliche Form der Halacha geworden.24 Eine detaillierte Beschreibung des Konversionsvorgangs findet sich im Traktat bT Jeb 47ab sowie im kleinen außertalmudischen Traktat Gerim.25 Der in der rabbinischen Literatur beschriebene Akt der Konversion umfasst einen langwierigen Einführungsprozess, worin die Anwärter nach einer kritischen Befragung in der jüdischen Religion, Tradition und Lebensweise unterwiesen werden.26 Allerdings werde eine Konversion zum Judentum bis heute aufgrund ökonomischer, gesellschaftlicher oder politischer Vorteile sowie aus Gründen einer Liebesbeziehung seit der rabbinischen Tradition negativ beurteilt, da der eigentliche Wunsch zum Übertritt »um des Himmels willen«27

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Vgl. Schröder 2012: 76. Vgl. Carlebach 2002: 1717. Der ›Fremde‹ erhielt das Recht Opfer darzubringen, an der religiös organisierten sozialen Gemeinschaft teilzunehmen. Zudem erhält er die Möglichkeit, das Passafest auszurichten, wenn er und die männlichen Mitglieder seines Hauses beschnitten wurden. Vgl. Rabinowitz 2007. Vgl. dazu Cohen, Shaye J. D. (1999): The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, Uncertainties. (Hellenistic Culture and Society 31). Berkeley/Los Angeles/London. Vgl. dazu Ebach, Jürgen (1995) Fremde in Moab – Fremde aus Moab. Das Buch Ruth als politische Literatur, in: ders./Richard Faber eds., Bibel und Literatur. München 277–304. Vgl. Samter 1897: 17. Die gesetzlichen Vorschriften (Halacha) sind ebenfalls, wie die Aggada (erzählerische Betrachtungen) ein Teil des Talmuds. Vgl. Kap. II, 2.1.2. Vgl. Langer 2012: 97. Langer 2012: 104f.: Im Traktat Gerim steht: »Wenn jemand ein Proselyt zu werden wünscht, wird er angenommen, aber sie fragen ihn: Warum möchtest du ein Proselyt werden? Siehst du nicht, dass dieses Volk erniedrigt, unterdrückt und entwürdigt wird, mehr als alle andren Völker, dass Krankheiten und Leiden über sie kommen und dass sie ihre Kinder und Enkel begraben, dass sie geschlachtet werden, wenn sie beschneiden, Tauchbad und andere Vorschriften der Tora befolgen und nicht wie andere Völker aufrechten Hauptes gehen können?« Langer 2012: 96, 104.

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geschehen müsse. Ab dem Mittelalter jedoch galten in christlichen und in islamischen Ländern der Übertritt zum Judentum sowie das Missionieren als ein Verbrechen, das mit der Todesstrafe in Form des Feuertodes bestraft wurde.28 Nicht nur der Konvertit, sondern auch die ganze jüdische Gemeinde, die als ›Verführer‹ geahndet wurde, hatten Strafen zu erwarten, was zur Folge hatte, dass jüdische Gemeinden immer weniger Übertritte zuließen. Diese Bestimmungen blieben im Wesentlichen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestehen.29 Seit der französischen Revolution (1789–1799) ergaben sich darin allmählich Neuerungen. Obwohl in Preußen das allgemeine Landrecht vom Jahre 1794 allen Bürgern die Religionsfreiheit gewährte, wurde durch die Kabinettsordres Friedrich Wilhelms III. (1770–1840, 1797–1840 König von Preußen) aus dem Jahre 1814 wiederum der Übertritt zum Judentum verboten.30 Erst am 31. Januar 1850 wurde die Religionsfreiheit in Preußen durch die Verfassungsurkunde wieder offiziell gewährleistet.31 Obwohl durch die Religionsfreiheit die Konversion zum Judentum für beide Parteien (Proselyt und Gemeinde) nun straflos vollzogen werden konnte, haben sich die Juden infolge des 1600jährigen strengen Verbotes, Proselyten aufzunehmen, so sehr des Proselytismus entwöhnt, dass bezüglich des Konversionsverfahrens wenig getan wurde, um den Christen den Weg zum Judentum zu erleichtern.32 Die Rabbiner, denen die Aufnahme der Proselyten obliegt, neigen bis heute mehr dazu Übertrittswillige abzuweisen als aufzunehmen.33 Über die Gesamtheit der Christen, die Ende des 19. Jahrhunderts zum Judentum konvertierten, ist leider kaum etwas bekannt, da Daten sowie Forschungsergebnisse nur in sehr beschränktem Maße vorliegen.34 Nach den wenigen Daten, die N. Samter in seinem Vortrag von 1897 benennt, kann zunächst 28 29 30 31

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Vgl. Samter 1897: 36f. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Am 25. Mai 1868 wurde in Österreich dieselbe Freiheit durch das Gesetz durchgesetzt. Allerdings wurde in Ungarn erst nach langem Widerstand der Magnaten die Religionsfreiheit am 21. Okt. 1895 festgelegt. Vgl. ebd.: 23f. Laudage-Kleeberg 2012: 12: »Für Jüdinnen und Juden hat der Vorgang der Konversion eine lange beunruhigende Geschichte. Über Jahrhunderte waren sie Opfer erzwungener Konversionen, nicht nur im Spanien der Reconquista. Und das nicht bloß, weil andere Religionen grundsätzlich das Interesse daran besaßen und besitzen, Proselyten zu machen. Schließlich wird eine Konversion als Beweis für die ›Wahrheit‹ der ›neuen‹ und ihr Triumph über die ›alte‹ Religion begriffen. Für das Christentum wie für den Islam, die aus dem Judentum hervorgegangenen monotheistischen Religionen, besitzt die Konversion von Jüdinnen und Juden daher eine ganz besondere Bedeutung.« Die Religionsfreiheit wurde im Zuge des NS-Regimes soweit eingeschränkt, dass eine Religionsfreiheit solange bestehe, »soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeitsund Moralgefühl der germanischen Rasse verstoße.« 1948 wurde das Recht auf Konversion als Teil der Menschenrechte in Deutschland wieder aufgenommen. H.C.: 414f.: »Meldet sich also ein Christ zum Uebertritt, so war es natürlich, dass die jüdische Gemeinde um ihrer eigenen Sicherheit, wie des Konvertiten willen, diesen auf das Gefährliche seines Schrittes aufmerksam machte. Darin lag also keinesfalls ein Gefühl der ›Auserwähltheit‹, sondern eine sehr natürliche Zurückhaltung. […] In dem Fehlen des Konversionseifers auf jüdischer Seite drückt sich deshalb nicht eine Idee jüdischer Auserwähltheit, sondern, gerade im Gegentheil, die Idee jüdischer Gleichberechtigung der Religionen aus«. Vgl. auch Lapide 1995: 12f. Samter 1895: 38: In Österreich erhielten die Bürger laut Verfassung vom 25. Mai 1868 bereits die Religionsfreiheit. Von 1868 bis 1875 wurden in Wien allein von den Rabbinern Adolf Jellinek

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

angegeben werden, dass in Deutschland von 1890 bis 1894 79, in Preußen von 1875 bis 1894 184, und allein in Berlin von 1872 bis 1894 126 evangelische Christen zum Judentum wechselten. Samter bemerkt weiterhin, dass unter den Konvertiten wenig »vornehme Proselyten«35 waren, wie beispielsweise Lazarus-Remy, die er als eine der Geringen aufzählt. Neuere Forschungen zu Konversionen zum Judentum für diesen Zeitraum bestätigen die geringe Konvertitenzahl.36 Zu den wenigen Konvertiten, die vom Christentum zum Judentum übertraten, können unter anderem die katholische Schriftstellerin Paula (Judith) Buber, geb. Winkler (1877–1958), die Ehefrau des Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965), die Katholikin Paula (Ruth) Beer-Hofmann, geb. Lissy (1877–1939), die Ehefrau des Schriftstellers Richard Beer-Hofmann (1866–1945) sowie der protestantische Baron Ernst (Abraham) von Manstein (1869–1944) und dessen Frau Fanny von Manstein, geb. Bezold (1850–1941), die ebenfalls 1892 konvertierte, gezählt werden.37 Allerdings stieg seit der rechtlichen Gleichstellung der Juden (1871) die Zahl der Mischehen zwischen Juden und Christen, was gleichzeitig dazu führte, dass vermehrt die Frage des Übertritts aus Heiratsgründen aufkam. Dabei entwickelten das orthodoxe und das liberale Judentum nicht nur bezüglich der Eheschließung, sondern auch bezüglich der Konversion unterschiedliche Anforderungen. Während das liberale Judentum bis heute dem Anwärter, der es ausdrücklich wünscht, eine Konversion erlaubt, verweigerte das orthodoxe Judentum zunächst jedem den Übertritt zum Judentum. Nur speziellen Menschen, die für das orthodoxe Judentum als fähig angesehen werden, wird unter strengen Regeln die Konversion zum Judentum erlaubt.38 Im liberalen Judentum orientieren sich die Bedingungen einer Konversion an der offenen talmudischen Haltung, die jedem Nichtjuden das Recht zuspricht, zum Judentum konvertieren zu können, nachdem seine Eignung nachgewiesen wurde. Die liberalen jüdischen Gemeinden waren folglich bestrebt, all diejenigen dabei zu unterstützen, die aus eigenem Antrieb danach strebten, jüdisch zu werden. Jede Religion und Konfession pflegt einen unterschiedlichen Umgang mit Konversion und ihrer Inszenierung, sowohl beim Eintritt als auch beim Austritt in ihre Gemeinschaft. Dabei unterliegen die Anwärter je nach Religion und Konfession unterschiedlichen Aufnahmeritualen oder einfach einer

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(1820–1893) 561 und Moritz Güdemann (1835–1918) 207 christliche Personen ins Judentum aufgenommen. Siehe auch: Wolf 1876: 215. Zitiert in: ebd.: 510. Samter 1897: S. 38f. Auch der erste Präsident der Tschechoslowakei, Tómaš Masaryk (1850–1937), muss hier als einer der berühmten Proselyten gennant werden. Gerstenberger 2001: 25: »Between 1870 and 1900 several hundred Christians in germany and two thausend in Austria had taken this step.« Vgl. dazu: Gilman und Zipes 1997: 190: »January 31, 1850: Conversion to Judaism Is Protected under the Conditution of the North German Confederation«. Vgl. Gerstenberger 2001: 25. Zu Paula Buber und Paula Beer-Hofmann siehe: Hahn 1991: 92–108. Zu Ernst von Manstein und dessen Frau vgl.: Schott, Herbert (2014): Baron Ernst von Manstein – ein zum Judentum Konvertierter im »Dritten« Reich, in: Frankenland 66, 85–96. Zu den Konversionsregeln gehört zum einen, dass jeder, der die Konversion beabsichtigt, zunächst mehrere Jahre (man schätzt 3–4 Jahre) in einer streng orthodoxen Umgebung leben muss. Zudem muss er die Gesetze und Regeln lernen und streng befolgen.

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strikten Ablehnung. Beim Austritt reicht das Spektrum von der Todesdrohung über die Leugnung bis zum einfachen Gehen-lassen.39 Die Rituale, die im liberalen Judentum mit der Konversion verbunden sind und den Übertritt formalisieren und spürbar machen, werden im Folgenden kurz aufgegriffen und mit Lazarus-Remys Konversionserfahrung verglichen. Das Verfahren bei den liberalen Gemeinden beginnt zumeist mit einem Gespräch zwischen dem Anwärter und dem Rabbiner, der die folgenden drei Bedingungen für einen Übertritt erklärt.40 Als erstes muss der Anwärter seinen aufrichtigen Wunsch, zum Judentum übertreten zu wollen, dem zuständigen Gemeinderabbiner schriftlich und glaubhaft bekunden. Dieses Bekenntnis zur jüdischen Religion und Gemeinschaft musste auch Nahida Remy im Rahmen ihres Konversionsprozesses ablegen: »Mein Bekenntnis aufgeschrieben und dem Rabbiner hingetragen. Er heiter, sie sehr sorgenvoll.«41 Als nächstes muss sich der Anwärter ein bestimmtes Maß an Wissen über das Judentum aneignen. Dazu werden spezielle Konversionskurse oder persönliche Unterweisungen angeboten, die einmal wöchentlich ein Jahr lang stattfinden. Auch Lazarus-Remy musste sich, trotz jahrelanger autodidaktischer Studien über das Judentum und dessen Religion, Tradition, Geschichte sowie der hebräischen Sprache, der persönlichen Religionsunterweisung durch den Rabbiner Dr. Lewin unterziehen. Zu ihrem Unterrichtsinhalt gehörte neben der Auffrischung der hebräischen Sprache sowie dem grundlegenden Verstehen der Texte dieser Sprache auch die Unterweisung in Talmud, Schulchan Aruch sowie in der hebräischen Bibel.42 Daneben gehören zu den weiteren Themen auch die Auseinandersetzung mit den Glaubensprinzipien des Judentums (auch die Kaschrut-Vorschriften), dem synagogalen Gottesdienst, den häuslichen Rituale und dem Schabbat sowie der jüdischen Geschichte, die allerdings alle von ihr nicht explizit als Themen erwähnt werden.43 Ziel des Unterrichts war es, dass der Proselyt nach der Konversion in der Lage ist, den jüdischen Alltag zu leben, dessen Riten und Bräuche einzuhalten und insbesondere das jüdische Erbe seinen Kindern weiterzugeben. Die dritte Bedingung beinhaltet die Erfüllung der rituellen Forderungen. Dabei mussten sich die männlichen Anwärter der rituellen Beschneidung unterziehen, die das alttestamentliche Gebot erfüllt, das seit Abraham, dem ersten Konvertiten, für alle Juden erforderlich ist (vgl. Gen 17,10).44 Im Beth Din (Gerichtshof) wird der Kandidat nach dem abgeschlossenen 39 40

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Vgl. Laudage-Kleeberg 2012: 13. Auch Remy führte unter anderem ein solches Gespräch und pflegte intensiven Kontakt mit ihrem zuständigen Rabbiner Dr. Adolf Lewin (1843–1910), der sie in den Konversionsakt einführte. Vgl. Kap. I, 3.1. The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 23.03.1895, Arc.Nr. 01 133. Näheres zu ihrem Bekenntnis siehe Kap. III, 2.1. Ebd.: Tagebuchnotizen von März 1895: Beispielsweise schreibt sie am 17.03.1895: »Referat über Schulchan Aruch angefangen.« Seit Mitte des 20. Jh.s kamen als Thematiken die Bedeutung der Scho’ah und des Landes Israels hinzu. Langer 2012: 97: »Konversion stellt genealogische Identitätsmodelle auf den Kopf. Die rabbinischen Belege reflektieren darüber. So wird nach jBikkurim 1,4,64 die Darbringung von Erstlingsfrüchten durch Konvertiten dadurch erlaubt, dass man Abraham als ihren Vater deklariert. Der aber sei nach seiner Beschneidung zum ›Vater aller Völker‹ geworden. Abraham fungiert hier und an einer Reihe von anderen Stellen (vgl. Genesis Rabba 39.16; Sifre Deuteronomium 32) als ›my-

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Konversionskurs und der Beschneidung von drei Rabbinern bezüglich seiner Intention und seines jüdischen Glaubens befragt. Dabei wird geprüft, ob dieser ein ausreichendes Wissen über das Judentum erlangt hat und ob er ein starkes Verbundenheitsgefühl mit dem Judentum besitzt. Mit der Erlangung der Akzeptanz durch die drei Rabbiner erhält der Konvertit den Status als Jude. Nach dem erfolgreichen Verlauf des Beth Din findet in der Regel die Tewila (Reinigungsbad)45 statt, die symbolisch für die Änderung des Lebens eines Menschen steht.46 Der ›alte‹ Mensch taucht gereinigt und mit einer neuen Identität als Jude wieder auf. Bei der Zeremonie ist es wichtig, dass die Anwesenheit der Zeugen gewährleistet ist und die Konversion durch Segenssprüche begleitet wird. Alle drei rituellen Bedingungen, die vor allem die weiblichen Anwärter betreffen, wurden von Nahida Remy durchlaufen: »Vor dem Freiburger Baisdin [Beth Din], aufgenommen ins Judentum. Mein Junge als Zeuge dabei – Tauchbad genommen. Die Rabbinerin u. Frau Heidingsfeld als Zeuginnen.«47 Darüber hinaus kann der Konvertit, wie Lazarus-Remy, einen hebräischen Namen annehmen, um seine religiöse Dazugehörigkeit hervorzuheben.48 Der hebräische Name wird dann vor allem bei formalen Angelegenheiten genutzt, wie beispielsweise bei der Aufforderung zur Thoralesung oder auf hebräischen Dokumenten wie der ketubba (Ehevertrag). Nach dieser Prozedur gilt die konvertierte Person als vollkommen jüdisch mit den gleichen Rechten und Pflichten wie jeder gebürtige Jude.49

2. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum (1895) 2.1

Konversion aus emanzipatorischer und konfessorischer Überzeugung

Lazarus-Remy beschreibt in ihren Konversionserzählungen retrospektiv ihren Weg bis zur Konversion als persönlichen »Seelenkampf«50 , den sie während ihrer Suche nach

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thologischer‹ Vater der Konvertiten und schlägt somit die Brücke von der genealogischen zur kulturellen Zugehörigkeit«. Die Tewila, das Untertauchen in einer Mikwe (Reinigungsbad) oder einem See/Fluss musste sowohl von den Männern als auch von den Frauen ausgeführt werden. Schröder 2012: 76: »Der Prozess des Beitritts eines Nichtjuden heißt Giur und wird von einem Rabbinergericht, dem Bet Din, geleitet.« The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 31.3.1895, Arc.Nr. 01 133. Nahida Remy entscheidet sich für den jüdischen Beinamen Ruth, was im Kap. III, 2.2. näher erläutert wird. Bis heute herrscht über alle diese Elemente des Konversionsrituals zwischen den verschiedenen jüdischen Richtungen Uneinigkeit. Siehe dazu Schröder 2012: 77; 82: »Diese führt so weit, dass Proselyten aus der konservativen oder reformierten Tradition in der orthodoxen Tradition nicht als Juden akzeptiert werden und den Konversionsprozess dort erneut durchlaufen müssen. […] Beim jüdischen Konversionsritual geht es nicht nur um die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, sondern auch um die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk: so kommt es, dass israelitische Behörden die Proselyten aus reformierter Tradition als jüdische Einwanderer aufnehmen, auch wenn sie von der orthodoxen Tradition nicht als Juden akzeptiert werden.« Siehe: Lazarus-Remys Konversionsvortrag über ihren Seelenkampf gehalten im Apr. 1897 in Wien.

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dem einen monotheistischen Glauben durchlebte und der erst dann ein Ende fand, als sie erkannte, dass sie »im Herzen längst Jüdin«51 war. Gleichzeitig werden die retrospektiv erzählten Begebenheiten von ihr stets als gottgelenktes Handeln exemplifiziert, womit vor allem ihre Konversionserzählungen, wie beispielsweise ihr Vortrag Ein Seelenkampf (1897), auch als Vorsehungserzählungen angesehen werden können. Sie habe bereits als Kind während ihres »Kampfes«52 gegen den Glaubenszwiespalt, den sie zwischen den religiösen Normen und ihrem Glauben fühlte, das Gefühl göttlicher Führung empfunden. Für sie habe Gott »gerade ihr dieses tiefe, religiöse Bedürfniß nach Erkenntniß und Wahrheit in die Seele gepflanzt«53 , dass sie als ein Geschenk und auch als die Berufung Gottes ansah, sodass sie ihrem religiösen Bedürfnis weiter nachging. »Sie fühlte genau, dass jene zuredende Stimme [der Prediger, Nonnen und Lehrer] nicht die Gottestimme sei … und dieser allein wollte sie folgen.«54 Folglich verstand sie ihr Leben als ein Werk, in dem Gott als Lenker seit ihrer Kindheit wirkte. Nach diesem Muster beschreibt sie in ihren Konversionserzählungen hindurch alles, was ihr gegeben und genommen wurde und alles, was ihr gelang und misslang, als ein Werk Gottes, worin sie wiederum Trost fand. Darin findet sich ein Vorsehungsglaube wieder, der ihr vornehmlich zur Bekräftigung der eigenen Auserwähltheit diente: »Sie empfand es klar und scharf, dass Gott, der allmächtige, allwissende Vater sie immer noch in seine Schule schickte … Ihr Geist sollte reifen, ihr Sinn sich weiten, ihr Gemüt vertiefen.«55 Als Grund, dass gerade sie von Gott zu solchen »seltsamen Prüfungen« auserwählt wurde, gab sie die Vermutung an, dass vielleicht »noch Anderes, Besseres, Höheres«56 auf sie wartete, was sie zu leisten hatte. »Sie fürchtete sich vor Nichts und Niemanden. Am wenigsten fürchtete sie sich vor Irrtum. Sie vertraute der inneren Stimme, die sie unbedingt für Gottes Stimme selbst hielt, der sie stets, der sie schon als Kind gelauscht hatte und der sie bis jetzt, getrieben durch eine unbegreifliche, aber unbezwingliche Macht, unbeirrt und unbedenklich gefolgt war.«57 Damit zeigt Lazarus-Remy, dass sie innerlich stets spürte und wusste, dass das, was sie tat, dachte und öffentlich aussprach, richtig war, weshalb sie ihren religiösen Weg mit dem festen Glauben, dass Gott sie führte, beharrlich weiterverfolgte. Ihren Vorsehungsglauben beschreibt sie zumeist als eine Art Tag-Traum, in dem sie durch eine innere

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Lazarus 1897c. Lazarus-Remy 1927a: 8: »Denn das wusste ich ganz genau, dass ich anders geartet sei, als sonst Kinder in meinem Alter [1856]. In jenen Stunden der Einsamkeit keimte der Gedanke, dass Gott mich ausersehen habe, durch Leiden zu etwas zu gelangen, was noch geheimnisvoll war . . . . unerforschlich . . . . (und) ich nahm mir vor, alles zu ertragen, ohne zu klagen . . . komme was da wolle!« Das in Klammern stehende und kursiv Hervorgehobene wurde von Lazarus-Remy handschriftlich ergänzt. Vgl. Lazarus 1898b: 159f.: »Sie hob den gesenkten Blick und gewann ihre Fassung wieder. ›Und wenn sie mich Alle auslachen, – ich bleibe wie ich bin‹.« Ebd.: 139f.: Die zuredende Stimme ist hier die »Stimme sophistischer Zweckmäßigkeitslehre«. Ebd.: 186. Ebd.: »Vielleicht um noch Anderes, Besseres, Höheres zu leisten? Vielleicht!« Lazarus 1898b: 186f.: »Dieser Stimme wollte sie auch ferner gehorchen. Wollte? Sie mußte ihr gehorchen.«

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Stimme oder Gefühlsempfindungen in der Lage war, durch eigenes analytisches Auslegungsvermögen des ›Gehörten‹ und ›Empfundenen‹ neue Erkenntnisse für ihren Lebensweg zu erschließen: »Ich betete in der Kirche Maria della Spina in Pisa bis Stille, Weihrauch, Dämmerung und Müdigkeit alle Gedanken mich sanft einlullten. – In einem solchen traumhaften Zustand glaubte ich einst eine Stimme zu hören hinter dem Altar: ›Du wirst viel leiden, Nahida!‹ Ich erwachte … Leiden? – Das war mir nichts Neues … und ich hatte ja gelobt, Alles zu ertragen, ohne zu klagen.«58 Sie nimmt folglich keine passive Rolle in ihrem Vorsehungsglauben ein, indem Gott ihr seinen für sie bestimmten Plan direkt offenbart, sondern eher eine aktive Rolle, indem sie durch selbstständiges analytisches Denken ihre angenommene göttliche Vorherbestimmung erkennt. »Eine unheimliche, mystische Verwirrung ergriff mich. […] Aber ich wusste es genau: so würde ich fortan heissen: Nahida Remy. [Herv. i.O.] […] Du willst es Gott, also gut, – dann will ich es auch.«59 So sind ihre Ideen, Gedanken und Erkenntnisse nicht selbst das göttliche Wort, denn die Autorität ihrer Aussagen und nachfolgenden Taten entspringen aus der aktiven Sinndeutung ihrer mystischen Tagträume und ihrer Gefühle durch sie selbst. Die Schlüsse, die Lazarus-Remy aus ihren Träumen zieht, sind zumeist menschenfreundlich, mitfühlend und oft biblisch orientiert.60 Beispielsweise gibt sie Gen 48,16 als eine ihrer alttestamentlichen Lieblingsstellen an: »Der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel, der segne die Kinder.«61 Damit verband sie den Wunsch, dass ein Engel kommen solle, um sie aus der pietistischen Erziehung der Gräfin St. Germain zu erlösen: »›Der Engel‹, flüsterte sie wie traumbefangen, ›er wird auch mich erlösen‹.«62 Hier wird eine göttliche Eingebung geschildert, die nicht Gottes Stimme an eine Frau darstellen soll, sondern vor allem das Verstehen eigener Erfahrungen und selbstständiger Gefühlsanalyse: »Warum? Gott hatte es anders gewollt. [Herv. i.O.] Viel, viel später begriff ich seinen Willen. Es war alles nur Vorbereitung; auch das letzte Jahrzehnt Märtyrertum.«63 Daher sind ihre religiösen Botschaften nicht unbedingt von allgemeiner Wichtigkeit, sondern eher eine private Lösung zur eigenen Wegweisung, die sie zum Übertritt zum Judentum führt.64 Lazarus-Remys retrospektive Darstellung ihrer Träu58 59 60

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Lazarus-Remy 1927a: 21. Ebd.: 74. Lazarus 1898b: 48f.: »Sie fühlte sich bei diesem Nehmen und Verstecken der Bibel in Widerspruch mit den Menschen, – aber im Einverständniß mit Gott. […] Gott sah sie, – davon war sie fest überzeugt, aber er zürnte ihr nicht, und sie gelobte sich in diesem Augenblick, bei ihren Handlungen stets Gott zu befragen. Er wusste ja auch, dass sie das Buch nicht behalten wollte, dass sie es einmal wieder an seine alte Stelle zurückbringen würde, – dass sie es nur wie ein geliehenes Gut betrachtete.« Vgl. ebd.: 61. Ebd.: 61; 70: Sturmhoefel d.J. kann daraufhin mit der Hilfe von der jüdischen Kammerfrau Amalie mit ihrer Mutter fliehen. Während der Flucht spricht sie ein Stoßgebet »Lieber Gott, Hilf! Hilf!« aus, woraufhin die Flucht erfolgreich gelang. S.Kap. I, 1.1.3. Lazarus-Remy 1927b: 99. Lazarus-Remy 1927a: 74f.: »Wie geistesabwesend im Zimmer hin- und hergehend, horchte ich auf die innere Stimme, die mir zuraunte (wie damals in Maria della Spina): begreifst du noch nicht? – Das Theater ist deine Stätte nicht, Schriftstellerruhm wirst du nicht kennen, Eheglück

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me und Ahnungen sind ein methodisches Element des Erzählens ihres Seelenkampfes, ebenso wie ihr schrittweises Hinführen des Lesers/Zuhörers zur teleologischen Wende durch die mehrfach eingestreuten Vorzeichen. »Und wieder! Wie schon so oft, tauchte die Ahnung in ihr auf, dass Alles, Alles [sic!] nur Vorbereitung sei … Auch die sieben Lehrund Leidensjahre waren nur Vorbereitung.«65 Dabei wird die retrospektive Sinngebung der mystischen Träume, die wiederum als Geschichte in der eigenen Lebensgeschichte dargestellt werden, durch deren stetige Wiederholung suggestiv erzeugt. »Als prophetisch erweisen sie sich daher nur in der rückblickenden Rekonstruktion der Konversionsgeschichte.«66 Die retrospektive Darstellung ihres Vorsehungsglaubens innerhalb ihrer teleologischen Wendegeschichte erinnert gleichzeitig an die doppelte Prädestinationslehre. Dieses theologische Konzept thematisiert eine göttliche Vorherbestimmung des Menschen zum Heil oder zum Unheil, sodass einzelne Seelen von Gott zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis erwählt werden.67 Vermutlich daran orientiert beschreibt Lazarus-Remy ihre Gefühle und Gedanken nach dem Tod ihrer Mutter im Oktober 1889 in Mein Leben II folgendermaßen: »Ob ihr Geist mich umschwebte? […] Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist ja so tief eingewurzelt, bei allen Völkern, zu allen Zeiten. Kein Nihilismus hat ihn zerstören können und wird ihn je zerstören; denn er ist notwendig und naheliegend. Am naheliegendsten dem erleuchteten Denker, dem philosophischen Naturforscher. Er braucht nur seinen Blick in einen blühenden Obstgarten zu wenden. Überreich stehen die Bäume in Blütenfülle. Alles aber was schwächlich, durch Sturm oder Wurm beschädigt, kraft- und wertlos ist, fällt ab, fault, wird Dung … nur die wenigsten Früchte entwickeln sich zu gesunder Pracht und Schönheit. So die Menschen. Das Gros: die Gedanken- und Gefühlsarmen fallen ab vom Unsterblichkeitsbaum; werden Dung … die Auserlesenen, die Wenigen Grossdenkenden, Grossmütigen bleiben [Herv. i.O.], weil unsterblich. Vom toten Körper befreit, fliehen ihre Seelen in ein höheres Dasein.«68 Mit einer retrospektiven Sichtweise auf ihr vergangenes Leben hofft Lazarus-Remy auf die Erwähltheit ihrer Seele, indem sie sich auf den Verheißungs- und Vorsehungsglauben stützt, der am deutlichsten nach Lazarus’ Tod zum Ausdruck kommt, in ihrer Hoff-

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ist dir versagt, – Gott gibt dir eine schwerere Aufgabe, ein höheres Ziel … frage nicht und warte ab.« Lazarus 1898b: 185: »Vorbereitung? Worauf? Sie wusste sich noch keine Antwort zu geben.« 1882 sollte sie Moritz Lazarus begegnen, was wiederum als Gottes Lenkung gedeutet wird. Siehe: Lazarus-Remy 1927b: 100: »Es ward so still in mir. Kein Sturm der Seele. Alle Sinne ruhig, alle Fragen eingeschlummert. Nur ein geheimnisvolles Ahnen …eine leise Offenbarung …darüber ein verwunderter, verschämter Jubel. Als ob die Hand Gottes sanft und doch schwer auf mir läge, senkte ich den Kopf tief auf die Brust, damit Niemand mir ins Gesicht sähe und meine Andacht störe.« Kilcher 2012: 55f. Härle 2007: 505f. Lazarus-Remy 1927b: 123: »Doch die Liebe zu einem zurückgebliebenen Wesen, lässt die dahinscheidende Seele noch kurze Zeit: Minuten, Stunden, Tage, unsichtbar verweilen, um jenes Wesen in wohltätiger Stumpfheit zu versenken. Diese mystische Stumpfheit beherrschte mich tagelang. Keine Träne. Kein Gebet. Oder doch? Kein Erinnern daran.«

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

nung, dass auch sie zu den Außerwählten gehören möge, die »durch Liebe und Treue, Geist und wahre Religion«69 das Seelenheil erhalten. Unter ›wahrer Religion‹, die sie im Judentum fand, verstand sie vor allem die Lehre von der Einheit Gottes. »Entgegen den herrschenden Glaubenslehren, habe ich Herz u[nd] Verstand nie zu einem theilbaren Gott, zu einem Gott mit Nebengöttern wenden können; für einen dreieinigen Gott habe ich nie Verständniss gehabt. Fest an dem ersten Gebot mich haltend: ›du sollst keine Götter haben neben mir‹ und ›du sollst dir kein Abbild machen‹, – trug ich den einen einzigen Gott im Sinn; u[nd] alle Abbilder u[nd] aller Cultus der damit getrieben wurde, hat mich stets wie Abgötterei u[nd] Götzendienst berührt. Es schien mir sinnlos u[nd] frevelhaft das erhabene Wesen des einen einzigen Gottes mit Menschlichkeiten zu entstellen. [Herv. i.O.]«70 In ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! schildert Lazarus-Remy ausführlich die zahlreichen gescheiterten Versuche der christlichen Lehrer und Geistlichen; sie das Apostolische Glaubensbekenntnis wörtlich ablegen zu lassen.71 Sie konnte zeitlebens das christliche Glaubensbekenntnis nicht reinen Gewissens aussprechen, da sie an keine der dogmatischen Aussagen außer der ersten glauben könne, die jedoch gerade das Wesen des christlichen Glaubens ausmachten.72 Mit diesem Konflikt, den sie laut ihrer Konversionserzählung mit dem Pfarrer Dr. Karl Tobold (1792–1864) ausdiskutiert, wird gleichzei69

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The National Library of Israel, Department of Archives: Großes Tagebuch: 13.04.1909, Arc.Nr. 01 135: »Und immer wieder muss ich denken: sollte sein Geist nicht weiterleben? Mit individuellem Bewusstsein? Und mich sehen und von meiner Liebe wissen? – In allem Guten- Lieb- und Lichtvollen (während das Enge, dunkle, kleine Hässliche allein tot wäre) … das wäre für den höheren, für den göttlicheren Geist denkbar – ein Lohn für den hier auf Erden bewährten höheren Seelenadel, – - sollte es nicht so sein: der Pöbel ohne Wert vergeht, wie Spreu – aber der Geist eines Lazarus bleibt … und wenn auch ich eine Auserwählte (durch Liebe und Treue, Geist und wahre Religion) warum sollten wir zwei uns nicht wiederfinden? Ach!! Die unausdenkliche Seligkeit!!« Siehe auch: ebd.: Tagebucheintrag vom 15.05.1903, Arc.Nr. 01 133: »Ich im Garten für dein Bild frische Blumen holen – so wehmütig! – Aber ich unterdrücke meinen Gram: der Gedanke mir gekommen, ob – wenn 2 Seelen so Eins waren, wie die unsrigen, deine Seele viell[eicht] mitleidet, wenn ich leide?! Wenn deine Seele lebt – u[nd] wir glauben doch an die Unsterblichkeit der Seele? – dann fühlt sie viell[eicht] was in der Meinigen vorgeht-?!« Und: Lazarus-Remy 1927a: 33: »Jeder üblichen Tradition, jeder hergebrachten Unterrichts- Schablone durchaus unzugänglich, beschäftigte sich mein Geist unausgesetzt und selbstständig mit Gott, Seele, Unsterblichkeit; das eigene ›Ich‹- was ist es? Woher kommt es? Wohin geht es?« The National Library of Israel, Department of Archives: Jüdisches Bekenntnis vom 23.03.1895, 2f., Arc.Nr. 01 135. Siehe Kap. III, 2.1. Vgl. dazu Ex 20,3-5; Dtn 5,7-9. Lazarus-Remy 1927b: 139: »Er [Pfarrer Tobold] musste, gegen sein eigenes Gewissen, das ihn mahnte, hier eine Änderung im Text, dort eine Milderung des Ausdrucks eintreten zu lassen, darauf bestehen, dass seine Schülerin genau und buchstäblich den Wortlaut des Apostolicums als ihr eigenes Bekenntniß beschwöre, – und das vermochte sie nicht, wollte sie ehrlich bleiben.« Vgl. auch Lazarus-Remy 1927a: 33. Vgl. Lazarus-Remy 1927b: 236f. In Lazarus-Remys Jerusalem-Nachlass findet sich eine von ihr geschriebene Version des Apostolicums. Wann und aus welchem Grund sie das Glaubensbekenntnis niederschrieb, ist unbekannt. Sie ordnete diese handschriftliche Notiz in die Mappe: »Notizen v. LR- Katalog I-X: Kunstgeschichtliches u. Diplome«. In: The National Library of Israel, Department of Archives, Glaubensbekenntnis, Arc.Nr. 123.3:

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tig eine schwierige innerevangelische Auseinandersetzung angesprochen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Apostolikumsstreitigkeiten (1871/72 sowie 1892) äußerte.73 Die christliche Kirche stand im Kulturkampf in starker Kritik, sodass sie sich gegen diejenigen von ihren Gläubigen, die anhand der kritischen Vernunft christlich-dogmatische Lehrsätze infrage stellten, standhaft zeigen musste, um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren.74 Dabei wurde an Glaubenslehren gerüttelt, die seit Jahrhunderten festgelegt waren und an denen die christliche Kirche standhaft festhielt, obwohl eine Erneuerung im Denken sinnvoll erschien. So entfachte im 19. Jahrhundert in den evangelischen Landeskirchen die Auseinandersetzung bezüglich der gottesdienstlichen Verwendung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (Apostolikum), insbesondere als Voraussetzung bei der Taufe, Konfirmation und Ordination. Dabei wurden Aussagen des Apostolikums kritisiert, die speziell die Empfängnis durch den heiligen Geist und die Jungfrauengeburt betrafen.75

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»Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen Schöpfers [sic!] des Himmels und der Erde und an Jesus Christus seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren aus Maria der Jungfrau, hat gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt worden und gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle [sic!], am III. Tag auferstanden von den Toten, aufgefahren, sitzt zur rechten Hand Gottes, des Vaters, [dieser Teil entfällt: von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten] ich glaube an den heiligen Geist, an die heilige allgemeine, christliche, katholische [sic!] Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Ablass der Sünen [sic!], Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben.« Zu den hier verwendeten Wortlauten siehe Busch 2003; Vinzent 2006. Lazarus-Remy 1927b: 141: »›Gott bewahre, mein Kind,‹ erwiderte Dr. Tobold erschüttert, und legte seine Hand unwillkürlich wie zum Schutz und zum Segen auf Nahidens lockiges Haupt, – ›Gott bewahre, dass ich dich zu einer Lüge verleiten sollte!‹ […] Was sollte der alte Mann sagen? Aber sein Blick folgte ihr mit einem unbeschreiblichen Ausdruck innigsten Mitgefühls.« Auf 24 Seiten diskutiert sie darin, als 15-jähriges Mädchen (1864), mit dem protestantischen Pfarrer Dr. Tobold über die christliche Jesuslehre, wobei sie vor allem die christologische Interpretation in Frage stellt. Vgl. dazu Lazarus 1898b, 114–137. Siehe weiterführende Literatur: Winnebeck 2016. Auch Lazarus-Remy verfolgte interessiert den Kulturkampf des 19. Jh.s, was sie in Mein Leben I festhielt: Lazarus-Remy 1927a: 71: »Aber es kam auch der ›Kulturkampf‹ [Herv. i.O.], dessen verschiedenartige Phase von mir mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt wurde. – Fühlte ich mich doch wie persönlich beteiligt, die noch immer nicht das sog. ›Apostolische Glaubensbekenntnis‹ abgelegt hatte, die noch immer, kräftiger, klarer als je, sich die Freiheit der eigenen Religions-Ueberzeugung bewahrte! – Dann kamen nacheinander die Maigesetze [Herv. i.O.] zur Kontrollierung aller kirchlichen Anstalten und Einrichtungen und ihrer Vertreter vom Erzbischof bis zum kleinsten Dorfpfarrer; und wenn diese sich, wie gewöhnlich, hartnäckig den reformatorischen Anordnungen der Staatsregierung widersetzten, wurden sie bestraft; ganz wie gewöhnliche Sterbliche. – Diese von Bismarck glänzend durchgeführte Reform und sein Kulturkampf freute mich ungeheuer … im Uebrigen aber zitterte in mir ein heiss-heiliger Hass! [Ps 2,11] – Schade, dass der grosse Mann es nicht gewusst hat, – er hätte laut darüber gelacht (nebenbei: einen lachenden Bismarck kann man sich kaum vorstellen); vielleicht auch nicht … Hass war ihm nichts Neues«. Rathje 1952: 66f.: »Dass c) alle Einzeltatsachen, zu denen der Christ sich bekennt, nicht als nackte Tatsachen, sondern um der unsichtbaren Beziehungen und Werte willen, die der Glaube an ihnen wahrnimmt, Sätze des Glaubensbekenntnisses sind. Diese Erwägungen reichen gegenüber einem Satze des Apostolikums allerdings noch nicht aus (›empfangen vom Heiligen Geiste, geboren aus der Jungfrau Maria‹), denn hier wird als Tatsache etwas behauptet, was vielen gläubigen Christen unglaublich ist, und was eine in der Kontinuität der sonstigen kirchlichen Umdeutungen liegende Umdeutung deshalb nicht zuläßt, weil man es in sein Gegenteil umdeuten müßte.«

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Lazarus-Remy zählte sich selbst zu den passiven Widerständlern, die sich Ende des 19. Jahrhunderts kritisch gegen die dogmatischen Lehrsätze des Christentums, wie beispielsweise das Apostolikum, äußerten.76 So war für sie der Lebensweg des italienischen Geistlichen Luigi Francesco Leonardo De Sanctis (1808–1869) faszinierend und beispielgebend. Ursprünglich katholischer Priester, musste er aufgrund seiner Ablehnung der katholischen Dogmen, die er nicht mehr bekennen konnte, aus der katholischen Kirche austreten und wurde daraufhin zum Apologeten des Protestantismus.77 Seine antikatholischen Schriften wurden in Italien verboten und seine Bemühungen während der Ausbreitung des Risorgimento machten ihn zu einer führenden Figur für die Ausbreitung des Protestantismus in Italien. Sturmhoefel d.Ä. stand 1861/62 mit ihm im Briefwechsel, in dem auch einige »gütige Zeilen« standen, in welchen er »seiner Freude über [Lazarus-Remys] frühe Bibelkenntnis Ausdruck gab«78 . Auch notierte Lazarus-Remy in Mein Leben II die für sie wertvolle Begegnung mit dem früheren protestantischen Hofprediger Adolf Sydow (1800–1882), der 1872 in seinem Vortrag Über die wunderbare Geburt Jesu im Berliner Unionsverein ebenfalls die Jungfrauengeburt anzweifelte und dafür seines Amts enthoben wurde.79 »Wie wohltuend die kühne Aufrichtigkeit des greisen Predigers [A. Sydow] gerade zu einer Zeit da die Mucker und Pietisten in Berlin wieder die Oberhand zu gewinnen drohen.«80 Der Theologe und Kirchenhistoriker Adolf Harnack (1851–1930) behauptet in seiner Erklärung in der Zeitschrift Die Christliche Welt (1892), dass ein »gebildeter Christ«81 an mehreren Aussagen des Apostolikums Kritik ausüben müsse. Zwar widersprach er der gänzlichen Abschaffung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, jedoch empfahl er den liturgischen Gebrauch zunächst freizustellen, solange noch kein neues und zeitgemäßes Bekenntnis formuliert sei.82 Im September 1892 erklärte die Evangelisch-Lutherische Konferenz die Aussagen zur Jungfrauengeburt des Apostolikums als »Fundament des Christentums«83 , woran bis zur heutigen Gegenwart festgehalten wird. Neben der Jungfrauengeburt konnte Lazarus-Remy vor allem aber die im Apostolikum enthaltene Trinitätslehre nicht akzeptieren, weshalb sie zeitlebens nicht

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Lazarus 1898b: 91: »Das Mädchen konnte nicht eingesegnet werden, da der Geistliche sie nicht dahin bringen konnte, das apostolische Glaubensbekenntniß, das im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Kritik in der Welt, und sogar in den aufgeklärteren Kreisen selbst ernste und thatkräftige Widersacher gefunden, das zwölfjährige Kind nahm den Kampf gegen dessen bereits damals auf, indem es fest seinem Widerstande beharrte. Es erklärte die einzelnen Sätze dessen nicht glauben zu können und es blieb dabei.« Vgl. dazu auch Lazarus 1897c: »Das apostolische Glaubensbekenntnis […], das seit einigen Jahren in Deutschland, ganz besonders auch in kirchlichen Kreisen bereits Widersacher und Kritiker findet. Ich habe als 12jähriges Kind meinen Kampf – oder, nein, es ist nicht der richtige Ausdruck – meinen passiven Widerstand gegen dasselbe bereits erwiesen. Das apostolische Glaubensbekenntnis sollte mir noch viele Schmerzen bereiten.« Sein Leben habe ihre »Fantasie immer lebhafter beschäftigt«, sodass sie sein Schicksal in der Romanfigur Kardinal Naselli in ihrem Roman Geheime Gewalten (1890) verewigte. Vgl. Lazarus-Remy 1927a: 36. Ebd.: 35. Sydow 1873. Lazarus-Remy 1927b: 82f. Vgl. Dunkel 2002: 650; Harnack 1892b. Vgl. Rathje 1952: 66; Harnack 1892a. Vgl. Dunkel 2002: 650.

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das Apostolische Glaubensbekenntnis ablegte. So begründet sie dies in Mein Leben II in knapper Form: »Weil ich nur an einen Gott glaube, – nicht an drei«84 . Für sie war folglich die alttestamentliche Gottesvorstellung des Allein-Göttlichen normgebend, wohingegen die neutestamentliche Vorstellung einer Hypostase des trinitarischen Gottes, ersichtlich aus dem Bekenntnis der Taufe Mt 28,19, für sie eine Abwandlung des griechisch-römischen Polytheismus sei: »So konnte sie sich nie, aber auch niemals Nebengötter vorstellen. Und wenn von ihr verlangt wurde, neben Gott, dem himmlischen Vater, zweitens auch noch einen GottSohn und drittens einen Gott-Heiliger-Geist anzubeten, so erinnerte sie das an die griechischen und römischen Viel-Götter. Der ihr abgeforderte Glauben an die Dreieinigkeit war ihr durchaus unmöglich. Die Gotteskindschaft und die Geistesheiligung in zwei getrennten Personen als je für sich bestehende Gottheiten zu verkörpern, das gelang ihr nicht.«85 Die Dreieinigkeit Gottes (Trinitätslehre), die vor allem in der Glaubensformulierung »Ich glaube an Gott und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn«86 deutlich werde, konnte Lazarus-Remy nicht mit ihrem alttestamentlichen Verständnis in Einklang bringen, worin alle Menschen als Gottes Kinder angesehen werden und der Heilige Geist folglich auch in allen guten Menschen sichtbar wirke. Auch das christliche Verständnis von Jesus Christus als Gottmensch, das für das Judentum bis heute schwierig nachvollziehbar ist und einen wesentlichen Gegensatz zur jüdischen Auffassung über das Gottesbild und die Gott-Mensch-Beziehung darstellt, blieb für Lazarus-Remy zeitlebens unverständlich.87 Die christologische Vorstellung von Christus, Mensch und Gott in einem, war für Lazarus-Remy eine undenkbare Mischung, die ihrem alttestamentlichen Verständnis sowohl von Gott als auch vom Menschen völlig widerstrebte. Die Vorstellung eines Gottmenschen sei ihrer Meinung nach aus der griechischen und indischen Mythologie übernommen und als redaktionelle Änderung in Form einer Sage oder eines Märchens eingefügt worden.88 Auch konnte sie die christologische Vorstellung von Jesus Christus als Heilsspender und Vermittler zwischen Gott und den Menschen, der durch seinen Tod am Kreuz zum »Führer der Verirrten, den Gnadenbringer [wurde], und der allein die Liebe unter die Menschheit brächte, die allbarmherzige, allumfassende Liebe«89 , nicht nachvollziehen. Jesus Christus als dem Vermittler, ohne den der Mensch keine Gnade und folglich auch keine Liebe bei Gott fände, stellt Lazarus-Remy die alttestamentliche Vorstellung entgegen, die von der Zuneigung, Gnade und Liebe Gottes zu den Menschen spricht.90 Dies geschehe jedoch immer »ohne Vermittler!«, wie sie ausdrücklich mithilfe der Bibelstelle Ex 34,6f. betont: »Jehovah, barmherzig und gnädig,

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Lazarus-Remy 1927a: 42. Lazarus 1898b: 77f. Vgl. ebd.: 78. Vgl. ebd.: 119: »Diese Vorstellung eines Gottmenschen ist ja nicht neu. Die griechische und indische Mythologie ist ja voll davon.« Vgl. ebd. Vgl. ebd.: 123f. Vgl. ebd.: 124.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

geduldig und voll von Gnaden und Treue, der du bewahrest Gnade im tausendsten Glied den Sündern und vergiebst Missethat, Schuld und Vergehen.«91 Entsprechend der alttestamentlichen Auffassung, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist und daher ein gottentsprechendes Leben samt der Erkenntnis von Gut und Böse sowie der Befähigung zur Entscheidungsfreiheit erhält, plädiert LazarusRemy für die Versöhnung zwischen Menschen und Gott. Darin ist impliziert, dass der Irrende umkehren und so selbst, ohne Vermittler, eine Versöhnung mit Gott erreichen und diese somit allein von Gott gegeben werden kann. Mit dieser Anschauung steht Lazarus-Remy der christologischen Gnadenlehre mit der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen deutlich entgegen. Auch ist für sie die soteriologische Sichtweise, dass »Jesus Christus am Kreuz ›unsere Sünden hinweggenommen […] [und] uns die Erlösung von allem Übel gebracht [hat]‹«92 , angesichts der noch andauernden Sünden und Übel auf der Welt nicht einleuchtend. Für sie ist das Ende des Lebens Jesu zwar ein »trauriges Sterben am Kreuz«93 , aber ohne die Symbolik des Opfertodes, die Göttlichkeit des Heilandes sowie die Auferstehungslehre. Die Diskrepanz zwischen der neutestamentlichen und ihrer alttestamentlichen Gottesvorstellung war für sie so ausschlaggebend, dass für sie, trotz mehrfachen Versuchen sich die Trinitätsvorstellung erklären zu lassen, der eingeforderte Glaube an die Dreieinigkeit nicht möglich war. Folglich sei ihr, wegen ihrer Weigerung das Apostolische Glaubensbekenntnis abzulegen, die Konfirmation abgelehnt worden.94 Orientiert an ihrer emanzipierten Mutter Sturmhoefel d.Ä.95 , die für eine selbstbestimmte und rationale Weltanschauung eintrat, betrachtete auch Lazarus-Remy stets alle ihr vorgelegten dogmatischen Lehrsätze der christlichen Kirchen anhand ihres kritischen Vernunftdenkens und mit wissenschaftlich begründeter Erkenntnis als Maßstab. »Die an sie gewendete Mühe, sie zu einer guten Katholikin zu machen, war ganz vergeblich. Nichts, aber auch nicht das Geringste der specifischen Dogmen ging in den Glauben des Mädchens über.«96 Diese vernunftbezogene Wissbegierde sowie der rationale Skeptizismus der Aufklärung seien allerdings christlicherseits negativ bewertet worden, indem das Anwenden des rationalen Vernunftdenkens und das Streben nach der Wahrheit als »unnatürliche Überhebung des Geistes«97 deklariert wurden. Umgekehrt seien die

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Ebd.: »›Und nicht blos dort, auch sonst an vielen Stellen ist von der Gnade Gottes, von der Liebe Gottes der Rede – ohne Vermittler‹ – fügte sie schüchtern hinzu.« Lazarus 1898b: 117f.: »Und dennoch all‹ das Üble auf der Welt? Krankheit, Krieg, Verbrechen, Mißgunst, Feindschaft, das die Menschen Jahrtausende lang quält und vernichtet?« Vgl. ebd.: 132. Vgl. dazu Jonge 1904: 37. Vgl. Lazarus 1898b: 91. Siehe auch Kap. I, 1.2.4. S.Kap. I, 1.1. Lazarus 1898b: 78: »Vergeblich alle Belehrungen der Beichtväter, alle Ermahnungen der frommen Schwestern. Vergeblich selbst die sanfte Beredsamkeit der Priorin, die in einem schwächlichen Körper eine glaubensstarke Seele barg. Alles war vergeblich!« Ebd.: 116: »Mancher, der wie du, jung, gutgeartet, liebevollen Gemüts und sich daher etwas zu Gute thut sowohl darauf, als weil er was gelernt hat, – der gerade ist oft der ärgste Sünder, denn zu seiner natürlichen Sündhaftigkeit kommt eine unnatürliche Überhebung des Geistes, die ihn blind macht für die allein göttliche Lehre der Wahrheit.« In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s kam die Freidenkerbewegung noch weiter auf. Sie forderte mittels Religionskritik, dass die Lehrsätze mit

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Wissbegierde und der Skeptizismus von den Vernunftdenkenden als von Gott »verliehene Gaben«98 angesehen worden, die dementsprechend auch eingesetzt und als Gottes Geschenk geschätzt werden sollten. Aus diesem Grund verhindere Lazarus-Remys »tiefe Religiosität«99 , den christlichen Dogmen, die eine von Menschen interpretierte und normative Lehrmeinung darstellen, mehr Gewicht und Wert beizulegen als ihrer eigenen inneren Stimme. Für sie standen viele der dogmatischen Aussprüche »im Widerspruch« zu ihrer alttestamentlichen Glaubensvorstellung, weshalb es ihr »unmöglich gewesen sei«, die christlichen Dogmen »anzuerkennen und gar als Wahrheit, als göttliche Einrichtung, als Bedingung für das Seelenheil zu befolgen und zu beschwören«100 . Sie lehnte folglich den dogmatischen Formalismus ab und betonte die moralischsittliche Seite der Heiligen Schrift (darunter versteht sie das Alte Testament), das allein wesentlich und normgebend für den monotheistischen Gottesglauben sei. Mit der Entdeckung der christlichen Bibel101 in der Bibliothek der Gräfin St. Germain (1857) fand Lazarus-Remy, obwohl sie vieles nicht verstand, die Antworten, die sie von ihren christlichen Lehrern und Predigern nicht bekam.102 In den von ihr geschilderten Grenzsituationen in ihrer Kindheit, vor allem bei der Gräfin St. Germain, fand sie auf ihre Weise in den alttestamentlichen Glaubenserfahrungen Halt und Trost. »Meine Sehnsucht nach der Mutter und meine Suche nach Gott wurde allein im Alten Testament befriedigt. Das Alte Testament wurde mir zur ausschließlichen Quelle moralischer und religiöser Erhebung.«103 Die Heiligen Schrift wurde von ihr als »das durch göttlichen Geist offenbarte Lehrbuch der Menschheit [angesehen] [Herv. i.O.], – dessen erhabene Gebote trotz tausend- u[nd] tausendjähriger Lehrzeit noch nicht von den Völkern voll begriffen u[nd] befolgt werden. [Herv. i.O.]«104 An dem Landesrabbiner Salomon Herxheimer (1801–1884)105 orientiert, gesteht sie zwar zu, dass im Alten Testament Einzelheiten

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Vernunft durchdacht und überdacht werden sollten, wodurch ein Streit mit den Kirchen entstand, der letztendlich zur Trennung von Kirche und Staat führte. Ebd.: 118f.: »›Ich denke mir,‹ antwortete das junge Mädchen und sah sinnend vor sich hin, › dass wenn ich diese Armut [im Geiste] nicht besitze, wenn Gott mir vielleicht Reichtum verlieh – kann ich dafür? Soll ich die mir verliehenen Gaben schmähen und verschmähen?« Vgl. Lazarus 1898b: 78f. Ebd.: 115. Ebd.: 46: »Ein Buch, das den größten Einfluß auf sie ausüben sollte, ein Buch, das ihre ganze Seele gefangen nahm, ein Buch, das ihr Freund und Führer für das Leben werden sollte … Die Bibel! Ohne die Bibel wäre das Kind zu Grunde gegangen. Die Bibel wurde seine Retterin, sie wurde sein Heil und seine Hilfe.« Vgl. Kap. II, 6.1.2. Ebd.: 50: »Sowohl Gedanken als auch nie gehörte Worte blieben unerklärlich. Dann suchte die kindliche Leserin auch nicht den Sinn zu ergründen. Sie begnügte sich mit dem, was ihr nahe lag.« Lazarus 1897a: 362. Siehe auch: Lazarus 1898b: 50: »Wenn gar ihr kleines Herze wieder einmal recht weh that, oder die Sehnsucht nach der fernen Mutter wieder übermächtig wurde, – dann griff sie zur geliebten Bibel, schlug die Psalmen auf – denn diese waren es besonders, in denen sie fand, was sie suchte.« The National Library of Israel, Department of Archives: Jüdisches Bekenntnis vom 23.03.1895, Arc.Nr. 01 135. Zu Herxheimer vgl.: Faber, Rolf (2001): Salomon Herxheimer 1801–1884. Ein Rabbiner zwischen Tradition und Emanzipation. Leben und Wirken eines fast vergessenen Dotzheimers. (Schriften des Heimat- und Verschönerungsvereins Dotzheim e.V. 21). Wiesbaden.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

vorkommen, »welche jetzt nicht mehr bei uns anwendbar«106 seien, aufgrund ihrer Entstehungszeit, womit sie der zeitgenössischen Polemik gegen das Alte Testament mit einer historisch-kritischen Betrachtung entgegenwirkt. Denn die Zuschreibung einer niedrigeren und nebensächlicheren Bedeutung des Alten Testaments aus vor allem liberal-protestantischer Sicht konnte sie nicht teilen, da sie das Alte Testament stets als Grundlage des Neuen angesehen hatte, was sie vor allem mit alttestamentlichen Aussagen Jesu stützte: »Jesus selbst lehrte ja nur, was im Alten Testament steht! […] und die poetischen Bilder [nehme sie] nicht wörtlich, und das Meiste, besonders im Neuen Testament«, fasse sie auch »nur symbolisch auf.«107 Sie betitelt Jesus als einen Rabbi, womit sie ihn als historischen Jesus betrachtet, eindeutig den rabbinischen Schriftgelehrten zuordnet und damit betont, dass Jesus von Nazareth den Evangelien nach ein gesetzestreuer Jude war. Denn er zeige in allem seinem jüdischen Reden und Handeln seinen Glauben an den einen einzigen Gott.108 Zeitlebens erkennt auch sie innerhalb der Heiligen Schrift allein den alttestamentlichen Glauben an den einen Gott an, der für sie ein Zufluchtsort wurde, aber gleichzeitig auch ein sich Entfernen von ihrem christlichen Umfeld. Folglich formuliert sie in ihrem jüdischen Bekenntnis: »So blieb mir nichts übrig, als mich zu der jüdischen Vorstellung u[nd] Glaubenslehren, die allein das Gebot ›du sollst‹ u.s.w. vollkommen befolgt, zu bekennen. […] (Das) Studium des Judentums be(festigte) […], läuterte […] sieghaft […] meine Überzeugung von der Existenz eines einen einigen u. einzigen Gottes. Dem Judentum verdanke ich die höchste Lehre u. Freude meines geistigen Lebens: ein nunmehr klares reines Gottesbewusstsein. Ich weiss nun, Religion ist Glaube an Gott u[nd] ein Thun, das diesem Glauben entspringt. [Herv. i.O.]«109 Abschließend wird deutlich, dass die Begebenheiten und Fähigkeiten, die sie bereits als Kind erlebte und erreichte, von ihr durchgängig in ihren Konversionserzählungen als wegweisende Wirkungen der Gnade Gottes interpretiert werden. Über die Darstellung der Kindheit hinaus versucht sie entgegen den zeitgenössischen Verleumdungen ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich!, in der sie ihren eigenwilligen und erfolgreichen Leidensweg darstellte, den Eindruck zu erwecken, dass dieser nur möglich war, weil sie 106 Herxheimer 1868: 3. Vgl. dazu The National Library of Israel, Department of Archives: Jüdisches Bekenntnis vom 23.03.1895, Arc.Nr. 01 135: »Auch muss die Schöpfungsgeschichte in der Bibel bildlich verstanden werden; wenn es heisst ›Hand Gottes‹ – so ist damit gemeint Allmacht Gottes [Herv. i.O.], ›Auge Gottes‹, Gottes Gegenwart. – u.s.w.«. Vgl. Kap. II, 6.1.2. 107 Lazarus 1898b: 120; 125: »So niedrig und nebensächlich kann ich die Bedeutung des Alten Testaments nicht annehmen.« Siehe dazu auch ebd.: 133: »Was man mehrere Jahrhunderte später, aus der Erinnerung, nach Erzählungen der Nachkommen jener Männer, die ihn gesehen haben wollen, als Bericht zusammengestellt hat, werde ich stets mit Bedenken entgegennehmen. Man weiß, wie Erzählungen, von Mund zu Mund gehend, Wandlungen, Bereicherungen, Übertreibungen erfahren, – man weiß auch, dass in gutem Glauben von visionären Menschen Dinge gesehen werden, die gar nicht da waren – wie kann ich, nach mehr als tausend Jahren, eine Gewißheit, eine Sicherheit haben, was an allen diesen, zum Theil sogar sich widersprechenden Berichten, wahr oder nicht wahr ist?« 108 Ebd.: 133; 306. 109 The National Library of Israel, Department of Archives: Jüdisches Bekenntnis vom 23.03.1895, Arc.Nr. 01 135.

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sich Gottes Führung überließ. Mit den thetischen Argumenten ist Lazarus-Remy bemüht, den Nachweis zu erbringen, dass sie nur aufgrund einer persönlichen Beziehung zu Gott, eines ständigen Gespräches mit ihm110 , einer aufmerksamen Befolgung seines Willens die Kraft gehabt habe, die Ängste ihrer rastlosen Kindheit, das pietistisch-kalte Hofleben, die Widerstände der Verwandtschaft gegen ihre Konfessionslosigkeit und ihre späteren projüdischen Ansichten und Verteidigungsschriften unbeschadet zu überstehen.111 Deshalb ist es ein Leitgedanke dieser im Alter von 49 Jahren verfassten Konversionserzählung, dem christlichen Adressaten der Lektüre verständlich zu machen: »Der feste Glaube an das, was die innere Stimme mir prophezeit, wurde nicht getäuscht. Es kam alles so, wie es kommen musste.«112 Folglich zeigt sie mit ihrer Selbstanalyse innerhalb ihrer Konversionserzählungen, dass mehr als ihr halbes Leben (45 Jahre) eine Art seelenzerreißende Zeit gewesen war mit Glaubenszweifeln, Ängsten und Verwirrungen. Gleich, aus welchem Lebensjahr der Rückblick innerhalb ihrer Konversionserzählungen erfolgt, identifiziert sich Lazarus-Remy stets mit dem Kind, das sie gewesen ist. Ihre Kindheitserfahrungen des Glaubens blieben gegen alle Widerstände und Anfechtungen die Halt und Kraft gebende Erinnerung: »Ich sage, das Judentum kennt keinen Dogmenzwang. Könnte ich doch aussprechen, was das für mich bedeute, frei zu sein vom Dogmenzwang, nicht gedankenlos oder heuchlerisch nachplappern zu müssen, was Andere uns vorsagen, Fremde uns befehlen! […] Und nun auf einmal erkenne ich, dass ich nicht allein so denke und fühle, dass auch andere, ein Volk, ein ganzes Volk, das Volk, dessen Ahnen die Bibel geschaffen, das Volk, dessen Väter das Wort ausgesprochen haben: ›Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst‹, das Bibelvolk meinen Glauben bekennt, nämlich: ›Es gibt nur einen Gott und keinen daneben!‹ Und so darf ich froh und frei, glücklich und stolz mich zur Religion des reinsten Monotheismus bekennen ›bechol leoecho, uwchel nafschecho, uwchol meodecho!‹. [Herv. i.O.]«113

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Lazarus-Remy 1927a: 20: »Mit Gott zu reden, war mir seit ich denken konnte, eine Gewohnheit, ein leidenschaftliches Bedürfnis. In der Einsamkeit – ich war viel allein – sprach ich laut zu ihm, fragte ihn, und gab mir zuweilen in seinem Namen selbst die Antwort. Der unbedingte Glaube an Gott war so verwebt in allem Wünschen, Hoffen und Erleben, dass mir immer schien, als umgebe er mich, so nahe fühlte ich ihn mir.« Lazarus 1928: 686: Am 21. Jan. 1884 schrieb Nahida Remy an ihre Freundin Sophie Herzberg zu ihren Studien über das Judentum: »Professor Lazarus unterstützt mich mit seinem Rat. Im übrigen bin ich ganz allein auf mich angewiesen und in der eigentümlichen Lage, dass ich meine Bestrebungen fast verheimlichen muß, um nicht in endlose Debatten und unerquickliche Auseinandersetzungen zu geraten, da meine Verwandten ganz anderer Richtung angehören, zum Teil sogar jenem inhumanen intoleranten Zuge folgen, der mir bei Beobachtung der öffentlichen Vorgänge vor Zorn und Scham das Blut ins Gesicht steigen läßt.« Lazarus-Remy 1927a: 74f. Lazarus 1897c. Dies ist Lazarus-Remys öffentliches Bekenntnis – es enthält alles, was gefordert wird, wenn man zum Judentum übertritt. Vgl. dazu Dtn 6,4f. Vgl. auch Lazarus-Remy 1927b: 105: In Mein Leben II notiert sie nach dem zehnjährigen autodidaktischen Studium über das Judentum: »Meine von Kindheit an mystische Pietät für das Volk, das die Bibel geschaffen, klärte und festigte sich.«

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

2.2

Konversion als apologetische Antwort auf den Antisemitismus

Wie bereits geschildert, bewegte der aufkommende Antisemitismus schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts Lazarus-Remy dazu, sich mit der Thematik der Judenfrage zu befassen. Zunächst motiviert durch mangelndes Wissen und persönliche Neugier sowie Mitleid, begann sie über die Menschen jüdischen Glaubens nachzudenken und sich autodidaktisch über das ihr damals noch unbekannte Judentum zu belehren. Durch ihre neugewonnenen Erkenntnisse entwickelte sich aus ihrem Mitleid Sympathie und Bewunderung gegenüber dem jüdischen Volk und dessen Religion sowie Traditionen, was dazu führte, dass sie sich zum einen mit ihren Studien für die Juden einsetzte und zum anderen sich selbst zum Judentum bekannte.114 Bereits am 26. Juni 1885 notiert sie ihr Bekenntnis zum Judentum in einem persönlichen Brief an ihre jüdische Freundin Sophie Herzberg: »Meine ganze Seele ist von der Bedeutung des Judentums erfüllt, – so zwar, dass ich mich nicht mehr eine Christin nennen kann. – Ich kann nur wünschen, dass alle Jüdinnen so jüdisch denken mögen wie ich. – Dieses kurze Bekenntnis mag Ihnen andeuten, wie und wovon mein Gemüt am tiefsten bewegt ist. Ihre Mahnung, ich möge meine Sympathie zum Judentum nicht bekennen, ist längst überschritten … Und die ›große Heerstraße‹? Die habe ich stets gemieden und fühle mich belohnt, nicht bestraft. O, es ist ein köstliches Ding um die Selbstständigkeit, auch wenn man sie mit Einsamkeit erkaufen muß. Mein Streben, das mich mit der Welt verknüpft, besteht in der Arbeit zur Vervollkommnung, damit ich fähig werde, eine Schöpfung im Dienst der Humanität und zur Verherrlichung des Judentums zu hinterlassen. [Herv. i.O.]«115 Während die meisten der wenigen Konvertiten, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Judentum übertraten, dies heimlich vollzogen, nutzte Lazarus-Remy ihren Übertritt als öffentlichen Akt, indem sie sich nicht nur durch ihre darauffolgenden Konversionsvorträge, sondern auch durch ihre umfangreiche autobiographische Konversionserzählung öffentlich zum Judentum bekannte.116 Das Publizieren ihrer Konversionsgeschichte kann als ein Spezifikum angesehen werden, da ein solch außergewöhnlicher Akt insbesondere von weiblicher Seite üblicherweise nicht öffentlich gemacht wurde. Trotz der wenigen Konvertiten war das Thema Übertritt zum Judentum in den jüdischen Zeitungen und Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts ein sehr zentrales. Zwischen 1843 und 1875 berichtete beispielsweise die AZJ, für die auch Lazarus-Remy schrieb, über 20 Fälle von Einzel- oder Gruppenkonversionen zum Judentum.117 Davon seien die meisten jedoch männliche Konvertiten gewesen, deren Konversion als »Bekehrungs-Operation«118

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Lazarus 1898b: 214. Zitiert in: Lazarus 1928: 686. Lazarus, Nahida Ruth: Warum ich Jüdin wurde. Konversionsvortrag von Juni 1897. Abgedruckt in: Lazarus 1897b. Lazaraus, Nahida Ruth: Ein Seelenkampf. Konversionsvortrag in Wien im Apr. 1897. Abgedruckt in: Lazarus 1897a; Lazarus 1898b. Vgl. Gerstenberger 2001: 46. Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ). Vgl. Krotoschin 1866: 197f.

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bezeichnet und unter anderem in der AZJ veröffentlicht wurde, mit dem Ziel die Aufrichtigkeit der Konvertiten hervorzuheben und beispielhaft zu wirken. Die wenigen Berichte über weibliche Konvertiten, die in der AZJ nebenbei erwähnt werden, informieren von Übertritten zum Judentum, die wegen einer Eheschließung stattgefunden haben sollen. Aus diesem Grund erhielten die weiblichen Konversionen bis heute den Ruf, weniger lobens- und ehrenwert zu sein als die männlichen Konversionen, die vorwiegend einen religiösen Hintergrund aufwiesen.119 Dadurch, dass die männlichen Konvertiten sich dem Ritual der Beschneidung zu unterziehen hatten, galt der Konversionsakt von Männern als glaubwürdiger als der der Frauen, die keinen körperlichen Einsatz aufzubringen hatten.120 Lazarus-Remy schrieb ab 1890 für die AZJ und kannte daher die darin veröffentlichten männlichen Konversionserzählungen (Bekehrungs-Operationen) und die damit beabsichtigten Ziele. In ihrer autobiographischen Konversionserzählung stellt sie daher analog zu den männlichen Konversionserzählungen ihre Konversion auch als eine Entscheidung aus religiöser Überzeugung dar, die ebenfalls beispielgebend sein sollte. Damit übernimmt sie die Konversionsgründe, die von der AZJ bewusst nur den männlichen Konvertiten zugeschrieben wurden, und zeigt damit auf, dass diese ebenso für Konvertitinnen, wie in ihrem Fall, zutreffen können. Im Allgemeinen schildern Konvertiten in Konversionserzählungen den Prozess ihrer religiösen Umorientierung, in welcher das vergangene Leben reflektiert und die Abwendung von diesem sowie die Zuwendung zum neuen religiösen Leben in einem veränderten gesellschaftlichen Beziehungsnetz formuliert wird. Demnach werden die Konversionserzählungen in der Forschungssprache auch als »biographische Rekonstruktionen«121 bezeichnet. Bernd Ulmer, der sich mit der sprachlichen Form der Konversionserzählung befasst, hat eine für Konversionserzählungen »typische«122 dreigliedrige Verlaufsstruktur ausgearbeitet. Entsprechend seinem Modell lässt sich auch in Lazarus-Remys Konversionserzählung (Ich suchte Dich!) eine detaillierte Schilderung der Umstände, die zur Konversion führten, finden, während die Lebensphasen vor und nach diesem zentralen Geschehen stärker zeitlich gerafft dargestellt werden. So beginnt ihre Konversionserzählung mit ihrem Aufenthalt bei der Gräfin St. Germain 1857 und endet mit ihrer Konversion 1895. Die vorkonversionelle Zeit wird von ihr entsprechend negativ geschildert und bewertet, womit vor allem die Diskrepanz zur neuen Glaubenssituation betont werden soll. Dabei wird ihr Leben vor der Konversion als leer und unglücklich beschrieben, nach der

119 Vgl. Gerstenberger 2001: 46. 120 Berger 2008: 4. Siehe auch: Seligmann 1936: 29: »dass es vor allem die Frauen waren, auf die das Judentum die stärkste Anziehungskraft übte, wird den nicht wundern, der die Frauenseele kennt, wie sie nicht nur alles Neue intuitiv rasch erfasst, sondern auch dem Irrationalen, Unfassbaren mit Inbrunst sich hingibt und sich nach einer Autorität sehnt, der sie gläubig vertrauen kann. Zudem war die Aufnahme der Frauen, von denen nichts weiter als die Proselytentaufe, das Symbol des Reinwerdens vom Heidnischen, gefordert wurde, viel leichter als die Aufnahme der Männer.« Die Thematik des geschlechterspezifischen Konvertierens zum Judentum blieb bisher aufgrund der wenigen Konvertiten vom Christentum zum Judentum unberücksichtigt, was eine interessante Forschungslücke darstellt. 121 Bischofberger 2002: 1228. 122 Die dreigliedrige Verlaufsstruktur umfasst 1. die vorkonversionelle Zeit, 2. den Konversionsprozess und 3. die nachkonversionelle Zeit. Vgl. dazu auch Bern 1988.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Konversion jedoch als sinnvoll und erfüllt: »Dennoch war das junge Mädchen ihres Lebens nicht froh.«123 Ihr Konversionsprozess vollzog sich, ebenfalls typisch für diese Erzählart, folglich über Jahrzehnte hinweg und kann daher bei Lazarus-Remy nicht als eine plötzliche unvermittelte Umkehr angesehen werden. Durch die spezifisch geschilderte sozialgesellschaftliche und christliche Umgebung seien die Glaubenskrise und ihr aktives Suchen nach Gott sowie einer neuen religiösen Orientierung ausgelöst worden. »Mit tausenderlei Winkelzügen und Spiegelfechtereien, mit List und Lüge, mit absichtlicher Verdummung der Vernunft und mit wohl überlegter Vergewaltigung des einfachen gesunden Menschenverstandes, ja mit Versündigung gegen das unschuldig vertrauende Kindergemüt hatte man mir den herkömmlichen Religionsglauben aufzwingen wollen. Was hatte ich darunter gelitten! Meine Kindheit ist verbittert, meine Jugend vergiftet worden. Gespielen und Freundinnen hatte ich nie gekannt. Furcht, Strafe, Beschämung waren das tägliche Brot, mit welchem Erzieher und Lehrer, Verwandte und Bekannte mich genährt hatten. Und obwohl ich mir niemals bei meinem Widerstande, bei meinem passiven Widerstande – ich wiederhole das – gegen das Herkömmliche bewusst war, etwas Böses zu thun, litt ich darunter, war bedrückt und befangen mein Leben lang, als hätte ich schwere Schuld begangen.«124 Der Moment des Übertritts zur anderen Glaubensgemeinschaft repräsentiert auch bei Lazarus-Remy den zentralen Punkt, an dem der Konvertit sich für einen anderen Weg entscheidet. Das ›alte Leben‹, das als schlecht oder sogar als sündhaft angesehen wird, wird zurückgelassen und das neue durch die Konversion beginnende Leben, das oft als Erlösung angesehen wird, begonnen. Dabei wird bei den Konversionserzählungen oft das Ziel verfolgt nicht die Persönlichkeit des Konvertiten, sondern ein Vorbild darzustellen, das den Leser zu demselben Weg anhalten soll, was Lazarus-Remy ebenfalls anhand ihrer Konversionserzählungen öffentlich ausführt.125 Denn im kaiserlichen Deutschland zu einer Minderheit, dem Judentum, zu konvertieren, war eine mutige Entscheidung, sodass sie mit ihrer Konversion zum Judentum ein Zeichen der Behauptung und Durchsetzung einer öffentlichen projüdischen Stimme als Frau setzte. Als typisches Merkmal solcher autobiographischen Rekonstruktionen gilt das bewusste Darstellen besonderer Lebensabschnitte, die die Konversion einleiten oder begründen. Dieses lässt sich auch deutlich in ihrer autobiographischen Erzählung finden, indem sie beispielsweise den Aufenthalt bei der Gräfin St. Germain (1856–1860) sowie ihre Ehe mit Max Remy (1873–1881) äußerst detailliert beschreibt, aber Lebensphasen unerwähnt lässt, die ihr für ihre Konversionsdarstellung nicht für relevant erschie-

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Lazarus 1898b: 166: »Als später reifere Überlegung zum kindlichen Glauben hinzutrat wurde derselbe noch gefestigt durch die […] Selbstbeobachtung, dass auch das eigene Gewissen Gottes Existenz […] bekundet: der Mensch ist […] sicher und ruhig, wenn er seine Pflichten erfüllt u. sich unschuldig weiss; er ist unfroh, unsicher u. unruhig wenn er gefehlt hat u. sich schuldig weiss.« Vgl. dazu auch ihr jüdisches Glaubensbekenntnis in Kap. III, 2.1. 124 Lazarus 1897c. Vgl. auch Lazarus-Remy 1927a: 42: »Das ›Apostolische Glaubensbekenntnis‹ nicht ablegen zu wollen! – Das war ja der baare Unsinn! – Eine Auflehnung gegen das Gesetz, ja, gegen Gott! – ›Warum denn?‹.« 125 Bischofberger 2002: 1228.

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nen, wie beispielsweise ihre Karriere als Schauspielerin am Theater (1866–1873).126 Die autobiographische Erzählung Ich suchte Dich! beschreibt einen wichtigen Umbruch in Lazarus-Remys Leben und wurde drei Jahre nach ihrer Konversion (1898) veröffentlicht. Mit dem zusätzlichen jüdischen Beinamen Ruth, einem althebräischen Namen, der auf die weibliche Proselytin Ruth hinweist, wird somit bereits beim Titel der Erzählung auf die gelungene Suche nach Gott und der Zugehörigkeit zu der jüdischen Religion hingewiesen. Bei ihrem ersten Auslandsvortrag in Prag (Dezember 1892) erwähnte sie abschließend: »wie Ruth, die Fremde, stünde ich unter den Söhnen und Töchtern Israels und wie Ruth wäre ich freundlich aufgenommen worden. Möge einst eine Zeit kommen, in der die Völker kundiger und darum gerechter als heute, sich erinnern werden, dass sie die Lehre der Nächstenliebe Israels zu danken haben.«127 Die treue Anhänglichkeit der Moabiterin Ruth überträgt sie auf sich selbst, die ebenfalls ein ausgeprägtes Pietäts- und Dankgefühl gegenüber dem Judentum empfindet.128 Mit ihrer autobiographischen Konversionserzählung verfolgt sie folglich zum einen das Ziel, sich öffentlich zur jüdischen Religion zu bekennen und zum anderen als vorbildliches Beispiel für andere Konversionswillige, aber auch für glaubenstreue Juden aufzutreten, um ihnen zu zeigen, dass sie selbstbewusst für ihren Glauben eintreten sollen, trotz bürgerlich-säkularer und vor allem antisemitischer Zeit. Sie nutzt ihre Erzählung bewusst, um Menschen jüdischen und christlichen Glaubens aufzuklären. Bereits zu Anfang ihrer Konversionserzählung wird, bezogen auf den sozialen und diskursiven Kontext der zeitgenössischen Kontroversen über die Diskussionen von Rasse und Geschlecht (die Juden- sowie Frauenfrage), das stereotype Merkmal der deutschen Frau (blond, blaue Augen) von Remy bewusst provokativ in Szene gesetzt, um ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um eine deutsch-christliche und weibliche Konversion zum Judentum handelt.129 Während die Kategorie der Rasse, ebenso wie die des Geschlechts, als sichtbare und unveränderliche Kennzeichnungen für

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Vgl. Kap. I. Lazarus-Remy 1927b: 139. Der besondere Familiensinn und Glaubenstreue würde am Beispiel Ruth verdeutlicht werden, was für Nahida Remy ebenfalls wichtig und nachahmenswert war. Vgl. Lazarus 1896. Auch Ruths Pflichtgefühl, der alten und schwachen Schwiegermutter weiterhin beizustehen und zu helfen, rührt Lazarus-Remy und lässt eine Parallele zu ihrem Pflichtempfinden gegenüber ihren beiden kränklichen Männern erkennen. Siehe: Remy (17.12.1892): Nächstenliebe im Talmud (Vortrag Nr. 2), 20f.: »Diese [Naomi], was kann sie Ruth bieten? Sie ist alt, schwach, arm und betrübt, – doch gerade weil sie das ist, will Ruth Naomi nicht verlassen. Weil sie alt ist, will Ruth ihre Jugend, weil sie schwach ist, ihre Kraft ihr widmen, weil sie arm und betrübt ist, bleibt sie bei ihr. Die Worte der Ruth sind für alle Zeiten der klassische Ausdruck echter Nächstenliebe: Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, wohin du gehst, will ich gehen […].« An diesem Ausspruch und Nahida Remys Deutung wird impliziert deutlich, wie wichtig für sie die aufopfernde und treue Haltung der Moabiterin Ruth war. Auch sie versprach dem 25 Jahre älteren Moritz Lazarus ihre persönliche sowie religiöse Treue und blieb bei ihm. Vgl. Kap. III, 2.3. Vgl. Lazarus 1898b: 1: Die Beschreibung der Statur der Mutter als groß und schlank und die blonden lockigen Haare der Tochter identifizieren beide als Deutsche in einem fremden Land (Italien) und ziehen die Aufmerksamkeit der anderen vorübergehend auf sich. Folglich führt die Erzählung das Deutsch-Sein ebenfalls als eine Kategorie für Unterschiede ein, die allerdings von Sturmhoefel d.Ä. und ihrer Tochter unbeachtet blieb.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Gleichheit und Unterschiedlichkeit oder Aufnahme und Ablehnung diskutiert wurden, setzte sie diese Identitätskategorien in ihrer Konversionserzählung wie in ihrer Verteidigungsschrift Das jüdische Weib für ihre apologetische Argumentationskette ein. Sie betonte darin die Notwendigkeit und Besonderheit des Jüdisch-seins, nicht anhand äußerer Merkmale, die für sie nicht vorhanden sind, sondern vor allem anhand der kulturbereichernden und menschenfreundlichen Charaktereigenschaften der Juden und des Judentums. Auch ihre Konversionsvorträge werden von Lazarus-Remy dazu genutzt, um beispielsweise gegen die Polemik gegen das Alte Testament zu wirken und sich für das Alte Testament auszusprechen. In ihrem dreigliedrigen ›Loblied auf die Bibel‹ innerhalb ihres Vortrages (Warum ich Jüdin wurde) beschreibt sie im dritten Abschnitt die hebräische Bibel als nicht egoistische, sondern heilige Schrift, die für alle zugänglich und offen sei: »Die Bibel! Wenn ich das Wort nur ausspreche, möchte ich schon verstummen vor der Fülle der Erinnerung an all das Erhabene und Schöne in ihr. Und die Menschen wissen es nicht, sie wissen es nicht so, wie sie es wissen sollten, und leider am wenigsten die Frauen. Wie viele meiner Geschlechtsgenossinnen aus allen Ständen habe ich gefragt: Haben Sie eine Erinnerung an die Bibel, an irgend eine schöne Stelle? Dann war zumeist – ach ich muss es leider sagen, ausnahmslos – Schweigen und verlegenes Suchen die Antwort. [Herv. i.O.]«130 Auch verknüpft sie gleichzeitig ihre apologetischen Aussagen in ihren Konversionserzählungen mit einer weiteren Kritik an den modernen Frauen, womit sie erneut auf den Traditionsverlust und die Säkularisierung der Juden hinweist, die sie bereits 1891, sechs Jahre zuvor, in ihrem Werk Das jüdische Weib ausführlich diskutiert hatte (s.Kap. II, 2.3): »Wenn ich also die Frauen an solche Stellen erinnerte; dann thaten sie wohl, als ob sie sich besännen, aber ich merkte es wohl, es war ihnen nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Die modernen Frauen haben Zeit für alles Mögliche, um aber einmal den Geist hoch zu stimmen und das Gemüt rein zu baden in den wunderbaren Blättern der Heiligen Schrift, dazu haben sie keine Zeit.«131 Folglich nutzt Lazarus-Remy ihre Konversionserzählung sowie -vorträge und die darin enthaltenen autobiographischen Darstellungen über ihr eigenes Leben und ihre Erfahrungen im christlichen und jüdischen Umfeld als konfrontatives Medium, um sich für die Jüdinnen und Juden ihrer Zeit einzusetzen. Als erfolgreiche christliche Schriftstellerin von mehreren belletristischen Romanen und Feuilletons hätte sie einen fiktiven kulturhistorischen Roman über den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts schreiben 130 Lazarus 1897b: »Und wenn ich dann sie erinnerte an einzelne Stellen, z.B. an Abrahams Fürbitte bei Gott für Sodom und Gomorrah, oder Josephs psychologisch so feines und liebevolles benehmen gegen die Brüder oder an einige mehr poetisch ausgestaltete Stellen, wie z.B. die Gebete Mosis, Hannas, Davids beim Tode seines heissgeliebten Sündenkindes, oder Salomons bei der Einweihung des Tempels; ›auch den Ausländer, der hier erscheint, auch ihn erhöre, o Gott‹, oder einige so wunderbare Aussprüche wie z.B. im Hiob: ›selbst im Zorne gedenkst du des Erbarmens‹, oder das unvergängliche Wort des letzten Propheten Maleachi: ›ist nicht ein Vater uns allen, hat nicht ein Gott uns erschaffen, warum ist denn Einer treulos gegen den Anderen‹. [Herv. i.O.]« 131 Ebd.

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können. Jedoch wagte sie sich viel weiter vor, indem sie ihr eigenes individuelles Leben als Exempel darstellt, um damit Mitmenschen jüdischen und christlichen Glaubens aufzurütteln und aufzufordern, die Augen nicht vor den zeitgenössischen antisemitischen Agitationen zu verschließen. Durch die öffentliche Darstellung ihrer persönlichen Geschichte und religiösen Entwicklung erreichte sie eine Glaubwürdigkeit, die zwar mehr Menschen erreichen konnte, jedoch gleichzeitig sie selbst angreifbar machte. Mit der Veröffentlichung ihrer Konversionserzählung stellte Lazarus-Remy öffentlich provokativ das christliche Glaubensgebäude in Frage, womit sie den Wahrheitsanspruch, den die christliche Religion für sich allein erhob, diskreditierte. Folglich kann gesagt werden, dass sie ihre Konversion zum Judentum ebenfalls als apologetische Handlung gegen den aufkommenden Antisemitismus mit seiner judenfeindlichen Polemik nutzte. Indem der sich immer weiter ausbreitende Antisemitismus ihre Aufmerksamkeit gewann und sie dazu motivierte, jüdische Studien zu vollziehen, kann an dieser Stelle festgestellt werden, dass der Antisemitismus ausschlaggebend auch für ihre Konversion war. Angeregt durch den aufkeimenden Antisemitismus beschäftigte sie sich intensiv mit der jüdischen Religion, Geschichte und Kultur, um somit die antisemitischen Vorurteile und die daraus neu entstandene Trennung zwischen Deutschen und Juden anzufechten und der Unkenntnis, die sie als den Keim des Antisemitismus ausmacht, gezielt entgegenzutreten.132 Die Christen aufzuklären wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Denn sie wollte den Christen, aber auch den unwissenden Juden die Religion ihrer Väter, den Gehalt der Bibel (Tanach), die Geschichte der Juden, die jüdischen Schriftwerke alter und neuer Zeit und die maßgebenden jüdischen Gebete näherbringen. Aus diesem Grund kann hier B. Kratz-Ritters Aussage, dass LazarusRemys Konversion als »Antwort auf den Berliner Antisemitismusstreit«133 angesehen werden kann, bestätigt werden. Sie nutzt ihre Konversionserzählungen und -vorträge als antwortende und apologetische Handlung gegen den allgemeinen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, womit diese vor allem die Funktion erfüllten, zum einen die christlichen und jüdischen Bürger über den beginnenden und sich stark ausbreitenden Antisemitismus aufzuklären und zum anderen die Jüdinnen und Juden zu motivieren, für ihren Glauben zu kämpfen.

2.3 Konversion aus Eheschließungsgründen Lazarus-Remys Konversionsgründe wurden von Anbeginn bis ins 20. Jahrhundert immer wieder skeptisch hinterfragt. So wurde beispielsweise von dem anonymen Rezensenten der jüdischen Frauenzeitschrift Für unsere Damen ihre Objektivität angezweifelt. Denn das Vorwort zur dritten Auflage ihres Werkes Das jüdische Weib (1896) sei »frappierend und [würde] nur zwei Deutungen zulassen: Entweder bietet die Kulturgeschichte des jüdischen Weibes so viele hohe und edle Momente, dass der Übertritt

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Lazarus 1898b: 211. Vgl. Kratz-Ritter 1994: 15.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

dadurch gerechtfertigt erscheint oder die Autorin hat sich mit einem gewissen Fanatismus in das Studium vertieft und dadurch die objektive Klarheit verloren. Von diesem Fehler ist sie leider nicht ganz freizusprechen.«134 Auch die Soziologin Dagmar Reese setzte sich in ihrem Aufsatz Philosemitismus als Kalkül? (2009) mit Lazarus-Remys Konversionsgründen auseinander und schlussfolgerte, dass vor allem ihre Beziehung zu Moritz Lazarus ausschlaggebend war für ihre Auseinandersetzung mit und ihre spätere Umorientierung zum Judentum.135 Obwohl sie tatsächlich in Lazarus nicht nur einen Lehrer und Unterstützer ihrer jüdischen Studien, sondern auch den ersten Vertreter der Religion fand, nach der sie jahrzehntelang gesucht und die sie weder in ihrer eigenen Konfession noch in der katholischen gefunden hatte, war er nicht der Auslöser für ihre jüdischen Studien, da sie bereits vor dem Kennenlernen von Lazarus (1882) an der jüdischen Kultur, Religion und Geschichte interessiert war (s.Kap. I, 2.2).136 Durch das intensive Eigenstudium erlangte Lazarus-Remy bereits vor der Bekanntschaft mit Lazarus ein umfangreiches Wissen über das jüdische Volk, sodass sie dieses nicht nur kennen, sondern auch verstehen lernte, »und weil sie es verstehen lernte, musste sie es lieben«137 . Grundlegend für ihre intensiven Studien war neben dem aufkommenden Antisemitismus auch ihre Freundschaft zu der Witwe Zerline Meyer, einer »intelligenten, alten Berliner Jüdin«138 . Den entscheidenden Schub in Richtung Inanspruchnahme einer jüdischen Identität bekam sie gerade durch die Bekanntschaft und jahrelangen »traulichen und vertrauten Zwiegespräche« mit Meyer, wodurch sie »wertvolle und wohlthuende Aufklärung über jüdische Denkart und Lebensweise«139 erhielt. Auch wurde LazarusRemys jüdischer Bekanntenkreis durch Meyer beträchtlich erweitert, wozu unter anderem der orthodoxe Rabbiner Salomon Kohn (1822–1902), damals Rabbiner an der kleinen Synagoge an der Potsdamerbrücke, sowie der jüdische Völkerpsychologe Lazarus gehörten.140 Die intellektuellen Beziehungen »erfreuten die junge Forscherin durch vielfache mündliche Belehrung und Belehrungsschriften«141 . Kurz vor ihrem Tod schenkte Meyer, deren Kinder zum Christentum konvertiert waren, Nahida Remy die Werke des Rabbiners Michael Sachs (1808–1864).142 Ergriffen über den Tod der ihr liebgewonnen Zerline Meyer notierte sie: »Frau Zerline Meyer war – obwohl sie die specifischen Gebräuche

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Nahida Ruth Lazarus Vorwort zur 3. (wohlfeile) Ausgabe: Lazarus 1896: »Als ich dieses Buch schrieb, war ich Christin. Heute bin ich Jüdin; ich musste Jüdin werden, nach dem ich durch meine Forschungen erkannt und vollends in meinen ›Kulturstudien über das Judentum‹ bekannt, was die jüdische Religion bedeutet.« 135 Reese 2009: 577–594. 136 Lazarus-Remy 1927b: 99: »Im November 1882. Um jene Zeit bereitete sich eine vollkommene Wendung meines Lebens vor. Langsam … unmerklich … ungeahnt«. 137 Lazarus 1898b: 205. 138 Lazarus 1897c; Vgl. auch Lazarus 1898b: 193–195. 139 Lazarus 1898b: 194; 195. 140 Vgl. ebd.: 195. 141 Ebd. 142 Ebd.: 194: »Die alte Dame, welche mit ihrer Anhänglichkeit zur angestammten Religion innerhalb ihrer zahlreich verzweigten Familie fast vereinsamt stand – (nur wenige Glieder derselben waren, und einige davon auch nur einstweilen noch dem Judentum treu geblieben) wurde durch die in-

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

seit Langem nicht mehr streng einhielt, – eine wahre echte Jüdin. Ehre ihrem Angedenken!«143 Folglich war Lazarus nicht der Auslöser für ihr Interesse, aber er war derjenige, der Lazarus-Remy in ihrer Wissbegierde annahm und unterstützte.144 Ob sie allerdings aufgrund ihrer Zuneigung und späteren Eheschließung mit Lazarus zum Judentum konvertierte, wird in ihren Konversionserzählungen nicht erwähnt.145 Nach den Angaben in den veröffentlichten Konversionserzählungen gibt sie als Grund für ihren Entschluss Jüdin zu werden, nicht die Eheschließung mit Lazarus an, sondern ihren innerlichen Wunsch sich zum Judentum als ihre Religion zu bekennen.146 Denn sie habe nach langem Studium und langjährigem Engagement für das Judentum erkannt, dass sie in der jüdischen Theologie das gefunden habe, wonach sie sich immer sehnte.147 Zeitlebens wünschte sie sich eine Religion ohne bestimmten Dogmenzwang und fand diese dann endlich in den sittlich-religiösen Ansichten des Judentums.148 Ausschließlich aus diesem Grund habe sie sich entschieden, zum Judentum zu konvertieren. Während sie in ihren veröffentlichten Konversionserzählungen einen Übertritt zum Judentum aus Liebe und Eheschließungsgründen völlig unerwähnt lässt, wird in ihrer Jahrzehnte später formulierten Autobiografie Mein Leben II (1927) eine andere Konversionssituation geschildert, worin die Liebe zwischen ihr und Lazarus mehr Gewicht erhält.149 Die scheinbar zufällige und kurzfristig-entschiedene Eheschließung, die direkt nach der Konversion folgte, erweist sich als eine länger geplante und beidseitig gewollte Entscheidung.150 Reese zweifelt den Wahrheitsgehalt der Angaben innerhalb LazarusRemys Konversionserzählung (Ich suchte Dich!) an, indem sie, gestützt auf das unveröffentlichte Manuskript der Autobiografie Mein Leben II, die Ansicht vertritt, dass LazarusRemy allein auf Wunsch von Lazarus zum Judentum konvertierte: »Als Säugling unwissentlich […] getauft worden, hatte ich mich doch nie zur Konfirmation überreden lassen, wurde also keiner Konfession ›abtrünnig‹ und der geforderte ›Übertritt‹ bedeutete kein intellektuelles Opfer. Lazarus, voll Pietät für religiöse Sitte und Anschauung seines Volkes, wünschte ihn und ich führte ihn aus. [Herv. i.O.]«151

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nige Geistesverwandtschaft mit der Nichtjüdin reich entschädigt.« Zu Sachs vgl.: Lucas und Frank 1992; Schad 2007. Lazarus 1898b: 209. Ebd.: 197: »Sie merkte wohl wie sie im Wissen fortschritt, aber sie empfand es immer deutlicher, wie sehr ihr der Rath und die Führung eines wahrhaft wissenschaftlich Kundigen fehle.« Nahida Remy konvertierte am 31.03.1895 in Freiburg zum Judentum, kurz vor ihrer Eheschließung mit Moritz Lazarus (Apr. 1895). Vgl. Kap. I, 3.1. Ebd.: 214f. Lazarus 1897c; Vgl. Lazarus-Remys jüdisches Bekenntnis: siehe Kap. III, 2.1. Vgl. Lazarus 1898b: 213. Vgl. Lazarus-Remy 1927b: 100ff. Vgl. diesbezüglich das Kap. I, 2.2.1. Reese 2009: 585: Der durchgestrichene Konjunktionalsatz entspricht dem handschriftlichen Manuskript und wird entsprechend von D. Reese zitiert. In Lazarus-Remys Tagebuch steht allerdings: Lazarus-Remy 1927b: 153: »Lazarus, voll Pietät für religiöse Sitte und Anschauung seines Volkes, wünschte ihn und ich fügte mich. [Herv. i.O.]«

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Nach Reese könne mit dem angegeben Zitat bewiesen werden, dass Lazarus-Remy bewusst den wahren Grund ihres Übertritts zum Judentum in ihrer autobiographischen Erzählung ausklammere, indem sie den Wunsch des Übertritts als ihren eigenen äußert, um somit ihrem öffentlichen Bekenntnis einen aufrichtigeren und ehrenwerteren Charakter zu verleihen.152 Während Reese dies als kalkulierte Entscheidung abwertet, muss allerdings bei einer abschließenden Beurteilung von Lazarus-Remys Konversionsgründen die Erzählzeit, -form sowie -intention der drei autobiographischen Darstellungen der Konversion mitberücksichtigt werden. Wird nämlich eine autobiographische Aussage ohne ihren kontextuellen Hintergrund betrachtet und bewertet, kann diese einen inhaltlich-neuen Wert erhalten und somit wesentliche Tatsachen verschleiern. Indem Lazarus-Remy in ihren Konversionserzählungen retrospektiv vor allem ihren religiösen Zwiespalt durchleuchtet, der sie zum jüdischen Glauben führte, diente diese von ihr gewählte Art der Erzählform vor allem dem Ziel, ihren schwierigen Glaubensweg zu schildern, der in der Konversion endete. Die Tatsache, dass sie daraufhin Lazarus heiratete, wird zwar nicht verschwiegen, jedoch als beiläufige Klimax ihrer Konversionserzählung erwähnt: »Gott hatte mich begnadet, indem ich nicht nur das Bekenntnis Israels ablegen durfte, sondern, dass ich auch einen jüdischen Haushalt begründen durfte an der Seite eines solchen Mannes. [Herv. i.O.]«153 Nähere Informationen zu ihrer geheimen Liebe und geplanten Eheschließung werden in keiner der öffentlichen Konversionserzählungen gegeben. Die Erzählintention zentriert sich bewusst auf ihren religiösen Glauben, den sie mit ihren Konversionserzählungen hervorheben und legitimieren wollte, was eine detaillierte Schilderung ihrer Liebesgeschichte wiederum schmälern würde. Wie zuvor ausgeführt, wurden Konversionen von Frauen zumeist unter dem Aspekt der Eheschließung betrachtet, was Lazarus-Remy, die sich öffentlich apologetisch für die Juden einsetzte, in ihrem Fall vermeiden wollte. Sie verheimlichte nicht die Eheschließung, legte allerdings in ihrem öffentlichen Bekenntnis das Hauptaugenmerk auf ihren alttestamentlichen Glauben, der ebenfalls ein wesentlicher Grund für ihre Konversionsentscheidung war. Ersichtlich wird ihr Übertritt aus Überzeugung daran, dass LazarusRemy in ihrer von Reese zitierten Aussage (Mein Leben II) betont, dass sie keiner Konfession abtrünnig wurde. Zeitlebens habe sie nur an den einen Gott des Alten Testaments geglaubt, sodass sie zwar »unwissentlich (aber schon damals sehr gegen meinen Willen!) getauft«, sich aber »nie zur Konfirmation überreden« ließ, und folglich »keiner Konfession ›abtrünnig‹«154 wurde. Die von Reese zitierte Aussage stellt kontextuell vielmehr eine endgültige Entscheidungsfindung dar. »Die Konfessionslosigkeit, nach der so viele streben und die mancher gar als eine Art idealen Zustandes hinstellen möchte, die Konfessionslosigkeit habe ich stets als einen bitteren Mangel empfunden. Ich habe stets das tiefe, innere, geheime Bedürfnis gehabt, mich zu einer Konfession zu bekennen. Ja, aber zu welcher? [Herv. i.O.]«155

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Vgl. Reese 2009: 585ff. Lazarus 1897c. Lazarus-Remy 1927b: 153. Lazarus 1897c.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Die Konfessionslosigkeit wertet Lazarus-Remy zwar nicht als negativ ab, sie war jedoch kein angestrebtes Konzept für sie persönlich, weshalb sie nach einer religiösen Alternative suchte, die sie im Judentum fand. Es wird ersichtlich, dass ihre Entscheidung, zum Judentum überzutreten, keine übereilte und leidenschaftliche Reaktion darstellte, sondern von ihr gut durchdacht und abgewogen wurde. »Es bedurfte nur noch des offenen Bekenntnisses. Sollte sie es ablegen? Sollte sie sich zum Judentum bekennen?«156 Lazarus verhalf ihr mit seinem Wunsch, der mit seiner »Pietät für religiöse Sitte und Anschauung seines Volkes« begründet wird, die Frage zu beantworten, ob sie sich zum Judentum bekennen solle.157 Bis heute wird der Übertritt zum Judentum offiziell gefordert, wenn jemand beabsichtigt sich öffentlich und amtlich der jüdischen Gemeinschaft anzuschließen. So wird auch beispielsweise eine jüdische Eheschließung zwischen einem Juden und einem Angehörigen einer anderen Glaubensrichtung vom jüdischen Gesetz offiziell nicht anerkannt. Obwohl 1875 in Deutschland die Zivilehe eingeführt wurde, gilt eine solche Ehe noch bis heute nach geltendem orthodox-jüdischen und israelitischem Eherecht als nicht bestehend.158 Folglich wurde auch von Lazarus-Remy ein Übertritt gefordert, wenn sie beabsichtigte, zum einen ein Teil der jüdischen Gemeinschaft zu werden und zum anderen Lazarus nach jüdischem Recht zu heiraten. Den »geforderten Übertritt«159 und somit die Glaubensbestätigung einer Religion anhand eines offiziellen Bekenntnisses auszusprechen, hatte sie bis dahin aufgrund ihrer Sorge, sie könne damit gegen ihr religiöses Gewissen handeln, vermieden.160 Im Fall des Übertritts zum Judentum erkannte sie jedoch, dass sie dabei mit dem Bekenntnis »kein intellektuelles Opfer«161 erbringen musste, da die Theologie des Judentums ihrem Gottesverständnis entsprach. »Gottesglaube und Pflichterfüllung, das ist Alles, was das Judentum verlangt – und das ist Alles, was ich brauche … und sie gelobte sich: Ich werde Jüdin.«162 Folglich kann festgestellt werden, dass für Lazarus-Remys Entscheidung, zum Judentum überzutreten, Lazarus’ Wunsch zwar ausschlaggebend vor allem für Anlass und Zeitpunkt war, aber nicht den alleinigen Grund für ihre Konversion darstellt. Deutlich wird dies daran, dass der sich darauf beziehende Satz »und ich fügte mich«163 von ihr gestrichen wurde. Danach kann ihr Übertritt zum Judentum nicht ausschließlich als Befolgung von Lazarus’ Wunsch, sondern als ein Ergebnis resultierend aus ihrem religiösen Verständnis, seinem Wunsch und ihrer eigenständigen Entscheidung angesehen werden. Der offizielle Akt der Aufnahme eines Gläubigen in eine religiöse Gemeinschaft war für Lazarus-Remy nie von Bedeutung, da dieser auch ohne festen Glauben ausgeführt werden konnte. Für sie waren vor allem der Akt des inneren Bekenntnisses und das öffentliche Bekennen ausschlaggebend für eine »konfessorische Identität«164 und die dar156 157 158 159 160 161 162 163 164

Lazarus 1898b: 213. Vgl. dazu Lazarus-Remy 1927b: 153; Lazarus 1898b: 213. Börner-Klein 2002: 1088. Vgl. dazu Homolka 2006: 94f. Lazarus-Remy 1927b: 153. Lazarus 1898b: 213. Ebd.: 214f. Ebd. Lazarus-Remy 1927b: 153. Kuhlmann 2010: 137: »Konfessorische Identität meint nun, dass eine Person selbst dazu steht, dass sie sich dessen bewusst wird und es ausspricht, dass sie vom Göttlichen berührt ist, dass sie dem

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

aus resultierende konfessionelle Identifikation. »Ich musste Jüdin werden, nachdem ich durch meine Forschungen erkannt und vollends in meinen ›Kulturstudien über das Judentum‹ bekannt, was die jüdische Religion bedeutet.«165 Indem sie für sich erkannte, dass sie »in ihrem Herzen längst Jüdin«166 war, fühlte sie sich bereit, auch den Schritt des Übertritts auszuführen. Für sie war folglich nicht der Konversionsschritt ausschlaggebend, um ihren Glauben zu bestätigen, sondern ihre persönliche Beziehung zu Gott. Denn sie vertrat die Ansicht, dass ein Mensch nicht durch das Ablegen des Bekenntnisses, den Vollzug der Taufe oder durch die Geburt einer Glaubensgemeinschaft angehörte, sondern allein durch seinen tiefen und ehrlichen Glauben an Gott und durch seine entsprechenden Taten. Aus diesem Grund definierte Lazarus-Remy einen wahrhaftigen Juden und eine wahrhaftige Jüdin durch den Glauben an den Einen-einzigen Gott und durch das Einhalten der alttestamentlichen Gesetze und Gebote, die sie für sich annahm, glaubte und befolgte. »Eine wahre, gute Jüdin ist nur die, welche das Judentum kennt, liebt und verehrt; sie braucht keine Gelehrte zu sein, aber mit ihrem ganzen Herzen muss sie an ihrem Judentum hängen!«167 Deshalb seien die, die aus Gewohnheit etliche jüdische Gebräuche ausführten, keine »wahren Jüdinnen«, sie hießen zwar so, »aber sie [seien] es nicht«168 . Diese Sichtweise wird auch in ihrem Motto zum Werk Das jüdische Haus, das sie vom evangelischen Theologen August Hermann Niemeyer (1754–1828) übernommen hatte, sichtbar: »Die Religion der Juden trägt deutliche Spuren höheren Ursprungs an sich. Wer ihr im ganzen Umfange treu ist, der ist unfehlbar der frommste Gottesverehrer und der tugendhafteste Bürger im Staat.«169

3. Fazit: Konversion aus Kalkül oder Überzeugung? Lazarus-Remys Kritik am trinitarischen Gottesverständnis und ihre Erfahrungen mit der Position der Frau innerhalb der christlichen, männlich dominierten Gesellschaft bereiteten allmählich ihre Konversion zum Judentum vor.170 Wie im Vorherigen dargestellt, reichte die Reihe von religiösen Erfahrungen von Bigotterie über sexuelle Belästigung bis

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Göttlichen in ihrem Leben Raum gibt. Dabei kann sie dies Göttliche nicht unabhängig vom Rahmen einer konfessionellen bzw. religiösen Tradition deuten.« Lazarus 1922, Vorwort. Ebd. Lazarus 1898b: 107f. Vgl. dazu auch die bereits zitierte Aussage über Zerline Meyer: 30. Lazarus 1898b: 107f. Lazarus 1898a, Motto. Vgl. auch Niemeyer 1794: 230. Lazarus 1898b: 79; 84: Lazarus-Remy wurde für ihre Gedanken so »angestarrt, als habe sie eine Ungeheuerlichkeit gesagt oder eine Sünde begangen. Der Herr Pastor, ein Mensch … freilich es ließ sich nicht leugnen, ein Mensch war er, – aber eben doch auch Pastor. […] Er (der Pastor) ist doch auch nur ein Mensch! […] In trockener Redeweise und mit anscheinend streng sachlicher Motivierung stellte er seine theologischen Behauptungen hin, als unanfechtbare Wahrheiten, ahnungslos, dass unter seinen jugendlichen Zuhörerinnen eine war, welche alle seine Lehrsätze mit prüfender Überlegung begleitete und ohne eine Spur irgend eines Autoritätsglaubens, ganz naiv von dem was das äußere Ohr vernahm, auch in der That im Innersten überzeugt sein wollte.« Vgl. Kap. I, 1.2.4.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

zur unterdrückenden Überlegenheit vonseiten der Geistlichen.171 Ihre Erlebnisse vor und nach der Konversion und die Bereitschaft, die Strafen, Ehrverletzungen und die falschen Anschuldigungen auszuhalten, formten letztlich ihre Persönlichkeit. Sie wurde zu einer selbstbewussten und selbstständigen Frau, die trotz Manipulation und Missachtung gegenüber ihren Glaubensvorstellungen immer ihrem Gottesverständnis treu blieb. Aus diesem Grund beschreibt sich Lazarus-Remy selber nach ihrer Konversion nicht mehr als weißes Blatt, sondern als ein »Palimpsest, auf dem schon verschiedene Schriften ausgeprägt waren: Kritik der schwülstigen Dogmatik im sizilianischen Nonnenkloster, der puritanischen Strenge der englischen Kirche, der trockenen Unterrichts-Schablone des protestantischen Pfarrers Remy in Neapel. – Diese kritische Skepsis, genährt von den Lehren der alten, vorchristlichen Religion, verschloss sich doch nicht dem erhabenen Geist des Alten Testaments. – Wie sollte dieses Chaos von Widersprüchen gelöst werden? Es [schien] unmöglich.«172 Jedoch fand sie nach beinahe vierzig Jahren durch ihre Studien über das Judentum im jüdischen Glauben die Antworten und die Akzeptanz, die sie lange in ihrem christlichen Umfeld gesucht hatte.173 Dafür besuchte sie die orthodoxe Tiergarten-Synagoge in Berlin, pflegte persönlichen Kontakt zu den Bürgern jüdischen Glaubens und studierte die jüdischen Schriften, Gesetze und Gebetsbücher, in denen sie »einen Schatz für das Gemüt, eine Quelle tiefster religiöser Anregung und erhabenen Trostes«174 fand. Mit ihrem bekennenden Ausspruch: »Ich suchte Dich mein Gott – und habe dich gefunden. Ich suchte dich, mein Judentum, und habe dich gefunden«175 , wird auch der Titel ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! verständlich. Vermutlich angelehnt an dem talmudischen Ausspruch: »So jemand sagt: Ich habe gesucht und gefunden, glaube ihm!«176 , versucht sie bereits durch den mehrdeutigen Titel den Wahrheitsgehalt ihrer Konversionserzählung zu bekräftigen. Sie fand nach langjährigem Suchen im Judentum die Religion, die ihr persönliches Bedürfnis nach gerechtem Verhalten, Nächstenliebe und dem Glauben an den einen Gott erfüllte. Sie fand eine Religion, die ihren Kern nicht in bestimmten Glaubensformeln, sondern in einem gerechten Lebenswandel sieht und in dem nicht der Glaube heiligt, sondern die gerechte und barmherzige Tat dem Nächsten gegenüber.177 Es wird deutlich, dass vor allem die strenge Dogmatik der christlichen Religion sie abschreckte und sie letztendlich mit dem jüdischen Glauben verband.

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Durch die grobe Erziehung bei der Gräfin, den für sie unbefriedigenden Religionsunterricht und das enttäuschende Verhalten der christlichen Geistlichen sah sich Lazarus-Remy missverstanden und zu Unrecht gering geschätzt. »Diese Selbständigkeit des Denkens bereitete dem jungen Menschenkinde viele Prüfungen und herbe Enttäuschungen. Statt, dass seine nach Wahrhaftigkeit strebende Natur und Denkart erkannt und anerkannt wurde, sah es sich missverstanden und verdächtigt.« Vgl. Lazarus 1898b: 81. Und die Kap. I, 1.2.3; 1.2.4; III, 2.1. Lazarus-Remy 1927a: 44. Vgl. Lazarus 1898b: 80. Vgl. ebd. Vgl. ebd.: 223. Vgl. Wünsche 1879: 38. Vgl. Lazarus 1898b: 213.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

»Die an mich gewendete Mühe, mich zu einer guten Katholikin zu machen, war also ganz vergebens, vergeblich die Belehrungen der Beichtväter, vergeblich die Ermahnungen der frommen Schwestern, vergeblich die ungewöhnliche Ueberredungskunst der Priorin. […] Nichts, aber auch nicht das Geringste der spezifischen Dogmen ging in meinen Glauben über.«178 Insgesamt bleibt der Katholizismus für sie zeitlebens mehr Aberglaube als Glaube. Der hierarchische Charakter der katholischen Kirche, die ihr inhaltsleer erscheinenden Rituale sowie die Heiligenverehrung missfielen ihr.179 Lazarus-Remys Katholizismuskritik kann vor allem als antiklerikal bezeichnet werden, da sie trotz Respektes gegenüber dem christlichen Glauben speziell dessen Instrumentalisierung durch die kirchliche Hierarchie abwertet. Damit knüpft sie an die Katholizismuspolemik des 19. Jahrhunderts an, worin der Kampf der katholisch-restaurativen Kräfte gegen die jungdeutschen Schriftsteller anhand zahlreicher antikatholischer Literatur sich auszeichnete.180 Auch ihr religionskritischer Roman Geheime Gewalten (1890), der zur Zeit der Restauration nach dem Wiener Kongress (1815) spielt, ist daran angelehnt verfasst worden.181 Seit den Vormärzautoren, wozu auch Sturmhoefel d.Ä. gehörte, wurde vehement gegen die katholische Kirche polemisiert, die aufgrund ihrer Fortschrittsfeindlichkeit und allgemeinen Praxis der Religionsausübung diskreditiert wurde.182 Lazarus-Remys antikatholische Äußerungen sind insgesamt Herrschafts- als Religionskritik, was am deutlichsten an ihren ablehnenden Äußerungen zum Papst wird, worin sie die Papstherrschaft als geistige Knechtschaft, Intoleranz und Dogmatismus herabsetzt.183 Während sie sich von der katholischen Kulthandhabung distanzierte, schätzte sie die Beschränkung des Protestantismus auf das Wesentliche. Trotz der protestantischen einfachen und schmucklosen Ausrichtung beschreibt sie beide christliche Konfessionen bezüglich ihres Festhaltens an den dogmatischen Lehrsätzen für sich persönlich als gleich unbefriedigend.184 178 179

Lazarus 1897b. Lazarus-Remy 1927a: 26: Die Nonnen seien alle zwar sehr freundlich, »dagegen erfüllten mich die scheinheiligen Gebräuche, das vorgeschriebene Küssen der Füsse der lebensgrossen, hässlichen Holzfigur des Gekreuzigten im Refectorium, das eintönige Vorlesen eines geistesöden ›Erbauungsbuches‹ während des Mittagsessens, mit Widerwillen.« 180 The National Library of Israel, Department of Archives: Short stories in her own handwritting, Arc.Nr. 01 128: So verweist Lazarus-Remy diesbezüglich in einer ihrer handschriftlichen Notizen auf die französische Schriftstellerin Louise Gagneux (geb. 1832), die eine Broschüre über Arbeiterassoziationen mit »antiklerikaler Richtung (sie war im Kloster erzogen!) und mit sozialistischer Tendenz« veröffentlichte. Siehe auch Kap. III, 2.1. Vgl. dazu Borutta 2011. 181 Vgl. Kap. I, 2.2.2. 182 Giacomin 2009: 40–48; 61f. 183 Besonders drastisch wird dieser Kritikpunkt in ihrer Monografie Das jüdische Weib ausgeführt. Vgl. Lazarus 1896: 14f. sowie das 7. Kap. »Im finsteren Mittelalter«, in: ebd.: 107–126. 184 Lazarus 1897b: »Meines Bleibens war also im Kloster nicht länger. Meine Mutter siedelte mit mir nach Neapel über und übergab mich dort dem Religionsunterricht des Predigers der dortigen evangelisch- deutschen Gemeinde. Er hiess Remy. Er war ein schlichter Mann und die Art seines Benehmens und seiner Belehrung eine außerordentlich schmucklose, die im grössten Gegensatz stand zu der Art und Weise im Kloster. Dennoch vermochte auch sein Unterricht nicht, mich zur Annahme der spezifischen Dogmen und ganz besonders nicht zur Annahme der Vorstellung der Dreieinigkeit zu bewegen.«

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»Wie viel höher steht doch die Herzensreligion selbst des einfachsten Menschen, als alle kirchliche Glaubenslehre!«185 Es wurde bereits vorab aufgezeigt, dass für sie gerade die reine »Herzensreligion«186 für die Bestimmung eines wahren Glaubenden wichtiger war als die geforderten rituellen Reinigungen, Taufen und Bekenntnisse. Sie war davon überzeugt, dass allein durch den Glauben eine Beziehung zu Gott entstehe, weshalb kein Mensch sich öffentlich bekennen oder taufen lassen müsste. Folglich reichte, nach Lazarus-Remys konfessorischer Vorstellung, der Glaube an die jeweiligen konfessionellen Glaubenslehren aus, um beispielsweise eine Jüdin oder Christin zu sein. Da sich ihre Glaubensvorstellungen mit denen des Judentums deckten, identifizierte sie sich schnell mit der jüdischen Identität und der jüdischen Frauenrolle. »Der Geist des Alten Testamentes war mir bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich durch den Vergleich mit den neuen Lehren in der Abwendung von denselben nur befestigt und bestärkt wurde. Sie sehen, ich war damals schon Jüdin, ohne es zu wissen. [Herv. i.O.]«187 Ihre Definition des Jude-Seins, die nur den als Juden akzeptierte, der das Judentum kennt, liebt und ehrt, schloss eine Vielzahl der modernen säkularen Juden des 19. Jahrhunderts strikt aus. Die von ihr erwartete Glaubensloyalität könne nicht »wie ein […] abgetragene[r] Mantel«188 gewechselt werden, angepasst an die zeitliche, soziale oder familiäre Situation. So irre sich beispielsweise die zum Christentum übergetretene Rahel Varnhagen, geb. Levin (1771–1833), als sie auf ihrem Sterbebett bekannte, »dass sie voll und ganz dem Judentum angehöre – sie irrte sich; denn wer je das Judentum verleugnen und es von sich abtun konnte, wie einen abgetragenen Mantel, um einen neuen nach der letzten Mode dafür anzulegen – war keine Jüdin mehr.«189 Die Unwissenheit über und die Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen Glauben kennzeichne und decouvriere denjenigen als Nicht-Juden. Anhand des alttestamentlichen Beispiels der Kanaaniterin Rahab bekräftigt sie ihre Definition: »Sie [Rahab] glaubt an den einzigen Gott Jehova und insofern ist sie eine Jüdin!«190 Sie selbst habe den Eingottglauben bereits seit ihrer

185 Lazarus-Remy 1927b: 124. 186 Lazarus 1898b: 107f. 187 Lazarus 1897b: Zeitlebens betonte sie stets, dass sie keiner Religion abtrünnig wurde, da sie sich trotz Taufe niemals konfirmieren ließ und den Eingottglauben bis zu ihrem Lebensende als für sich ursprünglich ansah und stets angab. So findet sich innerhalb ihres Nachlasses eine biographische Skizze über Lazarus-Remys literarisches Wirken, worin sie folgende Stelle handschriftlich korrigiert: N.N..: Original Zeitungsausschnitt enthalten in: The National Library of Israel, Department of Archives: Arc.Nr. 01 136: »Nahida Remy, so sie ursprünglich hieß, wechselte zu diesem Zwecke [Eheschließung] ihren Glauben und trat zum Judentum über. Sie schrieb darauf das große Werk Das jüdische Weib, das im Jahre 1892 bereits in dritter Auflage erschien. [Ganz falsch! […] In den 80. Jahren [sic!] veranlasste sie der Antisemitismus zu gründlichen Studien üb[er] das Judentum, was wiederum ihre Beziehung zum Begründer der Völkerpsychologie zur Folge hatte.] [Herv. i.O.]« 188 Lazarus 1896: 230. 189 Lazarus 1896: 230: »Aber bemerkenswerth, ja Theilname erregend, ist ihr Bekenntniss, dass sie das Judenthum, das einst die ›Schmach‹ und das ›Unglück‹ ihres Lebens gewesen sei, jetzt in ihrem letzten Augenblick ›um keinen Preis missen möchte‹.« 190 Vgl. Jos 2,1-21. Siehe: ebd.: 80.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

Kindheit in sich getragen und stets inbrünstig vertreten, was sie in ihren Konversionserzählungen besonders hervorhebt. Sie habe die Vorstellung von niemand übernommen, sondern sich durch selbstständige Auslegung des Alten Testaments angeeignet.191 Ihre konfessorische Wandlung sowie ihre endgültige Konversionsentscheidung wird als eine Offenbarung beschrieben, ähnlich wie bei Paulus, bei dem die Erkenntnis »wie Schuppen von seinen Augen«192 fiel: »Ich besuchte nun auch häufiger […] die verschiedenen Synagogen und durchforschte die jüdischen Gebetsbücher. Ich fand in ihnen einen solchen Schatz und so wunderbare Enthüllungen über den jüdischen Geist, dass ich vollkommen, wie von einer Offenbarung berührt wurde. Wie Schleier fiel es mir von den Augen, wie Nebel zerrann es vor meinen Blicken, ich sah immer heller und schärfer und eines Tages hatte ich die Ueberzeugung gewonnen: Das Judentum kennt keinen Dogmenzwang, das Judentum kennt nur religiöse und ethische Gesetze und Vorschriften rein pädagogischer Art. Und da war es mir klar, dass ich im Herzen längst Jüdin sei – es bedurfte nur noch des offenen Bekenntnisses. [Herv. i.O.]«193 Im Gegensatz zu der paulinischen Wandlung, die plötzlich vonstattenging, stellt sie ihr endgültiges Bekenntnis als Ergebnis eines langwierigen Prozesses dar, der sich in der geschilderten Offenbarung zentrierte, und schlussendlich aus eigener Überzeugung stattfand. Mit der Schilderung einer evolutionären Wandlung gewinnt ihr jüdisches Bekenntnis an Authentizität, was Lazarus-Remy in ihrem Vorwort zur dritten wohlfeilen Auflage des Jüdischen Weibes betont, womit sie zugleich eine plötzliche Konversion als überstürzt und nicht richtig reflektiert erscheinen lässt.194 Neben der Feststellung, dass Lazarus-Remys Glaube an die alttestamentliche Gotteslehre wesentlich für ihre Konversionsentscheidung war, konnte bestätigt werden, dass sie ihren Übertritt zum Glauben einer Minderheit für apologetisch-politische Zwecke nutzte, was innerhalb der soziologischen Konversionsforschung als ein Akt der »Nonkonformität«195 beschrieben wird. Denn sie zeigte mit ihrer öffentlichen Abkehr vom Christentum, das im Zeitalter des immer stärker werdenden Antisemitismus als die überlegene Mehrheitsreligion hervorgehoben wurde, gleichzeitig eine Ablehnung der damit verknüpften gesellschaftlichen und politischen Praxis. Sie nutzte ihre Konversionserzählung als öffentliches Medium, um sowohl den Wandel ihrer konfessorischen Identität aufzuzeigen als auch die kulturellen und politischen Umstände der Zeit zu kritisieren. Folglich kombiniert sie innerhalb ihrer demonstrativen Konversionserzählungen die beiden Konversionsgründe des konfessorischen Identitätswechsels und des politischen Statements, wobei sie den sozialen Aspekt, der sich durch die Eheschließung ergibt, nebensächlich erscheinen lässt.

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Vgl. Kap. III, 2.1. Apg 9,18. Siehe: Lazarus 1897c. Vgl. dazu auch Lazarus-Remys jüdisches Bekenntnis in Kap. III, 2.1. Lazarus 1896, Vorwort: »Die Gesinnung also, welche diese Werke diktierte, ist nicht nur dieselbe geblieben, sondern sie ist bestärkt und – besiegelt!« Vgl. Wohlrab-Sahr 2012: 21.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Entgegen Reeses Annahme, dass sich Lazarus-Remy ausschließlich wegen Lazarus für das Judentum einsetzte und konvertierte, wurde aufgezeigt, dass ihr Interesse und ihr Engagement für das Judentum tatsächlich ursprünglich-autonom waren. Allerdings wurde festgestellt, dass Lazarus für Lazarus-Remy der entscheidende und richtungweisende Impulsgeber war, der sie dazu animierte, über das Wesen des Judentums populärwissenschaftliche Werke zu veröffentlichen und auch konsequenterweise zum Judentum zu konvertieren. Die zweite von Reese vertretene These, dass Remy den Philosemitismus nutzte, um in die intellektuelle Gesellschaftsschicht zu gelangen, kann ebenso wie die These der Konversion als finanziell-gewinnbringende Spekulation widerlegt werden.196 Gegen Reeses Annahme spricht die Tatsache, dass Lazarus-Remy bereits vor dem Kennenlernen von Lazarus durch die schriftstellerischen und politischen Kontakte ihrer Mutter Sturmhoefel d.Ä. und vor allem durch die Ehe mit dem Kunsthistoriker Max Remy zur intellektuellen Gesellschaftsschicht gehörte.197 Lazarus-Remys schriftstellerischer Bekanntheitsgrad spricht dafür, dass Lazarus bewusst die Christin als apologetisches Sprachrohr einsetzte, indem er sie zu populärwissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen über das Judentum motivierte. Ganz im Gegenteil bezweckte sie mit ihren projüdischen Veröffentlichungen zeitlebens allein das Ziel, ihre jüdischen und nichtjüdischen Leser und Zuhörer aufzuklären. 1911 resümierte sie, nachdem sie bemerkte, dass ihre Werke und vor allem die von Lazarus immer weniger Abnehmer fanden: »Wenn ich überschaue, was ich alles schon gearbeitet habe – es fasst mich beinah ein Grauen für so viel Pflichtensklaventum u[nd] noch bin ich nicht frei. Noch wage ich es nicht mich des Daseins harmlos zu freuen. Die Fülle dessen, was ich noch leisten möchte, ist fast unübersehbar. Und zugleich fällt der Schatten über all‹ mein Tun und Ringen, der Schatten des Gedankens: viell[eicht] ist alles umsonst! Wenn ich tot bin, wird alles viell[eicht] von rauhen, unkundigen, gleichgiltigen Gesellen in den Ofen der Vernichtung geworfen werden – u[nd] Niemand fragt danach. Sei es. Es wird mich nicht abhalten weiterzuarbeiten, denn hätte ich nicht die Arbeit, wäre ich jetzt schon lebendig tot. [Herv. i.O.]«198 Die Entscheidung sich zu einer Minderheit, dem Judentum, zu bekennen, brachte ihr mehr Probleme als Vorteile. Ein Übertritt zum Judentum war in einer Zeit der Religionsfreiheit zwar möglich, jedoch brachte dieser Schritt für einen christlichen Konvertiten zumeist keine Vorzüge. Als christliche Schriftstellerin und apologetische Rednerin gefeiert, hatte nun der sich immer stärker ausprägende Antisemitismus auch Auswirkungen auf die Jüdin Lazarus-Remy. Neben den Erfahrungen, dass die Verleger immer weniger die populärwissenschaftlichen Werke einer Konvertitin publizieren wollten, schmerzte sie vor allem der mit der Konversion einhergehende Verlust an Anerkennung ihrer

196 Reese 2009: 583: »Durch die Bekanntschaft mit Moritz Lazarus änderte sich zweierlei an dieser Situation: Zum ersten Mal erschien es für Nahida Remy erreichbar, Teil der intellektuellen bürgerlichen Berliner Elite zu werden.« 197 Vgl. Kap. I, 2.1. 198 The National Library of Israel, Department of Archives: Eintrag von 1911, Arc.Nr. 01 134. Vgl. auch Kap. I, 3.6.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

schriftstellerischen Leistungen. Sie konzentrierte sich daher auf die Unterstützung ihres Mannes Moritz Lazarus und veröffentlichte erst nach seinem Ableben (1903) zahlreiche eigene Abhandlungen unterschiedlicher Thematiken, hauptsächlich in jüdischen Zeitschriften und Verlagen. Bis zu ihrem Lebensende versuchte sie weitere kulturhistorische Werke zu veröffentlichen, was ihr aufgrund des zunehmend rassistischen und antisemitisch begründeten Nationalismus sowie ihrer polemisierenden Haltung versagt blieb.199 Daneben betraf sie nun auch persönlich der nationalistische Diskurs von Nationalität und Ethnizität. Durch ihre nun ›prekäre‹ Zugehörigkeit zum jüdischen Kontext erfuhr sie vor allem im persönlichen Nahbereich enttäuschende Distanzierungen, was sich nach dem Ableben von Lazarus verstärkte. Im 19. Jahrhundert eine Jüdin zu werden, bedeutete, dass man sich mit einer Gruppe identifizierte, die von der christlich-deutschen Mehrheit als rassisch anders definiert wurde. Obwohl Lazarus-Remy über die antisemitischen Aktivitäten der Zeit gut aufgeklärt war und die Folgen für sich kannte, entschied sie sich trotzdem bewusst, sich öffentlich zum Judentum zu bekennen.200 Rückblickend erinnerte sie sich daran, dass niemand unter ihren Angehörigen und bisherigen Freunden das geringste Verständnis dafür gezeigt habe, was »der Gewissenszwang«201 für sie bedeute. »Das Verhältnis zu Remy’s erlitt einen Stoss, den ich in meiner Harmlosigkeit anfangs gar nicht spürte, aber allmählich merkte ich, dass die Schwestern recht kühl gegen mich wurden. Marie spöttisch – skeptisch, Anna befremdet und vorwurfsvoll. Ein Ankämpfen dagegen – etwa mit historischen und humanitären Beweisen wäre zwecklos

199 Vgl. Kap. I, 3.6. 200 Beispielsweise wurden den Juden die Freiheit einen Beruf zu wählen auch im 19. Jh. nicht gewährt. Zudem erlitten sie wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterdrückung durch die judenfeindliche Bewegung. Folglich musste sich auch der Konvertit nicht nur gegen die Meinung innerhalb seiner christlichen Familie durchsetzen, sondern auch innerhalb der antisemitisch orientierten Gesellschaft. Er gehörte nun einer Minderheit an, die nicht nur vor dem, sondern auch im 19. Jh. antisemitische Anfeindungen zu spüren bekam. Auch Nahida Remys persönliche Stellung innerhalb ihres Verwandten- und Bekanntenkreises wurde immer schwieriger. Da sie ihre Abneigung gegenüber dem Antisemitismus ebenso wie ihre starke Hinneigung zum Judentum nicht völlig verheimlichte, traf sie damit vor allem innerhalb ihrer Familie auf kein Verständnis, was allerdings begreiflich erscheint. Ihre Mutter Sturmhoefel d.Ä. war die Tochter eines königlich-preußischen Majors und »welche Anschauungen in diesen Kreisen herrschten, kann man sich denken«, schlussfolgert A. Lazarus, der nach Lazarus-Remys Ableben einen Zeitungsartikel über sie verfasste. Auch die Familie, zu der sie durch ihre Heirat mit Max Remy engste Beziehung geknüpft hatte, war auf den gleichen antisemitischen Ton gestimmt. Am 26. Juni 1884 spricht sie sich in einem Schreiben an ihre jüdische Freundin Sophie Herzberg darüber aus: Lazarus 1928, hier 686: »Es würde mir eine wahrhafte Wohltat sein, mich in einem edlen jüdischen Familienkreise bewegen zu dürfen. Ich habe mich von meinen christlichen bekannten allmählich immer mehr zurückgezogen und verkehre eigentlich mit einigen nur noch geschäftlich. Außerdem sehe ich – meist Sonntag – meine Schwägerinnen … beide – trotz wirklicher Herzensgüte – antisemitisch angehaucht … somit fühle ich mich bei ihnen trotz aller verwandtschaftlichen Pietät am wenigsten wohl. – Ich stehe ganz isoliert da und die wenigen herzlich geliebten Menschen leben, fern von mir.« Vgl. Kap. I, 2.2. 201 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebuchschnipsel von 1909, Arc.Nr. 01 134.

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gewesen. So liess ich es gehen! dass andere Bekannte und Freunde sich von mir zurückzogen, wurde mir sogar zur Erleichterung und Zeitersparnis.«202 Auch innerhalb ihrer neuen jüdischen Familie und dem neuen Bekanntenkreis bekam sie skeptische Distanzierungen zu spüren, was sie zeitlebens sehr kränkte.203 Das sie zum Judentum konvertierte, war folglich keine leichte Entscheidung und erwies sich auch in der Zukunft nicht als ein leichter Weg für Lazarus-Remy. Die Konversion zum Judentum erfüllte für sie vor allem die Funktion eines ›symbolischen Kampfes‹, den sie zum einen gegen die antisemitischen Stimmen und zum anderen gegen die innerjüdischen Diskrepanzen der modern-säkularen Zeit führte. Das Judentum, das sie vertrat und zu dem sie sich zeitlebens zugehörig fühlte, stand dabei für einen ideologischen Charakter, den sie für ihren ›symbolischen Kampf‹ der Aufklärung nutzte. Es ist ein Kampf, den sie bis zum Lebensende führte und in dem sie zeitweise sogar unterlag, was anhand einiger Tagebucheinträge seit 1911 deutlich wird. Am Silvesterabend 1911 resümiert Lazarus-Remy, wie üblich in ihrem Tagebuch, das vergangene Jahr und erkennt, nach ihrem ersten persönlichen Kontakt mit antisemitischer Distanzierung erstmalig ihre jüdisch-moderne Identität ab: »Nein, ich bin keine Jüdin. Nichts, nichts hat mich diesem Volke angenähert, das mir, je länger ich es kennen lerne, (in seinen modernen Vertretern, u[nd] auch in den orthodoxen) fremd bleiben wird. Lazarus war eine Lichtgestalt unter den Juden u[nd] hat sich zu ihnen bekannt – aus Güte! Aus Treue u[nd] Tradition!! Aber er war nicht ihresgleichen – er gehörte nicht zu ihnen. – Er stand einzig da; – seiner Zeit voran um tausend Jahren. […] Aber ein bisschen Freude!! Ach, nur ein wenig Freude von Zeit zu Zeit – lieber Gott, schenk sie mir im Neuen Jahr! Amen. [Herv. i.O.]«204 Trotz großer Enttäuschung wegen der dürftigen Resonanz auf die Nachlassveröffentlichungen beginnt sie ihre und Lazarus’ Werke weiterhin zu sichten und zu ordnen, um diese vor der völligen Vergessenheit zu bewahren.205 Sie war betrübt darüber, dass ihre, aber vor allem Lazarus’ projüdische Abhandlungen, die sie mit viel Mühe bearbeitet

202 Ebd. 203 Lazarus-Remy 1927a: 155. Vgl. auch Kap. I, 3.1 sowie 3.2. 204 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 31.12.1911, Arc.Nr. 01 134: Folgendes bereits Zitiertes wurde gekürzt, was allerdings für den Zusammenhang an dieser Stelle nochmals angegeben wird: »Und ich? Wenn ich überschaue, was ich alles schon gearbeitet habe – es fasst mich beinah ein Grauen für so viel Pflichtensklaventum – u[nd] noch bin ich nicht frei. Noch wage ich es nicht mich des Daseins harmlos zu freuen. Die Fülle dessen, was ich noch leisten möchte, ist fast unübersehbar. Und zugleich fällt der Schatten über all‹ mein Tun u[nd] Ringen, der Schatten des Gedankens: viell[eicht] ist alles umsonst! Wenn ich tot bin, wird alles viell[eicht] von rauhen, unkundigen, gleichgiltigen Gesellen in den Ofen der Vernichtung geworfen werden – u[nd] niemand fragt danach. Sei es. Es wird mich nicht abhalten weiter zu arbeiten, denn hätte ich nicht die Arbeit, wäre ich jetzt schon lebendig tot.« 205 Ebd.: Tagebucheintrag vom 15.03.1911: »Ich will gehöre [Herv. i.O.] nicht zu denen gehören, die aus Stolz od[er] Trägheit, aus Trübsinn oder Menschenverachtung das, was sie geistig leisten können, für sich behalten. Durchdrungen von der Überzeugung, dass ein Jeder seine Gaben und Leistungen an den Dienst der allgemeinen Kultur zu stellen, die Pflicht hat – unterziehe ich mich der Bearbeitung meiner Schriften.« Vgl. auch Kap. I, 3.4.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

und herausgebracht hatte oder noch publizieren wollte, kaum Anklang bei den jüdischen Verlegern sowie Lesern fand. Am 28. November 1911 notierte sie in ihrem Tagebuch: »Kommerzienrat Jul. Goldschmidt mit Frau (Nichte von Lazarus; Tochter seiner ältesten Schwester) hier, […]. Wussten nichts von unseren letzten Büchern, nichts von ›Erneuerung‹ – nichts von ›Leben-Erinnerungen‹, nichts von ›Deutscher Pr[ofessor] i[n] d[er] Schweiz!‹ – Verwandte!! Was soll man dann von Fremden erwarten?!«206 Die mangelnde Resonanz, die Lazarus’ Werke erfuhren, resultierte aus seinen darin propagierten »aufklärerisch-universalistischen Ideen und pluralistischen Gesellschaftsmodellen«207 , die in einer immer mehr nationalistisch-rassistisch orientierten Gesellschaft keinen Platz fanden und folglich in Vergessenheit gerieten. Dieser Prozess des Vergessens sowie der Ignoranz gegenüber ihrem und Lazarus’ apologetischem Handeln, den Lazarus-Remy auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft beobachtete, führte bei ihr zu einer kritischen Distanzierung vom Judentum. Sie hatte sich mit Lazarus jahrzehntelang dafür eingesetzt, die Juden durch Aufklärung wieder zu ihren religiösen Wurzeln zu führen, worin sie Lazarus zeitlebens als einen Vorkämpfer, als »Lichtgestalt«, ansah, der sich zum Judentum, trotz antisemitischer Agitationen, bekannte und das »aus Güte! aus Treue! u. Tradition!! [Herv. i.O.]«208 . Die Treue zum Judentum und vor allem die Anerkennung und Wahrung der jüdischen Tradition waren für Lazarus-Remy von erheblicher Bedeutung, was sie allerdings nur noch vereinzelt in der jüdischen Gesellschaft des 19./20. Jahrhunderts wahrzunehmen glaubte. Ihre kritische Haltung gegenüber dem modernen Judentum ist jedoch keine neue Sichtweise, sondern wurde bereits zwanzig Jahre zuvor in ihrem Werk Das jüdische Weib (1891) vehement vertreten, indem sie darin die Assimilierung der Juden an die moderne christliche Gesellschaft mittels Absage an ihre eigene Religion und Kultur missbilligte.209 Auch Lazarus kritisierte in seinem Werk Die Erneuerung des Judentums, das 1909 von Lazarus-Remy publiziert wurde, die Resignation der Juden gegenüber ihrer Religion: »Diese Schrift ist ein Vermächtnis an meine Glaubensgenossen, an die Juden, welche nach mir leben werden. Denn auf meine Zeitgenossen wird sie keine irgendwie erhebliche Wirkung tun, mit Ausnahme vielleicht der Juden des europäischen Ostens (Polens und Rußlands). […] Hier aber im ganzen Westen Europas ist das Geschlecht der Juden zum größten Teil träge, stumpf und mattherzig für die Sache seiner Religion geworden.«210

206 Ebd. 207 Berek 2009: 10: Moritz Lazarus sprach sich offen gegen jegliches rassistische Denken aus. »›Diese ganze Blut- und Racentheorie‹ hielt er für niedrigen und gemeinen Hass; ›Blut‹ bedeutete ihm ›blutwenig‹. Da für ihn nur Austausch, Pluralismus und Vermischung von Kollektiven zu höherer Zivilisation führte, brauche jede Nation Einwanderung.« 208 The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 31.12.1911, Arc.Nr. 01 134. 209 Vgl. Kap. II. 210 Lazarus-Remy schreibt im Vorwort: Lazarus 1909: »Warum ich erst sechs Jahre nach dem Tod seines Schöpfers dieses Werk veröffentliche? – wird man fragen. Weil ich jetzt erst die Zeit den Augen-

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Enttäuscht durch diese Erfahrungen, verstärkte sich ihre abwehrende Haltung gegenüber dem modernen Judentum, dem sie nichts mehr abgewinnen konnte; sie beschreibt sich folglich als davon entfremdet und erneut konfessionslos. »Ein stattlicher netter Mann [der neue Meraner Rabbiner Dr. Altmann]. Sprach von seiner ›Verehrung‹, dass er stolz sei, mich zur Gemeinde zu zählen etc. ich liess ihn vorläufig bei seiner Meinung; es wird schon der geeignete Augenblick kommen, wo ich ihm erkläre, dass (u. warum) ich konfessionslos bin.«211 Sie zählte sich und auch Lazarus nicht zum zeitgenössischen Judentum, wie sie in dem bereits zitierten Tagebucheintrag: »Nein, ich bin keine Jüdin. […]«212 selbst formulierte. Abgesehen vom biblischen Judentum fühlte sie sich völlig dem modernen Judentum entfremdet und vor allem von den jüdischen Zeitgenossen alleingelassen. Durch den Ersten Weltkrieg (1914–1918), aber vor allem durch den Tod ihres geliebten Mannes (1903) verfällt sie bis zum Lebensende in ein melancholisches Einsamkeitsgefühl, das sie jegliche Zuneigung, die sie von ihrem nichtjüdischen wie auch jüdischen Bekanntenkreis erhielt, nicht wahrnehmen ließ. »An d[en] Vorst[and] d[er] jüd[ischen] Cultusgemeinde in Meran. Teile Ihnen höfl[ich] mit, dass Ihre Cultussteuerforderung an mich auf einen Irrtum beruht, den ich endl[ich] aufklären muss. Seit 1903 bin ich konfessionslos, habe auch schon vorher nie zur hiesigen od[er] sonstigen Judenschaft gehört. Der bewilligte Beitrag von 90 K ist nur ein freiwilliger. Nie habe ich die geringste Cultushandl[ung] od[er] dergl[eichen] beansprucht, nie Ihren Tempel besucht, bin nie an Ihren Angelegenheiten o[der] Veranstaltungen irgendwelcher Weise – rel[igiöser], patriot[ischer] o[der] geselliger Art beteiligt worden. Damit haben Sie selbst den Beweis geliefert, dass ich nicht zu Ihrer Gemeinschaft gehöre. Nur als Sie Geld brauchten haben Sie der Witwe Mor[itz] Lazarus erinnert. Die herrschende Notlage der Zeit, welche Geldsendungen aus Deutschland an mich hindert, so dass ich Ersparnisse aufzubrauchen gezwungen bin, macht es mir unmöglich obigen Beitrag weiter zu zahlen. Nach Eintritt normaler Verhältnisse hoffe ich den wieder erübrigen zu können, als freiwillige Gabe im Andenken an meinen Mann; nur als solche. Falls mein Name in Ihren Registern (Matrikeln etc.) geführt wird, ersuche ich denselben ehestens zu streichen. Hochachtungsvoll Nah[ida] Lazarus – Remy, geb. Sturmhoefel. [Herv. i.O.]«213

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blick dazu gekommen glaube. Wohin ich sehe, ringt es in der Judenheit um des Judentums willen nach Aufklärung, nach Befreiung … wie noch nie!« The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 26.09.1914, Arc.Nr. 01 134. Ebd.: Tagebucheintrag vom 31.12.1911: »Nichts, nichts hat mich diesem Volke angenähert, das mir, je länger ich es kennen lerne, (in seinen modernen Vertretern, u[nd] auch in den orthodoxen) fremd bleiben wird. […] Lazarus war eine Lichtgestalt unter den Juden u[nd] hat sich zu ihnen bekannt. […] Aber er war nicht ihresgleichen – er gehörte nicht zu ihnen. – Er stand einzig da; – seiner Zeit voran um tausend Jahren.« The National Library of Israel, Department of Archives: Handschriftliches Briefkonzept von 1919, Arc.Nr. 01 134. Vgl. auch Kap. I, 3.3.

III. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum

So betonte sie 1919, trotz mehrerer zuvor geschilderter positiver Interaktionen unter anderem mit Rabbiner Altmann und dessen Frau, in ihrem Tagebuch erneut ihre Konfessionslosigkeit aufgrund ihrer Entfremdung vom modernen Judentum: »10. Januar 1919: Die jüd[ische] Gemeinde (d.h. Vorstand) fordert schon wieder restierende ›Cultussteuern‹ ein. – Ich bin so gründlich abgeneigt sie zu zahlen. Was habe ich mit der hiesigen Judengemeinde zu schaffen? Nichts, rein gar nichts. Sie ist mir, wie alles Jüdische, antipathisch. (Abgesehen von echtem, d.h. biblischen Judentum). Ich bin längst durchaus konfessionslos. Ich war es ja von Kindheit an! Und in Erziehung, Lebensgewohnheit, Neigung ganz und gar unjüdisch. Die Zeit da ich die Studien zum ›Jüd[ischen] Weib‹ und Kulturstudien etc. trieb, war von Lazarus in hohem Grade optimistisch beeinflusst. Das ist völlig vorbei. Ist es nicht Feigheit, dass ich in Vielen [sic!] die Meinung beharren lasse, ich sei Jüdin? – Alles in mir wehrt sich dagegen. – 1895 legte ich das nötige Bekenntnis ab, um Laz[arus] heiraten zu können, im guten Glauben und Willen mit ihm ein jüdisches Haus zu begründen; – aber von Jahr zu Jahr wurde ich reifer, sah schärfer, kritisierte unbefangener – - und nur die Sabbatgesänge mit meinem Heissgeliebten berührten mich noch sympathisch; – als er die Augen geschlossen und die Gesänge aufhörten – versank alles Jüdische mit ihm ins Grab. [Herv. i.O.]«214 Der Erste Weltkrieg entfachte einen wesentlichen Einschnitt der jüdischen Emanzipation innerhalb der deutsch-jüdischen Geschichte, der innerhalb des Krieges anhand antisemitischer Diskriminierungen der jüdischen Soldaten deutlich wurde. Auch nahm Lazarus-Remy im österreichischen Meran bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vermehrte antisemitische Tendenzen war, denen sie zwar vehement entgegenzutreten versuche, die aber gleichzeitig ein Infragestellen ihres jüdischen Identitätsgefühls auslösten: »Und mein erstes, eifriges Ringen hier in Meran [einen Tierschutzverein zu gründen], wo wir begraben, liegen werden, ein ehrenvolles Andenken zu hinterlassen – wie zweifelhaft erscheint mir alles! Trotz aller Opfer und aller Anstrengung fürchte ich, wird die Gemeinde derer, die uns kennt, schätzt u[nd] liebt sehr klein bleiben. Jetzt schon – (in den Tierschutzvereinssitzungen, wenn Dr. Haller anwesend) spüre ich einen kalten Hauch von Opposition, Antipathie – Sollte es Antisemitismus sein? Aber Jeder sieht es mir an, dass ich keine Jüdin bin. Also warum? [Herv. i.O.]«215 Obwohl sie sich mehr als zehn Jahre nicht als Jüdin bezeichnete, setzte sie sich weiterhin apologetisch für die Juden ein. So reagierte sie beispielsweise prompt auf eine antisemitische Lokalnotiz des US-amerikanischen Reiseschriftstellers John Lawson Stoddard (1850–1931) in der Meraner Zeitung (1914), und erhielt vom Chefredakteur umgehend eine zuvorkommende und devote Antwort.216 Am 3. November 1924 erhielt sie von der Grossloge aus Berlin wegen ihres »angebl[ichen] Austritt[s] aus dem Judentum« ein Schreiben mit der Bitte um Aufklärung. In einem Antwortbrief schrieb sie, sie sei »nicht ausge-

214 Ebd. 215 The National Library of Israel, Department of Archives: Eintrag von 1911, Arc.Nr. 01 134. 216 Vgl. Kap. I, 3.5.1.

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treten (offiziell), aber, u.s.w.«217 . Es blieb der letzte Eintrag in ihrem Tagebuch, der sich mit ihrer angeblichen Konfessionslosigkeit befasste. Darin vermerkte sie nochmals ihre konfessorischen Glaubensgrundsätze, in denen sie das dem Judentum eigentümliche Ablehnen dogmatischer Lehrsätze positiv annimmt, ebenso wie das unkirchliche System des Judentums.218 Sie sei unkonfessionell und der Überzeugung, dass es nicht nur einen Weg gebe, »um Gott zu suchen«219 . Sie blieb bis zu ihrem Lebensende offiziell, aber auch persönlich eine Frau jüdischen Glaubens, was innerhalb ihrer Tagebücher durch ihre alltäglich geschilderten Handlungen deutlich wird. Sie nahm wieder die Sabbatgesänge auf, fügte den Zusatznamen Ruth erneut in ihren Veröffentlichungen hinzu und pflegte anerkennend jüdische Kontakte.220 Am deutlichsten wird ihre treue Haltung zum Judentum in ihrem Testament vermerkt, worin sie neben der Handhabung und Sicherung der Nachlässe von Moritz und Nahida Lazarus ihr gänzliches Vermögen jüdischen Institutionen und vor allem der Nahida Ruth Lazarus-Stiftung in Leipzig vermachte.221 Es kann gesagt werden, dass sie eine starke, offene und akribische Persönlichkeit war, die sich bis zuletzt, trotz zeitweiser Krisen bezüglich des modernen Judentums, aus innerer alttestamentlich geprägter Überzeugung apologetisch für das Judentum einsetzte.222

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The National Library of Israel, Department of Archives: Tagebucheintrag vom 03.11.1924, Arc.Nr. 01 134. 218 Ebd.: Eintrag von 1924: »Das Judentum macht jedem Einzelnen, mit dem vollen Recht und der vollen Pflicht zum Träger der Religion; jedem ist die Freiheit wie die Aufgabe der religiösen Selbstständigkeit gegeben.« Es handelt sich hierbei um ein Zitat des liberalen Rabbiners Leo Beack (1873–1956), aus einem Vortrag über Das Judentum unter den Religionen. Vgl. dazu N.N. 1911: 744. 219 Ebd. 220 Vgl. Kap. I. 3.3.; 3.4. 221 Vgl. Kap. I, 3.3. 222 Obwohl Lazarus-Remy in ihren letzten Lebensjahren in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte, verlor sie nicht ihren »Stolz« und ihr »Ehrgefühl«, dass sie und besonders ihr Mann etwas Gutes für die Nachwelt geleistet hatten. Vgl. dazu Brodnitz 1928: 29.

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

1. Lazarus-Remys Leben und Wirken und deren Bedeutung für die Nachwelt »Die edelmüthige und rastlose Wirksamkeit Euer Hochwohlgeboren [Nahida Ruth Lazarus] auf dem Gebiete der judaistischen Literatur, wie das offenherzige u[nd] segensreiche Kämpfen für das Judenthum überhaupt veranlassten mich […] eine kurze Lebensskizze in polnischer Sprache niederzuschreiben, um auch das hiesige Publikum, das nur polnisch liest, auf die phenomenale Erscheinung u[nd] den wahren Stolz des Judenthums aufmerksam zu machen.«1 Im Jahr 1899 veröffentlichte der Krakauer Rabbiner Salomon Spitzer (1859–1941) erstmalig eine zeitgenössische Biografie von Lazarus-Remy, die er ihr im März 1900 in der zweiten Auflage mit einem persönlichen Schreiben nach Meran zusandte. In seiner dazu verfassten persönlichen Widmung rühmt Spitzer nochmals Lazarus-Remy als Verteidigerin des Judentums und betont seine Verehrung gegenüber ihrem apologetischen Einsatz.2 In Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift 3 wird sie durch ihr mutiges Engagement in die Reihe bekannter Frauen des 19. Jahrhunderts aufgenommen wie die österreichische Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner, geb. Kinsky (1843–1914) oder die deutsche Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Lily Gizycki, geb. Braun (1865–1916), die sich als Christinnen für die allgemeinen Menschenrechte einsetzten.4 Sie bleibt in solchen Aufzählungen mit ihrem apologetischen Bestreben für das Judentum und ihrer anschließenden Konversion einzigartig. 1 2

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The National Library of Israel, Department of Archives: Salomon Spitzer [Krakau], 1900. Brief an Nahida Ruth Lazarus [Meran], 25. März, Arc.Nr. 01 126. Spitzer 1900: Widmung: »Der Hochedelgeborenen Frau Nahida Ruth Lazarus Universitäts-Professor- Gattin, der edlen Vertheidigerin des Judenthums, in tiefster Ehrfurcht u[nd] innigster Verehrung gewidmet vom Verfasser.« Die erste Auflage erschien vermutlich 1899, da in diesem Jahr ein biographischer Artikel über Nahida Ruth Lazarus von Spitzer in der deutsch-polnischen Zeitschrift Sprawiedliwosc. Die Gerechtigkeit erschien. Vgl. dazu Spitzer 1899a; Spitzer 1899b; Spitzer 1899c. Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift (1884–1920) setzte sich unter der Leitung des orthodoxen Publizisten und Politikers Joseph Samuel Bloch (1850–1923) gegen den zunehmenden Antisemitismus in Österreich-Ungarn ein. Vgl. dazu N.N. 1897: 890.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Im 19. Jahrhundert gab es selten christliche Schriften über Juden, die ohne Vorurteile waren. Jedoch gab es ab der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts einige Deutsche nichtjüdischen Glaubens, zu denen auch Lazarus-Remy anfangs zählte, die wissenschaftliche Beiträge über die jüdische Geschichte schrieben und veröffentlichten, mit dem Ziel, vor allem ihre christlichen Leser aufzuklären.5 Beispielsweise kann hier der bereits genannte und zitierte christliche Biologe Mathias Jacob Schleiden (1804–1881) angeführt werden, der seine wissenschaftliche Abhandlung mit dem Wunsch begründete: »wenigstens den Anfang zu machen, um einen Theil des unsäglichen Unrechts, welches die Christen an den Juden begangen haben, wieder gut zu machen.«6 Beide, Schleiden und Lazarus-Remy, nutzten die überzeugende Kraft der (populär)wissenschaftlichen Literatur, um sich für das Judentum öffentlich einzusetzen. Solche Bücher, die das Ziel verfolgen, die rassistischen, ökonomischen und soziologischen Aspekte des Antisemitismus anzuprangern, wurden in jüdischen Kreisen dankbar angenommen. Denn diese verteidigten nicht nur das Judentum gegenüber den aktiven antisemitischen Agitationen und Hetzen, sondern klärten die eigenen jüdischen Gläubigen auf und bestärkten sie in ihrem Selbstwertgefühl. Folglich war Lazarus-Remys Intention, die Juden aufzuklären und zu bekräftigen ein zeitgenössisches Thema und ein Ziel, das die intellektuell-jüdische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts anerkennend und dankbar annahm. So wird beispielsweise von dem orthodoxen Berliner Rabbiner Salomon Cohn (1822–1902) in seinem Beitrag Eine Probe hebräischen Stiles zunächst die »traurige Thatsache« vermerkt, dass die jüdische Jugend des 19. Jahrhunderts mit so »dürftigem hebräischen Wissen die Religionsschule« verlasse, sodass sie »kaum selbst für die alltäglichen Gebete das volle Verständnis [besitze] und umso weniger eine Ahnung [habe], welche Fülle herrlichster Gedanken, erhabenster Wahrheiten, grundlegender Lehren, tief sittlicher Welt- und Lebensanschauung ihr durch diesen Mangel an Unterricht unbekannt [bliebe].«7 Cohn kritisiert darin das Desinteresse der modernen Juden an den jüdischen Schriften, Traditionen und der hebräischen Sprache, wovon das Letztere, seiner Meinung nach, sogar mehr in christlichen als in jüdischen Kreisen gepflegt werde, wofür er Lazarus-Remy als beispielgebend heranzieht:

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Gerstenberger 2001: 57. Der christliche Musikschriftsteller Johann Josef Schrattenholz (1847–1909) trat mit seinen Schriften energisch gegen den modernen Antisemitismus ein. Vgl. auch Schrattenholz 1891; Schrattenholz 1893; Schrattenholz 1894. Es gab zur Zeit des politischen Antisemitismus projüdische Schriften aus dem Spektrum der evangelischen Judenmission, und zwar teils von konvertierten Juden, wie der Journalist und christliche Theologe Paulus Stephanus Cassel (1821–1892), teils von Nichtjuden, wie der evangelische Theologe und Orientalist Hermann Leberecht Strack (1848–1922). Vgl. dazu Strack 1886; Strack 1922–1928. Er war 1886 Mitbegründer des Institutum Judaicum in Berlin und sprach sich öffentlich gegen die antisemitische Bewegung aus. Auch Cassel setzte sich aktiv im Kampf gegen den modernen Antisemitismus ein. Vgl. dazu Cassel 1880; Cassel 1885. Schleiden 1912, Vorwort. Siehe dazu Lazarus 1898b: 11: Auch Lazarus-Remy erwähnt in ihrer autobiographischen Konversionserzählung, dass sie der jüdischen Fleischersfrau gegenüber das Gefühl habe, »dass hier Etwas [sic!] gut zu machen sei«. Vgl. Kap. II, 3.1.2. Cohn 1885: Der Titel von Cohns Artikel bezieht sich auf ein siebeneinhalbzeiliges Zitat aus einem von Remy ihm zur Beurteilung zugesandten hebräischen Schreiben.

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

»Ach, wie in so vielen anderen Beziehungen, so auch in dieser, weiß der heutige Jude den Schatz nicht zu würdigen, der von der fleckenlosen Hand glaubenstreuer Geschlechter ihm vererbt wurde; die Pflege der hebräischen Sprache wird in christlichen Kreisen eher als in jüdischen gefunden. Eine christliche Dame, Frau Dr. R—y, von dem tiefen Gehalt der Bibel mächtig angezogen, entschloß sich, die hebräische Sprache zu studiren, weil sie sich sagte, der Geist der Bibel könne, in die Form eines fremden Idioms gegossen, nicht zu seiner wahren Darstellung gelangen, nur in seiner eigenartigen Gewandung, in der er zuerst in die Erscheinung trat, und das ist in der hebräischen Sprache, vermöge er allein erfaßt und verstanden zu werden.«8 Dass Lazarus-Remy die hebräische Sprache oder alttestamentliche Kenntnisse besser beherrschte als die jüdischen Zeitgenossen, wurde immer wieder in den zahlreichen Rezensionen zu ihren populärwissenschaftlichen Werken festgehalten. »Muß uns nicht die Schamröthe das Gesicht bedecken, wenn eine Christin so schreiben kann – und unsere jüdischen Frauen, ach und unsere jüdischen Männer?«9 Durch die Analyse ihrer feministischen Einstellung wurde anhand Lazarus-Remys kritischer Sicht auf die modernen Jüdinnen ihre Unterstützung der traditionellen Auffassung von der weiblichen Frauenrolle herausgearbeitet, die durch die Annahme grundsätzlicher Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestimmt war; diese hatten unterschiedliche Funktionen zu erfüllen.10 Somit vertrat sie in ihrem Bestreben keine völlige Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern eine uneingeschränkte und selbstbewusste Entwicklung der Frau, die die Besonderheiten des weiblichen Geschlechts, d.h. ihre Mutterrolle, Religiosität, Sensibilität, Fürsorge und Intelligenz weiterhin betont und mitberücksichtigt. Diese Fähigkeiten, die sie vor allem bei den modernen, säkularen Jüdinnen des 19. Jahrhunderts als verloren ansah, sollten von den jüdischen Frauen auf die Weise angewandt werden, dass sie der Familie, aber auch der jüdischen Gemeinschaft zugutekamen. Damit teilte sie die zeitgenössische reformjüdische Meinung sowie die der später gegründeten jüdischen Frauenbewegungen. Wie Lazarus-Remy vertrat der 1904 gegründete Jüdische Frauenbund (JFB) die Ansicht, dass jüdische Frauen in erster Linie Ehefrauen und Mütter seien und ihre Männer in ihrem Beruf zu unterstützen hätten. Auch forderte der JFB wie Lazarus-Remy von den jüdischen Frauen, dass sie ihre Zeit zwar vor allem ihrer Ehe und Familie widmen sollten, daneben aber ihr Interesse und ihr Wissen für das öffentliche Wohl einzusetzen hätten.11 Was unter anderem von der Begründerin des JFB Bertha Pappenheim (1859–1936) Anfang des 20. Jahrhunderts gefordert wurde, wurde von ihr bereits mehr als zehn Jahre zuvor in ihrem Werk Das jüdische Weib (1891) betont. Lazarus-Remys Sicht der jüdischen Frauenrolle orientiert sich zwar, wie aufgezeigt, stark an der reformjüdischen Haltung, steht

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Cohn 1885. Bei der Chiffre R—y handelt es sich um Remys Synonym, das sie bereits zu Lebzeiten ihres ersten Mannes Max Remy nutzte, da es ihr nicht erlaubt war, mit vollständigem Namen zu veröffentlichen. Vgl. Kap. I, 2.1.1. Cohn 1885. Vgl. Kap. II. Kaplan 1981: 27: »Sie sollten eine sorglose, bequeme, erfreuliche und jüdische häusliche Umwelt schaffen, in die sich der abgekämpfte Ehemann abends nach einem harten Arbeitstag zurückziehen konnte«.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

aber trotzdem durch ihr offenkundiges Engagement als Christin zur Zeit des aufkommenden Antisemitismus als einzigartig in ihrer Zeit dar. Mit Das jüdische Weib und ihren daran anknüpfenden Vorträgen sowie weiteren populärwissenschaftlichen Werken zu jüdischen Themen legte sie als christliche Vorkämpferin den Grundstein für Forderungen der jüdischen emanzipierten Frauen des 20. Jahrhunderts. Deutlich wird dies auch daran, dass bis zu ihrem Ableben immer wieder anerkennende Aufsätze über ihr beispielhaftes Wirken auch von den im beginnenden 20. Jahrhundert aufkommenden Frauenvereinen exemplarisch rezipiert wurden. So findet sich beispielsweise in der Israelitischen Wochenschrift vom 14. April 1912 eine Mitteilung über einen Vortrag zum Thema Nahida Remy und ihr Werk ›Das jüdische Weib‹, gehalten von Laura Schneider im Jüdisch-Literarischen Frauenverein Straßburg in Elsass. Darin wird Lazarus-Remy als eine der »interessantesten Erscheinungen der modernen Frauenwelt« eingeführt, die sich als Nichtjüdin und als »erfolgreiche Dichterin« sowie »gründliche Forscherin«12 vor allem anhand ihrer Werke für die zeitgenössischen Jüdinnen apologetisch einsetzte. In anschaulicher Weise habe die Rednerin Laura Schneider die Entwicklung von Lazarus-Remys »Geistesrichtung und ihres Charakters« dargestellt und besonders hervorgehoben, wie sie »durch falsche, verständnislose Erziehung und schlecht geleiteten Religionsunterricht dem Christentum entfremdet und durch selbstständiges Lesen der Bibel dem Judentum genähert wurde, dessen Studium sie ihr Leben weihte. […] Möge ihr Lebensweg und ihre religiöse Haltung ein positives Beispiel für die heutigen Jüdinnen sein.«13 Auch im englischsprachigen Raum erfährt Lazarus-Remy anerkennende Zuschriften, die vor allem ihren Mut und ihr apologetisches Engagement ehrten, vor allem in einer Zeit antisemitischer Konstruktionen von rassistischen, nationalen sowie sexuellen Differenzen.14 So veröffentlichte die amerikanische Schriftstellerin Louise Mannheimer (1856–1950), die Das jüdische Weib 1895 aus dem Deutschen ins Englische übersetzte und herausbrachte, in der Zeitschrift The Menorah bereits im März 1895 eine ausführliche biographische Darstellung von Lazarus-Remys Lebensweg, drei Jahre bevor diese ihre autobiographische Konversionserzählung publizierte.15 Diese biographische Darstellung schließt mit einer ausführlichen Zusammenfassung und Würdigung ihres ersten populärwissenschaftlichen Werkes Das jüdische Weib.

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Tänzer 1912. Tänzer 1912. Lazarus-Remy gibt in einem persönlichen Schreiben an L. Mannheimer ihre apologetischen Intentionen wie folgt an: »The prevailling anti-Semitism is revolting to my sense of justice, and I concentrate all my powers in the endeavor to enlighten Christendom and to arouse a conciliatory feeling.« In: Mannheimer 1895: 152. Mannheimer 1895: 149: Einführend zur biographischen Darstellung schreibt Mannheimer: »Like a sunbeam breaking through dark and threatening clouds, like the gentle breeze of spring, after the chilling blasts of winter, like the sweet morning song of the lark, after the dismal noises of the night; as these touch and cheer the heart, even so do the manifestations of Nahida Remy’s genius in her book, ›Jewish Woman‹ touch and cheer the heart in this time of threatening clouds and chilling blasts, in this time of dismal noises, which the faint echo bears to us across the ocean, from the distant shores of Europe, from the snow-clad plains of Russia.«

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

Ihre Konversion erhielt, wie zuvor bereits ausgeführt, neben zahlreichen anerkennenden Zuschriften16 auch kritische Hinterfragungen vonseiten jüdischer sowie christlicher Autoren, in denen ihr Übertritt auf ihre Eheschließung zurückgeführt und abqualifiziert wurde. Interessanterweise wird von dem Verfasser C.G. der Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens Im Deutschen Reich Lazarus-Remys Konversion aus einem ganz anderen Blickpunkt betrachtet. Neben ihrer Sprache und dem Schreibstil innerhalb ihrer Konversionserzählung sei vor allem ihre Gesinnung völlig »kerndeutsch«, was durch ihr aufrichtiges Verlangen nach Gott und ihrer Willensstärke, mit der sie »als junges Mädchen sich weder durch materielle Nachtheile noch durch Drohungen, nicht einmal durch Rücksichtnahme auf zärtlich geliebte Anverwandte zur Ablegung eines Bekenntnisses bewegen läßt, das in ihrem Munde Lüge und Meineid wäre. Sie sind kerndeutsch und erinnern vielfach an Stimmungen und Thaten führender Geister in deutscher Religions- und Bildungsgeschichte.«17 Entsprechend der Programmatik der Zeitschrift Im Deutschen Reich, die ihre Leser in der Pflege der deutschen Gesinnung bestärken wollte, wird Lazarus-Remys Konversion zum Judentum systematisch genutzt, um die Assimilation von Deutschtum und Judentum zu bekräftigen. »Wenn echtdeutsches Wesen – auch nur in einem einzigen Falle – sogar zu überzeugungsvollem Uebertritte zum Judenthum führen kann, sollte dann nicht jeder Denkende von der Verkehrtheit jener albernen Phrasen zu überzeugen sein, nur wer Christ sei, könne Deutscher sein.«18 Es liegen zwei nichtjüdische Rezensionen über Lazarus-Remys Konversionserzählung Ich suchte Dich! vor, die der Schweizer Tageszeitung Der Bund aus Bern sowie die aus der Zeitung für Kunst, Literatur und Wissenschaft (Beiblatt zur Hamburger Correspondent (H.C.)), die deutlich diese zeitgenössische Bipolarität bezüglich der Judenfrage widerspiegeln. Während Der Bund Lazarus-Remys apologetischen Einsatz und Konversion zum Judentum anerkennend würdigt, findet sich im Beiblatt zur H.C. eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Konversionserzählung. So enthalten nach dem Rezensenten der Tagezeitung Der Bund »die Bekenntnisse der Frau Nahida Lazarus, der Gattin des berühmten Völkerpsychologen Moritz Lazarus, mehr als allgemeine Frauenschicksale. Das Hauptereignis, wenigstens das auffallendste ihres Lebens ist ihr Uebertritt zum Judentum, der uns einfach und glaubwürdig, wie alles andere erzählt wird. […] Die Biographie mit dem Motiv: ›Ich

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C.G. 1897: 653f.: »Der Religionswechsel unter solchen Umständen [wie in ihrer Konversionserzählung Ich suchte Dich! geschildert] ist natürlich als Verwirklichung wohl ›begründeter‹ persönlicher Ueberzeugung hoch zu achten. Mit dem Uebertritte zu einer fremden Glaubensgemeinschaft aus unlauteren Motiven hat er garnichts Gemeinsames und ist auch himmelweit verschieden von jenem scheinbar untadelhaften Glaubenswechsel, den heute, durch ihre Eltern veranlaßt, nicht selten jüdische Kinder oder junge Leute vornehmen. […] Ihre Heirath mit unserem berühmten Glaubensgenossen, Professor Moritz Lazarus, ist nicht, wie hier und da geglaubt wird, der Grund ihres Uebertritts zum Judenthum gewesen.« Ebd.: 654. C.G. 1897: 654.

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suchte Dich!‹ ist ein Frauenbuch im schönen Sinne des Wortes und bietet, obgleich von einer Jüdin geschrieben, auch den christlichen Frauen ein Beispiel von dem Mut und der Wahrhaftigkeit, mit der gewisse Ausnahmen des weiblichen Geschlechts die Religion des Herzens gegen die Zumutungen der Gesellschaft verteidigen.«19 Während Lazarus-Remys Konversion zum Judentum im Bund als »glaubwürdig«20 deklariert wurde, wurde der Übertritt in der Zeitung für Kunst, Literatur und Wissenschaft von dem Rezensenten zwar billigend akzeptiert, aber nicht ihr herausfordernder Umgang mit demselben, indem sie ihre Konversion zum Judentum nicht still ausführte, sondern öffentlich bekannt machte. »Alle Achtung jedem, der sich durch nichts abhalten läßt, dem Zwange seiner innern Ueberzeugung zu folgen. Führt sie ihn, unbeeinflußt durch äußerliche Umstände, zum Uebertritt zu einem anderen Glauben, so wird niemand einen solchen Schritt mißbilligen können und dürfen. Fühlt aber eine solche Persönlichkeit das Bedürfniß, ihren Mitmenschen – die es doch eigentlich gar nichts angeht – hierüber Rechenschaft abzulegen, dann sollte sie das in einer Form thun, die dieser ernsten und heiligen Sache angemessener sei, schlicht und einfach, wie nur möglich ist, in einer Form, die uns nicht den Anlaß giebt, an der Wahrheit auch nur eines Wortes zu zweifeln.«21 Um die Glaubwürdigkeit von Lazarus-Remys Aussagen bezüglich ihrer Konversionsgründe zu falsifizieren, verweist der Rezensent auf zwei für ihn unstimmige Tatsachen hin. Zum einen verwirre es ihn, dass sie mehrere Jahrzehnte benötigte, um endgültig den Entschluss zu fassen, zum Judentum überzutreten: »dass Nahida, ›Die Wahrheitssucherin‹, bei ihren hervorragenden Anlagen und ihrer großen Belesenheit schon sehr früh eine scharfe Kritik am Neuen Testament und den christlichen Dogmen übt, dass sie schon als Kind gelehrte christliche Geistliche in Verlegenheit setzt, müssen wir schon glauben. Es ist dann nur auffallend, dass sie so verhältnißmäßig spät erst zum Judenthum übergetreten ist. Wem das Forschen nach der Wahrheit ein so starkes Bedürfnis ist, wie Nahida, der kann doch am Ende keine Pause von 20 oder mehr Jahren eintreten lassen, um dann erst die rechten Consequenzen zu ziehen.«22 Plausibel wird ihm ihre Entscheidung durch ihren nebenbei erwähnten Hinweis auf die Eheschließung mit Moritz Lazarus, der vom Rezensenten als der wahre Übertrittsgrund herausgestellt wird. 19

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O.v.G. 1898: 31: »Die Konfessionslosigkeit befriedigt diese ernste religiöse Natur nicht; sie fühlt ein tiefes Bedürfnis sich zu einer Religion zu bekennen. ›Gottesglaube und Pflichterfüllung‹ das ist alles, was das Judentum verlangt – und das ist alles was ich brauche. Auch dieser Zug ist weiblich und wer die ganze Gedankenentwicklung verfolgt, wird vielleicht an ein ähnliches Buch, an die ›Memoiren einer Idealistin‹ der M. v. Meusenburg [sic, gemeint ist Meysenbug] (1881) erinnert, die, eine weniger religiöse Idealistin, nach langem Suchen ihr ganzes Heil in der Philosophie Schopenhauers findet, die sie als absolute Wahrheit, wie die Wagnersche Musik als absolute Schönheit, ergreift.« Ebd. Sp. 1898. Sp. 1898.

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

»Wenn uns am Schlusse des Buches berichtet wird, dass Nahida ihren Lehrer und Berather in religiösen Dingen heirathet, so ist das gewiß sehr interessant zu erfahren und wirklich recht bedeutungsvoll (›es gehört zwar nicht mehr zum Seelenkampf der ›Wahrheitssucherin‹, denn ihr Seelenkampf ist beendet, aber der Leser, der theilnehmend bis hierher gefolgt ist, soll doch auch das letzte, was der Künstler auf sein Gemälde zur Vollendung desselben aufträgt, sehen: die Lichtpunkte nämlich‹), […].«23 Zum anderen verweist der Rezensent auf das für ihn bizarre Beiseitelassen des rituellen Verlaufes ihres religiösen Übertrittes: »Nahida tritt zu einer sehr freien Form des Judenthums über. Darüber kann man gar nicht im Zweifel sein. Tief aufatmend, mit freudeglänzenden Augen gestand sie sich eines Tages: ›jetzt brauche ich nicht mehr zu suchen. Jetzt brauche ich nicht mehr zu fragen. Gottesglaube und Pflichterfüllung, das ist alles, was das Judenthum verlangt – und das ist alles, was ich brauche‹ … und sie gelobte sich: ›Ich werde Jüdin!‹ Im Judenthum spielt nun aber doch das Ritualgesetz eine nicht unwesentliche Rolle. Ueber die Grenzen und die Verbindlichkeiten dieser religiösen Normen hätte man einige Aeußerungen erwartet. Man ist geneigt, Nahida die etwas geänderte GretchenFrage vorzulegen: ›Wie hältst Du’s mit dem Ritual?‹ Das Problem, wie eine feingebildete, geistig hochstehende Person – so wird uns Nahida geschildert – die freie Form einer positiven Religion mit der freien Form einer anderen tauschen muß, scheint mir in dieser Erzählung nicht gelöst. Eine solche Lösung hätte mich ganz besonders interessiert.«24 Neben solchen vereinzelten kritischen Stimmen, die Lazarus-Remys projüdisches Engagement zu degradieren versuchten, finden sich vor allem aus den jüdischen Reihen positive Anerkennungen, die ihr einzigartiges Wirken auch nach ihrem Ableben schätzten und ehrten.25 Ihr Werdegang unterscheidet sich zwar bis 1880 von den zeitgenössischen Schriftstellerinnen »nicht erheblich«, schlussfolgerte Rabbiner Ahron Marcus (1843–1916), aber mit dem Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts trat das »Einzigartige und Beispielslose ihres geistigen sowie wirkenden Werdeganges« hervor. Sie habe sich stets für die »Schwächeren«26 , d.h. die rechtlich und gesellschaftlich Benachteiligten, kämpfend eingesetzt und sich letztendlich »zu dem bedrängteren Theile gesellt«, was ihr mit dem folgenden Segensgruß aus 1Sam 25,33 innerhalb dieser Abhandlung dankend anerkannt wurde: »Gesegnet, der da kommt im Namen der ewigen Wahrheit! Gesegnet Deine Gründe, gesegnet Du selbst!«27 . Es wurde gezeigt, dass Nahida Ruth Lazarus-Remy zu den ersten deutschen christlichen Autorinnen gehörte, die sich nicht nur mit ihren Werken, sondern vor allem durch öffentliche Vorträge dafür einsetzte, die jüdischen Gläubigen in ihrem Selbstverständnis 23 24 25

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Ebd. Ebd. Wie beispielsweise in der Großen Jüdischen National-Biographie von 1928 (Wininger 1928), The Universal Jewish Encyclopedia von 1948 (Bamberger 1948) oder Encyclopaedia Judaica von 1971 (Baumgardt 1971). Näheres siehe dazu die Literaturliste über Lazarus-Remy im Anhang. Verus 1897: 304. Verus ein Pseudonym des chassidischen Rabbiners Ahron Marcus (1843–1916). Ebd.: 305.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

und ihrer Selbstachtung zu bestärken. Daneben kämpfte sie bis zu ihrem Tod gegen die immer aufdringlicher werdenden antisemitischen Agitationen und Hetzschriften, die sie später als Jüdin sogar selbst zu spüren bekam.28 Aus diesem Grund finden sich vor und nach ihrer Konversion zahlreiche Besprechungen ihrer apologetischen Werke sowie Vorträge, worin sie vor allem als »unerschrockene Vorkämpferin«29 beschrieben wird. Gustav Karpeles (s.TL) hebt in seinem Zeitungsaufsatz Lazarus-Remys außergewöhnliche Wirkungsgeschichte und deren Besonderheit hervor: »Die Thatsache, dass es in unserer Litteratur an Bekenntnisschriften, das Wort natürlich nur im Wortsinne, nicht in dem von der Kirche adoptierten gemeint, so gut wie gänzlich fehlt, kann Niemand befremden. War doch der Uebertritt zum Judenthum fast bis in die Mitte unseres Jahrhunderts mit einem Martyrium ohne Gleichen verbunden und ist auch jetzt noch mit so vielen Schwierigkeiten verknüpft, dass selbst ernst denkende und muthige Männer im entscheidenden Falle davor zurückschrecken. Um so bedeutsamer ist es, wenn eine Frau aus freier Wahl diesen Schritt und unmittelbar darauf auch die Rechtfertigung desselben in einer Weise unternimmt, die vom menschlichen wie vom litterarischen Standpunkt aus unser höchstes Interesse in Anspruch zu nehmen berechtigt ist.«30 Vor allem die Kraft und der sittliche Mut, »die dazu gehören, eine solche Tat auszuführen und sie in dieser Weise zu begründen«31 , werden nicht nur von Karpeles zeitlebens geehrt, sondern auch nach ihrem Ableben (12. Januar 1928) von zahlreichen Autoren, die neben der Verwaltung des Nachlasses von Moritz Lazarus vor allem ihr apologetisches Engagement erinnernd würdigten.32 So erscheint beispielsweise am 20. Januar 1928 in der Central-Verein-Zeitung (C.V.-Zeitung) ein Aufsatz über Nahida Remy vom Vorsitzenden desselben Vereins Julius Brodnitz (1866–1936), der sie 1926 persönlich in Meran kennengelernt hatte.33 Darin schildert er die Eigenheit Lazarus-Remys, die ihn persönlich ergriff und faszinierte: »Alle Not und alles Elend konnten dieser großen Frau nichts anhaben. Sie bekam, indem sie sich in bescheidener Selbstsicherheit über Moritz Lazarus, über seine Manuskripte und die Möglichkeit ihrer Auswertung unterhielt, indem sie den herrlichen Frühling pries und die Kunst des Schachspiels, dem sie mit glühendem Eifer ergeben war, eine menschliche Größe, wie ich sie in dieser Art noch nie erlebt habe. Sie war 28 29

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Vgl. Kap. III, 3. Verus 1897: 304: »Eine unerschrockene Vorkämpferin, die sich für Alles, was sie einmal als wahr erkannte, und gegen Alles, was den Kainszug des Unrechtes an der eisernen Stirne trägt, einsetzt.« Dieser Artikel wird im Juli 1897 aus dem Deutschen ins Englische übersetzt und in The Menorah (Nr. 1: 1–10) unter dem Titel Nahida Ruth Lazarus veröffentlicht. Karpeles 1897: 499f. Ebd.: 500. Siehe beispielsweise: B.R. 1897: 671: »Mancher wird fragen: was ist so viel Aufhebens davon zu machen, ob die eine Frau zu uns gehört oder nicht? O doch; es erhöht die Zuversicht auf den Sieg des Judentums, die wir am Neujahr und Jomkippur in unseren Tempeln aussprechen, wenn wir sehen, wie ein begeistertes Wahrheitsstreben diese Frau aus den stürmischen Wogen des Zweifels in den Hafen des Judentums geführt hat.« Vgl. Kap. I, 3.6.

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

trotz aller Bescheidenheit sich ihres Wertes als der Gefährtin und der geistigen Mitarbeiterin von Moritz Lazarus bewußt. […] Dankbar empfand sie es, dass die maßgebenden jüdischen Organisationen, so auch unser Centralverein, es als ihre Ehrenpflicht betrachteten, ihr die letzten Lebensjahre auch äußerlich einigermaßen würdig zu gestalten. Wenn man unseres großen Moritz Lazarus gedenken wird, darf man Nahida Remy nicht vergessen.«34 Ende 1928 veröffentlichte Moritz Lazarus’ Neffe Rabbiner Arnold Lazarus (1877–1932), mit dem Lazarus-Remy bis zum Lebensende engen schriftlichen und z.T. persönlichen Kontakt pflegte, die letzte mir bekannte Erinnerung an Nahida Ruth Lazarus.35 Darin publizierte A. Lazarus erstmalig Briefzeilen aus der privaten Korrespondenz von LazarusRemy und Sophie Herzberg, der Ehefrau des jüdischen Pädagogen und Schriftstellers Wilhelm Herzberg (1827–1897),36 mit dem Ziel, »das Andenken der verstorbenen Vorkämpferin für das Judentum zu erneuern.«37 Bei A. Lazarus’ Nachruf handelt es sich nicht um ein geschlossenes Lebensbild, das bereits zuvor in zahlreichen Zeitungsaufsätzen erschienen war, sondern vielmehr um Lazarus-Remys persönliche Erfahrungen und religiöse Entwicklung, die sie auf ihrem Weg zum Judentum gemacht hatte.38 A. Lazarus schließt darin mit den Worten, die Lazarus-Remy selbst in ihrer autobiographischen Konversionserzählung an den Schluss gestellt hatte und denen sie, so A. Lazarus, »die Treue bis zum Tod gehalten habe: ›ich suchte Dich, mein Gott – und habe Dich gefunden. Ich suchte Dich, mein Judentum, und habe dich gefunden‹.«39 Auch heute noch – im 21. Jahrhundert –, mehr als 130 Jahre nach der Veröffentlichung ihrer Verteidigungsschrift Das jüdische Weib (1891) und mehr als 75 Jahre nach der Shoáh, haben Lazarus-Remys projüdische Erkenntnisse und ihr daraus resultierendes apologetisches Engagement immer noch einen beispielgebenden Charakter für die Gesellschaft. In sozialwissenschaftlichen Studien über den aktuellen Antisemitismus wurde festgestellt, dass die generationsübergreifenden Vorurteile gegenüber Juden immer noch Nachwirkungen haben, obwohl sich das Verhältnis zwischen Christen und

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Brodnitz 1928: 29. Lazarus 1928: 686: »Mit herzlicher Genugtuung empfinde ich es, dass ich meinem Pietätsgefühl nun doch durch diese Zeilen genügen kann.« A. Lazarus’ Nachlass findet sich im Archiv des Leo Baeck Institute in New York (Center for Jewish History). W. Herzbergs Roman Jüdische Familienpapiere (1868) gehörte zu den jüdischen Werken, die LazarusRemy wesentlich in ihrem jüdischen Denken geprägt hatten. Durch regen Austausch über die darin enthaltene Thematik entstand eine innige freundschaftliche Beziehung zwischen dem Ehepaar und Remy. Nach Lazarus-Remys Ableben stellte die Witwe Sophie Herzberg Arnold Lazarus aus ihrem Besitz einige Briefe zur Veröffentlichung zur Verfügung. Vgl. Kap. I, 2.2. Ebd.: 686. Vollständiger Artikel siehe Anhang. Lazarus 1928: »Nur auf einen besonderen Punkt soll die Aufmerksamkeit hingelenkt werden, auf den die erwähnten, fast alle aus Berlin datierten Briefe gerade helles Licht werfen. Sie sind wichtig und wertvoll, weil sie ganz persönliche Zeugnisse des Entwicklungsganges enthalten, den Nahida Ruth Lazarus, die einstige Christin, auf ihrem Weg zum Judentum durchgemacht hat. dass sie sich gerade Wilhelm Herzberg gegenüber so offen ausgesprochen hat, ist ebenso begreiflich wie von wesentlicher Bedeutung. Erwähnt sie doch seiner am 9. Nov. 1884 als »des Autors meines Lieblingsbuches, das mir ein ganz neues inneres Leben erschlossen«.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Juden bereits stark verbessert hat.40 Seit Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 und der Radikalisierung des Nahost-Konflikts in den Jahren 2002 bis 2004 lässt sich weltweit ein Anstieg antisemitischer Vorurteile, aber auch eine Zunahme gewalttätiger Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen feststellen.41 So wird beispielsweise die Ablehnung der Juden in dem aktuellen palästinensischen Antisemitismus sowie in dem islamisch motivierten Terroranschlag auf den jüdischen Supermarkt im Januar 2015 in Paris deutlich.42 Bereits 2009 wurde anhand einer empirischen Studie, die die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit untersuchte, herausgestellt, dass der Antisemitismus zu den stabilsten und resistentesten negativen Vorurteilen des 21. Jahrhunderts gehört, was anhand neuerer Auswertungen von der Antisemitismusforscherin Monika SchwarzFriesel bestätigt wurde.43 Dabei sei nicht nur für die rechtsextremistischen Reihen, sondern auch für die Mitte der Gesellschaft festgestellt worden, dass der Antisemitismus immer noch eine Sonderstellung unter den Vorurteilen einnehme. Kontinuierlich werden weiterhin antisemitische Stereotype, die seit 2.000 Jahren in dem abendländischen Glaubenssystem tief verankert seien, vor allem in der gebildeten Mitte reaktiviert und in veränderter Form weitergegeben.44 So zeigte auch Lazarus-Remy vornehmlich Kritik gegenüber den antisemitischen Äußerungen der gebildeten Agitatoren, wie denen des deutschen Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896).45 Neben den genannten antisemitisch motivierten Gewalttaten wurde anhand der GMF-Umfrage vor allem der neuaufkommende Verbal-Antisemitismus (Gewalt durch Sprache) in erschreckender Höhe belegt. Durch antisemitische Äußerungen, in denen jüdische Bürger nicht als Deutsche, sondern als Fremde bezeichnet, ihnen »Machtmissbrauch und Schuldkultur« vorgeworfen und sie als »Holocaustausbeuter« sowie 40

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Zick 2010: 225: Dabei handelt es sich um die Studie »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (folgend GMF-Umfrage), die seit 2002 jährlich und repräsentativ die Meinungen der Bundesbürger erhebt. 2009 wurden diese erstmalig ausgewertet. 2012 erfolgt eine weitere Auswertung, die aufzeigt, dass mindestens 20 % der EU-Bürger antisemitisch seien und dass in Deutschland 60 % Israel als ernsthafte Bedrohung für den Weltfrieden ansehen. Siehe dazu Schwarz-Friesel und Reinharz 2013. Sowie: Schwarz-Friesel 2016c. Schwarz-Friesel 2016a. So zeigt Schwarz-Friesel, dass der frühere universitäre Antisemitismus (Ende des 19. und Anfang 20. Jh.s), der vor allem in der Form von antijüdischen Diskriminierungen, Ausgrenzungen sowie Gewalttaten spürbar wurde, auch in der heutigen Zeit weltweit als »Campus-Antisemitismus« auftritt. Dabei wird die antijüdische Haltung vor allem als antiisraelitische Variante umgeformt und weitergegeben. Im März 2016 seien beispielsweise in Berkeley (USA) vermehrt antiisraelitische Graffiti an liberalen und linken Universitäten vorgefunden worden, die unter anderem Sprüche wie »Death to Israel«, »Kill all the Jews« oder »Zionists should be sent to the gas chamber« propagierten. Auch an deutschen Universitäten findet sich judeophobe Feindbildrhetorik (z.B. in der anti-israelitischen BDS (Boycott-Divestment-Sanctions)-Kampagne). Näheres siehe dazu SchwarzFriesel und Reinharz 2013; Schwarz-Friesel 2016c; Fritz 2016. Zick 2010: 225. Vgl. dazu Schwarz-Friesel 2016a; Schwarz-Friesel 2020. Schwarz-Friesel 2016a. Vgl. Kap. II, 3.1.1. Siehe auch: Schwarz-Friesel 2016a: »Antisemitismus wurde artikuliert von meinungsbildenden, anerkannten, gebildeten Persönlichkeiten der Gesellschaft (s. den Berliner Antisemitismusstreit um die judenfeindlichen Äusserungen des Geschichtsprofessors Heinrich v. Treitschke im Jahre 1879). Bis zum Jahr 1945 ist das Ressentiment gegen Juden also habitualisiertes Alltags- und Kulturgut.« Vgl. dazu Krieger 2003.

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

»Meinungsdiktat-Erpresser« diskriminiert wurden, übe ein solcher Sprachgebrauch nach Schwarz-Friesel »geistige Gewalt«46 aus. Durch die juristische Sanktionierung von öffentlicher Judenfeindschaft (seit 1945) artikuliere sich der Verbal-Antisemitismus mehrheitlich in einer neuen Form als Umweg-Kommunikation. Statt explizit auf Juden zu verweisen, werden nach den statistischen Auswertungen vor allem zweideutige Paraphrasen wie »jene einflussreichen Kreise«, oder »jene gewisse Religionsgemeinschaft«47 eingesetzt. Der Verbal-Antisemitismus komme nach der GMF-Studie insbesondere in der Form des israelkritischen Antisemitismus auf, indem die Appelle vor allem gegen Israel oder die Zionisten gerichtet seien. So sei es eine noch zu wenig betrachtete Tatsache, dass in vielen arabischen Zeitungen antisemitische Karikaturen und Kommentare abgedruckt werden und dass Filme mit explizit judenfeindlichen Bildern gezeigt werden. In den letzten fünf Jahren fanden in vielen europäischen Ländern, insbesondere wegen des noch bestehenden Gaza-Konflikts, anti-israelisch ausgerichtete Demonstrationen statt, bei denen Plakate mit Texten wie »Juden sind Terroristen«, »Boykottiert die zionistische Wirtschaft« oder »Zerschlagt den jüdischen Staat«48 zu sehen waren. Bemerkenswert ist laut Schwarz-Friesel bei solchen Appellen stets die ausschließliche Fokussierung auf Israel, wobei alte judeophobe Stereotype des Mittelalters und des 19. Jahrhunderts, wie Rachsucht, Kindermord und Blutkult auf Israel projiziert werden.49 Monika Schwarz-Friesel hebt darüber hinaus hervor, dass der Verbal-Antisemitismus auch als internationales Phänomen in der Form des extremen Anti-Israelismus keine Erscheinungsform der Extremisten und keineswegs ein soziales oder politisches Randphänomen sei, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft anzutreffen und im öffentlichen Diskurs verankert sei.50 Bezüglich der Aufklärungstätigkeiten im Rahmen der Judenfrage des 19. Jahrhunderts, an denen sich auch Lazarus-Remy apologetisch beteiligte, und der grausamen Ereignisse während des NS-Regimes stellt sich rückblickend die Frage, wie es im 21. Jahrhundert immer noch zu antisemitischen Gewalttaten sowie Denkweisen und Äußerungen kommen kann. Bis in die heutige Zeit konnten antijüdische Vorurteile immer noch nicht abgebaut werden. Nach den empirischen Untersuchungen der GMF-Umfrage ist 46

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Schwarz-Friesel führt weiterhin an, dass der jüdische Staat als »Kindermörder-Staat« oder »Kolonie auf arabischem Boden« diffamiert und delegitimiert werde. Vgl. Schwarz-Friesel 2016a; Schwarz-Friesel und Reinharz 2013. Auch Andreas Zick stellte in den untersuchten Jahren von 2002 bis 2009 vor allem drei signifikante Aussagen heraus, die den heutigen Verbal-Antisemitismus kennzeichnen: Zick 2010: 229: »Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss. Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig. Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen«. Vgl. Schwarz-Friesel 2016a. Schwarz-Friesel 2010: 1. Schwarz-Friesel 2016a: »Anstelle von ›internationalem Finanzjudentum‹ wird ›internationales Finanztum‹ gesetzt, oft zusammen mit Namen und Schlagworten, die unmittelbar mit dem Judentum assoziiert werden wie ›Auge um Auge‹ oder ›das alttestamentarische Gesetz der Rache‹. ›Rothschild‹ ist eine bekannte Chiffre für die Stereotype des jüdischen Wuchers und Finanzwesens. Der Topos des ›jüdischen Weltenübels‹ wird heute kommuniziert als ›Israel ist die grösste Gefahr für den Weltfrieden‹.« Vgl. auch Zick 2010: 229. Ebd.: 229; 237: In der GMF-Umfrage kam heraus, dass der Antisemitismus bei jüngeren Personen weniger verbreitet sei als bei Älteren. Vgl. auch Schwarz-Friesel 2020.

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ein wesentlicher Faktor für den heutigen (Verbal-)Antisemitismus neben dem Alter vor allem die Religionszugehörigkeit der Agitatoren.51 Nach den aktuellen Umfragen werden »Katholiken etwas mehr als Protestanten und diese etwas mehr als Menschen ohne Religionszugehörigkeit eher zum traditionellen Antisemitismus neigen.«52 Zudem sei zu beobachten gewesen, dass unabhängig von der konfessionellen Bindung mit ansteigender Religiosität der Antisemitismus sowie die Vorurteile gegenüber Frauen und homosexuellen Menschen zunehmen.53 Vor allem Personen, die der Ansicht seien, ihre eigene Religion sei die einzig wahre, neigen stärker zum Antisemitismus.54 Hier wird deutlich, welche Macht die Religion mit ihrer fundamentalistischen Einstellung, d.h. den Anspruch der Überlegenheit der eigenen Religion gegenüber anderen, besitzt. Die evangelische Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz ermittelte nach langjährigen Forschungen zum Thema christlicher Antijudaismus und Antisemitismus überzeugende Ergebnisse.55 Sie zeigt deutlich auf, dass in der christlichen Theologie immer noch antijudaistische Tendenzen vorhanden sind, die von den heutigen Theologen in ihren Diskussionen nicht nur mitbedacht, sondern auch verhindert werden müssten.56 So seien beispielsweise von der christlich-feministischen Theologie drei antijudaistische Motive von den traditionellen Schriften der männlichen christlichen Theologen übernommen worden, ohne diese kritisch zu hinterfragen und zu überdenken. Dazu gehöre das Motiv der »Vereinnahmung des Judentums durch das Christentum«57 , indem das Judentum durch das christologische Wirken von Jesus Christus als überholt angesehen wird. Als zweites Motiv benennt sie die »Bejahung des Christentums durch Verwerfung des Judentums«58 . Dabei werden die Darstellungen des Judentums mit negativen Bildern, wie das Judentum sei patriarchal oder streng orthodox ausgerichtet, versehen, damit das Christentum ein besseres und positives Bild erhält. Als drittes Motiv zeigt sie die Zuweisung der »Sündenbockrolle«59 an das Judentum, welches den Juden die Schuld am Tod Christi zuweise. Es wird deutlich, dass noch bis ins 21. Jahrhundert judenfeindliche Motive in christlichen Schriften und Denkweisen vorhanden sind, denen Lazarus-Remy bereits im 19. Jahrhundert in ihren Verteidigungsschriften sowie -vorträgen mit stringenten Gegenargumenten entgegentreten musste.60 Derartige antisemitische Vorurteile und Tenden51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Zick 2010: 237. Ebd. Interessanterweise neigen konfessionslose Menschen nach den Ergebnissen der GMF-Umfrage zum auf Israel bezogenen Antisemitismus. Zick 2010: 238. Ebd. Siegele-Wenschkewitz 1994. Ebd.: 50. Ebd.: 72. Ebd. Ebd.: 72f. Vgl. Kap. II, 3+4. Als aktuelles Beispiel kann unter anderem der bekannte US-Film von Mel Gibson The Passion of the Christ (Passion Christi) von 2004 angeführt werden, der aufgrund der darin aufgegriffenen traditionellen neutestamentlichen antijüdischen Botschaft energisch diskutiert wurde, sodass die EKD (Evangelische Kirche Deutschland) eine Kollektivschuld des jüdischen Volkes am Tod Jesu Christi öffentlich zurückwies. Vgl. dazu EKD 2004: »The Passion of the Christ« weder empfehlen noch skandalisieren.

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

zen, die bis heute in der christlichen Theologie verankert sind, müssen von den christlichen Theologen beachtet und in ihrem theologischen Denken überprüft werden. Somit stellen die immer noch vorherrschenden Probleme des religiösen Antijudaismus und Antisemitismus, die in den gegenwärtigen christlich-theologischen Diskussionen so gut wie nicht berücksichtigt werden, einen aktuellen Forschungs- und Diskussionsbedarf dar. Neben dem Faktor der Religionszugehörigkeit erwies sich vor allem auch das Bildungsniveau als ein ausschlaggebender Faktor für die Entstehung von antisemitischen Vorurteilen. Grundsätzlich gilt, dass je geringer das Bildungsniveau ist, desto anfälliger seien die Menschen für Vorurteile.61 Allerdings zeigt die GMF-Umfrage, dass höhere und gezielte Bildung gegen den Antisemitismus wirken kann. Auch der Kontakt zwischen Gruppen von Nicht-Juden und Juden verhindere das Entfachen von Vorurteilen, womit der Antisemitismus gehemmt werden kann. Folglich haben die Analysen der GMF-Umfrage ergeben, dass Kontakte zwischen differenten Gruppen gegenseitige Vorurteile reduzieren, bzw. ein fehlender Kontakt sowie Austausch das Vorurteilsrisiko erhöhen kann. Die Ergebnisse aus der GMF-Umfrage zeigen eine große Parallele zu den Ergebnissen, die Lazarus-Remy aus ihrem langjährigen Studium des Judentums erzielt hatte. Auch sie kam bereits 120 Jahre zuvor zu der Erkenntnis, dass der Ursprung des Antisemitismus in der Unkenntnis der Menschen liege.62 Als Lazarus-Remy mit dem Antisemitismus ihrer Gegenwart konfrontiert wurde, zeigte sie intuitiv dieselben Handlungsoptionen auf, die die GMF-Umfrage empirisch belegt. Sie informierte sich über ihre jüdischen Zeitgenossen, indem sie zum einen deren Religion mit den zugehörigen Traditionen und Ritualen kennenlernte und zum anderen bewusst den persönlichen Kontakt zu Bürgern jüdischen Glaubens suchte. Durch einen gemeinsamen konstruktiven Austausch konnte Lazarus-Remy ihre anfängliche auf Unwissenheit basierende Distanz überwinden. Ihre hermeneutische Herangehensweise kann der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, in dem sichtbar wird, dass ihre bereits damals gestellte Forderung nach Aufklärung und persönlichem Austausch immer noch Aktualität besitzt. Sie spricht mit ihren Taten und Werken vor allem die Mahnung deutlich aus, die Augen vor der Wirklichkeit nicht zu verschließen und die aktuellen antisemitischen Tendenzen bewusst wahrzunehmen. Sie appellierte dabei nicht nur an die nicht-jüdischen Leser und Zuhörer, sondern auch an die zeitgenössischen Juden, die sich selbstbewusst gegen die antisemitischen Agitationen stellen und sich für ihren Glauben einsetzen sollten. Kein gegenseitiges Hinnehmen des Geschehenen und Wegschauen sei gefordert, sondern aktives Wahrnehmen und Handeln.

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Zick 2010: 237. Lazarus 1922, Vorwort.

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2. Ausblick: Weitere Forschungsdimensionen Die hier aufgearbeiteten autobiographischen Quellen erwiesen sich in der Ausarbeitung der themenspezifischen Kapitel als sehr ergiebig. So konnte anhand der veröffentlichten autobiographischen Konversionserzählung Ich suchte Dich! (1898) sowie der zwei unveröffentlichten Autobiographien Mein Leben I und II (1925) erstmalig eine detaillierte Biografie von Lazarus-Remy (I. Kap.) rekonstruiert werden. Mithilfe der wichtigen Quellen aus dem umfangreichen Lazarus-Archiv in Jerusalem konnte die sonst nur spärlich dokumentierte erste Lebensphase mit Lazarus-Remys Aktivitäten als Künstlerin (1863–1865) und Schauspielerin (1865–1870) detailliert rekonstruiert werden. Daneben konnten mittels der im Lazarus-Archiv aufgefundenen dreiundzwanzig Tagebücher aus der Zeit von 1881 bis 1926 grundlegende Informationen über ihre Existenz als freischaffende Schriftstellerin sowie über die zweite Lebenshälfte nach der Konversion im Jahre 1895, die aufgrund der bisherigen schwierigen Quellenlage spärlich erschlossen war, mit einbezogen werden. Bei der Sichtung des Nachlasses für den biographischen Teil dieser Forschungsarbeit wurde das vorhandene autobiographische Material (s. A3 Jerusalemer Nachlassverzeichnis) nicht vollends erschöpfend aufgearbeitet. So wurde beispielsweise die Briefsammlung von acht Paketen nur im geringen Maß gesichtet, da die Briefe nur schwer inhaltlich zu erschließen waren. Darunter finden sich unter anderem Korrespondenzen zwischen Lazarus-Remy und dem Rabbiner Dr. Salomon Samuel (Essen, den 1. Mai 1903), dem jüdischen Oberkirchenrat und Rabbiner Dr. Theodor Kroner (Stuttgart, den 9. April 1908) sowie dem Rabbiner und Religionslehrer Adolf Biach (1907/1908). Des Weiteren finden sich zahlreiche Korrespondenzen mit unterschiedlichen Redaktionen, wie mit dem Vorsitzenden der Redaktion der AZJ G. Karpeles (s.TL), ein umfangreiches Briefkonvolut, gefüllt unter anderem mit Briefen von der Moritz-Lazarus-Loge (Berlin), von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums (Berlin), von der Universitätsbibliothek zu Berlin (1922–1925) sowie zahlreiche Briefe vom zweiten Beamten der Bibliothek der Israel Cultusgemeinde in Wien Dr. Bernhard Münz (1856–1919). Die Briefe zwischen Lazarus-Remy und ihrer Mutter Sturmhoefel d.Ä., ihrem ersten Mann Max Remy und zahlreichen Freunden und Bekannten, die bisher ebenfalls ungesichtet geblieben sind, können als zeitgenössische Quellen kulturhistorisch ausgewertet werden. Vor allem der Bereich der familiären Beziehungen und Zustände, in denen sie aufwuchs, sowie ihre diffizile Beziehung zu ihrer Mutter konnten hier nur in Umrissen in der Biografie erwähnt werden.63 63

Für die Erschließung der familiären Beziehungszusammenhänge ist die Korrespondenz von wesentlicher Bedeutung (beispielsweise sei der letzte Brief an ihre Mutter, von Lazarus-Remy selbst so hervorgehoben, darunter enthalten, in: The National Library of Israel, Department of Archives: Correspondence with her mother: 03.08.1889, Arc.Nr. 01 120), ihr handschriftliches biographisches Material über ihre Mutter, Sturmhoefel d.Ä. (In: ebd.: Texts by Nahida Ruth Lazarus (Remy) and Nahida Sturmhoefel (mother), Arc.Nr. 123.4) sowie »Briefe und Tagebücher von Nahida Sturmhoefel« ab 1848–1859 (in: ebd.: Personale notes, Arc.Nr. 01 137), worin Notizen, Briefe an ihre Tochter vorhanden sind. Der Inhalt der Tagebücher ist stets an ihre Tochter Sturmhoefel d.J. adressiert. Da es sich hauptsächlich um handschriftliche Zeugnisse handelt, die sehr schwierig zu entziffern sind, blieben diese hier ungesichtet. Aus diesem Grund können der große Brieffundus sowie die oben genannten zusätzlichen Quellen besonders für einen erstmaligen biographischen

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

Daneben legt Lazarus-Remy in ihren nichtveröffentlichten Autobiographien und Tagebuchnotizen einen thematischen Schwerpunkt auf die zeitgenössische politische Situation, die sie zeitlebens interessiert verfolgte und darin aufarbeitete. Ihre Texte erhalten als Zeitzeugenberichte, die die Revolution von 1848/49, den Österreich-Preußischen Krieg, den Französisch-Deutschen Krieg und die Entstehung und Folgen des ersten Weltkrieges thematisieren, erhebliches Gewicht.64 Auch dies konnte nur am Rande erwähnt werden, sodass das nur spärlich verwendete Quellenmaterial ein großes Potential für neue Forschungsthemen beispielsweise im Bereich weiblicher Zeitzeugenberichte während der Kriegsjahre bietet. Neben den genannten autobiographischen Quellen können auch Lazarus-Remys kulturhistorische Romane, wie Wo die Orangen blühen (1872), Sizilianischen Novellen (1886)65 oder Geheime Gewalten (1890), die den Nachmärz und die Gründerzeit Italiens mit ihren italienischen Impressionen wiedergeben, sich ebenfalls als Quellenmaterial für umfangreiche zeitgenössische Einblicke in die politische Situation erweisen.66 Eine Untersuchung des autobiographischen sowie schriftstellerischen Materials wurde bisher in dieser Hinsicht kaum geleistet, sodass sich die autobiographischen Quellen sowie ihre kulturhistorischen Romane besonders aus der biographischen Perspektive für die individuelle Schilderung der Land- und Kriegskonstellation sowie des Prozesses der Kriegsbewältigung als interessant erweisen. So stehen beispielsweise die geschilderten Ereignisse in Lazarus-Remys Mein Leben I vor allem im Kontext der revolutionären Einheitsstimmung von 1848/49, woraus eine große Sympathie mit dem Risorgimento herauszulesen ist (s.Kap. I, 1.1.5). Das Miterleben und ihre ausführliche Schilderung der (revolutionären) Kriege, ihre ersehnte Einigung Italiens zum Nationalstaat 1860/61 und der Einmarsch der Italiener in Meran (1918) bieten wesentliche Zeitzeugenberichte aus weiblicher Perspektive. Das belletristische, feuilletonistische sowie kulturhistorische Quellenmaterial wurde vor allem genutzt, um Lazarus-Remys Wirken als projüdische Publizistin und Sprecherin in der Öffentlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts herauszustellen. Anhand ihrer populärwissenschaftlichen Werke, die sich thematisch mit dem Judentum befassen, der im Lazarus-Archiv vorgefundenen Vortragsmanuskripte sowie anhand

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65 66

Abriss über die noch unbekannte Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Sturmhoefel d.Ä., die den ersten Fröbelschen Kindergarten in Italien einführte, genutzt werden. Dazu können auch LazarusRemys biographische Vorarbeiten, ebenso wie Erzählungen, etwa die Kurzgeschichte »Die schönen Schwestern«, nützlich sein (in: ebd.: Articles from and about Nahida’s literary works, Arc.Nr. 01 138). Daneben finden sich in Lazarus-Remys Mein Leben II zwei ausführliche Kap. 15+16, in denen sie die letzten Jahre ihrer Mutter beschreibt. Lazarus-Remy 1927a: 38ff.: Ihr besonderes Interesse an der politisch-sozialen Situationen Europas bekundet sie unter anderem in ihrer Autobiografie Mein Leben I+II, wo sie ihre Empathie gegenüber der italienischen Politik von Giuseppe Garibaldi (1807–1828) bekundet. Die Kriegsführung allerdings wird von Lazarus-Remy vor allem negativ beschrieben und als bestialisch bewertet. So beschreibt sie beispielsweise die Balkankriege (1912–1913) als »Zustände unwürdig der Europäischen Civilisation.« In: The National Library of Israel, Department of Archives: Eintrag von 1913, Arc.Nr. 01 134. Verus 1897: 304: »Ihre ›Sicilianischen Novellen‹ (1886) zeichnen anschaulich, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte.« Zur Verortung des Nachmärz siehe: Eke 2000.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

der darauf bezogenen Rezensionen konnte ihr projüdisch-publizistisches Engagement in der Öffentlichkeit in den kulturhistorischen Zusammenhang gestellt und analysiert werden. Während das II. Kapitel Weibliche Emanzipation und jüdische Tradition durch die im Lazarus-Archiv enthaltenen Vorträge sowie Rezensionen zu Das jüdische Weib komplettiert werden konnte, blieben die feuilletonistischen und belletristischen Werke (s.Bibl.) so gut wie unberücksichtigt. Dabei verarbeitet Lazarus-Remy gerade in ihren belletristischen Werken kulturhistorische Aspekte, wie beispielsweise im Schauspiel Nationale Gegensätze (1884), das gerade wegen der darin enthaltenen »politischen Tendenz«67 von jeglicher Aufführung ausgeschlossen blieb. Ihre langjährigen kulturhistorischen Studien zum Judentum werden unter anderem in ihrem großen zweibändigen kirchenkritischen Roman Geheime Gewalten (1890) anhand einer jüdischen Familiengeschichte aufgearbeitet.68 In dieser Forschungsarbeit wurde der große Fundus an schriftstellerischem Quellenmaterial vor allem unter dem Aspekt ihrer apologetischen Tätigkeit sowie der darin enthaltenen projüdischen Haltung im Zeitalter des aufkommenden Antisemitismus betrachtet. Damit wurde das Ziel verfolgt, Lazarus-Remys apologetisches Wirken und Handeln in seiner Bedeutung für die aktuelle Antisemitismus- sowie historische Frauenforschung herauszuarbeiten. Für die feministische Literaturwissenschaft kann der bisher noch nicht ausgewertete Quellenfundus über ihre Rolle als selbstständige Literatur- und Theaterkritikerin im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung sein. So notierte sie beispielsweise in ihrer unveröffentlichten Autobiografie Mein Leben II ihre Abneigung gegenüber J.W.v. Goethes (1749–1832) Werken. »Und Goethes oft angedeutete ›Humanität‹? – Welche Handlungen hilfsbereiter Seelengrösse, opferwilliger Hingebung, gemütstiefer Tatkraft uneigennütziger Menschenliebe registriert sein langes Leben? – Keine. Wo ist eine Spur davon? […] All und Jedes wurde in den Himmel gehoben, auch die unglaublichsten, langweiligsten, ödesten, unnatürlichsten Erzeugnisse seiner massenhaften Vielschreiberei.«69 Sie bewertet in ihren handschriftlichen Ausarbeitungen die literarische Anerkennung Goethes vornehmlich als einen »krankhaften Goethekultus«, woraus eine »überspitzte Beschönigung sämtlicher Werke Goethe’s«70 folge. Sie selbst stellt J.W.v. Goethe Friedrich Schiller (1759–1805) gegenüber, dessen quantitativ geringere literarische Hinterlassenschaft eine höhere Qualität aufweise.71 Neben der bereits geleisteten Rekonstruktion ihrer Rolle als Theaterdarstellerin (s.Kap. I, 1.2.6) kann auch Lazarus-Remys daran anknüpfende langjährige schriftstellerische Tätigkeit als Theater- und Kunstkritikerin (bspw. für die Vossische Zeitung) besonders für die Erschließung der weiblichen Literaturgeschichte des 19. und 20.

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Lazarus-Remy 1927b: 130. S.Kap. I, 2.2.2. Lazarus-Remy 1927b: 133. Vgl. dazu ebd.: 17. Kap. »Moderne Kreuzträger. Ein Blatt über Goethe«: 127–134, hier S. 133. Ebd.: 133f.: »Ohne Goethe’s Einfluss, frei dem eigenen Genius folgend, hätte Schiller der Welt noch echte Werke seines Geistes geschenkt.«

IV. Lazarus-Remys Wirkungsgeschichte und Ausblick

Jahrhunderts gewinnbringend sein. Neben einem umfangreichen Konvolut von Literaturkritiken findet sich eine hohe Anzahl von Theater- und Kunstkritiken, die bisher völlig unbeachtet blieben und Rezensionen enthalten zu unterschiedlichen Lustspielen, aufgeführt in »weltberühmten Theatern«72 der Zeit, wie beispielsweise im Meiniger Theater und im Berliner Königlichen Schauspielhaus. Des Weiteren wurden im III. Kapitel Konversionen zum Judentum im 19. Jahrhundert Lazarus-Remys Konversionsgründe zum Judentum im historischen Kontext analytisch ausgewertet. Im Blick darauf, dass im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der zunehmenden Stigmatisierung der Juden als ›artfremde Rasse‹, eine Christin zum Judentum konvertierte, ist ihr Übertritt zum Judentum etwas ganz Außergewöhnliches. Auch in diesem Kapitel waren die Archivalien für die Schließung von Wissenslücken hilfreich, indem Lazarus-Remys persönlichen Tagebücher, Notizen sowie autobiographischen Texte (beispielsweise ihr Vortrag Ein Seelenkampf von 1897) Aufschluss gaben über ihr konfessorisches Selbstverständnis als auch über das Verhalten ihres alten und neuen Umfelds nach ihrer Konversion. Es konnte anhand des zusätzlichen autobiographischen Quellenmaterials herausgestellt werden, dass ihr Übertritt zum Judentum zwar eine Konversion im traditionellen Sinne eines Religionswechsels war, aber daneben auch politische sowie partnerschaftliche Motive von Bedeutung für ihre Konversion waren. Bezüglich (weiblicher) Konversionsmotive, die hier vor allem aus der Perspektive von Lazarus-Remy betrachtet wurden, können die erarbeiteten Ergebnisse mit weiteren zeitgenössischen (weiblichen) Konversionserzählungen verglichen werden, um zum einen den gendertheoretischen Aspekt zu betrachten, der wesentliche Unterschiede im geschlechterspezifischen Konvertieren aufweisen könnte. Da sich die evangelische Kirchengeschichtsforschung in der Vergangenheit kaum mit Konversionen vom Christentum zum Judentum beschäftigt hat, sind die Beweggründe des Konvertierens im 19. Jahrhundert noch weitgehend unerforscht und bilden daher eine wesentliche Forschungslücke.73

72 73

Lazarus-Remy 1927a: 75. Berger 2008.

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Verzeichnisse

Literaturverzeichnis 1.

Primärquellen

1.1

Gedruckte Quellen

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402

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

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1.2

Ungedruckte Quellen

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Verzeichnisse

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1.3

Biographische Quellen

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

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1.4

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Verzeichnisse

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Archive

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2.

Sekundärquellen

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Verzeichnisse

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422

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Verzeichnisse

Stellenverzeichnis Altes Testament Gen 1,13

335

Lev 12,2-4

235

Gen 1,27

191, 195, 250

Lev 12,4-8

235

Gen 1,28

240

Lev 18

190

Gen 2,18

190, 247, 249

Lev 18,6ff.

276

Gen 2,23

196

Lev 18,19

210

Gen 2,24

191, 195

Lev 19,18

66, 337

Gen 2–3

233

Lev 20,18

210

Gen 3,16

234

Num 5,12-31

201

Gen 10,3

181

Num 5,18ff.

201

Gen 17,10

348

Num 6,24-26

322

Gen 18,1-16

335

Dtn 5,7-9

353

Gen 19,1-11

335

Dtn 5,18

200

Gen 19,30-38

276, 277

Dtn 6,4f.

360

Gen 20,12

276

Dtn 7,7f.

283

Gen 21,6

69

Dtn 12,3

335

Gen 22,1-19

68

Dtn 20,7

190

Gen 24

335

Dtn 22,21

192

Gen 24,33ff.

194

Dtn 22,22

200

Gen 24,67

194

Dtn 24,1-4

202f.

Gen 27,35

280

Dtn 24,1-5

202

Gen 29,4

335

Dtn 24,5

190

Gen 29,15-30

192

Dtn 25,5-10

277

Gen 29,20

194

Dtn 27,6

236

Gen 29,27f.

190

Dtn 31,12

211

Gen 30

217

Dtn 33,4

295

Gen 34,11f.

193

Jos 2,1-21

374

Gen 34,12

192

Jos 24,15

299

Gen 37–50

335

Ri 1,14f.

193

Gen 38

277f.

Ri 16,4

194

Gen 48,16

351

Ruth

277, 322f., 338f.

Ex 1,15

335

Ruth 1,16-17

338

Ex 12,49

336

Ruth 1,16

345

Ex 20,3-5

353

1Sam 1

68

427

428

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib« Ex 20,14

200

1Sam 2,19

217

Ex 21,10

198

1Sam 18,20

194

Ex 21,9f.

197

1Sam 18,25

192

Ex 22,15-16

192

1Sam 25,33

389

Ex 22,20

336

2Sam 13,1-22

276f.

Ex 23,4f.

336

Pred 9,9

194

Ex 23,6

212

Hohelied

119, 338, 482

Ex 23,9

336

Jes 54,5

191

Ex 34,31f.

210

Jes 58,7-12

338

Ex 34,6f.

356

Jer 7,5-6

338

Esra

211, 338, 483

Jer 29,7

284

Nehemia

338, 483

Jer 31,31

191

Neh 8,2f.

212

Jer 34,9

338

Esther

313, 338, 483

Ezechiel

338

Est 2,17

194

Ez 16,8

191

Hiob

338, 365, 476, 484

Hos 2,21-22

191

Hi 5,24

196

Mal 2,10

338

Ps 2,11

24, 84, 354

Mal 2,10-16

200, 348

Ps 128,3

191

Mal 2,13

200

Spr 6,29

200

Mal 2,14

200

Spr 12,4

208

Mal 2,15f.

200

Spr 18,22

200, 205

Spr 19,13

205

Spr 19,14

205

Spr 21,9

205

Spr 21,19

205

Spr 24,27

191, 204

Spr 31,10ff.

207

Spr 31,13ff.

198

Spr 31,26

287

Verzeichnisse

Neues Testament Mt 5,27-32

246

Joh 2,4

236

Mt 5,43-48

66

Joh 2,15

239

Mt 5,44

252, 335

Apg 9,18

375

Mt 5,46

334

1Kor 7,1f.

233, 238

Mt 6,9-13

60

1Kor 7,9

238

Mt 19,4-6

245

1Kor 7,38

237

Mt 19,9

246

1Kor 11,2-9

234, 242

Mt 19,12

240

1Kor 14,34f

244 1

242

267

Eph 5,21-33

Mt 28,19

356

Eph 5,22

245

Mk 3,31-35

236

Eph 5,22-24

194, 242, 245

Mk 6,22-29

276

Eph 5,33

234, 242

Mk 10,2-12

246

1Tim 2,11f.

244

Mk 12,18-27

277

Tit 1,2

242

Mk 12,28-37

334

Tit 2,5

242

Mk 14,10f.

267

Mt 26,14-16

Lk 1,28

60

Lk 2,51

236

Lk 6,16

267

Lk 14,26

236

Lk 16,18

246

Apokryphen

1

Jdt 13,17-19

276

Jesus Sirach

197

Remy hat fälschlicherweise in ihrem Werk Das jüdische Weib die Bibelstelle Eph 22–33 angegeben.

429

430

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Rabbinische Literatur Babylonischer Talmud bT Ber 1

212

bT Jeb 64a

203

bT Ber 17a

206

bT Ket 48a

197

bT BM 59

196

bT Ket 61a

197

bT BM 59a

196

bT Ket 77a

203

bT Git 90a-b

202

bT Qid 2b

192

bT Git 90b

200

bT Qid 82a

208

bT Jeb 46b

345

bT Sanh 76b

196

bT Jeb 47a-b

345

bT Schab 119b

332

bT Jeb 62b

196

Mischna mGit 9,10

202

mKet 10,1

192

mJeb 6,6

203

mKet 13,10b

199

mKet 4,3

192

mKet 13,11a

199

mKet 4,5

192

mQid 1,1

192

mKet 7,9-10

203

mQid 2a-b

192

Mittelalterliche und neuzeitliche Quellen Mischneh Torah MT Ishut 15,10

203

MT Ishut 15,19-20

19

MT Ishut, 15,16

248

MT Ishut 25,1

203

248

ShA, EH 154,1

203

Schulchan Aruch ShA, EH 1,8 ShA, EH 69,1-3

196

ShA, EH 154,3

203

ShA, EH 119,6

203

ShA, EH 154,7

203

Verzeichnisse

Abkürzungsverzeichnis ADF Arc.Nr. AT AZJ CSAP C.V.-Zeitung dergl. d.J. d.Ä. GMF JFB n. Chr. N.L. N.N. NT R--y s.Abb. s.Bibl. s.Kap. s.S. s.TL s.WdK v. Chr.

Allgemeiner Deutscher Frauenverein Archive Number Altes Testament Allgemeine Zeitung des Judenthums Christlich-Soziale (Arbeiter)Partei Central-Verein-Zeitung dergleichen (Sturmhoefel) die Jüngere (Sturmhoefel) die Ältere Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Jüdische Frauenbund nach Christus Nahida Lazarus No name Neues Testament Remy (Chiffre) siehe Abbildung siehe Bibliografie siehe Kapitel siehe Seite siehe tabellarischer Lebenslauf siehe Wanderkarte vor Christus

Abkürzungen der zitierten biblischen Bücher: 1Kor 1. Korintherbrief 1Sam 1. Samuel 1Thess 1. Thessalonicher 1Tim 1. Timotheus 2Sam 2. Samuel Apg Dtn Eph Est Ex Ez Gen Hi Hos Jdt

Apostelgeschichte Deuteronomium Epheser Esther Exodus Ezechiel Genesis Hiob Hosea Judith

431

432

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Jer Jes Joh Jos Lev Lk Mal Mk Mt Neh Num Pred Ps Ri Spr Tit

Jeremia Jesaja Johannes Josua Levitikus Lukas Maleachi Markus Matthäus Nehemia Numeri Prediger Psalm Richter Sprüche Titus

Abkürzungen von verwendeter rabbinischer Literatur: bT babylonischer Talmud m Mischna Abkürzungen von Traktaten aus Mischna, Tosefta und den beiden Talmuden: Ber BM Git Jeb Ket Qid Sanh

Berakhot Baba Metsia Gittin Jebamot Ketubbot Qidduschin Sanhedrin

Abkürzungen von mittelalterlichen und neuzeitlichen Quellen: MT MT Ishut ShA ShA, EH

Mischneh Torah von Maimonides [Mosche ben Maimon] Mischneh Torah, Abschnitt Hilkhot Ischut Schulchan Aruch von Joseph ben Ephraim Karo Schulchan Aruch, Abschnitt Even ha-Ezer

Anhang

A1 Fotos und Abbildungen

Abb. 1: Nahida Ruth Lazarus, 1899.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von: The National Library of Israel. Department of Archives, Arc.Ms.Var.298 Nahida Ruth Lazarus-archive, Jerusalem. Arc.Nr. 01 131.

434

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Abb. 2: Moritz Lazarus und Nahida Ruth Lazarus, um 1895.

Quelle: Moritz Lazarus/Heymann Steinthal (1986): Die Begründer der Völkerpsychologie in Briefen, Band II., Mohr Siebeck, S. 712.

Anhang

Abb. 3: Nahida Sturmhoefels (d.J.) frühkindliche Lebensstationen (1852–1863).

Quelle: Deutsches Kaiserreich 1871, unter: http://fermata.me/europa-1871-karte/eu rope-1871-map-de-europa-karte/vom 04.10.2021.

435

436

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

A2 Tabellarischer Lebenslauf Tabellarischer Lebenslauf von Nahida Ruth Lazarus-Remy, geb. Sturmhoefel Datum

Lebensstationen/besondere Persönlichkeiten und Einflussfaktoren

3. Febr. 1849

Nahida Sturmhoefel (d.J.) wurde in Berlin als uneheliches Kind von Nahida Sturmhoefel (d.Ä.)1 (1822–1889) und Max Schasler 2 (1819–1903) geboren. Evangelisch getauft3 in der protestantischen Matthäusgemeinde in Berlin auf die Namen Nahida (Adelheid) Anna Maria Konkordia Sturmhoefel.

Nov. 1849 Febr. 1850

Parisaufenthalt

1851

Rückkehr nach Berlin

1852

Weiterreise nach Flatow zur Großtante Henriette Knopff 4

1854

Beginn der Reise: von Flatow nach Lausanne, Genf und Annecy (ostfranzösische Stadt)

1855 Dez. 1855 – Aug. 1856

1

2 3 4 5 6 7

Über Genua nach Nizza, Marseille, wieder nach Nizza5 . Kontakt mit der Kaiserin von Russland Alexandra Fjodorowna (1798–1860) Über Mentone, San Remo (Asyl in einem Kloster) nach Pisa: dort lebte Lazarus-Remy bei der Gräfin St. Germain.

Mai/Juni 1860

Aufenthalt in einem Ferienhaus in Livorno. Flucht von Mutter und Kind auf einem Kohleschiff nach Neapel. Von da: Flucht vor der Revolution nach Palermo. Sturmhoefel d.Ä. kehrt in ihre Vertrauensstellung im herzoglichen Hause Della Verdura zurück, und übergibt Lazarus-Remy in ein von Nonnen geleitetes katholisches Klostererziehungsinstitut.

1861

Mutter und Tochter ziehen im Sommer weiter nach Agrigent. Von da: Weiterreise über Canicatti nach Palermo6 .

Juni 1862 Aug. 1862

Weiterreise nach Neapel7 . Während des Konfirmandenunterrichts: Übergriff des anglikanischen Missionsgeistlichen Reverend Douglas, Umzug nach Palermo.

Tochter von Carl Friedrich Wilhelm Sturmhoefel und Concordia Adelheid Caroline Sturmhoefel, geb. Knopff. Schwestern: Eveline (mit Töchtern) und Hermine Sturmhoefel. Bruder: Hans Sturmhoefel. Verh. mit Mathilde Emilie Antonie Schasler, geb. Sack. Gemein. Sohn Franz Aurelius Maximilian Schasler (geb. 13.11.1849) Vom evangelischen Pfarrer und Generalsuperintendenten Dr. Carl Büchsel (1803–1889). Henriette Knopff (1792–1865), die ehe- und kinderlose Schwester von Lazarus-Remys Oma Concordia Sturmhoefel. Besuch der Handarbeitsschule: Die erste Schule, die Lazarus-Remy besuchte. In Palermo lernt sie den Jugendlichen Filippo Naselli kennen, ihre erste große Liebe. Persönliches Treffen mit dem italienischem Volksbefreiungskämpfer Guiseppe Garibaldi (1807–1882). Religiöse Unterweisung durch den preußischen Gesandtschaftsprediger Wilhelm Remy.

Anhang Mai 1863

Heimreise über Berlin nach Flatow, wo sie allein bei ihrer Großtante Jette (Henriette Knopff) verbleibt. Konfirmandenunterricht beim Superintendenten Dr. Karl Anton Gottlieb Tobold (1792–1864).

11. Febr. 1864

Lazarus-Remy folgt ihrer Mutter nach Berlin. Tätigkeit als Designerin von Tapetenmustern für die Rouleaux- und Tapetenfabrik Borchardt & Co. in Berlin und Kunststudium an einer der »neu entstandenen Malerinnenakademien« 8 .

Nov. 1865

Anstellung als Schauspielerin bei der Theateragentur Felix Bloch Erben in Berlin. Erstes Engagement als Schauspielerin in Salzbrunn, was jedoch wegen Kriegsbefürchtungen abgesagt wurde. Ihre Mutter holt Lazarus-Remy zu sich nach Breslau.

Winter 1865/66

Juli 1866 15. Sept. 1866 Dez. 1866

Lazarus-Remy gibt den Kindern der Familie von Dallwitz aus Mangschütz Sprach,- Musik- und Zeichenunterricht. Theaterengagement an der Sommerbühne in Warmbrunn. Anstellung in einem Familien-Theater in Torgau.

April-Sept. 1867 Okt. 1867

Theaterengagement im Deutschen Landestheater in Prag. Theaterengagement in Reichenberg.

Jan. 1868 Juni 1868

Wegen Erkrankung kehrt Lazarus-Remy nach Flatow zurück. Sie folgt ihrer Mutter nach Berlin.

Jan. 1869

Engagement am Vorstädtischen Theater am Weinbersgweg (bei Berlin).

Jan. 1870 Im Sommer 1870

Die Rechnung ohne Wirt (1. Schauspiel) Theaterengagement in Wien am Theater an der Wien und im Wiener Strampfer-Theater.

1871

Schriftstellerische Unterstützung durch Gustav Schenk (1830–1905): befreundeter Buchhändler und Begründer des Berliner Fremdenblattes. Engagement im Stadttheater in Oldenburg.

Im Winter 1871 Jan. 1872

10. Nov. 1872 Dezember 1872

8

9

Sie veröffentlicht mithilfe eines Darlehns des befreundeten Familienarztes Dr. Moritz Löwinsohn ihr Werk Wo die Orangen blühen (Roman). Religionsunterricht bei dem Generalsuperintendenten Dr. Karl Büchsel. Kurzzeitige Theaterengagements im Berliner Wallnertheater oder im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater. Kennenlernen des berühmten Kunstkritikers Max Remy (1839–1881)9 . Verlobung zwischen M. Remy und Lazarus-Remy. Ende ihrer Schauspieltätigkeit.

Genaue Angaben der besuchten Akademie fehlen. Unterrichtet wurde Lazarus-Remy u.a. von Peter von Cornelius (1783–1867); Otto Knille (1832–1898); Gustav Gaul (1836–1888); Franz Xaver Gaul (1837–1906) In: Lazarus-Remy. Autobiographisches Material, Arc.Nr. 136: Peter Paul Max Remy, »Sohn des am 13. Mai 1872 verstorbenen Portrait- u. Historienmalers, Professor A.[ugust] Remy [und der Mutter Ernestine, geb. Hermann], entstammte einer Familie hugenottischer Refugiés. Geboren am 9. Juli 1839 in Berlin, besuchte er das dortige Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, studierte seit 1859 zu Heidelberg und Berlin Philologie u. Literatur, promovierte 1864 in Halle u. absolvierte 1866 in Berlin das philologische Staatsexamen, worauf er an mehreren Gymnasien, unter andern auch am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, als Lehrer tätig war. Seit 1869 widmet er sich in Berlin ausschliesslich der literarischen Tätigkeit u. war ständiger Mitarbeiter an der ›Vossischen Zeitung‹

437

438

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib« Jan 1873

10. Nov. 1873 Dez. 1873

Verlobungsjahr in Flatow (Hochzeitsvorbereitungen). Freie Journalistin, Feuilletonistin und Kritikerin u.a. für die Vossische Zeitung, Berliner Fremdenblatt und die Nationalzeitung. Eheschließung mit M. Remy in Dresden. Gemeinsamer Wohnort Potsdamerstr. 112, Berlin.

Sept. 1875

Bezahlter vierwöchiger Erholungsurlaub im Falkenberger Bauernhäuschen. Tod von Henriette Knopff (Großtante Jette). Wohnungswechsel: Schönebergerufer, Berlin.

Sept. 1876

Max Remys Kuraufenthalt in Bad Oeynhausen, Lazarus-Remy begleitet ihn. Tod von Ernestine Remy (Mutter von Max Remy). Lazarus-Remy erste offizielle Mitarbeiterstelle bei der Berliner Montagszeitung, realisiert durch ihren Freund Richard Schmidt-Cabanis (1838–1903) und neuer Verleger derselben Zeitung.

Sommer 1877

Max Remys zweiter Kuraufenthalt in Bad Oeynhausen. Wohnungswechsel in die Yorkstrasse 7, Berlin.

Sommer 1878

Max Remys dritter Kuraufenthalt in Bad Oeynhausen.

Sommer 1879

Max Remys vierter Kuraufenthalt in Bad Oeynhausen. Lazarus-Remy veröffentlicht: Constanze (Schauspiel); Schicksalswege (Schauspiel)

April 1880

Max Remy ist nicht mehr in der Lage zu arbeiten, kann keinen Stift mehr halten. Lazarus-Remy veröffentlicht ihr Schauspiel Die Grafen Eckardstein und übernimmt die schriftstellerische Arbeit ihres Mannes und seine Chiffre ›R—y‹, abgesprochen mit dem Chefredakteur Hermann Kletke (1813–1886) der Vossischen Zeitung! Letzter Kuraufenthalt von M. Remy in Bad Oeynhausen.

Sommer 1880 2. Jan. 1881 30. März 1881 April 1881 7. Mai 1881

Wohnungswechsel: Zwölfapostel Kirche, Berlin. Bezahlter Pflegeurlaub ihres Mannes Max Remy. Tod von Max Remy. Sie arbeitet u.a. für Westermanns Monatshefte (als Buchreferentin) und für die Züricher Zeitung. Ihr Chef ist u.a. der jüdische Literaturhistoriker und Redakteur Gustav Karpeles (1848–1909), der ihr später ein Freund und Förderer ihrer Vorträge wird.

1882–1884 Nov. 1882

Stipendium bei der Schillerstiftung in Weimar Der Kunstkritiker der Nationalzeitung Karl Wilhelm Theodor Frenzel (1827–1914) motivierte sie zur Bewerbung.

für das Feuilleton und die Theaterkritik. Er starb am 7. Mai 1881, nach langen, schweren Leiden.« Sohn von Ernestine Remy; Schwestern: Marie Remy, Blumenmalerin Anna Remy, Leiterin eines Mädchenpensionats.

Anhang

Nov. 1882 16. Nov. 1882

Wohnungswechsel in die Potsdamerstraße 139, Berlin. Freundschaftliche Beziehung zu der Witwe Zerline Meyer. Bewerbung für das Stipendium der Schillerstiftung in Weimar. Kennenlernen des Völkerpsychologen Prof. Dr. Moritz Lazarus (1824–1903)10 .

Seit April 1883

Geheime Liebesbeziehung zwischen Lazarus-Remy und M. Lazarus.

Aug. bis Sept. 1884

Reise nach Paris (allein). Veröffentlichung des Schauspiels Nationale Gegensätze (wegen der ›politischen Tendenz‹ von jeglicher Aufführung ausgeschlossen).

Sommer 1889

Gemeinsamer ›Arbeits‹-Urlaub von Lazarus-Remy und M. Lazarus in Pontresina mit Fam. Steinthal. Tod von Nahida Sturmhoefel (ihrer Mutter) in San Terenzo bei Spezia. Gemäß Totenschein ist sie am 23.08.1889 verstorben (ob es sich hierbei um einen Schreibfehler handelt, lässt sich nur vermuten).

Jan. 1882

24. Okt. 1889

1892 21. April 1892 03. Mai 1892 Ende Okt. 1892 Okt. 1892 17. Dez. 1892 25., 26.+27. Dez. 1892

10

11

Beginn ihrer Vortragstätigkeit: Vortrag im Brüderverein in Berlin: Thema: Das Gebet in der Bibel I. Vortrag im Architektenhaus in Berlin: Thema: Das Gebet in der Bibel I. Vorträge im Berliner Esraverein, Brüderverein und im Verein Junger Kaufleute. Themen: s.o. und Das Gebet im Talmud; die Makkabäer. Erneuter Urlaub mit Steinthals im Hotel Bellevue in Wiesbaden. Vortrag im Grand-Hotel in Prag: Themen: s.o. und Die Nächstenliebe im AT 1. Vortragsreise (25. Dez.1892-9. Jan. 1893)11 : Beginnt in Karlsruhe im Rathaussaal, sie sprach am 27. Dez. über Die Maccabaer im Verein für jüd. Geschichte und Literatur.

Moritz Lazarus wurde am 15. September 1824 im preußischen Filehne (heute Wielen) geboren. Er studierte 1846 an der Universität Berlin Philosophie, Rechtswissenschaft und Geschichte und promovierte 1849 mit der Doktorarbeit De educatione aesthetica. 1850 heiratete er Sarah Lebenheim (1819–1894), die nach langer Krankheit 1894 verstarb. 1860 wurde er an die Universität Bern berufen, wo er außerordentlicher Professor und Mitbegründer des neuen Wissenschaftszweiges der Völkerpsychologie wurde. 1867 folgte er dem Ruf an die Preußische Kriegsakademie in Berlin und wurde dort zunächst Dozent und 1874 Professor für Philosophie an der Berliner Universität. Mit seinem Schwager und Freund Heyman Steinthal (1823–1899) brachte er seit 1869 die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (1869–90) heraus. Natorp 1985 notiert dazu: »Moritz Lazarus wird Präsident der israelitischen Synoden 1869 und 1870 in Augsburg und Leipzig, Mitbegründer der Jüdischen Hochschule in Berlin und Mitarbeiter in der Leitung des deutsch-israelitischen Gemeindebundes. Im Berliner Antisemitismus-Streit 1879/80 avanciert Lazarus zu einem der Hauptgegner des judenfeindlichen und deutschnationalistischen Historikers Treitschke. Er stirbt 1903 in Meran.« Sohn von Aaron Levin Lazarus (1790–1874) und Bina Lazarus (1802–1869). Leiser Lazarus (1822–1879; Rabbiner; Ehemann von Minna Lazarus), Amalie Saller (1836–1911; Ehefrau von Siegmund Saller), Jeanette Steinthal (1840–1925; Ehefrau von Heyman Steinthal); Sarah Lazarus (1807–1859) und Ernestine (Esther) Lazarus (1807–1859). Vortragsorte: Karlsruhe, Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Bochum und abschließend in Münster.

439

440

Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib« 1893 1. Jan. 1893 8. Jan. 1893 Mitte Jan. 1893 Aug. 1893 Herbst 1893 10. Dez. 1883 26.-27. Dez. 1893 28. Dez. 1893 30. Dez. 1893 1. Jan. und 7. Jan. 1894 08. Jan. 1894 13. Jan. 1894 15. Jan. 1894 16. Jan. 1894 18. Jan. 1894 23. Jan. 1894 28. Jan. 1894 1. März 1894 Okt. 1894 7. Dez. 1894 22. Dez. 1894

12

13

14

15

Veröffentlichung ihrer Culturstudien über das Judenthum. Vortrag in Köln zu den Themen: Nächstenliebe im AT und Nächstenliebe im Talmud Vortrag in Münster zu den o.g. Themen. Vortrag im Berliner Friedrichs-Gymnasium zu den o.g. Themen. Erneuter Urlaub mit Steinthals in Herrenalb im Schwarzwald. 2. Vortragsreise (Herbst 1893-März 1894)12 : Vortrag in Landsberg a.d.W. zu den o.g. Themen und den Themen: Was ist der Talmud? und Das Weib im Talmud. Vortrag in Frankfurt a.M. zu den o.g. Themen. Vortrag in Mannheim zu den o.g. Themen. Vortrag in Karlsruhe im Rathaussaal (zum ersten Mal: Was ist der Talmud?)13 Vortrag in Frankfurt a.M. im Mekar-Chajim-Verein im großen Saal des Kaufmännischen Vereins zu den o.g. Themen Vortrag in Mainz zu den o.g. Themen und in Köln in der Walkenburg zum Thema Was ist der Talmud? 14 Sie spricht das erste Mal in Den Haag von einer Kanzel. Themen: s.o. Tod von Sarah Lazarus, geb. Lebenheim, M. Lazarus’ erste Frau. Vortrag in Münster zu den o.g. Themen. Vortrag in Hannover zu den o.g. Themen. Vortrag in Magdeburg zu den o.g. Themen. Vortrag in Cassel zu den o.g. Themen. Vortrag in Görlitz zum Thema Was ist der Talmud? In Halle beginnend führte sie die zweite Vortragsreise bis Ende März 1894. 3. und letzte Vortragsreise (Okt. bis Jan. 1895)15 : Vortrag in Magdeburg zu den o.g. Themen. Vortrag in Lissa zu den o.g. Themen.

Vortragsorte: Lübeck, Landsberg a.d.W., Frankfurt a.M., Mannheim, Karlsruhe, Frankfurt a.M., Mainz, Köln, Den Haag, Münster, Hannover, Magdeburg, Cassel, Görlitz, Halle, Göttingen, Braunschweig, Hannover, Rotterdam, Amsterdam, Den Haag (Scheveningen, Maastrich), Rotterdam, Leipzig und dann bis zur polnischen Grenze: Zabrze, Kattowitz, Essen, Inowrazlaw. »Am 28. Sprach ich bereits in Mannheim, am 30. in Karlsruhe, in dem grossen, schönen Rathhaussaal, zum ersten Mal ›Was ist der Talmud?‹ Ein Vortrag, der, wie sich herausstellte, zu den spannendsten u. wirksamsten gehört, oder vielmehr der spannendste ist.« In: Brief von Nahida Remy an Siegfried Mühsam, Berlin den 2. Febr. 1894, in: Leo-Baeck-Institute Archives, vgl. https://archi ve.org/details/nahidaruthlazaru1416unse, am 22.08.2022. In: The National Library of Israel, Department of Archives. Autobiographisches Material, Arc.Nr. 136: »dort wiederholte ich: ›Was ist der Talmud?‹ u. hatte von Neuem den Eindruck, dass das mein bester Vortrag ist: zeitgemäss und – ergreifend.« Vortragsorte: Frankfurt a.d.O., Bielefeld, Braunschweig, Hannover, Amsterdam, Magdeburg, Thorn, Culmi, Norgrowitz, Inowrazlaw, Royasen, Posen, Lissa, Bromberg (Großen Königssaal), Glogau, Hamburg, Braunschweig und zuallerletzt Köln.

Anhang

9.-18. Jan. 1895 9. Jan. 1895 22. Jan. 1895 31. März 1895 4. April 1895 23. April-21. Mai 1895

Verließ Lazarus-Remy nach zwölfjährigem Aufenthalt die Potsdamerstraße 139 in Berlin und verblieb zunächst bis zum 06. Jan. 1895 in einem Hotel. Die letzte Vortragsreise wird fortgeführt: Vortrag in Bromberg zu den o.g. Themen. Vortrag in Köln zu den o.g. Themen. Lazarus-Remys Konversion zum Judentum. Eheschließung mit Moritz Lazarus. Hochzeitsreise

13. April 1897 03. Juni 1897 20. Sept. 1897

Lazarus-Woche in Wien. Vortrag: Mein Seelenkampf Vortrag in Zürich zum Thema Warum ich Jüdin wurde Umzug zunächst in den Tiroler Hof in Meran

1899 Jan. 1899

Herausgabe ihrer Sprüche von Lazarus Kauf der Villa Ruth (Meran)

1900

Umzug in ihr erstes Eigenheim: Villa Ruth in Untermais/Meran Grabmayrstraße 12.

21. Juni-26. Aug. 1901

Letzte gemeinsame Urlaubsreise: Zürich, Bern und Interlaken

13. April 1903 13. Juni 1903 Juli 1903

Tod von Moritz Lazarus16 Tod ihres Vaters Max Schasler in Jena, Thüringen. Lazarus-Remy erhält Witwen-Unterstützungen von vier jüdischen Vereinen: Brüderverein; Schillerstiftung; der jüdischen Gemeinde in Berlin und der Gesellschaft der Freunde Lazarus-Remys Recherchearbeiten zu M. Lazarus – Alfred Leicht (1861–1946) arbeitet mit ihr an der Herausgabe der Werke von M. Lazarus.

Jan. 1895

19. Juli- Mitte Aug. 1903 4. Mai 1904

Okt. 1904

Lazarus-Remy legt ihre Trauerkleider ab. Sie schreibt bis zu ihrem Tode u.a. für die Nationalzeitung, die Meraner Zeitung und das Maiser Wochenblatt. Zweite Recherchephase zu Moritz Lazarus: Leicht unterstützt sie erneut in Meran. Vortrag in Berlin zum Thema Lazarus und die Schillerstiftung.

Sommer 1905

Dritte Recherchephase zu M. Lazarus: A. Leicht erneut in Meran.

1906

Herausgabe von Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen von Leicht und LazarusRemy (allerdings mit einem mäßigen Verkauf).

7. März 1907

1. Vortrag in Wien in der Gesellschaft für Konserv[…]. zu dem Thema Lazarus als Menschenfreund. 2. Vortrag in Wien im Festsaal des Niederösterreichischen Gewerbevereins zu dem o.g. Thema. Lazarus-Remy wohnt vorübergehend bei dem erkrankten Alfred Leicht in Meissen. Vortrag in Berlin im Mozartsaal zu dem o.g. Thema.

18. Juli-13. Aug. 1904

14. März 1907 März-14. Mai 1908 13. Okt. 1908 20. Okt. 1908

16

Das Manuskript der Ethik II wird an August Wünsche (1838–1912) versandt, der diese mit dem Rabbiner Jakob Winter (1857–1940) 1911 veröffentlichte.

Lazarus-Remy schreibt einige Artikel über Lazarus für den Zeitgeist, die Zeitung des Judentums, die Neue Freie Presse, die Österreichische Wochenschrift und für die Meraner Zeitung. Sie setzt sich fortan als Nachlassverwalterin ihres Mannes Moritz Lazarus ein. Die von Lazarus hinterlassenen Ausarbeitungen zum 2. Bd. der Ethik erhielten die Rabbiner Ismar Elbogen (1874–1943) und David Neumark (1866–1924), die 1908 von Lazarus-Remy zurückgefordert wurden.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib« 1909 3. Febr. 1909

Ab April 1909 1910 15. Juni 1910

Herausgabe von Die Erneuerung des Judentums. Ein Aufruf von Moritz Lazarus. Verschriftlichung ihres endgültigen Testaments: Lazarus-Remys Vermögen soll in eine (Moritz und) Nahida Lazarus-Stiftung der Universität in Leipzig fließen. Sie arbeitet an ihrem Manuskript Mein Leben (eine Autobiographie in zwei Bänden). Herausgabe von Ein deutscher Professor in der Schweiz. Moritz Lazarus. Schriftstellerische Tätigkeit, die sie ausführt. Schenkung an das Meraner Museum: 80 Portraitbilder, darunter das wertvolle Lenbach-Portrait von Moritz Lazarus, und ein Kapital von 5000 Kronen.

1911 15. März

Herausgabe von Meine Bildersammlung! und Ethik des Judenthums. Bd. 2. Lazarus-Remy engagiert sich für den Meraner Tierschutz, indem sie thematische Artikel in der Meraner Zeitung veröffentlicht. Sie gründet den Meraner Tierschutzverein und hält öffentliche Vorträge und Diskussionen zum Thema Tierschutz.

9. Januar 1912

Vortragsrede über Tierquälerei in der Meraner Schule.

13. April 1913

Zum 10. Todestag von M. Lazarus veröffentlicht sie Aus meiner Jugend. Eine Autobiographie von Moritz Lazarus. Mit Vorwort und Anhang von LazarusRemy. Sie wird Ehrenmitglied des Tierschutzvereins in Meran.

17. Dez. 1913 05. Jan. 1914 28. Juli 1914 22. Okt. 1914 Febr. 1915 20. Mai 1915

Leicht wird in ihrem Testament als vorübergehender Verwalter des handschriftlichen Nachlasses von Moritz Lazarus eingetragen. Sie gibt 1914 den Tiroler Tierschutz-Kalender heraus. Lazarus-Remy spendet an das Roten Kreuz 100 Kronen für die Soldaten des 1. Weltkrieges. Lebensmittelknappheit (aufgrund des 1. Weltkrieges) Schriftstellerische Tätigkeit, die sie ausführt. Sie verzichtet aufgrund des Krieges auf ihre Witwenbezüge des Brüdervereines

Febr. 1917 23. Juli 1917

Wasserrohrbruch in der Villa Ruth. Sie spendet 1000 Kronen für den Bau einer Kriegsküche in Untermais.

9. Febr. 1918

Wasserrohrbruch aufgrund von Einfrierungen. Die Villa Ruth erleidet dadurch einen großen Schaden, sodass Lazarus-Remy überlegt, die Villa zu verkaufen Bürgermeisterfamilie Stainer kauft die Villa Ruth (für 62,000 Kronen). Sie verlässt die Villa Ruth und zieht zunächst in die Pension Sonnenhof. Lazarus-Remy zieht in eine Giebelwohnung der Villa Maria in Meran. Einmarsch der Italiener in Meran – Sie sympathisiert mit den Italienern und beginnt nun ihr Italienisch aufzufrischen.

15. Mai 1918 1. April 1918 12. Sept. 1918 5. Nov. 1918 01. Mai 1921

Lazarus-Remy zieht zum befreundeten Ehepaar Delago.

20. März 1925

Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Frau Delago zieht sie in ein Zimmer in dem Hotel Royal in Untermais/Meran. Das wertvolle Lenbach-Gemälde von M. Lazarus überlässt sie der MoritzLazarus-Loge in Göttingen. Der Jüdischen Gemeinde in Berlin schenkte sie ihr selbstgemaltes pastellfarbiges Doppelbild von ihr und Lazarus.

17. Juni 1925

12. Jan. 1928

Verstarb Lazarus-Remys in Meran. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Meran, neben ihrem geliebten Mann Moritz Lazarus begraben.

Anhang

A3 Jerusalemer Nachlassverzeichnis Arc.Ms.Var.298: Arc.Nr.

Nahida Ruth Lazarus-archive17 Inhalt

[Briefe] 114a.

Letters to Nahida Lazarus, till 1881.

-b.

Family letters until 1881.

115a.

Letters until 1903.

-b.

Letters until 1903, in connection with her lectures in Europe.

116./117.

Letters from 1903–1927, including private letters.

118. [c,p;c]

Letters to Nahida Lazarus concerning Jewish matters and correspondence with friends and societies.

119.

Visiting cards sent to her and poets in her honor.

120.

Correspondence with her mother Nahida Sturmhoefel, including condolence letters after her death.

[Literarisches Material] 121.

»Der glückliche Mensch« – Story by N.L.

122, [1–6]. -123.

Literary works by N.L. (short articles and stories).

124.

Plays by N.L. in her own handwriting.

125.

Lectures on Jewish subjects [»jüdische Probleme«] by N.L.

126.

Critics and correspondence concerning her plays.

127.

Critics and articles by N.L. [hauptsächlich Theaterkritiken]

128.

Short stories in her own handwriting.

129.

»Die jüdische Frau« by N.L. [handschriftliches Manuskript]

130.

Newspaper clippings on »Die jüdische Frau«. [aber auch über andere Werke von ihr, sowie ihren Vorträgen]

131.

»Ich suchte Dich!« – Book by N.L. [gedruckte und handschriftliche Version]

[(Auto) Biografisches Material] 132.

Newspaper clippings concerning the above mentioned work.

133.-135.

Diaries, 1895–1926.

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Es handelt sich hierbei um das Originalverzeichnis der National Library of Jerusalem von 2018, das durch meine Durchsichtnotizen ergänzt wurde. Die Ergänzungen stehen in den eckigen Klammern. Nachtrag: Seit Dez. 2021 führt das National Library of Jerusalem ein Archivverzeichnis über den Nachlass von Nahida Ruth Lazarus, siehe dazu: Series 1: Personal Materials and Materials Created by Nahida Ruth Lazarus | item NNL_ARCHIVE_AL990036731150205171 | The National Library of Israel (nli.org.il).

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib« 136.

Biographic material.

137.

Letters and diaries by Nahida Sturmhoefel (mother). [Ab 1848–1859]

138.

Biography of Nahida Ruth Lazarus by Spitzer. [sowie autobiographisches Material von N.L.]

139.

Varia.

140.

Newspaper clippings collected by N.L.

141.

Critics by Max Remy (N.L’s first husband).

142.

Varia – by and about N.L.

143.

Drawings by N.L.

[ohne Nummer

weitere schriftliche Werke von N.L.]

Anhang

A4 Zeichnungen von Lazarus-Remy

Abbildung 4: Illustration »Weisst du es nicht?«, in: Sturmhoefel, Nahida (1888): Vergessene Lieder. Leipzig: Fock.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von: The National Library of Israel. Department of Archives, Arc.Ms.Var.298 Nahida Ruth Lazarus-archive, Jerusalem. Arc.Nr. 01 143.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Abbildung 5: Bleistiftskizze (1864/65).

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von: The National Library of Israel. Department of Archives, Arc.Ms.Var.298 Nahida Ruth Lazarus-archive, Jerusalem. Arc.Nr. 01 143.

Anhang

Abbildung 6: Anatomische Zeichnungen (1864/65).

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von: The National Library of Israel. Department of Archives, Arc.Ms.Var.298 Nahida Ruth Lazarus-archive, Jerusalem. Arc.Nr. 01 143.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

A5 Edition der Vortragsmanuskripte Im Folgenden werden die vier handschriftlichen Textvorlagen von Remys Vortragsmanuskripte originalgetreu erfasst und abgetippt. Alle im Text vorliegenden Hervorhebungen entsprechen dem Original. Auch die gesetzten Fußnoten sind Anmerkungen, die mit den jeweilig entsprechenden Verweisen übernommen wurden. Die Unterstreichungen sowie Fett markierten Wörter dienen vermutlich für gesetzte Betonungen oder Sprechpausen während des Vortrags. Alle vier Vortragsmanuskripte sind entnommen: aus der Sammlung der National Library of Israel, mit freundlicher Genehmigung von: Moritz LazarusArchive, Department of Archives, ARC.MS. Var. 298 01 125.

A5.1 Was ist der Talmud? Was ist der Talmud?18 Vortragsmanuskript von Nahida Remy (1893) Wer hat schon vom Talmud gehört? Bald hier, bald dort, in der Presse, im Reichstag, (in Vereinen und) in Vereinsversammlungen ist von ihm die Rede, – in Kreisen, die ihm fern stehen – u. merkwürdig, je geringer die Sachkenntniss, desto grösser die Kühnheit (Ungeniertheit) mit der über ihn abgeurteilt wird. Was ist d. T.? – In meinem Vortrag: ›Das G. in Bibel u. Talmud‹ (gab ich schon ein Bild des Talmudes: ich nannte ihn einen schier undurchdringlichen aber herrlichen Wald, an dem 1000 und abertausend Stimmen das Lob des Schö. singen.) Was ist der Talmud? Ein Buch sagt der Eine, eine Bibliothek der Andere. – Ja, Mancher mag, der wie jener brave Bruder Capuciner den Talmud (für einen Menschen hält), für einen Rabbiner halten, etwa zu Karls d.Gr. (z. Z. des Mittelalters,) – ein alter Mann, der Talmud näm, der sehr gelehrt war und für heilig galt, der aber vielen Schrullen besass, – wie das ja bei alten Leuten vorkommt… Aber es gibt auch gebildete Unwissende. Da schrieb mir ein Berliner voller Sorge, dass ich als Frau mich d Talmudstudium ergebe – und gibt mir einige Proben von dem, was er als ›talmudische Weisheit‹ verspotten zu müssen meint. Um mich abzuschrecken, sucht er Worte und Dinge heraus, die man öffentlich nicht sagt, – zugleich gesteht er naiv genug: ich habe m. Kenntniss von einem Fachgelehrten, der dieses umfangreiche Werk d. u. d. kennt – (den Mann möchte ich sehen!) und (nun erzählt er mir einige Wundergeschichten d. Talmuds). Und erzählt dann u.A. vom Leviathan, der einen 300 M. langen Fisch aufgegessen, vom Ochsen, der auf 1000 Bergen liegt, u. den [Seite 2] Jordan auf 1 Schluck austrinkt, vom Ei, das, als es hinfiel u. zerbrach, 60 St[ädte] überschwemmte, vom Löwen, der, als er brüllte 4oo M[eter] weit allerlei Unheil verursachte, u.s.w. Der Briefschreiber ist ein Christ … er muss also auch von den rosenfarbenen Thieren mit 7 Häuptern, von den Löwen u. Kälbern mit 6 Flügeln wissen, – er muss gelesen

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Remy, Nahida (1893): Was ist der Talmud? Vortragsmanuskript vom 30.12.1893, S. 1–20, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125.

Anhang

haben, dass Sterne wie reife Feigen vom Himmel fielen, und centnerschwere Hagelkörner, – dass ein Engel mit dem Regenbogen um den Kopf und einer Wolke umgebunden, mit einem Fuss auf der Erde, mit dem anderen auf dem Meere stehend, brüllte wie ein Löwe, – dass ein anderer Engel mit einem Hieb alle Reben der Erde abschnitt, dass der Saft wie Blut floss u. (die Welt überschwemmte und) den Pferden bis zum Zaume reichte. -– Dieses u. viel Seltsameres noch steht im N[euen] T[estament]. Denn dergl. mysterische Poesien u. poetische Mysterien kommen überall vor, – sie fliessen aus derselben Quelle religionsphilosophischer Allegorie. Ich frage: ist es recht, das was hier als ›Offenbarung‹ geheiligt wird, dort als Blödsinn zu brandmarken? Unfreundlich, ja, feindselig werden trennende Unterschiede gemacht, statt vielmehr die Ähnlichkeiten zu suchen! Altes und Neues Testament, der Koran und der Talmud, sie sind sich alle darin ähnlich, dass sie auf denselben Grundpfeilern stehen, – mag das Gotteshaus mit einem Kreuz, mit dem Halbmond, oder mit dem Wappen Davids gekrönt sein – [Seite 3] Die Grundmauern fussen allemal auf Gottesverehrung und Menschenliebe! Und wie in der Religion, so auch in der Sittenlehre, in der Poesie, überall ist die grösste Ähnlichkeit zu finden. Die Spruchweisheit u. Legendendichtung (der Nationen) von den biblischen (älteren) Zeiten an, durch alle Jahrhunderte bis auf unsere Tage, zeigt dens. Gedankengang, dieselbe Gefühlsweise, ja, oft dieselbe Einkleidung, w. d. talmudische Ideen- und Empfindungswelt. Viell. stammt das Meiste aus denselben Quellen! – Sieht man doch b. Dichtern wie Dante – d. klass. Wortführer d. Katholizismus – Cervantes, Boccaccio, Milton, Shakespeare – d.w. aus B. geschöpft – Goethe, Herder, wer kann sie Alle nennen? Sieht m. d. überall eine bewusste od. unbewusste Übereinstimmung mit d. biblisch-talm. Schrifttum! Und prüft m. gar die Sagen u. Sprichwörter d. Volkes, dann findet m. mitunter fast wörtl. Übertragungen aus d. talm. Witz- u. Wortschatz. Umgekehrt haben auch offenb. D. Talmudisten a. d. Volksdichtung geschöpft! – Es ist eben – wenn auch nicht immer streng historisch beglaubigt – ein d. Jahrhunderte währendes gegenseitiges Geben u. Empfangen. D. geistige Austausch sollte bekannt u. betont werden und nicht immer d. Unterschied! D. sich übrigens oft auf Momente bezieht, in denen d. moderne aufgeklärte Geist mit d. talmudischen sympathisieren dürfte, so kennt der Talmud keine Erbsünde, sondern i. Gegenteil: ›die Seele ist rein‹ – [Seite 4] ein Gedanke d. auch in einem der schönsten tägl. Gebete d. Juden vorkommt, – Er kennt keinen Vermittler, sondern nur Gotteskindschaft aller Menschen, er verlangt vom Menschen nichts Übermenschliches, sondern sagt ausdrücklich: ›das Gesetz ist für Menschen gegeben, nicht für Engel!‹ – Diese allgemein verständliche und allezeit gültige Anschauung des Talmuds sollte in ihrem Wert erkannt u. anerkannt werden, u. nicht immer auf d. vereinzelte Veraltete hingewiesen werden, Veraltetes, das uns durchaus gleichgiltig sein darf! Wir sahen also, dass die Literaturen aller Völker mystisch-symbolische Erzählungen aufweisen. Die Allegorie war von jeher ein beliebtes Gewand für tiefe Gedanken und practische Lehren. Griechische, ägyptische, indische, skandinavische Glaubenskreise (Mythologien) wetteifern förmlich in ihren Phantasiegebilden, – warum sollte allein das rabbinische Schrifttum davon frei sein? – Denker und Dichter aller Racen u. Nationen (Zeiten u. Zungen) haben ihrer Einbildungskraft freien Lauf gelassen, warum sollten allein Israels Söhne sich trockner, pedantischer Nüchternheit befleissigen? Das wäre unna-

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

türlich! also Ja unmöglich. Man wundere sich also nicht ferner über die Wunder und Wunderlichkeiten des Talmuds, und sage mir nicht immer, er enthalte so viel Thörichtes! Der, wer so spricht, ist selbst ein Thor, aber auch bestreiten, dass er Thörichtes enthält, ist Thorheit, – Dagegen ist Dreierlei genau zu beachten: 7. Wenn es unter (den 1000 und 1000) vielen Tausenden von klugen und weisen (Männern) Autoren des Talmuds auch etwa 10–20 närrische Käuze gegeben hat, – und das muss das wahre statistische Verhältnis sein – soll man den Talmud nach diesen 19 oder 20 beurteilen? Das kann nur die Dummheit oder die Bosheit, oder, wie es wohl geschieht, beide im Verein. [Seite 5] 8. Vieles ist sehr komisch, – aber einfach deshalb, weil es komisch sein will! – An altehrwürdigen Kirchen, am Kölner Dom zum Beispiel, ragen aus dem Dach ringsum langgestreckte Scheusale in Menschen, Drachen od. Thiergestalt hervor, es sind Ausläufer der Dachrinnen – sie dienten also einem praktischen Zweck –, welche die gutgelaunten, humorvollen Erbauer als komische Fratzen maskierten, und so am Dom verewigten. Etwas ganz Ähnliches geht im Talmud vor, – (hie u. da) – welche Dummheit Ungerechtigkeit und Unvernunft ist es nun aber, etwas Komisches für ernst zu nehmen, und dann darüber zu schimpfen, dass es komisch sei!? 9. Manches ist, wie gesagt, symbolisch. – Nicht bloß jüd. auch christ. Gelehrte haben darauf hingewiesen, dass die Rabbinen, wie viele andere Weltweise auch, wie Pythagoras z.B. ihre Lehren in Dunkelheiten u. Rätsel zu hüllen liebten, – oft aus äusseren Zwang, drohender Verfolgung. Der gelehrte Christ Joh. Wolfins19* weist auf die Fabeln des Äsop hin, auf Homer, auf die röm. Satiriker, auf Erasmus, die Alle nicht gleich und nicht leicht in ihrer tieferen Bedeutung verständlich sind.

Andererseits aber hüte man sich Alles durch künstliche Auslegung zur Weisheit stempeln zu wollen! – Es ist unbestreitbar, dass so gut wie anderwärts im Talmud ein kindlich freier (ehrlicher) Glaube an Geister, Besessene und Wunderkuren vorkommt. Auch bei den Besten zeigt sie die historische Schranke! – - – Wenn also Unwissenheit am Talmud herumnörgelt, so thut sie es doch einigermaßen bona fide, und man darf hoffen, das Übel durch Belehrung wenigstens zu lindern. – Wenn aber Bosheit ihn schmäht, dagegen hilft kein Recept – Bosheit ist unheilbar – und ich werde keine sittliche Empörung an sie verschwenden. – [Seite 6] Dagegen wende ich mich an die bedenklichste Gruppe – an die Halbgebildeten unter den Juden selbst, – die sich in ihrer Gleichgiltigkeit gefallen, sie zur Schau tragen, statt die Verläumdungen ihrer altehrwürdigen Religions- und Lit.Urkunden gebührend zurückzuweisen. Aus Bequemlichkeit oder Anbequemungssucht rufen sie achselzu-

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*

Ergänzende Notiz: »führwahr, selbst unser Heiland hat nach dem Beispiel seiner Vorfahren (d.h. der Talmudisten) in Predigten durch Rätsel u. Gleichnisse sehr viel seinen Zuhörern vorgetragen, von welchen Einiges im talmudischen Werke vorkommt; denn das Gleichniss vom reichen u. armen Manne liest man dort mit den nämlichen Worten, wie im N.T., ebenso von den Arbeiten im Weinberge, welche in der jerusalemischen Gemara vorhanden.«

Anhang

ckend: Was geht uns der Talmud an? Was kümmert er uns? Was wissen wir von ihm? Wir kennen ihn nicht …. Aber selbst Jene, die ihn etwas kennen, die Etwas von ihm wissen, schädigen oft durch Unbestimmtheit u. Unsicherheit, wo eine schlagfertige Abwehr geboten und gegeben ist! – Wie kann man es erleben, dass wo eine überzeugende Beweisführung zu Gunsten des Talmuds möglich ist, ja ganz nahe liegt, ein verlegenes, vertuschendes Zugeständnis zu seinen Ungunsten ertönt…. Nur aus Mangel an Kenntnis! – In Folge dessen schöpfen selbst Wohlwollende Verdacht u. verhalten sich Gutmeinende ablehnend. Einem bekannten Feuilletonredakteur bemerkte ich einmal mit welchen enormen Kosten und Mühen man aus fernen Weltheiten Altertümer ausgrübe, sie nach Europa schleppe, sie hier mit Begeisterung begrüsse, u. alle Welt wetteifere in freudiger Teilnahme an der neuen Bereicherung der Volkskunde. – Da erwiderte er: natürlich! Für altägyptische und altindische Dinge interessieren wir uns sehr, aber der Talmud (ich hatte ihm nämlich vom Talmud gesprochen), das rabbinische Schrifttum, – ich bitte Sie! was geht uns das an?!! – Der Mann ist ein feinsinniger Literaturkenner, aber trotzdem ist ihm also nie der Gedanke gekommen, dass so wertvoll wie die aus Ägypten und Indien importierten Hieroglyphen, ihn doch wohl die Urkunden des Volkes sein müssten, dem er das Fundament seiner Religion verdankt! – Wie? So interessant, wie das dem Götzendienst ergebene China sollte uns nicht Juda sein, dass uns die Psalmisten und die Propheten schenkte? Wir erwärmen uns für die Berichte über Neger und Naturvölker und die Culturgeschichte der unter uns Wohnenden lässt und kalt -? [Seite 7] Freilich, der Talmud – - schon das Wort klingt so schwer, es erdrückt uns fast, – der Talmud handelt ja blos von Religion – man beruhige sich! – Der Talmud handelt nicht blos von Religion! Er handelt von Allem und Jedem. – Statt zu fragen: was steht im Talmud? Sollte man fragen: was steht nicht im Talmud? – Gesundheitslehre, Astronomie, Botanik, Anstandsregeln und Naturwissenschaftliches, Medizinisches und Anatomisches, Seelenkunde und vor allem die feinste und schärfste Gesetzeskunde. – Dazwischen Märchen und Dichtungen erhebender u. erheiternder Art, – für Alles dieses u. viel mehr noch ist der Talmud eine unerschöpfliche Fundgrube, eine Schatzkammer für Alles was Menschengeist und Menschenherz bewegt! Vom Talmud aber, als von einem Ganzen kann man nur bildlich und äusserlich, nur statistisch u. historisch reden, denn innerlich bildet er weder eine geschlossene Einheit noch eine durchgehende Gleichheit. Wer also über die Gesamtheit des Talmuds ein Urteil fällt, welches nicht diese Mannigfaltigkeit ausdrückt, begeht notwendig einen Fehler, sein Urteil mag Lob oder Tadel enthalten. Denn der Inhalt des Talmuds als ein Ganzes, eine Einheit zu charakterisieren, ist unmöglich, denn er ist eben unendlich vielseitig und verschieden und die Vielschichtigkeit und Verschiedenheit ist nicht einmal nach Teilen od. Abschnitten zu scheiden! Denn wenn auch jedes Tractat im Grossen und Ganzen von gewissem Inhalt ist, so z.B. über Recht, Ehe, Feste, Opfer, Landbau, u.s.w., so ist er doch wieder in sich vollkommen abwechselnd in Gehalt, Form und Vortrag. – Was also ist der Talmud?

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Nehmen wir an, dass man etwa 1000 J. brauchte, um den Kanon des A[lten] T[estaments] festzustellen, – so brauchte man wiederum 1000 J., um einen Kommentar z. A.T. zu schaffen. – Die Mischnah ist der Kommentar z. A.T., d.h. die Erläuterung und Ergänzung aller Stellen der heiligen Schrift. Es ergibt sich aber von selbst, dass eine Erklärung immer ausführlicher wird, als der zu erklärender Urtext. Nun wird aber auch der Text der Mischnah, also der Kommentar, [Seite 8] kommentiert! In der Gemara, und diese ist wiederum c. 20mal so groß als jene. Beide zusammen: Mischnah und Gemara werden Talmud genannt. Sein riesenhafter Umfang wird nun begreiflich! Er besteht aus 12 Foliobänden mit fast 3000 Folioseiten. Ich sage fast: (Bei der Kürze und Knappheit der hebräischen Sprache würde eine vollständige Übersetzung wohl 100 unserer gewöhnlichen Bände ergeben). In diesen 12 Foliobänden lebt das geistliche Leben – lebt!! Ist nicht todt und begraben…. lebt das geistliche Leben von etwa 2000 Autoren. Hunderte davon werden als Tanaim, Amoraim u. Saburaim mit Namen genannt; von den Anderen heisst es blos: ›unsere Weisen‹, od.: ›die Rabbinen haben gelehrt‹. Da die Bibel Alles enthält: im Pentateuch das Alles umfassende Gesetz, – in den anderen Büchern: Geschichtsschreibung, Profetie, Philosophie u. Poesie, – so versteht es sich von selbst, dass auch der Kommentar alle diese Zweige u. Wissenschaften umfasst, um den heiligen Urtext gerecht zu werden. Die Mosaische Gesetzgebung enthält eine Fülle von Bestimmungen über Mensch und Thier, Pflanzen, Sämereien, Früchte, Wein- und Ackerbau; etc., die darüber bezüglichen naturwissenschaftlichen Studien sind im Talmud niedergelegt. -Die höchst eingehenden biblischen Reinigungs- und Gesundheitsvorschriften nötigen den Talmudisten zu Studien der Medizin u. Anatomie, die peinlich genaue Feststellung der Feiertage und die in Ermangelung eines Kalenders wichtige Mondbeobachtung [Seite 9] führten zur Astronomie, Handel- und Grenzbestimmung veranlassen die Beschäftigung mit Geographie u. Sprachforschung; freilich ergab man sich auch der Astrologie und verlor sich in die Irrgänge der Magie, – Doch kamen aufgeklärtere Rabbinen, die auf weiten Land- und Seefahrten Wissen und Erfahrung u. Kenntnisse fremder Nationen erworben, und lenkten die vorurteilsvollen und beschränkteren Genossen zu den Ergebnissen der vorgeschritteneren Wissenschaft zurück. – Dies Alles spiegelt sich in den Aufzeichnungen u. Urkunden des Talmuds! (Doch bestand vorerst diese in fast 1000 J. angesammelte Unsummen von Belehrungen u. Bestimmungen hauptsächlich in blossen Überlieferungen, die von den Meistern den Schülern eingeprägt u. von diesen von Mund zu Mund weitergetragen und in eigenen Thun und Beispiel anschaulich gemacht wurden.) Warum wurde in diesem langen Zeitraum Nichts niedergeschrieben? Die Ansichten darüber sind verschieden. Einer der feinsinnigsten und bedeutendsten Kenner des Judentums meint: weil die Auslegung des Gesetzes jedem Zeitalter überlassen bleiben, jedes Zeitalter auf eigenen Füßen stehen sollte! Es sollte nicht neben dem ursprünglichen Gesetz Mosis eine geschriebene Autorität für die Deutung desselben geben! Wenn auch die Dankbarkeit und Pietät für die Lehrer früherer Zeiten immer wieder zum schönsten Ausdruck kommt, so sollte jedem neuen Geschlecht die notwendige Selbständigkeit und Freiheit der Forschung gewahrt bleiben! –

Anhang

Dennoch erkannte man, dass durch blos mündliche Überlieferung [Seite 10] die Möglichkeit einer Verdunkelung u. Missdeutung des Gesetzes eine drohende Gefahr blieb. Einer der edelsten Menschen, welche die Geschichte des Judentums kennt, beschloss dieser Gefahr zu begegnen. Hillel unternahm es zuerst die chaotisch angewachsene Masse von unaufhörlichen sich erweiternden Gesetzesauslegungen zu classificieren u. in ein System zu bringen. Er versuchte 600 zerstreute Bruchstücke in 6 Abteilungen zu vereinigen und zu ordnen, aber er starb, ehe er sein Werk vollenden konnte. Jesus war etwa ein Jahrzehnt vorher geboren, – u. d. finstere Jahrhundert stieg herauf, in welchem Titus ›die Wonne des Menschengeschlechts‹ Jerusalem zerstörte u. den Tempel in Asche legte. Dann kam ein armer Schäfer, der durch die Liebe seines treuen Weibes die Mittel gewann, sich dem Studium zu weihen. – Akiba; auch er widmete sich dem Werk, aber sein grausiger Märtyrertod durch römische Henkershand verhinderte die Ausführung. Um die Zeit, da Akiba starb – so geht die Sage –, wurde der Mann geboren, welcher das Riesenwerk vollenden sollte: Jehuda ha Nasi – der Heilige genannt. – Um das bisher nur dem Gedächtniss anvertraute Riesenmaterial in eine Form zu zwingen, sammelte er es, ordnete und vereinigte es in ein Gesetzbuch; dass Alles schon niedergeschrieben wurde, ist zweifelhaft, – vermutlich wurden die Grundzüge des Ganzen schriftlich fixiert und in 20jähriger Arbeit und Anstrengung die Hauptabschnitte des Gesetzbuches entworfen, die ein Späterer in 60j. Arbeit ausfürte. [Seite 11] (dass Jehuda’s Schüler und Mitarbeiter Jochanan zu Jerusalem etwa 30J. später eine Vervollständigung des Werkes unternahm, – dieser jerusalemische Talmud kümmert uns hier nicht weiter, da er trotz einiger wertvollen Eigenschaften wenig Ansehen und Anhang fand). Der ungefähr 4mal so umfangreiche Babylonische Talmud ist es, um den es sich handelt, wenn schlechtweg vom ›Talmud‹ die Rede ist. Seine Sammlung u. Sichtung gelangte nach etwa 7 Menschenaltern endlich zum Abschluss. Also – Hillel fasste den Plan, Akiba entwarf den Grundriss, Jehuda ha Nasi baute die Mischnah aus, – die Vollendung erhielt der Talmud durch R. Aschi, – im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. – Der christl. Pastor Wilhelm Pressel – er lebt meines Wissens in Tübingen – hat in seiner Broschüre: ›der T.v.d. Schwurgericht am Ende des 19 Jahrh.‹ Das Wirken Rabbi Aschi’s sehr anschaulich geschildert. Die Frequenz seiner Academie war eine so staunenswerte, dass nicht einmal das mittelalterliche Paris u. Bologna ein Gleiches aufwiesen. Aus allen Gegenden des Eccidents u.d. Orients strömten wissbegierige Männer zu seinen Füssen zusammen. So konnte er aus allen Gegenden der Diaspora (Zerstreuung!) erfahren, was in den Schulen als Gesetzesüberlieferung gelehrt werde u. nahm Perek um Perek (Abschnitt) u. Mischnah20†

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»befragte was in Spanien, Gallien, Deutschland, Italien, Griechenland, in Nordafrika, Arabien, Palästina, Kleinasien, Persien, Indien und China etwa Abweichendes od. ihm Unbekanntes vorhanden sei? Gab üb. Alles sein Urteil ab u. liess es aufzeichnen. Und da er jedes Jahr je in der Osterzeit u. in der Laubhüttenzeit einen der 63 Tract. Vornahm, – (sieben andere kamen erst nach seinem Tode hinzu) – so vollendete er in 30 Jahren die Riesenarbeit. Gott begnadete ihn auch, dass er sie in gleicher Weise revidiren drufte, wiederum mit 30J. – Und kaum hatte er sie beschlossen u. sein Schüler u. gehilfe R. Abina je sieben Tractate hinzugefügt, da brach die furchtbare Verfolgung aus,

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

[Seite 12] Ich will versuchen von der Anordnung dieses gigant. Denkmals einer 1000 jähr. Geistesarbeit in wenigen Worten ein Bild zu zeichnen: Der Talmud (der ältere, kleinere Jerusalemische und der größere babylonische) zerfällt 1. in Mischnah (d.h. Text), 2. in Gemara (Commentar). Die Mischnah ist in 6 Ordnungen geteilt: […] Sie umfassen: I. Die agrarischen Gesetze (Serafim): (also Saaten betreffend mit den verschiedenen Zehnten, Schenkungen und Abgaben, – also auch Armenpflege und Wohltätigkeit.) II. Fast- und Feiertage (Moed): (also Ceremonien, Verbot der Arbeit, rel. Gebräuche und Sitten, z.B. am Jom Kippur.) III. Frauen (Naschim): (Einen Hauptteil aller bürgerl. Gesetze umfassend, vor allem: Verlöbnis, Vermählung, Familienrecht, Ehescheidung, auch Gelübde etc.) IV. Schäden, d.h. Schadenersatz (Nesikim): (Folglich auch Strafrechtspflege. Kauf und Verkauf, Lohn und Leistung etc.)

Diese 4 Abteilung ist besonders dadurch ausgezeichnet, dass sie mit den sog. ›Sprüche der Väter‹ schliesst, welche die menschenwürdigste Sittenlehre aller Zeiten u. Völker enthalten! V. Heiligtümer (Kiduschim): (Nämlich Tempeldienst, Ceremonien, Opfer u.s.w. VI. Rein und Unrein (Toharotts) betreffende Gebote.

Diese 6 Ordnungen d. Mischnah enthalten in 63 Tractaten, 525 Perecks oder Abschnitte u. diese umschliessen 4.187 Mischnots od. Lehrsätze. Die Mischnah sowohl als die Germara, also Text u. Kommentar enthalten entweder 1. Halacha oder Haggada. – Über d. Unterschied dieser beiden nur folgendes: Halacha (von holach, gehen, also Weg, Regel, Norm) bedeutet die ›gang und gäbe‹ gewordene Auslegung d. Mosaischen Gesetzes. Sie bildet den Hauptinhalt der Mischnah. [Seite 13] Die Gesetzesauslegung wendet sich naturgemäss an den Verstand, an das streng-logische Denken, Prüfen, Kritisieren und Combinieren des Kopfes, – die Hagada (von haged, sagen, also Sage) umfasst das Philosophische, Dogmatische, Poetisch-Allegorische in der jüdischen Religion; sie wendet sich mehr an das Gemüt u. befriedigt das Herz. Sie tritt einerseits als das Erweckliche u. Erbauliche, andererseits als das Witzige u. Spielende in der Auslegung der heil. Schrift auf; denn auch sie erläutert das biblische Wort, deutet es aus oder schliesst wenigstens an ein solches die freie Gedankenschöpfung an. Vielleicht ist es Ihnen nicht unlieb, wenn ich Ihnen die Verse Heinr. Heines citire, in denen die contrastirende Eigenart der Halacha u. Hagada sehr anmutig geschildert ist. Er spricht in seinen ›hebräischen Melodien‹21‡ von Jehuda Halevy als Knaben – Ja, frühzeitig hat d. Vater Ihn geleitet zu dem Talmud -

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welche d. Academie zerstörte, aber eben damit den Talmud als abgeschlossenes u. sanctionirtes Werk der Nachwelt hinterliess.« ‡ Heine, Heinrich: Jehuda ben Halevy, in: Romanzero. Drittes Buch: Hebräische Melodien. Hoffmann und Campe, Hamburg 1851, Seite 213–260, hier S. 216–217 (Zeile 65–86); S. 219–220 (Zeile 119–144).

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Und da hat er ihm erschlossen Die Halacha, – dieses grosse Fechterschule, wo die besten Dialectischen Athleten Babylons u. Pumbeditha’s Ihre Kämpferspiele trieben. Lernen konnte hier d. Knabe Alle Künste der Polemik Seine Meisterschaft bezeugte Späterhin d. Buch Cosari. Doch der Himmel giesst herunter Zwei verschiedene Sorten Lichts Grelles Tageslicht der Sonne Und das milde Mondlicht, – Also Also leuchtet auch der Talmud Zwiefach u. man teilt ihn ein Zu Halacha u. Hagada Erst’re nannt ich eine Fecht(schul’ -) Letz’re aber die Hagada Will ich einen Garten nen[nen] (zwei Zeilen der Strophe wurden weggelassen22§ ) -----------------------------------------------------------23** (zwei Zeilen der Strophe wurden weggelassen24†† ) Und der junge Talmudschüler Wenn sein Herze war bestäubet Und betäubt vom Gezänke Der Halacha vom Dispute Über das fatale Ei, Das ein Huhn gelegt am Festtag Oder über eine Frage Gleicher Importanz – - – (der)

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§

Einen Garten, hochphantastisch Und vergleichbar jenem andern, ** Strophensprung von der 22. zur 30. Strophe (von insgesamt 45 Strophen). †† Die Hagada ist ein Garten Solcher Luftkindgrillen-Art,

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Knabe floh als dann sich zu erfrisch[en] In die blühende Hagada. Wo die schönen alten Sagen Engelsmärchen u. Legenden, Stille Märtyrerhistorien, Festgesänge – Weisheitssprüche, Auch Hyperbeln gar possirlich Alles aber glaubenskräftig Glaubensglühend – o, das glänz[te,] Quoll u. spross so überschengl(ich -) Und des Knaben edles Herze Ward ergriffen von der wilden Abenteuerlichen Süsse, Von der wundersamen Schmerzl[ust] Und den fabelhaften Schauer[n] Jener seligen Geheimwelt, Jener grossen Offenbarung, Die wir nennen – Poesie! [Seite 14] Es ist schwer nach Heine wieder in die Prosa zurückzufinden u. doch muss ich noch einige Worte üb. d. 3 Hauptgrundzüge des Talmuds sagen: Nämlich 1. Religionstreue, 2. Menschentum, 3. Forschung. – Was die Religionstreue betrifft, so begreift es sich aus den immer wiederkehrenden, unbeirrten u. übermüdeten talmudischen Lehren, dass Israel das Volk der Religionstreue geworden ist, u. mit Recht d. Ehrennamen bis auf d. heut. Tag geführt hat. Über alles gewöhnliche Mass u. über alle religiösen Empfindungen hinaus lehrt d. Talmud die Hingebung an Gott u. dessh. die Treue in der Religion. Mit endlosen u. glühenden Eifer verpönt er jeden Abfall von Gott u. jede Treulosigkeit. Seine Lehren sind befolgt worden, mit einer Heldenhaftigkeit, sondern Gleichen. Ich erinnere an die Zeiten der Kreuzzüge … u. an die darauffolgenden Jahrhunderte…, wenn den Juden die Wahl gelassen wurde zwischen Tod oder Taufe … stürzten sich Tausende mit Weib u. Kind in die Flammen od. in die Fluten mit dem alten heiligen Ruf: Schma Jisraeil – Adonai eloheinu, Adonai echod! – - – Ferner predigt der Talmud mit Nachdruck allg. Menschentum u. weist daraufhin, dass in den Forderungen u. Vorschriften der Thora von ›Adam‹ vom ›Menschen‹ die Rede ist u. nicht vom Priester, Leviten oder Israeliten, ja, es wird ausdrücklich gesagt: ein gebildeter Nichtjude steht höher als ein ungebildeter Hohepriester. Reinem Menschentum gelten ein Teil der schönsten [Seite 15] Gedanken d. Talm. Charakteristisch ist dafür der in seiner Einfachheit so anmutende Ausspruch: die Rabbinen in Jabne pflegten zu sagen: [Kurzschrift] Geschöpf, [Kurzschrift] Mitmensch [Kurzschrift] Geschöpf, [Kurzschrift] Stadt, er [Kurzschrift] Felde, ich geh morgens an mein Tagewerk, er geht frühmorgens an sein Tagewerk, so wie ich mich nicht auszeichne in seiner Arbeit, … so zeichnet er sich nicht

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aus in meiner Arbeit. Solltest du etwa sagen: ich leiste viel und er leistet wenig, so haben wir die Lehre: Einer der viel leistet und Einer der wenig leistet, sind sich gleich, wenn nur das Herz auf den Himmel gerichtet ist. Dieser demokratische Sinn d. T[almuds] dringt überall auf Gleichberechtigung der Menschen, u. ironisiert die leeren Classenunterschiede u. Standesvorurteile. – Nur Laster u. Götzendienst erniedrigen ihn, und nur Tugend und Wissenschaft erhöhen ihn. Bei dieser reinmenschlichen Auffassung ist Toleranz selbstverständlich u. zwar fordert d. T[almud] nicht wie andere Confessionen negativ, bloße Duldung… sondern er fordert positiv: Unterdrückung der Abneigung und fordert Liebe und Friedensstiftung unter allen Menschen. – Dabei ist eine besondere Berücksichtigung des Arbeiters auffallend. Unzählige scharfsinnige Erörterungen und Bestimmungen betreffen allein den gerechten Ausgleich zw. Lohn u. Leistung und regeln das Verhältniss zwischen Arbeitgeber u. Arbeitnehmer. Besonders scheint das Tractat Baba Mezia (den ich mit der Übersetzung von Samter besitze) das Thema zu behandeln, u. so konnte ich gerade die Bestimmungen eingehender studiren, – (freilich wol etwas anders als sonst bobemezie ›gelernt‹ wird) … und da sind mir zwei Stellen vorzüglich aufgefallen: Man soll d. Arbeiter verpflegen, aber [Seite 16] ohne Angabe worin d. Verpflegung bestehen soll, denn man höre die Motivierung! ›Denn du kommst deiner Pflicht auch dann nicht nach, wenn du ihnen d. Schönste und Beste, wie bei den Mahlzeiten d. Salomo vorsetzest‹. – u. d. Bestimmung (83, a), »dass es dem Arbeiter nicht untersagt sei, selbst wenn er schon den halben Tag gearbeitet hat, von der übernommenen Arbeit fortzugehen, denn: die Freiheit der Person steht höher, als alle eingegangenen Verpflichtungen«. – Natürlich knüpft sich daran eine Controverse … wenn ich nicht irre, hat sie folgenden Verlauf: ›das wäre noch besser!‹ ruft der Eine befremdet, dass der Arbeiter, wann er will, ungestraft die Arbeit verlassen dürfte! – ›Ja‹, meint ein anderer darauf, es könnte doch sein Vater gestorben sein oder im Sterben liegen, da fordert es doch seine kindliche Pflicht, dass er zu seinem Vater eilt? – Oder, meint ein Dritter, auf dem Wege am Felde könnte ein Wanderer gefallen sein, – dann fordert es doch seine menschliche Pflicht, dass er alles stehen u. liegen lässt u. dem Gefallenen zu Hilfe eilt? – ›Du darfst ihn in beiden Fällen nicht strafen und nicht kränken‹. – dass ein Arb. o. Nichtsnutzig. d. Arb. Verlässt. Was die Stellung d. Gebieters zum Knecht betrifft (nebenbei bemerkt, hat die hebräische Sprache kein Wort für Sklave, es heißt immer eved: Knecht -), so habe ich aus unzähligen ähnlichen Aussprüchen nur einen aus Kiduschin 20a schon seiner Kürze wegen ausgewählt: »du darfst kein besseres Brot essen als er«. Diese unbefangene Menschenfreundlichkeit d. T[almuds] bewährt sich auch dem Weibe gegenüber. – Da ›Das Weib im Talmud‹ bereits Gegenstand eines anderen Vortrages von mir ist, so will ich mich nur auf die Mutter in talmudischer Auffassung beschränken, od. vielm…. (Besonders schön und ethisch empfindsam sei der Talmud in Bereichen, die die jüdische Frau betreffen.) Das Haus wird als der eigentliche Tempel der Frau bezeichnet und als Hohepriesterin darin waltet die Mutter. – Fachwissenschaft des Weibes, Ceremonien, öffentliche Wirksamkeit, – alles Dieses wird verpönt, mit der ausdrücklichen Motivirung: »damit die Frau die Kinder erziehe«. Waren diese so weit, dass sie die Synagoge besuchen konnten, dann bestand die Pflicht d. Mutter sie dahin zu führen, oder führen zu lassen. Tractat Berachot gebietet dies ausdrücklich, indem er sagt [Seite 17]: »Verdienstvoll ist es, wenn

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die Mütter ihre Kinder zum Tempel bringen‹. – Der Mutter ward auch die Aufgabe das Familienleben mit religiösen Übungen zu durchflechten, damit die Kinder die Religion liebgewinnen sollten. – Ein Gedanke so wahr und so wichtig, dass jede Mutter und jeder Vater ihn sich unauslöschlich einprägen sollte! – Deshalb schildert auch der Talmud so gern die fromme Denkungsart jüd. Mütter. So wird v.d. alten Mutter eines armen Rabbi erzählt, dass sie ihre Haube v. Kopfe weg verkaufte, um den Wein für den Kiddusch am Sabbath zu verschaffen. Schön ist d. jüd. Sprichwort: »unter den 4 Dingen, deren sich auch der Vornehmste nicht rühmen kann, (weil sie sich von selbst verstehen!) ist, dass er aufsteht vor seiner Mutter«. Charakteristisch ist auch Folgendes: D. Rabbinen haben gelehrt: wenn ein Sohn, sein Vater und sein Lehrer zusammen im Gefängnis sitzen, – (es handelt sich um die Auslösung), dann geht er seinem Lehrer vor, sein Lehrer geht seinem Vater vor, – aber seine Mutter geht Allen vor! Die Zeit ist bald um, und noch habe ich Nichts über den III. Hauptgrundsatz im Talmud gesagt: Die Forschung. Das Herz der alten Talmudisten gehörte der Forschung. In erster Reihe natürlich der Thora wegen, aber dann auch ihrer selbst wegen! – Unerschöpflich sind die Mahnungen der alten Rabbinen und Weisen, dass man sich dem Studium widmen möge. Lernen u. Lehren, Wissen u. Unterricht bilden nach talmudischer Auffassung den Schmuck u. die Stärke, das Licht und die Lust des Lebens. Eines jeden Juden Pflicht ist es, sein Kind in die hebräische Sprache einzuführen und ihm die Thorah zu erschliessen, dass er weiss: »durch den Unterricht der Kinder erhält die sittliche Welt Dauer u. Bestand«. Jerusalem, so heisst es (im Traktat Sabbath 119b), ist nur desshalb zerstört worden, weil der Jugendunterricht in seiner Mitte vernachlässigt wurde! Das Studium wird eine der 3 Säulen genannt, auf welchen die Welt steht. – deshalb soll der Mensch sich in allen Ausgaben beschränken, nur nicht in den Ausgaben, welche der Unterricht seiner Kinder erfordert. Wer aber selbst unwissend, jedoch vermögend ist, der bemühe sich wenigstens Gelehrte zu unterstützen u. d. Bildung zu fördern, und auch der Unwissende schaffe sich Bücher an, um sie [Seite 18] armen Studenten zu leihen, – es wird geradezu zum Lebensprincip gemacht, dass weder Noth, noch Armut, u. Mangel oder sonstige Schwierigkeiten d. Menschen in seinen Streben nach Wissen u. Erkenntniss hindern dürfen. »Aber man lerne aus Liebe zur Wissenschaft und mache aus ihr keinen Spaten, damit zu graben und kein Diadem, damit zu glänzen!« – Und ein anderes tiefsinniges Wort – (welches ich freilich nicht wie die Orthodoxen auf die Ausübung äusserlicher Ceremonien beziehe, sondern, dass ich streng philosophisch auffasse) sagt: Der Unwissende kann nicht fromm sein! Jedenfalls aber – ob orthodox od. liberal gesinnt, – lerne! Lerne!! Lerne!!! – Was dich auch zuerst zum Studium geführt haben mag, bald wirst du das Studium um des Studiums willen, lieben! – Geehrte Anwesende! – Ich habe es an mir selbst erfahren, dass die alten Talmudisten Recht haben, – - – aber wehmütig muss ich es bekennen: die heutigen Töchter u. Söhne Israels haben andere Ansichten, als ihre alten Lehrer. Nicht die Selbstbelehrung gilt ihr eifriges Bestreben, sondern äusserlichem Vorteil u. Vergnügen, – Nicht eine Weltanschauung zu gewinnen, erscheint ihnen wichtig, sondern sich zu amüsieren…. Manchmal, wenn ich mir eine gewisse Gleichgültigkeit so vieler heutiger Juden nicht erklären kann, – taucht ein Bild vor mir auf – dunkel wie eine Warnung – u. eine Mahnung –, das Bild einer Ähnlichkeit, einer inneren Ähnlichkeit eines großen Zieles der heutigen modernen Judenheit, mit jener Judenheit kurz vor ihrer Wegführung nach

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Babylon! – - Jene Juden waren stumpf geworden, gleichgültig und ungläubig, entbehrten sie des edleren Selbst- und Stammesbewusstseins, liessen sich durch ungläubige und abergläubische Heiden beeinflussen, wurden abtrünnig dem Gesetz. – - [Seite 19] Ich will das traurige Bild nicht weiter ausführen, – aber wie verwandelt man dies Volk nach den erlittenen Leiden! Ein neues Geschlecht kehrte aus Babylon zurück. Ein neues Geschlecht voll Interesse für die Geschichte der Väter, voll feurigen Glaubens, voll religiöser Begeisterung. Eine auserlesene Schaar, denn die Matten u. Stumpfen der Gleichgiltigen u. Bequemen, sie waren zurückgeblieben (auch geistig!), ausgelöscht aus dem Gedächtniss, ausgelöscht aus der Weltgeschichte!! – Die Schaar aber der Treugebliebenen, die bildete das religiöse Volk, das den Talmud schuf. Vielleicht sieht dieser tausendjährige Lehrmeister die Kinder Israels wieder zurückkehren zu dem unerschöpflichen Born jüd. Wissenschaft. [Seite 20] Vielleicht werden dann auch die Christen (Andersgläubigen) einst sich sagen: Nein, die Literatur und Religionsurkunden unserer Mitbürger sollten uns nicht ferner fremd bleiben, sollten uns nicht ferner mit Misstrauen erfüllen. Wir wollen sie kennen und würdigen lernen, denn näher als alles Fremdländische steht uns doch wohl die Gedankenwelt der unter uns wohnenden Brüder! Mag man dann immerhin noch afrikanischen Sand und Schutt nach alten Steinen und Scherben aufwühlen. – Sie künden uns immer nur Längstvergangenes – aus den Folianten des Talmuds aber spricht eine ewig-junge Weisheit und bekundet unwiderleglich, dass die Menschheit nichts Wunderbareres gesehen hat, als den geistigen Entwicklungsgang des Volkes, das uns – Christen u. Juden – die Bibel schenkte! -

A5.2 Das Weib im Talmud Das Weib im Talmud25 Vortragsmanuskript von Nahida Remy (1893) Traditionelles Vorurteil u. Engherzigkeit der Weltanschauung hat d. Weib Jahrhunderte, Jahrtausende lang auf eine geistig unfruchtbare Passivität innerhalb d. Hauses beschränkt. Seit aber Verkehr u. Wissenschaft d. gesammte Völkerleben erhöhte u. befreite, wurde auch d. Gesichtskreis d. Weibes grösser u. weiter. Es trat aus d. Enge heraus, nicht um d. Gefallsucht zu fröhnen, sondern um seine Thatkraft z. bewähren u. sich in d. Dienst d. Humanität zu stellen. Verlangte man früher, dass d. Weib um Nichts sich kümmere als um Kind u. Kochtopf, – so fordert heute der Mann u. die Gemeinde, dass d. Weib auch gemeinnützlich mitarbeite u. mithelfe, dass es ausser seiner häuslichen Pflicht noch Interesse u. Leistung für die Mitmenschen übrig habe: Es ist dies eine Ehrenpflicht u. Errungenschaft der Neuzeit. Nicht für die Juden. – Für die Juden ist eine allseitige u. vielfache Werkthätigkeit der Frauen eine alte Erbschaft, eine geheiligte Tradition. Beweis: der Talmud. – Er spricht oft u. viel [Seite 2] von der Frau u. er zeigt sie fast durchweg gereift, geschäftig, selbstbewusst, selbständig u. sittlich. So erscheint sie uns übrigens auch in der Bibel, u. – da die

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Remy, Nahida (1893): Das Weib im Talmud. Vortragsmanuskript vom 10.12.1893, S. 1–25, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125.

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Schätzung d. weibl. Geschlechts für den jeweiligen Culturstand eines Volkes kennzeichnend sein soll, ist dies höchst charakteristisch: der Stammheros nach welchem das jüd. Volk sich benennt: Israel dient 7 Jahre u. wiederum 7 Jahre, um ein geliebtes Weib heiraten zu können, –f. Griechen u. Römer unerhört u. lächerlich, für d. Bedeutung d. Weibes aber in Israel typisch. – So oft man nun auch der Frau im Talmud begegnet, so selten dem Mädchen. – Zwar sagt Sirach: eine Tochter ist ihrem Vater ein sorgenerregender Schatz, den er stets behüten, müsse. Aus Furcht sie könne in mädchenhafter Unbesonnenheit Thorheiten begehen, – kann er nicht schlafen. Aber sonst ist von dem Mädchen wenig die Rede – [Seite 3] in Würdigung jedoch des hohen Wertes einer richtigen Verstandesentwicklung, suchen die Talmudisten einer neu zu begründenden Familie Unbildung u. Unwissenheit fern zu halten. »Die Rabbinen haben gelehrt: der Mensch verkaufe immerhin was er u. heirate die Tochter eines Gelehrten, so darf er versichert sein, dass auch seine Kinder Bildung besitzen werden; er heirate aber nicht die Tochter eines Ungebildeten, denn dann liegt die Gefahr nahe, dass auch seine Kinder ungebildet bleiben.« – Fort u. fort wird d. Mahnung wiederholt u. geraten die Tochter eines Gelehrten, od. Angesehenen od. Schuloberhauptes od. Schullehrers zu nehmen, um Alles in der Welt aber verbinde man sich nicht mit der Tochter eines rohen unwissenden Menschen, denn dann – hier wird der Talmud ein wenig grob, – man kann ihm aber nicht böse sein, denn man sieht, wie hoch er die Erziehung des Mädchens [Seite 4] schätze, schon in Rücksicht auf d. kommende Generation. – Interessant ist d. zarte ja fast zärtliche Aufmerksamkeit für d. Braut. Ihr Verlobter ist d. Militärdienstes enthoben, weil er unterliegen u. seine Braut ihn beweinen müsste, ja, vielleicht unvermählt bliebe. Sind sie nun vermählt, dann sollen die Gatten ganz ihrer jungen Liebe leben. Im ersten Jahr ihrer Ehe sollen sie keinen Friedhof besuchen, keinerlei traurige Pflichten erfüllen, sich keiner strengen u. schweren Aufgabe unterziehen; im Gegenteil sollen sie sich ihres Daseins zu Zweien herzinniglich erfreuen, u. Jeder ist verpflichtet zu ihren Freuden beizutragen. Das Amt d. Brautführer war so wichtig, dass sie während der ganzen Woche ihres Liebesdienstes von allen Ceremonialgesetzen befreit waren, u. Keiner noch so Hochstehender durfte sich diesem Amte entziehen, wenn er dazu gewählt war. – Der herzliche Eifer das junge Weib in eine fröhliche, unbefangene [Seite 5] Stimmung zu versetzen, verschmäht sogar die fromme Lüge nicht: es wird Volkssitte – nach der Lehre des milden Hillels – im Gegensatz zu dem strengen Schammai, welcher an dem Wort d. Schrift festhält: von falschem Wort (dwar scheker) halte dich fern, – - es wird Volkssitte auch der Unschönen ja der Hässlichen an ihrem Hochzeitstage zuzurufen: schöne Braut, anmutige Braut! Zahlreiche Aussprüche talmudischer Weisheit beziehen sich nunmehr auf ein sanftes Benehmen des Mannes in der Ehe. Er soll sein Weib rücksichtsvoll behandeln, denn leicht kommen ihr die Thränen! – Psychologisch fein ist Folgendes: die Lebenslust, ein Weib2 u. ein Kind1 nähere man wieder mit der Rechten, wenn man sie mit der Linken entfernt hatte. Züge ehelicher Liebe werden zur Nacheiferung empfolen, und eheliche Treue spiegelt sich in zallosen halbernsten, halbscherzhaften Erzählungen wieder. Eine derseleben [Seite 6] ist das Vorbild zur Sage der Weiber v. Weinsberg. Nach dem biblischen Gebot: »mehret Euch u. füllet d. Erde, erschien den Juden Kindersegen als Lohnf. Erfüllung einer rel. Pflicht; daher sollten Eheleute, die länger als 10 Jahre kinderlos geblieben, sich scheiden. Eine Frau welche ohne Kinder geblieben, wurde nun, nach dem

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Gesetz von ihrem Manne entlassen, – da er ihr aber von Herzen zugetan ist, sagt er ihr, sie möge sich mitnehmen aus dem Hause, was ihr das Liebste sei, – aber der Mann nun nach dem veranstalteten Abschiedsmahl in tiefen Schlaf gesunken, geht sie, u. lässt Alles im Hause zurück, – nur den Mann lässt sie auf dem Ruhebett in ihr Vaterhaus tragen, – darauf bleiben sie zusammen u. werden mit Kindern gesegnete. – So gern nun auch eheliche Zusammengehörigkeit geschildert wird, so eifrig werden Vorsichtsmassregeln ergriffen, um Zucht u. Züchtigkeit zu wahren. Wird doch sogar im Tr. Kiduschin verboten, dass d. Frau öffentl. Kinderlehrerin sei, weil sie als solche zu häufig mit d. Vätern ihrer Zöglinge in Verkehr trete. dass Braut-, [Seite 7] u. Bräutigam nicht allein zusammen speisen sollen, leuchtet ein, aber selbst jedes Alleinsein mit einem fremden Manne, wird der Frau streng verboten. Ja, der so ernste u. würdige R. Josua b. Chananja scheut das Alleinsein mit einer Frau so sehr, als sei dadurch schon das Unheil fertig. Man soll ferner einer fremden Frau keinen Gruss übermitteln, selbst nicht durch den eigenen Mann, man soll es vermeiden ihrem Gesang zu lauschen, weil die weibl. Stimme verführerisch sei, aber nicht bloss die weibl. Stimme ist gefährlich, sondern auch weibliches Vielwissen, – es wird in der Halacha aus Züchtigkeitsrücksichten streng verpönt, – im Allgemeinen wol nicht mit Unrecht. – Bei allen möglichen Situationen des Verkehrs, bei Begegnungen, flüchtigen, zufälligen, auf der Strasse, auf der Reise, selbst bei so ernsten Veranlassungen wie bei der Begleitung zum begräbniss finden sich die feinsinnigsten Verordnungen zur Sicherung weiblicher Sitte. Keusche Frauen werden hochgepriesen, – selbst da, wo [Seite 8] ihre Keuschheit bereits befremdlich erscheint. So errang eine Frau namens Kimchith weitverbreiteten Ruhm, weil sie selbst innerhalb ihrer vier Wände ihr Haar sorgfältig verbarg. Es heisst, dass ihr dafür das seltene Glück zu Teil wurde, ihre sämmtlichen Söhne im goldenen Schmuk der Hohepriesterwürde zu sehen. Andererseits aber ist der Talmud feinsinnig genug, das natürl. Recht, ja, die natürliche Pflicht d. Weibes zu gefallen keineswegs einzuschränken, sondern im Gegenteil ungezwungen walten zu lassen. – Die Rabbinen zeigen sich hier, wie so oft als echte, rechte Menschenkenner; ihr Freisinn war – Frömmigkeit. – Man bedenke, dass d. jüd. Weib in schweren u. schwierigen Zeiten manchen Wettkampf gegen freie u. freche Frauen anderer Nationen zu bestehen hatte! – Es war natürlich, ja, es war sittlich, dass d. Lehrer d. jüd. Volkes dem jüd. Weibe eine gewisse Anmut u. Anziehungskraft wünschten! – Sie hatten nichts dagegen, dass die Jüdinnen sich schmückten, [Seite 9] ja, sie selbst sorgten dafür, d. die Frauen Gelegenheit erhielten, ihre natürlichen Reize durch Putz u. Zierrat zu erhöhen, durch Gewerbegesetze u. Verkehrsvorschriften. Fremden Händlern war das Hausiren mit Waaren in der Stadt verboten, nur mit weibl. Putz u. Schmuck ward eine Ausnahme gemacht, »damit es den Töchtern Israels leicht sei, beides zu erwerben.« Sie haben auch bis auf den heutigen Tag diese moralische Pflicht sich zu schmücken fleissig geübt, – ja es will Manchem bei dieser Gelegenheit dünken, als könne man auch in der Pflichterfüllung zu weit gehen . . . . . Die Weisen des Talmuds mochten den kleinen Fehler der Eitelkeit gern in Kauf nehmen, wenn nur der grosse Vorzug der Pflege der Sittlichkeit gewahrt wurde, indem der Mann durch sein zierlich geschmücktes Weib an das häusliche Liebesleben gefesselt war. – »Ein tugendhaftes Weib ist ein Glück für den Mann,« wird gesagt, – aber »wer ein schönes Weib hat, dess’ Leben ist zwiefach.«

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Nach dem Gesagten ergibt sich ein Hauptmerkmal d. Talmuds inbetreff d. Frau [Seite 10] von selbst, er ist ein eifriger Fürsprecher der Ehe. – Im Gegensatz zu den nazarenischen Lehre, welche das Weib für ein notwendiges Übel erklärt, dem man am besten aus dem Wege ginge, – ist der Talmud durchaus fürs Heiraten. Er sagt geradezu: wer nicht heiratet, mindert das Ebenbild Gottes auf Erden, u. Mann u. Weib vereint, verdienen erst den Ehrennamen ›Mensch‹. Der Unverehelichte bleibt sein Lebenslang ein Raub sündiger Gedanken; er lebt ohne Freude, Glück u. Segen. Die Ehe ist so heilig, dass im Gegensatz zu anderen Confessionen, der Priester vermählt sein musste. Am hochfeierlichsten Tage des Jahres, am Jom-Kippur verbietet der Talmud d. Hohepriester d. Ausübung seiner Functionen, wenn er unvermählt war. Ja, es klingt sonderbar, aber entspricht nur d. strengen Auffassung der Ehe als einer heiligen, den Menschen veredelnden Institution, wenn gefordert wird, dass einige Tage vor dem Jom-Kippur eine Nachfolgerin für die erste Gattin d. Hohepriesters bereit gehalten werde, falls diese stürbe. – Diese Bestimmung wurde zwar später aufgehoben aber, wie man aus diesem drastischem [Seite 11] Beispiel ersieht, – haftete in der Tat d. Ehelosigkeit ein Makel an; diesem Makel durfte der Priester nicht anheimfallen. – Interessant ist die Überlieferung von Ben Asai; er hat nicht geheiratet, lehrte aber, dass der Mensch erst zu Zweien seine Vollendung erhielte. Auf den berechtigten Einwand, dass er sehr schön lehre, aber nicht schön handle, da er die eigene Lehre nicht befolge, antwortet er […] »Was soll ich tun? Meine Seele hängt nun mal ausschliesslich an der Wissenschaft. Andere sollen für den Fortbestand der Welt sorgen.« – Derselbe Ben Asai hat gesagt: »ein Mensch ist verpflichtet seine Tochter Thora zu lehren, damit sie im Notfall etwas von den Gesetzen wisse, die zu ihren Gunsten sind.« – Doch heute noch darf man fragen, wie viele Töchter u. Frauen gibt es, die etwas von den Gesetzen die zu ihren Gunsten sind, verstehen? Rabbi Chisda hält eine frühe Ehe für ein vortreffliches Mittel ungestört u. unbeirrt d. Gelehrsamkeit zu leben. – Ein Anderer mahnt erst einen Weinberg [Seite 12] anzulegen, ein Haus zu bauen u. dann erst das Weib hineinzusetzen; d.h. erst für die Existenzmittel u. dann für Familie zu sorgen; ein Princip, das zu allen Zeiten zeitgemäss war. »Der Mann sei bemüt, dass immer Brod im Hause ist, denn der Streit entsteht meist durch Mangel an Nahrung u. dann sagt d. Sprüchwort: »Wenn die Gerste alle ist, beginnt der Zwist,« doch wiederum: Sorgen verrücken des Menschen Gedanken, desshalb trage er sie mit seinem Weibe.« Mannigfache Aussprüche empfehlen diese Hingebung des Mannes an sein Weib. Übereilung, Temperamentsfehle, Launen sollen mit Nachsicht behandelt werden. – Wie ein launenhaftes Weib zu behandeln sei, zeigt R. Chija. Er hatte das zweifelhafte Glück eine höchst capriciöse Gattin zu besitzen; dennoch behandelt er sie mit der grössten Aufmerksamkeit u. so oft als möglich bringt er ihr Geschenke mit. Um ihre Überraschung zu erhöhen, pflegte er das Mitgebrachte in einen Zipfel seines Mantels einzuknüpfen. Wahrscheinl. um sie rathen zu lassen, was es sei -? »Eines Tages befragte man ihn um die Ursache dieser absonderlichen Zärtlichkeit. Man höre seine Antwort – [Seite 13] »Wie immer auch die Frauen beschaffen sind, so sind sie doch unserer besonderen Achtung u. Aufmerksamkeit wert, weil sie es sind, die unsere Kinder zur Tugend und Gottesfurcht erziehen, u. uns durch ihren Umgang von sündhaften Leidenschaften fern halten. Das bringe uns Glück u. Segen u. wahres Seelenheil, auch in der zukünftigen Welt. – Der alte Rabbi ging eben von der Voraussetzung aus, dass alle Frauen ihre Kinder zur Tugend u. Gottesfurcht erziehen! u. dass

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alle Männer sich durch ihre Frauen von anderen Leidenschaften fernhalten lassen. R. Chija hatte einen Neffen Rab; als dieser sich eines Tages von ihm verabschiedete, sprach Jener: Gott behüte dich vor dem was schlimmer ist, als der Tod. – Rab ging u. grübelte darüber nach, was denn wol schlimmer sei, als der Tod, u. endlich fand er es, denn er erinnerte sich des salomonischen Wortes: ›bitterer als der Tod ist ein böses Weib.‹ Er hatte nämlich ein Weib, welches sich darin gefiel immer das Gegenteil dessen zu tun, was er wünschte; sprach er zu ihr: ›koche mir Erbsen‹, [Seite 14] dann kochte sie ihm Linsen, u. sagte er: ›koche mir Linsen‹, dann kochte sie ihm Erbsen. Als sein Sohn herangewachsen war, merkte er es u. bestellte der Mutter immer das Verkehrte. Nach einiger Zeit sprach der Vater zu ihm: ›deine Mutter hat sich gebessert‹, – nein, versetzte der Sohn, sondern ich habe es zu Wege gebracht, indem ich immer das Verkehrte bestelle. Der Vater dachte im Stillen: so gescheit hätte ich auch sein können … aber laut sprach er zu seinem Sohn: thue nicht ferner so.« – Mehrere Tractate des Talmuds – Jebamoth, Kiduschin, Ketuboth, Gittin, Sota u.a.m. enthalten die gesetzlichen Vorschriften inbezug auf Verlobung, Vermählung, Ehescheidung, u.s.w. Es wäre unmöglich sie auch nur in knappester Kürze zu skizzieren, nur erwähnen will ich z.B. die eigenartige Liebenswürdigkeit der alten Talm. als Friedensstifter. – Wenn Zorn, Missverständniss od. Charakterfeler die Gatten entfremdet, findet talmudische Nachsicht u. Einsicht immer noch Wege des Friedens. – Die Reue erfährt eine [Seite 15] weise Berücksichtigung, Schwäche, Selbstvergessenheit werden nicht härter bestraft, als sie es verdienen. Merkwürdige Entscheidungen d. Gesetzgeber beweisen Milde der Leidenschaft aber Strenge der Herzenskälte gegenüber. Wer ein Weib ohne Liebe gar nur des Geldes wegen heiratet, bekommt ungeratene Kinder, – oder gar keine. Dagegen: »Wer seine Frau liebt, wie sich selbst u. sie ehrt mehr als sich selbst, – an dem bewährt sich das Wort: Frieden wohnt in seinem Zelt.« – Ein anderes mal heisst es: »Stets sei der Mann bedacht auf eine ehrenvolle Behandlung seines Weibes, denn nur ihr verdankt das Haus seinen Segen. Ja – der Mensch esse u. trinke unter seinem Vermögen, kleide sich nach seinem Vermögen u. ehre seine Frau über sein Vermögen. – Ein Ausspruch der unwiderstehlich zu einem Vergleich herausfordert. – Bei fast allen alten Völkern erscheint das Weib – ich meine immer das Eheweib – als ein mehr od. minder macht- u. willenloses Hausthier. Ja, aber das germanische Weib wird mir entgegnet, – ich kenne die Lobeshymnen über das germanische Weib! – Wir haben über [Seite 16] dasselbe die berühmte Bemerkung d. Tacitus. – Tac. beabsichtigte offenbar seinen sittenlosen Landsmänninen ein Vorbild vorzuführen, u. desshalb betont er so ganz besonders die Hoheit u. Würde der germanischen Frau. Aus derselben Quelle aber ersieht man, dass alle schwere Arbeit im Hause, auf d. Felde, beim Lastenschleppen, ja, beim Ausrotten des Urwaldes, u.s.w. auf dem Weibe lastete, während der Mann sich lediglich mit seinem Pferde u. seinen Waffen abgab. – Wo bleibt da die Würde, wenn das Weib die niedrigsten Knechtesdienste leisten musste, während der Mann auf der Bärenhaut lag? Auch wissen wir, dass d. germ. Mann dem Trunk und dem Spiel ergeben war. Im doppelten Rausch d. Trunkes u.d. Würfels verspielte er häufig sein ganzes Hab und Gut, auch Kind u. Knecht, ja – er verspielte sein Weib!! – Ich kann in Alledem Nichts finden, was von besonderer Hoheit u. Würde des Weibes zeugte, kann d. Stellung d. germ. Frau unmöglich so hoch taxieren, wie es allerdings in Schulbüchern u. Damenzeitungen, in Lexica u. Lyrik ausnahmslos geschieht. Das Weib im [Seite 17] Talmud aber – ich habe nirgends gefunden, dass es verspielt oder

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vertrunken wurde! Auch nicht vergöttert, wie zur Minnezeit, der vielbesungenen! Kein Rabbi dürfte aus Verehrung das Waschwasser seiner Angebeteten (doch nein, der Ausdruck wäre bei den Juden eine Blasphemie) also seiner Dame getrunken haben, – u. keiner Jüdin wäre ein Ruhmeskranz geflochten worden, wie jener Isabella, die eines Gelübdes wegen 10 od. 12 Jahre lang ihr intimstes Kleidungsstück nicht wechselte … solchen Unsinn habe ich im Talmud nicht gefunden, wol aber die wichtigsten Bestimmungen zur Schonung u. Sicherung des weibl. Geschlechts, die durch 1000j. Lehrzeit entwickelt, zum Teil heute noch Gesetzeskraft haben. Diese Fürsorge enthält eine grössere Huldigung als jene Vergötterung! – Besonders wird die Unmündige u. Verwittwete berücksichtigt. Jene darf an dem Tage, da sie mündig geworden den ihr etwa aufgedrungenen Bräutigam zurückweisen u. einen anderen Gatten wählen, oder, war sie bereits vermählt, u. verliert sie den Gatten durch den Tod, dann besitzt sie zwar als Wittwe alle Freiheiten der Mündigen, aber zugleich [Seite 18] das Recht der Unmündigen in das elterliche Haus zurückzukehren u. den vorgeschriebenen Unterhalt zu empfangen. Die Wittwe durfte jedoch nicht blos wohnen bleiben im Hause d. verstorbenen Gatten, sie durfte auch den Anspruch erheben, genährt, gekleidet, u.v. den Dienern d. Hauses bedient zu werden. – Die Erben können das Haus nicht verkaufen, so lange sie darin zu wohnen wünscht. – R. Jehuda ha Nasi, der Sammler u. Ordner der Mischnah, welche den Grundtext des ganzen Talmuds bildet, – soll hierzu das Beispiel gegeben haben; vor seinem Tode versammelte er seine Söhne u. ermahnte sie ihre Stiefmutter, seine 2. Frau, zu ehren u. ihr alle Vorteile und Vergünstigungen zu belassen, die sie bei seinen Lebzeiten erfahren habe. – Damit ein Weib nicht ›Agunoh‹ verlassen bleibe, falls der Mann verstorben od. verschollen ist, sind besondere Gesetze zu ihren Gunsten getroffen worden. Um den Tod des Mannes zu bezeugen, ist nur ein Zeuge nötig, (während es sonst ihrer zweie sein mussten), ja, ein Heide (der sonst vom Zeugnissablegen ausgeschlossen war) durfte in dem Fall Zeugniss leisten, wenn dasselbe zu Gunsten d. Agunoh ausfiel. – (Die heutzutage in erschreckendem Masse überhandnehmende Klasse lebenskräftiger, noch jugendlicher Frauen, kannte der Talmud nicht. Er sorgte durch freisinnige Einrichtungen u. Erleichterungen dafür, dass solche Versündigung an [Seite 19] Natur u. Ethik fast unmöglich wurde). – Auffällig ist auch die talmudische Fürsorge in der Begrenzung der Pflichten der Frauen dem Manne gegenüber. – dass sie ihm überall hin folge, – ist selbstverständlich, aber der Talmud stellt die Ausnahmen fest, die zum Schutz der Frau sie dieser Pflicht enthebe; die Gründe sind mannigfach, zum delicater Natur. Merkwürdigerweise darf die Frau auch beim Eingehen der Ehe, den Ort der Niederlassung wählen; eine Weigerung des Mannes kann zur Scheidung führen, ohne jeden Vorwurf od. Vermögensnachteil für die Frau. Jedoch bevorzugt eine talmudische Bestimmung denjenigen Gatten, der seinen dauernden Aufenthalt in Judäa nimmt. Hier hat das tiefe Gefühl des Israeliten für sein heiliges Land einen sprechenden Ausdruck gefunden. Aus Alledem u. Anderem erkennt man die bevorzugte Stellung, welche das jüd. Weib in d. alten israelitischen Gesetzgebung einnahm. (Freilich finden sich, besonders in der Halacha, Bemerkungen u. Bestimmungen, die nicht nur streng, sondern hart, nicht nur geringschätzig, sondern verächtlich erscheinen. Man kann, wenn man will, aus den verschiedenen Tractaten eine ganze Blumenlese unfreundlicher Äusserungen zusammenklauben. Es gab eben [Seite 20] zu allen Zeiten Weiberfeinde! – Ich habe derartige Äus-

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serungen in drei Gruppen geordnet. I Aussprüche, welche im Talmud selbst widerlegt u. berichtigt werden. II welche nur scheinbar hart, im Grunde milde sind, wie fast alle, die sich auf Ausschliessung d. Frau v. religiösen u. cerem. Handlungen beziehen. III von Narren – wie es einige (Wenige!) unter den 1000 von klugen und weisen Männern des Talmuds, auch gibt u. deren Bemerkungen, obwol wertlos, von echt jüd. Pietät, mitaufgenommen worden sind.) Abgesehen davon ist die Stellung der jüd. Frau durchaus bevorzugt, dagegen erregen einige Bibelstellen, wo von der Ehescheidung die Rede ist, Befremden, denn hier ist es nur der Mann, der berücksichtigt erscheint. Der Talmud, aber dieser von Unwissenden od. Übelwollenden so arg verläumdete Talmud, der offenbar stets die Partei des Schwachen ergreift, hat den lückenhaften Bibeltext zum Schutz u. Vorteil des Weibes ergänzt, – der Talmud gestattet auch dem Weibe die Ehescheidung zu beantragen und auf einer Synode zu Metz im J. 1020 wurde sogar von Rabbenu Gerschom – (der als Leuchte des Exils moaur ha Gauloh bezeichnet wird) dem Manne verboten die Ehescheidung [Seite 21] zu beantragen, ohne ausdrückliche Einwilligung der Frau. Inbezug auf Verletzung d. Frauenlehre enthält die Mischnah Strafbestimmungen, welche für unsere heutigen zahmen Begriffe unerhört erscheinen. Voll u. ganz zeigt sich der Rabbinismus erfüllt von der Wichtigkeit d. Weibes als Hüterin der Sitte u. dadurch als Trägerin d. Cultur. Ihr, der Frau, lag es ob, das Familienleben rein zu erhalten, u. die Reinheit des Familienlebens bildete d. Hauptgesetz z. Erhaltung Israels, baute d. Grundmauern, auf denen das gottgefällige Dasein d. echten Juden sich erhob. – Wer aber trug dafür die nächste Sorge, d. grösste Verantwortlichkeit? Das Weib. – Daher sehen wir d. Jüdin eine Würde u. Unabhängigkeit gewahrt, wie bei keiner and. Nation damaliger Zeit. – Die hebr. Gesetzgeber sind nicht nur menschenfreundlicher u. seelenkundiger, sond. auch religiöser, – u. desshalb ist auch ihre Auffassung des Weibes eine durchaus höhere, als man sie sonst – damals – fand! – Nicht blinden Gehorsam der Frau wird gefordert, sondern dass sie Sitte u. Sittlichkeit bewahre, – nicht v. gedankenloser Unterordnung ist die Rede, sondern v. verständnissvoller Gesellung; nicht zum Werkzeug wird sie erniedrigt, sondern zur Gehilfin erhoben. Hand in Hand soll sie mit d. Manne gehen, ihm helfend u. rathend zur Seite stehen, ihm Liebe u. Frieden wie ein schützendes Obdach bereit halten. [Seite 22] Das Bibelwort sein ›Haus‹ wird im Talmud geradezu gedeutet: »sein H.[aus] d.h. sein Weib«, u. wird dem Manne irgend ein wichtiger Vorschlag gemacht, dann sagt er: ich will gehen u. es mit meinem Weibe berathen. Damit sie frei u. unbefangen bleibe, wird befohlen: »er darf ihr keine Furcht einflössen,« – recht im Gegensatz zu dem christl. Ausspruch (den ich nie habe begreifen können!!) »aber das Weib fürchte den Mann!« – War es nicht genug, dass der Mann durch d. grössere Körperkraft und – Körperschonung, welche die Natur ihm verliehen, u. durch die Wissenschaft u. Gesetzgebung, die er sich selbst verliehen, dem Weibe unendlich überlegen war? – Wozu da noch das Schreckgespenst der Furcht-? Wie lieb habe ich die alten Rabbinen um dieses gute kluge Wort; »er darf ihr keine Furcht einflössen!« Maimonides, der diesen Ausspruch wiederholt, fügt hinzu: sondern der Mann soll sanft u. gelassen mit ihr umgehen« u. an anderer Stelle heisst es: »Ist dein Weib klein, dann bücke dich u. flüstere ihr ins Ohr!« Dieser vorurteilslosen Betrachtung u. Behandlung des weibl. Geschlechts verdanken die Juden die grosse geistige Regsamkeit u. zielbewusste Thatkraft ihrer Frauen. Mehr,

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viel mehr, als die auf Furcht dressirten Ehefrauen anderer Confessionen, standen die Jüdinnen ihren [Seite 23] Männern in allen weltlichen u. geschäftl. Angelegenheiten zur Seite. Diese allseitige weibl. Energie kam auch der Gelehrsamkeit zu Gute. Dank seiner ›Gehilfin‹ behielt der jüd. Mann Musse zum Studium. Das ist eine durch alle Jahrhunderte dauernde Erscheinung! – Nur heutzutage viell. wo das jüd. Weib mehr Modedame ist und statt original zu bleiben, eine Copie anstrebt . . . heute mag das anders geworden sein, der Talmud aber berichtet mehrfach von Frauen, welche das Studium ihrer Männer u. dadurch die Wissenschaft selbst förderten. So ist die Frau des berühmten R. Akiba eine typische Gehilfin des Mannes; sie trägt die ganze häusliche Last, sie willigt in eine lange Trennung vom Gatten, – doch mag lieber der schlichte Text des Talmuds selber reden!26* Die verlassene Frau, die Jahr aus, Jahr ein, der Rückkehr des Gatten harrt, ist in d. Literaturwerken der Völker eine stehende Figur, ob sie Griseldis, Genoveva, Damajanti oder Penelope heissen, sentimental sind sie alle u. weit entfernt von der Geistesklarheit u. Gesinnungsgrösse d. Rabbinerfrau, die ihren Gatten opferfreudig dem Thorastudium überlässt, dem reinen Ideal zu Liebe! Ähnliche [Seite 24] Charaktere wie A.[kibas] Frau tauchen noch Manche im Talmud auf, aber nur flüchtig, bald hier, bald dort in wenigen Worten gekennzeichnet. Sie entscheiden Fragen, lösen Rätsel, heben Schwierigkeiten, erhellen Dunkelheiten, oft blitzähnlich, dass man ein Buch schr. Müsste, um diesem quecksilbernen weiblichen Element im Talmud gerecht zu werden. Auch minder Erfreuliches weibl. Eigenart wird tadelnd berichtet u. satyrisch gerügt. Weibliche Thorheit wird zuweilen zur Quelle talm. Belehrung: die Verspottung d. Hässlichkeit des R. J.b. Chananja von Seiten d. Kaiserstochter gibt Veranlassung zu d. schönen Gleichniss, dass edler Wein besser in unscheinbaren Schläuchen, als in goldenen Prunkgefässen aufbewahrt werde. -27† 26

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Einschaltung I.: R.A. war Hirt b.d. reichen K. Sebua u. dessen Tochter sah, d. er gut u. bescheiden war; da sprach sie zu ihm: Willst du, wenn ich mich mit dir verlobe, ins Lehrhaus gehen? Ja, antwortete er. Da verlobte sie sich in aller Stille mit ihm. Als K. Sebua das hörte, schwur er, seine Tochter zu enterben, sie ging aber u. heiratete ihn doch. – Während d. Winters lagen sie auf Stroh … einst sprach er zu ihr: wenn ich reich wäre, würde ich dir ein goldenes Jerusalem auf d. Brust legen. – Da erschien eines Tages ihnen Elia in Gestalt eines Armen an der Thüre u. sprach: gebt mir, denn mein Weib hat […] ich habe kein Lager. Da sprach R.A. zu s. Weibe: siehe, dieser Mann hat nicht einmal Stroh (d.h. er ist noch ärmer als wir]. – Eines Tages sagte sie: Geh und lerne im Lehrhaus. – Er ging u. lernte 12J., R. Elieser und R. Josua. Als d. 12J. um waren, erhob er sich u. kam nach Hause. Da hörte er, wie ein Ruchloser zu seinem Weibe sprach, dein Vater hat Recht getan dich zu enterben, denn dein Mann ist nicht so vornehm wie du. Denn er lässt dich in lebendigen Wittwenstand alle diese Jahre leben. Sie erwiederte: wenn m. Mann mir folgen wollte, dann sollte er noch 12J. im Lehrhaus lernen. Da dachte R.A. da m. Weib mir die Erlaubniss gibt, so will ich ins Lehrhaus zurück u. kehrte um u. lernte noch weitere 12J. – Endlich kam er, mit vielen Tausenden von Schülern heim u. die Leute d. Stadt gingen ihm entgegen, – auch s. Weib, da wollten die Schüler zurückweisen, aber er sprach: »Lasst sie!« das meinige u. das Ewige gehört ihr«, d.h. unser Wissen u. unseren Ruhm verdanken wir ihr. Es wird noch erzält, dass auch K. Sebua sich vor R.A. demütigte u. seine […] in ihr Vermögen wieder einsetzte. – Wenn ich nicht irre – hat sie auch ihr goldenes Jerusalem bekommen. † Einschaltung: Diese reine, vorurteilslose unbefangene Menschlichkeit des T. bewährt sich auch d. Weibe gegenüber. Handelte nun der erste Teil m. Vortrages von der Frau im Allgemeinen, so möchte ich jetzt einige Worte über die Mutter in talmud. Auffassung sagen, – od. vielmehr über

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Von all den weiblichen Charakterköpfen d.T. sei nur noch einer erwähnt; im Gesinnunggrösse und Herzensgüte Akiba’s Frau fast ebenbürtig, wird diese überragt in Wissen u. Gelehrsamkeit von Beruria, Tochter d. Märtyrers R. Chanina b. Teradjon. Wir erfahren mancherlei merkwürdiges von dieser Frau. Sie nahm bereits als junges Mädchen lebhaften Anteil an den wissenschaftlichen Erörterungen im Vaterhause u. im Umgang mit bedeutenden Männern entwickelte sich ihr […] (Einschaltung I.) über 300 rabbinische Aussprüche gekannt u. commentirt haben, so dass sie bald ihrerseits von den Gelehrten um Rath u. Urteil befragt wurde. Als Gattin des Rabbi Meir setzte sie ihr Studium mit unermüdlichem Eifer fort. Als Rabbi Meir eines Tages einige bösartige Nachbarn mit den Worten des Psalmisten verdammte, tadelte Beruria ihren Gatten u. erklärte David habe gesagt: die Sünden mögen verschwinden, dann würden auch keine Bösewichter mehr sein. Manche treffende Antworten sind von ihr überliefert, besonders ist ein Zug aus ihrem gemütsbewegungen reichem Leben von der Poesie ausgeschmückt worden. Es wird erzählt, dass eines Tages, während ihr Gatte dem gewohnten Vortrag am Sabbath hielt, ihre beiden schönen u. begabten jungen Söhne durch einen Sturz verunglückten und starben. Beruria liess die Leichen in ihr Schlafgemach tragen und bedeckte sie mit einem Tuch. – Als dann der Gatte nach Hause kam, fragte er sofort nach den Knaben, die er im Lehrhause vermisst hatte. Sie antwortete: »sie sind dahin gegangen. Auf sein späteres wiederholtes fragen, beruhigte sie ihn: ›sie werden nicht ferne sein.‹ – Erst nach dem Abendessen, nach dem Segen, als ihr Gatte sich (Einschaltung II.) […] gekräftigt fühlte, sprach Beruria auf einmal: Rabbi, ich habe eine Frage: ›Sprich!‹ Vor einiger Zeit gab mir Jemand einen Schatz zum Aufbewahren. Ganz plötzlich fordert er ihn zurück. Soll ich den Schatz zurückgeben?« – Der Rabbi staunt über ihren Zweifel u. bejaht die Frage. Da führt Beruria ihn in das Gemach und zieht die Decke hinweg, – u. als der Vater erst wie erstarrt bleibt, beim Anblick der todten Söhne u. dann in Entsetzensrufe und verzweifelte Klagen ausbricht, da ergreift sie seine Hände u. spricht mit beschwörendem Blick: Meister! Lehrtest du mich nicht soeben, man müsse ein anvertrautes Gut dem Eigentümer zurückgeben? Der Herr fordert zurück die Söhne, die er uns gab, – der Name des Herrn sei gepriesen.«

d. Hauptpflichten d. Mutter. Das Haus als der eigentl. Tempel der Frau bezeichnet u. als die Hohepriesterin darin waltet die Mutter. Fachwissenschaft des Weibes, Ceremonien, öffentl. Wirksamkeit, alles dieses wird verpönt, mit der ausdrückl. Motivirung: damit die Frau im Hause die Kinder erziehe. – (Einschaltung X [fehlt]) Auch darin sind die jüd. Mütter ausgezeichnet, ihre Kinder lernen zu lassen. Sie haben es oft gehört: durch den Unterricht der Kinder, erhält die sittliche Welt Dauer u. bestand! Jerusalem so heisst es im Tract. Sabbath, ist nur zerstört worden, weil der Jugendunterricht in der Stadt vernachlässigt worden. Desshalb will auch die jüd. Mutter sich gern in allen Ausgaben beschränken, nur nicht in den Ausgaben, [Einschaltung II.] welche das Studium ihrer Kinder erfordern; denn sie weiss: Lernen u. Lehren, Wissen u. Unterricht bilden – nach talmudischer Auffassung – den Schmuck u. die Stärke, das Licht u. die Lust des Lebens. Eine besonders charakteristische u. rührende Illustration zu dieser Vorliebe jüd. Mütter u. jüd. Frauen für das Studium ihrer Kinder sowol, als auch aus Liebe zum Studium selber, um des Studiums willen, – bildet eine brühmte Frau in Israel, die ich noch nicht genannt habe u. deren Name Ihnen sehr bekannt sein wird. Von all den weiblichen Charakterköpfen des Talmuds sei jetzt der charaktervollste erwähnt; in Gesinnung u. Herzensgüte Akibas Frau fast ebenbürtig -

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[Seite 25] Obwol all diese Erzählungen legendenhafte Ausschmückung zeigen, so ist doch der culturhistorische Kern deutlich sichtbar: er zeigt uns d. Denkfähigkeit d. Jüdinnen, mit welcher sie nicht nur d. geistige Leben u. Streben ihrer Männer begreifen u. fördern, – sondern die sie auch befähigt bei schweren Schicksalsschlägen dem Manne Trost u. Stütze zu sein. Ein Talmudwort lautet: nur um der Verdienste ihrer Frauen wegen ist Israel aus der ägyptischen Knechtschaft befreit worden, – u. ein zeitgenössischer Weise in Israel, Lazarus, führt diesen Gedanken aus dem Altertum durch alle Jahrhunderte hindurch bis in die lebendige Gegenwart indem er sagt: »Inmitten der Zuchtlosigkeit des westund oströmischen Reiches u. der Völkerwanderungen hat Israel sich erhalten, während andere Völker zu Grunde gingen, nicht durch den Krieg, sondern durch die daraus gefolgte Zuchtlosigkeit des Privatlebens. Nicht der Krieg hat jene Völkerschaften aufgezehrt, von denen trotz einstiger weltbeherrschender Grösse nur noch die Namen übrig sind – - dies beweisen, – was nicht oft genug [Seite 26] weiderholt werden kann, – die Juden! Denn härter u. grausamer als irgend ein Volk sind sie vom Kriege betroffen worden. Aber der innerste der keimkräftigste Kern der Sittlichkeit, die Strenge der Zucht, die aufopfernde Wohltätigkeit und Nächstenliebe sowie die Innigkeit d. Familienlebens blieb allezeit lebendig. – Und diesen Kern der Sittlichkeit zu hegen u. zu pflegen, lag in der Hand der Frauen.« Dem keuschen Familiensinn des jüdischen Weibes ist die erstaunliche u. rätselvolle Erhaltung des jüdischen Stammes gelungen. Das ist sein Ruhm – nicht blos in der Geschichte des eigenen Volkes, sondern in der Weltgeschichte!

A5.3 Nächstenliebe im Alten Testament Nächstenliebe im Alten Testament28 Vortragsmanuskript von Nahida Remy (1892) Man sollte es kaum für möglich halten, dass von vielen Seiten fort und fort behauptet wird: das alte Test.[ament] kenne die Nächstenl. nicht. von der Kanzel, beim Religionsunterricht, in Erbauungsbüchern u. Zeitschriften, am Familientisch u. in Gesprächen mit Theologen u. Nichttheologen – gleichviel ob protest. od. kathol., orthodoxe od. freisinnige – immer wieder kann man es hören: das alte Test. kennt d. Nächstenliebe nicht, das neue Testament hat diesen Begriff erst eingeführt. Denn – ich bringe ein klassisches Beispiel! – Martin Luther in seinem Katechismus, im Abschnitt über die Nächstenliebe, citirt zwar das Wort: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,« aber als Belegstelle führt er – nicht etwa das Original: III Buch Moseh Cap. 19 an, sondern: Matthäus 22,29, wo dieser Ausspruch wiederholt wird! Da nun Tausende, – Millionen Menschen leider ihr bischen Bibelkenntnisse ausschliesslich aus dem Religionsunterricht empfangen – müssen natürlich diese Tausende u. diese Millionen glauben, was ihnen gelehrt worden. Dieser Gedanken der Nächstenl. sei ein neutestamentlicher, denn er steht in Matt 22,29 … 28

Remy, Nahida (1892): Die Nächstenliebe im Alten Testament (I.). Vortragsmanuskript vom 17.12.1892, S. 1–21, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125.

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Originalgedanken des alten T. werden im N.[euen T.] wiederholt u. daraufhin als neutestamentliche ausgegeben. Nicht genug damit: es wird folgerichtig u. nachdrücklich jetzt ein Gegensatz geschaffen u. hervorgehoben: seht, damals! herrschten Grausamkeit, jetzt aber ist das Erbarmen, die Liebe, die Nächstenliebe da! So war unlängst wieder im Leitartikel eines ev. Kirchenblattes zu lesen, in einem freisinnigen sogar. Aber nicht nur Leute, die im klerikalen Interesse so sprechen u. schreiben, so lehren u. predigen, – sondern auch unabhängige Männer, die aufklären, ja reformiren wollen, wiederholen gläubig u. kritiklos diese alten Schlagworte, weil sie selbst es nie anders hörten. Es sind besonders drei solcher Schlagworte, welche in der That aller geschichtlichen Wahrheit ins Gesicht schlagen, – das sind: I. Der Judengott des Alten Testaments ist [Seite 2] ein Gott der Rache. – Zum Beweis citiret man stets den Anfang des 5 V. Cap. 20, II B.M. [Ex 20,5]: »Ich bin ein eifriger Gott, ahndend die Schuld der Väter am III u. IV ›Geschlecht‹ – den Schluss aber, auf den es doch hauptsächlich hier ankommt: ›der aber Gnade übt am 1000 Geschlecht‹ unterschlagen die Herren, weil er ihre Lehre vom ›Gott der Rache‹ Lügen straft. II. Steht das Weib im Judentum sehr niedrig da, – erst das Christentum hat es ›befreit‹ u. ›erhöht‹. III. Kennt d. alte Testament die Nächstenliebe nicht. –

Behauptungen müssen controlirt werden, – denn nicht blinder Glaube mehr, sondern sachliche Prüfung ist die Losung der fortschreitenden Zeit. Die Gründe warum seit fast Jahrtausenden systematisch irrtümliche Auffassungen verbreitet wurden, diese Gründe wird eine spätere Zukunft aufdecken; Die Achtung vor der geschichtl. Wahrheit gewinnt immer mehr Boden. Auch wir Laien müssen helfen der Wahrheit Schritt vor Schritt diesen Boden zu erkämpfen – es ist ein Kampf um den Frieden. Jedem von uns gebiette die einfache Gerechtigkeit Entstellung von Thatsachen entgegenzuwirken. Freilich muss man auch wissen, wann eine Entstellung stattfindet! – Inbezug auf die Bibel haben wir es ja so bequem. Doch freilich, man liest ja die Bibel nicht! – Eine gebildete Frau gestand mir kürzlich: ich finde mich garnicht in der Bibel zurecht! Ich weiss nicht wo die Stellen stehen? Sie ist für mich, das reine Labyrinth …. In diesem [Seite 3] – nein, ich mags nicht wiederholen – in diesem wunderbaren Gottesfarten meinen Genossinnen als bescheidene Führerin zu dienen, ist einer meiner Lieblingsgedanken geworden. Heute wollen wir prüfen, ob die Behauptung d. alt. Test. kenne die Nächstenliebe nicht, wahr ist, oder ob nicht vielmehr nirgends sonst die Nächstenliebe so gelehrt wird, als gerade im Alten Testament! Schon lange vor der Mosaischen Gesetzgebung erscheint in der ehrfurchtgebietenden Patriarchengestalt Abrahams ein Vorbild für edle Menschlichkeit. – Wie kennzeichnend ist die friedfertige Art mit der Abraham zu Lot sagt: Es ist kein Streit zwischen mir und dir! Zwischen deinen Hirten u. meinen Hirten! Siehe, vor dir liegt das Land! Willst du zur Linken, gehe ich zur Rechten, willst du zur Rechten, gehe ich zur Linken. Ganz wie es dir gefällt! Als später der Genosse angegriffen wird, eilt er, wie selbstverständlich, zu seinem Schutz herbei u. retten ihn und als er entschädigt werden soll, duldet seine Uneigen-

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nützigkeit kein Geschenk: »Nichts für mich!« – Nur den Männern, die mit ihm gezogen, gönnt er einen Anteil. – Weiter wird erzählt, wie er zur heissesten Tageszeit drei Wanderer daher kommen sieht. Sofort läuft er ihnen entgegen u. bittet »Geht doch nicht vorüber!« – Natürlich gedenkt er sogleich des ersten Bedürfnisses eines im brennenden Wüstensande Wandernden. »Es werde nur ein wenig Wasser gebracht, damit ihr eure Füsse waschet u. dann ruhet aus, hier, unter diesem Baum, ich will schnell Bissen Brod bringen, danach mögt ihr weiterziehen!« – Wie [Seite 4] charakteristsich! – Ob das heute Jemand thäte« Ungebeten? – Aber Abraham lässt es bekanntlich bei einem Bissen Brod nicht bewenden, Sara muss schnell Kuchen backen, Abraham selbst trägt Rahm, Milch und Braten herbei, er setzt es ihnen vor, er bedient sie, eifrig, fürsorglich, offenbar voller Freude die Fremden erquicken zu dürfen. – Warum das Alles? Doch wol nicht aus Menschenhass. – Ja, dass Abraham Tamarisken pflanzte wird ihm im Midrasch (in einem Notarikon) als Wohlthat gegen den Nächsten ausgelegt, durch welche er den wahren Gott verkünde. Wenn nämlich die unter dem schattenspenden Baum Erquikten ihm für Speise, Trank und Nachtlager dankten, dann nahm Abraham die Gelegenheit wahr den Namen Gottes zu verkünden, indem er erwiederte: »Nicht mir, sondern Gott habt ihr zu danken, dessen Verwalter ich nur bin.« Auch wird erzählt Abrahams Zelt habe ringsum Eingänge gehabt, damit von allen Seiten die müden und hungrigen Wanderer zu ihm herein konnten. Ähnlich geht Lot den Wandernden entgegen, nötigt sie in sein Haus, bereitet ihnen ein Mahl u. will sie zur Ruhe bringen; ja, er treibt die religiöse Pflicht morgenländlicher Gastfreundschaft soweit, dass er um seine Gäste vor den Leuten von Sodom zu retten, seine Vaterpflicht verleugnet. – Ein lieblicheres Gemälde zeigt uns Rebecca am Brunnen. Elieser bittet blos ihn etwas Wasser aus ihrem Kruge schlürfen zu lassen u. ›eilends‹ lässt sie den Krug von d. Schulter herab. Warum eilt sie so? Weil sie mitfühlt mit dem fremden Manne, – der Arme. [Seite 5] Durst thut weh! Also schnell, schnell! – Und als er genug getrunken, gedenkt sie – unaufgefordert – der Kamelle u. schöpft von neuem, eilfertig u. unermüdlich für alle seine Thiere. – Solche Kleinigkeiten wie die Anrede Jakobs an die fremden Hirten im fremden Lande: »meine Brüder, woher seid ihr?« »meine Brüder« u. A.[ndere] unscheinbare, aber kennzeichnende Äusserungen menschenfreundl. Art u. Gesinnung d. Verkehrs, muss ich natürlich übergehen, da sie uns zu weit führen würden. Lehrreich ist die Geschichte Josefs in Ägypten; sie enthält Züge von Werkthätigkeitf.d. Mitmenschen, die Mancher für blosse Klugheit erklärt hat, d. jedoch von uneigennützigen Wohlwollen u. einem rastlosem Sinnen u. Sorgenf. Andere zeugen. Mit recht ruft ihm daher das dankbare Volk zu, nachdem es zu wiederholten Malen durch Josefs väterliche Fürsorge und Voraussicht vor der Hungersnot errettet wurde: du hast uns am Leben erhalten! Wie treu ihm auch das Volk in Liebe ergeben, zeigt die allgemeine Teilnahme bei Jakobs Tode. Heisst es nicht etwa: die Juden haben Trauer, sondern es heisst: »in Ägypten ist grosse Trauer« u. als die Leiche jenseits d. Jordans gebracht u. begraben werden soll, da begleiten sie nicht nur die Söhne u. Diener d. Hauses Josefs, sondern auch d. Vornehmen u. Ältesten Ägyptens u.d. Bewohner d. Landes empfangen den langen Trauerzug in Erfüllung einer d. ersten Pflichten der Nächstenliebe: d. Ehre für d. Todten. Mit diesem ernsten, ergreifenden Bilde schliesst das I. B.M. [I. Buch Mose] und gleich d.[as] 1. Cap. d.2 beginnt mit einer That der Nächstenliebe von Seiten einfacher

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Frauen. »Ein neuer König d.v. Josef nichts wusste« befielt alle erstgeborenen Söhne Israels zu tödten, aber die damit beauftragten Weiber thaten nicht, wie d. König geboten, sondern trotz eigener Lebensgefahr erhalten sie die Kinder am Leben. – Und [Seite 6] was bewog Pharao’s Tochter das auf dem Nil ausgesetzte Kind zu retten? – »Siehe, ein weinender Knabe u. sie erbarmte sich seiner«, – obwol es ein Hebräerkind ist und sie als gegen den Willen d. königlichen Vaters handelt, wenn sie das kleine Geschöpf am Leben erhält. Aber – »sie erbarmte sich seiner.« Wir kommen zu Moseh! »Und es war Keiner so demütig auf Erden wie Moseh« heisst es 4B.[uch] 12,3. Diese Demut u. Menschenliebe gehören zu seinen eigenartigsten Charakterzügen. – Eine Talmudlegende sagt, warum Gott gerade Moseh erwählt habe: ein Schaaf, das lahm geworden, trug er zur Quelle, um es zu tränken. Da sprach Gott zu ihm: »du bist gütig gegen ein Tier, du wirst auch liebevoll gegen Menschen sein. Dich erwähle ich zum Führer Israels.« Und der Midrasch (d.i. der vorzugsweise haggadische Commentar biblischer Bücher) – beschriebt wie Moseh, als er erwachsen war, hinausging zu den Armen u. Geplagten, zu den Ziegelbrennern u. Tagelöhnern; – da sah er sie fast erliegen unter ihrer Last, denn das Gewicht eines Mannes war einer Frau aufgebürdet, die Bürde eines Grossen lag auf d. Kleinen, d. Last d. Jünglings auf d. Greisl. Da trat Moseh unter sie u. ordnete Erleichterung ihrer Lasten. Es trifft ihn das Geschick bei der Verteidigung eines Wehrlosen den Angreifer zu tödten. – Zu Folge dessen muss er in die Wüste entfliehen. Hier tritt er wieder als Beschützer d. Schwachen auf, denn als die [Seite 7] Hirten, die Töchter Midjans, welche die Rinnen des Brunnens bereits gefüllt haben, verjagen wollen, »da stand Moseh auf u. half ihnen, u. tränkte ihre Schafe.« Eine dieser Töchter, Zipporah wird sein Weib u. als später ein Verwandter Zipporahs nach seiner Heimat zurückkehren will, bittet ihn Moseh: geh mit uns! Wir wollen dir Gutes tun, u. als Jener sich weigert noch einmal dringlicher, »bitte, verlass uns nicht, wir wollen dir Gutes tun!« – Man glaubt es Moseh, wenn er einmal gelegentlich sagt: »ich habe Keinem je ein Leid getan«, u. als er auf Gottes Befehl der Rotte Korah den Untergang kündet, kann er nicht unterlassen zu sagen: »ihr müsst wissen, dass der Ewige mir alle diese Werke zu tun befielt, denn nicht aus meinem Herzen tue ich so.« Wagt er es doch im Eifer seiner Nächstenliebe einmal Gott selbst zur Rede zu stellen! »Warum lässest du es diesem Volk so schlecht ergehen?« u. als später eine schwere Züchtigung über dasselbe hereinbricht u. er um Verzeihung für dasselbe bittet, fügt er hinzu: »aber wenn du nicht verzeihst, dann lösche mich aus, aus dem Buch des Lebens, damit ich das Unglück des Volkes nicht mehr sehe!« Also sterben möchte er aus Betrübniss, nicht wegen eigener Leiden, sondern wegen der Leiden Anderer! In dieser leidenschaftlichen Hingebung Mosehs, die ihn immer und immer wieder mit Bitten u. Gebetenf.d. Genossen an den Ewigen sich wenden lässt, – aber auch in d. ruhigen Besonnenheit Jithros, der ihm Rat erteilt, wie er seine Kraft schlonen u.d. Verwaltung [Seite 8] ordnen solle zum Besten des Ganzen, tönt fortdauernd d. lautere Stimme d. Nächstenliebe! Wichtiger aber noch als die Kundgebungen des Einzelnen – wenn er auch wie Moseh als Heros des Alten Testaments vorbildlich erscheint – sind d. gesetzlichen Bestimmungen inbezug auf d. Verkehr der Menschen untereinander. – Hier liegt der Prüfsteinf. Lehre und Gesinnung des Judentums, wie sie sich im alten Testament kristallisirt ha-

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ben. Zu den ersten Satzungen gehört das bedeutsame Wort (II,12) »Ein Gesetz sollf.d. Eingeborenen u.f.d. Fremden sein, der sich in eurer Mitte aufhält.« Die milde und menschenfreundliche Auffassung zeigt sich schon in der Bezeichnung gerf. ›Fremd‹, ha Geir hagor besauchom, der Wohnende unter euch. – Man vergleich damit die Auffassung anderer Völker, welche im Wort ›fremd‹ den Nebenbegriff des Feindseligen verbanden; so heisst bei d. Römern der Gast: Hostis zugleich Feind u.b.d. Griechen war jeder Fremde ein Barbar. Bei den Juden aber gilt der Geir, als Schutzgenosse u. Mitbürger, der auch zu religiösen Handlungen hinzugezogen [Seite 9] wurde; die ganze Culturhöhe- u. Bedeutung des Judentums: Israels, spiegelt sich in diesem Gegensatz. – Ferner heisst es 22: »den Fremdling kränke nicht u. bedränge nicht, denn Fremdlinge wart ihr im Lande Ägypten.« Und im folgenden Cap. nun zum 3 Mal »den Fremdling bedrücke nicht, denn« –, man beachte d. sittlich-humane Motivirung: »denn ihr kennt ja den Seelenzustand d. Fremden.« – Nahtlos von gebotener Pflicht, nein das Herz soll sprechen, das Gemüth redet! Es heisst ausdrücklich: Nefesch = Seele: We atem jedatem es nefesch ha geir!! – Ihr kennt die Bitterkeiten u. Kümmernisse, die Ohnmacht u. Öde des Einsamen unter der Menge. Fern sei es von euch, das Gemüt dessen zu belasten der unter euch lebt, sondern wie ein Bruder sei euch der Fremde. Wir werden inbetreff des Fremden, der Waisen u. Wittwen, Armen u. Bedürftigen auf viele Wiederholungen stossen. […] sonst ein rhetorischer Fehler wäre, ist hier eine […] Und sicher geschieht es nicht ohne tiefere Absicht, dass im Schutzgesetz durchgängig der Fremdling zuerst, noch vor der Waise u. Wittwe genannt wird. Mit dieser besonderen Berücksichtigung im Gesetz sollte sowohl einer minderen Rücksichtsnahme im Volksverkehr vorgebeugt werden, ebenso wird stets die Waise vor der Wittwe erwähnt: Jene ist hilfloser als diese, durch Jugend u. Mangel an Erfahrungen. Wenige Cap. nach der Schilderung d. Auszuges aus Ägypten werden bereits die Bestimmungen über d. Waisen u. Wittwen, d. Armen u. Bedürftigen eingeschärft. »Wenn du Geld leihest dem Armen neben dir, sei nicht gegen ihn wie ein Gläubiger, lege ihm nicht Zins auf« u. wenn du das Kleid deines Nächsten pfändest, bis Sonnenuntergang gib es ihm zurück. Denn es wird geschehen, dass wenn er zu mir schreit, so werde ich ihn hören, denn ich bin gnädig. Keine Wittwe u Waise bedrücket. Wenn du sie bedrückest, u. sie zu mir schreien, höre ich ihr Geschrei u. mein Zorn entbrennt. – Auf das Eingehendste wird gegen jede Schädigung des Nächsten gewarnt. Nicht nur d. Schädigung [Seite 10] an Hab u. Gut, Leib u. Leben, sondern auch solcher sittlicher u. moralischer Art, die oft wie ein heimliches Gift nicht zu sehen u. nicht zu fassen ist u. eben desshalb doppelt gefährlich erscheint; so z.B. Verbreitung böser Gerüchte, falsches Urteil, Umgang mit Bösen, Heuchelei, Bestechung u. Beeinflussung von massgebenden Personen zu Ungunsten Anderer. Wahrlich alle diese, aus tiefster Menschenkenntniss geschöpften Bestimmungen zielen auf ein Ideal der Nächstenliebe hin! – Der Arme u. Verarmte ist es, der ganz besonders in Schutz genommen wird. »Beuge nicht das Recht deines Bedürftigen!« Aber es wird nicht blos das Böse-sein u. Unrecht-tun, verpönt, sondern die Aufforderung zum Gut-sein u. recht-handeln wird fort u. fort wiederholt. Thatkräftige Hilfe soll Einer dem Anderen gewähren, wo u. wie er kann. Nicht nur dem Genossen oder dem Fremdling, was als selbstverständlich gilt, nein, auch dem Feinde soll man menschlich hilfreich sich erweisen! – Ja, dem Thier d. Feindes! – Im

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23 Cap. d. II.B.M. [Ex 23] heisst es, V4. »So du den Ochsen deines Feindes od. seinen Esel irrend antriffst, sollst du ihm denselben zurückbringen.« – Wie merkwürdig ist doch immer wieder die Steigerung des sittlichen Gedankens in d. Bibel! – V.4 heisst es ›Feind‹ also ein Gegner um politischer od. anderer Motive, der aber vielleicht persönlich uns gleichgiltig ist, – V5. Aber heisst es: »so [Seite 11] du siehest den Esel deines Hassers erliegend unter seiner Last, hüte dich ihn zu verlassen, sondern mühe dich ihm beizustehen.« – Ich weiss nicht, ob in irgend einem anderen Gesetzbuch od. Religionswerk Stellen von solcher Herzensgüte vorkommen. In den Levitischen Gesetzen u. Strafandrohungen d. III. Buches M. ist wiederum die Steigerung in d. ethischen u. humanitären Bedeutsamkeit derselben auffallend. Vorerst wird der äusserl. Tempel-Opferdienst behandelt, dann d. allgemeinen Gesundheits- u. Reinigungsvorschriften, ferner d. Unantassbarkeit d. Familienbeziehungen u. endlich in d. letzten Cap- d. rein menschlichen Gebote der Nächstenliebe! »Nicht Unrecht tun Einer dem Anderen, den Geringen wie den Vornehmen parteilos behandeln, d. Tagelöhner nicht auf den Lohn warten lassen, Jeden nach Gerechtigkeit richten, dem Nächsten Nichts vorenthalten, vor den Blinden keinen Anstoss legen, dem Tauben nicht fluchen« – welche psychologische Feinheit liegt doch in diesem Wort: dem Tauben nicht fluchen …. Er hört es ja nicht! – Eben desshalb! – Er kann sich nicht wehren, so bleibst du ohne Strafe u. dein Herz wird hart! – »Bleibe nicht müssig bei der Lebensgefahr deines Nächsten, hasse den Nebenmenschen nicht in deinem Gemüt«. – du darfst nicht bloss ihn nicht äusserlich anfeinden, sondern keinen versteckten Groll gegen ihn hegen; dagegen: »verweisen darfst du ihn, damit du nicht seinetwegen Sünde trägst«… Wieder ein feiner psychologischer Zug: du bist verpflichtet ihn zu warnen, um ihn rechtzeitig vor Schaden zu behüten. Du darfst nicht denken: was geht es mich an? Es geht doch wol etwas an, denn er ist dein Nächster! – Hier im III B.M. Cap. 19 [Lev 19] [Seite 12] steht das herzliche Gebot: »Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!« Hier steht es, dieses wahrhaft göttliche Wort, hier steht es, im alten Testament, als Original, im neuen wird es nur wiederholt, ja zwei, dreimal kommt es im alten Testament vor, zuletzt auf den Fremden selbst angewendet, nicht blos auf den Nächsten »auch den Fremden, der sich bei dir aufhält, liebe ihn wie dich selbst.« – Und angesichts einer solchen Thatsache eines solchen in der heil. Schrift verewigten Ausspruches wagt man es dem Alt. Testament also dem Judentum den Begriff d. Nächstenliebe abzusprechen! Und wer wagt es? Männer welche die Wahrheit predigen, welche die Jugend belehren! – »Und wenn dein Bruder verarmt u. seine Hand wird schwach, dann stärke sie, warte nicht bis seine Hand ganz erlahmt, und wenn er schwankt, dann stütze ihn, warte nicht bis er fällt.« … An dieses Wort, wen dein Bruder verarmt, knüpft sich eine überaus reiche Midrasch-Auslegung. Es wird gefordert, dass wenn Einer dem Anderen etwas Freundliches erweist, er es nicht widerwillig, sondern mit heiterem Herzen tun solle. – Besonders kehrt der Gedanke häufig wieder: dass man nur Vermögen besitze, um damit Gutes zu tun u. den Nächsten zu erfreuen! Vom Bedürftigen heisst es: »Gott stehe zu seiner Rechten u. wer dem Armen etwas gibt, beschenkt den Schöpfer selbst.« – Eine Bestimmung die bereits im 19 Cap. vorkam, wird ebenfalls wiederholt: »Und wenn ihr erndtet eures Landes Erndte, so sollst du den Rand deines Feldes nicht ganz aberndten u. den Abfall deiner Erndte nicht ganz auflesen u. in deinem Weinberg nicht nachle-

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sen u. nicht die letzten Trauben abpflücken. Dem Fremdling u. dem Armen sollst [Seite 13] du sie überlassen;« recht zur besonderen Heiligung dieser Worte folgt: »Ich bin der Ewige euer Gott.« – Eine kleine aber für d. jüd. Geist sehr charakteristische Erläuterung darf ich hier nicht auslassen. »Wenn ihr erndtet eures Landes Erndte, dann sollst du den Rand deines Feldes nicht ganz aberndten.« Natürlich fragen die Gelehrten des Midrasch gleich, warum heisst es erst ihr im Allgemeinen und dann du? Weil bei der allgemeinen Anrede ›ihr‹, Mancher denken könnte: »ei, mögen die Anderen so tun, ich werde Alles für mich behalten, was kommt es darauf an, wenn Einer das Gebot nicht befolgt, wenn nur die Anderen es erfüllen.« »Nein, sagt Gott, keine Ausnahme! So könnte Jeder denken u. dann bliebe garnichts für den Armen übrig, – Nichtsda!« Desshalb sagt er erst im Allgemeinen, wenn Ihr und dann spricht Gott jeden Einzelnen an: »dann sollst du den Rand deines Feldes stehen lassen u. deine Weintrauben nicht alle abpflücken.« – Übrigens ist zur Woltätigkeit verpflichtet, nicht nur der Reiche, sondern selbst der, welcher von Haus zu Haus bettelt, od. wie d. Talmud mit der ihm eigenen Zartheit des Ausdruckes sagt: »wer an den Türen verkehrt«… Zum Schluss des III B. wird d. Einrichtung d. Jobeljahrs bestimmt. Es würde zu weit führen, näher darauf einzugehen, nur so viel: der Gedanke, dass zu einer festgesetzten Zeit, jedem Knecht die Freiheit wird, u. alles Land an seinen früheren Besitzer zurückfällt, gleichviel ob er u. seine Nachkommen in d. Zwischenzeit veramrt sind, spricht von echter Menschlichkeit. Hier liegt ein Versuch zur Lösung d. socialen Frage vor, welcher jedenfalls durchgreifender und ethischer als viele andere ist […] [Seite 14] Im 4B. finden wir neben den Vorschriften üb. d. Passahfest, das auch der Fremde mitfeiern soll, die Wiederholung des Gebotes: eine Satzung sei für d. Fremden u.f.d. Eingeborenen u. 5 Cap. später die bedeutungsvolle Steigerung »eine Satzung bei euren Geschlechtern, – also nicht bloss jetzt in der Wüste, wo ihr als heimatlose Flüchtlinge umherirrt, sondern auch später, wenn ihr längst dahin, u. es euren Kindesu. Kindeskindern gut geht in dem Lande, da Milch und Honig fliesst, auch dann soll sein: eine Lehre u. ein Recht für euch und für d. Fremdling, der unter dir wohnt.« U. nun das grossherzige Wort, das mich als Nichtjüdin immer besonders ergriffen hat, »denn wie ihr, so ist auch der Fremdling gleich vor den Augen des Ewigen.« --- In diesem 4[B.] tritt ein neues Moment auf: der Schutzf.d. Verfolgten. Im 35 Cap. heisst es: »Wenn ihr nun über d. Jordan zieht, in das Land Kanaan, müsst ihr euch Städte auswählen, Zufluchtstädte sollen sie sein für d. Todtschläger, der einen Menschen erschlagen, aus Versehen. 3 Städte diesseits, 3 Städte jenseits des Jordans.« – der Mörder aus Absicht erfährt die ganze Strenge des Gesetztes; der Unglückliche aber der getödtet: »von Ungefähr, ohne Feindschaft, ohne aufzulauern, mit einem Stein, unversehens, aber er war sein Feind nicht u. suchte seinen Schaden nicht, den richte die Gemeinde u. rette ihn dann aus der Hand des Rächers u. bringe ihn in die Zufluchtstadt, wohin er geflohen.« Hier wirft der Midrasch die Frage auf: woher weiss der Fliehende wo die Zufluchtstädte sind? – Es sollen Merksteine errichtet, welche nach d. Zufluchtstädten hinweisen, damit der Fliehende nicht irre gehe. Angeknüpft [Seite 15] wird an Ps 25: »gütig u. gerade ist der Ewige, darum zeigt er Sündern den Weg.« – Was bewog die mosaische Gesetzgebung zu einer solchen Milde sogar dem Menschen gegenüber, der seines gleichen d. Lebens beraubt? Doch wol die Nächstenliebe. Gerade der Unglückliche, der mit belasteter Seele

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d. Heimat fliehen musste, gerade er fand Nachsicht u. Teilnahme. Seinem Schutz gilt ein ganzes Cap. d. heil. Schrift. Bekanntlich ist das ganze 5 B.M. eine Zusammenfassung des ethischen u. geschichtlichen Inhaltes d. vorangehenden 4 Bücher; so werden auch alle Bestimmungen über den Fremdling, d. Wittwe u. Waise, d. Armen u. Bedürftigen nebst den 10 Geboten wiederholt; beim Sabbathgebot aber steht, ein neues Wort, – ein einziges!! Im II B. war schon gesagt worden »du sollst am Sabbath keinerlei Werk verrichten, du (nämlich du, Mann u. Weib) u. dein Sohn u. deine Tochter nicht, dein Knecht u. deine Magd nicht, u.s.w., hier, [Seite 16] im 5B. aber wird der Grund angegeben: »damit dein Knecht u.d. Magd feiern wie du.« – Unsere Dienstboten sind Menschen wie wir; wenn sie auch vor der Gesellschaft niedriger stehen, vor Gott stehen sie auf gleicher Stufe mit uns; wie wir sollen sie ruhen, aber nicht blos ruhen, sie sollen den Tag des Herrn feiern, ihn feiern in Frohsinn u. Lebensgenuss, gut essen u. trinken, Sabbatkleider anziehen in Sabbatlust, – wie wir. Ich habe am Sonntag immer – von Kindheit an, still vergleichen müssen zwischen Gebot und Wirklichkeit u. da fand ich, zumeist, den dienstb. Geist d. Hauses noch geplagter als Wochentags, wegen reicherer Tafel, Besuch, Gäste, u.s.w. – wie es am Schabbes ist, weiss ich nicht. – »Und da wo Ihr Eure Heimat gef. Habt«, heisst es dann, da freuet Euch vor dem Ewigen, Ihr, eure Kinder, u. wie ihr, eure Knechte u. Mägde u. der Fremdling, u.s.w. dass sie geniessen u. satt werden., – auch später wird diese Aufforderung, dass Alle bes. [sic!] die von uns Abhängigen sich mit uns freuen sollen, wiederholt. Nichts von Weltentsagung u. Lebensverachtung, – nein, im Gegenteil. Das Dasein, das Gott dem Menschen schenkte, soll er in Freudigkeit geniessen u. wenn man zur festgesetzten Zeit seine Knechte u. Mägde entlässt, dann soll man sie nicht leer von dannen ziehen lassen, sondern sie beschenken, – ach, das Wort beschenk ist ja viel zu matt für die Fülle von Güte, die in dem Bibelwort liegt: aufladen sollst du ihm von d. Schafen, v.d. Tenne, von ›deines Kelter‹ nach d. Mass, wie der Ew.[ige] dich gesegnet, so sollst du ihm geben. Es wird so recht offenbar, wie im A.T. nicht blos die Pflicht, sondern [Seite 17] die mit Liebe und Güte gepaarte Pflicht gelehrt wird – Ja, das liebreiche ›jüdische Herz‹ gedenkt auch hier wieder nicht bloss der Menschen, sondern auch der Thiere. »Koche nicht das Böcklein in der Milch seiner Mutter« wird hier Cap. 14 wiederholt, u. Cap. 22 wird von neuem des verirrten Thieres gedacht; man solle es seinem Eigentümer zurück bringen, u. wenn man diesen nicht kennt, so soll man es behalten u. pflegen, bis er es zurückfordert. »Dann gib es ihm wieder« heisst es ganz einfach. – Man soll nicht mit Ochs u. Esel zusammen pflügen. – Warum nicht? Weil dieser schwächer ist als jener also die Arbeit ungleich verteilt ist. Aus demselben Grunde wird vermutlich auch verboten mit zweierlei Samen zu säen: die kräftigere Pflanze wird die schwächere erdrücken. »Du sollst dem Ochsen, wenn er drischt, nicht das Maul verbinden; in alten Zeiten nämlich ersetzte das Stampfen des Ochsen die Dreschpflegel; die natürliche Begierde des Thieres bei der Arbeit soll nicht unbefriedigt bleiben. So sich ein Vogelnest vor dir sich findet auf dem Wege, auf irgend einem Baum oder auf der Erde, Kücklein oder Eier darin, u. die Mutter liegt auf den Kücklein oder Eiern, so nimm nicht die Mutter sammt den Jungen; entlassen sollst du die Mutter u. die Jungen [Seite 18] dir nehmen.« – Warum diese u. nicht jene? – Die Stelle wird als eine ›dunkle‹ bezeichnet, aber ich deute sie mir ganz einfach, die Mutter kann sich allein weiterhelfen und wird wieder Junge kriegen, die Jungen aber ohne die Mutter wären verloren. Wenn man diese Bestimmungen

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prüft, die es nicht verschmähen das herabfallende Vogelnest im heiligen Gesetzbuch zu schützen, dann versteht man, wie einzig u. allein bei den Juden niemals Thiergefechte stattfanden. – Den anderen Völkern gebührt der traurige Ruhm Thierquälerei als Zeitvertreib eingeführt, u. bis auf den heutigen Tag beibehalten zu haben! Von den Stierkämpfen der gläubigen Spanier u. Südfranzosen bis zu den Hahnenkämpfen der nochcivilisirten Engländer u. Chinesen, – abgesehen von dem allerwärts beliebten Renn-Hetzu. Jagdvergnügen! – - – Diese gütige Gesinnung Israels erstreckt sich sogar auf leblose Dinge. In Kriegszeiten – (denn das es in Friedenszeiten aus Übermut geschehen könnte, wie wir es heutzutage erleben) – schien undenkbar, – in Kriegszeiten sollte kein Baum umgehauen werden. »Ist denn der Baum des Feldes ein Mensch, dass er vor dir in Belagerung komme?« – Merkwürdig ist das Gebot: »du sollst nicht ausliefern seinem Herrn einen Knecht, der sich zu dir gerettet vor seinem Herrn; bei dir soll er wohnen, in deiner Mitte, an einem Ort, den er sich erwählen wird, wo es ihm gut dünkt; du darfst [Seite 19] ihn nicht bedrücken.« Ich glaube diese Bestimmung steht einzig da. Bei anderen Nationen galt der Knecht als Sache; die abhanden gekommene Sache musste ausgeliefert werden; in der That scheint diese Beschützung des Fortgelaufenen wie eine Beeinträchtigung seines Gebieters, allein es heisst, der Knecht, der sich ›gerettet‹ vor seinem Herrn, also einer Gefahr, einer Lebensgefahr viell. Sich entzog; aus Menschenpflicht sollte er beschützt werden, mochte sein Herr zur Strafe; dass er ihn grausam behandelt, den Verlust tragen! – Die Bestrafung d. Mangels an Nächstenliebe nimmt im Judentum einen grossen Raum ein. Wie scharf ist die Verwarnung gegen Ammon u. Moab! »Weil sie euch nicht entgegengekommen sind, mit Brod u. Wasser, als ihr auszogt aus Ägypten«, u.d. Andenken Amaleks soll ausgelöscht werden, »weil er dich schlug als er dir begegnet auf dem Wege da du matt u. müde warst.« – Schwer ja schauerlich sind die Verwünschungen gegen den, der seinen Mitmenschen ein Leid antut. [Seite 20] Dagegen wer die Gebote des Ew.[igen] also die Geb. d. Nächstenliebe beobachtet, der wird gesegnet. G.A. – Als ich den Ged.[anken] fasste, Beweisef. die Nächstenliebe im A.T. zu bringen, da fragte ich mich, ob ich wol Belegstellen genug finden würde, um einen Vortrag daraus gestalten zu können, nun denn: die Zeit ist um, die mir gegönnt ist, u. wir haben erst die 5 B.M. durchgenommen. Noch bleiben die übrigen geschichttl. Bücher, die Apokryphen, die Psalmen. Noch bl.[eiben] die an Aussprüchen der Nächstenl. überreichen Spr.[üche] Sal.[omos], noch bl.[eiben] die Profeten; ich nenne mir den einen: Jesaias. Und Ruth – Hiob – - Unser Thema: die N.[ächstenliebe] im A.T. ist eben so umfassend, dass ein 2. Vortrag kaum genügt, den Rest, d. wunderr. Rest! Zu umspannen. Zeigen uns d. 5 B.M. wie das Gesetz die Nächstenl. lehrt u. gebietet, so kündet uns die phil. U. poet. B[ücher] der heiligen Schr.[ift] durch lebendiges Beispiel u. leuchtendes Vorbild Wert u. Wesen echter Nächstenliebe! Es wäre lächerl., wenn es nicht so beschämend wäre für viele Leute zu sagen, das A.Test. kenne die Nächstenl. nicht – man prüfe es nur u. man wird finden, nicht nur in der Nächstenl. in Allem, was hoch u. heilig ist, bl. das A.T das Lehrbuch der Menschheit! – - Viell. Wird die Zeit kommen, wo die Völker kundiger u. darum gerechter sich erinnern werden, das sie die Lehre der Nächstenliebe Israel zu danken haben.

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A5.4 Nächstenliebe im Talmud Nächstenliebe im Talmud29 Vortragsmanuskript von Nahida Remy (1892) Die Nächstenliebe im Alten Testament stellt sich uns in zwei, deutlich von einander unterschiedenen Gruppen dar: die 1. Gruppe, die 5 Bücher Moseh zeigt die Nächstenliebe im Schutz u. Schirm des Gesetzes; die 2. Gruppe aller übrigen Schriften der Bibel zeigt d. Nächstenliebe in der Geschichte, in Philosophie, Ethik u. Dichtkunst. – Die mosaische Gesetzgebung des Pentateuchs gründet die beiden Eckpfeiler: ›du sollst‹ und ›du sollst nicht‹, auf denen das Dasein des Culturmenschen sich aufbaut, gleichviel ob er Christ oder Jude ist, ob er vor 3000 Jahren od. heute die Sonne sah – Die philosophischen, profetischen u. poetischen Büchern geben zu diesem mosaischen Gesetz die gedankenvolle Erläuterung, das lehrreiche Beispiel, das ideale Vorbild. Herrscht im Pentateuch die feste Zucht, der strenge Zwang des Richters, so kündet der Profet, der Psalmist, der Spruch- [Seite 2] dichter, was des Menschen eigene Erkenntniss u. freier Wille vermag. – Da die Nächstenliebe im Licht der Mosaischen Gesetzgebung bereits Gegenstand eines anderen Vortrages war, so darf ich mich heute auf nur wenige Bemerkungen beschränken. Wir fanden im Pentateuch ausser unzähligen Schutzmassregeln für den Armen, den Bedürftigen, den Fremdling, die Waise u. die Wittwe, fort und fort die wiederholten, bald herlich-innigen, bald zürnend-drohenden Aufforderungen zum Gut-sein und Recht-handeln, als Krone der alttestamentlichen Morallehre aber göttlichgrosse Wort im III Buch Moseh, Cap. 19: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Es wird auch im Neuen Test. angeführt, doch während d. N.Test. auf ein Jenseits verweist und den Menschen gänzlich von einem Vermittler abhängig macht, fordert das alte Testament für das Diesseits die volle u. selbstständige Idealität der Lebensführung. Arm und Reich, Hoch und Liedrig, Eltern, Kindern, Gatten, Freunde [Seite 3] Unmündige, Staatsbürger, – alle sollen nicht blos miteinander, sondern für einander leben, denn – das Sinai-Gesetz lehrt eine practische Moral des Menschen dem Menschen gegenüber und wieder gipfelt die Forderung jeglicher Pflichterfüllung in dem Gebot des III B. Moseh Cap. 19: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Vielleicht fragt man – u. es ist gefragt worden – wer ist mein Nächster? Hatte ich zu Anfang gedacht: »der ist mein Nächster, der das Gute will, u. der an Gott glaubt.« Aber mit dem fortschreitenden Verständnis d. heil. Schrift, wurde ich eines Besseren belehrt. Jeder Mensch ist mein Nächster, Jeder der im Ebenbilde Gottes geschaffen. Und besonders derjenige, der uns hilft u. liebesbedürftig uns in den Weg tritt, der ist unser Nächster, dem sollen wir Liebe erweisen. Auch dem Bösen sollen wir Gutes thun, auch dem Gottlosen, ja das Beste sollen wir ihnen erweisen: nämlich sie zu bessern suchen. – Im Talmud sagt Jemand: Alle die den Willen Gottes erfüllen, sind Kinder Gottes, sonst nicht – da tritt ihm ein Anderer entschieden entgegen u. sagt: ob Einer den Willen Gottes 29

Remy, Nahida (1892): Die Nächstenliebe im Talmud (II.). Vortragsmanuskript vom 17.12.1892, S. 1–21, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125.

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erfülle oder nicht, – Kind Gottes bleibt er dennoch! – [Seite 4] Und der letzte Profet beantwortet die Frage: »wer ist mein Nächster« klar deutlich: wir sind alle Geschöpfe eines Gottes, Kinder eines Vaters! ---– Noch Eins. D. Nächstenliebe des Alten Test. offenbart sich auch ganz besonders in den Bestimmungen über die Behandlung der Fremden und Ausländer. – Wenn man bedenkt, wie schwer Israel gelitten unter dem Joch der Fremdherrschaft, wie es verachtet u. erniedrigt, gequält und ausgebeutet worden, so fasst mich immer wieder ein tiefes Staunen, wie es möglich war, dass dieses selbe Volk so verzeihen u. vergessen konnte! – Noch an den Wunden blutend, die ihm geschlagen, zeigt es eine Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die beispiellos ist in der Geschichte anderer Völker. Und diese Menschenfreundlichkeit ist nicht etwa die Aufwallung eines noch ungebrochenen edlen Geistes und frommen Gemütes, sondern das Ergebniss klaren Denkens u. es krystallisirt sich als Gesetz in der Verfassung! – Eine Satzung sei für den Fremden, wie für den Eing[…], eine Lehre u. ein Recht sei für Euch u. für den Fre[…] [Seite 5] denn wie ihr, so ist auch der Fremdling gleich vor den Augen des Ewigen. Darum: »liebt den Fremdling, denn Fremdlinge wart Ihr im Lande Ägypten und ihr wisst ja wie dem Fremdling zu Muthe ist!« – Thut ihm nicht so, wie Euch geschah! – - – Heute nun wendet sich unsere Betrachtung der genannten zweiten Gruppe der biblischen Bücher zu, den geschichtlichen, philosophischen und poetischen heiligen Schriften. Sie enthalten in ihrem zu Grunde liegenden Gedankengang so viele Beweise für alttestamentl. Nächstenliebe, dass bei der Fülle Beschränkung nötig ist, natürlich Beschränkung auf die Kanonischen Bücher: obwohl Salomonis u. Anderes überreich ist an Aussprüchen echter Menschenfreundlichkeit. Ich gehe der Reihe nach. Das an das fünfte Buch Moseh sich enganschliessende Buch […] spricht man doch neuerdings von einem […] [Seite 6] enthält ausser der Lebensrettung der Kundschafter durch Rachab, welche auch durch ihre treue Verwandtenliebe bemerkenswerth ist, – nähere Bestimmungen über die Freistädte für den Verfolgten, d.h. den Unglücklichen, der einen Menschen erschlagen »aus Versehen, ohne Wissen, und er war ihm nicht feind.« Schön ist im Buch Josua, die Anhänglichkeit des Volkes an Gott geschildert, in den wiederholten Rufen: »fern sei es von uns den Ewigen zu verlassen! Ihm wollen wir dienen und seiner Stimme gehorchen!« Das Buch der Richter, Samuel, die Könige sind durchaus kriegerischen Charakters. Der milde Stral der Nächstenliebe kommt in ihnen weniger zur Geltung. Wo Krieg wüthet, weicht die Menschlichkeit scheu zurück. Dennoch wird selbst hier, in den harten Kriegszeiten jede unnütze und frevelhafte Verletzung der Menschlichkeit streng bestraft. Nur ein Beispiel. Im Buch der Richter findet sich eine Episode, die ich lieber nicht berühren möchte, die aber so wenig fehlen darf, wie der Schatten im Gemälde. Auf dem Rückweg in ihre Heimat, nach Sonnenuntergang, kommen Mann u. Weib durch ein fremdes Land. Sie sind erschöpft u. wissen nicht wo übernachten. »Und siehe, ein alter Mann kam von seiner Feldarbeit am Abend u. er erhob seine Augen [Seite 7] u. sah d. Wandernden auf d. Strasse; da sprach d. alte Mann: »wohin gehst du u. woher kommst du?« u. nachdem er Auskunft erhalten: »Friede mit dir! Ich will für dich sorgen. Auf der Strasse darfst du nicht übernachten.« Und er brachte sie in sein Haus, fütterte die Esel, sie wuschen ihre Füsse, assen u. tranken u. ihr Herz war froh. – Doch die Leute der Stadt, die von der Art von Sodom waren, begehen ein furchtbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit u. furchtbarer noch ist das Strafgericht Gottes in dem entbrannten

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Rachekrieg. Die Schuldigen werden ausgerottet, die sündige Stadt geht in Flammen auf. – Der ganze grenzenlose Gräuelvorgang berührt wie das Brausen roher, elementarer Naturgewalt. Fast möchte man glauben diese Schilderung sei Jahrhunderte vor der Abfassung der ähnlichen aber viel milderen Geschichte Lots entstanden. – Das Buch Samuel enthält viele Zuge liebevoller Gesinnung u. in dem Verhältniss zwischen Jonathan u. David ein unvergängliches Vorbild für Leben u. Dichtung aller Zeiten. Der Königssohn hätte wol eifersüchtig werden können auf die allgemeine Liebe, die David fand, – aber keine Spur von Missgunst od. verletzter Eigenliebe! Und keine Spur von Überhebung von Seiten Davids! – Auf Hochachtung begründet, in Gefahren geprüft, bis in den Tod bewährt, knüpft sich hier ein Band der Nächstenliebe. – »Was deine Seele spricht will ich dir thun,« sagt Jonathan u. gebraucht hiermit einen klassischen Ausdruck für die Hingebung eines Menschen [Seite 8] für den Anderen. Und wie treffend ist das Bild: es kettete sich die Seele Jonathans an die Seele Davids. – Und Jonathan zog den Rock aus, den er anhatte, u. gab ihn David u.d. Rüstung, das Schwert, seinen Bogen u. seinen Gürtel u. es schlossen Jonathan u. David einen Bund, da er ihn liebte wie seine Seele. – Auch David beweist opferwillige Nächstenliebe: trotzdem Saul ihm nach dem Leben trachtet, schont u. schützt er ihn u. als er einmal ihm zum Beweise, dass Saul in seiner Gewalt gewesen, in einer Höhle heimlich den Zipfel des Mantels abschneidet, »klopft ihm darüber das Herz«. Liebevoll sagt er – später einmal – zu dem verfolgten Sohn des Achimelech: »bleibe bei mir, fürchte Nichts. Wohl bewahrt bist du bei mir!« Um seiner mit ihm in der Wüste weilenden Genossen wegen – bedrängte verbitterte Leute – bittet er den ein Fest feiernden reichen, schwelgerischen Nabal um eine Gabe an Speise u. Trank. Nabal lässt zurücksagen: »Wer ist David, Wer der Sohn Isais? Soll ich Leuten geben, von denen ich Nichts weiss?« Trefflich ist hier die Art d. Geizigen gebrandmarkt, der, um nicht geizig zu erscheinen, eine verwunderte Miene aufsetzt, als sei die an ihn gerichtete Zumuthung eine Beleidigung fast, so dass der Arme, statt beschenkt, beschämt von dannen zieht. Aber Nabals kluges und schönes Weib Abigail sendet flink dem David schwerbepackte Esel entgegen mit zweihundert Broden, ebensovielen Kuchen, Wein u. Braten u. folgt dann selbst und weiss echt weiblich u. echt menschlich den Erzürnzen zu versöhnen u. das Unrecht ihres Mannes wieder gut zu machen. – So trifft man mitten in allen Kriegsberichten immer wieder auf Äusserungen des Wohlwollens. Durstende werden getränkt, Hungrige gesättigt, Wanderer gepflegt, [Seite 9] Verirrte heimgeführt, ja David sorgt dafür, dass Kriegsbeute nicht bloss den Siegern zufällt, sondern dass auch die zurückgebliebenen Schwachen u. Kranken ihren Anteil erhalten. Aller Siegestriumpf u. Königsglanz hindert ihn nicht pietätvoll der Todten zu gedenken; er erkundigt sich: »ist noch Jemand da aus dem Hause Sauls, dass ich ihm Liebe erweisen um Jonathan willen?« u. als ihm der lahme Mefiboschet genannt wird, lässt er ihn holen u. königl. verpflegen. Noch einmal gebraucht David das Wort: ›Liebe erweisen‹ als er Channun’s, Sohn Nochosch‹, gedenkt: »ich will ihm Liebe erweisen, wie sein Vater mir Liebe erwiesen hat.« Liebe erweisen! das Wort war nicht verloren gegangen, trotz aller Sünde der Zeit. Wundervoll spiegelt sich dieser Geist d. Ewig-Guten in der Art wie David das Gleichniss des Nathan aufnimmt; nachdem der König sich mit dem Weibe des Uriah vergangen, spricht der Prophet zu ihm: »Zwei Männer waren in einer Stadt, der Eine reich, der Andere arm. Der Reiche hatte viele Schaafe u. der Rinder viel. Der Arme hatte

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aber Nichts als ein kleines Schäflein, u. er erzog es, es wuchs auf bei ihm, von seinem Bissen ass es, aus seinem Becher trank es, in seinem Schoose schlief es, denn es war ihm wie ein Kind. – Da kam ein Wanderer zu dem reichen Manne u. diesermochte zur Bewirtung d. Reisenden nicht von d. eignenen Schaafen u. Rindern nehmen, sondern er nahm dem armen Mann sein Schäflein weg u. bereitete es zu für den Fremden, der zu ihm gekommen.« – Da entbrannte der Zorn Davids [Seite 10] über den reichen Mann u. er rief: »der Mann ist des Todes schuldig«, Nathan aber spricht: »Du bist der Mann!« In dem Buch der Könige erregen besonders die Gestalten Elias’ u. Elisa’s unsere Teilnahme. Der Profet Elia ist der Mann starken u. mächtigen Eifers, – gerade ihm, dem thatgewaltigen Eiferer wird die symbolische Deutung zu Teil: der Sturm braust daher – nicht im Sturm ist Gott, – das Erdbeben erschüttert den Boden, nicht im Erdbeben ist Gott, – die Flamme lodert empor, nicht im Feuer ist Gott, – da weht ein sanfter Hauch – in ihm ist Gott. Wolthun u. Liebe sind das Bild göttlichen Waltens. – Einfacher erscheint Elisa in seinem menschenfreundlichen Thun. Seine Vermehrung der Brode, die Wiedererweckung des Todten, die Heilung d. Aussätzigen, sein trockenen Fusses durch das Wasser gehen u.a. Mehr – zum Teil wörtlich im N. Testament nachgebildet, (wie auch die wunderbare Verkündigung eines Sohnes) gehört in das Gebiet der Sage. immerhin ist die humane Gesinnung dieser Sagen bemerkenswert. Charakteristisch dafür ist die Antwort Elias’, als der König ihn fragt, ob er die Feinde erschlagen solle? »Nicht sollst du sie erschlagen. Erschlägst du denn die Gefangenen mit deinem Schwert u. Bogen? – Setze ihnen Brod u. Wasser vor, dass sie essen u. trinken, dann mögen sie zu ihrem Herrn ziehen.« Da bereitete er den feindlichen Schaaren ein grosses Mahl u. sie assen u. tranken u. dann entliess er sie u. sie kehrten zu ihrem Herrn zurück. Zu dem stets so liebevoll Hilfsbereiten [Seite 11] steht ein Weib in Beziehung, das gleichfalls Nächstenliebe übt, aber in ganz schlichter, natürlicher Weise. Der Mann Gottes geht im Lande umher und kommt nach Sunem und dort ist ein angesehenes Weib, das ihn unaufgefordert mit Speise u. Trank erquickt. Und allemal wenn er durchzieht, nöthigt sie ihn bei ihr zu essen; eines Tages spricht sie zu ihrem Manne: »sieh, ich weiss ein frommer Mann ist der Wanderer, – lass uns doch ein kleines Oberzimmer auf die Mauern bauen, und wir wollen ihm ein Bett hineinsetzen, einen Tisch, einen Stuhl und einen Leuchter, damit er da friedlich einkehre und wohne!« Welch ein liebliches Bild freundwilliger weiblicher Fürsorge! Wir kommen nun zu einem Namen d. einen erhabenen Klang hat, wie nach Moseh kein zweiter – - Jesaias. Gleich im I. Cap. setzt er mächtig ein: »Hätte der Ewige der Heerschaaren den kleinen Rest nicht gelassen, wir wären wie Sodom, Amorah glichen wir. – Höret des Ewigen Wort, ihr Sodomsfürsten, merk auf unseres Gottes Lehre, du Amorahvolk! – Waschet Euch! Reinigt euch, schafft das Böse eurer Werke hinweg aus meinen Augen, hört auf zu freveln; lernet Gutes thun, suchet das recht, helfet dem Unterdrückten, schafft der Waise recht, führt den Streit der Wittwe! Der da macht das Recht zur Richtschnur u. die Gerechtigkeit zur Wage. Geht ins Gericht mit den Fürsten des Volkes: Ihr habt den Weinberg abgeweidet, der Raub d. Armen ist in euren Häusern! – Warum drückt ihr mein [Seite 12] Volk? Zermalmt das Antlitz d. Armen? Wehe denen, die aus dem Gericht drängen die Bedürftigen das Recht rauben meines Volkes Bedrängten, Wittwen sind ihre Beute, Wai-

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sen plündern sie . . . Was werdet ihr thun am Tage der Verödung? Am Tage d. Vergeltung? Zu wem wollt ihr fliehen um Hilfe? Wo lassen eure Herrlichkeit-? Darum … »bringe Rath, schaffe Vermittlung, schütze die Vertriebenen, den Flüchtling entdecke nicht, den Verfolgten bringe in dein Haus, Löse die Bande des Joches, befreie die Unterdrückten, brich dem Hungrigen dein Brod u. wenn du deine Seele dem Hungrigen spendest (nicht blos dein Brod) u. du sein bedrücktes Gemüt erquickest, – - heil dir! Dann erstrahlt im Finstern dein Licht u. du wirst sein, wie ein getränkter Garten!« Von Jesaias nichts mehr. Er ist zu erhaben, um ihn flüchtig zu erwähnen. Er – der erste u. der zweite verdient eine besondere Betrachtung, von einem Manne, der in sich selbst einen Hauch des Jesaias spürt. Jeremias – (der nebenbei bemerkt das Wort von der Gnade Gottes bis ins tausendste Geschlecht wiederholt) – spricht oft von den Armen, den Waisen u. Wittwen. Von ihm nur zwei Stellen: Wenn ihr bessert euren Wandel u. eure Werke, wenn ihr Recht übet Einer mit dem Anderen, Fremdling, Waise u. Wittwe nicht drücket, [Seite 13] so werde ich euch wohnen lassen an diesem Ort. – Also spricht der Ewige: nicht rühme sich der Starke seiner Stärke, der Kluge seiner Klugheit, der Reiche seines Reichtums, sondern der rühme sich (der sich rühmen will), der mich versteht u. erkennt, dass ich der Ewige bin, der Recht u. Gerechtigkeit auf Erden will u. der Liebe übt.« – Mehr aber als alles Andere zeugt von der Hoheit der Gesinnung u. Menschenliebe im Jeremias die Thatsache, dass während bei allen anderen Völkern – auch bei den christlichen – die Sklaverei noch Jahrtausende fortdauerte, Jeremias darauf drang die Sklaverei aufzuheben, Sklaven u. Sklavinnen in die Freiheit zu entlassen. Könige und Aristokraten gehorchten seinem Worte. Als sie aber später die Sklaven mit Gewalt wieder unterwerfen, verkündet er den Untergang des Reiches wegen dieser Unthat. Jecheskel enthält ein ganzes langes Capitel von 32 Versen, welches sich nur mit den Pflichten gegen den Nächsten beschäftigt; es ist bemerkenswert durch den gedankentiefen Grundsatz, dass der Gerechte, der aber von seiner Gerechtigkeit sich abwendet u. Unrecht thut, todeswürdig sei, der bisherige Frevler aber, der von seiner Schechtigkeit sich bekehrt und gut wird, das Leben verdiene. Gegen Schluss des Buches wird ganz besonders des Fremdling gedacht: »er soll euch sein, wie ein Einheimischer unter den Söhnen Israels u. in welchem Stamm der Fremdling sich aufhält, daselbst gebet ihm ein Erbteil, spricht der [Seite 14] Herr, der Ewige«. Nennt doch schon der II Jesaias die Fremden »eure Brüder aus allen Nationen«, auch von ihnen werde ich nehmen zu Priestern u. Leviten, spr. D. Herr. Die sog. kleinen Profeten zeichnen sich vor Allem durch eine grossartige Vergeltungstheorie und zugleich durch ihr Mitleid aus. Während Hosea droht, dass der Ewige einen Rechtsstreit habe mit den Bewohnern des Landes, weil keine Liebe sei und kein Erbarmen, findet er doch gleich wieder beglückende Worte des Trostes und kaum hat Joel das Grossartige Naturbild der Heuschreckenplage mit wahrer Künstlerhand und echtem Künstlerauge geschaut und gezeichnet, so erinnert er den Menschen daran, dass der Ewige gnädig u. barmherzig sei, langmütig u. voll Huld sich bedenkend wegen des Unheils. Amos, der Hirte von Thekoa, merkwürdig plastisch und realistisch in seiner Redeweise, wendet sich gegen die Reichen und Vermögenden. »Weil ihr den Armen drückt u. das Getreide ihm kürzet, habt Ihr Euch Paläste gebaut, – ihr sollt nicht drinnen wohnen! – - – Anmutige Weinberge habt ihr gepflanzt: ihr sollt den Wein

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daraus nicht trinken, denn ihr bedrängt den Gerechten und beuget d. Dürftigen« . . . Er fasst seine Lehren zusammen in das kurze Wort: Hasset das Böse u. liebet das Gute! [Seite 15] Das einzige Cap. das Obadja gedenkt der Tage des Unglücks, die über unsere Nächsten kommen können, und warnt vor Schadenfreude: »wie du gethan, wird dir gethan, Vergeltung kommt auf dein Haupt.« In Jonah findet sich ein unscheinbarer, aber liebenswürdiger Zug von Nächstenliebe in dem Zögern der Schiffsleute zu ihrer eigenen Lebensrettung den Jonas ins Meer zu werfen. Auch die Art wie Gott durch das Beispiel mit dem Kikajon Jonah belehrt, dass u. wie man Liebe u. Nachsicht üben müsse, ist so lieblich wie lehrreich. Niniveh soll um ihrer Sünden willen zerstört werden, aber die Bewohner bessern sich u. Gott übt Gnade. »Das missviel Jonah gar sehr u. verdross ihn« und in Form eines Gebetes raisonnirt er eigentlich mit d. Ewigen. »Siehst du, Ewiger, wusst ichs nicht, dass mein Herkommen ganz unnütz war?, dass du doch gnädig u. barmherzig sein würdest, langmütig u. voll Huld, dich bedenkend wegen des Unheils -?« Übellaunig sitzt er unter seinem Kikajon, da lässt Gott den schattenspendenden Kikajon eingehen u. Jonah, schmachtend im Sonnenbrand, wünscht sich den Tod. Da spricht der Ewige: Dir ist es leid um den Kikajon, mit dem du keine Mühe gehabt, den du nicht grossgezogen, der in einer Nacht entstanden, in einer Nacht entschwunden ist u. mir sollte es nicht leid thun um die grosse Stadt mit den Myriaden Menschen u. dazu das viele Vieh -? Dieser Gegensatz zwischen dem selbstgerechten, tadelsüchtigen Menschenkinde u. dem Schöpfer, der nicht nur die Myriaden Sünder, sondern das Vieh in seiner Gnade […]. [Seite 16] Im Gegensatz zu der legendenhaften Moral d. Jonah u. durchaus geschichtlich sind dagegen die erhabenen Reden Micha’s. Er lässt den Menschen fragen, wie und womit man Gott dienen könne? U. erteilt die klare Antwort: nicht mit Opfern u. Ceremonien, sondern »Verkündet hat er dir, o Mensch, was gut u. was der Ewige von dir fordert: nichts als (ki im) Recht zu thun, Gnade zu üben und demüthig zu wandeln vor deinem Gott.« – In seiner mächtigen Rhetorik ruft Habakuk Wehe! Dem zu, der Raub raubtf.s. Haus, die Stadt bauet mit Schuld, die Burg gründet mit Unrecht! – Diesen unermüdlichen Warnungen und Drohungen gegenüber die auch Zephanja leidenschaftlich wiederholt, »nicht ihr Silber u. nicht ihr Gold vermag die zu retten, die in fremdes Kleid sich kleiden,« – diesen Drohungen zur Seite gehen die Mahnungen des sanfteren Haggai und des träumerischen Sacharia, dass der Mensch seinen Sinn auf seinen Wandel richten und Liebe und Barmherzigkeit Einer dem Anderen erweisen möge! [Seite 17] All diese Aussprüche der kleinen Profeten sehen wir wie eine Schnur von Perlen aneinandergereiht; mit einem goldenen Schloss schliesst sie der letzte der Profeten Maleachi mit der immer noch zeitgemässen wehmüthigen Frage Wie? Ist nicht ein Vater uns allen? Hat nicht ein Gott uns geschaffen? – Warum ist denn treulos einer gegen den Anderen -? – -–Von den Hagiografen lasse ich die Klagelieder u. das Hohelied aus; jene sind lediglich dem tiefsten Leid, dieses der höchsten Lust geweiht. Von den Psalmen nur einen ganz einfachen Spruch; die Fülle nämlich aller auf den Mitmenschen bezüglichen Stellen, ist zu philosophisch tief u. schwer, um sie flüchtig zu citiren; es wäre wie Entweihung – »Heil, dem der des Dürftigen Fürsorger ist, am Tage des Unglücks rettet ihn der Ewige.« – Klarer u. volkstümlicher reden Salomonis Sprüche. »Weigere die Wohlthat nicht, dem sie gebührt, wenn es in deiner Kraft steht, sie zu geben. Sage

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nicht zu deinem Nächsten: geh u. komm wieder, morgen will ich dir geben, wenn du es heute schon hast. – Sinne nichts Böses gegen deinen Nächsten, der unbesorgt bei dir wohnt. Hadre nicht mit einem Menschen ohne Ursache – ein treues Gemüt verbirgt den Fehl des Anderen. Ein friedig Herz gedeiht u. wer tränkt, der wird getränkt. Wer Gutes sucht, findet Wohlgefallen u. wie Laub grünen die Barmherzigen. Ja, sogar wie seinem Vieh zu Mute ist, weiss der Gerechte, aber des Frevlers Herz ist hart; er führt mit Absicht den Nächsten irre, der Gerechte aber, warnt den Nächsten; wer seinen Nächsten geringschätzt ist ein Sünder, wer aber gegen Gebeugte wolthätig ist, heil ihm! Sein Licht brennt fröhlich! Doch wehe, wird en Armen bedrückt, er lästert seinen Schöpfer! Doch der barmherzig gegen den Dürftigen ist, der ehr Gott selbst, der mildthätig gegen Arme ist, er leiht […] u. wer dem Hilflosen hilt, den segnet Gott.« [Seite 18] Unendlich ist die Fülle der auf Nächstenliebe bezüglichen Sprüche – doch der königliche Weise mahnt nicht nur »verrücke nicht die alte Grenze u. in der Waisen Felder komme nicht,« – er weiss, dass das mehr als Naturanlage Erziehung die Handlungen des Menschen beeinflusst. »Schon am Knaben wird erkannt, ob lauter, ob gerade sein Thun, u. wenn er die Zuchtruthe fühlt, er stirbt nicht gleich davon! – Ist zügellos der Knabe, ist zügellos das Volk!« – Ja, Eine Situation, die man oft beobachten kann, wird hier gebrandmarkt: wenn Einer seinen Nächsten kränkt u. dann unschuldig thut u. meint: »habe ich nicht gescherzt?« Bisher war von dem Verhältniss eines Mannes zum Genossen und Freunde die Rede, aber auch Salomo kennt die Menschlichkeit als solche jedem gegenüber, gleichviel wer er auch sei! In edler Unparteilichkeit sagt er im 25 Capitel V. 21, Wenn dein Feind hungert, so gib ihm Brod zu essen, u. wenn ihn dürstet, gin ihm Wasser zu trinken! Aus dem sinnvollen Kohelet nur Folgendes: Besser zu Zwei, als Einer, denn wenn Einer fällt richtet ihn der Andere wieder auf, aber wehe dem Einzelnen, der da fällt u. kein Zweiter, der ihn aufrichtet! – Wenn du Unterdrückung des Armen siehst, Beugung d. rechts im Lande, ereifere dich nicht zu sehr! Denn über die Gewaltthätigen herrscht ein Gewaltigerer u. über die Hohen ein Höherer! – [Seite 19] Die Vergeltungstheorie im Buch Esther ist bekannt. Mangel an Nächstenliebe wird durch sich selbst bestraft. Auf ein Wort sei jedoch hingewiesen, obwol es nicht d. Menschenliebe im Allgemeinen, sondern die Treue zu den Volksgenossen betrifft. Als durch Hamans Umtriebe die Gefahrf.d. Juden am höchsten gestiegen, spricht Mordechai zur zögernden Esther: bilde dir nicht ein allein gerettet zu werden von allen Jehudim, denn wenn du schweigst, wird uns von anderer Seite Rettung erstehen, du aber wirst untergehen, denn weisst du nicht, ob du nicht gerade wegen einer Zeit wie diese Königin geworden bist? Der alte Demokrat meint: wozu ist dir, als Jüdin, die Königskrone geworden, wenn nicht um Gutes zu thun u. Unrecht zu hindern? [sic!] – Esther antwortet auch ohne weiteres: »ich gehe zum König, obgleich es nicht erlaubt ist, – komme ich dann um, komme ich um.« – Nicht minder mutig u. pflichtbewusst ist Daniel, wenn er – nach der Deutung der Träume Nebucadnezars seine für die Majestät nichts weniger als erfreuliche Rede mit den Worten schliesst: Darum, o, König, rathe ich dir, löse deine Sünden durch Gerechtigkeit u. deine Schuld durch Gnade gegen die Bedürftigen. Viell. Wirst du noch glücklich! – Die Bücher Esra, Nehemia u.d. Chronik enthalten noch Manches an Recht u. Gerechtigkeit für den Nächsten, aber ich eile zum Schluss. Aus der reichen Gallerie

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biblischer Charakterköpfe [Seite 20a] Darf somit Hiob in seiner thatkräftigen Hilfeleistung als das Ideal männlicher Nächstenliebe bezeichnet [werden], so erscheint eine andere biblische Gestalt in ihren gemütigen und zärtlichen Hingebung als das Ideal weiblicher Nächstenliebe. Ich weiss nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, dass ich ein Buch der Bibel ausgelassen habe, – u. zwar das liebenswürdigste. Eben desshalb nämlich weil es das liebenswürdigste ist, habe ich es uns für zuletzt aufgespart: das Buch Ruth. Wie beliebt von jeher diese feinsinnige u. gemütvolle biblische Erzählung war, zeigt auch der Midrasch, der fast jeden Vers mit ausführlichen Commentaren begleitet. Da es nichts von gesetzlichen Bestimmungen enthält, fragt R. Sera, warum denn dieses Buch überhaupt geschrieben sei? u. erzählt die Antwort: um zu zeigen, wie gross der Lohn der Menschenliebe sei! – Eine reiche Erläuterung knüpft sich an die Schilderung des gütigen Benehmens des reichen Boas gegen die arme ährenlesende Ruth; wie er aus den Garben ziehen und liegen lässt, damit sie es finde, wie er ihr Speise vorsetzen lässt u. »sie ass u. wurde satt u. liess übrig,« fast jedes biblische Wort hier dient als Text zu einer Belehrung über Wert u. Wesen der Wohltätigkeit. Besonders tritt der psychologisch bedeutsame Gedanke hervor, der im Namen Rabbi Josuas gelehrt wird: mehr als der Reiche dem Armen thut, thut der Arme dem Reichen. – Ruth selbst aber erscheint, wie die Verkörperung der Nächstenliebe. Ein mädchenhaftes Weib, so schön wie sittsam, voll Würde u. Lieblichkeit – so wird sie beschrieben, doch mehr als durch allen äusserlichen Reiz fesselt sie durch die Hingebung an die heimkehrende verwittwete Naomi. Diese, was kann sie Ruth bieten? Sie ist alt, schwach, arm u. betrübt, – doch gerade weil sie das ist, will Ruth Naomi nicht verlassen. [Seite 21b] Weil sie alt, will Ruth ihre Jugend, weil sie schwach, ihre Kraft ihr widmen, weil sie arm u. betrübt, bleibt sie bei ihr. Die Worte der Ruth sind für alle Teiten der klassische Ausdruck echter Nächstenliebe. »Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, wohin du gehest, will ich gehen, wo du übernachtest, will ich übernachten, dein Volk sei mein Volk, dein Gott sei mein Gott. Wo du stirbst, will auch ich sterben, nur der Tod soll scheiden zwischen mir u. dir.« -– Zur Belohnung für eine so hohe Auffassung der Menschenliebe wird die eingewanderte Ruth Stammutter des Davidischen Königsgeschlechts. Wie die fremde Ruth steht Israel unter den Nationen . . . . Es wird die Zeit kommen wo die Völker – kundiger u. darum gerechter als heute – sich erinnern, dass sie die Lehre der Nächstenliebe Israel zu danken haben. Dann wird, ohne nationale Schranken, die Nächstenliebe den Thron auf Erden einnehmen u. Israel als Ahnherr dieses Thrones anerkannt werden.

A6 Bibliografie Lazarus-Remy Gedruckte Werke Belletristik Lazarus, Nahida (1922): Liebe für Liebe, Treue für Treue, Meran. Remy, Nahida (1879): Constanze (an Else). Dramaturgisches Schauspiel in fünf Aufzügen. ›Bazar‹ illustrier, Berlin, R. Boll.

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Remy, Nahida (1879): Schicksalswege. Bürgerliches Volksschauspiel in vier Aufzügen. Mit illustriertem Bühnenaufbau. Manuskript von 98 Seiten, Berlin. Remy, Nahida (um 1880): Catincutza. Novelle, in: Sonntagsblatt der Volkszeitung Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Der Allerweltsvormund. Novelle. Manuskript von 29 Seiten, in: Sonntagsblatt der Volkszeitung. Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124. Remy, Nahida (um 1880): Deserteur. Dramaturgisches Schauspiel, Berlin, R. Boll. Remy, Nahida (1880): Die Grafen Eckardstein. Drama in fünf Aufzügen, Berlin, R. Boll. Remy, Nahida (1883): Zulla. Eine (kleinrussische) Idylle. Novelle. Manuskript von 31 Seiten, in: Sonntagsblatt der Volkszeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (1884): Domenico. Schauspiel. Manuskript, Berlin, A. Entsch. Remy, Nahida (1884): Nationale Gegensätze. Kulturhistorisches Schauspiel in vier Aufzügen, Typoskript, Berlin, A. Entsch. Remy, Nahida (1884): Ein Besuch bei Lessing. Festschrift zu Ehren Lessings 155. Geburtstagsfeier, Berlin, A. Entsch. Remy, Nahida (1886): Sizilianische Novellen, Berlin, Verlag von Richard Eckstein. Remy, Nahida (1887): Liebeszauber, Dramaturgisches Lustspiel. Remy, Nahida (1890): Geheime Gewalten. Kulturhistorischer Roman in zwei Bänden, Dresden, E. Pierson. Remy, Nahida (1890): Heißes Blut. 2. Auflage der Sizilianischen Novellen, Berlin, Eckstein’s Reisebibliothek. Sturmhoefel, Nahida (1870): Die Rechnung ohne Wirt. Lustspiel in einem Aufzuge, Wien. Sturmhoefel, Nahida (1872): Wo die Orangen blühen. Roman, Berlin, A. Entsch.

Zeitungsartikel Lazarus-Remy, Nahida: Die Neuberin. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida: Echegaray. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in:-The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida: Gallmeyer. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida: Hermann Vamberg. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida: Madame Récamier. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136.

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Lazarus-Remy, Nahida: Marie Kormann-Geistinger. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida: Menzel in Rütli. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida: Strackerjahn. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, archiviert in: archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida (1912): Viktor Emanuel – König von Italien, in: Quelle unbekannt, archiviert in:-von 1912, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida (1917): Csikos-Lied. Mit vier Strophen, in: Quelle unbekannt, archiviert in:-von 1917, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 134. Remy, Nahida: Aus der Gesellschaft. Berlin. (Berliner Gesellschaftsleben Ende der 2. Hälfte des vor. Jahrhunderts), in: Quelle unbekannt, S. 360–362, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida: Aus der Gesellschaft. Wien. (Berliner Gesellschaftsleben Ende der 2. Hälfte des vor. Jahrhunderts), in: Quelle unbekannt, S. 113–117, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida: Sei gut! Eine Morgenstunde. Eine kleine Skizze aus dem Eheleben, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Bienenzucht – Ein Erwerbsversuch. Eine Replik, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1880): Der Wildling. Novelette, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Deutsche Volkskomik. Eine Skizze (II.), in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Deutsche Volkskomik. Eine Skizze (I.), in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Deutsche Volkskomik. Eine Skizze (III.), in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Deutsche Volkskomik. Eine Skizze (IV.), in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Die Pariserin. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Eifersucht. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136.

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Remy, Nahida (um 1880): Ferdinand Lesseps mit Abbildung. Charakterzeichnung, in: Quelle unbekannt, S. 604–605, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Flitterwochen. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): In Verlegenheit. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Industrie und Handel, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Magnus. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Nationalitäten. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Ottilie. Ein Fragment. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Vom Gardasee. Novelette, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Weib und Wissenschaft. Skizze. Socialwesen, in: Fach-Zeitung [Genaueres unbekannt], archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Auch eine Weihnachtsbetrachtung. Von einem alten Junggesellen. Erzählung, in: Quelle unbekannt von Dezember 1881 (Nr. 50), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1883): Elßter Geplauder. Skizze, in: Quelle unbekannt von Juli 1883 (Nr. 29), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1891): In den Berliner Baracken. Novelle. Manuskript von 42 Seiten, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Allgemeine Zeitung des Judenthums Lazarus, Nahida Ruth (1896): Ein Tagebuchblatt von Nahida Ruth Lazarus (Nahida Remy). Mai 95, in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 20.03.1896 (H. 12), S. 141–142. Lazarus, Nahida Ruth (1899): Frühlingsfabel, in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 24.03.1899 (H. 12), S. 144. Lazarus, Nahida Ruth (1901): Bogumil Goltz. Charakterzeichnung, in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 26.04.1901 (H. 17), S. 198–199. Lazarus, Nahida Ruth (1904): Aus den Memoiren von Moritz Lazarus, in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 11.03.1904 (H. 11), S. 125–127. Remy, Nahida (1891): Antwortschreiben auf die Beschwerdebriefe von Gündemann und Karpeles vom 15. Oktober 1891, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums Berlin vom 25.10.1891 (Nr. 43), S.o.A.

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Remy, Nahida (1893g): Auch eine Geistergeschichte! In: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 30.06.1893 (H. 26), S. 311–312. Remy, Nahida (1894): Eine Spazierfahrt (I.), in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 02.11.1894 (H. 44), S. 527–528. Remy, Nahida (1894): Eine Spazierfahrt (II.), in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 16.11.1894 (H. 46), S. 550–552. Berliner Bürgerzeitung Remy, Nahida (1877): Wenn Frauen allein reisen, in: Berliner Bürgerzeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1877): Wie Graf X. zu einer Familie kam. Dramatische Erzählung, in: Berliner Bürgerzeitung, S. 123–145. Berliner Fremdenblatt Lazarus-Remy, Nahida (1912): Toto und Triri (I.). Zwei Hundegeschichten von Frau Geheimrat Nahida Lazarus-Remy, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1912): Toto und Triri (II.). Zwei Hundegeschichten von Frau Geheimrat Nahida Lazarus-Remy (Schluß), in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida [o.A.]: Gretchen Schulz an Minchen Müller [II.], in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida [o.A.]: Gretchen Schulz an Minchen Müller [III.], in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida [o.A.]: Gretchen Schulz an Minchen Müller [IV.], in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida [o.A.]: Minchen Müller an Gretchen Schulz [I.]. über den Bazar zu Gunsten eines Feierabendhauses für Lehrerinnen, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Im Schlitten. Novelle, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Zulla. Eine (kleinrussische) Idylle, in: Berliner Fremdenblatt, Juli 1881. Remy, Nahida (1882): Diverse Kunstkritiken. Als lebten wir […]; Die Nationalgallerie; Im Kunstsalon; In dem Atelier; Unsere Farbenschöpfer, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1882): Diverse Themen aus dem Alltag. Kurz und bündig; Der Königliche Hoflieferant; Am Freitag, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122.

Anhang

Remy, Nahida (1882): Ein Jahrzehnt Theater in Berlin. Diverse Theaterkritiken von Nahida Remy, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1882): Literarisches. Verschiedene Kurzrezensionen von Nahida Remy, in: Berliner Fremdenblatt von Oktober 1882, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1886): Coco, der Tollkopf. Sizilianische Novellette von Nahida Remy. (Abdruck des achten Kapitels ihrer Sizilianischen Novellen, S. 251–269), in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Sturmhoefel, Nahida (1872): Ein wenig Komödie. Manuskript von 30 Seiten. Novelle, in: Berliner Fremdenblatt, 1872. Sturmhoefel, Nahida (um 1875): Eine Liebesprobe. Novelle, in: Berliner Fremdenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.2. Berliner Montagszeitung Remy, Nahida (1875): Citherklänge. Lustspiel in einem Akt, in: Berliner Montagszeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.2 Berliner Tageblatt Lazarus, Nahida Ruth (1903): Luise von Toscana. Eine Tragödie (I.), in: Berliner Tageblatt von 1903, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida Ruth (1903): Noch einmal die Toscanerin (II.), in: Berliner Tageblatt vom 16.02.1903, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Centraal Blad Niederlande Remy, Nahida (1894): Een uitstapje door Nahida Remy (I.). Veröffentlichung ihres Artikels »Eine Spazierfahrt«, in: Centraal Blad voor Israelieten in Nederland 10 vom 09.11.1894 (No 31), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Central-Verein-Zeitung Lazarus-Remy, Nahida (1924): Lazarus als Menschenfreund, in: Central-Verein-Zeitung vom 18.09.1924. Der Bazar Remy, Nahida (um 1875): Gedicht über Amor. mit einer Illustration von Amor als Buchhändler, in: Der Bazar (Damenzeitung).

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Die Deborah Remy, Nahida (1894): Humanität im Judenthum (I.+II.), in: Die Deborah, S. 3–4. Remy, Nahida (1886): Die Wahrsagerin (II.). Sicilianische Novelette von Nahida Remy. (Schluß), in: Deutsches Heim, S. 505–517. Das Kleine Damen-Journal Fantaska [Remy, Nahida] (1881): Ueber Selbstbeherrschung. (Zweiter Brief einer jungen Frau an eine Freundin), in: Das Kleine Damen-Journal Berlin von 1881, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Fantaska [Remy, Nahida] (1881): Ueber Unbefangenheit. (Offener Brief einer jungen Frau an eine Freundin), in: Das Kleine Damen-Journal Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Fantaska [Remy, Nahida] (1881): Ueber Gesprächsstoffe. Dritter Brief einer jungen Frau an eine Freundin. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 01.08.1881 (Nr. 209), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Fantaska [Remy, Nahida] (1881): Eine häusliche Scene. Skizze, in: Das Kleine DamenJournal Berlin vom 15.08.1881 (Nr. 223), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Fantaska [Remy, Nahida] (1881): In der Plauderecke. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 23.08.1881 (Nr. 231), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Fantaska [Remy, Nahida] (1881): Die Anmuth im Hause. Skizze, in: Das Kleine DamenJournal Berlin vom 28.08.1881 (Nr. 236), Titelseite, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (um 1880): Die Maikönigin. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Künstliche Blumen. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Zu bescheiden. Novelle, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Die Haus-Apotheke. Eine Mahnung an die Leserinnen, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Karoline Neuber. Ein weiblicher Reformator, in: Das Kleine DamenJournal Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Etwas aus der »Märkischen Schweiz«. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 09.06.1881 (Nr. 100), Titelseite, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122.

Anhang

Remy, Nahida (1881): Zu viel Musik. Kritisch-ästhetischer Stoßseufzer eines armen Geplagten. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 03.07.1881 (Nr. 180), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Ueber hauswirthschaftliche Chemie in der modernen Küche. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 05.07.1881 (Nr. 182), Titelseite, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Eine nordische Sappho. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 19.07.1881 (Nr. 196), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Bilder edler Frauen. II. Gräfin Perkoto. Skizze, in: Das Kleine Damen-Journal Berlin vom 09.08.1881 (Nr. 217), Titelseite, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Deutsches Heim Remy, Nahida (1886): Die Wahrsagerin (I.). Sicilianische Novelette von Nahida Remy. (Abdruck des 3. Kapitels ihrer Sizilianischen Novellen), in: Deutsches Heim, S. 502–503. Deutsches Montagsblatt Remy, Nahida (1885): Unsere Unduldsamen, in: Deutsches Montagsblatt von März 1885 (Nr. 9), S. 5–6, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1885): Gesellschaftliche Strafpredigten. Unsere Unduldsamen. [Siehe einen ersten Artikel der Verfasserin in Nr. 9 vom März d.J.]. Skizze, in: Deutsches Montagsblatt vom 15.06.1885, S. 4–5, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Die Post Remy, Nahida (um 1880): Mann und Mäuschen. Novelle, in: Die Post Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Dr. Bloch’s Wochenschrift Lazarus, Nahida (1913): Vom Jahrmarkt des Lebens. Ein Beitrag zu christlicher und jüdischer Humanität, in: Dr. Bloch’s Wochenschrift von Juli 1913 (Nr. 28), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida Ruth (um 1880): Der König von Juda. Kinderburleske (I.), in: Dr. Bloch’s Wochenschrift, (Nr. 43), S. 787f. Frauenanwalt Remy, Nahida (1877): Die beschränkte Frau. Posse. Erzählung, in: Frauenanwalt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Illustrierte Deutsche Monatshefte Remy, Nahida: Julie Recamier. Charakterzeichnung, in: Illustrierte Deutsche Monatshefte, S. 660–665, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Israelitische Familienblatt (Hamburg) Lazarus, Nahida Ruth (1903): Die Frauen und der Talmud, in: Israelitisches Familienblatt. Für unsere Frauen von 1903 (Nr. 40). Lazarus, Nahida Ruth (1913): Die jüdische Mutter, in: Israelitische Familienblatt vom 11.09.1913, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Israelitische Hausfrauen-Zeitung (Leipzig) Remy, Nahida (1893h): Prinzessin Sabbath (Fortsetzung). Aus »Culturstudien über das Judentum« von Nahida Remy, in: Israelitische Hausfrauen-Zeitung 1 vom 16.06.1893 (Nr. 38), S. 297–298. Israelitische Wochenzeitschrift Lazarus, Nahida Ruth (1897): Warum ich Jüdin wurde. Vortrag von Frau Nahida Ruth Lazarus, in: Israelitische Wochenblatt III vom 04.06.1897 (Nr. 22). Lazarus, Nahida Ruth (1897): Warum ich Jüdin wurde. Schluss. Vortrag von Frau Nahida Ruth Lazarus, in: Israelitische Wochenblatt III vom 11.06.1897 (Nr. 23). Jewish Comment Lazarus, Nahida Ruth (1912): Warum? Eine Kulturhistorische Frage von Nahida Ruth Lazarus (Nahida Remy). written for Jewish Comment, in: Jewish Comment. Baltimore, S. 5–6, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 127. Maiser Wochenblatt Lazarus, Nahida Ruth (1912): Sprachwissenschaftliches Gedicht, in: Maiser Wochenblatt am 03.03.1912. Lazarus-Remy, Nahida (o.A.): Geschichtliches: 21. und 22. Mai 1809, in: Maiser Wochenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (o.A.): Geschichtliches: Die Märztage, in: Maiser Wochenblatt (Nr. 11), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1910–1912): Diverse geschichtliche Aufsätze. u.a. Johannes Kepler; Fürst Kaunitz; Edward Jenner; Isak Newton, in: Maiser Wochenblatt von 1910–1912, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122.

Anhang

Lazarus-Remy, Nahida (1912): Geschichtliches: Entscheidungsschlacht in Sedan (1. September 1870), in: Maiser Wochenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1912): Geschichtliches: Jonathan Swift, in: Maiser Wochenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1912): Geschichtliches: O.v. Bismarck und die Eröffnung des 1. deutschen Reichstages (21.03.1871), in: Maiser Wochenblatt (Nr. 12), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1912): Geschichtliches: Raffael Santi, in: Maiser Wochenblatt (Nr. 14), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1912): Geschichtliches: Seerschlacht bei Lisa 1866, in: Maiser Wochenblatt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Meraner Zeitung Lazarus, Nahida (o.A.): Andreas Hofer im Meraner Museum, in: Meraner Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida (17.06.1909): Brief an die Redaktion von Nahida Lazarus. Stellungnahme zum Artikel: »Erziehung der Bevölkerung für den Fremdenverkehr«, in: Meraner Zeitung, S. 6. Lazarus, Nahida (1910): Verhalten hiesiger Bevölkerung den Fremden gegenüber, in: Meraner Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus, Nahida (1910): Pontresina. Ein unveröffentlichtes Kapitel des Werkes »Ein Professor in der Schweiz«. Biographische Skizze, in: Meraner Zeitung vom 15.07.1910, archiviert in, The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida (1912): Dr. Raphael Hausmann. Feuilletonmanuskript, in: Meraner Zeitung, S. 1–6, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida (1913): Das Schicksal des Magnolienbaums. Skizze, in: Meraner Zeitung. Lazarus, Nahida (1913): Schonet die Kinder!, in: Meraner Zeitung. Lazarus, Nahida (1913): Ueber das neue Postgebäude. Skizze, in: Meraner Zeitung. Lazarus, Nahida (1914): Joseph Görres. Feuilletonsmanuskript, in: Meraner Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.2. Lazarus, Nahida Ruth (o.A.): Diverse Alltagsgeschichten. Zur Plakatausstellung im Kurhause, in: Meraner Zeitung (Nr. 151), archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Lazarus, Nahida Ruth (o.A.): Noch steht das Postgebäude. Feuilletonsmanuskript, in: Meraner Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida Ruth (1903): Villa Ruth. Ein Gedenkblatt zum 15. September, in: Meraner Zeitung vom 16.09.1903, S. 9–11. Lazarus, Nahida Ruth (1912): Auerbach. Charakterzeichnung, in: Meraner Zeitung vom 27.02.1912. Lazarus-Remy, Nahida (um 1910): Das Freundschaftsstübchen in Villa Ruth. Charakterzeichnung, in: Meraner Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida (1916): Germania in Siebenbürgen. Nach dem Original ihrer Mutter, in: Meraner Zeitung vom 16.09.1916 (Nr. 212), S. 5–6. Mitteilungen des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands Lazarus, Nahida Ruth (1912): Hebräische Sprachstudien, in: Mitteilungen des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands vom 26.03.1912. Lazarus, Nahida Ruth (1912): Eine Frage an unsere jungen Jüdinnen, in: Mitteilungen des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands 3 vom 01.06.1912 (Nr. 6), S. 1–4. Monatsschrift der Berliner Logen Lazarus-Remy, Nahida (1911): Ein Brief der Frau Nahida Lazarus: Meran, Villa Ruth, 21.02.1911, in: Monatsschrift der Berliner Logen von März 1911, S. o.A. Neue Freie Presse Lazarus, Nahida Ruth (1907): Garibaldi. Charakterzeichnung, in: Neue Freie Presse vom 05.06.1907. Österreichische Wochenschrift Lazarus, Nahida Ruth (1897): Ein Seelenkampf. Vortrag von Nahida Ruth Lazarus. Zweiter Lazarusabend, in: Österreichische Wochenzeitschrift vom 23.03.1897 (Nr. 17), S. 361–365. Staatsbürgerzeitung Remy, Nahida (um 1880): Unterwegs. Novelle, in: Staatsbürgerzeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Sonntagsruhe Remy, Nahida (1879): Auf wilden Wogen (I.). Sizilianische Novelle von Nahida Remy. (Veröffentlichung des später erschienen 2. Kapitels ihrer Sizilianischen Novellen von 1886), in: Sonntagsruhe. Berliner Bürgerzeitung 9 vom 02.11.1879 (Nr. 44), S. 347–350. Remy, Nahida (1879): Auf wilden Wogen (II.). Sizilianische Novelle von Nahida Remy (Schluß). (Veröffentlichung des später erschienen 2. Kapitels ihrer Sizilianischen Novellen von 1886), in: Sonntagsruhe. Berliner Bürgerzeitung 9 vom 09.11.1879 (Nr. 45), S. 355–359.

Anhang

Sonntagsblatt der Volkszeitung Lazarus-Remy, Nahida (1875): Katharina II. von Russland, in: Sonntagsblatt der Volkszeitung Berlin vom 01.04.1875, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (1877): Ludwig von Beethoven. Charakterzeichnung, in: Sonntagsblatt der Volkszeitung Berlin vom 01.04.1877, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Tutti Frutti Remy, Nahida (1875): Eine Morgenstunde. Skizze von Nahida Remy. Illustriert von der Verfasserin, in: Tutti Frutti, Monatsschrift, Berlin, 1875, S. 109–117. The Menorah Remy, Nahida (1895): Was ist der Talmud? What is the Talmud?, in: The Menorah. The Order’s Golden Jubilee von 1895, S. 224–227; 228–232, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 132. Volksrecht Lazarus, Nahida Ruth (1923): August Bebel. Charakterzeichnung, in: Volksrecht. Remy, Nahida (1923): Ein modernes Ostermärchen. in Meran geschrieben, in: Volksrecht vom 02.04.1923, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Vossische Zeitung Remy, Nahida (1884): Das Wiener Schauspiel von seinen Anfängen (I.), in: Vossische Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 134. Remy, Nahida (1885): Die Wiener Volksbühne (II.), in: Vossische Zeitung, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 134. Wiener Jüdische Volksstimme Lazarus, Nahida (1913): Ein Beitrag zu christlicher und jüdischer Humanität, in: Wiener Jüdische Volksstimme 14 vom 24.07.1913, S. 5. Zürcher Post Remy, Nahida (1881): Berliner Briefe. I. Feuilleton, in: Zürcher Post vom 20.10.1881, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Remy, Nahida (1881): Berliner Briefe. II. Feuilleton, in: Zürcher Post vom 07.12.1881.

Autobiographisches Lazarus, Nahida (1910): Pontresina. Ein unveröffentlichtes Kapitel des Werkes »Ein Professor in der Schweiz«. Biographische Skizze, in: Meraner Zeitung vom 15.07.1910,

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus, Nahida Ruth (1896): Ein Tagebuchblatt von Nahida Ruth Lazarus (Nahida Remy). Mai 95, in: Allgemeine Zeitung des Judentums Berlin vom 20.03.1896 (H. 12), S. 141–142. Lazarus, Nahida Ruth (1898): Ich suchte Dich! Biographische Erzählung von Nahida Ruth Lazarus (Nahida Remy), Berlin, Siegfried Cronbach. Lazarus, Nahida Ruth (Ostern 1906): Sonnenschein. Autobiographische Skizze, Quelle unbekannt von Ostern 1906, S. 620–622, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 142.3.

Herausgaben Lazarus, Nahida Ruth (Hg.) (1899): Sprüche von Lazarus, Leipzig, E.H. Mayer. Lazarus, Nahida Ruth (Hg.) (1909): Die Erneuerung des Judentums. Ein Aufruf von Professor Dr. Moritz Lazarus, Berlin, Druck und Verlag Georg Reimer. Lazarus, Nahida Ruth (Hg.) (1910): Ein deutscher Professor in der Schweiz. Moritz Lazarus. Nach Briefen und Dokumenten im Nachlass ihres Gatten, Berlin, F. Dümmler. Lazarus, Nahida Ruth (Hg.) (1913): Aus meiner Jugend. Autobiographie von Moritz Lazarus. Mit Vorwort und Anhang, Frankfurt a.M., J. Kauffmann Verlag. Lazarus, Nahida Ruth/Leicht, Alfred (Hg.) (1906): Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen. Bearbeitet von Nahida Lazarus und Alfred Leicht. Mit einem Titelbild, Berlin, Druck und Verlag Georg Reimer. Lazarus-Remy, Nahida (1900): Wie Steinthal und Lazarus Brüder wurden. Charakterzeichnung, in: Jahrbuch für Geschichte und Literatur, 149f.

Populärwissenschaftliches Lazarus, Nahida Ruth (1896): Das jüdische Weib von Nahida Remy. Mit einer Vorrede von Prof. Dr. Moritz Lazarus. Dritte (wohlfeile) Aufl., Berlin, Siegfried Cronbach. Lazarus, Nahida Ruth (1898): Das jüdische Haus. 2. Auflage der Culturstudien über das Judenthum, Berlin, C.Duncker. Lazarus, Nahida Ruth (1922): Das jüdische Weib von Nahida Remy. Mit einer Vorrede von Prof. Dr. Moritz Lazarus, 4. Aufl., Berlin, Siegfried Cronbach. Remy, Nahida (1884): Nationale Gegensätze. Kulturhistorisches Schauspiel in vier Aufzügen. Typoskript, Berlin, A. Entsch. Remy, Nahida (1891): Das jüdische Weib. Mit einer Vorrede von Prof. Dr. Moritz Lazarus, Leipzig, W. Malende. Remy, Nahida (1892a): Das Gebet in Bibel und Talmud. (Ein Kapitel des im Herbst dieses Jahres erscheinenden größeren Werkes »Die jüdische Volksseele«), Berlin, Emil Apolant. Remy, Nahida (1892b): Das jüdische Weib. Mit einer Vorrede von Prof. Dr. Moritz Lazarus, Leipzig, G. Laudien. Remy, Nahida (1893i): Culturstudien über das Judenthum, Berlin, Carl Duncker. Remy, Nahida (1893a): Beiträge zum Antisemitismus, in: N.N. (Hg.): Freiheit, Liebe, Menschlichkeit! Ein Manifest des Geistes von hervorragenden Zeitgenossen, Berlin, J. van Groningen & Co, S. 41.

Anhang

Remy, Nahida (1894): Humanität im Judenthum, Kulturhistorische Studie, Berlin. Remy, Nahida (1894): Prayer in Bible and Talmud by Nahida Remy. Authorized Translation from the German by the Rev. Henry Cohen, Galveston, Texas, in: American Hebrew von 1894, S. 651–655. Remy, Nahida (1894): Prayer in Bible and Talmud. Translated from the German by Henry Cohen, New York, Bloch Verlag. Remy, Nahida (1902): Еврейская женщина. Das jüdische Weib von Nahida Remy (Ruth Lazarus). Übersetzt von Aaron Zuckermann, Warschau, A. Zuckermann.

Sonstiges Lazarus, Nahida (1911): Meine Bildersammlung, Meran, Ellmenreich. Lazarus, Nahida (1914): Tiroler Tierschutz-Kalender, Meran, Ellmenreich.

Ungedruckte Werke Vorträge Remy, Nahida (1892e): Die Geschichte der Maccabaer. Vortragsmanuskript. Karlsruhe vom 27.12.1892, S. 1–22, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125. Remy, Nahida (1892c): Die Nächstenliebe im Alten Testament (I.). Vortragsmanuskript. Prag vom 17.12.1892, S. 1–21, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125. Remy, Nahida (1892d): Die Nächstenliebe im Talmud (II.). Vortragsmanuskript. Prag vom 17.12.1892, S. 1–21, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125. Remy, Nahida (1893f): Was ist der Talmud? Vortragsmanuskript. Karlsruhe vom 30.12.1893, S. 1–20, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125. Remy, Nahida (1893d): Das Weib im Talmud. Vortragsmanuskript. Landsberg a.d.W. vom 10.12.1893, S. 1–25, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125.

Autobiographisches Lazarus, Nahida (1912): Reisetagebuch (1892–1897). Verschollene Quelle, die in ihrem Tagebuch erwähnt wird, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 134. Lazarus-Remy, Nahida Ruth (um 1920): Meine Mutter. Ein Zeit- und Charakterbild. Biografie. Manuskript, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 125. Lazarus-Remy, Nahida Ruth (um 1927): Mein Leben. Band I. Typoskript ihrer Autobiographie. S. 1–80. Meran, archiviert in: Hauptstaatsarchiv Dresden, Sächsisches Staatsarchiv, 12724 Personennachlass Nahida Ruth Lazarus-Remy, Nr. 2. Lazarus-Remy, Nahida Ruth (um 1927): Mein Leben. Band II. Manuskript ihrer Autobiographie. S. 65–180. Meran, archiviert in: Hauptstaatsarchiv Dresden, Sächsisches Staatsarchiv, 12724 Personennachlass Nahida Ruth Lazarus-Remy, Nr. 2.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Belletristik Lazarus, Nahida (um 1924): Ein Glücklicher. Erzählung von Nahida Remy. Typoskript von 103 Seiten, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus, Nahida (1926): Drei Männer. Meran, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus, Nahida Ruth (1907): Dodo oder Ein Weiberkomplott. Sizilianisches Schauspiel in drei Aufzügen. Manuskript von 82 Seiten. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 Nahida Ruth Lazarus-archive, Jerusalem. Arc.Nr. 126. Lazarus, Nahida Ruth (1910): Die Fürstin. Roman, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus, Nahida Ruth (um 1920): Der Dütchenkrämer. Genrebild von Nahida Ruth Lazarus (Nahida Remy). Manuskript von sechs Seiten. Meran, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 123. Lazarus, Nahida Ruth (um 1920): Der Wildling. Erzählung von Nahida Remy. Manuskript mit autobiographischem Inhalt. Meran, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 128. Lazarus, Nahida Ruth (um 1920): Eifersucht (I.) Erzählung von Nahida Remy. Manuskript. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 128. Lazarus, Nahida Ruth (um 1920): Eine kleine postalische Tragik-Komödie. Manuskript von einer Seite. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 126. Lazarus, Nahida Ruth (um 1920): Petrows Kriegserlebnisse. Manuskript einer Erzählung. »Ein zeitgeschichtliches Gemälde von Nahida Remy«. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 128. Lazarus-Remy, Nahida (um 1910): Proletariar. Novelle. Mit autobiographischen Material, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Lazarus-Remy, Nahida (1913): Magnus und Mephisto. Roman. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 134. Lazarus-Remy, Nahida (1914): Simili. Tragödie in drei Aufzügen. Manuskript. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (20.02.1914): Die weisse Dame von Paris. Roman. Typoskript. Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Lazarus-Remy, Nahida (um 1920): Zenta. Roman. Manuskript von 94 Seiten, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 123. Remy, Nahida (1875): Nur ein Dienstmädchen. Drama, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136. Remy, Nahida (um 1880): Das kleine Haus. Novelle von Nahida Remy. Manuskript von zwölf Seiten. Berlin, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 123.

Anhang

Remy, Nahida (um 1880): Sein Spiegelbild. Dramatischer [Scherz] in einem Aufzug. Manuskript. Berlin. Archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.2. Remy, Nahida (1923): Hiesl’s Pantoffeln. Posse in einem Akt von Nahida Remy. Manuskript von sechs Seiten. (Gewidmet Walter und Frieda Delago. August 1923). Meran, archiviert in: National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 122. Sturmhoefel, Nahida (um 1870): Poldi’s Pantoffel. Posse in einem Akt. Manuskript von 33 Seiten, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 136.

A7 Bibliografie Sturmhoefel Gedruckte Werke Belletristik Sturmhoefel, Nahida (1888): Vergessene Lieder, Leipzig, Fock.

Feuilletons Sturmhoefel, Nahida: Aus der Jugendzeit eines Vielgeliebten. Novelle, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 Nahida Ruth Lazarus-archive, Jerusalem. Arc.Nr.01 123. Sturmhoefel, Nahida: Die lebendig begrabenen in Rom, in: Quelle unbekannt, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 123. Sturmhoefel, Nahida (1865): Die Arbeit der Frauen, in: Der Arbeiterfreund von 1865, S. 42–46. Sturmhoefel, Nahida (1866): Die sizilianischen Frauen. (Fortsetzung), in: Beilage zu den Berlinischen Nachrichten vom 14.03.1866 (Nr. 61).

Kulturwissenschaftliches Sturmhoefel, Nahida (1865): Freie Lieder. Sturmhoefel, Nahida (1867): Offenbarungen für Alle, Leipzig, Priber Verlag. Sturmhoefel, Nahida (1876): Götzen, Götter und Gott, Berlin, Denicke’s Verlag. Sturmhoefel, Nahida (1884): Neulatein als Weltsprache. Ein Vorschlag, Berlin, Walter&Apolant. Sturmhoefel, Nahida (1887): Freie Lieder, 2. Aufl.

Ungedruckte Werke Manuskripte Sturmhoefel, Nahida: Anton der Laier. Manuskript einer Novelle, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.2. Sturmhoefel, Nahida: Aus Rom und Fraskati. Manuskript, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 123.

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Nahida Lazarus-Remy und »Das jüdische Weib«

Sturmhoefel, Nahida: Cuno. Manuskript einer Novelle, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.2. Sturmhoefel, Nahida: Ich liebe Dich! Manuskript eines Gedichts, archiviert in: The National Library of Israel, Department of Archives, ARC. Ms. Var. 298 01 124.

Geschichtswissenschaft Manuel Gogos

Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7

Thomas Etzemüller

Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2

Thilo Neidhöfer

Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4

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Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch

Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7

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Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2022/2, Heft 86: Papierkram September 2022, 192 S., kart., 24 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 22,00 € (DE), 978-3-8376-5866-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5866-2

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