»La Santa Muerte« - Leben mit dem Tod: Eine Soziologie der Verehrung 9783839455135

Seit den frühen 2000er Jahren hat ein religiöses Phänomen aus Mexiko transnational besondere Popularität und öffentliche

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»La Santa Muerte« - Leben mit dem Tod: Eine Soziologie der Verehrung
 9783839455135

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Ausgangspunkte
Konzeption, Methodologie und Methoden
Bühnen der Verehrung La Santa Muertes
Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit
Milieuerfahrung von Anomie und Stigma
Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung
Milieuerfahrung prekärer Ordnung
Aufführungen – religiöse Praxis mit La Santa Muerte
Schluss und Ausblick auf eine zukünftige Verehrung La Santa Muertes
Notationskonvention
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweise

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Silke Müller »La Santa Muerte« - Leben mit dem Tod

Kulturen der Gesellschaft  | Band 46

Silke Müller, geb. 1987, ist Soziologin und lehrt qualitative Methoden der Sozialforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Sie studierte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Universidad Pablo de Olavide in Sevilla. Ihre Dissertation entstand am Exzellenzcluster »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Silke Müller

»La Santa Muerte« - Leben mit dem Tod Eine Soziologie der Verehrung

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC 2060 »Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation« – 390726039. D6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld, nach einer Idee von Silke Müller Umschlagcredit: Fotografie einer Santa Muerte Statue von Silke Müller Korrektorat: Dr. Sarah Potthoff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5513-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5513-5 https://doi.org/10.14361/9783839455135 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung | 7 Ausgangspunkte | 9

Forschungsperspektive | 11 Annäherungen an La Santa Muerte | 20 Borderlands und Mestiza Consciousness | 37 Gläubige La Santa Muertes | 50 Konzeption, Methodologie und Methoden | 59

Milieuerfahrungen | 60 Theatermetaphern | 69 Rekonstruktiv-analytischer Forschungsstil | 72 Datenerhebung – Feldforschung als Ausgangspunkt | 73 Zum Status der Daten – Ausdrucksgestalten und Protokolle | 76 Sequenzanalytische Interpretation der textförmigen Protokolle | 87 Segmentanalytische Interpretation der fotografischen Protokolle | 92 Bühnen der Verehrung La Santa Muertes | 97

Ein eklektischer Altarraum in Los Angeles | 97 Bauen und Basteln in einem Kirchenraum in Guadalajara | 109 Ein erweiterter katholischer Rahmen nahe Tijuana | 122 Zusammenfassung der Analysen der Bühnen | 132 Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit | 137

Hausgemeinschaft und Kernfamilie in den USA und in Mexiko | 139 Von der Rancho in die Stadt | 144 Regulierung der Sexualbeziehungen in der Familie | 150 Gewalt in der Familie | 153 Bewährung, Marginalität und Bindungslosigkeit | 157 La Santa Muerte und die Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit | 164

Milieuerfahrung von Anomie und Stigma | 175

Anomie und abweichendes Verhalten | 175 Stigma, Anomie und Normen | 180 Diskreditierte und Diskreditierbare | 182 Bewährung und Anomie | 186 Gruppenbildung – Identitätsnormen, Bewährung und religiöse Gemeinschaft | 196 Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung | 205

Ungleichheit, Fragmentierung und Neid | 206 Von der Gruppierung zur Gruppe – Professionelle der Stigmatisiertengruppe | 213 Von der Gruppierung zur Gruppe – Tattoos als Zeichen und Praxis der Gruppenzugehörigkeit | 216 Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 221

Ordnung und Marginalität im Kontext der USA | 222 La Santa Muerte in einem Corrido | 225 Gesetzeshüter und Gesetzesbrecher | 233 Ordnung und Ethik | 244 Femizid – Angst der Frauen | 249 Souverän und Ordnungsmacht | 255 Aufführungen – religiöse Praxis mit La Santa Muerte | 259

Rituale und die Verehrung La Santa Muertes | 259 Mitternachtskult und Messe | 266 Vergleichende Analyse von Mitternachtskult und Messe | 272 Schluss und Ausblick auf eine zukünftige Verehrung La Santa Muertes | 309 Notationskonvention | 315 Literaturverzeichnis | 317 Abbildungsnachweise | 343

Danksagung

Bei meiner Forschungsarbeit, von der Planung bis zur Niederschrift in diesem Buch, habe ich viel Unterstützung erhalten. Dafür möchte ich zunächst Christel Gärtner und Wil G. Pansters danken. Beide haben mein Dissertationsprojekt seit 2014 betreut und standen mir mit wachem Interesse, klugen Ideen und gutem Rat zur Seite. Rüdiger Schmitt danke ich für anregende Seminarsitzungen und seine kritische Kommentierung einiger Abschnitte der Arbeit in einer früheren Fassung. Neben den bereits genannten, möchte ich mich auch bei den anderen Forschenden und Verwaltenden des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ in Münster für den lebhaften wie inspirierenden Austausch bedanken. Und natürlich für die Finanzierung meines Projektes. Den anderen Doktorand*innen der Graduiertenschule des Exzellenzcluster danke ich für die gemeinsame Reflexion über unsere Projekte und den Teilnehmer*innen unserer Analysegruppe in Münster für die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Ich danke Martin Radermacher für viele Einladungen zum Kaffee und vor allem für anregende Gespräche über Atmosphäre und La Santa Muerte. Sarah Potthoff hat das Korrektorat dieses Buches übernommen. Dafür danke ich ihr herzlich. Verbleibende Fehler bleiben natürlich meine eigenen. Ich danke Mauricio López Alvarado für seine Freundlichkeit und Unterstützung während eines Teils der Feldforschung. Ulrich Oevermann und den Teilnehmer*innen des Kolloquiums an der Universität Frankfurt danke ich für eine gemeinsame Analyse meines Materials ganz zu Beginn der Arbeit an dem Projekt. Andreas Wernet und den Teilnehmer*innen der Forschungswerkstatt in Hannover danke ich ebenfalls für eine inspirierende Materialanalyse. Ohne die Gläubigen La Santa Muertes, die ich in den USA und in Mexiko kennenlernte, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Erst ihre Bereitschaft über ihr Leben, La Santa Muerte und ihre Träume zu sprechen, ermöglichte die Umsetzung dieses Forschungsvorhabens. Ich danke ihnen allen sehr für ihr Ver-

8 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

trauen, die Bereitschaft ihre Erfahrungen zu teilen und mich ein Stück weit aufzunehmen. Auch unabhängig von diesem Forschungsprojekt, möchte ich es nicht missen, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben und hoffe, dass man sich bald wiedersieht. Ich danke meinen Eltern Marlene und Ulf und meiner Schwester Wiebke für ihr allzeit hilfreiche Unterstützung. Elke Spiessens danke ich für eine jahrelange und bereichernde Bürogemeinschaft und ihre Freundschaft. Mit Julia Becher, Tristan Bauder, Maren Liedhegener, Ludger Krol und David Schneider habe ich oft über mein Dissertationsprojekt gesprochen. Ihnen allen, und ganz besonders Tristan, danke ich für viele wertvolle Anregungen und ihre Unterstützung. Für ihre langjährige freundschaftliche Unterstützung danke ich auch Rieke Bubert, ohne die dieses Projekt wahrscheinlich auch nicht zu Stande gekommen wäre. Erst während eines Besuchs bei ihr in Mexiko, wurde ich auf die Verehrung La Santa Muertes aufmerksam. Rieke war mir während der Zeit der Arbeit an dem Projekt und darüber hinaus eine kreative, milde, lustige und kluge Gesprächspartnerin. Für Gespräch und Beistand danke ich auch Anna Lisa Ballaschke, Irina Dück, Sarah Krampikowski, Hanna Schwormstede, Antonia Koltze, Meike Hartwig und Adrian Nuber. Ganz besonders danke ich Haraldur Hreinsson für seine liebevolle Unterstützung zu jeder Zeit und nicht nur beim Schreiben dieses Buches.

Ausgangspunkte

La Santa Muerte (Der Heilige Tod) ist eine weibliche Todesheilige. Sie ist eine Volksheilige1 (vgl. Graziano 2007: VII), die von Mexiko ausgehend und mittlerweile auch in den USA eine große Zahl von Anhänger*innen2 fand und noch immer findet. Die genaue Anzahl der Gläubigen La Santa Muertes ist nur schwer zu ermitteln. Wil G. Pansters schätzt ihre Zahl auf 1,5 Millionen in Mexiko, Mittelamerika und den USA (vgl. Pansters 2019: 11) – „a truly impressive number of adherents for a cult that was virtually unknown just fifteen years ago“ (ebd.). Die Verehrung La Santa Muertes unterscheidet sich, auch weil es sich um einen jungen, kaum institutionalisierten Glauben handelt, regional und ist wandelbar. Juan Antonio Flores Martos zufolge ist sie „a multiform, complex emerging, but unstable cult in full effervescence and transformation“ (Flores Martos 2019: 86). Gläubige La Santa Muertes sind in ihrer religiösen Praxis oft nicht ausschließlich auf die Verehrung La Santa Muertes festgelegt. Perla Fragoso spricht

1

Nach Frank Graziano sind „[f]olk saints […] deceased people, some of entirely constructed identity, who are widely regarded as miraculous and receive the devotion of a substantial cult, but who are not canonized or officially recognized by the Catholic Church.“ (Graziano 2007: VII) Auch Laura Roush (2014a: 129f.) und Wil G. Pansters (2019: 29f.) bestimmen La Santa Muerte anschließend an Graziano als Volksheilige. Seltener wird auch das Konzept einer „secular sanctity“ (Hopgood 2005) herangezogen und La Santa Muerte als „secular saint“ (Martín 2014: 182f.) oder als „santo laico“ (Hernández Hernández 2016: 139), laizistische Heilige, bezeichnet.

2

Im Folgenden werden die Bezeichnungen Anhänger*in und Gläubige*r La Santa Muertes synonym verwendet. Mit beiden Begriffen wird basal bezeichnet, dass die jeweilige Person sich in einer Form religiöser Praxis mit La Santa Muerte befindet.

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daher von einer Form der „Multireligiosität“3 (Fragoso 2011: 12). Viele der Gläubigen La Santa Muertes bezeichnen sich als Katholik*innen und verehren auch andere katholische kanonisierte wie auch nicht-kanonisierte Heilige. Einige binden La Santa Muerte in Rituale afroamerikanischer Traditionen ein, verknüpfen die Verehrung La Santa Muertes mit Praktiken des Curanderismo4 und verbinden sie mit popkulturellen Ästhetiken. La Santa Muerte ist von der katholischen Kirche nicht als Heilige anerkannt. Es besteht ein spannungsvolles Verhältnis zwischen der Verehrung La Santa Muertes und der katholischen Kirche. „Clearly, the theological and ritualistic closeness to (popular) Catholicism of Santa Muerte devotees contrasts sharply with the theological condemnation by the official Catholic hierarchy, which ranges from mild charges of ignorance, disinformation and aberration to serious denunciations of danger, evil and Satanism.“ (Pansters 2019: 49f., vgl. Smith 2019: 60)

Während La Santa Muerte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vornehmlich innerhalb privater Haushalte und in Gefängnissen in Mexiko verehrt wurde (vgl. Pansters 2019: 18), durchlief die Verehrung um das Jahr 2000 eine Transformation hin zu einem über die Grenzen Mexikos hinaus öffentlich sichtbaren Phänomen. Anne Huffschmid nach lässt sich dieses Phänomen gar mit einem Konzept von „[h]ypervisibility“ (Huffschmid 2019: 125) beschreiben. Aus soziologischer Sicht stellt sich im Hinblick auf die gegenwärtige Verehrung La Santa Muertes in Mexiko und in den USA eine ganze Reihe von Fragen: Wer sind die Gläubigen La Santa Muertes? Welche Erfahrungen, welches Schicksal teilen sie? Unter welchen sozialen Bedingungen und in Reaktion auf welche sozialen Zustände und Entwicklungen formierte sich diese Verehrung? Worin besteht der soziale Hintergrund der Verehrung La Santa Muertes? Wie wird sich die Verehrung La Santa Muertes zukünftig entwickeln? Auf diese Fragen soll dieses Buch Antworten geben.

3

Im spanischen Original: „multir[!]religiosidad“ (Fragoso 2011: 12). Übersetzungen im Text aus spanischsprachigen Arbeiten werden in Fußnoten direkt im Anschluss an das Zitat im spanischen Original wiedergegeben. Übersetzungen aus dem Spanischen in Fußnoten werden nicht im Original wiedergegeben, jedoch als Übersetzungen der Autorin gekennzeichnet. Alle Übersetzungen stammen von der Autorin.

4

Curanderismo ist eine mexikanische Heiltradition. Die Bezeichnung geht auf das spanische curar, heilen, zurück. Curanderismo ist eine „[…] hybride healing and religious tradition resulting from the combination of Iberian and indigenous American healing traditions.“ (Hendrickson 2014: 199)

Ausgangspunkte | 11

FORSCHUNGSPERSPEKTIVE Nach ersten Erwähnungen La Santa Muertes und ihrer Verehrung in den 1940er und 1950er-Jahren (vgl. Toor 1947: 144, vgl. Pansters 2019: 8) wurde das zunehmend sichtbare und aufmerksamkeitserregende religiöse Phänomen seit den frühen 2000ern verstärkt untersucht. Im Mittelpunkt der überwiegenden Studien steht die Verehrung im urbanen Raum, insbesondere in Mexiko-Stadt (vgl. z.B. Fragoso 2007a, b, Kristensen 2011, 2014, 2015, Reyes Cortez 2012, Reyes Ruiz 2010, 2011, Huffschmid 2019). Dieser Raum wurde als Kernland (vgl. Bravo Lara 2013a: 13, Pansters 2019: 10) der Verehrung bezeichnet. Huffschmid schreibt La Santa Muerte einen „genuinely urban character“ (Huffschmid 2019: 131) zu. Daneben gibt es Studien, die die Verehrung La Santa Muertes in anderen Regionen Mexikos, aber ebenfalls überwiegend im urbanen Raum untersuchen. In Guadalajara (vgl. Bravo Lara 2013a, b), in Mexikos Norden, insbesondere in Tijuana (vgl. Hernández Hernández 2016, Vargas Montero 2016), in Veracruz (vgl. Flores Martos 2007, Torre/Argyriadis 2012, 2014) und in Veracruz und in Ciudad Juárez (vgl. Vargas Montero 2016). Antonio Higuera-Bonfil (2015) und Piotr Michalik (2011) untersuchen die Verehrung im südlichen Mexiko und Michalik darüber hinaus in Guatemala. Die Daten der vorliegenden Arbeit wurden im urbanen Raum erhoben: im mexikanischen Tijuana, Chihuahua und Guadalajara sowie im US-amerikanischen Los Angeles. Gläubige La Santa Muertes finden sich auch in den USA. Forschungsarbeiten zur Verehrung in den USA liegen in geringerer Zahl vor und sind weniger umfangreich als diejenigen zum mexikanischen Kontext. John Thompson (1998) beschreibt bereits 1998 in einem Aufsatz eine zunehmende Verbreitung La Santa Muertes in den USA. Higuera-Bonfil (2016) untersuchte die Verehrung in New York und Andrew Chesnuts (2012) überblickshafte Darstellung des Feldes der Verehrung La Santa Muertes umfasst Beschreibungen ihres Vorkommens in Los Angeles (vgl. auch Alatriste Ozuna 2014), Houston, Phoenix, New York (vgl. Chesnut 2012: 10) und in Washington D.C. (vgl. ebd.: 47f.). Die Expansion der Verehrung „into other countries [– und zwar vor allem in die USA –] confirms its transnational character“ (Flores Martos 2019: 90). Aufgrund dessen wird die Verehrung La Santa Muertes in dieser Arbeit in einer USmexikanisch-transnationalen Perspektive untersucht. Die transnationale bzw. transkulturelle Perspektive wird den gegenwärtigen sozialen, soziopolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen transnationalen Verflechtungen der USA und Mexikos gerecht. Oscar Lewis schrieb in diesem Sinne bereits 1961, als „Die Kinder von Sánchez“ (Lewis 1992) erstmals veröffentlicht wurde:

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„Zu den wichtigsten Erscheinungen seit 1940 gehört zweifellos der stark zunehmende Einfluß der Vereinigten Staaten [auf Mexiko, jedoch auch andersherum]. Niemals in der langen Geschichte der amerikanisch-mexikanischen Beziehungen gab es bisher eine solch vielseitige und intensive Wechselwirkung zwischen den beiden Ländern. Die enge Zusammenarbeit während des Zweiten Weltkriegs; das rapide Ansteigen der amerikanischen Investitionen in Mexiko […]; der große Strom von US-Touristen nach Mexiko und von mexikanischen Besuchern in die Vereinigten Staaten; die jährliche Wanderung von einigen hunderttausenden mexikanischen Landarbeitern in die USA, der ständige Austausch von Studenten, Technikern und Professoren und die zunehmende Zahl von Mexikanern, die die amerikanische Staatsbürgerschaft erwerben, haben eine völlig neue Form der amerikanisch-mexikanischen Beziehungen entstehen lassen.“ (Ebd.: 31f.)

Außerdem wird die Grenzregion, in der die Daten überwiegend erhoben wurden, mit einem Konzept von „borderlands“ (Anzaldúa 2012) nicht nur als eine geografische verstanden, sondern insbesondere als soziokulturelle Realität der Subjekte, die sie bevölkern. In der vorliegenden Arbeit werden zunächst zentrale Charakteristika La Santa Muertes und ihrer Verehrung anhand von Fotografien, Interviews mit Gläubigen und einer Reihe weiterer Daten rekonstruiert. Sodann rückt der soziale Hintergrund der Verehrung La Santa Muertes in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Arbeit schließt insofern an bisherige Forschungsarbeiten an, deren Interesse sich (neben der Phänomenologie, Geschichte und Herkunft der Figur La Santa Muerte) auf den sozialen Hintergrund der Verehrung richtete. Die Verehrung La Santa Muertes wurde gedeutet in Beziehung zu „[d]aily experiences with the precariousness of life“ (Flores Martos 2019: 88), „often vulnerable individuals“ (Oleszkiewicz-Peralba 2015: 116), „the precarious situation of many of its followers“ (Smith 2019: 58) und als „eng verbunden mit den Höhen und Tiefen des Alltagslebens in urbanen Kontexten“5 (Hernández Hernández 2016: 140). Entsprechend wurde die Verehrung La Santa Muertes insbesondere im Zusammenhang mit (prekärer) öffentlicher Sicherheit im urbanen Raum, informellen urbanen Wirtschaftsstrukturen (vgl. Fragoso 2007a, b) sowie im Zusammenhang mit den sozialen Folgen von Inhaftierung (vgl. Kristensen 2011, 2015: insbs. 545ff.) untersucht.6 Mit der vorliegenden Arbeit soll der soziale Hintergrund der 5

Im spanischen Original: „[L]igado de cerca a los avatares y problemáticas de la vida cotidiana en los contextos urbanos.“ (Hernández Hernández 2016: 140)

6

Die Verehrung La Santa Muertes ist in Gefängnissen verbreitet (zur Verehrung La Santa Muertes in Gefängnissen siehe Yllescas Illescas 2018) und den Gefängnissen kam, so eine verbreitete These, – „[i]ndeed, it seems possible that the cult that we now know originated in prison“ (Lomnitz 2019: 186) – als Katalysatoren eine zentrale Rol-

Ausgangspunkte | 13

Verehrung La Santa Muertes bestimmt werden. Im Zentrum steht dabei die Rekonstruktion von vier spezifischen Milieuerfahrungen vornehmlich anhand von Interviews mit Gläubigen. Diese sind eine Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit, eine Milieuerfahrung von Anomie und Stigma, eine Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung und eine Milieuerfahrung prekärer Ordnung. Mit den Milieuerfahrungen gehen für Gläubige La Santa Muertes milieuspezifische Chancen und Risiken einher. Vor dem Hintergrund der Milieuerfahrungen soll die gegenwärtige Verehrung La Santa Muertes in Mexiko und den USA aus einer transnationalen Perspektive ursächlich erklärt werden. Der auf der Rekonstruktion von Milieuerfahrungen basierende Zugang ist inspiriert von Wolfgang Eßbachs Religionssoziologie 1 (Eßbach 2014),7 in der Formen des Religiösen hinsichtlich ihres historischen und soziopolitischen Hintergrundes bestimmt und unterschieden werden. Auch schließt er an einen Vorschlag Perla Fragosos an, demzufolge „das zentrale Ziel einer Untersuchung der Verehrung La Santa Muertes darin bestehen […] [könnte,] zu untersuchen, in welcher Weise die Verehrung einen bestimmten Lebensstil oder eine soziale Bedingung offenbart, die allen ihren Anhängern gemeinsam ist“8 (Fragoso 2007b: 32).

Der Forschungsstil ist ein qualitativer und rekonstruktiv-analytischer, der einige methodologische und methodische Positionen der Objektiven Hermeneutik aufnimmt und diese zu Erving Goffmans Forschungsstil in Bezug setzt. Charakteristisch für diese Forschungsarbeit ist auch die vielfältige Datengrundlage, die den Ausgangspunkt der Theoriebildungen darstellt. Analysiert werden offene Interviews mit Gläubigen, eine künstlerische Ausdrucksgestalt in Form eines Liedtextes über La Santa Muerte, Fotografien aus Kirchen La Santa Muertes9 sowie le bei der Verbreitung der Verehrung zu. „After 2000, when the number of street altars dedicated to La Santa Muerte [in Mexico City and supposedly beyond] exploded, a strong correlation was found between their geographic distribution and neighbourhoods with high prison populations.“ (Pansters 2019: 9) 7

Ein lesenswerter Überblick über und eine Einführung in Eßbachs Religionssoziologie I bietet Thomas Schmidt-Lux (2019).

8

Im spanischen Original: „[E]l objetivo central de una investigación en torno del culto podría ser intentar establecer [...] de qué manera esta devoción revela un determinado estilo de vida o una condición social común a todos sus devotos [...].“ (Fragoso 2007b: 32)

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Gläubige La Santa Muertes sprechen sowohl von iglesias, Kirchen, wie auch von templos, Tempeln, der Verehrung La Santa Muertes. Eine Unterscheidung wird in der

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Beobachtungsprotokolle in Kombination mit Tonaufnahmen von religiösen Veranstaltungen. Anschließend an Huffschmid setzt „[t]o understand the specific attraction of La Santa Muerte in its broader context“ (Huffschmid 2019: 133) voraus, auch „visual, performative and spatial strategies that devotees mobilize to confront what they perceive as the existential fragility of their troubled lives“ (ebd.) in die Analyse einzubeziehen. Die Verehrung La Santa Muertes, wie sie sich während der Feldforschung zeigte, zeichnet sich durch ihre Offenheit, ihren Pragmatismus und eine gewisse Sinnlichkeit aus. Es sind weniger tradierte Texte, auf deren Grundlage und in deren Bearbeitung durch Theolog*innen sich ein ausgefeilter Textkorpus und religiöse Ethiken entwickelten, sondern stärker die Praxis, die Artefakte und Glauben hervorbringt und die Verehrung La Santa Muerte dynamisch, in Emergenz und Transformation begriffen erscheinen lassen. Altäre, an denen La Santa Muerte verehrt wird, sind prächtig und laden zur Betrachtung ein. Duftwasser und Räuchermittel kommen in Ritualen – beispielsweise den als limpias10 bezeichneten Reinigungsritualen – zum Einsatz und ermöglichen olfaktorische Erfahrungen. Einige dieser Rituale beinhalten auch die Bearbeitung von Ritualutensilien per Hand und sprechen die Tastsinne an. Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes haben in der Regel auch einen Unterhaltungswert und in der religiösen Praxis geht es nicht zuletzt auch um InvoPraxis nicht systematisch vorgenommen. Daher wird im Folgenden einheitlich von Kirchen La Santa Muertes gesprochen. 10 Die limpia, dt. Reinigung, ist ein Ritual, das unter Anhänger*innen La Santa Muertes praktiziert wird. Siehe zu limpias allgemein auch Graziano 2016: 221. Anhänger*innen La Santa Muertes glauben mit limpias durch Hexerei verursachtes oder einfach so bestehendes Unglück abwenden zu können. Es wird geglaubt, das Ritual reinige beispielsweise von Pech, Neid, Unglück, Krankheit und Unfruchtbarkeit. Limpias werden z.B. mit Hühnereiern, Rauch und Alkohol durchgeführt. Seltener, in schwereren Fällen und je nach regionaler Tradition, werden Reinigungen auch mit Tieren und dem Vergießen von deren Blut durchgeführt. Dabei spielen die Tierart und die Farbe des Tieres eine Rolle. Im Falle einer sehr bösartigen Verfluchung durch schwarze Magie, könnte beispielsweise eine Reinigung mit einem schwarzen Huhn und dessen Blut Abhilfe schaffen. Neben den gestischen Ritualkomponenten, wie z.B. dem Bestreichen der zu reinigenden Person mit einem Ei, werden Gebete und Anrufungen an La Santa Muerte (und ggf. andere Gottheiten, Geister, Mächte und Energien) gesprochen, meist von der Person, die die Reinigung durchführt. Limpias werden in der Regel gegen Bezahlung durchgeführt. Während der Feldforschung wurden limpias häufig im Rahmen von religiösen Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes gegen Spenden, in Los Angeles in Höhe von fünf bis zwanzig Dollar, mit Eiern und Rauch durchgeführt.

Ausgangspunkte | 15

kationen La Santa Muertes, die das subjektive Sicht- und Fühlbarwerden der Figur zum Ziel haben. Räume religiöser Praxis, werden in der vorliegenden Arbeit als Bühnen der Verehrung La Santa Muertes untersucht. Das Spektrum religiöser Praxis mit La Santa Muerte umfasst sowohl stärker kollektive Formen als auch schwächer kollektive Formen. Zu den stärker kollektiven Praxisformen zählen sogenannte misas, Messen, in Kirchen La Santa Muertes. Zu den schwächer kollektiven Formen zählen die Verehrung an privaten Hausaltären und allein oder in Kleingruppen durchgeführte Rituale wie ein sogenannter culto de medianoche, Mitternachtskult. Beide Formen werden anhand von Protokollen religiöser Praxis mit La Santa Muerte kontrastierend untersucht und schließlich zu den rekonstruierten Milieuerfahrungen ins Verhältnis gesetzt. Das Buch endet mit einem Ausblick auf eine mögliche Zukunft der Verehrung La Santa Muertes. Religionssoziologische Einbettung Eßbach (2014) findet auf Grundlage seiner Analyse von Intellektuellenäußerungen einen historisch orientierten religionssoziologischen Zugang zur Bestimmung historischer Formen des Religiösen. Wissen um „Zeiterfahrungen“ (Eßbach 2014: 20f.), so einer der Ausgangspunkte Eßbachs, ist im „kollektiven Gedächtnis“ (Assmann 1988, 2002, Assmann 2008, siehe auch Halbwachs 1985)11 einer Gesellschaft gespeichert. Man findet „in bestimmten Perioden Themen, die immer wieder kommunikativ repräsentiert werden. Dabei ist die unerwartete Erfahrung solcher Situationen prägend für lange Zeit. So wie traumatisierte Personen sich auch nach Jahren noch an die Szenen des Unglücks und die Mittel der Rettung erinnern, so bleibt auch Gesellschaften ihre beherrschende Zeiterfahrung im kollektiven Gedächtnis haften.“ (Eßbach 2014: 21)

Zeiterfahrungen sind nach Eßbach „klassenübergreifende Erfahrungen“ (ebd.: 20), die Dinge betreffen, „über die in allen Klassen Geschichten erzählt werden. In ihnen sprechen sich Erfahrungen aus, die die Zeit betreffen, in der man lebt“ (ebd.: 20f.). Eßbach unterscheidet solche Zeiterfahrungen von „Klassenerfah11 „Vom sozialen und kollektiven Gedächtnis können wir […] das kulturelle Gedächtnis unterscheiden, das […] ein langfristiges Gedächtnis ist. Die Dauer des kulturellen Gedächtnisses beruht auf Institutionen wie Bibliotheken, Museen und Archiven, die auf bestimmte Entscheidungen zurückgehen und solche bestätigen und weiter entwickeln.“ (Assmann 2008: 3)

16 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

rungen“, „die im sozialen Raum einer Klasse ausgetauscht werden“ (ebd.: 20) und die auch „die soziale Herkunft und Stellung innerhalb der Klassenbeziehungen“ (ebd.) thematisieren. Klassenerfahrungen oder Milieuerfahrungen, wie sie in dieser Arbeit bestimmt werden, unterscheiden sich je nach Standpunkt eines Individuums innerhalb einer Gesellschaft. Während Eßbach in seiner Untersuchung den Begriff der Klasse fruchtbar macht, ist es in dieser Arbeit ein weiter Begriff von Milieu, mit dem die Verehrung La Santa Muertes bestimmende und bedingende Milieuerfahrungen der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes bestimmt werden sollen. Milieus lassen sich, Ralf Bohnsack folgend, hinsichtlich Sozialisations- und Schicksalsgemeinsamkeiten (vgl. Bohnsack 2005: 119) ihrer Angehörigen bestimmen und von anderen Milieus unterscheiden. Zeiterfahrungen evozieren als milieuübergreifende Erfahrungen milieuspezifische Erfahrungen. Während Eßbach Zeiterfahrungen anhand von Intellektuellenäußerungen, mittels „Quellen, die die hinterlassen haben, die Lesen und Schreiben konnten und Zeit zum Nachdenken hatten“ (Eßbach 2014: 23), rekonstruiert, geht es in dieser Arbeit darum, eine Perspektive einzunehmen, die soziale Unterschiede und Ungleichheiten einbezieht und entsprechend Zeiterfahrungen gerade in ihrem milieuspezifischen Niederschlagen betrachtet. Um diesem Desiderat zu begegnen, genügt es nicht, Äußerungen Intellektueller zum Ausgangspunkt der Theoriebildung zu machen, die als gut archivierte Quellen zwar geeignet sind, um Eßbachs Forschungsanliegen einer Bestimmung von Zeiterfahrungen zu begegnen, jedoch eben keine milieusensitive, auf soziale Unterschiede innerhalb von Gesellschaften fokussierende Forschungsperspektive ermöglichen. Um die gegenwärtige Verehrung La Santa Muertes in diesem Sinne zu untersuchen, sind es vornehmlich Erzählungen ihrer Anhänger*innen, Protokolle ihrer religiösen Praxis und der Darstellung La Santa Muertes, die einen geeigneten Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Milieuerfahrungen bilden. Neben Eßbachs Religionssoziologie wird im Zuge der Rekonstruktion von Milieuerfahrungen auch die strukturale Religionssoziologie Ulrich Oevermanns mit ihren zentralen Begriffen Bewährung und Bewährungsmythos aufgegriffen. In der Religionssoziologie Oevermanns ist mit dem „Strukturmodell von Religiosität“ (insb. Oevermann 1995, 1996a, 2001a) die These einer strukturell gegebenen Religiosität formuliert. Das Strukturmodell von Religiosität leitet Religiosität aus der Struktur der menschlichen Lebenspraxis12 ab. 12 Die Lebenspraxis ist „eine Lebenseinheit […], in der sich Somatisches, Psychisches, Soziales und Kulturelles synthetisiert“ (Oevermann 2004: 158). „Lebenspraxis bezeichnet also eine um eine zugleich biologisch gegebene Lebensmitte, d.h. um einen Leib und ein Unbewusstes, zentrierte Subjektivität […].“ (Ebd.: 159)

Ausgangspunkte | 17

Die menschliche Lebenspraxis steht der Theorie nach grundsätzlich vor der nicht zu vermeidenden Herausforderung, in eine offene Zukunft hinein und im Bewusstsein des eigenen, früher oder später, bevorstehenden Todes, Handeln zu müssen und Entscheidungen treffen zu müssen.13 Dabei verfügen Menschen mit ihrer sprachlich konstituierte Sinn- und Bedeutungsfunktion über die Fähigkeiten, über ihre Vergangenheit zu Reflektieren und hypothetische Welten und Zukünfte zu entwerfen. Sie können in Entscheidungssituationen Entscheidungsmöglichkeiten formulieren. Im Moment einer Entscheidung ist jedoch nicht sicher, ob eine realisierte Möglichkeit, eine getroffene Entscheidung, eine „gute“ und passende ist bzw. sein wird. Zunächst müssen Menschen hoffen und darauf vertrauen, dass sich ihr Handeln in der Zukunft bewähren möge. Diesen Umstand bezeichnet Oevermann als das für jede Lebenspraxis zentrale „Bewährungsproblem“ (Oevermann 2001a: 317). Es stellt sich Lebenspraxen fortlaufend die Frage, ob Entscheidungen gute und passende Entscheidung sind, aber in den Entscheidungssituationen kann es „keine Lösung mit Aussicht auf Gewissheit, sondern nur eine Hoffnung geben, die in einem […] Bewährungsmythos verbürgt ist“ (Oevermann 2009b: 40). Dieses Bewährungsproblem betrifft dabei nicht nur einzelne Handlungs- oder Entscheidungskrisen, sondern die Lebenspraxis als Ganze. Oevermann schreibt, Menschen müssten mit der Bewältigung der Adoleszenzkrise „wissen und Stellung dazu bezogen haben, dass man sich als Erwachsener grundsätzlich gleichzeitig in drei basalen Karrieren zu bewähren hat: Zum ersten in der Karriere der Beteiligung an der sexuellen Reproduktion, also von Elternschaft und Sozialisation. Wer sich faktisch daran nicht beteiligt, muss innerlich und äußerlich dazu Stellung beziehen und Gründe dafür mobilisieren. Er trägt sozusagen die Beweislast der Nicht-Beteiligung. Zum zweiten in der Karriere von Leistung und Beruf. Das ist die Dimension, die hinsichtlich des Bewährungsproblems vor allem thematisch ist. Und zum dritten die Karriere der Ab-

13 (Krisenhafte) Entscheidungssituationen sind im Sinne dieses Ansatzes dann gegeben, wenn ein rationales „Richtig-Falsch Kalkül einer Begründung im selben Moment nicht erfüllt werden kann“ (Oevermann 2004: 159). Bestimmt und gekennzeichnet ist die Lebenspraxis nach Oevermann damit insbesondere durch eine „widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung“ (Oevermann 1995: 39). „Entscheidungszwang drückt sich in der Maxime bzw. der Restriktion aus, daß man sich nicht nicht entscheiden kann“ (Oevermann 2000a: 413). Die Begründungsverpflichtung besteht, weil die getroffenen Entscheidungen und die Routinen, die aus Entscheidungen in Krisensituationen hervorgegangen sind, sich (zukünftig) bewähren müssen.

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geltung von Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl, modern gesprochen die Karriere der Staatsbürgerschaft.“ (Oevermann 2004: 171f.)

Boris Zizek entwickelt an Oevermann anschließend ein „Konzept des Menschen als Bewährungssucher“ (Zizek 2017: 150, vgl. Zizek 2012). Er geht dabei davon aus, dass es einen „universalen Bewährungsdrang“ (Zizek 2017: 151) des Menschen gibt. Ein religiöser oder – auch das ist mit dem Strukturmodell denkbar, da es zwischen Struktur und Inhalt von Religiosität unterscheidet – säkularer Glaube kann als Inhalt einer strukturellen Religiosität und in Form von Bewährungsmythen, Subjekten in Hinblick auf das Bewährungsproblem Orientierung geben und eine charismatisierende Wirkung entfalten. Beispielsweise die protestantische Leistungsethik, oder der christliche Erlösungsglaube, können Bewährungsmythen sein. Grundsätzlich geben Bewährungsmythen „Auskunft über Herkunft und Zukunft sowie die aktuelle Identität der eigenen Lebenspraxis“ (Gärtner 2019: 471). Ein „(Bewährungs-)Mythos muß also die berühmten drei Fragen – Wer bin ich (sind wir)? Woher komme ich (kommen wir)? Wohin gehe ich (gehen wir)? – verbindlich und unverwechselbar für eine konkrete Lebenspraxis beantworten. Darin besteht seine universelle Funktion.“ (Oevermann 1995: 64)

Die Evidenz des Mythos muss „durch ein kollektives Verbürgt-Sein […] gesichert werden“ (ebd.: 65). Bewährungsmythen stehen dann charismatisierend und Orientierung stiftend zur Seite, wenn Individuen die universellen Fragen beantworten, Entscheidungen treffen und hoffen, ihre Handlungen, aber auch ihr Leben als Ganzes, mögen sich bewähren. Nach Oevermann bildet der Tod für ein Streben nach Bewährung den Horizont. Mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit ist der Rahmen, innerhalb dessen man sich bewähren kann – das Leben, – abgesteckt. Anders ausgedrückt: Mit dem fundamentalen Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit wird Subjekten bewusst, dass ihre Bewährungszeit endlich ist. Diese Endlichkeit des Lebens oder das „Skandalon des Todes“ (Oevermann 2003: 342), so kann man mit Blick auf La Santa Muerte sagen, ist in der Figur La Santa Muerte verkörpert. Dem Modell nach besteht dann die „eigentliche Funktion der Religion [... darin], für die Bewältigung der grundsätzlich nicht stillstellbaren Bewährungsproblematik jeder konkreten Lebenspraxis eine Hoffnung zu er-

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öffnen, konkret ausgedrückt: das Skandalon des Todes zu bewältigen.“ (Oevermann/Franzman 2006: 79)

Einen weiteren zentralen religionssoziologischen Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden Zugänge zur Erforschung von Religiosität, die auf Praxisformen von Religion fokussieren. Leonard Norman Primiano entwickelte mit dem Modell der „vernacular religion“ (vgl. Primiano 1995, vgl. Bowman/Valk 2012) eine Sichtweise auf Religion, die dafür plädiert, Religion weniger als ein abstraktes System zu untersuchen, sondern verstärkt auf die gelebten, multiplen Formen religiösen Lebens zu blicken und diese zum Ausgangspunkt von Untersuchungen zu machen: Materielle und verbale Ausdrucksgestalten und religiöse Praxis. Religion gilt es dabei zu untersuchen „as it is lived: as human beings encounter, understand, interpret, and practice it.“ (Primiano 1995: 44) Der Entwurf einer „lived religion“ (vgl. Hall 1997) ähnelt Primianos Entwurf. Er fordert, Religion solle so untersucht werden, wie sie praktiziert wird, also auf das alltägliche religiöse Leben von Menschen blickend (vgl. ebd.: vii). Ebenso argumentieren Jeffrey W. Rubin, David Smilde und Benjamin Junge: „People do not just live their religion by thinking, believing, and orienting themselves; rather, they feel and act by way of religious meanings and representation in real time and in real social space.“ (Rubin/Smilde/Junge 2014: 12, vgl. auch: Pansters 2019: 41f.) Diese Positionen macht sich die vorliegende Arbeit zu eigen und untersucht entsprechend die Verehrung La Santa Muertes als eine lived religion mit Fokus auf die Verehrungspraxis auf Ebene der Aufführung, auf die popkulturelle Kommunikation über La Santa Muerte und auf die räumlich-materiale Dimension der Verehrung.

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ANNÄHERUNGEN AN LA SANTA MUERTE Der Tod ist im Spanischen ein weibliches Substantiv, la muerte. Andere Namen La Santa Muertes, allesamt Bezeichnungen für weibliche Familienmitglieder, sind madre, madrecita (Mutter, Mütterchen), madrina (Patin), niña (Kind) oder hermana, hermanita (Schwester, Schwesterchen). La Santa Muertes Weiblichkeit wurde „one of her most unique characteristics“ (Chesnut 2012: 7) genannt. Sie wird sichtbar, wenn Gläubige ihre Figuren La Santa Muertes mit Frauenkleidern ausstatten. „Some designs of La Santa Muerte statuettes explicitly seek to bring out female bodily contours.“ (Pansters 2019: 34) Die namensgebende Kombination aus Santa und Muerte erscheint zunächst strukturanalog zu katholischen Heiligennamen wie Santa Cecilia oder Santa Clara, ohne darin jedoch vollkommen aufzugehen. Der Tod als nicht-menschliche Personifizierung ist nicht in der gleichen Art geheiligt wie die verstorbenen Menschen Cecilia oder Clara. Santa und die Steigerung zu Santísima, La Santa Muerte wird auch La Santísima Muerte genannt, gehen auf das lateinische sanctus, „heilig, unverletzlich, unantastbar“ (Pfeifer 1997: 1165, vgl. Betz et al. 2000: 1539ff.), zurück. Für Emil Durkheim sind „abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken“ (Durkheim 1994: 75) heilig. Indem der Tod, Muerte, in der Kombination mit Santa mit dem Attribut „heilig“ und dem bestimmten Artikel „La“ versehen wird, ist markiert, dass es sich um einen bestimmten und abgegrenzten Tod handelt.14 Der Tod ist im Gegensatz zum Leben ein abstraktes Konzept über das für die Lebenden, einmal abgesehen von Nahtoterfahrungen, keine Erfahrungen zugänglich sind. Da der Tod für die Lebenden jenseits aller Erfahrungen liegt, ist er ohnehin strikt abgegrenzt und muss grundsätzlich nicht markiert und abgegrenzt, also heilig erklärt werden. Santa Cecilia hingegen wird erst mit dem Attribut heilig und von jeder anderen Cecilia unterschieden. In einem Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes wird ihr Name pragmatisch interpretiert. Die Namenskombination aus Santa und Muerte wird als eine durch die Anhänger*innen verliehene eingeführt und erklärt, indem auf die Beziehung zwischen Anhänger*innen und La Santa Muertes sowie auf La Santa Muertes Funktion als Mittlerin zwischen Gott und den Lebenden eingegangen wird:

14 Perdigón Castañeda regt an, die namensgebende Kombination aus Santa und Muerte könnte aus katholischen Vorstellungen von einem „guten“ oder „heiligen“ Tod übernommen worden sein (Perdigón Castañeda 2008a: 24, vgl. auch Pansters 2019: 13).

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„Der Grad von ‚Heilig‘ oder ‚allerheiligst‘, der dem Tod verliehen wurde, wurde ihm [bzw. ihr] im Laufe der Jahre von seinen [bzw. ihren] Anhängern gewährt. Viele von ihnen nennen ihn [bzw. sie] so, weil er [bzw. sie] als weiße Entität dazu dient, sich dem Schöpfer zu nähern, weil er [bzw. sie] als ‚Vermittler‘ [bzw. Vermittlerin] dafür verantwortlich ist, uns vom Leben in den Tod zu bringen.“15 (Garibay Díaz 2007: 9)

Dieser Darstellung nach ist La Santa Muerte eine transitorische Figur, eine Art Schwellenwesen, dessen Tätigkeit darin besteht, die Sterbenden über die Schwelle zwischen Leben und Tod zu befördern. „Sie wird zu uns kommen, um uns mitzunehmen“ wie Gerson, ein Gläubiger La Santa Muertes aus Los Angeles, erklärt. An diese Bestimmung La Santa Muertes als Schwellenwesen lassen sich Überlegungen zu einer Metapher der Schwelle anschließen,16 da man im Spanischen ebenso wie im Deutschen von einer Schwelle zwischen Leben und Tod (umbral de la muerte) sprechen kann. Das Sterben bedeutet in diesem Bild das 15 Im spanischen Original: „El grado de ‚Santa‘ o ‚Santísima‘ que se la ha conferido a la Muerte ha sido otorgado a través de los años por sus seguidores. Muchos de ellos la denominan así por ser una entidad blanca que sirve para acercarse al Creados, por ser la ‚intermediaria‘ encargada de llevarnos de la vida hacia la muerte.“ (Garibay Díaz 2007: 9) Ebenso fast Regnar Kristensen zusammen: „Unlike other saints, La Santa Muerte never lived an earthly life. […] If asked, devotees explain that she is a spirit but they call her a saint because she does saint-like things (e.g. protecting them and granting them favors).“ (Kristensen 2014: 9f.) 16 Inspiriert sind die Bezüge zu einer Metapher der Schwelle von Dieter Thomäs „Philosophie des Störenfrieds“ (Thomä 2016). Diese ist ein Beitrag zur politischen Philosophie des Verhältnisses von Ordnung und Störung. Der Störenfried, der puer robustus, ist dabei ein Wesen, welches sich am Rande einer politischen Ordnung in der Nähe der Grenze einer Ordnung, eben an der Schwelle, „herumtreibt“. Thomä zieht für sein Thema der Bestimmung des Störenfrieds den Begriff der Schwelle dem der Grenze vor: „Eine Schwelle ist typischerweise niedrig. Man kann sie überschreiten, über sie stolpern oder an ihr innehalten. Die Durchlässigkeit der Schwelle ist in weit höherem Maß als die der Grenze variabel und verhandelbar. Zum zweiten kann mittels der Schwelle eine Aufteilung vorgenommen werden, mit der sich zwei Räume als Drinnen und Draußen definieren lassen.“ (Ebd.: 16) Den Störenfried bestimmt Thomä als den „Unzugehörige[n] schlechthin“ (ebd.: 17): „Der puer robustus, der sich an der Schwelle herumtreibt, steht nicht zwischen zwei Ordnungen, er bewegt sich vielmehr am Rand einer einzigen Welt, die durch die Reichweite ihrer Macht definiert ist. Dieser Rand ist kein anderer Ort, sondern eigentlich ein Nichtort.“ (Ebd.) Der puer robustus als Typus des Störenfrieds stört eine Ordnung von ihrem Rande aus.

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Überqueren einer Schwelle zwischen Leben und Tod, einen Übergang, den in der Vorstellung ihrer Gläubigen La Santa Muerte durchführt und begleitet. In dieser Vorstellung ist das Sterben eine Art Übergangsritus (Gennep 1981, Turner 2008), welcher auf der Schwelle, in der „Liminalität“ (Turner 2008: 249f.), von einer Unordnung gekennzeichnet ist: Diejenigen, die einen Übergangsritus durchlaufen, sind in der Liminalität des Übergangs als „Schwellenwesen“ „weder hier noch da“. „[S]ie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.“ (Ebd.: 249) Die Liminalität eines Übergangsritus endet mit dem Übertritt des jeweiligen Schwellenwesens in eine neue Ordnung. Da bezogen auf den Tod eine neue Ordnung erfahrungsmäßig nicht bestimmbar ist, endet die gedankenexperimentelle Übertragung der Überlegungen zum Übergangsritus auf das Sterben an dieser Stelle. Aus diesen Überlegungen lässt sich jedoch der Schluss ziehen, dass La Santa Muerte als personifizierter Tod, als Schwellenwesen und als Agentin des Übergangs zwischen Leben und Tod in besonderer Weise dazu geeignet ist, eine eigene Ordnung mit eigenen Regeln und Normen hervorzubringen, die jenseits dessen, was die Schwelle abgrenzt, operiert und die Unbestimmtheit der Liminalität auf der Schwelle möglicherweise gar aufzulösen vermag. Zeiterfahrungen und Totendarstellungen in der mexikanischen Bilderwelt Mit Blick auf mexikanische literarische Werke wie Yuri Herreras Trilogie „Der König, Die Sonne, Der Tod“17 (Herrera 2013a), Juan Rulfos „Pedro Páramo“ (Rulfo 2010) oder nach der Lektüre von beispielsweise Roberto Bolaños Roman „2066“ (Bolaño 2004) mit Bezug zu Mexiko, lässt sich angesichts der vielen Toten, die in diesen Romanen in der Welt der Lebenden wandeln, durchaus von einer mexikanischen kulturellen Affinität zur Totendarstellung sprechen. Claudio Lomnitz hat mit „Death and the Idea of Mexico“ (Lomnitz 2008) die Tradition der Totendarstellungen und Todesbezüge in Mexiko historisierend und in Hin-

17 Im spanischen Original sind drei Bücher erschienen. Für die Veröffentlichung in deutscher Sprache im Fischerverlag wurden die Bücher in einer Ausgabe herausgegeben. Die Originaltitel sind: „Trabajos del reino“ (Herrera 2008), „Señales que precederán al fin del mundo“ (Herrera 2011) und „Transmigración de los cuerpos“ (Herrera 2013b).

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blick auf Prozesse der Staatsbildung untersucht.18 Er schreibt über die mexikanischen Todes- und Totendarstellungen, „dying, death, the afterlife, and commemorations for the dead provide a rich repertoire of figures and images that are developed in any number of situations. As a result, there is deep cultural resonance in the move to use popular intimacy with death as a conceptual field with which to think through the national question, and indeed as a metonymic sign of Mexicanness itself.“ (Ebd.: 27)

In ähnlicher Weise macht auch Huffschmid in der mexikanischen visuellen Kultur „a certain familiarity with skeletons and skulls due to their visualization and materialization in Mexican archaeology and the country’s pre-Hispanic heritage“ (Huffschmid 2019: 114) aus. Die vielgestaltigen mexikanischen Todes- und Totenrepräsentationen lassen sich in ihrer Emergenz als Ausdrücke je verschiedener Zeiterfahrungen deuten. Die bekannte Figur „La Catrina“ (Abbildung 1) beispielsweise schuf der Cartoonist José Guadalupe Posada 1894 während der Präsidentschaft Porfirio Díaz (1876–1911). Sie ähnelt in ihrer Ausstattung der Frau des Präsidenten und karikiert deren Opulenz bzw. allgemein die Opulenz und Extravaganz der Herrschenden.

18 Vgl. auch Flores Martos, der die Verehrung La Santa Muertes mit anderen „popular cults to miraculous dead or popular saints“ (Flores Martos 2019: 85) vergleicht und mit Toten- und Todesdarstellungen in ganz Lateinamerika kontrastiert: „Analogous to the omnipresence of ‚Dances of Death‘ in the artistic and iconographic representations of the Early Middle Ages – that announced the proximity and inevitability of death that the plagues so convincingly spread, and the looming end of worldly pleasures – at a time when outbreaks of the Black Plague and other epidemics jeopardized the continuity of human and social life in those medieval cities, with traumatic impacts on demography and modes of socio-political organization and relations, today in Latin America ‚Death‘ is once again a protagonist.“ (Ebd.: 113)

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Abbildung 1: La Catrina

José Guadalupe Posada, 1913

Das Aufkommen solcher von Lomnitz als ein Typ von Totendarstellungen ausgemachten Darstellungen steht in Verbindung zur Zeiterfahrung dynamischer Modernisierungsprozesse, deren Kehrseite bildlich als Totenfiguren dargestellte „[r]umors of the end of the world“ (Lomnitz 2008: 381) waren.19 Als Ausdruck und Reaktion auf diese Zeiterfahrung deutet Lomnitz Darstellungen wie Posadas Totenfiguren, wenn er schreibt, „[d]isplaced ways of life, the wrenching movement of capitalist expansion, modern statecraft, and the mechanization of death all brought the dead back as witnesses, ghosts, and omens.“ (Ebd., siehe auch Weber 2019) Zur Verdeutlichung dieses Umstands zieht Lomnitz Posadas Darstellung mit dem Titel „Las bicicletas“ (Die Fahrräder, Lomnitz 2008: 382: Abbildung 9.4, hier Abbildung 2) heran, der hier die Fotografie einer Interpretation der fahrradfahrenden Skelette vom Asphalt Mexiko-Stadts aus dem Jahr 2016 (Abbildung 3) zur Seite gestellt ist.

19 Porfirio Díaz hatte während seiner Herrschaft das Heer ausgebaut, ging harsch und repressiv gegen seine Gegner*innen vor, „tamed internecine conflict and brought mortal enemies together in a grand official funeral, under an opulent monument of marble“ (Lomnitz 2008: 381). Dabei brachte das Regime Mexiko einerseits wirtschaftlichen Aufschwung und einen gewissen Wohlstand, andererseits große und ambivalente Veränderungen.

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Abbildung 2: Las bicicletas

José Guadalupe Posada, 1913

Abbildung 3: Fotografie einer Abbildung fahrradfahrender Skelette auf einer Straße im Zentrum Mexiko-Stadts

Silke Müller, 2016

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Während die zeitgenössische Darstellung aus Mexiko-Stadt wohl eher ein Kommentar zum für Fahrradfahrer*innen lebensbedrohlichen Straßenverkehr der Großstadt ist, interpretiert Lomnitz Posadas Darstellung der toten Fahrradfahrenden aus dem 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit Modernisierungsund Technologisierungsprozessen: „The forward movement of technology and history, represented here by the bicycle (which was a novel and very bourgeois article of leisure at the time), is in fact only transporting skeletons, transporting people who are in every way like their ancestors except in their ridiculous insistence on racing.“ (Ebd.: 381)

Die toten Fahrradfahrer*innen Posadas sind als Figuren ebenso wenig wie La Catrina in eine religiöse Praxis eingebunden. Obgleich die Totendarstellungen Posadas und ähnliche aus der mexikanischen Bilder- und Symbolwelt des 20. Jahrhunderts keine religiösen Figuren – und außerdem Tote, nicht den Tod – zeigen, schließt die zeitgenössische Verehrung La Santa Muertes in ihrer Ästhetik durchaus an diese Darstellungen an.20 Die Abbildung 4 zeigt beispielsweise eine als La Catrina bekleidete Figur La Santa Muertes in einem Kirchenraum in Guadalajara.21 20 Pansters zeigt in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten und Grenzen eines auf der Übertragung der Totenbezüge der mexikanischen Bilderwelt auf die Verehrung La Santa Muertes fußenden Erklärungsrahmens auf: „While it is erroneous to conceive the Day of the Dead, Posada’s skeletons, the Santa Muerte cult, and even more so preColombian symbols of death, as manifestations of some deep cultural motif, it is possible to observe meaningful and dynamic connections among these phenomena. These connections are not unmediated expressions of some cultural essence but, rather, the result of specific social and political forces. Over time, these forces have formed layers and shaped practices of meaning-making by different social actors through which symbols, forms and meanings may migrate from one place to another, becoming transformed in the process.“ (Pansters 2019: 17) 21 Kristensen argumentiert, La Santa Muerte sei aus einer Fusion zweidimensionaler Darstellungen La Santísima Muertes aus der Zeit vor den 1990er Jahren mit La Catrina hervorgegangen. La Santa Muerte sei, „the transformed popular death figure of La Catrina now endowed with a forceful ‚spirit‘ and […] a transformed holy vision of a biblical-dark-angel-of-death now ‚downgraded‘ to a saint“ (Kristensen 2014: 3f.). Pansters schreibt, „the frivolous human-like qualities of La Catrina (her enjoyment of tequila, cigars and beautiful clothing) have become infused with the divine powers of older religious beliefs in La Santísima Muerte.“ (Pansters 2019: 18) Auch Flores Martos äußert, „familiarization with José Guadalupe Posada’s calaveras and the Catrina

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Abbildung 4: Figur La Santa Muertes in einem Kirchenraum in Guadalajara 22

Silke Müller, 2016

as typically Mexican ‚tastes‘ produces a fertile nursery for the germination of La Santa Muerte, despite the fact that these figures are symbolically and morally distanced.“ (Flores Martos 2019: 93) 22 Die Interviewte Fernanda identifiziert die abgebildete Figur als eine als La Catrina ausgestattete Santa Muerte.

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Einleitende und exemplarische Analyse einer Figur La Santa Muertes Dreidimensionale Figuren La Santa Muertes gibt es in diversen Größen, von kleinen Anhängern bis zu meterhohen Statuen. Die Figuren werden auf Märkten, in online shops und in botánicas23 angeboten. Meist sind sie maschinell erzeugt, von Hand bemalt und mit Sensen ausgestattet. Es gibt auch komplett automatisch gefertigte oder vollständig handgemachte Figuren. Neben den Figuren finden sich auf Altären häufig mit Bildern La Santa Muertes versehene Kerzen. Diese können Figuren ersetzen oder mit ihnen zusammen auf Altären arrangiert werden. Solche Kerzen werden teilweise in gewöhnlichen Supermärkten (Abbildung 5) zum Kauf angeboten.

23 Botánicas sind Geschäfte für religiöse und magische Produkte, für Ritualutensilien und Devotionalien. Während einige botánicas in den USA und in Mexiko auf La Santa Muerte und mit der Verehrung in Zusammenhang stehende Produkte wie Kerzen, Bücher, Pulver und Figuren spezialisiert sind, bieten andere botánicas ein breiteres Sortiment an, das auch andere Praktiken und Traditionen einschließt, z.B. afroamerikanische Traditionen und den Katholizismus. Einige botánicas bieten nur Waren an, andere ebenso Behandlungen und Leistungen wie z.B. Kartenlegen oder limpias mit La Santa Muerte. Carolyn Morrow Long schreibt über botánicas in den USA, diese seien „usually owned by people from Latin America or the Carribbean who are followers of one of the African-based religions; some are initiated priests or priestesses. I have encounteres Cuban, Puerto Rican, Dominican, Salvadoran, Columbian, Guatemalan, Haitian, and Brazilian botánica owners. Yerberías are owned by Mexicans or Mexican Americans who are familiar with the traditions of curanderismo and Brujería.“ (Long 2001:159f.) Während der Feldforschung zu dieser Arbeit wurden die Geschäfte, die Carolyn Morrow Long als yerberías (von Spanisch yerba, Gras, Kraut oder Gewürz) bezeichnet, von ihren Besitzer*innen, Kund*innen und sonstigen Gesprächspartner*innen in Los Angeles und Tijuana in der Regel ebenfalls botánicas genannt. Die Bezeichnung yerbería fand sich seltener und bedeutete meist, dass das Geschäft auf den Handel mit (Heil-)Pflanzen und Kräutern spezialisiert war. Im Folgenden werden alle Geschäfte dieser Art als botánicas bezeichnet. Siehe zu botánicas im Kontext der USA weiter Viladrich 2006, Gomez-Beloz, Chavez 2001, Jones et al. 2001.

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Abbildung 5: Religiöse Kerzen in einem Supermarkt im Süden von Los Angeles. Kerzen mit Darstellungen La Santa Muertes füllen jeweils die rechte Hälfte der unteren drei Regalböden.

Silke Müller, 2015

Für die Ausstattung von Hausaltären sind zwischen zehn und 50 cm hohe Statuen La Santa Muertes aus Gips oder Plastik verbreitet. Die Abbildung 6 ist die Fotografie einer (ohne die Sense) 15 cm großen Figur aus einer botánica in Los Angeles. Sie kostete umgerechnet ca. 15 Euro. Im Folgenden wird sie in Anlehnung an die Prinzipien der Segmentanalyse (Breckner 2010, 2012, 2014) einleitend und exemplarisch einer Analyse unterzogen.

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Abbildung 6: Fotografie einer Statue La Santa Muertes

Silke Müller, 2020

Die abgebildete Figur La Santa Muertes ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern in ihrer Gestaltung und der Darstellungsweise sowohl in den USA wie auch in Mexiko verbreitet. Die Statue besteht aus einem vermutlich maschinell gefertigten Körper, der von Hand bemalt und mit einer Sense ausgestattet ist. In der botánica gab es neben fünf ziemlich identischen roten Figuren mit Weltkugeln in

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einer Hand auch Figuren mit anderen Attributen und in anderen Farben. Den unterschiedlichen Farben kommt eine Bedeutung bei der Verwendung der jeweiligen Figur in der religiösen Praxis zu. Die Gläubigen wählen ihre Figuren, und hier ist die Farbe besonders wichtig, nach ihren Bedürfnissen aus. In einem Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes heißt es über die roten Figuren La Santa Muertes „[…] eine Santa mit diesen Farben wird uns unterstützen, mit unserem Partner [maskulin und feminin] und den Menschen in unserem Umfeld in Einklang zu sein.“24 (Anonym/A 2007: 23) Sie steht auch für emotionale Stabilität (vgl. ebd.). Bei einer ersten Betrachtung ist die abgebildete Statue La Santa Muertes als eine Heiligenfigur zu identifizieren und sieht mit ihren sichtbaren Knochenhänden und dem Schädel aus wie die Miniatur eines von einem roten Gewand umhüllten menschlichen Skeletts. In der linken Knochenhand der Figur liegt eine Weltkugel. Mit der rechten Knochenhand umfasst La Santa Muerte den Stiel einer großen Sense, so wie ein Bischof seinen Stab halten würde. Das rote Gewand und eine mit einer goldbraunen Kordel zusammengebundene Kutte erinnert an eine Mönchskutte. Dort, wo die Füße des Skeletts zu vermuten wären, ist eine Eulendarstellung von ebenfalls goldbrauner Farbe angebracht. Die ganze Figur ist – das ist auf der Aufnahme nicht zu erkennen – mit feinen Glitzerpigmenten benetzt. Sie steht auf einem Sockel, sodass sie sich aufstellen lässt. In diesem Sockel sind von unten, also nur sichtbar, wenn man die Figur umdreht, einige Getreidekörner eingelassen. Mit dieser „Ladung“ der Statue ist ein erster Hinweis auf die Einbindung afroamerikanischer religiöser Traditionen in die Verehrung La Santa Muertes gegeben. Die sichtbaren Skelettteile, also die Knochenhände und der Schädel, sind naturalistisch dargestellt. Die grauweiße Bemalung, die Einritzungen an den Händen, eine Furche im Schädel und die Unebenheiten in den Augenhöhlen erwecken den Eindruck eines fortgeschrittenen Verfallsprozesses des dargestellten Skeletts. Ein menschliches Skelett zeichnet sich dadurch aus, dass die Individualität der Person, auf die es referenziell verweist, nicht mehr unmittelbar verfügbar ist. Ein Skelett ist gewissermaßen egalitär und identitätslos. Es könnte jede*r sein und nur noch Forensiker*innen können die vergangene Identität beispielsweise mittels DNA-Analyse feststellen. Mit der Umhüllung durch das rote Gewand und durch die weiteren Attribute, die Sense, die Kordel und die Eule, erhält das 24 Im spanischen Original: „Rojo: A este color se le ha visto muy relacionado con el amor y la pasión y en efecto el poseer] una Santa con estos colores ayudará a que todo esté en armonía con nuestra pareja y con las gentes que nos rodean. También representa la estabilidad emocional.“ (Anonym/A 2007: 23)

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abgebildete Skelett zwar seine Identität als Heiligenfigur La Santa Muerte, der Aspekt der Gleichheit und Allgemeinheit des Skeletts als von Mensch zu Mensch ähnliches, tragendes, aber identitätsloses Gerüst des menschlichen Körpers bleibt jedoch ebenso erhalten. Nun zu einer genaueren Betrachtung einzelner Elemente der Figur, bzw. einzelner Segmente der Fotografie. La Santa Muerte hält mit der rechten Knochenhand eine aufgerichtete Sense. Die Sense ist durch einen Schaschlikspieß und eine dicke, also definitiv nicht schneidefähige, Klinge aus Gips symbolisiert. Die Klinge ist mit einem Muster verziert und mit – in der Abbildung nicht sichtbarem – Glitzerpulver bestäubt. In Anlehnung an die Figur des Sensenmanns, dessen Kennzeichen, Attribut und Arbeitswerkzeug die Sense ist, ist die aufrechte Darstellung der Sense in der Hand der Figur, ein ins Freundliche oder ins Wenig-Bedrohliche überführtes Symbol für den bevorstehenden Tod.25 Mit dem Bezug zum Sensenmann sind die Gleichheit und die Unvermeidbarkeit des Todes ausgedrückt, wobei La Santa Muerte wenig aggressiv wirkt und gewissermaßen freundlich dargestellt ist. So gesehen lässt sich hier auch der Standpunkt vertreten, mit La Santa Muerte sei auf das Skandalon des Todes eine beschwichtigende Antwort gegeben; nach dem Motto „wir sterben, aber furchtbar wird es mit ihr, La Santa Muerte, nicht werden“. Wie Miguel, ein Anhänger La Santa Muertes aus Los Angeles, es nicht ohne Witz ausdrückt, „kommt La Santa Muerte für alle. Katzen, Hunde, Babys, Alte, Junge, Herr, Dame, Frau oder Mann, sss… Doppelgeschlecht, was auch immer.. sie muss kommen.“26 In einem Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes wird die Deutung der Sense als Erntewerkzeug 25 Die Sense der abgebildeten Figur La Santa Muertes wirkt in ihrer Aufrichtung und bestäubt mit dem Glitzerpulver wenig aggressiv und nicht bedrohlich, sie erinnert auch an einen Bischofstab, verbleibt aber als Sense in einem Bezug zum Sensenmann. Der Sensenmann und übertragen auf die Darstellung La Santa Muertes, auch La Santa Muerte, „mähen“ bzw. „ernten“ in Anlehnung an die Ernte auf dem Feld Menschen „ab“. Die Verbindung von Tod und Ernte in der Landwirtschaft findet sich in der Bibel. Z.B.: „Die Leichen der Leute liegen wie Dünger auf dem Feld, wie Garben hinter dem Schnitter“. (JER 9,20–21) 26 Gespräche mit Interviewpartner*innen sowie Ausschnitte aus Interviews werden der Notationskonvention der Interviews entsprechend wiedergegeben (siehe Anhang). Vgl. Pansters: „Indeed, twenty-first-century devotees of La Santa Muerte will remind anyone who will listen that this saint’s immense power is epitomized by its great equalizing capacity, all the more so in a society as deeply unequal as neoliberal Mexico, for death undoes the differences between rich and poor, the included and the excluded, the neoliberal tycoon and the market woman, mestizo and indigenous, and criminals and law-abiding citizens.“ (Pansters 2019: 18)

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positiv hervorgehoben, indem betont wird, dass sie als Symbol für die „Ernte neuer Hoffnung“ (Anonym/A: 18f.) auch Wohlstand zu bringen vermag. Darüber hinaus wird die Sense in der Beschreibung auch als Waffe gedeutet und mit Vorstellungen von gesandtem Übel in Verbindung gebracht: „Als Waffe wird sie symbolisch gegen die schlechten Energien der Feinde angewandt; auf diese Weise befreit sie von deren schlechten Energien, die schlechte Dinge hervorrufen. […] Symbolisch wird die Sense dazu verwendet, die schlechten Energien abzuschneiden, die eine Person an uns sendet.“27 (Anonym/A: 18f.)

Zusammengenommen verhilft die Sense zu Wohlstand, reduziert schlechte Energien und gibt Sicherheit (vgl. ebd.). Letzteres, indem sie als Waffe gesandte Schäden in Form schlechter Energien zu zerschneiden und zu zerstören vermag. Mit der Sense wird insgesamt auch das mögliche Wirken La Santa Muertes deutlich: Die Figur kann in die Geschicke der Welt und die Leben ihrer Anhänger*innen eingreifen. Über die Bedeutung der Eule28 am Fuße der Figur heißt es in einem Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes, die Eule sei ein Tier, das aufhorche, „wenn in der Umwelt Hass oder Böses herrscht. Es wird auf Altären für Schutz

27 Im spanischen Original: „Como arma, se emplea simbólicamente para las malas energías de los enemigos; de esta forma también estará libre de las males influencias que le llevan a realizar cosas malignas. Por otra parte, la guadaña, al ser un instrumento de cultivo, es un símbolo de cosecha de la nueva esperanza, por lo que también nos trae prosperidad. En términos generales, ayuda en la prosperiadad, corta energías negativas y da seguridad. De manera simbólica la guadaña se emplea para cortar las energías negativas que cualquier persona esté enviando hacia nosotros.“ (Anonym/A: 18f.) 28 Die Symbolik von Eulendarstellungen ist in weiterer Perspektive divers und uneinheitlich. Eulen können allgemein sowohl für Gefahr und Hinterlist wie auch für Glück und Weisheit stehen. Als nachtaktive Tiere sind Eulen Jäger, die ihre Beute im Stillen beobachten, bevor sie plötzlich angreifen. In der griechischen Mythologie ist die Eule der Athene zugeordnet und steht für Weisheit, vielleicht auch, weil Eulen im Dunklen sehen können. Rafaela Castro weist bezüglich Mexiko und dem Südwesten der USA auf einen Zusammenhang zwischen Eulen und Vorstellungen über Hexen hin: „Witches often take the form of an owl, in New Mexican Spanish called a tecolote, from the Nahuatl word teolotl. The hoot of an owl is [in the context of the US Southwest and Mexico] an evil omen, so one must be careful to stay away from owls. In other parts of the Southwest owls are sometimes known as lechuzas. A lechuza is a woman who has sold her soul to the devil and becomes an olw by night.“ (Castro 2001: 26f.)

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und Abwehr verwendet.“29 (Goodman 2013: 20) Einem anderen Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes nach hilft die Eule auch „weise zu handeln“ (Velázquez 2012: 15).30 Anhand der Eule zu Füßen der Figur wie auch anhand der Sense lässt sich die Möglichkeit, La Santa Muerte in Rituale zum Schutz vor gesendeten Übeln einzubinden, ablesen. In der linken Knochenhand hält La Santa Muerte eine Weltkugel. In der christlichen Bildwelt gibt es Figuren, die auf ihren Feinden, auf der Weltkugel oder auf Totenschädeln stehen. Als calcatio-Darstellungen (vgl. Pomarici 2016: 98) zeigen sie, dass die jeweilige Figur ihre Feinde, die Welt oder den Tod unterworfen hat. Da die abgebildete Figur La Santa Muertes die Weltkugel in der Hand hält, erinnert die Darstellung eher an Herrscherdarstellungen des europäischen Mittelalters von Souveränen mit Reichsapfel und Zepter. Der Reichsapfel, ein Symbol des Reichs als Erdball mit Kreuz, liegt in diesen Darstellungen in den Händen des Herrschers und symbolisiert seine uneingeschränkte Macht über ein allumfassendes Reich. Mit der Weltkugel in der einen und der Sense in der anderen Skeletthand ist dargestellt, dass La Santa Muerte als nicht-weltliche Heiligen- und Todesfigur der Souverän mit uneingeschränkter Macht und Gewalt über alles irdische Leben ist. Bemerkenswerterweise – und, so ist folgendes im Forschungstagebuch notiert, „ich habe die Figur nicht wegen dieses Umstands erstanden“ – enthält die Darstellung der Erdoberfläche auf der Weltkugel, die ansonsten nur farblich zwischen Land und Wasser unterscheidet, eine geopolitische Markierung. Die US-mexikanische Grenze ist sichtbar. Der Erdball ist so ausgerichtet, dass Mexiko, von vorn betrachtet, eine zentrale Position zukommt. Im Gegensatz zu Kanada ist Mexiko in der Darstellung sehr deutlich durch eine tiefe Einkerbung im Material von den USA abgegrenzt. Es lässt sich deuten, La Santa Muerte habe Macht und Gewalt über die Welt, aber insbesondere über die Geschicke Mexikos, das im Mittelpunkt steht und maßgeblich durch die Grenze zu den USA bestimmt ist. Macht und Gewalt hat sie in dieser Interpretation auch über die geopolitische Grenze selbst.

29 Im spanischen Original: „[E]l búho es un animal que altera cuando hay odio o maldad en el ambiente. Se le utiliza en altares de protección y rechazo.“ (Goodman 2013: 20) 30 Im spanischen Original: „Búho: al ser un ave de la oscuridad, tiene una vista muy aguda y un sentido de la orientación infalible, por esta razón respresenta nuestros ojos y sentimientos; de esta forma, por más confundidos y ciegos que estemos, el búho estará a nuestro lado para ayudarnos a salir adelante de cualquier eventualidad que podemos tener. Esta ave tambíen se relaciona con la sabiduría, nos ayuda a superar día con día nuestras expectativas culturales para poder actuar sabiamente.“ (Velázquez 2012: 15)

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Die Darstellung La Santa Muertes ist des Weiteren eine Kombination verschiedener Symbolwelten. In der Darstellung sind alte und neue Elemente zusammengeführt. Besonders deutlich wird dieser Umstand anhand des roten Gewands der Figur, das an eine mittelalterliche europäische Mönchskutte erinnert. Dabei zitiert die Darstellung zwar eine solche Mönchskutte, bricht diese Referenz jedoch mit der intensiv roten Farbgebung sowie durch die Benetzung mit Glitzerstaub auf. Die Figur enthält mit dem dargestellten Umhang eine zeitgenössische und popkulturell eingefasste Imagination über ein historisches Artefakt, die Kutte eines Mönches aus dem europäischen Mittelalter. Zusammenfassend kommen in der Darstellung La Santa Muertes als Todesheilige die Unbedingtheit, Gleichheit und die Unabwendbarkeit des für alle Lebewesen gleichermaßen früher oder später bevorstehenden Todes zum Ausdruck. Dabei ist La Santa Muerte keine Furcht und Schrecken verbreitende Todesfigur. Was in der Darstellung dieses allem Leben bevorstehenden Todes bereits angelegt ist, wird mit den Symbolen der Weltkugel mit Staatsgrenze und der Sense sowie mit der Eule weiter deutlich: La Santa Muerte verfügt wie ein Souverän über große Macht und Gewalt über die Geschicke der Welt und kann diese innerweltlich einsetzen. Die abgebildete Figur La Santa Muertes ist eine Kombination mehrerer Symbolwelten. Altes, wie die Referenz zum mittelalterlichen Mönchtum, ist in der Darstellung neu, zeitgenössisch und popkulturell interpretiert und eingefasst. Die Darstellung La Santa Muertes als Heilige ist somit ein Eklektizismus oder Synkretismus,31 der sich verschiedener Symbolwelten bedient. Diese Verbindung und Integration unterschiedlicher Symbolwelten weist dabei auch deutliche Züge einer popkulturellen oder kulturindustriellen Ästhetik auf. Vergleichbar schreibt auch Huffschmid, 31 Mit dem Begriff Synkretismus soll positiv gewendet die Kreativität, Widerstandskraft und Unvermeidbarkeit kultureller Mischung beschrieben werden. Religiöser Synkretismus ist in diesem Sinne verbunden mit einer „negotiation of identities and hegemonies“ (Stewart/Shaw 1994: 19). Diese Begriffsverwendung steht am Ende eines Diskurses in dem der Begriff des Synkretismus in der Vergangenheit „extremely prejorative meanings“ hatte. „In the case of syncretism and hybridity, various writerst have examined these pasts and reappropriated the terms through a positive reevaluation of the political significance of mixture“ (Stewart 2007: 4). Pansters argumentiert, „[t]he extraordinary syncretic practices and imagery associated with La Santa Muerte are not so much the outcome of the concordance of spiritual traditions, or of a purely mercantile logic that seeks to increase the number of devotees, but rather of their roots in Mexican folk Catholicism, which is historically made up of a particularly rich tapestry of Catholic, indigenous, African, and spiritualist belief systems.“ (Pansters 2019: 51)

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„the cult appears as a permanent, though discontinuous, blending of diverse cultural (re)sources, of high esoteric hybridity […], a sort of strategic eclecticism that is penetrated by New Age semantics and commercialization with its inherent banalization.“ (Huffschmid 2019: 114, vgl. auch Michalik 2011: insb. 165)

Die in der Figur La Santa Muertes vereinten Symbolwelten bilden eine Einheit in ihrer Verschiedenartigkeit. Die dieser Einheit zugrundeliegenden Elemente werden durch die Kombination einerseits aufgebrochen und andererseits zu einer Einheit in La Santa Muerte überführt. Der Bezug zum mittelalterlichen Mönchtum wird in der Farbgebung und mit dem Glitzerpulver ins Popkulturelle überführt. Kulturindustrielle und popkulturelle Anteile (insb. Glitzerpulver, rote Farbe und auch das an eine Comic-Zeichnung erinnernde Aussehen der Eule) erlangen mit dem Einbezug in die Gestaltung der Figur La Santa Muertes bzw. in der Überführung in eine religiöse Figur und Heilige eine religiöse Ernsthaftigkeit, die der popkulturellen und kulturindustriellen Form entgegensteht und letztere somit aufbricht und wandelt. Die katholische Form der Heiligen wird erweitert, indem der Figur mit der Erdkugel, der Eule und der Sense Attribute von magischer Bedeutung, die über einen engen katholischen Rahmen hinausgehen, hinzugefügt werden. Dieser Kombination unterschiedlicher und vom Standpunkt der jeweiligen Symbolik aus gesehen unvereinbaren Kombination von Symbolwelten, müsste auf Subjektebene eine Form der Desintegration in bestehende Symbolwelten zugrunde zu liegen. Vom Standpunkt einer traditionsbewussten Katholikin aus betrachtet, wäre es widersinnig einer Heiligenfigur die Sense, die Erdkugel mit Staatsgrenze und die Eule hinzuzufügen. Oder, um einen anderen Vergleich vorzunehmen: Eine Historikerin, die damit betraut wäre, einen mittelalterlichen Mönch abzubilden, würde auf Glitzerpulver und eine rote Färbung der Kutte, die im Mittelalter nicht verfügbar waren, verzichten. Anhänger*innen La Santa Muertes müssen sich daher, so eine erste These, durch eine noch genauer zu bestimmende Form der Desintegration in bestehende (Symbol-)Welten auszeichnen. Auch Fragoso formuliert mit Bezug zu Bolívar Echeverrías Arbeiten zur „barocken“ mexikanischen Moderne (Echeverría 1998) die These einer Form der Desintegration: „In dem barocken Ethos der Gläubigen La Santa Muertes manifestiert sich ihre Situation […], denn sie leben weder in einem modernen Kontext, weder in einem vormodernen noch in einem postmodernen. Ihre Lebensbedingungen sind nicht so sehr an eine Situation

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gebunden, sondern befinden sich eher in einem dynamischen Prozess, gewissermaßen in einem ‚Dazwischenliegen‘.“32 (Fragoso 2011: 10)

Gleichzeitig scheinen Anhänger*innen La Santa Muertes, so eine zweite These, diese Desintegration a) in der Erschaffung La Santa Muertes als ihrer eigenen Figur sichtbar zu machen und b) möglicherweise aufzulösen. Schließlich ist La Santa Muerte eine die verschiedenen Elemente integrierende Neuschöpfung und eine Einheit. In diesem Sinne ist die Figur ein Symbol der sozialen Welt ihrer Anhänger*innen. Sie ist ein wirklich eigenes, und wie eingangs beschrieben, gegenwärtig sehr sichtbares Symbol ihres Milieus. Die einführende und exemplarische Analyse der abgebildeten Figur La Santa Muertes zeigt auch, dass eine Untersuchung der Verehrung soziologisch basiert sein muss, denn die exemplarische Analyse der Figur legt nahe, dass das Milieu, also der soziale Hintergrund, vor dem La Santa Muerte entstand und in dem die Figur verehrt wird, dieses religiöse Phänomen strukturiert. Insofern geht es im Folgenden darum, ausgehend von einer Bestimmung des sozialen Hintergrundes der Verehrung, d.h. ausgehend von der Bestimmung der zentralen gemeinsamen und bestimmenden Milieuerfahrungen der Anhänger*innenschaft, die gegenwärtige Verehrung La Santa Muertes zu erklären.

BORDERLANDS UND MESTIZA CONSCIOUSNESS Oft wird als borderland der durch ein „ongoing movement of people, products and ideas“ (Lomelí/Segura/Benjamin-Labarthe 2019: 99) charakterisierte Raum um die Staatsgrenze zwischen den USA und Mexiko bezeichnet. Für die Chican@-Theoretikerin Gloria E. Anzaldúa sind borderlands mehr als geografische Grenzgebiete: „The psychological borderlands, the sexual borderlands and the spiritual borderlands are not particular to the Southwest [of the US]. In fact, the Borderlands are physically present wherever two or more cultures edge each other, where people of different races occupy the same territory, where under, lower, middle and upper classes touch, where the space between two individuals shrink with intimacy.“ (Anzaldúa 2012: 19)

32 Im spanischen Original: „El ethos barroco de los fieles de la Santa Muerte hace manifiesta su situación [...], pues no viven en un contexto moderno pero tampoco en uno premoderno o posmoderno. Sus condiciones de vida no están ligadas tanto a una situación estable como a un proceso dinámico, un estar ‚en medio‘.“ (Fragoso 2011: 10)

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Anzaldúa hat mit „Borderlands: the new mestiza = la frontera“ (Anzaldúa 2012) ein Konzept von borderlands als innerer Realität der mestiza33 entworfen.34 Für Anzaldúa ist die mestiza ein Produkt des Transfers kultureller und spiritueller Werte von einer Gruppe zur anderen (ebd.: 100). Im „Inneren“ der mestiza findet Anzaldúa ein spirituelles borderland (vgl. Pérez 2019, Carrasco/Lint Sagarena 2008), das die Erinnerung an eine indigene Vergangenheit ebenso wie an die Kolonialisierung birgt. Borderlands sind nach Anzaldúa auch ein sozialer Raum innerhalb dessen „women, men, and children adapt, resist, and innovate to cope with social inequalities based on racial, gender, class, and/or sexual difference. These expressions of agency incorporate spiritual transformations and psychic processes of exclusion and identification“ (Anzaldúa 2012: 100).35 33 Anzaldúa definiert Mestizen allgemein als „people of mixed Indian and Spanish blood“ (Anzaldúa 2012: 27). Mestiza bezeichnet auch ein Subjekt, das Ergebnis eines Prozesses der mestizaje ist. „Mestizaje stands as a privileged category in Chicana/o critical discourse. At one level, the term simply represents the mixture of two races. In a Chicana/o context, the word evokes a bloody history of Spanish imperial reach into a world once home to millions of Indigenous inhabitants. It recalls, too, long-standing and long-reaching U.S. governmental intervention in the politics and policies of Mexico. […] Chicana/o mestizaje as a condition embodies the conflicted historical legacy of contact and conquest; and so, at a visceral level it seems to provide a racialized identity.“ (Pérez-Torres 2019: 229) 34 Ein Gemälde, das wie eine künstlerische Ausdrucksgestalt eines solchen borderlands aussieht, ist das „Selbstportrait auf der Grenzlinie zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten“ der mexikanischen Malerin Frida Kahlo von 1932. Kahlo zeigt sich in dem Gemälde auf einem kleinen Podest wie auf einer Schwelle zwischen auf der einen Seite einem präkolonialen Mexiko mit Göttern und Pflanzen, deren Wurzeln tief in den Boden reichen und auf der anderen Seite den fordistisch organisierten und industrialisierten USA. In dieser Welt sind es Elektrokabel, die wie Wurzeln in den Boden reichen. Und es ist die Nationalflagge, die im Gegensatz zu Sonne und Mond auf Seiten Mexikos, wie ein Gestirn am Himmel steht. 35 Anzaldúas Auseinandersetzungen mit borderlands sind auch ein politisches Programm und eine Utopie: „Anzaldúa proposes a new culture born out of ‚los atravesados, the squint-eyed, the perverse, the queer, the troublesome, the mongrel, the mulatto, the half-breed, the half-dead; in sort those who cross-over, pass-over or go through the confines of the normal‘ (Anzaldúa 1987, p. 3 [zitiert nach Socorro Tabuenca 2019: 143, vgl. Anzaldúa 2012: 25]). She subverts the semantics of these identities, and she grants them a (new) place at the border, because they have no legitimate place in the

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Für die mestiza bedeutet das spirituelle borderland andauerndes hin- und hergerissen zu sein zwischen zwei Polen, zwischen den beiden Seiten, die die Grenze trennt (vgl. ebd.). Mit ihrem Begriff von mestiza consciousness bezeichnet Anzaldúa die Seinsweise von Individuen, die mit den Eigenschaften und Herausforderungen der borderlands umgehen, indem sie eine Toleranz für Widersprüche und eine Toleranz für Ambiguität entwickeln (vgl. ebd.: 101). „In attempting to work out a synthesis, the self has added a third element which is greater than the sum of its severed parts. The third element is a new consciousness – a mestiza consciousness – […] its energy comes from continual creative motion that keeps breaking down the unitary aspect of each new paradigm.“ (Ebd.: 101f.)

Anhand eines Ausschnittes aus dem Interview mit La Santa Muertes Anhänger Miguel aus Los Angeles lässt sich zeigen, inwiefern spirituelle Boderlands auf Subjektebene in einer Form von mestiza consciousness niederschlagen und auf diese Weise eine Voraussetzung dafür sein können, einen Zugang zur Verehrung La Santa Muertes zu finden. Der in Mexiko geborene und in Los Angeles aufgewachsene Miguel erklärt, sein Glaube an La Santa Muerte wurzele auch in seiner mexikanischen Herkunft, die einen Glauben an die „Welt des Spirituellen“ und an ein „Jenseits“ mit sich bringe.

hegemonic society. Anzaldúa also posits the emergence of a new border conscience and identity that allows for a multiple fragmentary subject.“ (Socorro Tabuenca 2019: 143)

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Tabelle 1: Ausschnitt aus dem Interview mit Miguel I.

Miguel I. Miguel

I. Miguel

I. Miguel

I. Miguel

I. Miguel

dijiste, que te, que te llamó mucho la atención porque es, porque es la muerte, no? eehe. y... puedes explicármelo un poco? por favor? [4] essss [4] como iremos? [7] es que es algo nuevo. es, es algo que no conocía. hm. y yo SÉ que el mundo espiritual existe. porqueee... en México.. mis padres son mexicanos.. es creyensia. yaa ancestral. hmmm. si. o sea de papá, abuelito, abuelita y todo eso. so [englisch], ellos creen en el mundo del, del, espiritual. mas allá. so [englisch], eso me dio, eso también me ayuda. porque yo sé que existe, este mundo. Hm. y esto.. me.. dije bueno... mi [4] o sea, mi familia cree.. en la cosas del más allá. pero no en la santa. solo saben que cosas así… eeeh.. so [englisch], yo creo que tal vez por eso, como enseñanzas.. paternas, ancestrales. hmmm. por eso soy muy, como que me impulso más conocerla a ella. so [englisch] dije

du sagtest, dass, dass sie sehr deine Aufmerksamkeit erregte weil sie, weil sie der Tod ist, nein [oder]? eehe. [ja] und... kannst du mir das ein bisschen erklären? bitte? [4] essss [4] wie machen wir das? [7] es ist nämlich etwas Neues. es ist, es ist etwas dass ich nicht kannte. hm. und ich WEIß dass die spirituelle Welt existiert. weiiil… in Mexiko.. meine Eltern sind Mexikaner.. ist das Glaube. schoon von den Vorfahren. hmmm. ja. also vom Papa, Opa [deminutiv], Oma [deminutiv] und all dem. so [Englisch], sie glauben an die Welt des, des, Spirituellen. Jenseits. so [Englisch], das gab mir, das hilft mir auch. weil ich weiß dass diese Welt, existiert. Hm. und das.. mir.. ich sagte mir gut… mein [4] also, meine Familie glaubt.. an diese Sachen des Jenseits. aber nicht an die Santa. sie wissen nur dass solche Sachen… eeeh.. so [Englisch], ich glaube dass vielleicht deswegen, wie Bräuche [Gezeigtes].. von den Eltern, Vorfahren. hmmm. deshalb bin ich sehr, als ob es mich stärker gedrängt hat sie kennenzulernen. so [Englisch] sagte ich

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„bueno“. yo no la conocía nada. pero como que empujóncito. tschh [zeigt mit den Händen ein Schupsen an]. para poder.

„gut“. ich kannte sie gar nicht. aber wie ein Stoß. tschh [zeigt mit den Händen ein Schupsen an]. um zu können.

Indem Miguel den Rahmen seiner mexikanischen Familie benennt, wird deutlich, dass er sich wie die mestiza Anzaldúas innerhalb mehrerer Rahmen bewegt. In Miguels Erzählung ist es seine mexikanische Herkunft, die zusammen mit seiner Neugierde den Hintergrund bildet, vor dem er Kontakt zu einer Kirche La Santa Muertes aufgenommen habe. Mit Anzaldúas Worten ist die Verehrung La Santa Muertes hinsichtlich Miguels Familien- und Herkunftsgeschichte und seiner gegenwärtigen kulturellen Lage in Los Angeles eine Synthese im Sinne von mestiza consciousness. Unter Hinzunahme des Konzeptes mestiza consciousness lässt sich nun auch das Ergebnis der einleitenden und exemplarischen Analyse der Figur La Santa Muertes dahingehend zuspitzen, dass die Desintegration der Gläubigen La Santa Muertes in bestehende (Symbol-)Welten auch Ausdruck ihres mestiza consciousness nach Anzaldúa ist. Als geografisches borderland wird auch der Raum um die Grenze zwischen Mexiko und den USA bezeichnet. Die heutige Staatsgrenze zwischen den beiden Nationalstaaten ging aus dem Amerikanisch-Mexikanischen Krieg (1846–1848) hervor und wurde 1848 in dem Vertrag von Guadalupe festgelegt.36 Aus einem Krieg hervorgegangen ist die Staatsgrenze bis heute ein Ort der Auseinandersetzungen und Konflikte.37

36 1853 verschob sich mit dem Gadsden-Kauf ein Teil der Grenze zu Gunsten der USA. Die mexikanischen Ureinwohner*innen der Region wurden in der neuen Ordnung und unter Herrschaft der USA mit Ausnahme einer kleinen Elite zu Tagelöhnern und einfachen Arbeitern (vgl. Peña 1999: 12f.). „Facing intense racial-cultural prejudice, with little chance for upward mobility or acculturation, these Americans-by default had no choice but to cling tenaciously to their Mexican way of life as they struggled to survive in a social order in which they were now the foreigners.“ (Ebd.) Als kollektive Erinnerung geht diese soziale Situation z.B. in den Corrido „Somos Mas Americanos“ der Tigres del Norte ein. 37 „From Henry Alexander Crabb´s filibustering expedition to Caborca, Sonora, in 1857, to Juan Nepomuceno Cortina´s 1859 occupation of Brownsville, Texas, to Pancho Villa´s 1916 raid on Columbus, New Mexico, the entire length of the border has seen

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Eine Grenze teilt Sphären in ein Davor und ein Dahinter, in ein Innen und ein Außen, in ein Ende und einen Anfang. Grenzziehung ist ein Akt der Unterscheidung und der Definition mit dem eine „Konstitution von Bedeutung einhergeht“ (Doll/Gelberg 2014: 17).38 Die Situationsdefinition von Individuen und Gruppen ist, wenn sie mit Grenzen und deren Definitionsmacht konfrontiert sind, häufig gerade durch die Möglichkeit der Überwindung einer Grenze bestimmt.39 So gesehen ist der Akt der Grenzüberschreitung ebenso performativ wie der der Grenzziehung. In ihrer Überschreitung wird die Grenze stabilisiert, so können z.B. verschärfte Regulierungen der Grenze folgen. Auch besitzt die „Einheit von Grenze und Überschreitung […] Potential zur – wie auch immer gearteten – Transformation“ (ebd.: 19). Staatsgrenzen prägen die Struktur und Dynamik von Gesellschaften, deren Rand sie bilden. „Die Grenze eröffnet den in ihrer Nähe lebenden Individuen und Gemeinschaften Handlungsspielräume; sie bedingt aber als ein in besonderer Weise herrschaftlich kontrollierter Raum auch besondere Verhaltensweisen.“ (Medick 1995: 223) Während die Grenze trennt, unterscheidet, definiert und abgrenzt, steht sie gleichzeitig auch für Möglichkeiten des Übergangs, der Annäherung, der Vermischung, der Änderung und für die Möglichkeit zur Transformation. In diesem Sinne sind die USA und Mexiko durch die gemeinsame Grenze bestimmt, getrennt und verbunden. Als Nationalstaaten bieten Mexiko und die USA denjenigen, die in ihnen leben, unterschiedliche Chancen und setzen sie unterschiedlichen Risiken aus. Beide Staaten bilden einen Rahmen, der Möglichkeiten, Chancen und Risiken absteckt und die soziale Wirklichkeit in dem jeweiligen Staatsgebiet effektiv formt und bestimmt. Die unterschiedlichen Bedingungen, Chancen und Risiken in beiden Nationalstaaten haben Migrationsbewegungen und Mobilität zwischen den beiden Staaten bedingt und zur Emergenz von Formen transnationalen Lebens, transnationaler Familien und Identitäten geführt (siehe dazu beispielsweise Smith 2006, Saldívar 1997, Bandau et al. 2009, Peña 2007 oder Stephen 2007).

more than its share of bloodshed. The drug-related killings of the present simply continue this pattern.“ (Griffith 2003: 16) 38 Staatsgrenzen wirken als Rahmen im Sinne Erving Goffmans verstanden nach Innen und nach Außen: Durch Rahmen „wird nicht nur die jeweilige Situation von innen bestimmt, sondern insbesondere […] auch das Verhältnis zum abgegrenzten Außen reguliert“ (Doll/Gelberg 2014: 18). 39 „Die Überschreitung der Grenze als Rahmen stabilisiert diese, indem sie sie zugleich reproduziert. Goffmans Rahmenanalyse stellt demnach implizit den performativen Aspekt der Grenzsetzung in den Vordergrund und weist zugleich auf das elementare Wechselspiel von Grenze und Überschreitung hin.“ (Doll/Gelberg 2014: 18)

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Das Bild der Schwelle erneut heranziehend, kommt die Durchlässigkeit von Staatsgrenzen in den Blick. Staatsgrenzen können in der Metaphorik der Schwelle gesprochen hoch, niedrig oder flach sein. (Tür-)Schwellen trennen – schwächer oder stärker – Räume voneinander, sie können aber auch überschritten werden. Wenn sich eine Schwelle an einer Eingangstür befindet, so trennt sie ein Innen von einem Außen ab. Im Rekurs auf das Bild der Schwelle kommen daher auch Machtgefälle in den Blick. Wenn man die Grenze zwischen den USA und Mexiko in diesem Sinne als eine Schwelle deutet, gerät einerseits ihre Durchlässigkeit in den Blick und andererseits wird deutlich, dass nicht nur die Herrschaftsbereiche zweier Nationalstaaten voneinander abgegrenzt werden, sondern im Sinne des Bildes der Schwelle auch ein Innen und ein Außen etabliert werden. Die Deutung eines innen liegenden und eines außen liegenden Bereichs ist dabei nicht nur positionell je nach Standpunkt zu verstehen. Das Bild der Schwelle ermöglich es, eine globale, herrschaftssensitive Perspektive einzuführen. In dieser Perspektive sind die USA als globales Machtzentrum innen und Mexiko außen, egal auf welcher Seite der Grenze die Beobachter*innen stehen. Die Grenze ist nicht in einem machtfreien Raum gezogen. Aus dem Machtgefälle zwischen den beiden Staaten erwächst bezogen auf die Staatsgrenze zwischen beiden Ländern ein Spannungsverhältnis, das auf Seiten der USA zu einer zunehmenden Tendenz zur Schließung oder Verstärkung der Grenze und zu Bestrebungen nach geringerer und selektiver Durchlässigkeit führt, wie beispielsweise im Zuge der Planung der „Trump-Mauer“ deutlich wurde.40 Wendy Brown beschreibt diese Tendenz als eine Seite eines Spannungsverhältnisses zwischen Abschottung und Liberalisierung von Staatsgrenzen weltweit: „What we have come to call a globalized world harbors fundamental tensions between opening and barricading, fusion and partition, erasure and reinscription. These tensions materialize as increasingly liberalized borders, on the one hand, and the devotion of unprece40 Die Androhung des Mauerbaus durch US-Präsident Donald Trump 2015 ging mit erheblicher Diskriminierung und Stigmatisierung von Mexikaner*innen einher. Am 16. Juni 2015 erklärte der Präsident: „When Mexico […] sends its people, they’re not sending their best. They´re not sending you […]. They´re bringing drugs. They´re bringing crime. They´re rapists […]. I will built a great, great wall on the southern border and I will have Mexico pay for that wall.“ (https://www.businessinsider.com/ donald-trumps-epic-statement-on-mexico-2015-7?IR=T [Abrufdatum: 18.01.2019]) Indem eine diskursive Unterscheidung „guter“ („you“) und „schlechter“ Migrant*innen eingeführt wird, ist entsprechend festgelegt, dass die Grenzmauer für die „Guten“ durchlässig und für die „Schlechten“ undurchlässig sein soll.

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dented funds, energies, and technologies to border fortification, on the other.“ (Brown 2010: 7f.)41

In den USA, in Mexiko und zwischen beiden liegen und ergeben sich Boderlands, Orte kultureller und religiöser Pluralität, dialektische Orte der Auseinandersetzung, der Durchmischung und der Transformation, Orte der Migrant*innen und kulturellen Hybride (vgl. García Canclini 1995), „Ort[e] des Multikulturalismus“ (Irwin 2007: 24) und eine „contact zone“ (Pratt 2008:7), ein sozialer Raum, in dem „disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination-like colonialism, slavery, or their aftermaths as they are lived out across the globe today“ (ebd.). Urbane Zentren als Orte der Datenerhebung Die Protokolle, anhand derer die Verehrung La Santa Muertes untersucht wird, wurden in borderlands, in Tijuana, Chihuahua und Los Angeles sowie im weiter südlich gelegenen Guadalajara, erhoben. Die Feldforschung erstreckte sich über jeweils etwas mehr als zwei Monate in Los Angeles und Tijuana. In Chihuahua und Guadalajara wurden gezielt verabredete Interviews geführt. Die folgende Vorstellung der Orte der Datenerhebung beschränkt sich auf Los Angeles und Tijuana. Los Angeles Es gehen „Risse“ durch Los Angeles. Sie klaffen beispielsweise zwischen der Erfolgs- und Glitzerwelt Hollywoods, die in Hollywoodfilmen weltweit konsumierbar ist und entsprechend vermarktet wird, und dem mexikanisch geprägten Süden oder Osten von Los Angeles, in dem Ressourcen knapper sind und wo es mehr pawn shops als Cafés gibt. Hector Tobar zeigt die Brisanz der Unterschiede innerhalb seiner Heimatstadt Los Angeles auf und vermittelt einen Eindruck von der Gestalt eines spirituellen borderlands am Beispiel seiner Beschreibung dessen, was Mystik in Hollywood und in den mexikanisch geprägten Stadtteilen abseits von Hollywood sei: 41 Siehe zu einer weiteren philosophischen Kontextualisierung auch Thomä (2016: 536), der über die politische Produktion von Außenseiten schreibt. Ordnung, so Thomä, kann „ohne einen Rand nicht sein“ (Thomä 2016: 17). Der Rand etabliert dabei ein Innen und ein Außen. „Dieses Schema von Drinnen und Draußen ist gebunden an ein zentralistisches Modell von Politik, das als Gegner nur Außenseiter kennt.“ (Thomä 2016: 17)

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„Drive west across La Cienega and you are in the half of the city whose state of mind is exported to the rest of the world as the spirit of Los Angeles. Over there, mystique is something created by makeup artists and special-effect gurus, experts in the craft that is Los Angeles’s best-known contribution to global culture. But on my side of the city we are ruled by the baroque, by angels who cure the sick, who relieve the sufferings of wives with wayward husbands, and who sometimes take the souls of innocent children.“ (Tobar 2005: 17)

Los Angeles ist ein Ort von ethnischer, sozialer, kultureller und religiöser Pluralität und von großer, sichtbarer und unvermittelt aufeinandertreffender Ungleichheit. Im Stadtteil Skid Row säumen die Zelte einer bunten Mischung aus Marginalisierten, Armen und Drogenkonsument*innen die Straßen. Wenige Meter von ihrem Treiben entfernt, gehen bzw. fahren adrette Angestellte zur Arbeit in den Hochhäusern von Downtown L.A. oder zum workout ins Fitnessstudio. Im Norden der Stadt, in Studio City, fährt man mit dem Auto zur Yogaschule, um sich dort zu entspannen. Im Süden von Los Angeles feiert man, wie Interviewpartner Miguel schreibt, den Sieg der mexikanischen Fußballnationalmannschaft über die deutsche bei der Fußballweltmeisterschaft 2018, indem Autos den burnout performen und aus der Menge Feuerwerkskörper auf die anrückende Polizei geschossen werden. Los Angeles ist auch ein Ort sozialer Spannungen, die sich z.B. 1992 während gewalttätiger Unruhen entluden.42 La Santa Muerte und ihre Verehrung sind in Stadtvierteln von Los Angeles mit einem hohen Anteil mexikanischstämmiger Bevölkerung sehr sichtbar. Es gibt insbesondere im Süden und Osten der Stadt und in Downtown L.A. einige Kirchen, in denen La Santa Muerte verehrt wird und eine Vielzahl botánicas, die Produkte zur Verehrung La Santa Muertes anbieten und in ihrem Inneren teilweise auch Altäre beherbergen. Solche öffentlichen und halböffentlichen43 Orte der Verehrung La Santa Muertes waren während der Feldforschung zu dieser Arbeit Ausgangspunkte der Kontaktaufnahme zu Anhänger*innen La Santa Muertes. 42 Die Ereignisse lieferten den Stoff für Romane wie Ryan Gattis „All Involved“ (Gattis 2015). Aus soziologischer Perspektive und im Vergleich zu anderen Unruhen in den USA untersuchte beispielsweise Janet L. Abu-Lughod (2007) die Unruhen von 1992. 43 Halböffentlich, weil die Kirchen, in denen die Performances stattfinden, nicht immer und für jede*n zugänglich sind. Nicht alle Kirchenräume sind für jeden offen, oft bedarf es eines längeren Kontaktes mit den Betreiber*innen der Kirchen, um Einlass in Hinterzimmer zu erhalten. Kirchen wie beispielsweise die kleine Kapelle, die Lautaro auf seinem Grundstück nahe Tijuana errichtet hat, sind nur dann zugänglich, wenn man Lautaro kennt und eingeladen wird.

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In Los Angeles Süden sind einige Busreiseunternehmen angesiedelt, deren Busse täglich zwischen Tijuana und Los Angeles verkehren und darüber hinaus auch andere Ziele in Mexiko ansteuern.44 Tijuana Viele Einwohner*innen Tijuanas pendeln täglich zum Arbeiten, zum Studieren oder zum Einkaufen nach San Diego oder Los Angeles. Gleichzeitig kommen Menschen aus den USA nach Tijuana, typischerweise um dort einzukaufen oder um sich medizinischen Behandlungen zu unterziehen, die dort ebenso wie Medikamente günstiger sind als auf US-amerikanischem Boden. Grenzpendler*innen sind in der Regel für ein schnelleres Überqueren der Staatsgrenze in Richtung der USA im „Secure Electronic Network for Travelers Rapid Inspection“ registriert und haben einen Elektro-Chip in ihrem Ausweisdokument, der sie zu „Ready Lane-eligible travelers“ macht. Dennoch warten sie täglich lang am Grenzübergang. Unter den Pendler*innen hat es sich etabliert über den Grenzübertritt als haciendo fila, Schlangestehen, zu sprechen und Tijuanas Radiosender geben regelmäßig die Wartezeiten an den Grenzübergängen durch.

44 Los Angeles ist auch ein Dreh- und Angelpunkt der Migration aus Mexiko in das gesamte Staatsgebiet der USA. Einerseits ist der Ballungsraum Ziel von Migrant*innen aus Mexiko, andererseits auch Durchgangsort und Ausgangspunkt weiterer Migrationsbewegungen und einer Verteilung über das gesamte Gebiet der USA. Lesenswert ist zu diesem Thema „Nuevo South“ (Guerrero 2017), eine Studie, in der Perla Guerrero ausgehend von ihrer eigenen Biografie die zweite Migrationsbewegung von Kalifornien aus in andere Staaten der USA untersucht und zeigt, wie Vorstellungen von race und place im nuevo south transformiert werden.

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Abbildung 7: Autoschlangen am Grenzübergang Garita Internacional San Ysidro in Tijuana

Silke Müller, 2015

Während die Pendler*innen die Grenze offiziell überqueren, ist Tijuana auch ein Zwischenziel derjenigen, die unbemerkt in die USA einreisen wollen.45 In umgekehrter Richtung ist Tijuana die erste Stadt auf mexikanischem Boden, die Deportierte aus den USA betreten und von der aus einige von ihnen versuchen in die USA zurückzukehren, von der aus sie weiter in Richtung Süden ziehen oder in der sie Arbeit finden und sich niederlassen. Mit seiner florierenden Wirtschaft und der Nähe zu den USA ist Tijuana selbst ein Anziehungspunkt für Migrant*innen aus anderen Landesteilen Mexikos sowie aus dem restlichen Amerika.46 Tijuana ist eine wachsende Stadt. Angestoßen hatte diese Entwicklung u.a. die Einrichtung von zollfreien Wirtschaftszonen mit Montagefabriken, maquila-

45 Zur Mexiko-USA-Migration generell bietet Garip 2017 einen guten Überblick. Zu Mexiko als Transitland der Migrant*innen aus Mittelamerika siehe Basok/Rojas Wiesner 2018 sowie Basok et al. 2015; mit einem Fokus auf gender-Aspekte der Migration siehe auch Rojas Wiesner/Ángeles Cruz 2008. 46 Als ein Beispiel für Migrant*innen aus dem restlichen Amerika lassen sich etwa Haitianer*innen anführen, die nach dem Erdbeben auf Haiti 2010 nach Tijuana kamen, um von dort in die USA einzureisen und Asyl zu erhalten. Nachdem sie die Grenze in die USA nicht überqueren konnten, ließen sich viele in Tijuana nieder. Zur Süd-SüdMigration siehe allgemeiner Ratha/Shaw 2009 und Short et al. 2017.

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doras, zur Förderung des verarbeitenden Gewerbes seit den 1960er-Jahren und verstärkt nach dem Inkrafttreten des North American Free Trade Agreement im Jahr 1994.47 Tijuana galt lange als eine Stadt unendlicher Vergnügungsmöglichkeiten. Verstärkt ab 1919, mit dem Beginn der Prohibition in den USA, kamen Vergnügungssuchende nach Tijuana. Einen Höhepunkt erlebte der Zustrom der Gäste in den 19940ern als viele Soldaten, die nahe San Diego stationiert waren, in Tijuana ihren Urlaub verbrachten.48 Um das Jahr 2007 hatte sich die Reputation Tijuanas mit einer Zunahme von verübten Gewalttaten verändert. Zum Zeitpunkt der Feldforschung 2015 und 2016 gab es ein kollektives Sicherheitsempfinden: Es gab ein vitales kulturelles Leben, Spaziergänger*innen im Stadtzentrum und am Strand von Tijuana. Seit ca. 2006 gab es in Tijuana öffentliche Altäre zur Verehrung La Santa Muertes (vgl. Hernández Hernández 2016: 143). Diese befanden sich in den Randbezirken Tijuanas und an einer Schnellstraße, die Tijuana mit der nahegelegenen Siedlung Rosarito verbindet. Vermutlich in repressiver Reaktion auf mediale Repräsentationen La Santa Muertes als Beschützerin von Drogenhändler*innen und Kriminellen wurden diese Altäre 2009 unter Mithilfe der mexikanischen Armee zerstört (vgl. ebd.: 144, Martín 2014: 4f., Chesnut 2012: 113, Pansters 2019: 48f.). Auf diese Weise wurden die Figur La Santa Muerte und ihre Verehrung aus der Öffentlichkeit gedrängt.49 Daraufhin verlegten Anhä47 In Tijuana ist eine Vielzahl von bilateralen Handels-, Industrie- und Fertigungsunternehmen angesiedelt, sodass es einen dynamischen Arbeitsmarkt gibt. Maquiladoras kamen seit 1966 mit der Schaffung von „Export Producing Zones“ bzw. „Zonas Francas“ an der nördlichen Grenze Mexikos zu den USA auf. Diese Zonen gibt es nicht nur im Norden Mexikos, sondern im ganzen Land. Die Nähe zu den USA mit kürzeren Transportwegen für Güter zwischen den USA und Mexiko macht Städte wie Tijuana zu attraktiven Standorten des verarbeitenden Gewerbes (vgl. Kopinak 2003). Zu Migration und maquiladoras siehe Kopinak/Soriano Miras (2013). 48 Ein Überblick über die Geschichte Tijuanas die der Stadt ehemals zugesprochene „Monokultur des Vergnügens“ findet sich bei Daus (2007: insb. 53ff.). 49 Die mit solchen Verbannungen der Verehrung La Santa Muertes aus der Öffentlichkeit einhergehende Stigmatisierung La Santa Muertes und ihrer Anhänger*innen als kriminell hatte, wie einige Forscher*innen betonen, auch zur Folge, dass die Verehrung La Santa Muertes sichtbarer wurde, da sich einige der Anhänger*innen berufen fühlten, in der Öffentlichkeit La Santa Muerte bzw. deren Ruf zu verteidigen (vgl. Roush 2014a: 130). Dabei wurde von Gläubigen und auch von Forscher*innen betont, dass die Anhänger*innenschaft La Santa Muertes keine homogene Gruppe Krimineller sei: „Although Santa Muerte acquired ‚bad press‘ through the media, as a pseudo-

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nger*innen La Santa Muertes ihre religiöse Praxis ins Private, in den eigenen Haushalt und in Geschäfte (vgl. Hernández Hernández 2016: 144f.). In diesem Sinne berichtet 2016 auch die Inhaberin einer botánica in Tijuanas zona norte,50 man sei nach der Zerstörung öffentlicher Altäre La Santa Muertes zurückhaltender geworden. Gläubige vermieden es, in ihrer Wahrnehmung, seitdem ihre Verehrung La Santa Muertes öffentlich zu praktizieren. Hernández Hernández schreibt, die Zerstörung der Altäre in Tijuana habe die Verehrung nicht gestoppt, sondern dazu geführt, „dass die Gläubigen zu anderen Mittel griffen, um ihren Glauben am Leben zu erhalten. Populär sind insbesondere botánicas und esoterische Geschäfte […].“51 (ebd.: 145) Einige dieser botánicas beherbergen Altäre La Santa Muertes in ihrem Inneren. Gläubige besuchen diese Altäre beispielsweise, um Blumen vor La Santa Muerte abzulegen. Die botánicas Tijuanas waren während der Feldforschung wichtige Anlaufpunkte, um mit Gläubigen in Kontakt zu kommen. Darüber hinaus war es eine kleine Kirche La Santa Muertes auf einem Privatgrundstück nahe Tijuana, die ein wichtiger Ort und Ausgangspunkt der Feldforschung war.

saint of narcotraficantes (drug traffickers) and other delinquents, her devotion in very widely spread among ‚normal‘ mortals, such as housewives and other working people.“ (Oleszkiewicz-Peralba 2012: 71, siehe auch Kristensen 2015: 4, Dansker 2012: 266) 50 „Die zona norte oder La Zona, wie sie von den Einheimischen genannt wird, ist ein Raum, der in dem Ruf steht, ein Ort zu sein, an dem Drogenkonsum und Kriminalität alltägliche Praktiken sind. Die bis an die Grenzlinie zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten reichende zona norte ist ein Übergangspunkt […], beherbergt Hotels und Pensionen sowie eine große Anzahl von Bars und Orten der Prostitution.“ (Hernández Hernández 2016: 146f. [Übersetzung der Autorin]) Dem ist hinzuzufügen, dass auch die zona norte nicht gefeit ist vor Tendenzen zur Gentrifizierung. Während der Feldforschung zu dieser Arbeit zog die zona norte mit hippen Bars und Orten an denen sich Künstler*innen und politische Gruppen treffen – wenn auch eher in den Randgebieten der zona norte – auch Angehörige gehobener Milieus, Künstler*innen und Studierende an. 51 Im spanischen Original: „La destrucción de altares en Tijuana no frenó la devoción a la Santa Muerte, sino que promovió indirectamente que los creyentes buscaran otros medios para matener viva su fe. Entre ellos sobresalen las tiendas botánicas y esotéricas; un gran número de ellas se encuentra instalada en la zona centro y zona norte, a escasos dos kilómetros de la Garita Internacional de San Ysidro, California.“ (Hernández Hernández 2016: 145)

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GLÄUBIGE LA SANTA MUERTES Insgesamt wurden im Rahmen der Feldforschung 30 Interviews mit Anhänger*innen La Santa Muertes geführt. Von diesen 30 Interviews, die aufgrund ihrer teilweise geringen Länge nicht alle in gleichem Umfang analysierbar sind, kommen sechs Fälle von „gewöhnlichen“ Gläubigen und sieben Fälle von „professionellen“ Gläubigen La Santa Muertes zur Darstellung. Einige Gläubige La Santa Muertes sind in einem doppelten Sinne Professionelle der Verehrung. Einerseits handeln sie, so lässt sich im Anschluss an professionalisierungstheoretische Überlegungen deuten, als Professionelle. Diese Sicht wird in dem Kapitel „Aufführungen – religiöse Praxis mit La Santa Muerte“ entwickelt. Andererseits sind diese Gläubigen, so wird in Hinblick auf die Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung in dem entsprechenden Kapitel argumentiert, unter stigmatheoretischen Gesichtspunkten Professionelle ihrer Gruppen von Gläubigen. Sie nennen sich selbst profes, die Kurzform des spanischen professor, Lehrer und professora, Lehrerin, curanderas oder curanderos,52 Heiler*innen, shamanes, Schamanen, brujos oder brujas,53 Hexer*innen. Die gewöhnlichen Anhänger*innen La Santa Muertes, diejenigen, die an den Veranstaltungen der Professionellen teilnehmen oder mit ihnen Rituale durchführen bzw. Rituale von ihnen durchführen lassen, nennen sie meist profes.54

52 Curanderas und curanderos sind Heiler*innen der mexikanischen Tradition des Curanderismo. „Curanderas/curanderos help their patients to heal with herbal remedies, body massage, conseling, and religious rituals and prayers.“ (Hendrickson 2014: 199, siehe zu Heilpraktiken weiter Baer 2001, León 2008) Rafaela Castro stellt heraus, „[c]uranderas are sometimes mistaken for witches because of their healing power, but they are also often called upon to undo the work of witches“ (Castro 2001: 26). Siehe auch Chávez 1984. 53 Als brujas bzw. brujos werden diejenigen bezeichnet, die brujería, Hexerei, praktizieren. „Belief in witches and witchcraft is common in the Southwest [of the United States], as can be seen by the large number of folk narratives and legends about witches collected in New Mexico and Texas in the last century.“ (Castro 2001: 26) Siehe zu brujería in Mexiko und den USA weiter Chávez 1984 oder Delgado 1994. 54 Während der Feldforschung zur vorliegenden Arbeit wurden die Bezeichnungen von Professionellen wie auch von gewöhnlichen Gläubigen La Santa Muertes variierend und nicht einheitlich genutzt. Es schien fließende Übergänge zwischen profes, shamanes, brujas und brujos und curanderas und curanderos zu geben. Am geläufigsten war die (Selbst-)Bezeichnung als profe. Der Einfachheit halber wird daher im Folgenden vornehmlich von profes gesprochen.

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Tabelle 2: Übersicht über die zur Darstellung kommenden interviewten Anhänger*innen La Santa Muertes Status

Name

Ort(e)

Professionelle Gläubige

Esmeralda José Lautaro

Los Angeles Los Angeles Los Angeles und Tijuana Chihuahua Chihuahua Chihuahua Los Angeles Guadalajara Los Angeles Guadalajara Los Angeles Tijuana Los Angeles

Gewöhnliche Gläubige

Luis Ximena Raúl Sol Carlos Esther Fernanda Gerson Maria Miguel

Alter zum Zeitpunkt des Interviews 2015 oder 2016 39 Jahre 51 Jahre 63 Jahre 30 Jahre 28 Jahre ca. 31 Jahre 20 Jahre 45 Jahre ca. 35 Jahre 28 Jahre 41 Jahre ca. 30 Jahre 32 Jahre

Kurzvorstellungen der interviewten gewöhnlichen Gläubigen La Santa Muertes Carlos Die Eltern von Carlos (45 Jahre) stammen aus unterschiedlichen Gegenden des ländlichen Umlands der Millionenstadt Guadalajara und zogen im jungen Erwachsenenalter in die Stadt, wo sie sich kennenlernten und eine Familie gründeten. In ärmlichen Verhältnissen, Carlos Mutter war Hausfrau und sein Vater verdiente den Unterhalt der Familie als Bauarbeiter, wuchs Carlos als eines von sechs Geschwisterkindern in einem Viertel Guadalajaras auf, in dem die ländliche Herkunft und die Berufe seiner Eltern keine Ausnahme waren. Seine Mutter starb als Carlos sechs Jahre alt war bei einem Verkehrsunfall. Der Vater heiratet erneut. Zu seiner Stiefmutter und vier Stiefgeschwistern hat Carlos zum Zeitpunkt des Interviews kaum Kontakt. Der Vater war gewalttätig, er schlug Carlos und Carlos Mutter. Carlos heiratete Mitte der 1990er-Jahre. Seine Ehe scheiterte nach kurzer Zeit, im Jahr 1996, nachdem die Ehefrau ein Verhältnis mit einem anderen Mann eingegangen war. Nach der Ehe ging Carlos eine andere Beziehung ein, die zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr intakt ist. Aus dieser Beziehung gingen

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zwei Söhne hervor (geboren 2005 und 2001, zum Zeitpunkt des Interviews 14 und 10 Jahre alt). Beide Kinder leben bei ihrer Mutter. Carlos kümmert sich kaum um sie. Nach dem Scheitern seiner Ehe war Carlos ein halbes Jahr lang obdachlos und konsumierte intensiv Drogen. Episodische Obdachlosigkeit und exzessiver Drogenkonsum sind auch zum Zeitpunkt des Interviews Teil von Carlos Leben. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt er seit zwei Monaten bei einer seiner Schwestern. Seinen Lebensunterhalt verdient er zum Zeitpunkt des Interviews mit Gelegenheitsjobs, beispielsweise als Handwerker. Von 1993 an war Carlos einfacher Polizist in Guadalajara bis er die Stelle 2006 wegen mehrfach positiv ausgefallener Drogentests verlor. Carlos ist katholisch sozialisiert, praktiziert aber nicht. Er glaubt an die Existenz einer weiten Geisterwelt, so erzählt er von zahlreichen Situationen in denen er die Geister toter Menschen, den Teufel oder La Santa Muerte gesehen oder gehört habe. Seit seiner Zeit bei der Polizei, seit 1997, glaubt Carlos an La Santa Muerte. Ein Arbeitskollege hatte ihm Empfohlen, ein Bündnis mit La Santa Muerte einzugehen, das seinen Schutz gewährleisten sollte.55 Seitdem trägt Carlos ein Kärtchen mit einem Bild der roten Santa Muerte bei sich und bittet sie mit Gebeten und Gaben wie Tequila und Zigaretten, neben ihrem Schutz, um Hilfe bei der Überwindung seines chronischen Geldmangels. Carlos nimmt regelmäßig limpias in Anspruch, wann immer ihm „das Wasser bis zum Hals steht“, so Carlos. Er besucht keine Kirchen und keinerlei regelmäßig stattfindende religiöse Veranstaltungen. Fernanda Fernanda (28 Jahre) ist auf dem Land in Mexiko geboren. Ihre Mutter verließ den Hof der Familie mit 18 Jahren als Fernanda ein Jahr alt war. Die Mutter zog allein in die 250 Kilometer entfernt liegende Millionenstadt Guadalajara, arbeitete als Prostituierte und bekam zwei weitere Kinder mit verschiedenen Männern. Fernanda wurde mit sieben Jahren zum ersten Mal von einem Freund ihrer Mutter vergewaltigt. Nach dem Tod der Mutter mit 29 Jahren, als Fernanda zwölf Jahre alt war, zogen die Kinder zur Familie des Vaters der jüngeren Schwester. In Folge vermuteter sexueller Übergriffe auf Fernanda musste

55 Carlos sagt, „ich muss etwas haben, etwas an Schutz etwas also das mich behütet, etwas, eh, weil, ich sage dir als ich in die Polizei eintrat also dann, also komische Sachen, Sachen wie das sie mich, also das sie mich töten würden, sie schossen auf mich“.

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Fernanda das Haus der Stieffamilie verlassen und sich von da an, zwischen 14 und 16 Jahre alt, selbst um die Sicherung ihres Lebensunterhalts kümmerte. Fernanda wurde mit 17 Jahren zum ersten Mal Mutter und hat zum Zeitpunkt des Interviews vier Kinder. Ihr Ex-Mann, der Vater zweier ihrer Kinder, vergewaltigte und schlug sie. Neben ihrer zum Zeitpunkt des Interviews offiziellen Beziehung zu einem Mann pflegt sie noch eine weitere inoffizielle Beziehung zu einem anderen Mann. Fernanda hat keine Ausbildung und arbeitet unregelmäßig in kurzzeitigen Anstellungsverhältnissen. Ein Auskommen und ein Dach über dem Kopf sichert sie sich auch über ihre Beziehungen zu Männern. Sie trinkt gelegentlich große Mengen Alkohol. Fernandas Mutter verehrte die Jungfrau von Guadalupe und die Stieffamilie ist in eine evangelikale Gemeinschaft eingebunden. Fernanda besucht weder katholische noch evangelikale Kirchen, sondern verehrt La Santa Muerte und die Jungfrau von Guadalupe. Sie lässt sich gelegentlich mit Tarotkarten die Zukunft vorhersagen. La Santa Muerte wurde Fernanda von einem ehemaligen Partner vorgestellt als sie 23 Jahre alt war. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Fernanda seit fünf Jahren Anhängerin La Santa Muertes. Sie besuchte bis zu der Trennung von dem Partner, der ihr La Santa Muerte vorstellte, gelegentlich eine Kirche der Verehrung La Santa Muertes. Zum Interviewzeitpunkt besucht sie die Kirche normalerweise nicht mehr, um zu verhindern den Ex-Partner zu treffen. Fernanda hat einen Hausaltar mit einer Figur La Santa Muertes in der Farbe Gold. Diese Farbe sei, so kann man in einem der Praxisbücher nachlesen, geeignet „zum Erreichen ökonomische Macht, von Erfolg in jedem Geschäft und zur Anziehung des Geldes“56 (Garibay Díaz 20017: 16). Fernanda legt täglich Münzen auf dem Hausaltar ab, um ihre Versorgung mit monetären Mitteln zu sicher. Außerdem bietet sie La Santa Muerte auf dem Altar Äpfel und Zigaretten an, um den Schutz La Santa Muertes in ihrem Alltag zu sichern und aus Dankbarkeit für vergangene Hilfe. Gerson Gerson (41 Jahre) ist in Morelos, Mexiko, geboren, wo er bis zu seinem 13. Lebensjahr aufwuchs. Als Gerson ca. zehn Jahre alt war, migrierte sein Vater vorübergehend als Arbeiter und zum Geldverdienen in die USA. Die Mutter folgte dem Vater kurze Zeit darauf und beide Eltern schickten in den USA verdientes Geld zur Familie nach Mexiko. Gerson und sein jüngerer Bruder waren in Mexi56 Im spanischen Original: „La Santísima Muerte color dorado es ideal para lograr el poder económico, el éxito en cualquier negocio y la atracción del dinero.“ (Garibay Díaz 20017: 16)

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ko bei einer Tante untergebracht, welche die Geschwister mit dem geschickten Geld der Eltern versorgte. Nach einem Jahr der Trennung von den Eltern migrierten auch die Kinder in die USA. Gerson war zu dem Zeitpunkt 13 Jahre alt und lebt seitdem im Süden von Los Angeles. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt er bei seinen Eltern und hat ein eigenes Zimmer innerhalb der geteilten Wohnung. Er ist ledig. Nach dem regulären Schulbesuch in Mexiko bis zu seiner Migration in die USA besuchte und beendete Gerson in Los Angeles die High-School. Nach dem Abschluss nahm er zunächst verschiedene ungelernte Erwerbsarbeiten auf. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er seit mehreren Jahren für den selben Arbeitgeber als Abschleppwagenfahrer im Schichtdienst tätig. Gersons Familienangehörige sind evangelikale Christen. Zusammen mit seinen Eltern besuchte Gerson als Kind und Jugendlicher bis zur Migration der Eltern in die USA regelmäßig eine evangelikale Kirche in Morelos. Nach dem Wegzug der Eltern und Gersons Verbleiben bei der Tante, ebenso wie später in die USA, ging Gerson zunächst nicht mehr regelmäßig in Kirchen. Sechs Jahre vor dem Interview, mit 35 Jahren, wurde er zu einem Anhänger La Santa Muertes und besucht seitdem regelmäßig eine Kirche La Santa Muertes in Los Angeles. Zu Santa Muerte kam er, wie er sagt, in einer Lebenskrise, nachdem seine damalige Freundin ihn nach einer siebenjährigen Beziehung verlassen habe. Gerson sagt, er sei depressiv geworden, woraufhin er sich auf die Suche nach einer religiösen Gemeinschaft gemacht habe. Er habe zunächst mehrere evangelikale Kirchen besucht. Keine habe ihm gefallen und so sei er, nachdem er im Fernsehen von La Santa Muerte gehört habe und nach Internetrecherchen, zu einer Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles gelangt. Gerson nimmt gelegentlich Leistungen des Professionellen Lautaro in Anspruch. Dabei handelt es sich um Rituale mit La Santa Muerte wie z.B. ein abre camino Ritual, ein Ritual zur Öffnung neuer Wege und Möglichkeiten mit Getreidekörnern zum Jahreswechsel 2015 auf 2016.57 Gerson trägt ein Amulett La Santa Muertes um den 57 Im Rahmen der Feldforschung nahm die Forscherin an einem ähnlichen Ritual teil. Zu diesem liegen Notizen aus dem Feldforschungstagebuch vor: „In dem Ritual werden je Teilnehmer*in sieben verschiedene Sorten Saat (Bohnen, Linsen, Reis usw.) mit persönlichen Wünschen im Gebet beladen, rituell aktiviert und je zusammen mit einer Münze in kleine Säckchen gefüllt. Diese werden anschließend zugeknotet und sollen das Jahr über aufbewahrt werden. Um mein Fußgelenk befestigte der profe einen roten Faden, der bis zu seinem Abfallen dort verbleiben und Glück bringen solle. Im Zuge des Rituals wurde des Weiteren eine Kerze La Santa Muertes angezündet. Die Kerzen verblieben beim profe und brannten unter dessen fachkundiger Aufsicht ab. Ich meldete mich später telefonisch, um zu erfragen, wie meine Kerze abgebrannt sei. Zur

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Hals und unterhält einen kleinen Alter in seinem Zimmer, wo er La Santa Muerte Kerzen anzündet und an dem er täglich in der Bibel liest. Miguel Miguel (32 Jahre) lebt in Los Angeles, wo er geboren und aufgewachsen ist. Seine Eltern stammen aus Guerrero, Mexiko. Miguel wohnt bei ihnen und hat innerhalb der gemeinsamen Wohnung ein eigenes Zimmer. Miguel ist ledig. Als er 16 Jahre alt war, hätten seine Eltern versucht eine Ehe mit einer jungen Frau aus ihrem Herkunftsdort in Guerrero zu arrangieren. Miguel weigerte sich, wie er erklärt, die Ehe zu schließen, weil eine arrangierte Ehe ihm angesichts seines Lebens in Los Angeles, wie eine antiquierte Praxis und nicht zu seinem Leben und Selbstbild passend, erschien. Miguel hat die High-School in seinem Stadtteil im Süden von Los Angeles besucht, aber keinen Abschluss erworben. Nach seiner Schulzeit ging er häufig wechselnden ungelernten Erwerbsarbeiten nach. Zum Zeitpunkt des Interviews drückte er seine Unzufriedenheit mit seinem Arbeitsleben aus und kündigte an, seine Arbeitssituation verbessern zu wollen. 2018 absolvierte er eine Fortbildung zum Hausmeister und Gebäudereiniger. 2019 begann er, weiterhin in kurzzeitigen, jedoch besser bezahlten Engagements, als Hausmeister und Nachtwächter in Schulen zu arbeiten. Miguel kam zu La Santa Muerte, nachdem er die Kirche im Süden von Los Angeles besuchte und nachdem profe José ihn wegen eines Hexereischadens rituell unter Hinzunahme La Santa Muerte behandelt hatte. Miguel ist zum Zeitpunkt des Interviews seit ca. fünf Jahren Anhänger La Santa Muertes und besucht beständig die Kirche. Er nimmt an den regelmäßig stattfindenden Messen wie auch an Sonderveranstaltungen zur Durchführung spezieller Rituale teil. Er ist katholisch sozialisiert. Seine Eltern sind gläubige Katholiken. Sie missbilligen seine Verehrung La Santa Muertes und seine Besuche der Kirche. Er betreibt in seinem Zimmer, außer Sichtweite seiner Eltern, einen kleinen Altar für La Santa Muerte.58 Miguel engagiert sich in der Kirche La Santa Muertes, indem er beispielsweise Monatspläne über die regelmäßigen Messen und ggf. Zusatztermine

Antwort erhielt ich, ‚die Kerze ist sehr gut abgebrannt. die Flamme war ruhig und es gibt keinen Ruß am Glas.‘ Daraus folgte, so der profe, dass der Erfüllung meiner Wünsche für das neue Jahr nichts im Wege stehe.“ 58 Auch Hernández Hernández findet unter seinen Gesprächspartner*innen aus Tijuana einen Gläubigen, der in einer Wohnung mit seinen Eltern lebt und seinen Altar La Santa Muertes in seinem Schlafzimmer vor den Blicken der die Verehrung missbilligenden Eltern verbirgt (vgl. Hernández Hernández 2016: 153, Fall Salvador).

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in der öffentlichen Bibliothek seines Stadtteils erstellt. Er verbringt einen großen Teil seiner Freizeit in der Kirche. Esther und Maria Über Esther (ca. 35 Jahre) aus Los Angeles und Maria (ca. 30 Jahre) aus Tijuana ist wenig bekannt. Zu beiden liegen keine umfangreichen objektiven Daten vor. Kurzvorstellungen der interviewten professionellen Gläubigen La Santa Muertes José In der Kirche im Süden von Los Angeles ist José (51 Jahre) profe. Er ist im mexikanischen Staat Durango in einer ländlichen Region geboren und auf einer rancho, Ranch oder Hof, aufgewachsen. Er beendete die Schule mit zwölf Jahren und arbeitete im Anschluss zeitweise zusammen mit anderen männlichen Familienmitgliedern in Texas in den USA.59 Später migrierte er in die USA und ließ sich in Los Angeles nieder. Er erwirtschaftete seinen Lebensunterhalt mit körperlicher Lohnarbeit in nicht festen Anstellungsverhältnissen und erzielte Nebeneinkünfte mit der Durchführung von Heilungs- und Verfluchungsrituale für Menschen aus der Nachbarschaft. Um das Jahr 1998 verletzte er sich während der Arbeit als Möbelträger schwer. In Folge der Verletzung konnte er keine schweren körperlichen Arbeiten mehr ausführen und betätigte sich fortan hauptsächlich als Professioneller der Verehrung La Santa Muertes, als profe, brujo

59 Die Männer der rancho gingen regelmäßig zeitweise in die USA, um Geld zu verdienen. Zu jener Zeit war dies insbesondere in der Grenzregion eine verbreitete Praxis. In den USA wurden ab den 1940er Jahren vermehrt Arbeitskräfte benötigt. Diesem Bedarf begegneten Arbeiter*innen aus Mexiko, die zeitweise oder auf Dauer zum Arbeiten in die USA kamen. Im Südwesten der USA waren sie vor allem in der Landwirtschaft beschäftigt, aber auch der Bedarf an Arbeiter*innen in der Industrie begann zu steigen (vgl. Portes/Rumbraut 2014: 19ff., vgl. Hensel 2004: 92ff.). „1942 vereinbarten die US-amerikanische und die mexikanische Regierung in einem Vertrag das erste so genannte bracero-Programm […] Darin wurde die Entsendung von mexikanischen Arbeitskräften vereinbart. Diese braceros durften laut dem Vertrag nur für eine bestimmte Zeit in die USA einreisen, um dort einen vorher festgelegten Arbeitsauftrag zu erfüllen. […] Das bracero-Programm führte neben der legalen auch zum Anstieg der illegalen Einwanderung aus Mexiko, da Arbeiter, die nicht in dem Programm akzeptiert wurden, häufig auf eigene Faust und illigal über die Grenze gingen.“ (Ebd.: 99f.) Das bracero-Programm endete 1965.

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und shaman, wie er seine Tätigkeit bezeichnet. Zum Zeitpunkt des Interviews war José ledig, 2019 heiratete er. Lautaro Lautaro (63 Jahre) lebt zum Zeitpunkt des Interviews mit seiner Frau und seiner Tochter nahe Tijuana und in Los Angeles. An beiden Orten betreibt er Kirchen La Santa Muertes. Lautaro ist im mexikanischen Nayarit geboren. Er ist ohne Vater und nach dem Wegzug seiner Mutter an die Grenze zu den USA, um Geld zu verdienen, bei den Großeltern aufgewachsen. Er hatte drei Jahre lang die Schule besucht, bevor er mit neun Jahren zu arbeiten begann. Er ging Gelegenheitsarbeiten nach, arbeitete beispielsweise als Aushilfe auf einem Markt und in einem Restaurant. Lautaro ist in seinem Leben vielen verschiedenen ungelernten Arbeiten nachgegangen, hat aber auch versucht, groß rauszukommen. Als Kämpfer im Lucha Libre und als Sänger. Mit 17 Jahren zog er allein nach Mexiko-Stadt und später in die USA. In Mexiko-Stadt, so berichtet er, war ihm La Santa Muerte im Traum erschienen. Er hatte damals, so erklärt er, von ihr den Auftrag erhalten, ihr misionero, ihr Missionar, zu sein. 30 Jahre später, im Jahr 2005, habe er sich dieses Auftrags besonnen und eine Kirche La Santa Muertes in Los Angeles eröffnet. Ximena, Raúl und Luis Die Geschwister Ximena (28 Jahre), Raúl (ca. 31 Jahre) und Luis (30 Jahre) sind in Chihuahua geboren und aufgewachsen. Luis sagt, sie seien „halb spanisch, halb huixol“. Ihr Wissen um Geister, Energien und Rituale hätten sie teilweise von den indigenen Großeltern, größtenteils aber in eigenen Studien erworben. Raúl berichtet, er habe von La Santa Muerte geträumt und ihr im Traum versprochen, mit ihr zu arbeiten. Zu dem Zeitpunkt habe es in Chihuahua keine Figuren La Santa Muertes zu kaufen gegeben, sodass er von einer Reise nach Mexiko-Stadt eine Statue mitgebracht habe. Seine Geschwister begannen später ebenfalls mit La Santa Muerte zu arbeiten. Neben den Einnahmen aus der Durchführung von Ritualen mit La Santa Muerte, leben die Geschwister von Gelegenheitsarbeiten. Sol Sol (20 Jahre) ist als Tochter mexikanischstämmiger Eltern in Los Angeles geboren und dort ohne Vater aufgewachsen. Sie bezeichnet sich selbst als bruja, Hexe, und arbeitet mit La Santa Muerte. Sie erklärt im Interview, die wichtigste Erfahrung ihres Lebens habe sie gemacht als sie mit 13 Jahren herausfand, dass sie übernatürliche Fähigkeiten besitze. Beispielsweise könne sie mit Toten spre-

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chen, Dinge aus anderen Dimensionen sehen und die Zukunft vorhersagen. Nachdem sie mit ca. 13 Jahren in einer Psychiatrie untersucht und für gesund erklärt wurde, habe ihre Mutter sie zu einem brujo gebracht, der festgestellt habe, Sol verfüge über besondere Kräfte. Sol arbeitet seitdem in einer botánica nahe Downtown Los Angeles. Mit 15 Jahren sei sie rituell in Beziehung zu La Santa Muerte getreten und dadurch zur Arbeit mit La Santa Muerte befähigt. Esmeralda Esmeralda (39 Jahre) ist zum Interviewzeitpunkt seit 10 Jahren profa in einer Kirche La Santa Muertes in Los Angeles. Sie ist im mexikanischen Staat Chihuahua geboren und aufgewachsen. Sie berichtet, dass sie seit ihrer Kindheit in den 1980er-Jahren die Fähigkeiten habe, Geister von Toten und Energien wahrzunehmen. Außerdem habe sie sich immer schon für Dinge interessiert, die mit dem Tod zusammenhängen. La Santa Muerte habe sie erst später, mit 19 Jahren und nach ihrer Migration in die USA, erkannt – zuvor habe sie bereits Kontakt zu ihr gehabt, sie aber nicht als Santa Muerte identifiziert. Mit 19 Jahren migrierte sie allein in die USA, zunächst nach Nevada, dann nach Los Angeles. Sie lernte in den USA von einer bruja schwarze und weiße Hexerei zu praktizieren und ging schließlich rituell einen Bund mit La Santa Muerte ein.

Konzeption, Methodologie und Methoden

Konzeptionell gesprochen ist das Ziel der Untersuchung der Verehrung La Santa Muertes die empirisch fundierte und gegenstandsbezogene Theoriebildung. Mit der Analyse der roten Figur La Santa Muertes in der Einleitung wurde bereits deutlich, dass der soziale Hintergrund der Gläubigen die Figur und ihre Verehrung formt. Gleichzeitig formt auch die Verehrung selbst ihren sozialen Hintergrund. Dieser Doppelaspekt, der im Verlauf der Forschung deutlich hervortrat, ist in die Konzeption, Methodologie und der Methodenwahl der Arbeit eingelassen. Das Forschungsdesign ist insofern dem Gegenstand und dem Forschungsinteresse angemessen. Die Untersuchung der gegenwärtigen Verehrung und ihres sozialen Hintergrundes sind konzeptionell miteinander in einem qualitativen rekonstruktiv-analytischen Forschungsdesign verschränkt. Dabei kommt der Objektiven Hermeneutik eine zentrale methodologische Position zu. Ihr Erklärungsrahmen wird durch Bezüge zu vor allem Goffmans Forschungsstil, seinen Überlegungen zu sozialer Rahmung und seinen Gebrauch von Metaphern aus der Welt des Theaters erweitert und somit an den Gegenstand und das Erkenntnisinteresse angepasst. Der Rekonstruktion von Milieuerfahrungen wird ein weiter Milieubegriff nach Bohnsack zugrunde gelegt. Diesbezüglich nimmt die Untersuchung der Verehrung La Santa Muertes ihren Ausgang vornehmlich bei den erzählten Lebensgeschichten und Erfahrungen der Anhänger*innenschaft. Die Rekonstruktion der Milieuerfahrungen einbettend kommen auch die kulturellen, ästhetischen, materialen und praktischen Formen und Inhalte des Glaubens an La Santa Muerte in den Blick. Die Analysen sind damit insgesamt auf den vier folgenden Ebenen angelegt, informieren einander und stehen zueinander in Bezug: • Die räumlich-materiale Dimension religiöser Praxis mit La Santa Muerte wird

in den Blick genommen. Anhand von drei Fotografien von Altarräumen werden Bühnen und Bühnenbilder der Verehrung untersucht.

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• Im Zuge der Rekonstruktion der Milieuerfahrungen werden vornehmlich er-

zählte Lebensgeschichten und Erfahrungen der Gläubigen La Santa Muertes interpretiert. • Die popkulturelle Kommunikation über La Santa Muerte wird zum Gegenstand der Analyse. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit La Santa Muerte, der Text einer mexikanischen Ballade, eines Corridos, wird interpretiert. • Religiöse Veranstaltungen in zwei Kirchen der Verehrung La Santa Muertes werden als Aufführungen untersucht und miteinander verglichen. Die diverse Datengrundlage umfasst Protokolle offener Interviews und religiöser Veranstaltungen, Beobachtungsprotokolle, den Text eines Musikstücks und Fotografien von Altarräumen. Ausgehend von diesen empirischen Daten wird die Analyse des sozialen Hintergrunds der Anhänger*innenschaft wie auch der praktischen und sichtbaren Verehrung möglich. Entsprechend wird die Verehrung La Santa Muertes empirisch fundiert und methodisch kontrolliert soziologisch erklärt.

MILIEUERFAHRUNGEN Inspiriert von Eßbach (2014) stellt sich die Frage, was für Zeiterfahrungen in Form korrespondierender Milieuerfahrungen den sozialen Hintergrund der Verehrung La Santa Muertes ausmachen. Der Rekonstruktion von Milieuerfahrungen liegt mit Bezug zu Goffmans Überlegungen zu sozialen Rahmen ein weiter Milieubegriff nach Bohnsack zugrunde. Zunächst wird der Begriff der Rahmen mit einer Auseinandersetzung mit den möglichen konkurrierenden Konzepten Habitus und Deutungsmuster eingeführt. Anschließend geht es um den Milieubegriff und die Rekonstruktion von Milieuerfahrungen. Habitus – Deutungsmuster – Rahmen Für Bourdieu ist der Habitus „ein System verinnerlichter Muster […], die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese“ (Bourdieu 1974: 143). Habitusformationen sind analog „Systeme dauerhafter Dispositionen“ (ebd.: 164f.): „Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit

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einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformationen […].“ (Bourdieu 1976: 164f.)

Oevermann schließt mit seiner Bestimmung von Habitusformationen an Bourdieus Begriff des Habitus an, indem er sie entwirft als „jene tief liegenden, als Automatismus ausserhalb der bewussten Kontrollierbarkeit operierenden und ablaufenden Handlungsprogrammierungen […], die wie eine Charakterformation das Verhalten und Handeln von Individuen kennzeichnen und bestimmen“ (Oevermann 2001c: 45).

Von Habitusformationen unterscheidet Oevermann Deutungsmuster, die seiner Ansicht nach für die Bestimmung von Milieus bedeutungsvoll sind; inwiefern wird folgend dargelegt. Zunächst zu Oevermanns Überlegungen zu Deutungsmustern selbst. Den ersten Entwurf eines Konzepts der Deutungsmuster und ihrer Analyse legte Oevermann 1973 vor. 2001 unterzog er diesen einer Revision. Bei der ersten Ausarbeitung des Konzepts lag das Erkenntnisinteresse auf einer mehrdimensional differenzierenden „Rekonstruktion von gegeneinander abgrenzbaren subkulturellen Milieus“ und es ging um eine Bestimmung des in ständiger Transformation begriffenen „Zeitgeists“ bzw. der „kollektiven Haltungen“ (Oevermann 2001c: 37).1 In dem Aufsatz von 1973 werden Deutungsmuster folgendermaßen bestimmt: „1. Unter Deutungsmustern sollen nicht isolierte Meinungen oder Einstellungen zu einem partikularen Handlungsobjekt, sondern in sich nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge verstanden werden. Soziale Deutungsmuster haben also ihre je eigene ‚Logik‘, ihre je eigenen Kriterien der ‚Vernünftigkeit‘ und ‚Gültigkeit‘, denen ein systematisches Urteil über ‚Abweichung‘ korreliert. Insofern sind sie durchaus wissenschaftlichen Hypothesensystemen als Argumentationszusammenhängen mit spezifischen Standards der Gültigkeit vergleichbar. 2. Soziale Deutungsmuster sind funktional immer auf eine Systematik von objektiven Handlungsproblemen bezogen, die deutungsbedürftig sind.“ (Oevermann 2001b: 5)

1

Nach Andreas Franzmann erwuchs der oevermannsche Deutungsmusteransatz aus der Absicht, „über den marxistischen oder wissenssoziologischen Ideologie- und Wissensbegriff der Zeit hinauszukommen und das Problem einer mentalen Repräsentanz der sozialen Wirklichkeit in Konkurrenz zum Ansatz von Peter Berger und Thomas Luckmann zu lösen“ (Franzmann 2016: 34).

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In dem Aufsatz von 2001 definiert Oevermann Deutungsmuster als „krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne das jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muß“ (ebd. 2001c: 38). Am Beispiel sozialer Ungleichheit erläutert Andreas Franzmann die Verfahrensweise von Deutungsmustern in diesem Sinne. Subjekte, die in sozialen Situationen ihre eigene soziale Ungleichheit erfahren und diese selbst nicht unmittelbar aufheben können, weil sie sozialstrukturell bedingt ist, „benötigen […] Deutungen dafür, die sie in solchen Situationen abrufen können und die die Situation gewissermaßen entschärfen. […] Individuen können nicht für alle Probleme der genannten Art eigenständige Deutungsmuster neu entwickeln. Deshalb greifen sie auf Interpretationsroutinen zurück, die sie in ihren familiären und schichtspezifischen Milieus vorfinden und als bewährte Routinen erfahren.“ (Franzmann 2018: 194)

Deutungsmuster sind in dieser Auffassung „kollektive Gebilde und als solche werden sie übernommen, ohne dass deren Grundzüge und Erfahrungsgehalte bewusst überprüft oder gesondert durchdacht würden. Sie werden wie ein unhinterfragtes, lebensweltliches Wissen des Milieus verinnerlicht.“ (Ebd.) Damit weisen sie eine Ähnlichkeit mit Traditionen auf (vgl. ebd.: 194f.)2 und operieren als „Interpretationsmuster, die die konkreten situationsgebundenen Einzeldeutungen, die im Fluss des Handlungs- und Interpretationsgeschehens unzählige Male abgerufen werden, steuern, indem sie eine Art Ableitungsbasis darstellen, von der aus die einzelnen Deutungen generiert werden und von der aus für noch unbekannte, neue Sachverhalte eine Fortschreibung der Deutungsmuster unternommen werden kann.“ (Ebd.: 193)

Noch einmal auf die Habitusformationen zurückkommend, zeigt sich nun, dass sich – obwohl grundsätzlich nicht unähnlich – Habitusformationen von Deutungsmustern bei Oevermann im Sinne einer „Akzentverschiebung“ (Oevermann 2001c: 47) unterscheiden: 2

Eine recht ähnliche Bestimmung, um die es gleich noch ausführlich gehen wird, findet sich bei Goffman in dessen Entwurf sozialer Rahmen. Goffman weist bezogen auf die Definition von Situationen durch beteiligte Individuen auf traditionale Anteile hin: „Gewiß, über manche Seiten der ganzen Verhältnisse, unter denen wir leben, kommen wir persönlich nur mit gewisser Mühe zu einem Schluß; aber wenn das einmal geschehen ist, machen wir oft ganz mechanisch weiter, als ob die Dinge von jeher klar gelegen hätten.“ (Goffman 1977: 9)

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„Deutungsmuster sind im Vergleich zu Habitusformationen ‚reiner‘ spezifisch kognitive Bildungen, bei denen eine emotive oder affektuelle Aufladung fehlt. Sie implizieren zwar auch Bewertungen, aber solche, die auf kognitive Sachverhaltsurteile zurückgehen und nicht auf in der Ontogenese der Antriebsstruktur und der primär psychischen Entwicklung verwurzelte Strebungen und Motive. Hingegen ist es durchaus plausibel, für die Bildung von Habitusformationen eine integrale Verbindung mit diesen ontogenetischen Entwicklungen in Rechnung zu stellen. Habitusformationen sind also mit der individuellen psychischen Entwicklung viel stärker verwoben als das für Deutungsmuster anzunehmen ist.“ (Ebd.)

Aber auch Deutungsmuster sind für diejenigen, die sie einverleibt haben, nicht einfach abzustreifen, denn nach Oevermann werden sie „vor allem in den ontogenetischen Krisen der milieugebundenen Sozialisation erworben und tief im Verhaltensrepertoire verankert, so tief, daß eine vollständige Abkehr von ihnen so gut wie unmöglich ist“ (ebd.: 46, siehe auch Becker-Lenz/Müller 2009: 99). Oevermann plädiert implizit dafür, Milieubestimmungen und Bestimmungen von Milieugrenzen anhand von Deutungsmustern vorzunehmen, da Habitusformationen stärker als Deutungsmuster mit individuellen psychischen Entwicklungen zusammenhängen. „Entsprechend werden Deutungsmuster viel stärker als Habitusformationen nicht nur milieuspezifisch variieren, sondern mit der Abgrenzung von sozialen Milieus und von historischen Epochen zusammenfallen, ja diese Abgrenzungen ganz maßgeblich bedingen.“ (Oevermann 2001c: 47)

In diesem Zusammenhang wird nun die goffmansche Konzeption sozialer Rahmen eingeführt und als der dem Deutungsmusteransatz bei der Untersuchung der Verehrung La Santa Muertes vorzuziehende Ansatz begründet. Es ist die Dialektik der Rahmen, die sie für die Analyse der Verehrung La Santa Muertes zu einem attraktiven Konzept macht. Rahmen sind „nicht nur […] kognitive Deutungsmuster, sondern auch […] reale Interaktionssysteme, die ein emotionelles Engagement verlangen und die Beteiligten […] ‚gefangennehmen‘, in Bann schlagen“ (Eberle 1991: 183). Der Rahmenbegriff ist umfassender als der der Deutungsmuster, weil er sowohl das Bestehen und die Hervorbringung von Rahmen wie auch ihre orientierungsgebenden Eigenschaften, die von Subjekten

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auch mutwillig eingesetzt werden können, einschließt. Rahmen können gesetzt werden und sind Gegenstand praktischer Umgangsweisen.3 „Was geht hier eigentlich vor?“ ist die auf Sinnverstehen zielende Frage, die sich, so ein Ausgangspunkt der Rahmenanalyse nach Goffman, für Menschen in jeder Situation stellt. Ob diese Frage „nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung und Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewissheit besteht – die Frage wird gestellt, und die Antwort ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen“ (Goffman 1977: 16). Das weitere Vorgehen ist nach Goffman durch soziale Rahmen strukturiert, die „einen Verständnishintergrund für Ereignisse liefern, an denen Motive, Absichten und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Menschen, beteiligt sind“ (Eberle 1991: 184). Goffman unterscheidet verschiedene Arten von Rahmen, darunter die grundsätzlichen primären Rahmen, welche Interpretationsschemata bilden, die „sonst sinnlose Aspekte einer Szene zu etwas Sinnvollem machen“ (Goffman 1977: 31). „Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen Hauptbestandteil von deren Kultur, vor allem insofern, als sich ein Verstehen bezüglich wichtiger Klassen von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander und bezüglich der Gesamtheit der Kräfte und Wesen, die von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander nach diesen Deutungsmustern in der Welt vorhanden sind.“ (Ebd.: 37)

Grundsätzlich verweist der Begriff des Rahmens als Metapher auf eine Differenz, auf ein Innerhalb und ein Außerhalb. Goffmans Rahmen fassen aber nicht nur ein und grenzen ab, „sondern versehen eine ganze Szenerie von Ereignisund Handlungsabfolgen mit Sinn“ (Eberle 1991: 169). Thomas Eberle weist auf die „terminologische Doppelbödigkeit“ (Eberle 1991: 187) des Rahmenkonzepts hin, die, so Eberle, „leicht zu Mißverständnissen führen kann: Goffman meint mit ‚Rahmen‘ zum einen kognitive Interpretationsschemata, mit deren Hilfe wir Ereignisse deuten, zum andern aber auch Handlungs- und Interaktionsszenen, wie sie tatsächlich ablaufen.“ (Ebd.) Eberle folgert, die „Grundfolie für Goffmans Analyse von Handlungsrahmen“ bestehe darin, „Deutungsschemata und Handlungsszenen als zwei Seiten derselben Medaille zu behandeln […]“ (ebd.).4 3

Dieser Praxisbezug schlägt sich besonders in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Verwendung des Framing-Konzepts (beispielsweise Brake 2012 oder Entman 1993) nieder, mit dem Prozesse der Rahmensetzung untersucht werden.

4

Eberle fügt hinzu, dass Goffmans Rahmen im „innersten Kern“ (Eberle 1991: 186, Fußnote 11) doch von der Rahmenmetapher, die ein Einrahmen und Umschließen nahelegt, abweicht, denn „primäre Rahmen sind identisch mit einem originären Sinnzu-

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Mit Goffmans Rahmenanalyse geht der Anspruch einher, „sich ein Bild von dem oder den Rahmen einer Gruppe ihrem System von Vorstellungen, ihrer ‚Kosmologie‘ – zu machen“ (Goffman 1977: 37). Dahinter steht grundlegender die Vorstellung, dass „eine Handlungsszene einem Sozialwissenschaftler nur dann zugänglich ist, wenn er über dieselben Rahmen und deren Anwendungsprinzipien verfügt wie die Handelnden selbst. Trifft dies nicht zu […], wird jede Deutung problematisch.“ (Eberle 1991: 179) Rahmen können dabei gruppen-, milieu-, klassen- und situationsspezifische sein. Die Rahmenanalyse weist also mit den als kollektives Interpretationsschema verstandenen Rahmen eine Nähe zu Oevermanns Überlegungen zu Deutungsmustern auf.5 Das dem Deutungsmussammenhang. Dies wird leicht übersehen, weil Goffman sich vorwiegend mit komplexeren Rahmen beschäftigt, bei denen der Rahmenrand – und dies meint Goffman dann jeweils mit ‚Rahmen‘ – tatsächlich um einen primären Sinnzusammenhang herum vorgestellt wird.“ (Ebd.) 5

Der Deutungsmusteransatz und Verbindungsmöglichkeiten zu oder Ähnlichkeiten mit der Rahmenanalyse Goffmans wurden in der deutschsprachigen Soziologie diskutiert. Ausgangspunkt dieser Diskussion ist die Analyse von Deutungsmustern, nicht die Rahmenanalyse. Mit dem Ziel, die Deutungsmusteranalyse Oevermanns weiterzuentwickeln und fruchtbar für verschiedene Forschungsdesiderate zu machen, ist es – neben anderen Ansätzen – die Rahmenanalyse, auf die sich bezogen und die zu einer theoretischen Weiterentwicklung des Deutungsmusteransatzes erwogen wurde. Christian Lüders merkte beispielsweise an: „Merkwürdigerweise spielt bisher in der theoretischen Diskussion zum Deutungsmusterkonzept E. Goffman und sein Konzept der ‚Rahmenanalyse‘ keine Rolle, obwohl sich m.E. von ihr viel für die Deutungsmusteranalyse lernen ließe.“ (Lüders 1991: 404, Anmerkung 3) Michael Meuser und Reinhold Sackmann loten ansatzweise Verknüpfungsmöglichkeiten von Deutungsmusterund Rahmenanalyse aus: „Im vorliegenden Diskussionskontext erscheint uns – angesichts einer grosso modo dem Deutungsmusteransatz ähnlichen, wenn auch weniger ausgearbeiteten konzeptionellen Architektonik – die Idee der primären Rahmen interessant. Primäre Rahmen sind fraglos gegebene Deutungsschemata und erzeugen als solche die Normalität des Alltagshandelns, indem sie außergewöhnliche Ereignisse auf ihre ‚natürlichen‘ Ursachen zurückführen (vgl. Hettlage 1991, S. 128f. [zitiert nach Meuser/Sackmann 1992: 25, hier Hettlage 1991a: 130]). […] Ohne umstandslos Rahmen mit Deutungsmuster gleichzusetzen, für die Deutungsmusteranalyse stellt sich die Herausforderung, zentrale, für den Bestand einer Kultur oder Gesellschaft konsumtive Deutungsmuster zu rekonstruieren und zu klären, inwiefern gerade diese Deutungsmuster einen solchen fundierenden Status haben. Von Goffman läßt sich z.B. lernen, daß in diesem Kontext eine Analyse des ‚Geschlechtsrahmens‘ ansteht; virtuell ist dem Handelnden in jeder sozialen Interaktion die Aufgabe der Darstellung der ei-

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teransatz zugrundeliegende Interesse an der Rekonstruktion spezifischer Deutungsmuster von Milieus, Sozialformen und eines Zeitgeists unterscheidet sich von dem hier verfolgten Erkenntnisinteresse insofern, als es hier sowohl um die Rekonstruktion sinnmächtiger, Orientierung gebender und stabilisierender Rahmen, in denen Anhänger*innen La Santa Muertes sich bewegen, gehen wird wie auch um Praxen des Umgangs mit Rahmen, z.B. um ihre Transformation, Modulation und neue Hervorbringung. Das Konzept der Rahmen mit seiner Begrifflichen Doppelbödigkeit und Dialektik ist dem Gegenstand insofern angemessener als das der Deutungsmuster. Daher werden die Begrifflichkeiten der Rahmenanalyse hier denen der Deutungsmusteranalyse vorgezogen. Noch einmal auf Konzepte des Habitus zurückkommend und das nächste Kapitel einleitend, findet sich in der Tradition der praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode bei Bohnsack ein weiterer Habitusbegriff. Er ähnelt dem oevermannschen Deutungsmusterbegriff. Habitus resultiert nach Bohnsack, der sich auf Karl Mannheim bezieht, aus einer gemeinsamen Erlebnisschichtung und konjunktiven Erfahrungsräumen (vgl. Bohnsack 2014: 62, Bohnsack 2018: 22f., vgl. Mannheim 1980).6 Habitus ist dabei basal „nicht das Produkt der Kommunikation in Gruppen und sozialen Welten, sondern vielmehr die Voraussetzung für die Konstitution dieser Gruppen und soziagenen und der Identifikation der fremden Geschlechtszugehörigkeit gestellt. Dabei folgen die Handelnden einem ‚Plan der Darstellung‘ (Goffman 1981, S.40 [zitiert nach Meuser/Sackmann 1992: 26]). Welche Deutungsmuster diesen Plan bestimmen, wäre eine wichtige Fragestellung für die Deutungsmusteranalyse.“ (Ebd.: 25f.) Aus wissenssoziologischer Sicht wies auch Reiner Keller darauf hin, dass ein „heuristischer Deutungsmusterbegriff […] Nähen zum frame-Konzept der US-amerikanischen Bewegungsforschung auf[weise], ohne freilich die dort hervorgehobene Stellung strategischen Framings mit zu vollziehen.“ (Keller 2014: 157) Er zieht jedoch den Begriff der Deutungsmuster dem der Rahmen vor: „Im Unterschied zum sprachlich unglücklichen und mit einem kognitiven Bias versehenen Konzept des ‚Rahmens‘ scheint mir der Deutungsmusterbegriff die [… für die Zwecke der Bewegungsforschung und in Kellers Fall, für die Diskursanalyse,] angemessenere Übersetzung.“ (Keller 2004: 209) 6

Mit dem Habitus bestehen – so die Begrifflichkeiten Bohnsacks – „Orientierungsrahmen“ (Bohnsack 1998, 2012), die bei Bohnsack dem „(generationsspezifischen) Habitus“ (Bohnsack 1998: 112) entsprechen. Die Bezeichnung als Orientierungsrahmen ist bei Bohnsack primär mit Überlegungen zu konjunktiven Erfahrungsräumen verknüpft. Beispielsweise „verweist der Begriff Familie auf den konjunktiven Erfahrungsraum derjenigen, die Gemeinsamkeiten einer konkreten familialen Praxis und somit einen Orientierungsrahmen miteinander teilen“ (Bohnsack 2012: 123).

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len Welten“ (Bohnsack 2005: 119). Zusätzlich zu den bisher ausgeführten Überlegungen zu sozialen Rahmen wird im Folgenden der bohnsacksche Milieubegriff für die Rekonstruktion von Milieuerfahrungen fruchtbar gemacht, denn die Gläubigen La Santa Muertes teilen ein Schicksal und gemeinsame Sozialisationserfahrungen. Milieus und die Rekonstruktion von Milieuerfahrungen Für Bohnsack, der seinen Milieubegriff in Anlehnung an Mannheim (1980) entwickelte,7 sind Milieus „‚konjunktive‘, also verbindende Erfahrungsräume“ (Bohnsack 2005: 119). Sie sind dadurch charakterisiert, „dass ihre Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biografischen Erlebens und Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind“ (ebd.). Obgleich unterschiedlich abgeleitet, ähnelt Bohnsacks Bestimmung von Milieu in der Betonung des gemeinsamen Schicksals der Oevermanns. Mit beiden Milieubegriffen lassen sich biografisches Erleben und sozialisatorische Gemeinsamkeiten der Schicksale von Anhänger*innen La Santa Muertes als milieuformierend deuten. Bohnsacks Entwurf hat den Vorteil, dass er explizit eine bedeutungsvolle Unterscheidung von Milieu und „sozialer Welt“ vornimmt und insofern – das wird sich im Zuge der Analysen zeigen – besonders gut zu den sozialen Gegebenheiten der Untersuchten Anhänger*innenschaft La Santa Muertes passt. Denn das Milieu der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es keine oder eine nur prekäre Einheit bildet, womit für seine Angehörigen die Milieuerfahrung einer (drohenden) sozialen Fragmentierung einhergeht. Milieu ist nach Bohnsack zunächst keine Form der tatsächlichen Gemeinsamkeit im Sinne eines bestehenden Kommunikationszusammenhanges einer Gruppe oder einer Gemeinschaft. Die Konstitution eines Milieus, eines konjunktiven Erfahrungsraumes, ist „im Unterschied zur Kollektivität von Gruppen und sozialen Welten nicht an das gruppenhafte Zusammenleben und auch nicht an Kommunikationskanäle, sondern an eine gemeinsame Erlebnisschichtung, eine gemeinsame Sozialisationsgeschichte“ (Bohnsack 2005: 119), gebunden. Während Gruppen und soziale Welten erst aus Prozessen der Kommunikation hervorgehen und „Formen der kollektiven Bewältigung von

7

Mit Rekonstruktionen der Forschungspraxis der Chicagoer Schule der 1920er und 1930er Jahre, vor allem anhand der Studien „The Gang“ (Thrasher 1963) und „The Taxi-Dance Hall“ (Cressey 1932), zeigt Bohnsack auch Ähnlichkeiten zwischen diesem Forschungsstil und seinem eigenen forschungspraktischen Vorgehens auf.

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Problemen sozialer Lagerung dar[stellen]“ (ebd.: 118), sind Milieus nach Bohnsack eine elementare Form von Sozialität, da sich in seinem Verständnis „[g]esellschaftliches Sein im Sinne von Milieubildungen […] überhaupt erst auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten resp. Strukturidentitäten der Sozialisations- und Lebensgeschichte, also des gemeinsamen Schicksals, d.h. auf der Grundlage und im Medium konjunktiver Erfahrung“ (Bohnsack 2018: 23),

konstituiert. In diesem Sinne schärft der Rückgriff auf den Milieubegriff Bohnsacks die Analyse der Erzählungen und die Rekonstruktion von Erfahrungen der Anhänger*innen La Santa Muertes insbesondere bei der Untersuchung von Formen sozialer Einheit und Fragmentierung. Da es auch um die Analyse von Praxisformen der Verehrung La Santa Muertes wie kollektive religiöse Veranstaltungen geht, ist mit den Überlegungen Bohnsacks, nach denen Milieu gewissermaßen Prozessen der Gruppenbildungen bzw. der Herausbildung sozialer Welten vorgelagert ist, auch ein basaler theoretischer Rahmen zur Betrachtung von Gruppenbildungsprozessen innerhalb des Milieus der Gläubigen La Santa Muertes und in ihrer religiösen Praxis gegeben. Bohnsack betreibt Milieuanalyse vornehmlich auf der Grundlage von Protokollen von Gruppendiskussionen. Mit der Analyse dieser Protokolle können konjunktive Erfahrungsräume ausgemacht und Milieus insofern bestimmt werden. In der vorliegenden Arbeit geht es nicht um eine umfassende Milieuanalyse im Sinne Bohnsacks, sondern vornehmlich um die Rekonstruktion von spezifischen und typischen Milieuerfahrungen. Diese Milieuerfahrungen ergeben sich für Anhänger*innen La Santa Muertes aus gegenwärtigen Zeiterfahrungen, die milieuspezifische Erfahrungen bedingen. Die Milieuerfahrungen werden vor allem anhand von protokollierten Einzelinterviews rekonstruiert. Dies hat in erster Linie forschungspragmatische Gründe, denn die Organisation von Gruppendiskussionen war während der Feldforschung nicht möglich. Der Erfahrungsrahmen von Einzelinterviews ist kein primär kollektiver, wie er in Gruppendiskussionen besteht, in denen die Gesprächspartner*innen demselben Milieu angehören und im Gespräch konjunktive Erfahrungsräume aktualisieren (vgl. Bohnsack 2014: 123f.). Obwohl in den Interviewsituationen kein primär kollektiver Erfahrungsrahmen besteht – in Hinblick auf das Protokoll eines Gruppengesprächs mit drei Geschwistern und der Forscherin in Chihuahua relativiert sich dieser Umstand etwas – lassen sich Bohnsack zufolge dennoch auch anhand von Einzelinterviews Milieuerfahrungen rekonstruieren:

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„Da der Einzelne seine biographische Gesamtformung im Durchgang durch jene für ihn bedeutsamen milieu- und generationsspezifischen Erfahrungsräume konstituiert, ist eine empirische Ausdifferenzierung unterschiedlicher kollektiver Erfahrungsräume prinzipiell auch auf der Basis von in autobiographischen Interviews produzierten Texten (auf dem Wege der komparativen Analyse) möglich. Allerdings müssen [und werden] sie dort aus dem primären Erfahrungsrahmen einer an der individuellen, d.h. auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung oder biographische Gesamtformung bezogenen Thematisierung des Lebens in analytischer Abstraktion erst herausgelöst werden.“ (Bohnsack 2014: 122)

THEATERMETAPHERN Goffman bedient sich in großen Teilen seines Werkes Metaphern aus der Welt des Theaters.8 Zuvor bereits unkommentiert genutzt, sollen diese nun als eine Perspektive auf die Verehrung la Santa Muertes eingeführt werden. Die Theatermetapher, wie Goffman sie in „Wir alle spielen Theater“ (Goffman 2013) und mit seinem Entwurf der Rahmenanalyse (Goffman 1977) fruchtbar macht, wurde in der Soziologie breit und kritisch rezipiert.9 Die Begrifflichkeiten aus der Welt

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In „Rahmen-Analyse“ legt Goffman (1977) nahe, die soziale Welt in Anlehnung an Schauspiel und Theater zu deuten: „Die ganze Welt ist wie eine Bühne, wir stolzieren und ärgern uns ja ein Stündchen auf ihr herum, und dann ist unsere Zeit um. Doch was hat es mit der Bühne auf sich und mit den Gestalten, die sie bevölkern?“ (Ebd.: 143) In „Wir alle spielen Theater“ (Goffman 2013) arbeitet er ebenfalls mit Metaphern aus der Welt des Theaters. Die soziale Welt als Schauspiel und Bühne zu begreifen, war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts en vogue, wie etwa die Arbeiten des Malers Max Beckmann dokumentieren und in der Soziologie Simmels Auseinandersetzung mit dem Schauspieler nahelegt, die er über das Theater hinaus für bedeutungsvoll hält. „Das ‚Spielen einer Rolle‘ – nicht als Heuchelei und Betrug, sondern als das Einströmen des persönlichen Lebens in eine Äußerungsform, die es als irgendwie vorbestehende, vorgezeichnete vorfindet – dies gehört zu den Funktionen, die unser tatsächliches Leben konstituieren.“ (Simmel 1968: 79)

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Hubert Knoblauch schreibt, Interpret*innen Goffmans seinen „geblendet von der Theater-, Spiel- und Rahmenmetapher“ (Knoblauch 2001: 9), sodass Goffmans Interesse an der Interaktionsordnung Teils unterreflektiert bleibe. Nach Debatten um Sinn und Unsinn der Theatermetapher stellte Goffman 1981 seinen Gebrauch dieser Metaphern klar, indem er seinen Rekurs auf das Theater als Metapher zur Erfassung der sozialen Welt, seinen Gebrauch der Begriffe aus der Welt des Theaters spezifiziert: „I make no large literary claim that social life is but a stage, only a small technical one: that

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des Theaters sollen weniger als Theorie betrachtet werden, sondern als heuristische Zugänge zur Verehrung La Santa Muertes dienen. Für Goffman ist die Welt „nicht einfach eine große Bühne – und das Theater ist es gewiß auch nicht ausschließlich. (Ob man nun ein Theater oder eine Flugzeugfabrik auf die Beine stellen will, man muß für Parkplätze und Garderoben sorgen, und das sollten wirkliche Parkplätze und Garderoben sein, für die man auch eine wirkliche Diebstahlversicherung abschließen sollte.).“ (Goffman 1977: 9)

Zu den metaphorischen Begrifflichkeiten aus der Welt des Theaters gehört zunächst die „Bühne“. Im Theater wird die Bühnenzone, in der die eigentliche „Aufführung“ stattfindet, gewöhnlich vom Bereich der Zuschauer*innen abgegrenzt. Diese Unterscheidung sowie der Modus des Zuschauens des Publikums gehören zum Theaterrahmen (vgl. Goffman 1977: 150) und bedeuten, dass „das Publikum weder das Recht noch die Pflicht hat, sich unmittelbar an dem dramatischen Geschehen auf der Bühne zu beteiligen“ (ebd.: 143). Die „Vorderbühne“ ist dabei die Region, in der eine Vorstellung stattfindet. „Die Darstellung des Einzelnen auf der Vorderbühne kann man als Versuch ansehen, als wolle er den Eindruck erwecken, seine Tätigkeit in dieser Region halte sich an gewisse Normen.“ (Goffman 2013: 100) Während die Darsteller*innen sich auf der Vorderbühne strikt an ihre Rollen halten, können sie diese auf der „Hinterbühne“ verlassen. „Die Hinterbühne kann definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewußt und selbstverständlich wiederlegt wird.“ (Ebd.: 104) Kirchen und Altarräume sind in diesem Sinne Bühnen der Verehrung La Santa Muertes. Auf diesen Bühnen finden religiöse Veranstaltung als „Aufführungen“ statt. Wichtig für das Gelingen einer „Aufführung“ ist, wie auch im richtigen Theater, ein passendes „Bühnenbild“. „Ein Bühnenbild ist meist unbeweglich im geografischen Sinne, so daß diejenigen, die ein bestimmtes Bühnenbild als Teil ihrer Vorstellung verwenden wollen, ihr Spiel nicht beginnen können, bevor sie sich an den geeigneten Ort begeben haben, und ihre Vorstellung beenden müssen, wenn sie ihn verlassen.“ (Ebd.: 23)

Als Bühnenbild bezeichnet Goffman einen Teil der szenischen Komponenten, der noch um andere Ausdrucksmittel, die zu den Darsteller*innen selbst gehören, erweitert werden muss. Die „persönliche Fassade“, zu der „Amtsabzeichen deeply incorporated into the nature of talk are the fundamental requirements of theatricality.“ (Goffman 1981: 4, vgl. Knoblauch 2001: 11)

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oder Rangmerkmale, Kleidung, Geschlecht, Alter, Rasse, Größe, physikalische Erscheinung, Haltung, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik und dergleichen zu rechnen“ (ebd.: 25) sind. Je nachdem auf welcher Bühne und in welchem Teil einer Bühne Menschen sich befinden, können sie verschiedene „Rollen“ spielen. Goffman verwendet „den Ausdruck ‚Rolle‘ im Sinne der spezialisierten Funktion, die im wirklichen Leben wie auch in dessen Darstellung auf der Bühne vorkommen kann“ (Goffman 1977: 148). Eine oder mehrere Rollen spielend kommt es zur „Performance“, „Darstellung“,10 der einzelnen Menschen. Goffman hat „den Begriff ‚Darstellung‘ zur Bezeichnung des Gesamtverhaltens eines Einzelnen verwendet, das er in Gegenwart einer bestimmten Gruppe von Zuschauern zeigt und das Einfluß auf diese Zuschauer hat“ (Goffman 2013: 23). Je nachdem, wie Performances geartet sind, haben sie bestimmte Konsequenzen bzw. erfüllen verschiedene Zwecke. So können sie z.B. Gruppen stabilisieren oder Identität stiften.11 Die „Aufführung“ ist bei Goffman das unmittelbare Spiel der Schauspieler*innen „untereinander […] als Angehörige des gleichen Reiches; das Publikum reagiert mittelbar, es schaut, geht gewissermaßen nebenher, spendet Beifall, aber unterbricht nicht“ (Goffman 1977: 146). Die Aufführung verwandelt einen Menschen in einen Schauspieler, „den Menschen in der ‚Publikums‘-Rolle des langen und breiten ohne Anstoß betrachten und von dem sie einnehmendes Verhalten erwarten können“ (ebd.: 143). Ein Orchesterkonzert wäre in diesem Sinne eine „reine“ Aufführung. „Kein Publikum, keine Aufführung. Die Grenzfälle sind […] ad-hoc Aufführungen, wie sie im häuslichen Kreis vorkommen“ (ebd.: 144) und auch Feiern wie Hochzeiten und Bestattungen sind weniger rein, denn bei ihnen „sind gewöhnlich Zuschauer anwesend, jedoch in der Rolle von Zeugen und von Gästen, und gewöhnlich werden sie eingeladen und zahlen kein Eintrittsgeld“ (ebd.: 145). Die „Inszenierung“ ist eine „Unterart der Aufführung, nämlich die eines dramatischen Drehbuchs live auf der Bühne“ (ebd.: 147). Ein solches Drehbuch ist von jemandem verfasst worden: Dem „Dramaturgen“, der Dramaturgin oder den Dramaturg*innen. Im Verlauf von Inszenierungen folgen die Interaktionen einer Dramaturgie, welche die verschiedenen Aktivitäten fest10 Im englischen Original „performance“. Im Folgenden werden beide Begriffe Synonym verwenden. 11 In diesem Zusammenhang formuliert Goffman auch sein Verständnis von Ritualen. Ein Ritual ist für Goffman eine Art „Extremfall“ einer Darstellung: „Insofern eine Darstellung die gemeinsamen offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft, vor der sie dargeboten wird, betont, können wir sie nach dem Vorbild von Durkheim und Radcliffe-Brown als Ritual betrachten, das heißt, als eine ausdrückliche Erneuerung und Bestätigung der Werte der Gemeinschaft.“ (Goffman 2013: 35f.)

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legt und die das Aufgeführte auch zeitlich organisiert, indem sie Pausen, Eröffnungen und Abschlüsse ebenso wie Orte, Räumen und Plätzen vorsieht (vgl. ebd.).

REKONSTRUKTIV-ANALYTISCHER FORSCHUNGSSTIL Der qualitative rekonstruktiv-analytische Forschungsstil der Arbeit verbindet methodologische Positionen der Objektiven Hermeneutik mit dem Forschungsstil Goffmans. Es geht dabei um Rekonstruktion, denn die angestrebten Interpretationen der Erzählungen der Gläubigen wie auch der gelebten Verehrung sitzen auf den Alltagskonstruktionen auf: „Die Konstruktionen, die die Sozialwissenschaftler benutzen, sind […] sozusagen Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln […] seiner Wissenschaft zu erklären versucht.“ (Schütz 1971: 7, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 13)

Die rekonstruktionslogisch ausgerichtete Objektive Hermeneutik soll in diesem Sinne „eine allgemeine Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt […] sein“ (Oevermann 2013: 98). Ihr Anspruch besteht in einer forschungspraktisch zu realisierenden Verschränkung von Theorie und Methode. Theorie und Methode müssen Elemente sein, „die auf einer horizontalen Ebene nicht nur in einem Passungsverhältnis zueinander stehen, sondern als Elemente, die in ihrer vertikalen Entwicklung wechselseitig im Prozess der Ausarbeitung der Konzeption auseinander hervorgegangen sind“ (Garz 2010: 249). Zudem bietet die Objektive Hermeneutik „auch auf Ebene der Kunstlehre [ein] forschungspraktische[s] Auswertungsverfahren für die Gesamtheit von Datentypen“ (Oevermann 2013: 98). Das in diesem Sinne entwickelte und etablierte Verfahren ist die Sequenzanalyse.12 Einige methodologische Positionen der Objektiven Hermeneutik sollen im Folgenden genauer erläutert, mit anderen me-

12 Die Bezeichnungen Objektive Hermeneutik und Sequenzanalyse können synonym verwendet werden, wobei mit Sequenzanalyse nur die Methode bezeichnet ist. Für eine ausführliche Darstellung der objektiv-hermeneutischen Methodologie und Methode siehe beispielsweise Oevermann et al. 1979, Oevermann 2016 und 2000b sowie einführend Wernet 2009, 2014 oder Becker-Lenz et al. 2016.

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thodologischen Positionen zusammengebracht und dabei auf das hier verfolgte Erkenntnisinteresse und den Gegenstand bezogen werden. Zunächst geht es um die Theorie und Praxis der Feldforschung. Anschließend wird dargelegt, inwiefern die zugrunde gelegten empirischen Daten als Ausdrucksgestalten und Protokolle aufgefasst werden. Die verschiedenen Datentypen werden als unterschiedliche Protokolltypen bestimmt und es werden methodische Wege zu ihrer Analyse aufgezeigt. Dabei werden das Verfahren der Sequenzanalyse für textförmige Protokolle und das Verfahren der Segmentanalyse für fotografische Protokolle vorgestellt.

DATENERHEBUNG – FELDFORSCHUNG ALS AUSGANGSPUNKT Goffman stand in der Tradition der Chicagoer Schule für eine „fieldworksociology“ (Knoblauch 2001: 8). Knoblauch schreibt über Goffman: „Er bedient sich einer Vielfalt von Methoden […] und er glänzt durch einen Eklektizismus […].“ (Ebd.: 7f.)13 Goffmans Methoden-Eklektizismus und seine „naturalistische Vorgehensweise bei der Feldforschung“ (ebd.: 16, siehe auch Raab 2014: 66), inspirierten das Vorgehen bei der Datenerhebung im Feld. Der Verehrung La Santa Muertes, den Anhänger*innen und ihrer sozialen Welt wurde offen begegnet. Es wurde immer das forschungsrelevant, was vor Ort relevant wurde. Die Verehrung La Santa Muertes zu untersuchen, setzt voraus, einen Zugang zu den Gläubigen zu finden, Kontakte zu knüpfen, anwesend zu sein und im Alltag und in der religiösen Praxis mitzumachen. Die Voraussetzung ist Feldforschung. Interviewtermine mit Anhänger*innen La Santa Muertes ließen sich kaum per Telefon, E-Mail, Facebook-Nachricht oder gar mit einer Einladung per Brief anbahnen, sondern bedurften eines persönlichen Kontakts und einer Vertrauensbasis. In Hintergrund stand, so eine Deutung, auch die Sorge der Gläubigen, die Forscherin könnte ihnen, ihren Vorstellungen, La Santa Muerte und deren Verehrung möglicherweise ablehnend oder zumindest argwöhnisch gegenüberstehen. Anhand der folgenden Notizen aus dem Feldforschungstagebuch

13 Knoblauch spitzt seine Aussage noch weiter zu, indem er von einem hemmungslosen Eklektizismus (vgl. Knoblauch 2001: 11) Goffmans spricht. Hettlage führt Goffmans „‚brilliant ambiguity‘ (Alexander 1987: 237 [zitiert nach Hettlage 1991b: 421])“ (ebd.) an, die sein Werk kennzeichne und Hitzler stellt das „Befremden“ hervor, das Goffman mit seiner Arbeit bei einigen seiner Zeitgenoss*innen ausgelöst habe (vgl. Hitzler 1991: 276).

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über die Besuche zweier Kirchen La Santa Muertes in Los Angeles, wird deutlich, dass die Öffnung gegenüber der Forscherin mit einem für die Gläubigen charakteristischen Prozess der Prüfung und des Vertrauenfassens einherging: „Es schien mir in den Kirchen so, als müsste ich erst eine Phase der Beobachtung durchlaufen, in der ich zunächst observiert und dann in meiner Ernsthaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit geprüft wurde. Man forderte mich während der Messen zum Sprechen auf, hielt mich an, meine peticiones, Fürbitten, laut und für alle hörbar vorzutragen, vor allen Anwesenden über mein Erleben einer Invokation La Santa Muertes zu sprechen oder bat mich ein Lied vorzusingen. Erst nachdem dieses Vorgehen einige Zeit bestanden hatte, fragte man mich, ob ich beispielsweise helfen könnte, die Bänke in der Kirche zu verschieben oder, ob ich an Festivitäten in der Kirche teilnehmen wollte. Die anderen Anwesenden begannen schließlich auch außerhalb der Veranstaltungen in den Kirchen mit mir zu sprechen, Fragen zu stellen und teilweise engeren Kontakt aufzunehmen.“

In der Feldforschung liegt auch die Chance, als Forscherin selbst leibliche und psychische Erfahrungen zu machen und einen verstehenden Zugang zu den Handlungen der Beforschten zu finden (vgl. Rosenthal 2015:113). Goffman führte in diesem Sinne teilnehmende Beobachtungen durch. Er verstand darunter, „Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt“ (Goffman 1996: 263). Weil die Forschenden dann „im selben Schlamassel wie die anderen stecken“, so Goffman, würden sie „auch einfühlsam genug, das zu erspüren, worauf sie reagieren.“ (Ebd.) In diesem Sinne ging es bei der Feldforschung zur Untersuchung der Verehrung La Santa Muertes darum, sich mit der Welt der Gläubigen und ihren Praktiken vertraut zu machen, die Welt möglichst auch aus ihrer Sicht sehen zu lernen und empathisch ihre Standpunkte nachzuvollziehen. Erfahrungen der Forscherin wurden in einem Feldforschungstagebuch festgehalten.14 Einzelne Beobachtungen der Forscherin von Situationen wurden in Form detaillierter Beobachtungsprotokolle festgehalten.

14 Zusammenstellungen aus dem Feldforschungstagebuch liefern auch in den folgenden Kapiteln kurze, dichte, naturalistischen Eindrücke der Settings, der Situationen und der Stimmung. Sie leiten weitere Analysen ein und betten diese ein. Den Leser*innen soll auf diese Weise in Anlehnung an Geertzs „Dichte Beschreibung“ (Geertz 1987) ein Gefühl von „being there“ (Geertz 1988: 1) vermittelt werden.

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Interviewerhebung Während der Feldforschung war es forschungspraktisch selten möglich, klassische Interviewsituationen zu arrangieren. Interviews wurden pragmatisch, so, wie es gerade passte, und auch nach den Vorstellungen der Interviewten, beispielweise an einem Ort ihrer Wahl, durchgeführt. Als Interviewpartner*innen kamen allgemein Menschen, die La Santa Muerte verehrten, infrage. Daneben war es das Kriterium des Kontrasts (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Kirchenbesucher*in und Anhänger*in La Santa Muertes, die bzw. der in keine Kirche geht usw.), nach dem versucht wurde Interviewpartner*innen auszuwählen. Tatsächlich gestaltete sich die Rekrutierung von Interviewpartner*innen schwierig, sodass im Grunde erst einmal jede*r Gläubige interviewt wurde, die oder der sich dazu bereit erklärte. Lediglich zwei Interviewpartner*innen wurden gezielt, und zwar mit dem Ziel, finanziell und sozial besser situierte Gläubige zu befragen, kontaktiert. Es handelt sich dabei um die Interviewten Fernanda und Carlos. Im Interview stellte sich allerdings jeweils heraus, dass der vermutete Kontrast keinen Bestand hatte. Die Interviewpartner*innen wussten vor dem Interview, dass sich die Forscherin für ihre Erfahrungen mit La Santa Muerte, für ihre religiöse Praxis und allgemein für ihre Lebensgeschichten interessierte, da dies im Rahmen des Kennenlernens und bei der jeweiligen Verabredung zum Interview mitgeteilt wurde. Die Interviews wurden dann offen, möglichst unvoreingenommen und ohne in den Erzählfluss einzugreifen, eher passiv und nicht forsch auftretend, geführt, sodass die Interviewten sich selbst und ihre Erfahrungen zur Darstellung bringen konnten. In den USA und in Mexiko wurden die meisten Gespräche im Feld und die Interviews auf Spanisch geführt. Nur mit zwei Interviewpartnerinnen in Los Angeles, Sol und Esmeralda, wurden alle Gespräche vor und nach dem Interview und auch das Interview selbst auf Englisch geführt. Die Wahl der Interviewsprache ergab sich jeweils aus der Gesprächssprache vor dem Interview und wurde den Interviewpartner*innen überlassen. Unter Anhänger*innen La Santa Muertes in den USA, und in Mexiko ohnehin, wird vorwiegend Spanisch gesprochen. Die Veranstaltungen in den Kirchen La Santa Muertes sind normalerweise spanischsprachig. Forschungsethik Forschungsethische Überlegungen (vgl. Von Unger 2014, Hopf 2005) spielten während der gesamten Forschung eine Rolle. Bezogen auf die Feldforschung

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hieß das grundsätzlich, dass Beforschte möglichst gut über die Forschung informiert wurden. Vor teilnehmenden Beobachtungen, insbesondere dann, wenn Aufnahmen angefertigt wurden, wurden möglichst alle Anwesenden über die Tätigkeit der Forscherin informiert. Bei Messen holte die Forscherin bei dem oder derjenigen, der bzw. die die Messe abhalten würde, eine Einwilligung ein oder meldete sich zu Beginn der Veranstaltung zu Wort und stellte sich und ihr Anliegen allen Anwesenden vor. Häufig wurde auch von den profes zu Beginn der Veranstaltung darüber informiert, dass die Forscherin anwesend sein, zuhören, ggf. aufnehmen und ggf. Notizen anfertigen würde. Diese Praxis bestand insbesondere zu Beginn der Forschung am jeweiligen Ort. Es kann sein, dass im Verlauf der Forschung vereinzelt Menschen während Veranstaltungen in Kirchen auf die Forscherin trafen, ohne von ihrer Tätigkeit gewusst zu haben. Der Aufnahme von Fotografien durch die Forscherin wurde möglichst durch diejenigen, welche die Hoheit über den jeweiligen Raum hatten oder durch weitere Anwesende, zugestimmt. Interviewpartner*innen wurden vor Beginn der Interviews so weit wie möglich über die Forschung und ausführlich über die Anonymisierung, den Verbleib und Umgang mit ihren Daten (Analyse in Gruppen, Präsentation und Veröffentlichung) informiert. Sie hatten zu jeder Zeit im Forschungsprozess die Möglichkeit, ihre Teilnahmebereitschaft zurückzuziehen und die Forscherin auch im Nachhinein per Telefon zu bitten, Aufgezeichnetes zu löschen. Keine*r der Befragten machte von dieser Möglichkeit Gebrauch. Für alle Daten wurde eine tragfähige Anonymisierungsstrategie entwickelt, sodass die Interviewten nicht identifizierbar sind.

ZUM STATUS DER DATEN – AUSDRUCKSGESTALTEN UND PROTOKOLLE Vor dem Hintergrund des Sinn-Begriffs der Objektiven Hermeneutik sind Ausdruckgestalten, verbale Äußerungen, Gegenstände, Bilder, Texte usw., mit einer „objektiven Sinn- oder Bedeutungsstruktur“ (Oevermann 2013: 73) ausgestattet. Anhand von Ausdrucksgestalten lässt sich diese objektive Sinn- und Bedeutungsstruktur bestimmen. Sie sind das „Gesamt an Daten, in denen sich die erfahrbare Welt der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften präsentiert und streng methodisch […] zugänglich wird, in denen also die sinnstrukturierte menschliche Praxis in allen ihren Ausprägungen erforschbar wird“ (Oevermann 2002: 4).

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Methodologisch konstituieren Ausdruckgestalten „latente Sinnstrukturen“. Der Begriff der latenten Sinnstruktur bezieht sich dabei „rein methodologisch auf jene Realitätsebene eigener Art […], die der methodischen Operation der Rekonstruktion als abstrakter, bloß lesbarer Gegenstandsbereich vorliegt“ (Oevermann 2013: 73). Die Ausdruckgestalt ist durch Bedeutungsstrukturen generiert, die „jenseits des Selbstverständnisses und Selbstbildes einer sozialen Praxis liegen“ (Wernet 2009: 18). Für die forschungslogische Ausrichtung der Objektiven Hermeneutik ist diese Differenz zwischen „‚der Ebene der objektiven latenten Sinnstrukturen und der Ebene der subjektiv-intentionalen Repräsentanz […,] entscheidend‘ (Oevermann u.a. 1970, 380 [zitiert nach Wernet 2009: 18])“ (ebd.). Der Objektiven Hermeneutik liegt zwar die „Auffassung zugrunde, dass die Bedeutungsfunktion überhaupt durch Sprache konstituiert wird. […] Im Hinblick auf die konkrete Realisierung von Bedeutungs- oder Sinnstrukturen dagegen ist die Sprache eine Ausdrucksmaterialität unter vielen anderen und häufig nicht einmal die wirksamste.“ (Oevermann 2013: 73)

Mit der Objektiven Hermeneutik wurden durchaus auch nicht-sprachliche Ausdrucksgestalten untersucht, jedoch liegt der Fokus der meisten Studien, die mit der Objektiven Hermeneutik arbeiten, weiterhin auf der Analyse von sprachlich verfassten Protokollen. Meistens auf der Analyse von Interviews. Anhand solcher in Sprache verfasster Ausdrucksgestalten wurde die Methode zunächst entwickelt und später auf anders verfasste Ausdrucksgestalten übertragen (beispielsweise Kinderzeichnungen (Scheid 2012) oder technisch generierte Ansichten (Oevermann 2009a) und Fotografien (Oevermann 2014)). Oevermann kommt wegen dieser Übertragungen des Ansatzes der Objektiven Hermeneutik auf verschiedene nicht sprachliche verfasse Ausdrucksgestalten zu dem Schluss, von der Objektiven Hermeneutik angeleitete Untersuchungen hätten ausreichend belegt, „[i]nwieweit das Prinzip der Sequenzanalyse sich sinngemäß auf vollkommen außersprachliche Ausdrucksgestalten übertragen lässt“ (Oevermann 2013: 86). Das sei „im Bereich der visuell-piktorialen und der musikalischen Gestaltung hinreichend belegt“ (ebd.). Hier, in der vorliegenden Arbeit, wird die Position vertreten, dass die objektiv-hermeneutischen Zugänge zum Bild einer noch genaueren Ausarbeitung hinsichtlich der Ausdrucksmaterialität des Bildes und dessen Spezifika bedürfen, als sie bisher in der Tradition der Objektiven Hermeneutik geleistet wurde. Bezogen auf Fotografien, die hier als dokumentierende Protokolle aufgefasst werden, wird im Folgenden argumentiert, dass es mit der Segmentanalyse nach Roswitha Breckner besser als mit der Sequenzanalyse

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gelingt, Bilder unter besonderer Berücksichtigung ihrer Visualität zum Ausgangspunkt von Sinnrekonstruktionen zu machen. Breckner bezieht sich, anders als die Objektive Hermeneutik in erster Linie auf Symboltheorien, wenn es um das Zeigen des Bildes und den Bildsinn geht. Dieser Unterschied in der Ableitung steht jedoch in keinem Verhältnis der Unvereinbarkeit, in keinem grundsätzlichen Widerspruch zur Objektiven Hermeneutik mit ihrer Prämisse von der Konstitution der Bedeutungsfunktion durch Sprache. Das bildanalytische Verfahren der Segmentanalyse wird für die Analyse von bildlichen Protokollen jedoch aufgrund seiner Entwicklung am Bild, der Sequenzanalyse vorgezogen. Ausdrucksgestalten werden methodologisch als Protokolle aufgefasst. Protokolle sind Aufzeichnungen einer protokollierten Wirklichkeit, deren Flüchtigkeit sie durch die Aufzeichnung dauerhaft enthoben sind. Sie stehen zu der protokollierten Wirklichkeit in kategorialer Differenz. Zwischen protokollierter Wirklichkeit und dem Protokoll besteht ein „unüberbrückbarer Hiatus“ (ebd.). Die protokollierte Wirklichkeit ist der Sphäre der Praxis zugehörig, „sozialzeitlich an die jeweilige Gegenwärtigkeit des Vollzugs von Praxis unauflöslich gebunden“ (ebd.) und kann daher nicht zum Gegenstand einer von dem konkreten Handlungsdruck und den Anforderungen der Praxis entlasteten wissenschaftlichen Betrachtung herangezogen werden. Erst im Protokoll wird die protokollierte Wirklichkeit festgehalten, auf den nötigen Abstand gebracht, der Praxis enthoben und auf diese Weise zu einem archivierbaren und geeigneten Datum für die Rekonstruktion des Sinns der protokollierten Wirklichkeit.15 15 Hierin liegt auch das Verständnis von Intersubjektivität der Objektiven Hermeneutik begründet. Intersubjektivität kommt nicht primär „durch eine kollektiv verbindliche Typisierung von Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteilen [… zustande], sondern allein dadurch, dass [… beispielsweise] Beobachtungen in Protokollen festgehalten sind, die grundsätzlich archivierbar sind und deshalb jederzeit zum Gegenstand wiederholter Auswertungen und Analysen gemacht werden können“ (Oevermann 2013: 74). Oevermann verbindet mit seinem Intersubjektivitätsbegriff daher auch eine „Entmystifizierung des Begriffs der Beobachtung“ (ebd.: 74). Dem Verständnis der Objektiven Hermeneutik nach ist die Beobachtung „eine der Praxis selbst zugehörige epistemisch bedeutsame Handlung, die aber methodologisch als solche uninteressant ist, solange sie kein Protokoll hinterlassen hat“ (ebd.). Aus Sicht der Objektiven Hermeneutik sind solche Protokolle für Sequenzanalysen von Nöten, welche die protokollierte Wirklichkeit möglichst unverändert protokollieren und insofern geeignete Daten darstellen, um den Sinn der protokollierten Wirklichkeit zu verstehen. Aufzeichnungen durch ein Gerät erzeugen in diesem Verständnis am ehesten „natürliche, d.h. durch Interpretationen am wenigsten transformierte Protokolle“ (ebd.). Oevermann weist in diesem Zusammenhang besonders auf die Notwendigkeit einer Notation der

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Interviewtranskripte als Protokolle Die Rekonstruktion der Milieuerfahrungen basiert vornehmlich auf Interviews, auf erzählten Lebensgeschichten und Erfahrungen, der Gläubigen. Die Interviews wurden mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet und später transkribiert und anonymisiert. Die technisch vermittelten Aufzeichnungen liefern ein Protokoll der Interviewsituation und protokollieren die Erzählungen der Interviewten. In diesem Sinne sind sie geeignete Protokolle, um sowohl die Interviewsituation, also die Interaktionen zwischen Interviewten und Forscherin, wie auch die Erfahrungen der Interviewten sequenzanalytisch zu interpretieren. Beobachtungsprotokolle Insbesondere die vergleichende Analyse zweier religiöser Veranstaltungen in Kirchen der Verehrung La Santa Muertes auf Ebene der Aufführung basiert neben Tonaufzeichnungen auch auf Beobachtungsprotokollen der Forscherin. Im Anschluss an Beobachtungen der Forscherin wurden neben stärker formlosen Einträgen im Forschungstagebuch detaillierte Beobachtungsprotokolle verfasst. Diese Beschreibungen von Situationen im Feld durch die Forscherin und ihre Beschreibungen von Interaktionen mit Interviewpartner*innen sind nach Oevermann editierte Protokolle der zu analysierenden Wirklichkeit. Oevermann problematisiert den Status dieser Protokolle daher folgendermaßen: „Bei allen beschreibenden Verfahren der Datenerhebung, z.B. den ethnographischen (wie der Name schon sagt), lassen sich, weil die Beschreibungen von intelligenten Subjekten durchgeführt werden und immer schon eine gegenstandsspezifische Interpretation enthalten, die im Grunde eine Dateninterpretation ist, Datenerhebung und Dateninterpretation bzw. -auswertung nicht mehr auseinanderhalten. Daraus resultiert eine vermeidbare, die methodische Geltungsüberprüfung einschränkende Zirkelhaftigkeit.“ (Oevermann 2013: 69)

Beschreibungen haben in dieser Sicht einen mittleren Editierungsgrad aus dem grundsätzlich eine Unkontrolliertheit der Interpretation folgen kann. Um dem zu begegnen wurden Beobachtungen der Forscherin sehr genau und unter Beachtung des zeitlichen und tatsächlichen Ablaufs verfasst. Zusätzlich wurden den Beschreibungen, wann immer es möglich war, weitere technisch erzeugte Protokolle zur Seite gestellt. Dabei handelt es sich um Tonaufnahmen und Fotogragerätevermittelten Aufzeichnungen hin. „Denn erst unter der Bedingung ihrer Notation werden gerätevermittelte Aufzeichnungen von der Realzeit der von ihnen protokollierten wirklichen Praxis abgelöst, so dass man sie kontrolliert ohne Handlungsdruck analysieren kann.“ (Ebd.)

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fien. Beobachtungsprotokolle wurden mit diesen technisch aufgezeichneten Protokollen für die Analyse künstlich, d.h. im Nachhinein, verdichtet. Praktisch sah das beispielsweise so aus: Die Forscherin nahm an einer religiösen Veranstaltung teil und durfte mit einem kleinen und unauffälligen Tonaufnahmegerät, das die Teilnehmer*innen der Veranstaltungen zum Teil schon kannten, einen Audio-Mitschnitt des Geschehens anfertigen. Verbale Äußerungen und ggf. die Musik wurden aufgezeichnet und als Protokolle der Analyse zugänglich. Über diese Audio-Mittschnitte hinaus gehen die Veranstaltungen ebenso wie die Interviewsituationen mit verschiedenen mehr oder weniger non-verbalen Handlungen, wie dem Anzünden von Fleisch- und Stofffiguren, einher, die als Handlungen und Vorgänge dann in den Beobachtungsprotokollen der Forscherin festgehalten wurden. Die Aufzeichnungen aus dem Feldforschungstagebuch ermöglichen daneben Einblicke in die leiblichen und psychischen Empfindungen der Forscherin, die zum Verstehen der Situationen und der Handelnden mit herangezogen werden können. Dass Teilnehmer*innen ihre Hände während einer Messe in Richtung einer Figur La Santa Muerte ausstrecken, ist beispielsweise eine auf ein Beobachtungsprotokoll gestützte Aussage, die mit dem technisch erzeugten Protokoll der transkribierten Tonaufnahme zusammengebracht, dieses Protokoll erweitert und verdichtet. Wie es sich für Anwesende anfühlt, über einen längeren Zeitraum die Hände in Richtung einer Figur La Santa Muertes auszustrecken, darauf können die Einträge aus dem Feldforschungstagebuch der Forscherin ansatzweise Antworten liefern. Indem auch für die Interviewsituationen, insbesondere in Hinblick auf die Rahmung der jeweiligen Interviewsituation, Beobachtungsprotokolle angefertigt wurden, ist es bei der Analyse von Interviewsituationen möglich, auch im Rückgriff auf Beobachtungsprotokolle, beispielsweise Machtgefällen und Hierarchien in Interaktionen des Forschungssetting zu erkennen und zu erklären. Diese Protokolle können somit als Kontextwissen und zur Rekonstruktion der Interviewrahmung bei der Analyse hinzugezogen werden.

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Der Liedtext eines Corridos als Analysegegenstand „Sie wagen sich nur zu dieser Wahrheit vor, wenn sie der eigenen Wahrheit ins Auge blicken, im Suff, im Tanz, in der Lust […]. Lieber würden sie bloß den netten Teil hören, was?, aber das hier sind keine Lieder, für die man erst um Erlaubnis fragt, der Corrido ist kein Bild, das die Wand schmückt. Er ist ein Name und eine Waffe.“ (Herrera 2013a: 63 [Aus dem Roman „Abgesang des Königs“ von Yuri Herrera])

Im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Milieuerfahrung prekärer Ordnung wird die popkulturelle Kommunikation über La Santa Muerte am Beispiel einer künstlerischen Auseinandersetzung mit La Santa Muerte in einem Corrido untersucht. Corridos sind sowohl in Mexiko wie auch in den USA gegenwärtig ein populäres Genre und eine Form der Narration und Informationsverbreitung. Sie bilden einen reichen Fundus, um sich verschiedenen (populär-)kulturellen Themen,16 wie z.B. den vielgestaltigen historischen und gegenwärtigen mexikanischen „vitalen Toten“ zu nähern: „Der Tod durchbrach die klösterlichen Mauern und schwang sich aufs Pferd, er verließ die Kanzel der Prediger und wurde zu einer vertrauten Gestalt in Liedtexten und Corridos, die auf Märkten und in Kneipen von Mund zu Mund gingen.“ (Navarrete 1993: 21) Corridos wurden zur Zeit der mexikanischen Unabhängigkeit (1810–1921) populär und erlebten eine zweite Phase erhöhter Popularität zur Zeit der mexikanischen Revolution um 1910 (Wald 2001: 3, siehe zur Geschichte des Corridos auch Holmes McDowell 2015: 2ff.). Eine neuere Unterart der Corridos sind die sogenannten Narcocorridos, insbesondere aus dem mexikanischen Staat Sinaloa, welche Geschichten aus der Welt des Drogenhandels erzählen und deren Protagonist*innen17 sich meist jenseits der staatlichen Ordnung bewegen und mit illegalen Geschäften zu großem Reichtum oder zu Tode kommen (vgl. Orozco Martínez/Zapata Galindo 16 Corridos wurden als Daten beispielsweise auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die kollektive Erinnerung und Verarbeitung von Migrationserfahrungen (Mexiko-USA) herangezogen (beispielsweise Chew Sánchez 2006). 17 Es kommen auch Protagonistinnen in den Corridos vor. Weitaus häufiger sind jedoch Männer in den Hauptrollen. Ältere Corridos, die nicht dem neueren Genre der Narcocorridos zuzuordnen sind, wurden von María Herrera-Sobek (1990) aus feministischer Perspektive oder von Felipe Mora (2012) mit einer Sensibilität für die Bedeutung von Geschlecht untersucht.

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2018, Muehlmann 2014: 25, Andrade 2013). Corridos und auch das Genre der Narcocorridos werden in Mexiko und in den USA produziert und konsumiert. Beispielsweise Interviewpartner Carlos, so zeigt es das folgende Protokoll aus dem Feldforschungstagebuch, ist ein begeisterter Hörer von Narcocorridos: „Wir sind in einer cantina und haben gerade das zweite Bier bestellt, als ich Carlos frage, was für Musik er denn möge. ‚Corridos‘ sagt er. Wir stehen auf und gehen zur Jukebox, wo Carlos einige Lieder aussuchen will. Er erklärt, um wen und was es in den jeweiligen Stücken gehen wird. Zurück am Tisch singt er mit und deutet an, ein ‚cuerno de chivo‘, Ziegenhorn, der Ausdruck steht für Maschinengewähr, zu halten; die Waffe, die im Corrido besungen wird.“

Aufgrund ihres Inhaltes und des (diskursiven wie personellen) Bezugs zur Welt des Drogenschmuggels wurden Narcocorridos teilweise aus der Öffentlichkeit verbannt.18 Als „poor people’s music“ (Muehlmann 2014: 100) sind sie auch ein Stigma. Es wird teilweise angenommen, „the music is reaching exactly the people who would most likely be drawn into the drug business“ (ebd.). Es gibt eine Vielzahl von Corridos, in denen La Santa Muerte besungen wird.19 Diese Corridos lassen sich teilweise, aber nicht ausschließlich, dem Genre der Narcocorridos zuordnen. Ein ausgewählter und exemplarischer CorridoLiedtext wird als künstlerische Ausdrucksgestalt und eine Form der Verbreitung von Wissen über die Verehrung La Santa Muertes im Zuge der Rekonstruktion der Milieuerfahrung prekärer Ordnung einer Sequenzanalyse unterzogen. Der ausgewählte corrido trägt den Titel „La Santa Muerte en Sinaloa“ (La Santa Muerte in Sinaloa), wird von der Gruppe „Los Bukanas de Culiacan“ interpretiert und kann dem Genre der Narcocorridos zugeordnet werden. Der Text des Corridos „La Santa Muerte en Sinaloa“ wird als eine kulturelle Ausdrucksgestalt und als ein Kunstwerk sequenzanalytisch ausgewertet. Oever18 In Chihuahua durften keine öffentlichen Konzerte von Interpreten von Narcocorridos stattfinden (http://internacional.elpais.com/internacional/2015/03/13/actualidad/14262 68736_463716.html [Abrufdatum 23.01.2019]) und andernorts wurden Narcocorridos aus dem Radio verbannt (http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/3552370.stm [Abrufdatum 23.01.2019]). 19 2016 fanden sich während Internetrecherchen über 40 Corridos auf der Plattform YouTube, die La Santa Muerte thematisierten. Bei einer weiteren, weniger umfassenden Recherche 2019, fanden sich 60 Corridos mit Bezug zur Verehrung La Santa Muertes. Diese hatten auf YouTube.com zum Teil mehr als eine Millionen Aufrufe, sodass sich vermuten lässt, dass sich Corridos über La Santa Muerte gegenwärtig wachsender Popularität erfreuten.

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mann und Zizek folgend, bilden (natürliche) Protokolle und Kunstwerke als Daten der Sozialwissenschaften „die beiden Extreme einer Polarität des Editierungsgrades“ (Zizek 2012: 29, vgl. Oevermann 1997: 328). Im Gegensatz zum Protokoll ist das Kunstwerk „eine methodisch besonders streng vorgenommene, also verdichtete Gestaltung von etwas“ (ebd.: 330, vgl. Zizek 2012: 29). Der Text des Corridos ist als eine Dichtung, eine künstlerisch verdichtete Ausdrucksgestalt. „Was im Kunstwerk verdichtet zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht direkt, wie in den Erfahrungswissenschaften, die zu analysierende Realität selbst, sondern die Imagination, zu der die Konfrontation mit dieser Realität […] Anlaß gegeben hat.“ (Oevermann 1997: 330) Kunstwerke zeichnen sich aus Perspektive der Objektiven Hermeneutik dadurch aus, dass sie „nicht mehr so sehr die Beschreibung einer wirklichen Realität als die Gestaltung einer fiktionalen Realität“ (ebd.: 333) sind. Entsprechend kommt es bei einer objektiv-hermeneutischen Analyse eines künstlerischen und gedichteten Corrido-Textes darauf an, die „spezifisch künstlerische Erkenntnisleistung“ (ebd.) herauszustellen. Da es sich um eine auch sprachlich verfasste Ausdrucksgestalt handelt, kann der als Transkript vorliegende Text des Corridos mit der Methode der Sequenzanalyse ausgewertet werden. Die musikalisch-performative Dimension, die sich etwa anhand einer Notation der Musik untersuchen ließe, wird bei der Analyse des Corridos in dieser Arbeit zugunsten einer Fokussierung auf den Text des Corridos vernachlässigt. Dies ist zu rechtfertigen, weil eine tiefergehende und musikethnologische Untersuchung das spezifische Erkenntnisinteresse an der Verehrung La Santa Muertes (an dieser Stelle) übersteigen würde.20 Fotografien als Protokolle Drei Fotografien von Altarräumen werden als Protokolle von Bühnen und Bühnenbildern der Verehrung La Santa Muertes untersucht. Die Fotografien wurden von der Forscherin erhoben. Sie zeigen jeweils Ausschnitte aus drei Altarräumen in Los Angeles, nahe Tijuana und in Guadalajara. Als ausschnitthafte bildliche Protokolle der wirklichen Räume ermöglichen sie es ebenso wie als Transkripte vorliegende Interviewprotokolle sozialwissenschaftlich, im Zugriff durch die Methode, Aussagen über die protokollierte Wirklichkeit zu treffen. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was die Fotografien protokollieren. Einerseits protokol20 Eine umfassendere, z.B. auch mehrere Musikstücke kontrastierende Untersuchung von Corridos mit Bezug zu La Santa Muerte (und z.B. auch von Liedern des Genres Hip-Hop über La Santa Muerte, die ebenfalls in beträchtlicher Zahl vorliegen), könnte interessante Erkenntnisse über (populär-)kulturelle Erzeugungen und Repräsentanzen dieses religiösen Phänomens und seiner (transnationalen) sozialen Welt liefern und wäre daher ein interessantes zukünftiges Projekt.

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lieren sie die Erhebungs- und Forschungspraxis, aber auch die Selektion – mit der Wahl eines Ausschnittes – der Forscherin.21 Andererseits – und das ist hier zentral – protokollieren die Fotografien das, was auf ihnen zu sehen ist. Diese Indexikalität22 zeichnet die unbearbeitete Fotografie im Vergleich zum gemalten Bild aus. Es ist ihr verweisender Charakter, der die Fotografien beispielsweise für die Beweissicherung im Zuge polizeilicher Ermittlungsarbeit geeignet macht. Hier sollen die Fotografien nicht der Evidenzsicherung dienen, sondern, vergleichbar mit anderen Protokollen wie den Interviewtranskripten, ein Analysegegenstand sein. Auch wenn Fotografien im alltäglichen Gebrauch eine Beweisfunktion im Sinne eines „so ist es gewesen“ zukommen kann, sind sie doch nur Ausschnitte der Wirklichkeit. Sie sind Bilder mit Bildrändern. Bei den drei vorliegenden Fotografien hat die Forscherin den Ausschnitt im Rahmen teilnehmender Beobachtung gewählt. Die Fotografien protokollieren in diesem Sinne den Blick der Forscherin während ihrer Bestrebungen, sich die Welt der Anhänger*innen La Santa Muertes zu eigen zu machen. Insofern sind die Fotografien alle aus einer Perspektive, wie sie – wahrscheinlich – auch die Gläubigen auf die Altarräume einnehmen, aufgenommen. Die Fotografie des Altarraumes in Los Angeles protokolliert den Blick in den Altarraum beim Betreten. Die Fotografie des Altarraumes nahe Tijuana protokolliert den Blick der gewöhnlichen Gläubigen La Santa Muertes auf den Altar vor Beginn einer Messe. Die Fotografie des Altarraumes in Guadalajara protokolliert den Blick auf den Altar, wie er sich für alle Besucher*innen beim Vorgehen zum Hauptaltar ergibt. Insofern vollzieht die Wahl der Bildausschnitte annäherungsweise Bewegungen im Raum nach und mit ihnen einhergehende Blickrichtungen aller Besucher*innen der Altarräume. Fotografien als Protokolle können bezüglich ihrer Ausdrucksmaterialität kategorial von Interviewtranskripten unterschieden werden. Anders als textförmige Protokolle zeigen Fotografien. Eine Fotografie ist, was ihre Ausdrucksmaterialität betrifft, eine symbolische Form. Breckner bezieht sich zur Fundierung der Segmentanalyse in dieser Hinsicht und im Unterschied zur Objektiven Herme-

21 Die Forscherin hat sich in dem Moment der Aufnahme dazu entschlossen, den Auslöser der Kamera zu drücken und damit einen von ihr bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit in der Fotografie festgehalten. In Hinblick auf diese Protokollierung ließe sich anhand der Fotografie beispielsweise der Blick der Forscherin auf die Verehrung La Santa Muertes untersuchen. 22 Charles Sanders Peirce identifiziert die Fotografie in seiner Zeichentheorie als Index, „weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zueins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt“ (Peirce 1983: 65).

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neutik,23 die an dieser Stelle auf eine zu allererst durch Sprache konstituierte Bedeutungsfunktion besteht und keine weiteren Symbolisierungsformen beachtet, auch auf eine Unterscheidung zwischen diskursiven und präsentativen Formen der Symbolisierung der Philosophin Susanne Langers (1965). Bilder als präsentative Formen der Symbolisierung sind dadurch charakterisiert, „dass ihre Elemente ebenso wie ihr Gestaltzusammenhang aus der simultanen Präsenz aller bedeutungstragenden Elemente in ihrer Gestaltbeziehung zueinander hervortreten und eine Bedeutungsstruktur auch ganz plötzlich und schlagartig innerhalb kurzer Momente entstehen lassen“ (Breckner 2012: 150).

Diskursive Formen der Symbolisierung sind hingegen „durch eine regelgeleitete sukzessive Anordnung von (lexikalischen oder mathematisch) definierten Elementen (Wort, Satzzeichen, Koordinaten, bildlichen Mengenangaben z.B. in Diagrammen) charakterisiert, welche prädikative Aussagen ermöglichen“ (ebd.). Sprache, die einer Grammatik folgt und eine Syntax hat, verfügt regelmäßig über mehr Formen diskursiver Symbolisierung, als das bei Bildern der Fall ist, die sich durch ein Vorherrschen präsentativer Formen der Symbolisierung auszeichnen. Für diese präsentativen Symbolisierungen gibt es, entgegen den diskursiven, kein „Wörterbuch“ mit Strichen, Linien und Punkten (vgl. Langer 1965: 68f., 88). Mit dem Bezug zu den präsentativen und diskursiven Symbolisierungen nach Langer ist eine Grundlage entworfen, auf der die spezifische Ausdrucksmaterialität visueller Protokolle einbezogen und „textbezogene methodologische Prinzipien, insbesondere jenes der Sequentialität der Bedeutungskonstitution, modifiziert werden können“ (Breckner 2010: 273).24 Breckner argumentiert folgendermaßen: 23 Wie bereits erläutert, sind objektiv-hermeneutische Bildanalysen nicht so systematisch ausgearbeitet wie die Segmentanalyse Breckners. Ein Überblick über objektivhermeneutische Bildanalyse findet sich bei Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 335f.). Als exemplarische Bildanalysen sind beispielsweise Oevermann 2014 und Oevermann 2009 zu nennen. Bezüge zur Ikonik, die auch Breckners Arbeit umfasst, finden sich mit dem Konzept der „ikonischen Pfade“ in den Überlegungen zu objektivhermeneutischen Bildanalysen von Thomas Loer (2016: 349, 1996). 24 Besonders auch in Abgrenzung zur Zeichentheorie Peirces sieht Breckner den Rückgriff auf die Terminologie Langers als geeignet an, um der Ausdrucksmaterialität von Bildern gerecht zu werden. Breckner bezieht sich vor allem deshalb auf die Symboltheorie Langers, weil diese eine Unterscheidung von Bild und Text nicht primär an das Medium knüpft, sondern an die verschiedenen Formen der Symbolisierung (vgl. Breckner 2012: 150, Breckner 2010: 47f.). Peirce unterscheidet zwischen Index, Ikon

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„[F]ür die Entstehung der Bildgestalt ist nicht eine regelhafte sequentielle Anordnung der Elemente wie etwa in Handlungen generell und insbesondere in Sprechakten entscheidend. Vielmehr bildet sich der Gestaltzusammenhang über die simultane Präsenz von Elementen und ihren Verbindungen, die nur in Bezug auf die sichtbare Gesamtgestalt zu bestimmen sind. Gleichzeitig wird im Prozess der Wahrnehmung die Gestalt sukzessive in ihren Relationen zwischen Elementen in Bezug auf das Bildganze gefasst.“ (Ebd.: 273)

Hier soll nun argumentiert werden, dass diese gleichzeitige simultane wie sukzessive visuelle Wahrnehmung beim Betrachten der Bilder – und gemeint ist hier wirklich nur die visuelle Wahrnehmung – auch bei der Betrachtung von Räumen gegeben ist. Zwar spielen für die Orientierung im und die Bewegung durch einen Raum auch Bewegungen und die periphere Wahrnehmung eine wichtige Rolle, jedoch erschließen Besucher*innen von Räumen diese und insbesondere ihre Einrichtung, wenn sie ihren Blick durch den Raum schweifen lassen ebenso wie Bilder, die sie betrachten, sukzessive und in ihrer Totalität. Insofern kann ein Foto ein Protokoll – wenn auch ein zweidimensionales und ausschnitthaftes – der wirklichen Räume abgeben. Für die sozialwissenschaftliche Interpretation der sichtbaren, materialen und räumlichen Wirklichkeit gilt dann wie für die Protokolle in Form von Fotografien, dass sie nach Langer präsentative Formen der Symbolisierung enthalten. Aus dieser Sicht ist die Fotografie ein geeignetes Protokoll für die Analyse der abgebildeten Wirklichkeit. Natürlich kann die Fotografie nicht die körperliche Erfahrung einer Anwesenheit im wirklichen Raum und Symbol. Durch seinen Erzeugungsprozess ist eine Fotografie nach Peirce ein Index. Ihm nach liefert die Fotografie darüber hinaus auch „ein Ikon des Objekts, indem genau die Relation der Teile es zu einem Bild des Objekts macht“ (Peirce 1983: 65). Nach Breckner hätte man es in der „Terminologie von Langer […] hier bereits mit einem Symbol zu tun, weil sich dies im Wesentlichen auf die Vorstellung von einem Objekt und nicht auf die materielle Existenz eines Objektes bezieht. Symbole sind bei Peirce dagegen durch konventionalisierte Regeln und Systeme erzeugte sprachliche Zeichen.“ (Breckner 2010: 243) Nach Peirce hingegen ist ein Symbol „ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit ausschließlich in der Tatsache besteht, daß es so interpretiert werden wird“ (Peirce 1983: 65). Zur Definition des Ikons hebt Peirce besonders hervor, dass Ikons auch in Bezug auf mentale Objekte eine Bedeutungsfunktion annehmen. „Ein reines Ikon kann nur in der Phantasie existieren, wenn es streng genommen überhaupt je existiert.“ (Ebd.: 64) Mit Bezug zur Arbeit Philippe Dubois, der eher die Unterscheidungen zur Logik der Zeichen nach Peirce fruchtbar macht, schließt Breckner Folgendes: „In diesem Verständnis kann eine Fotografie als Index, als Ikon und als diskursiv codifiziertes Symbol fungieren (Dubois 1998: 65f. [zit. nach Breckner 2010: 243]).“ (Ebd.)

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abbilden, sondern eben nur visuell das, was zu sehen ist: Vorhandene Gegenstände, ihre Anordnungen und die szenische Choreografie. Genau auf dieser Ebene liegt das Erkenntnisinteresse hier. Untersucht werden sollen die Bühnen und Bühnenbilder der Verehrung La Santa Muertes als Rahmen, Ergebnisse, Voraussetzungen und Einbettungen religiöser Praxis mit La Santa Muerte. Diesem Erkenntnisinteresse sind Fotografien als den Analysen zugrundeliegende Protokolle der Altarräume angemessen.25

SEQUENZANALYTISCHE INTERPRETATION DER TEXTFÖRMIGEN PROTOKOLLE Die Welt, die von den Sozialwissenschaften untersucht wird, ist grundsätzlich eine sinnstrukturierte.26 Der Sinn-Begriff, den die Objektive Hermeneutik zugrunde legt, ist ein deskriptiv-analytischer (Oevermann 2013: 71) und in Anlehnung an die Sprechakttheorie nach John Searle (1965, 1969) auch ein „objektiver“ Sinn-Begriff (Oevermann 2013: 71), denn Sinn ist nach Oevermann „durch angebbare Regeln erzeugt worden […], die entsprechend der Sprechakttheorie von Searle als Konstitutive Regeln zu verstehen sind“ (ebd.). „Konstitutive Regeln erzeugen […] permanent Neues“ (ebd.: 72) und sie gelten objektiv, da man „einer Regel nicht privat folgen kann“ (ebd.). Diese Objektivität des deskriptivanalytischen Sinn-Begriffs verdeutlicht Oevermann am Beispiel der Unterscheidung von Sagen und Meinen. In dieser Unterscheidung ist „Meinen ein Modus der subjektiven Aneignung von erfahrbarer Welt und insofern der Objektivität entzogen […]. Umgekehrt kann man etwas „sagen“ nur objektiv und nicht subjektiv.“ (Ebd.) Daraus erwächst für die Objektive Hermeneutik der Anspruch, sich maßgeblich an der Objektivität des Sagens auszurichten:

25 Interessant und weiterführend sind in Hinblick auf die fotografiebasierte Untersuchung religiöser Räume als sozialräumliche Arrangements und hinsichtlich ihrer Atmosphären auch die Überlegungen Martin Radermachers (vgl. Radermacher 2020: 120ff.). Dabei schließt dieser stärker an das Konzept der Sequentialität der Objektiven Hermeneutik an. 26 In Abgrenzung zu dem stochastischen Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften (vgl. Oevermann 2013: 71) schreibt Oevermann: „Der Unterschied zu den Naturwissenschaften besteht einzig darin, daß nicht prinzipiell durch die Sinneskanäle wahrnehmbare, der stochastisch verfaßten Welt zugehörige Ereignisse, sondern sinnstrukturierte, prinzipiell sinnlich nicht wahrnehmbare, also abstrakte Gegenstände, nämlich Bedeutungs- oder Sinnwelten, untersucht werden.“ (Oevermann 2002: 6)

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„Wenn man erfahrungswissenschaftlich das Meinen bzw. die Phänomene der Subjektivität überhaupt methodenkritisch untersuchen will, und eben auf entscheidende Weise über die Praxis des bloßen Meinens hinausgelangen will, dann muss man sich an die Objektivität des Sagens oder Sich-Ausdrückens halten, worin das Meinen sich zur Geltung gebracht hat oder bringen kann. Alles andere bleibt methodisch von vornherein verschlossen. Das heißt aber auch, dass wir methodologisch immer mit der Entzifferung und d.h. der Rekonstruktion des objektiven Sinns beginnen müssen.“ (Ebd.)

Wenn Menschen handeln und Entscheidungen treffen, sind diese im Verständnis der Objektiven Hermeneutik sinnstrukturiert, da „die Handlungsoptionen einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln formuliert sind“ (Wernet 2009: 15). Diese Regeln sind, wie dargelegt, von objektiver Geltung, über die nicht erst das handelnde Subjekt entscheidet. Das Subjekt kann sich jedoch für eine konkrete Realisierung von bestimmten, durch die Regeln eröffneten Handlungsoptionen entscheiden. Dieses Moment, in dem neue Möglichkeiten objektiv gegeben bzw. eröffnet sind, wird in der Objektiven Hermeneutik analytisch eine „Sequenzstelle“ genannt. Diese zeichnet sich nicht nur durch die Eröffnung neuer Möglichkeiten aus, sondern ebenso dadurch, dass sie an eine vorangegangene Sequenz anschließt, die sie gleichzeitig beschließt. „Jede Sequenzstelle ist gewissermaßen doppelt markiert: sie beschließt einerseits vorausgehende regelgenerierte Eröffnungen von Möglichkeiten und eröffnet andererseits für die Zukunft neue Anschlussmöglichkeiten. Deshalb handelt es sich hier, bei den sogenannten konstitutiven Regeln im Sinne von Searles Sprechakttheorie, auf eine nur scheinbar paradoxe Weise um Algorithmen, die sowohl restringieren und festlegen, insofern also „etwas erzwingen“, als auch ermöglichen und damit Neues schaffen.“ (Oevermann 2013: 90)

Eine Sequenz ist eine „durch bedeutungserzeugende Regeln konstituierte sinnlogische Folge“ (ebd.: 75). Sowohl der Ablauf von protokollierter Wirklichkeit wie auch deren Protokolle sind in diesem Sinne sequentiell (vgl. ebd.). Zugang zu diesen sinnlogischen Folgen haben Forscher*innen bzw. allgemein jeder Mensch durch die Kompetenz, selbst mit bedeutungserzeugenden Regeln zu operieren. Die Objektive Hermeneutik sieht „den tatsächlichen Ablauf als eine Sequenz von Selektionen […], die jeweils an jeder Sequenzstelle, d.h. einer Stelle des Anschließens weiterer Einzelakte- oder äußerungen unter nach gültigen Regeln möglichen sinnvollen Anschlüssen getroffen worden sind. Die Kette

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solcher Selektionsknoten ergibt die konkrete Struktur des Gebildes“ (Oevermann 1991: 270).

Aus dem objektiv-hermeneutischen Verständnis von Sequentialität ergibt sich daher die Methode der Sequenzanalyse, die die Kette der Selektionsknoten untersucht und auf diese Weise die Struktur des Gebildes herausarbeitet.27 „Die Sequenzanalyse geht von der elementaren Feststellung aus, daß alle Erscheinungsformen von humaner Praxis durch Sequenziertheit strukturiert bzw. konstituiert sind. Darunter wird hier nicht die triviale Form von Temporalisierung im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders verstanden, sondern der nicht-triviale Umstand, daß jegliches Handeln und seine kulturellen Objektivierungen qua Regelerzeugtheit soziales Handeln sind. […] Regelerzeugung bedeutet in sich Sequenzierung. Jedes scheinbare Einzel-Handeln ist sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden und eröffnet seinerseits einen Spielraum für wohlgeformte, regelmäßige Anschlüsse. An jeder Sequenzstelle eines Handlungsverlaufs wird also einerseits aus den Anschlußmöglichkeiten, die regelmäßig durch die vorausgehenden Sequenzstellen eröffnet wurden, eine schließende Auswahl getroffen und andererseits ein Spielraum zukünftiger Anschlussmöglichkeiten eröffnet.“ (Oevermann 2000b: 64)

Die Sequenzanalyse operiert mit zwei Parametern, um den sequentiellen Ablauf von Wirklichkeit in seiner Struktur zu rekonstruieren: Mit einem „Parameter I von bedeutungserzeugenden Regeln, die an jeder Sequenzstelle Anschlussmöglichkeiten für die Zukunft eröffnen oder noch aus der Vergangenheit herrührende und eröffnete erschließen“ (Oevermann 2013: 75)28 und einen Parameter II, der 27 „Die objektive Hermeneutik ist nicht eine Methode des Verstehens im Sinne eines Nachvollzugs subjektiver Dispositionen oder der Übernahme von subjektiven Perspektiven des Untersuchungsgegenstandes, erst recht nicht eine Methode des SichEinfühlens, sondern eine strikt analytische, in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen.“ (Oevermann 2002: 6) 28 Die bedeutungserzeugenden Regeln des Parameter I der Sequenzanalyse korrespondieren in der Terminologie Goffmans mit den Rahmen (vgl. Maiwald 2013: 189). In verschiedenen Kontexten können verschiedene Regeln in Anspruch genommen werden: „Regeln abnehmender Reichweite und Allgemeinheit, „bis hin zu Regeln mit geringer Reichweite (z.B. milieuspezifische Normen) und von u.U. sehr kurzer Lebensdauer (sie „sterben“ mit dem Milieu aus)“ (Wernet 2009: 14). Andreas Wernet folgert, dass sich „[i]n dem Maße, in dem die Allgemeinheit und Reichweite der in Anspruch genommenen Regeln abnimmt, [das Problem stellen kann,] dass wir über diese Regeln

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alle Dispositionen umfasst, „die die beteiligten Akteure oder Lebenspraxen motivieren, unter den eröffneten Möglichkeiten in der Logik von ‚points of no return‘ bestimmte auszuschließen und andere als Wirklichkeit zu vollziehen“ (ebd.). In Oevermanns Worten bedeutet Sequenzanalyse zugleich, „[a]n jeder Sequenzstelle beide Ebenen gleichzeitig abzudecken: die der eröffneten Möglichkeiten und auf dieser Folie die Abbildung der tatsächlich vollzogenen, eben nicht vom Kontext her paraphrastisch zu bestimmenden Wirklichkeit. Erst dadurch wird aus der Auswertung von Protokollen eine Erschließung jenseits bloßer Beschreibung.“ (Ebd.)

Da Sequenzstellen beschließen und eröffnen, müssen im Zuge von Sequenzanalysen zum einen „die durch Erzeugungsregeln generierten eröffneten Möglichkeiten des Anschließens an das Vorausgehende expliziert werden“ (ebd.: 90) und zum anderen die „zu einer Beschließung führenden, Wirklichkeit herstellenden Vollzüge der Praxis, die sich als Auswahlen aus den Möglichkeiten darstellen lassen“ (ebd.), angegeben werden. Die „Fallstruktur“ ist das Ergebnis von Sequenzanalysen. Die Fallstruktur ist die Struktur nach der, oder das Selektionsmuster, nach dem, einzelne Sequenzen aufeinanderfolgen. Sie ist eine „Art Identitätsformel der jeweiligen Lebenspraxis“ und „Ergebnis ihres bisherigen Bildungsprozesses“ (ebd.: 75). Praktisch bedeutet das für das Vorgehen bei der Sequenzanalyse, dass eine hinreichende Anzahl von Sequenzen im Sinne der beiden Parameter untersucht werden muss, bis sich ein wiedererkennbares Muster, die Fallstruktur, ergibt. An jeder Sequenzstelle ist dabei eine Transformation möglich. D.h., dass „eine folgenreiche Veränderung eingeschliffener Fallstrukturen“ (ebd.: 76) eintreten kann.29 nicht hinreichend und gesichert verfügen“ (ebd.). Für Wernet folgt daraus in erster Linie, dass eine Überprüfung der als geltend in Anspruch genommenen Regeln erfolgen muss (vgl. ebd.). 29 Hier wird der Krisen-Begriff der Objektiven Hermeneutik bedeutsam, der diese Transformation, diese Schaffung des Neuen, betrifft. Eine Krise als Gegenbegriff zur Routine wird in demjenigen Moment gelöst, in dem neue Anschlüsse, die nicht bereits Routinen sind, in einer Sequenz hervorgebracht werden. Mit dem Begriff der Krise ist in der Objektiven Hermeneutik die Offenheit und Unbestimmtheit in der Eröffnung durch eine Sequenz bezeichnet. Krisenpotenzial hat eine jede Sequenzstelle insofern, als eine Transformation möglich ist. In der Regel sind es aus Sicht der Praxis im Normalfall jedoch Routinen, anhand derer die Sequenzen aufeinanderfolgen. „In der weit überwiegenden Zahl von Sequenzstellen ist die Entscheidungskrise schon immer durch Routinen gelöst, die aus Krisen als deren Lösung hervorgegangen sind.“ (Oevermann 2004: 160) Für Sequenzanalysen jedoch, muss nach derselben Logik die

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Die Sequenzanalysen insbesondere der Interviewtranskripte haben in dieser Arbeit wie bereits erläutert die Rekonstruktion von spezifischen Milieuerfahrungen, die den Hintergrund der Verehrung La Santa Muertes ausmachen, zum Ziel. Die Ergebnisdarstellung erfolgen somit weniger auf eine umfassende Fallrekonstruktion der Fälle der jeweiligen Interviewten gerichtet, sondern bildet die Rekonstruktion typischer und konjunktiver Milieuerfahrungen ab. Ein Verallgemeinerbarkeitsanspruch der Analyseergebnisse von Sequenzanalysen ergibt sich aus den konstitutionstheoretischen Prämissen der Objektiven Hermeneutik. „Der analysierte Fall ist immer schon allgemein und besonders zugleich. Denn in jedem Protokoll sozialer Wirklichkeit ist das Allgemeine ebenso mitprotokolliert wie das Besondere im Sinne der Besonderheit des Falls.“ (Wernet 2009: 19) Zusammenfassend und abschließend kann mit dem objektivhermeneutischen Zugriff auf Protokolle eine Fallstruktur herausgearbeitet werden, der eine Allgemeinheit zukommt und die hinsichtlich der zugrundeliegenden Handlungsprobleme typisch ist. „[S]elbst der Selektivität [angesichts der Wahl aus regelmäßig eröffneten Möglichkeiten an Sequenzstellen] der konkreten Lebenspraxis, die ihre Besonderheit kennzeichnet, kommt Allgemeinheit zu, weil diese eine den ‚Anspruch auf allgemeine Geltung und Begründbarkeit erhebende praktische Antwort auf praktische Problemstellungen‘ (Oevermann 1991, 272 [zitiert nach Wernet 2009: 19]) darstellt und insofern eine typische Selektivität darstellt. Nicht nur typisch für den konkreten Fall selbst, sondern typisch in Hinsicht auf das Handlungsproblem bzw. die Handlungskonstellation.“ (Ebd.)

Wie beschrieben, liegen alle textförmigen Protokolle bis auf zwei Interviewtranskripte in spanischer Sprache vor. Für Sequenzanalysen ist die Sprachkenntnis derer, die sie durchführen, eine elementare Voraussetzung. Als problematisch kann es sich erweisen, wenn diejenigen, die Sequenzanalysen durchführen, mit der Sprache, in der die Protokolle verfasst sind, nicht vollkommen vertraut sind und die genaue Bedeutung von Worten und Redewendungen nicht in ihrer Gänze erfassen können. In einem solchen Fall ist es wichtig, Muttersprachler*innen zu Rate zu ziehen. In diesem Sinne wurden die Sequenzanalysen teilweise in Analysegruppen, teilweise auch anhand von Übersetzungen der Protokolle ins DeutKrise der Normallfall sein, da an jedem Übergang, mit jeder Sequenzstelle, die Möglichkeit zur Transformation gegeben ist. „Deshalb weist uns die Sequenzanalyse darauf hin, daß nicht, wie in der Perspektive der Lebenspraxis selbst, die Routine den Normalfall bildet, sondern die Krise, und die Routine, die immer aus der Bewährung einer Krisenlösung hervorgegangen ist, aus der Krisenkonstellation sich ableitet, während umgekehrt die Krise sich nicht aus der Routine ableitet.“ (Oevermann 2016: 67)

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sche, aber immer am spanischsprachigen bzw. englischsprachigen Original und, wenn nötig, im Dialog mit Muttersprachler*innen durchgeführt.

SEGMENTANALYTISCHE INTERPRETATION DER FOTOGRAFISCHEN PROTOKOLLE Die Segmentanalyse nach Breckner ist eine Methode der sozialwissenschaftlichen Bildanalyse. Sie versucht zu ergründen, „in welcher Weise in der Vielfalt von fixierten und bewegten Bildern soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur bildlich repräsentiert, sondern auch im Sehen und in Prozessen der Sichtbarmachung erzeugt werden“ (Breckner 2010: 9). Sie fragt: „Wie wird etwas im und durch das Bild für wen in welchen medialen und pragmatischen Kontexten sichtbar?“ (ebd.: 293) Mit dieser Zielsetzung und Fragerichtung gilt das Erkenntnisinteresse Breckners dem Bild als primärem Untersuchungsgegenstand. Die Fotografien der Altarräume der Verehrung La Santa Muertes werden hier im Gegensatz dazu primär als Protokolle aufgefasst. Das Erkenntnisinteresse richtet sich also nicht auf die sozialen Gebrauchsweisen und Wirkungen der jeweiligen Fotografien, sondern, wie dargelegt, vor allem auf das, was die Fotografie als Protokoll abbildet.30 Auch für diese Untersuchungseinstellung ist die Segmentanalyse grundsätzlich ein geeignetes Verfahren. Einige Relevanzsetzungen Breckners müssen jedoch für die Analyse von Fotografien von Altarräumen der Verehrung La Santa Muertes verlagert werden. Gegenüber objektiv-hermeneutischen Ansätzen zur Analyse visueller Protokolle hat der Entwurf der Segmentanalyse Breckners den Vorteil, an der visuellen Form, am Bild, ausgearbeitet zu sein. Er trägt der spezifischen Ausdrucksmaterialität bildlicher Protokolle, ihrer visuellen Form, integral Rechnung. Die Segmentanalyse sieht für die Analyse einzelner Bilder eine Reihe von Analyseschritten vor (vgl. Breckner 2010: 287ff.), die hier, entsprechend dem verfolgten Erkenntnisinteresse, abgewandelt, erweitert, verknappt oder ganz weggelassen werden. Der erste Arbeitsschritt bei der interpretativen Analyse von Bildern nach Breckner besteht in einer ersten unvermittelten Auseinandersetzung mit dem Bild. Es geht um die Dokumentation des Wahrnehmungsprozesses, eine erste Bestimmung von Segmenten, das Festhalten erster Eindrücke und die Er-

30 Zukünftige Forschung könnte sich stärker im Sinne Breckners mit Santa Muerte- und Selbstdarstellungen der Gläubigen auseinandersetzen. Ein geeigneter Untersuchungsgegenstand wären hier beispielsweise Repräsentationen und (Darstellungs)Praktiken der Gläubigen in sozialen Medien.

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fassung der formalen Bildgestalt (vgl. ebd.). Man dokumentiert das erste Betrachten eines Bildes, den Wahrnehmungsprozess, indem Kreise, Linien und Nummern in das Bild eingezeichnet werden. Dann werden erste Eindrücke notiert sowie der Wahrnehmungsprozess diskutiert.31 Bezogen auf die Formulierung der ersten Eindrücke und bei der sprachlichen Erfassung der Segmente stellt sich die Frage, wie präsentative Inhalte und Wirkungen von Bildern in Sprache übersetzt werden können. Nach Breckner eigenen sich Beschreibungen, die spontane Eindrücke und Wirkungen eines Bildes thematisieren, um präsentative Gehalte hervorzuheben (vgl. Breckner 2012: 151). Bei Segmentanalysen können solche Beschreibungen vermitteln „zwischen präsentativ wirksamen Bildwahrnehmungen und einer diskursiv angelegten Bildinterpretation, auch wenn der Hiatus zwischen präsentativ wahrnehmender und diskursiver Bezugnahme auf ein Bild letztlich nicht gänzlich zu überwinden ist“ (ebd.). Aus der Überführung der präsentativen Symbolisierungen in diskursive folgt eine Freiheit in der sprachlichen Gestaltung der Beschreibung der Fotografien der Altarräume: Assoziationen, Sprichwörter oder Ähnliches tragen zum Gelingen der Beschreibung der Fotografien bei. Die Beschreibungen müssen dabei eng an der symbolischen Spezifik der Fotografie bleiben. Wenn eine Bildbeschreibung so verfährt, ist verhindert, dass jene Sinnzusammenhänge „unter diskursiv erzeugte Aussagen subsumiert oder gar nur als Illustration gebraucht werden“ (Breckner 2010: 271). Auch wenn die Fotografien der Altarräume nicht als Bilder im Sinne Breckners, sondern als Protokolle aufgefasst werden, ist es sinnvoll diesen ersten Analyseschritt durchzuführen. Die Dokumentation des Wahrnehmungsprozesse der protokollieren Wirklichkeit kann anhand der Fotografie und unter Hinzunahme von Kontextwissen der Forscherin über mögliche Wege durch den abgebildeten Altarraumes sinnvoll vorgenommen werden.32 Das Erfassen der forma31 Nach Breckner sollte dieser Arbeitsschritt möglichst in Gruppen durchgeführt werden. So könne darüber diskutiert werden, welche Segmente ausgemacht wurden und in welcher Reihenfolge verschiedene Bildbereiche nacheinander betrachtet wurden (vgl. Breckner 2010: 288). Diese Wahrnehmungserfahrungen können dann auch vor dem Hintergrund einer ersten Bestimmung der formalen Bildgestalt am Bild diskutiert werden. 32 Bei der Segmentierung der hier vorliegenden und als Protokolle aufgefassten Fotografien wurde Wissen um den abgebildeten Raum einbezogen. Auf diese Weise können eine „szenische Choreografie“ und auch Wissen um mögliche Bewegungen von Menschen in dem abgebildeten Raum zur Analyse hinzugezogen werden. Mit szenischer Choreografie ist „eine Konstellation von Personen [aber auch von Tieren oder Gegenständen], die als in bestimmter Weise Handelnde oder sich Verhaltende aufeinander bezogen sind“ (Breckner 2010: 282), gemeint. Das Wissen der Forscherin um mögli-

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len Bildgestalt, ein Schritt, den Breckner bereits zu Anfang und ausführlicher im weiteren Fortgang der Analyse als eigenen Analyseschritt vorsieht,33 wird hier vernachlässigt. Für Breckner mit ihrem spezifischen Interesse am Bild als Bild ist dieser Schritt zentral, damit das Bild als solches Ausgangspunkt der Interpretationen ist.34 Hier jedoch steht eben nicht das Bild als Bild, sondern der protoche Wege durch den abgebildeten Raum als Orientierung bei der Segmenteinteilung heranzuziehen macht Sinn, weil Bewegungen durch den Raum in der Praxis die Sukzession der visuellen Wahrnehmung mitbestimmen. 33 Die formale Bildgestalt wird von Breckner zunächst mit dem Ziel untersucht, „in nicht zu detaillierter Weise Unterscheidungen zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund, Zentrum und Rand, mögliche Bildachsen und perspektivische Projektionen, Figuren [… usw.] zu erkennen“ (Breckner 2010: 289). Erkenntnisse zur formalen Bildgestalt werden mit Bezug zu Max Imdahls Arbeiten zur Bildgestalt durch das Einzeichnen von Perspektivlinien und Feldliniensystemen generiert. Der Begriff der Feldliniensysteme entstand aus dem der Kräftefelder in der Physik (vgl. Imdahl 1980: 43) – die Feldlinien ziehen den Blick der Betrachter*innen – und bezeichnet in der Kunstgeschichte eine Art und Weise, die formale Komposition von Bildern zu untersuchen. „Feldlinien ergeben sich aus nicht sichtbaren Linien, die die Anordnung von Figuren, Gesten, Bewegungen, Gegenständen in der Bildfläche strukturieren.“ (Breckner 2010: 291) Indem Feldlinien eingezeichnet werden, können Erkenntnisse über die szenische Choreografie auf formaler Ebene gewonnen werden (ebd.: 282f., Imdahl 1980: 19f., 43f.). Die Perspektive, aus der eine Fotografie aufgenommen wurde, kann ebenfalls anhand von Linien bestimm- und sichtbar gemacht werden und dann hinsichtlich der Frage, wie das Bild etwas für wen zeigt, in die sozialwissenschaftliche Bildinterpretation einbezogen werden. 34 In der Kunstgeschichte wurden maßgeblich von Erwin Panofsky (z.B. Panofsky 1975) Methoden zur Deutung von Kunstwerken entwickelt, die später von Imdahl (1980) weiterentwickelt wurden. Imdahl entwickelte eine weitere Sinnebene neben dem für historische Bildforschung bedeutsamen ikonologischen Sinn: Den ikonischen Bildsinn, mit dem der Ausgangspunkt von Bildanalyse beim Bild liegt (vgl. Imdahl 1980: 277f.). Imdahl formuliert dies so: „[D]ie Ikonik [sucht] eine Erkenntnis in den Blick zu rücken, die ausschließlich dem Medium des Bildes zuhört und grundsätzlich nur dort zu gewinnen ist. […] Die Ikonik sucht zu zeigen, daß das Bild die ihm historisch vorgegebenen und in es eingegangenen Wissensgüter exponiert in der Überzeugungskraft einer unmittelbar anschaulichen, das heißt ästhetischen Evidenz, die weder durch die bloße Wissensvermittlung historischer Umstände noch durch irgendwelche (fiktiven) Rückversetzungen in diese historischen Umstände einzuholen ist.“ (Ebd.: 97, vgl. Breckner 2010: 278f.) Wenn Bilder von einem Standpunkt der Ikonologie aus interpretiert werden sollen, ist es in erster Linie bedeutsam, dass das Bild „als Ausdrucks-

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kollierte Raum im Mittelpunkt des Interesses. In dieser Hinsicht sind Anordnungen von Gegenständen im Raum und deren szenische Choreografien sowie Möglichkeiten der Besucher*innen des jeweiligen Altarraumes, sich im Raum zu bewegen, bedeutsam. Solche Bezüge können anhand der Fotografie und unter Hinzunahme des Wissens um den Aufbau der Räume aufgezeigt werden, jedoch weniger durch das Einzeichnen von Feldliniensystemen, wie Breckner es mit Bezug zu Imdahl (1980) für ihre Bildanalysen vorsieht. In einem weiteren Analyseschritt geht es um die „Interpretation der Bildsegmente und ihres Zusammenhangs hinsichtlich potentieller indexikalischer und symbolischer, einschließlich ikonographischer, ikonologischer und ikonischer Bedeutungs- und Sinnbezüge“ (Breckner 2010: 289). Die zuvor ausgemachten Segmente sollen einzeln und unabhängig vom Bildganzen untersucht werden. Dazu werden, „dem abduktiven Verfahren der Hypothesenbildung folgend, kontrastive Sehweisen zu möglichen bildthematischen Bedeutungen von dargestellten Gegenständen, Personen, Konstellationen und ikonischen Elementen entwickelt“ (ebd.). Es wird auch überlegt, was an das jeweilige Segment im Bild anschließen könnte. Die einzelnen Segmente werden, nachdem sie einzeln für sich betrachtet und Folgehypothesen gebildet wurden, mit den jeweils zuvor betrachteten Segmenten zusammen betrachtet und kontrastiert. Dabei können aus form für historisch bedingte Geisteshaltungen wahrgenommen [wird]“ (Breckner 2010: 277). „Der ikonologische Bildsinn lässt sich nicht mehr aus einem einzelnen Bild rekonstruieren, sondern erst in einem weiteren Schritt im Zusammenhang mit jenen Ideen, die zu einer bestimmten Zeit gesellschaftlich […] relevant oder bestimmend waren.“ (Ebd.) Breckner sieht darin ein Problem, weil ein solcher Fokus auf Ikonologie dazu führen kann, dass der Bildsinn einzig aus dem Wissen um Ideen einer Epoche, den jeweiligen Zeitgeist, abgeleitet wird. Ihrer Meinung nach führt eine zu starke Fokussierung auf diese Gehalte dazu, dass nicht mehr das Bild selbst Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt der Bildanalyse ist. Um Erkenntnisse beim oder aus dem Bild zu gewinnen, sieht Imdahl eine Verknüpfung aus einer Untersuchung der formalen Gestaltung eines Bildes und inhaltlichen Bezügen vor (vgl. Imdahl 1980: 99ff.). Breckner übernimmt diese Verknüpfung aus Imdahls Arbeiten, wenn sie davon ausgeht, „dass eine Bildgestalt zum einen durch Gegenstands- und Textreferenzen, zum anderen im Wesentlichen auch über bildliche Bedeutungsrelationen entsteht – etwa in Bezügen zwischen Farben, Formen, Figuren und Linien – die jeweils spezifische Perspektiven und Kompositionen in der Bildfläche ergeben“ (Breckner 2010: 280). Diese Dimension der Bilder untersucht Breckner, indem die Segmentanalyse Analysen der formalen Bildgestalt umfasst. Ein Analyseschritt, der für die Analyse der Fotografien als Protokolle der Altarräume nicht in vollem Maße notwendig ist, da die Protokollfunktion der Bilder im Mittelpunkt steht.

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den „Abständen, Verbindungen, Zwischenräumen, Übergängen zwischen den Segmenten weitere Sehweisen und Hypothese“ (ebd.: 290) entwickelt werden. Dieser Analyseschritt lässt sich auch anhand der Fotografien als Protokolle der Altarräume sinnvoll durchführen. Da der protokollierte Raum in Wirklichkeit wie auch in der Fotografie sukzessive und in seiner Totalität gesehen wird, sind das Ausmachen und Isolieren einzelner Segmente sinnvolle Analyseschritte. Diese Segmente werden dann in Anlehnung an die sukzessive Wahrnehmung der Elemente im protokollieren Raum zunächst einzeln für sich und dann sukzessive und hinsichtlich ihres Zusammenspiels analysiert. Im Anschluss folgt bei der Analyse der Fotografien der Altarräume der letzte Arbeitsschritt. Die Analyse endet mit einer zusammenfassenden Interpretation der Gesamtgestalt der Fotografie als Protokoll. Die Analyseergebnisse werden dabei in theoretische Zusammenhänge eingebettet. Mit einer Synthese und Zusammenfassung hinsichtlich der Bedeutung der Altarräume als Bühnen, Bühnenbilder und Rahmen, Einbettungen und Voraussetzungen der Verehrung La Santa Muertes, werden die einzelnen Analysen der Fotografien der Altarräume abgeschlossen.

Bühnen der Verehrung La Santa Muertes

Öffentliche bzw. halböffentliche Altarräume in Kirchen der Verehrung La Santa Muertes sind mit Goffman gesprochen Bühnen der Verehrung. Als Bühnen mit Bühnenbildern, aber auch als diejenigen Orte, an denen Artefakte stattgefundener Performances anfallen, sind sie sowohl Ergebnis und Artefakt der Verehrung La Santa Muertes als auch räumlich-ästhetische Voraussetzungen und Einbettungen religiöser Praxis mit La Santa Muerte. Als solche sollen im Folgenden drei Altarräumen anhand von Fotografien untersucht und bestimmt werden.

EIN EKLEKTISCHER ALTARRAUM IN LOS ANGELES In einem kleinen Shoppingcenter in der Nähe von Downtown Los Angeles beherbergt eines der Ladenlokale eine Kirche La Santa Muertes (Abbildung 8). Ein Reklameplakat an dem Gebäude weist Besucher*innen unter Angabe einer Telefonnummer (geschwärzt) auf das Angebot oder Programm der Kirche hin: „Die Kraft La Santa Muertes“, „Sentimentale und spirituelle Hilfe“, „Kämpfe für dein Glück!“ „Rufe gleich an!“, „Messen sonntags 12 Uhr“. Rechts auf dem Banner steht „Brujo“. Die Hexe, die hier wirbt, ist Esmeralda. Wie sie sagt, kommen ihre Klient*innen aber meistens über eine Empfehlung zu ihr. Das Forschungstagebuch gibt einen Einblick in den Entstehungszusammenhang des Bildes: „November 2015. Ich habe eine Interviewverabredung mit Esmeralda. Der Termin war nicht leicht zu vereinbaren, denn sie ist viel beschäftigt. So sitzen auch an dem Tag des Interviews einige Wartende im Altarraum vor der Tür zu Esmeraldas Büro, in dem sie consulta, Sprechstunde, hält. Bevor ich mich zu den Wartenden geselle, nehme ich die Fotografie [Abbildung 9] auf. Der Aufnahmewinkel entspricht dem Blickwinkel, aus dem Besucher*innen der Kirche kurz nach dem Betreten des Raumes in den Altarraum blicken.“

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Abbildung 8: Außenansicht der Kirche in Los Angeles

Silke Müller, 2015

Abbildung 9: Fotografie des Altarraums mit Segmenteinteilung (1-4)

Silke Müller, 2015

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Analyse des abgebildeten Altarraumes Durch die Eingangstür (rechts in Abbildung 8) betritt man das Gebäude und gelangt sogleich in den Altarraum. Zur Rechten steht eine weiß bekleidete Figur La Santa Muertes (Segment 1). In Reihen aufgebaute blaue Stühle, auf denen drei Menschen warten, stehen auf glänzendem Fliesenboden (Segment 2). Dem roten Streifen im Fliesenboden durch den Raum folgend, gelangt man zum bunten Aufbau des Hauptaltars im hinteren Bereich des Raumes (Segment 3). Würde man unmittelbar vor dem Altar nach links gehen, gelangte man zur Tür, hinter der sich das Büro Esmeraldas befindet und wo gerade die Sprechstunde stattfindet. Von der Decke hängen über den ganzen Raum verteilt mehrere Gegenstände und Figuren herab (Segment 4). Der abgebildete Raum wirkt voll und farbenfroh. Auf dem Hauptaltar fällt eine Statue La Santa Muertes besonders auf: Die große zentrale Figur. Sie steht höher als die anwesenden Menschen. Wäre sie ein Mensch, überblickte sie den Raum und diejenigen, die sich in ihm bewegen. Die Fotografie wurde am 05.11.2015 – rechts unten im Bild, findet sich das von der Kamera erzeugte Datum –, drei Tage nach dem Día de Muertos, dem Tag der Toten (1. und 2. November, Allerheiligen und Allerseelen) und fünf Tage nach Halloween, aufgenommen.1 Segment 1 In Segment 1 (Abbildung 10) ist La Santa Muerte mit einer Sense und einem Rosenkranz, in einem weißen (Tauf- oder Braut-)Kleid gekleidet, zu sehen. Das Kleid verhüllt eine rote Santa Muerte Statue. Anhand des Kleides lässt sich die Wandelbarkeit der Figuren La Santa Muertes, die unterschiedlich bekleidet werden können und somit, wie im Bild, von einer roten zu einer weißen Santa Muerte werden können, vergegenwärtigen. Über „die weiße Santa Muerte“ heißt es in einem der Praxisbücher der Verehrung La Santa Muertes: „Dieses Bild repräsentiert die totale Purifikation; wo immer es steht, hilft es von schlechten Energien zu reinigen; besonders in Heimen, in denen Neid vorkommt und in denen es

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Die Blumen am Altar stehen nicht im Zusammenhang mit den Feiertagen, sondern finden sich in ähnlicher Art das ganze Jahr über am Altar, wie Besucher*innen der Kirche und Esmeralda erklären. In Mexiko kennt man aus dem Zusammenhang des Día de Muertos zwar üppige Blumendekoration, jedoch sieht diese anders aus. Man findet aufwändige Gestecke und geflochtene Blumenmatten und es werden traditionell andere Blumensorten verwendet. Vor allem Tagetes, Hahnenkamm, Nelken und Chrysanthemen, wohingegen im Segment 3 vor allem Gladiolen, Rosen und Lilien in verschiedenen Farben zu sehen sind.

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Groll in der Familie gibt.“2 (Velázquez 2012: 16) Das weiße Kleid der Statue La Santa Muertes symbolisiert demzufolge Reinheit bzw. steht für die reinigende Wirkung dieser Darstellung. Über dem Kopf der Figur ist Dekoration angebracht. Zwei Blüten aus glänzendem Plastik sind zu sehen, die als Massenware die Darstellung La Santa Muertes kulturindustriell einfassen. Abbildung 10: Segment 1

Eine Kerze und in Zellophan eingewickelte Süßigkeiten stehen als Gaben vor der Figur. Neben ihrem dekorativen Wert verweisen sie als Artefakte der Praxis der Gabenniederlegung und des Anzündens einer Kerze vor der Figur auf eine stattgefundene rituelle Praxis und Performance. Die Blumen im Strauß neben der Figur lassen ihre Köpfe hängen, es ist also bereits einige Zeit vergangen, seit die Blumen aufgestellt wurden.3

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Im spanischen Original: „Esta imagen representa la purificación total; donde que iera que esté, ayuda a limpiar toda energía negativa, principalmente en los hogares donde abundan las envidias y los rencores entre los propios familiares.“ (Velázquez 2012: 16)

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Es lässt sich auch interpretieren, dass sich mit den verwelkten Blumen neben der Todesfigur La Santa Muerte im Gesamtarrangement gewissermaßen ein freundlicher Gegenentwurf zu den Memento-Mori-Stillleben des europäischen Barocks ergibt. Im

Bühnen der Verehrung La Santa Muertes | 101

Segment 2 Dramaturg*innen geben mit der Anordnung und Ausrichtung der Stühle in Segment 2 (keine Einzelabbildung, siehe Abbildung 11) die grundsätzlich variable Konfiguration des Raumes vor. Sie machen die Menschen auf den Stühlen zu Zuschauer*innen, die sich nicht zum Austausch untereinander, sondern ggf. zur Vergemeinschaftung im Lichte dessen, worauf die Sitze gerichtet sind, treffen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme warten sie jede*r für sich. Zwischen den Stuhlreihen bleibt ein rot gefliester Mittelgang frei. Er wirkt wie ein angedeuteter, symbolisierter roter Teppich, wie er von Brautpaaren, Prominenten und Herrscher*innen überschritten wird. Segment 1+2 Die Segmente 1 und 2 nun zusammen betrachtend wird deutlich, dass der kleine Altar mit der Figur der weißen Santa Muerte wie zum Empfang am Übergang an der Schwelle zum Altarraum steht. Abbildung 11: Segment 1+2

Kontrast zu solchen Darstellungen ist La Santa Muerte eine freundliche, in ritueller Praxis adressierbare und insofern besonders nahbare Heilige.

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La Santa Muerte kommt die Position der freundlichen Wächterin über diese Schwelle zu, die Eintretende passieren und die aufgrund ihrer weißen Farbe schlechte Energien zurückhält und den Raum schützt. Der Stuhl links neben dem Altar steht sehr nah an der Figur. Wer dort sitzt, würde ihr weißes Kleid beiläufig berühren. Die Möglichkeit einer beiläufigen Nähe zu La Santa Muerte steht im Widerspruch zu einem Abstand, den man idealtypisch zu einer Heiligenfigur in einem Sakralraum4 wahren würde. Diese Form der Nähe steht in einem Gegensatz zu dem nicht beiläufigen sich-der-Figur-nähern, wenn Heiligendarstellungen beispielsweise geküsst werden. La Santa Muertes ist hier also nahbar. Ihre Gegenwart evoziert keine strenge Rahmung als Sakralraum. Segment 3 Auf dem blumen- und kerzenreichen, bunten und teilweise stufenförmigen Hauptaltar in Segment 3 (Abbildung 12) ist eine große Statue La Santa Muertes in einem offenen Glasschrank zu sehen. Die große Figur trägt eine Krone auf dem Haupt und ist mit glänzendem Goldschmuck behängt, an ihrer rechten Seite ist ein großer Rosenkranz mit einem Kreuz zu sehen. Mit ihrer Ausstattung und in ihrer Position auf dem Podest ist die große Figur La Santa Muertes als mächtige Herrscherin inszeniert. Abbildung 12: Segment 3

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Die Bezeichnung Sakralraum schließt hier an die durkheimsche Definition des Heiligen unter Betonung der Abgrenzung des Profanen an. Durkheim schreibt: „Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind, worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen.“ (Durkheim 1994: 67)

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Wenn im Christentum Heilige mit Blumen und anderen Gaben bestückt werden, geht es oft darum, der oder dem jeweiligen Heiligen für die Gewährung von Wundern zu danken oder um solche zu bitten. Die Gaben sind dann mit Marcel Mauss (2010a) gesprochen Ausdruck einer reziproken Beziehung zwischen Heiliger oder Heiligem und Anhänger*in. Die Blumen und die anderen Gaben an dem Altar zeugen so gesehen auch von der starken Wunderkraft La Santa Muertes, die Gegengaben evoziert. Die Glastür, hinter der sich die Figur La Santa Muerte befindet, steht zum Zeitpunkt der Aufnahme und auch sonst offen und kann in der Symbolik der offenen Tür5 die Möglichkeit andeuten, La Santa Muerte könnte den Glasschrank und den Altar verlassen und somit in die Welt der Lebenden übertreten.6 Der gesamte Altaraufbau enthält mindestens 44 weitere Figuren La Santa Muertes in verschiedenen Größen und Farben. Die kleineren Figuren sind mit verschiedenen Details bestückt. Eine kleinere Figur trägt z.B. einen kleinen Hut, wie ihn Mariachi-Sänger*innen tragen. Allgemein findet man Arrangements mit mehreren Heiligenfiguren häufig auf privaten Hausaltären, die dem jeweiligen Geschmack ihrer Besitzer*innen entsprechend aufgebaut sind. In katholischen Kirchen sind Heiligenfiguren in Darstellungen und auf Altären häufig einzigartige, alte und aufwändig gearbeitete Figuren, die für sich allein aufgestellt sind. Sie sind oft Kunstwerke. Walter Benjamin schreibt: „Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen.“ (Benjamin 2011: 577) Als Kunstwerke haben sie eine eigene Aura und „diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks [löst sich] niemals […] von seiner Ritualfunktion“ (ebd.). Diese Aura, so die zentrale These Benjamins, geht im Falle einer massenhaften, technischen Reproduktion verloren. „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist.“ (Ebd.: 573) 5

Sieht man den Glasschrank – so eine mögliche andere Sehweise – als offenen Sarg, der die als aufgebahrte tote Herrscherin inszenierte La Santa Muerte beherbergt, vereint der Aufbau die Ästhetik einer von Trauerbekundung inspirierten Blumenniederlegung mit der Heiligenverehrung.

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Wie sich im Zuge der Analysen auf Ebene der Aufführung noch zeigen wird, bestehen solche Vorstellungen unter Anhänger*innen La Santa Muertes. Diesen Vorstellungen nach kann La Santa Muerte z.B. rituell dazu veranlasst werden, ihren jeweiligen Altar zu verlassen und in einem Raum herumzulaufen.

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Die vielen Santa Muerte Figuren in Segment 3 sind, anders als die von Benjamin angeführten massenhaften, technischen Reproduktionen, keine Reproduktionen eines Originals, sondern stehen jede für sich. Sie haben, indem sie beispielsweise wie die Figur mit dem Hut der Mariachi-Sänger*innen individualisiert und angeeignet werden, ein je eigenes Hier und Jetzt, eine Aura. Aber sie weisen als bearbeitete Massenware dennoch auch eine Ästhetik von Reproduktion und Massenfertigung auf. Die Vielzahl der Figuren La Santa Muertes auf dem Altar zeugt auch von einem ästhetischen Geschmack, der sich an Massenware orientiert und Fülle und Überfluss liebt, beinahe als sei das prall gefüllte Regal im Supermarkt das Referenzobjekt dieses Geschmacks.7 Andere Elemente des Aufbaus sind brennende Kerzen in teilweise farbigen Gläsern sowie Blumen, die zu prächtigen Sträußen aufgebunden sind und Schnapsflaschen, die mit den Etiketten nach vorn zu den Betrachter*innen, also wie im Supermarkt die Etiketten zeigend, rund um die große Santa Muerte Figur arrangiert sind. Zwei Flaschen können als Whisky „Jack Daniels“ und als Tequila „El Jimador“ identifiziert werden.8 Eine besondere Schnapsflasche ist die, die erhöht im Zentrum und zu Füßen der großen Statue La Santa Muertes 7

Ähnliches stellt auch David H. Brown heraus, der in seinem Aufsatz „Toward an Ethnoaesthetics of Santería Ritual Arts“ über die Verehrung der Orichas schreibt: „The Afro-Cuban imagination reconstituted the iconography of these splendid royal presences – originally the mythological founders, kings, queens, and worriors of great West African kingdoms – by combining Yoruba traditions of bead- and clothwork and local models of baroque adornment appropriated from the Cuban colonial church, state, and bourgeoisie in the nineteenth century. Orichas formally ‚dressed‘ for periodic and calendrical ritual celebrations are saluted as they occupy temporary festival altars called tronos (‚thrones‘), assemblages of cloth, ceramics, and beadwork, which in the United States today are constructed almost entirely of mass-marketplace material and purchases.“ (Brown 1996: 77) Von Massenfertigung und -ware in der religiösen Praxis mit la Santa Muerte spricht während eines Rituals in einer anderen Kirche in Los Angeles auch José, als er Witze darüber macht, dass die Anhänger*innen La Santa Muertes in Los Angeles mittlerweile sogar von den Unternehmer*innen aus China beliefert würden und von diesen ihr massenhaft produziertes Ritualzubehör kauften.

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Sie sind also nicht günstig, aber auch keine Produkte von Luxusmarken. Alkohol ist einerseits Genussmittel und als solches ein edles, teures und als Luxusgut konnotiertes Distinktionsmerkmal. Andererseits ist Alkohol ein Rauschmittel mit hohen Abhängigkeits- und Todeszahlen und oft konsumiert in Zusammenhang mit Gewalttaten und Verbrechen. Insofern ist Alkohol auch ein Symbol für die problematischen Folgen des Exzesses. Alkohol hat in dieser Konnotation eine Nähe zu Gewalt und kann ein Kriminalitätsmarker sein bzw. als solcher eingesetzt und zur Schau gestellt werden.

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steht und die Form eines Maschinengewehrs hat. Ein Maschinengewehr ist eine besonders teure und potente Waffe, mit der nur wenige Menschen tatsächlich vertraut sind. Vielen ist diese Waffe nur aus dem Fernsehen bekannt, insofern steht das Maschinengewehr als Schnapsflasche wie ein Fanartikel für den Lifestyle der Hollywoodbösewichte vor der großen Statue La Santa Muertes. Diese Waffe ist auch bekannt aus den Narcocorridos, mexikansiche Balladen über die Welt des Drogenhandels, in denen die AK47 als cuerno de chivo, Ziegenhorn, regelmäßig zitiert wird. Das Maschinengewehr vor der Statue La Santa Muertes ist ein Symbol für die Helden und Bösewichte aus Hollywoodfilmen und den Narcocorridos und ein Symbol für Stärke, Durchsetzungsvermögen und ein patriarchales Verständnis von Maskulinität. Als Gabe an La Santa Muerte gesehen ist die Maschinengewehrflasche auch ein Hinweis auf die ästhetischen Vorlieben der Gebenden wie auch La Santa Muertes.9 Diese (ästhetischen) Vorlieben umfassen Alkohol, Exzess, Gewalt und deren popkulturelle Verarbeitung. Auf dem Altar sind die beiden Themen Gewalt und Alkohol verbunden. Es lässt sich deuten, dass La Santa Muerte eine hohe Ambiguität(-stoleranz) aufweist. Sie kommt nicht nur einer gewöhnlichen katholischen Heiligen mit Mittler*innenfunktion nahe, die eingebunden ist in eine Praxis von Gabe und Gegengabe. Sie ist ebenso verknüpfbar mit den Themenfeldern Drogen(-handel) und Gewalt, mit deren kulturindustrieller Verarbeitung sowie mit den daraus resultierenden sozialen Problemen. Segment 2+3 Wenn man die Segmente 2 und 3 zusammen betrachtet (keine eigene Abbildung, siehe Abbildung 9 oder 14), kann man sich vorstellen, dass die große Figur La Santa Muertes, wäre sie belebt, aus ihrem offenen Glasschrank herausschreiten und das Podest verlassen könnte. Der symbolisierte rote Teppich könnte sowohl von der vom Altar herabsteigenden La Santa Muerte wie auch von Gläubigen, die sich dem Altar nähern, also in beide Richtungen, überschritten werden. Auf diese Weise verschwimmen in dem abgebildeten Raum die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Der abgebildete Raum kann als ein liminaler Raum, ein Raum der Inszenierung einer Einebnung der Schwelle zwischen Leben und Tod, interpretiert werden.

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In Bezug auf die Gabenvorlieben La Santa Muertes (Schnaps, Tabak, Marihuana, Blumen, Geld etc.), lässt sich eine Nähe zur Gottheit Lwa aus dem haitianischen Voodoo attestieren, die „heiße“ Dinge wie starken Alkohol mag (vgl. Stein/Stein 2008: 245).

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Segment 4 Von der Raumdecke hängen calaveras, Totenschädel, wie sie im Zusammenhang mit dem Día de Muertos zu sehen sind (Abbildung 13). Außerdem gibt es Papp- oder Plastikskelette, Spinnen und Bilder von Spinnennetzen und Kürbissen, wie man sie als Dekorationsgegenstände an Halloween verwendet. Die größten aufgehängten Elemente sind zwei Fahnen mit geschmückten Schädeln und dem Schriftzug „Día de los Muertos“. Abbildung 13: Segment 4

Die von der Decke hängenden Elemente, können zusammengenommen den Deckenschmuck einer Feier des Día de Muertos wie auch einer Halloweenfeier bilden. Die beiden Feiertage liegen dicht beieinander (31. Oktober und 1., 2. November). Es lässt sich das Wissen um das Aufnahmedatum heranziehen, die Fotografie wurde am 05.11.2015, also kurz nach den Feiertagen, aufgenommen. In dem abgebildeten Raum ergeben sich Mischformen bzw. Zusammenführungen beider Feiertage.10 Es lässt sich deuten, dass die Dramaturg*innen, die den abgebildeten Raum gestalten, Feiertage integrieren und somit am Jahresverlauf einer übergeordneten Vergemeinschaftung teilnehmen. Sie sind dem Día de Muertos dabei ebenso verpflichtet wie Halloween und haben beide Feste in einer kulturindustriellen, popkulturellen Verarbeitung zusammengebracht.11 10 Dem im Foto dokumentierten Phänomen der Vermischung beider Feiertage widmet Lomnitz in „Death and the Idea of Mexico“ einen Abschnitt (Lomnitz 2008: 460ff.), in dem er eine Karikatur aus der mexikanischen Zeitung La Jornada von 1989 zeigt, in der La Catrina und ein lachender Halloween-Kürbis fusioniert wurden (vgl. ebd.: 464). Die Fusionierung beider Feste hat Tradition. 11 Huffschmid schreibt über einen Altar La Santa Muertes in Tepito in Mexiko-Stadt, man feiere dort den 31. Oktober als Geburtstag La Santa Muertes, „the congregation bursts into an enormous ‚birthday‘ celebration“ (Huffschmid 2019: 122). Die große Figur La Santa Muertes des Altars in Tepito wurde am 31. Oktober 2001 aufgestellt

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Gesamtgestalt und Zusammenfassung der Analyseergebnisse Alle Deutungen zusammenfassend, ist festzuhalten, dass der in der Fotografie abgebildete Raum als eine Bühne der sozialen Interaktion und der Verehrung La Santa Muertes von Dramaturg*innen und gläubigen Besucher*innen des Altarraumes gestaltet wird. Erstere zeichnen sich verantwortlich für das Bühnenbild und ermöglichen überhaupt erst dessen Betrachtung durch die Besucher*innen. Zweitere gestalten das Bühnenbild mit, beispielsweise durch Blumenniederlegungen. Auch ihre Praxis bringt den Altarraum mit hervor und erzeugt ein eklektisches, farbenfrohes und facettenreiches Arrangement. Es ist mit seiner Ästhetik einer farbenfrohen Fülle schön anzusehen und lädt zum Mitmachen, zur Mitgestaltung, ein. Dabei sind die verschiedenen Elemente des Arrangements kulturindustriell, popkulturell oder massenmedial überformt, was einen thesenhaften Rückschluss auf den sozialen Hintergrund der Verehrung La Santa Muertes zulässt. Milieus, die Zugang zu Massenmedien haben, vor allem zum Fernsehen, und von diesem auch starken Gebrauch machen, werden in diesem Rahmen eine ihren (Seh-)Gewohnheiten entsprechende Kulisse, die auch ihrem Geschmack entspricht, finden. Milieus hingegen, die weniger stark oder kaum von Erzeugnissen der Massenmedien beeinflusst werden und eine starke Verpflichtung gegenüber Traditionen haben, müssten mit Irritation und Unverständnis auf den gegebenen Rahmen reagieren, weil die Bilder- und Symbolwelten ihnen kaum vertraut und in ihrer kreativen (Re-)Kombination als nicht vereinbar erscheinen müssten.12

(vgl. Fragoso 2011: 11). Es ist ausgehend von der Literatur nicht klar, ob in Tepito dem Halloweenfest auch eine Bedeutung bei der Terminierung der Altarerrichtung zukam. In den Kirchen La Santa Muertes in Los Angeles und in Tijuana wurden teilweise die jeweiligen Tage der Altarerrichtung als Geburtstage La Santa Muertes gefeiert und Feierlichkeiten zum Día de Muertos abgehalten, nicht aber der 31. Oktober als Geburtstag La Santa Muertes gefeiert. Auch Kristensen (vgl. 2019: 147) weist darauf hin, dass der Geburtstag La Santa Muertes üblicherweise der Tag der Errichtung des jeweiligen Altars ist. 12 Dies lässt sich anschließend an Thorstein Veblens „Theorie der feinen Leute“ (Veblen 2015: insb. 133f.) weiter zu einer These zuspitzen: Wenn man die Aneignung von popkulturellen Erzeugnissen und Massenwaren als Distinktionsmerkmal der ökonomisch schlechter gestellten und statusniedrigeren Milieus betrachtet, können Angehörige besser gestellter Milieus mutmaßlich gar mit Verachtung auf die Verehrung La Santa Muertes, wie sie in der Fotografie dokumentiert ist, blicken.

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Abbildung 14: Die Fotografie des Altarraums in Los Angeles in ihrer Gesamtgestalt

Silke Müller, 2015

Eine Unterscheidung zwischen Profan und Sakral, wie Durkheim sie vorschlägt, wird in dem abgebildeten Raum nicht streng vorgenommen. Auch eine Rahmung als Sakralraum setzt sich nicht durch, sondern bleibt zugunsten einer Alltäglichkeit im Hintergrund. Anhand der Fotografie lässt sich eine in dem Raum angelegte, symbolische Einebnung der Schwelle zwischen Leben und Tod ausmachen. So ergibt sich der Eindruck, die große Figur La Santa Muertes könnte durch die offene Tür des Glasschranks in die Welt der Gläubigen hinaustreten. Zusammengenommen sind in dem abgebildeten Raum Formen des „Dazwischenliegens“, der Liminalität, des „Überschreitens von Sphären“ und eine Ambiguität La Santa Muertes ausgedrückt.

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BAUEN UND BASTELN IN EINEM KIRCHENRAUM IN GUADALAJARA Die im Folgenden analysierte Fotografie (Abbildung 18) protokolliert den Blick auf den Hauptaltar einer Kirche La Santa Muertes in Guadalajara. Der Altar befindet sich im hinteren Bereich der Kirche (Abbildung 17), die von außen als solche nicht zu erkennen ist (Abbildungen 15 und 16). Sie liegt außerhalb der Grenzregion, steht aber trotzdem in Bezug zur US-amerikanisch-mexikanischen Staatsgrenze, denn hier treffen sich auch diejenigen, die, wie z.B. Fernanda, eine Migration in die USA in Erwägung ziehen. Eine Bahntrasse (rechts im Bild in Abbildung 15) auf der auch Güterzüge nach Norden rollen und die von einigen Migrant*innen auf dem Weg in die USA als Transportmittel genutzt werden, liegt direkt vor der Kirche. Abbildung 15: Sandweg vor der Kirche (links) und Bahndamm (rechts)

Silke Müller, 2016

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Abbildung 16: Außenansicht der Kirche

Silke Müller, 2016

Abbildung 17: Blick von der Eingangstür aus in die Kirche

Silke Müller, 2016

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Analyse des abgebildeten Altarraumes Im Zentrum des Bildes (Abbildung 18) sieht man einen Altaraufbau. Auf Stufen steht eine große Figur La Santa Muertes. Rechts daneben befinden sich auf einem Sockel weitere kleinere Figuren und Kerzen. Abbildung 18: Fotografie des Altarraums in Guadalajara mit Segmenteinteilung (1, 2)

Silke Müller, 2016

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Eine der kleineren Santa Muerte Figuren sitzt auf einem Thron.13 Auf dem Boden vor den Santa Muerte Figuren befinden sich zwei größere Blumengestecke und kleinere Blumensträuße. Brennende Kerzen stehen auf dem Boden und auf dem Sockel. Dieser Bildbereich bildet das Segment 1. Als Segment 2 wird der gesamte Bildbereich bezeichnet, der das erste Segment umgibt.14 Am rechten Bildrand sieht man eine Bank und eine Holzkonstruktion, die eine Kreuzdarstellung enthält und dazu dient, vor den Figuren La Santa Muertes niederzuknien. Der Raum rund um den zentralen Aufbau mit Figuren La Santa Muertes wirkt baustellenhaft und in Konstruktion begriffen. Ein prall gefüllter Müllsack ist zu sehen, eine abgebrochene Wand und dahinter eine in eine unverputzte Mauer eingelassene Glastür, bewacht von einem Hund. Das Abgebildete ist mit dem gefliesten Boden und den blauen Wänden als Innenraum zu identifizieren, gleichzeitig ist die Decke aber halb offen. Es gibt einen starken Kontrast zwischen dem detailliert und sorgfältig arrangierten Blumenaufbau mit den Figuren La Santa Muertes und dem Baustellencharakter, der kaputten Bausubstanz, dem Müllsack und dem Wachhund. Der Raum wirkt zusammengebastelt, im Auf- oder Umbau begriffen, bunt und divers. Segment 1 Ein prächtiges Blumengesteck – es ist aus Plastik – mit roten und weißen Rosen steht auf dem Boden vor der großen Statue La Santa Muertes in Segment 1 (Abbildung 19). Daneben gibt es Sträuße aus echten Blumen, Kerzen in zum Teil farbigen Gläsern, eine in Plastik eingewickelte Rose, wie man sie bei den Straßenverkäufer*innen erstehen kann, und auf dem rechten Sockel liegen zwei Äpfel. Rechts vor dem großen Blumengesteck gibt es einen Tonkrug, in dem einige Münzen liegen. La Santa Muerte werden hier kleinere Geldbeträge als Gaben niedergelegt, um den Wohlstand der Gebenden rituell zu sichern. Der Aufbau ist mit den Gaben in Teilen auch das Ergebnis und Artefakt stattgefundener Performances der Kirchenbesucher*innen.

13 Die Sitzposition der Figur verbildlicht ihre Herrschaftlichkeit. So heißt es in einem Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes über „die auf ihrem Thron sitzende Santa Muerte“: „Diese Santísima Muerte sitzt majestätisch auf ihrem Thron.“ (Anonym/A 2007: 14 [Übersetzung der Autorin]) 14 In der Darstellung der Segmentanalyse und ihrer Ergebnisse werden pragmatisch nur zwei Segmente unterschieden, obgleich die Analyse zunächst differenzierter, d.h. weitere Segmente unterscheidend, erfolgte.

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Abbildung 19: Segment 1

Die große Figur La Santa Muertes ist handgemacht, aufwändig gestaltet und reich ausgestattet. Mit dem linken Arm hält sie die Schneidefläche einer Sense, die wie ein zur Schau gestelltes Attribut wirkt. Um ihre linke Hand hängt ein schwarzer Rosenkranz, um ihre Rechte hängen zwei Amulette. In der rechten

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Knochenhand steckt außerdem eine nach unten hängende und vertrocknete rote Rose. Beide Hände sind im Vergleich zum Korpus der Statue deutlich herausgearbeitet und wirken mit ihren überdimensionierten und knochigen Fingern, die leicht nach vorn gestreckt sind, geradezu belebt. Fast scheint es, die Figur würden nach etwas greifen. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen La Santa Muertes Kopf, dem unbelebten Totenschädel, und dem Ausdruck des Schädels, der ihn belebt erscheinen lässt, weil er an ein menschliches Lächeln erinnert. Indem mit den Händen und dem Antlitz zwei „soziale Körperteile“15 besonders plastisch und fein gearbeitet wurden, wird der Eindruck erweckt, man könne mit der Figur in Interaktion treten. Die Gestaltung der Figur prädestiniert sie zu einer Adressierung durch die Gläubigen. Es wird nahegelegt, La Santa Muerte könnte im Reich der lebenden Menschen agieren. Damit ergibt sich hier, wie auch schon bei der Interpretation des Altars in Los Angeles, die Sehweise einer Einebnung der Schwelle zwischen Leben und Tod. Als Heiligenfigur und mit ihrer Bekleidung weist La Santa Muerte hier eine Ähnlichkeit zu Mariendarstellungen auf. Im Vergleich zu einer exemplarischen Darstellung der Jungfrau von Guadalupe (Abbildung 20) wird deutlich, dass die beiden Darstellungen sich wesentlich in ihren „Interaktionspotenzialen Menschen unterscheiden. Die Figur La Santa Muertes in dem Altarraum kann etwas tun, während die Jungfrau von Guadalupe betend, also etwas tuend, dargestellt ist. Dabei wirkt die Jungfrau von Guadalupe auch entrückter als La Santa Muerte, die in dem Altarraum alltagsnäher dargestellt ist.16 Aufgrund ihrer Mittlerinnenfunktion als katholische Heilige kann man die Jungfrau von Guadalupe verehren und bei ihr Fürbitte halten. La Santa Muertes Stellung und Rolle sind in der abgebildeten Darstellung offener und variabler als die der Jungfrau von Guadalupe.

15 Die Begrifflichkeit wird in Anlehnung an Georg Simmels „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ (Simmel 1993) herangezogen. 16 Auch über die abgebildete Darstellung hinaus, ist La Santa Muerte mit ihrem „menschlichen Sinn“ für Zigaretten und Alkohol ohnehin alltagsnäher als die Jungfrau von Guadalupe; „the images of La Santa Muerte are distinct from those of Saint Jude and the Virgin of Guadalupe, who do not normally ‚eat‘, ‚drink‘, or ‚smoke‘“ (Kristensen 2019: 147).

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Abbildung 20: Altar mit einer Figur der Jungfrau von Guadalupe in Yucatán, Mexiko

Silke Müller, 2016

Die Marienfiguren oder Bräuten ähnliche Bekleidung der Figur La Santa Muertes bildet ein den Schädel und den Oberkörper der Figur bedeckender Kopfschleier aus silberweißer Spitze. Zu einer Deutung der Figur als Braut passt auch die vertrocknete Rose in der rechten Hand der Figur. Es gibt einen Herkunftsmythos La Santa Muertes, in dem sie als eine verlassene Braut eingeführt wird. Der Legende nach wartet eine Braut in einer Kirche am Altar und ihr Bräutigam er-

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scheint nicht zur Trauung. Nach seinem Ausbleiben verdorrt die Braut am Altar. Sie wird zu dem Skelett, das sie von da an ist: La Santa Muerte (vgl. Kristensen 2014: 10, Kristensen 2011: 76). Kristensen deutet diese Legende, indem er schreibt: „Her becoming a saint was, according to this legend, linked with her sacrifice as a neglected woman.“ (Kristensen 2014: 10) Anschließend an diese Deutung lässt sich die Darstellung der Santa Muerte mit Brautschleier und vertrockneter Rose auch als eine Darstellung La Santa Muertes als Schwellenwesen interpretieren. Mit der unmittelbar bevorstehenden Statuspassage der Hochzeit, der Trauung der Braut am Altar, wäre ein Grundstein für die Gründung einer Familie gelegt. Diese Zukunft wird ihr verwehrt, weil der Bräutigam nicht erscheint. In der Legende ist die folgende Austrocknung der jungen Frau bis auf ihre Skelettknochen ein Sinnbild des Todes in einer dauerhaften Form und von Unfruchtbarkeit. Die Braut wird zum Tode selbst. Sie ist als solcher weder tot noch lebendig und verbleibt in der Liminalität. Über dem Kopf der Statue La Santa Muertes ist an etwas Rotem ein großer Piedra Del Sol, wörtlich Sonnenstein, angebracht. Dieser Stein ist eine von Mythen umgebene Darstellung der Azteken und ein Nationalsymbol Mexikos. Der Stein ist beispielsweise auf der 10 Peso Münze abgebildet. Weil der Piedra Del Sol über der Figur nicht besonders fein gearbeitet ist, sehr hoch aufgehängt und somit der Möglichkeit zu einer Detailstudie entzogen ist, funktioniert er im abgebildeten Raum und in der Fotografie als Symbol für etwas genuin Prähispanisch-Mexikanisches. Wenn man sich in dem Kirchenraum auf die Figur zubewegt, sieht man – den Kopf hebend –, dass das Rote, an dem der Stein angebracht ist, der Körper einer weiteren größeren Figur La Santa Muertes ist (Abbildung 21). Diese größere Figur reicht durch die Decke hindurch und strebt mit ausgestreckten Armen Richtung Himmel.17 In dieser Darstellung ist La Santa Muertes Verbindung „nach oben“, zu symbolisch höheren Mächten des Himmels ausgedrückt.

17 Hier deutet sich in der Gestik der Figur eine Nähe zu charismatisch-evangelikalen Strömungen an, obgleich es hier die Figur La Santa Muertes ist, die anstelle von Gläubigen einer evangelikalen Sekte etwa die Hände ausstreckt. Die Geste wird im Zuge der Analysen von Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes auf Ebene der Aufführung noch genauer beachtet.

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Abbildung 21: Blick in die Höhe vor dem Altar

Silke Müller, 2016

In dem Kirchenraum wird die volle Größe der roten Figur La Santa Muertes erst sichtbar, wenn man dicht an den Aufbau herantritt. Ganz im Gegensatz dazu stehen die hohen Kuppeln barocker katholischer Kirchen, die die Blicke der Besucher*innen direkt nach dem Betreten in die Höhe ziehen. Sie vermitteln auf diesem Weg einen Eindruck immenser Höhe und Größe. Sie machen Unendlichkeit erfahrbar und wirken weniger alltagsnah als der protokollierte Raum.

118 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

Die Figur La Santa Muertes bleibt trotz ihrer immensen Größe eigentümlich nahbar. Dieser Eindruck steht in Einklang mit den nackten Füßen der Figur vor der größeren roten Figur. Knochige und nackte Füße kommen unter dem Gewand hervor und verleihen La Santa Muerte eine Einfachheit und Bodenständigkeit. Eine eindrückliche Nahbarkeit. Die große rote Figur ist aus einem Pappmaché ähnlichen Material gebaut. In einem Praxisbuch der Verehrung La Santa Muertes gibt es einen Abschnitt in einem Kapitel „Formen und Repräsentationen“, der mit „La Santa Muerte aus Pappmaché“ überschrieben ist. Dort wird erklärt, dass diese Figuren besonders einzigartig und mit einer ganz eigenen Energie aufgeladen seien. Sie seien „Kunstwerke“ (Anonym/A: 17), sodass sich der Verweis auf die Ausführungen Benjamins zur Aura des Kunstwerks erneut vorbringen lässt. Bearbeitete Darstellungen La Santa Muertes haben trotz ihres einfachen und Massenwarencharakters im Sinne Benjamins eine eigene Aura. Die selbstgebauten Figuren La Santa Muertes gewinnen während ihrer Herstellung und Bearbeitung eine Aura, ein Charisma, eine besondere magische Kraft wie es in dem Praxisbuch heißt: „Man kann sehr unterschiedliche Ausarbeitungen der Figuren der Santísima Muerte dieser Art [aus Pappmaché] finden. In ihrer großen Mehrheit sind es Werke oder Stücke, die eine eigene Energie haben, dadurch, dass die Menschen diese wahren Kunstwerke ausarbeiten. Sie tun es vollständig von Hand, sodass wir keine Santa Muerte sehen können, die der anderen in Größe, Form oder Ausstattung gleicht. Diejenigen, die eine Santa aus diesem Material haben, passen gut auf sie auf, da sie aus den oben genannten Gründen keine Zweite davon haben können.“18 (Anonym/A: 17)

18 Im spanischen Original: „La elaboración de esta Santísima Muerte se podrá ver en muy distintas formas, en su gran mayoría son trabajos o piezas, que tienen una energía propia ya que las personas que elaboran estas verdaderas obras de arte, lo hacen totalmente a mano por eso nunca podemos ver una Santísima Muerte iguan, ni de tamaño, ni de forma, ni en su decoración. Aquellos que llegan a tener una Santa de este material siempre la cuidan ya que nunca tendrán una igual por las razones antes mencionadas.“ (Anonym/A: 17)

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Segment 2 Der Raum, der in Segment 2 (Abbildung 22) zu sehen ist, sieht baustellenhaft aus und so, als hätten Laien seine Konstruktion oder seinen Umbau durchgeführt. Kontextwissen heranziehend wird deutlich, wie es dazu kommt: Die Bauarbeiten dauern schon über zwei Jahre an. Es würde immer dann gearbeitet, wenn Geld und Material zur Verfügung stand. An der Wand im Hintergrund hängt eine eher kleine Darstellung von Jesus am Kreuz. Abbildung 22: Segment 2

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Gesamtgestalt und Zusammenfassung der Analyseergebnisse Darstellungen aus der christlichen bzw. katholischen Bilder- und Symbolwelt sind in dem abgebildeten Raum zwar enthalten, ihnen kommt im Gesamtarrangement jedoch eine hintergründige Position zu. In der Kirche wurde der gebaute Raum an die Erfordernisse der großen roten gebastelten Figur La Santa Muertes angepasst, indem man die Decke durchbrach und durch ein Glasdach ersetzte, das gleichzeitig Sonnenlicht in den Raum einströmen lässt und die Figuren vor Regen schützt.19 Der abgebildete Kirchenraum zeichnet sich durch ein hohes Maß an Selbstorganisation in der Planung, im Bau und in der Gestaltung aus. Obwohl der Raum im Bau ist, finden Messen statt und Gläubige legen Gaben am Altar nieder. Herumliegende Müllsäcke und der (bellende) Wachhund halten Besucher*innen nicht davon ab, die Kirche zu besuchen und Rituale durchzuführen. Der abgebildete Altarraum bildet den Rahmen einer selbst gebauten, selbst gebastelten und von Besucher*innen mitgestalteten und insofern offenen Verehrung La Santa Muertes.

19 Auch in Mexiko-Stadt, in Tepito, wurde der besonders bekannte Altar der Familie Doña Quetas ungehindert durch den gebauten Raum eingerichtet. Ein Familienmitglied hatte eine beinahe zwei Meter hohe Statue La Santa Muertes erstanden, die nicht ins Haus passte, und die Figur daher statt im Innenraum an der äußeren Hauswand aufgestellt (vgl. Kristensen 2014: 1, Fragoso 2011: 11). Auch dieses Narrativ betont die Idee einer Haltung, nach der man für Figuren La Santa Muertes Platz schafft.

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Abbildung 23: Gesamtgestalt

122 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

EIN ERWEITERTER KATHOLISCHER RAHMEN NAHE TIJUANA Die Abbildung 24 ist die Fotografie eines Altarraumes einer Kirche La Santa Muertes nahe Tijuana. Die Kirche hat profe Lautaro auf seinem Grundstück neben seinem Wohnhaus eingerichtet. Die Fotografie wurde kurz vor dem Beginn einer Messe aufgenommen und protokolliert den Blick der Forscherin aus der zweiten Stuhlreihe auf den Altar. Analyse des abgebildeten Altarraumes Die Fotografie (Abbildung 24) zeigt den geschmückten und was seine Bausubstanz betrifft, einfachen Altarraum. Abbildung 24: Fotografie des Altarraums nahe Tijuana mit der Segmenteinteilung

Silke Müller, 2015

Im Zentrum des Bildes sieht man einen Altar mit einem weißen Überwurf auf dem Figuren La Santa Muertes, ein Buch, aufgereihte Äpfel und zwei Gläser stehen. Hinter dem Altar steht eine große Statue La Santa Muertes vor einer mit glänzendem Stoff abgehängten Fläche. Flankiert ist die Figur von zwei an der

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Wand hängenden Darstellungen des gekreuzigten Jesus. Am rechten Bildrand sieht man eine rankende Grünpflanze, hinter der eine Figur St. Judas Thaddäus20 steht (Segment 1). Ein zweites Segment bildet ein aus farblich mit der Wandfarbe haarmonierenden Stoffbahnen geschaffener Baldachin, der den Altarbereich einfasst. Auf den Altar blicken eine Frau und ein kleines Kind (Segment 3) Segment 1 Auf und hinter dem Altar in Segment 1 (Abbildung 25) stehen zwei Figuren der sogenannten „Santa Muerte der sieben Kräfte“ mit ihren in sieben Farben gestreiften Körpern. Figuren aus mehreren Farben haben den Vorteil, dass sie für mehrere Anwendungsbereiche geeignet sind. Lautaro erklärt, die Santa Muerte der sieben Kräfte sei in schweren Fällen besonders gut geeignet, denn sie vereine die Kräfte der Figuren aller Farben und mache sich gut auf einem Altar, zu dem Anhänger mit verschiedenen Bedürfnissen kommen. In einem der Praxisbücher heißt es über diese mehrfarbigen Figuren: „Es gibt auch Bilder der Santa Muerte, die in den genannten sieben Farben marmoriert sind. Sie werden genutzt, um die Kräfte, die diese Farben mit sich bringen, zu kombinieren und um spezielle trabajos [rituelle Arbeiten] durchzuführen.“ (Goodman 2013: 21)21

20 Der Apostel St. Judas Thaddäus ist in Mexiko ein populärer Heiliger. Seine Verehrung wurde von der katholischen Kirche in der Vergangenheit teilweise aufgrund ihrer teils eigenwilligen und in den Augen der katholischen Kirche abweichenden Form kritisiert. In dem Heft „Novene des St. Judas Thaddäus“ [Novena a San Judas Tadeo], das in einer katholischen Kirche in Tijuana auslag, steht: „Die Verehrung des St. Judas Thaddäus ist in letzter Zeit zunehmend populär geworden. St. Judas Thaddäus wird mit großem Glauben angerufen, besonders in schwierigen und in verzweifelten Situationen. Aber, wie es oft geschieht, gab es Abweichungen und Übertreibungen im Aberglauben oder Götzendienst. So die bekannten "Ketten" [Kettenbriefe, auch per EMail], die weder Logik noch Wahrhaftigkeit haben und daher absolut verwerflich sind.“ (Moreno Bravo 2015: 2 [Übersetzung der Autorin]) 21 Im spanischen Original: „También existen imágenes de la Santa Muerte veteadas en los siete colores mencionados. Se utilizan para combinar las potencias que conllevan estos colores y realizar trabajos especiales.“ (Goodman 2013: 21) In einem anderen Praxisbuch heißt es über die mehrfarbigen Statuen: „Ihre Anziehungskraft sind die Tugenden aller oben genannten Ausstattungen der einfarbigen Figuren in z.B. Rot oder Grün, mit dem einzigen Unterschied, dass die Farben Lila und Silber hinzugefügt werden, wodurch die spirituellen Qualitäten positiv beeinflusst werden und auf präzise Zwecke fokussiert werden kann.“ (Anonym/B 2007: 18 [Übersetzung der Autorin])

124 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

Abbildung 25: Segment 1

Hinter der größeren Figur La Santa Muertes, die hinter dem Altar steht, ist ein Stück weißer, fließender Stoff angebracht, der von vorn betrachtet wie ein Umhang wirkt. Es entsteht der Eindruck, der Stoff würde La Santa Muerte Flügel verleihen. Die Darstellung erinnert an Engelsdarstellungen. In einem Interview und während einer Messe in einer anderen Kirche vertritt Lautaro die Position, La Santa Muerte sei ein biblischer Todesengel. Die Klinge der Sense der größeren Figur La Santa Muertes kann als ein über ihrem Kopf arrangierter Heiligenschein gesehen werden. In dem Altaraufbau ist La Santa Muerte von Lautaro als Dramaturg des abgebildeten Raumes anschließend an den Katholizismus interpretiert und zugunsten einer Anschlussfähigkeit an den Katholizismus inszeniert. Aber nicht nur La Santa Muerte wird zugunsten einer Anschlussfähigkeit an den Katholizismus dargestellt, auch der Katholizismus wird im abgebildeten Kirchenraum moduliert und so interpretiert, dass er einen Rahmen bildet, in den La Santa Muerte als zentrale Figur integriert werden kann. Der Altar und die größere Figur La Santa Muertes sind von zwei Holzkreuzen mit Jesusfiguren flankiert. La Santa Muerte flottiert übertragen also keineswegs frei umher, sondern ist in einen katholischen Rahmen eingefasst und durch diesen legitimiert. Während in katholischen Kirchen und auf Altären in diesen Kirchen Jesus üblicherweise eine zentrale Stellung zukommt, sind hier zwei Jesusabbildungen zu sehen, die als Rahmen die im Vergleich zu ihnen zentralere Figur La Santa Muertes einfassen.

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In dem Segment steht auch eine von den bis zu den Kreuzen reichenden Blättern einer rankenden Pflanze umgebene Figur St. Judas Thaddäus. Die Figur wirkt durch die Pflanze, mit ihrem grünen Umhang und in ihrer Positionierung organisch mit dem Gesamtarrangement verbunden.22 Die rankende und die Elemente am Altar verbindende Pflanze als Metapher nutzend, kann man sagen, dass der Katholizismus hier „organisch wachsend, rankend und lebendig“ ist, indem er verschiedene Heiligenfiguren umfasst. In Anlehnung an Goffman liegt eine Modulation23 eines katholischen Rahmens vor. Die dramaturgischen Kunst22 Gefragt, ob er La Santa Muerte und St. Judas Thaddäus nach Zuständigkeitsbereichen unterscheide und ihn für andere Dinge anrufe als sie, widerspricht Lautaro der Idee einer Differenzierung der Figuren nach ihren Funktionen. Er macht eine Gleichzeitigkeit und Bedeutsamkeit beider Figuren wegen seiner persönlichen Bindung an sie stark: „Ich bin Anhänger von St. Judas. Es gab eine Zeit, in der er mir sehr geholfen hat. Das war noch bevor ich wusste, dass ich einen Auftrag von der Santa Muerte habe. Ich wandte mich an Jesus.“ Unter Lachen fügt er hinzu, „da schien mir, dass ich mir lieber einen Anwalt nehmen sollte und ich nahm mir St. Judas zum Anwalt. Er ist der Cousin von Jesus, die beiden haben viel gemein. Eine andere Person, die ich sehr bewundere, ist Judas Iscariote, aber von dem habe ich hier keine Figur.“ (Judas Iscariote ist ein Jünger Jesu, „der nach den synopt. Passionsgesch. seinen Meister ‚mit einem Kuß‘ verraten hat (Lk 22,48; vgl. Mk 14,45 par. Mt 26,49; diff. Joh 18,2–12). Der Beiname ‚Iskarioth‘ wird z.T. als Hinweis auf eine Nähe dieses J. (wie des Simon Kanaanäus) zu den Zeloten gedeutet (von lat. sicarius ‚Dolchmann‘), z.T. als Hinweis auf seinen Verrat (von aram. saqqar ‚der Falsche‘), aber mit besseren Gründen meist als Hinweis auf seinen Herkunftsort (von hebr. isch-kerijot ‚der Mann aus Kariot‘); dann wäre J., soweit bekannt, der einzige Judäer im Zwölferkreis.“ (Söding 2011)) Dann wird Lautaro ernst und kommt auf den im Kirchenraum nicht dargestellten San Judas Iscariote zu sprechen und nennt eine Eigenschaft, die dieser mit La Santa Muerte, die ebenso „ihre Arbeit“ machen müsse, teile, „er ist kein Verräter, okay? er erfüllte die Mission, die Jesus ihm gegeben hat“ (In der „Novene des St. Judas Thaddäus“ heißt es dazu: „Der Heilige trägt den Beinamen Thaddäus, um ihn von dem anderen Judas, Judas Iskariote, zu unterscheiden, welcher den Herrn verraten hat.“ (Moreno Bravo 2015: 1 [Übersetzung der Autorin])), so Lautaros Lesart. 23 Goffman führt in Bezug zu Gregory Bateson einen seiner zentralen Begriffe zum Umgang mit Rahmen ein, den der Modulation. Er schreibt, die „Bemerkungen über das Spiel bei Tieren [– Bateson (1972) hatte Spiel und „rahmen“ bei Ottern untersucht –] leiten zwanglos zu einem Hauptbegriff der Rahmen-Analyse über: dem des Moduls (key). Darunter verstehe ich das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas

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griffe Lautaros bei seiner Interpretation und Inszenierung La Santa Muertes werten die Figur des gekreuzigten Jesus ab, indem dieser seine zentrale Stellung verliert und an seiner Stelle La Santa Muerte im Zentrum platziert ist. Lautaros dramaturgische Kunstgriffe bilden gleichzeitig eine Brücke zwischen diesem Katholizismus und La Santa Muerte. In dem Segment werden die magischen Fähigkeiten La Santa Muertes und die Bedeutung von Ritualen in der Verehrung in den verschiedenen Gegenständen auf dem Altar sichtbar. So liegt auf dem Altar eine Reihe roter bzw. orangener Äpfel. Neben ihrem dekorativen Wert kommt den Äpfeln eine rituelle und magische Bedeutung zu. Lautaro erklärt: „Sie stellen eine gute Energie sicher ganz anderes gesehen wird. […] Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation“ (Goffman 1977: 55f.) Wenn der Sinn primärer Rahmen in etwas transformiert wird, das zwar das Muster des primären Rahmens verwendet, aber unabhängig von ihm verläuft, bezeichnet Goffman diese Transformation rahmenanalytisch als Modulation. Einige grundlegende Arten von Modulationen sind „So-Tun-als-ob, Wettkampf, Zeremonie, Sonderausführung [und] In-anderen-Zusammenhang-Stellen“ (Goffman 1977: 60, siehe auch Knoblauch 2001: 26ff.). Wenn ein Vorgang durch einen primären Rahmen organisiert ist, kann er auf „zwei grundlegende Arten transformiert, repliziert werden, deren jede die Welt mit einer Vielzahl von Kopien bevölkern konnte: durch Modulationen und durch Täuschungsmanöver. Wie auch immer das ‚Wirkliche‘ beschaffen ist, es kann auf diese beiden Weisen umgeprägt werden.“ (Goffman 1977: 176) Für die Analysen der Verehrung La Santa Muertes ist der Begriff der Modulation vorrangig von Bedeutung. Über die Täuschungsmanöver sei der Vollständigkeit halber angemerkt, dass sie wie Modulationen „eines Urbilds, das selbst bereits innerhalb primärer Rahmen sinnvoll ist [, bedürfen]. Doch während eine Modulation darauf abzielt, daß alle Beteiligten zur gleichen Sicht dessen kommen, was vor sich geht, ist ein Täuschungsmanöver auf Unterschiede angewiesen.“ (Goffman 1977: 99) Die Täuschung ist ein „böswilliger Plan“, „das bewußte Bemühen eines oder mehrerer Menschen, das Handeln so zu lenken, daß einer oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht“ (ebd.: 98).Wenn Modulationen von Rahmen vorliegen, empfiehlt Goffman, „einen Rahmen an hand seines Randes zu bezeichnen, also als ‚Proben-Rahmen‘, ‚Aufführungs-Rahmen‘ usw.“ (Ebd.: 97) Daraus folgt, dass „oft nicht der Rahmen als ganzes beschrieben wird, sondern nur die in ihm enthaltene Modulation“ (ebd.), inklusive Mehrfachmodulationen und komplexer Transformationen (siehe dazu weiter ebd.: 176ff.). Goffman geht es mit seiner Rahmenanalyse in erster Linie um die Herausarbeitung solcher komplex strukturierten Rahmen. „Ihn interessieren vor allem die Rahmen und ihr Modulationen, sofern sie in Interaktionen für die Beteiligten erzeugt werden, gewissermaßen kollektive Transformationen der Wirklichkeit.“ (Knoblauch 2001: 28)

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und helfen unsere Wünsche zu erfüllen.“ In einem der Praxisbücher der Verehrung heißt es in einem Abschnitt über Altargestaltung und Gaben an La Santa Muerte: „Früchte: Die, die Sie zur Hand haben, am besten jedoch rote Äpfel, da diese die Fähigkeit haben, schlechte Energien einzufangen; Tauschen Sie die Äpfel aus wenn nötig.“24 (Anonym/A 2007: 30) In einem anderen Praxisbuch heißt es: „Jede Frucht, die du dich der Santísima Muerte darzubieten entscheidest, sollte frisch sein. Im Allgemeinen werden Äpfel verwendet (rote haben die Kraft, schlechte Energien einzufangen und gelbe sind mit Geld verbunden), zwei oder drei sind genug. Sobald die petición gestellt wurde und sie eine Nacht mit dem Bild Santa Muertes verbracht hat, kannst du die Frucht essen; wirf sie niemals weg.“25 (Garibay Díaz 2007: 20)

Daran lässt sich die lebenspraktische und alltagspraktische Anschlussfähigkeit der Rituale mit La Santa Muerte erkennen. Die Verehrung Santa Muertes kann mit Alltagsgegenständen wie essbaren Äpfeln gestaltet werden und ist gleichzeitig nicht verschwenderisch. Die Verehrungspraxis ist insofern auch mit einer knappen Ressourcenausstattung der Gläubigen vereinbar. Auf dem Altar steht noch eine dritte Figur La Santa Muertes: Eine Schwarze. Schwarze Figuren eigenen sich, wenn es um die Abwehr von Bösem und von Flüchen geht oder, wenn Rituale zum Erlangen von Dominanz über Andere durchgeführt werden sollen.26 In einem der Praxisbücher steht zur Bedeutung der Figuren in dieser Farbe: „Schwarz: Totaler Schutz in unserem Haus oder Geschäft, verhindert den Eintritt jeder Art trabajo, seien es schwarze Magie oder dunkle Kerzenwachen gegen die Familie oder ein 24 Im spanischen Original: „Frutas: Las que sean de su agrado, dando preferencia a las manzanas rojas, ya que éstas tienen el poder de captar energías negativas; reemplácerlas cuando sea necessario.“ (Anonym/A 2007: 30) 25 Im spanischen Original: „Cualquier fruta que decidas ofrecer a la Santísima Muerte debe ser fresca. Generalmente se echa mano a las manzanas (las rojas tienen el poder de captar energías negativas, y las amarillas se relacionan al dinero), usar dos o tres es suficiente. Una vez hecha la petición y haya pasado una noche con la imagen, puedes comer la fruta; nunca la tires a la basura.“ (Garibay Díaz 2007: 20) 26 Die Fähigkeit der schwarzen Figuren La Santa Muertes zur Abwehr von schlechten Energien und Flüchen, auch solche die z.B. durch Rituale afroamerikanischer Religionen gesendet wurden, findet sich auch auf der Ebene der Aufführung beim Mitternachtskult in Los Angeles wieder. Weil es dort um die Abwehr von Bösem und die Erlangung von Dominanz geht, wird die schwarze Santa Muerte angerufen.

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Geschäft, befreit von spirituellen trabajos, die Schaden anrichten wollen, sei es von Palo Mayombe [Synonym für Palo Monte], Voodoo und Santería.“27 (Anonym/B 2007: 18)28

Mit der schwarzen Figur La Santa Muertes auf dem Altar ist somit auch ein Bezug zu Ritualen afroamerikanischer Religionen und der Abwehr jedweder Flüche und schlechter Energien hergestellt. Des Weiteren gibt es auf dem Altar zwei Gläser, die als Kelche im Ritual der Messe genutzt werden und schön anzusehen, als Massenware jedoch nicht besonders wertvoll sind. Außerdem steht im rechten Bereich des Altars ein aufgeschlagenes Buch mit einem Pentagramm29 auf dem Einband, das von hinter dem 27 Im spanischen Original: „Negro: protección total, En nuestra casa o negocio, evade que entre cualquier tipo de trabajo, ya sea de magia negra o velaciones obscuras en contra de la familia o en un negocio, libera de obras espirituales que le quieran perjudicar, ya sé de Palo Mayombe, Vudú y Santerías.“ (Anonym/B 2007: 18) 28 „Als Santería oder la religión bezeichnen die Anhänger in Kuba ein Konglomerat von verschiedenen Kulturen wie Espiritusmo, Regla de Ocha (bzw. Santería) und Palo Monte [Palo Mayombe]. [...] Die Gläubigen unterschieden diese Kulte als campos, Felder, aber gleichzeitig sehen sie sie als aufeinander aufbauend an. Diese Gesamtheit bezeichnen sie auch als la religión. Santería heißt wörtlich Heiligenglaube; so nannte die katholische Kirche in Kuba einst abschätzig die afroamerikanischen populären Glaubensvorstellungen und Praktiken. Die Anhänger haben sich den Begriff Santaría inzwischen angeeignet.“ (Kummels 2010: 319) „Die Santería wurde in den 1930er Jahre[n] von der Mainstream-Gesellschaft Kubas, die sich als weiß definierte, als brujería (wörtlich Hexerei) und Aberglaube der schwarzen Unterschicht abgestempelt. Man grenzte sie somit aus den institutionellen Kontexten von Religion, insbesondere der katholischen Kirche, aus.“ (Ebd.: 329) Siehe zu Santería in Mexiko Argyriadis/Juárez Huet 2007 und zu Verbindungen der Verehrung La Santa Mertes mit Santería in Veracruz Torre/Argyriadis 2012 und Flores Martos 2019: insb. 94. „Since around the 2005, the iconography, symbolic values, and aesthetic emphasis of this cult have undergone varied and significant mutations and transformations, among them currents of transformation in Veracruz and Mexico City that we might identify as […] hybridization with, and within, santería.“ (Ebd.) Um die Verbindung der Verehrung La Santa Muertes mit anderen religiösen Traditionen und Praktiken bestehen auch Deutungskämpfe. So schreibt Huffschmid, die Betreiberin eines Straßenaltars La Santa Muertes in Mexiko-Stadt im Stadtteil Tepito, Doña Queta, „does not tolerate any Santería, that is, witchcraft or healers. As she explained, this is to avoid potential confusions with black magic.“ (Huffschmid 2019: 129) 29 „Pentagrams are among the most widely used religious symbols, both historically and cross-culturally. Some researchers believe that the pentagram originated as the symbol

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Altar aus gelesen werden kann. Zur Deutung des Pentagramms liegt keine Erklärung Lautaros vor. Es wird stattdessen Bezug genommen auf ein Interview mit José, der in der Kirche im Süden von Los Angeles profe ist und dort mit Klebeband ein Pentagramm auf dem Fußboden des Altarraums angebracht hat. José erklärt, „dieses Sternchen nennt sich Pentagramm. Über diesem Symbol kannst du sowohl für das Gute wie auch für das Schlechte arbeiten, es kommt darauf an, wie du es platzierst.“ Josés Erklärung der magischen Bedeutung des Symbols auf das Abgebildete übertragend, zeigt das Buch auf dem Altar den Anwesenden symbolische eine Ambivalenz in der Möglichkeit, für das Gute wie auch für das Schlechte eingesetzt werden zu können und entsprechend das (Ritual-)Wissen und Charisma30 Lautaros, der mit dem Buch umgehen kann. Segment 2+3 Der violett-weiße Baldachin in Segment 2 (keine eigene Darstellung, siehe Abbildung 26) wirkt wie eine mit einfachen Mitteln gestaltete, feierliche Einfassung einer Bühne. Eine solche Einfassung schmückt und grenzt üblicherweise den Bereich einer Bühne von dem der Zuschauer*innen ab.

of a pagan goddess. […] The pentagram is also used by the Masonic order, which traces its origins back to Pythagoras and ancient Greece. The pentagram was associated with the Hebrew Scriptures as a symbol of the five books of the Pentateuch (the Torah). Early Christians used the symbol with a variety of meanings, including the representation of the five wounds of Christ and the star that prophesied the birth of Jesus. It was during the Witchcraze […] that the pentagram began to take on a connotation of evil. During this time the symbol was actually referred to as the ‚witch’s foot.‘ This association with evil became stronger for many when twentieth century Satanists adopted the pentagram as their symbol. […] Most recently, the symbol has been adopted by Wiccans, members of a Neo-Pagan religion that is reviving pre-Christian religious practices. […] For some Wiccans the pentagram represents earth, air, fire, water, and spirit; for others it refers to the four directions and spirit.“ (Stein/Stein 2008: 60f.) 30 In einer pragmatischen Ablaufgestalt der Charismatisierung käme Lautaro die Position des Propheten zu und den Teilnehmer*innen die der Gefolgschaft. Lautaro lehnt die Frage der Forscherin, ihr das Buch zu zeigen, ab, was sich als Lautaros Darstellung von Professionalität und Charisma deuten lässt. Er ist derjenige, der exklusiv in dem Buch lesen und mit dem Inhalt umgehen kann, andere nicht.

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Abbildung 26: Segment 2+3

Als Zuschauer*innen sitzen in Segment 3 (keine eigene Darstellung, siehe Abbildung 26) auf komfortablen und mit weißem Stoff überzogenen Stühlen, eine übergewichtige Frau und ein Kind in Alltagskleidung. Das Kind trägt eine Mütze, die Frau ein Sweatshirt. Sie hat ihren Kopf gehoben und blickt nach vorn in Richtung des Bereichs, den der Baldachin einfasst und von ihrem Bereich abgrenzt. Die Segmente 1 und 2 (Abbildung 26) ergeben zusammengenommen eine typische Ansicht aus dem Publikum bei Aufführungen in Richtung einer Bühne. Das Publikum, die Frau und das Kind, erscheinen entsprechend ihrer Position im Zuschauer*innenbereich und mit Blick auf die Bühne eher passiv. Gesamtgestalt und Zusammenfassung der Analyseergebnisse Die Zuschauer*innen blicken kurz vor Beginn der Messe zum Altar mit den Äpfeln, Schalen, dem Buch und den Figuren La Santa Muertes, die in einen „organisch wachsenden, rankenden und lebendigen“ katholischen Rahmen gestellt sind (Abbildung 27).

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Abbildung 27: Gesamtgestalt

Silke Müller, 2016

Diese Bühne der Verehrung La Santa Muertes zeichnet sich dadurch aus, dass der Katholizismus, in dessen Rahmen La Santa Muerte eingebunden wird, erweitert und umgeformt ist. Das Schlagen von Brücken zwischen La Santa Muerte und der Ritualpraxis mit La Santa Muerte und dem erweiterten katholischen Rahmen leistet dabei der Dramaturg Lautaro, indem er den katholischen Rahmen moduliert und indem er La Santa Muerte in einer Weise interpretiert und darstellt, die es ermöglicht, sie in diesen weiten katholischen Rahmen einzufügen. Bezogen auf die Frage nach dem sozialen Hintergrund der Emergenz der Verehrung La Santa Muertes lässt sich festhalten, dass der hier abgebildete Altarraum von einer Bindung derjenigen, die diesen Altarraum hervorbringen und ihn nutzen, an einen tradierten, aber grundsätzlich eher offenen, „organisch gewachsenen“ Katholizismus zeugt. Der Dramaturg Lautaro gestaltet die Bühne der Verehrung La Santa Muertes ohne Mitwirken der Besucher*innen der Messe auf den Stühlen. Der Rahmen wird insofern von ihm erzeugt und für Andere bereitgestellt.

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ZUSAMMENFASSUNG DER ANALYSEN DER BÜHNEN Zusammengenommen lässt sich anhand der Fotografien der Altarräume ein Spektrum der Verehrung La Santa Muertes ausmachen. Innerhalb des Spektrums bestehen Unterschiede im Grad und in der Weise der Integration La Santa Muertes in tradierte katholische Religiosität. Außerdem lassen sich Unterschiede im Organisationsgrad der Verehrung in den Kirchen ausmachen. Für eine Verbundenheit mit tradierter katholischer Religiosität, aber gleichzeitig auch für deren Modulation, ist der Altarraum nahe Tijuana emblematisch. Dort bildet ein umgedeuteter Katholizismus einen Rahmen, in den La Santa Muerte und die Verehrungspraxis eingebettet werden. Auch in den Altarräumen in Los Angeles und Guadalajara sind Bezüge zum Katholizismus zu finden, etwa indem Elemente aus der katholischen Bilder- und Symbolwelt in die Arrangements eingebracht sind und indem die Verehrung La Santa Muertes als Heilige der Form der katholischen Heiligenverehrung nahe ist. Kulturindustrielle und popkulturelle Elemente sind auf allen Bühnen der Verehrung La Santa Muertes in divergierendem Maße zu finden. Am deutlichsten treten sie in dem Altarraum in Los Angeles hervor. Dort wird außerdem eine Ästhetik des Massenhaften oder eine „Ästhetik des Supermarktes“ sichtbar. Wenn man die abgebildeten Altäre und Altarräume als Ausdrucksgestalten einer vernacular religion oder von lived religion versteht, lässt sich noch einmal betonen, dass dem Abgebildeten ein hohes Maß an Selbstorganisation zugrunde liegt. Die Erschaffung dieser Orte religiöser Praxis geschieht bottom-up und nicht allein top-down durch Dramaturg*innen. Stärker als das in Hinblick auf die anderen beiden Altarräume zutrifft, ist der Altarraum nahe Tijuana von dem Dramaturgen Lautaro gestaltet. Dort besuchen die Gläubigen einen vornehmlich von Lautaro geschaffenen und bereitgestellten Altarraum. Auch in dieser Kirche wurden jedoch bei anderer Gelegenheit Rituale durchgeführt, deren Ergebnisse sich in vor dem Altar aufgestellten und dort mehrere Tage verbliebenen Kerzen, Saaten und Münzen der am Ritual Teilnehmenden zeigten. Weniger stark durch Dramaturg*innen gestaltet sind die Altäre in Los Angeles und in Guadalajara. Dort bleiben von den Performances der Gläubigen Artefakte zurück, welche die Bühnenbilder mitbestimmen. Die Bühnen der Verehrung zeigen insofern auch die variierende Bedeutung der (charismatischen) Dramaturg*innen, die über den Aufbau der Bühnen bestimmen können. Jedoch determiniert ihre Arbeit die Beschaffenheit der abgebildeten Bühnen der Verehrung La Santa Muertes nicht. Während Flores Martos darauf hinwies, Rituale mit La Santa Muerte an Hausaltären oder Altären in Geschäften seien individualistisch, „magical-religious in nature, and the agent of the cult is the individual, with little or no intervention by

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any intermediary or ritual specialist“ (Flores Martos 2019: 90), zeigt sich anhand der Analysen der Bilder der Altarräume in Kirchen, dass den Professionellen der Verehrung La Santa Muertes bei der Gestaltung dieser Bühnen und Bühnenbilder eine gewichtige Rolle zukommt. Wie die Bildanalysen ergeben, gestalten die gewöhnlichen Gläubigen La Santa Muertes im Sinne von lived religion und vernacular religion zwar die Verehrung selbst, jedoch nicht unabhängig von anleitenden und gestaltenden Professionellen. Anhand der Fotografien der Bühnen der Verehrung La Santa Muertes lässt sich auch der Modus der Erschaffung der abgebildeten Bühnen der Verehrung La Santa Muertes durch Gläubige und Dramaturg*innen rekonstruieren. Die Praxis, die der Entstehung der Altarräume und der Artefakte im Raum zugrunde liegt, kann als eine Form der „bricolage“ nach Claude Lévi-Strauss, beschrieben werden.31 „In seinem ursprünglichen Sinn läßt sich das Verbum bricoler auf Billard und Ballspiel, auf Jagd und Reiten anwenden, aber immer, um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen: die des Balles, der zurückspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen. Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind.“ (Lévi-Strauss 1973: 29)32

31 Pansters weist in Bezug auf die Analyse von religiösen Veranstaltungen der Verehrung La Santa Muertes ebenfalls auf als bricolage zu bezeichnende Vorgänge hin: „[R]ecent studies indicate that the cult has developed an emerging ´shared´ ritualistic and liturgical framework that leaves room for local specificities and bricolage.“ (Pansters 2019: 27) 32 Jacques Derrida nimmt Lévi-Strauss Begriff in Bezug auf sein eigenes Thema Diskurs auf und spricht vom Mythos dieses Fachmanns, wodurch der Beigeschmack der Einfachheit, der nicht-Adäquanz der Mittel, der dem Begriff der bricolage, verstanden als „Herumbastelei“, anhaftet, von Derrida kritisiert wird: „If one calls bricolage the necessity of borrowing one’s concepts from the text of a heritage which is more or less coherent or ruined, it must be said that every discourse is bricoleur. The engineer, whom Lévi-Strauss opposes to the bricoleur, should be the one to construct the totality of his language, syntax, and lexicon. In this sense the engineer is a myth […]. [T]he odds are that the engineer is a myth produced by the bricoleur. As soon as we cease to believe in such an engineer and in a discourse which breaks with the received historical discourse, and as soon as we admit that every finite discourse is bound by a certain bricolage and that the engineer and the scientist are also writing and difference species

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Für John Clarke, der den Begriff der bricolage für eine Untersuchung von Subkulturen und Stilen fruchtbar macht, ist bricolage ein schöpferischer Vorgang der „Neuordnung und Rekontextualisierung von Objekten, um neue Bedeutungen zu kommunizieren, und zwar innerhalb eines Gesamtsystems von Bedeutungen, das bereits vorrangig und sedimentierte, den gebrauchten Objekten anhaftende Bedeutungen enthält“ (Clarke 1979: 136).33

In den abgebildeten Kirchenräumen werden jeweils verschiedene Elemente, Katholizismus (Heiligendarstellungen, Rosenkranz, Kreuze, Jesusdarstellungen), Popkultur und Massenware (Plastikblumengesteck, massenproduzierte Figuren La Santa Muertes, Plastikskelette) und in Guadalajara auch der Bezug zum präkolonialen Mexiko (Piedra Del Sol) in einer Form der bricolage zusammengestellt und wie es besonders die große, in den Himmel reichende rote Figur La Santa Muertes aus Pappmaché in Guadalajara versinnbildlicht, zu etwas Neuem – auch im wörtlichen Sinne – zusammengebastelt. Dem Konzept der bricolage kommt auch in einigen Studien, die sich mit einem Konzept von creolité auseinandersetzen, eine zentrale Stellung zu. Deren Erkenntnisse lassen sich auch auf bricolage als einen zugrundeliegenden Modus der Erzeugung von Figuren La Santa Muertes und Arrangements ihrer Verehrung übertragen. Wendy Knepper schreibt beispielsweise: „Creolization can be seen enacted through bricolage as the art of the disparate and fragmentary: the art of adopting and adapting multiple concrete fragments or artifacts as well as elements of imaginative, ideological, cultural, social, or religious practices, experiences, and beliefs.“ (Knepper 2006: 73)

Creolité steht mit bricolage als einem Modus ihrer Hervorbringung in engem Bezug zur Erfahrung der Kolonialisierung. Knepper fasst ihre Argumentation wie folgt zusammen: of bricoleurs, then the very idea of bricolage is menaced and the difference in which it took on its meaning breaks down.“ (Derrida 1978: 285) 33 Bei der Entstehung neuer Stile beziehen sich Vorgänge von bricolage in diesem Sinne auf bereits vorliegendes und altes. „Die Schöpfung kultureller Stile umfaßt […] eine differenzierende Selektion aus der Matrix des Bestehenden. Es kommt nicht zu einer Schaffung von Objekten aus dem Nichts, sondern vielmehr zu einer Transformation und Umgruppierung des Gegebenen in einen neuen Kontext und einer Adaption.“ (Clarke 1979: 138)

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„[B]ricolage is an improvisational, adaptive reuse in face of the negative forces of colonization. For bricolage to serve its full potential as an art of living (and not merely survival) demands ongoing efforts to reconstitute memory, which sometimes means an examination of traumatic moments in history, in order to engage in a transformative, dialogic process for recreating and ‚re-membering‘ one’s place in the world. Bricolage can be seen as the transformation of cultural disinheritance into a strategy of resistance, ‚re-membering‘ and creative self- determination, but only through intensive critical and imaginative effort.“ (Ebd.: 84f.)

Bricolage kann in diesem Sinne als ein Modus der Erschaffung La Santa Muertes und der Bühnen ihrer Verehrung verstanden werden, der sich in den auf den Fotografien abgebildeten Räumen, in den Figuren La Santa Muertes und in den Artefakten der Rituale materialisiert. Durch bricolage entstanden, sind die Arrangement der Altarräume und die einzelnen Figuren La Santa Muertes neue und eigene, zugrundeliegende Elemente inkorporierende Gebilde und eklektische oder synkretistische Rahmen der Verehrung. Diejenigen, die als bricoleure wirken, verfügen über ein mestiza consciousness. Sie verfügen über verschiedene Rahmen und haben Zugang zu unterschiedlichen, den jeweiligen Rahmen entsprechenden Symbol- und Bilderwelten: Zu Massenmedien, Popkultur, kulturindustriellen Erzeugnissen und zur katholischen Bilderwelt. Diese in ihrer Symbolik, ihren Sinngehalten und Sinnbezügen sehr unterschiedlichen Elemente sind in den abgebildeten Altarräumen jeweils zusammengeführt und integriert. Sie sind zu einer Einheit in der Verehrung La Santa Muertes zusammengebracht. Die einzelnen zugrundeliegenden Elemente aus verschiedenen Symbol- und Bilderwelten sind dabei jeweils in neue Zusammenhänge gestellt. In Los Angeles sind beispielsweise popkulturelle Elemente in einen religiösen Zusammenhang gestellt oder andersherum ist die Heiligenverehrung in einen eher alltäglichen und popkulturellen Rahmen platziert. In Anlehnung an Goffman lässt sich dieses ineinen-anderen-Zusammenhang-Stellen als eine Form der Modulation deuten. Es lässt sich erneut die These vertreten, dass die durch Modulation und bricolage geschaffenen Bühnen der Verehrung La Santa Muertes Integrationsdefizite der sie gestaltenden Subjekte zum Hintergrund haben. Die die Bühnen gestaltenden Subjekte sind nicht eindeutig in bestehende Rahmen, Bilder- und Symbolwelten integriert, sondern verfügen im Sinne des mestiza consciousness über Kompetenzen zur (Re-)Kombination, Modulation und bricolage mit bestehenden und für sich jeweils einheitlichen Rahmen. Aus Sicht von Subjekten, die in eine oder mehrere der für sich jeweils einheitlichen Symbolwelten (z.B. Katholizismus und Heiligenverehrung oder Popkultur) gut integriert sind, wäre es nicht sinnvoll, die verschiedenen Bezüge und Symbole in einer Weise, wie sie in den Fo-

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tografien dokumentiert ist, zu kombinieren und zu fusionieren. Schließlich wäre aus ihrer Sicht jeder der zugrundeliegenden symbolischen Bezüge und jeder der zugrundeliegenden Rahmen bereits in sich einheitlich, geschlossen, kohärent, sinnvoll und bekannt. Indem die zugrundeliegenden Bezüge in den abgebildeten Altarräumen in einer Weise (re-)kombiniert werden, die sich von einem Standpunkt der einzelnen Symbol- und Bilderwelten aus ausschließen würde, werden die einzelnen Elemente (Heiligenverehrung, Katholizismus, Popkultur, Supermarkt) gewissermaßen subversiv unterlaufen. Durch das in-einen-anderenZusammenhang-stellen, durch die Modulation und durch die Integration der verschiedenen Elemente zu einem jeweils neuen Rahmen werden die einzelnen Rahmen mit ihren Symbolgehalten aufgebrochen und umgeformt. Ihr Eigensinn wird durch den neuen Zusammenhang und die Nähe zu den verschiedenen Elementen abgewandelt. Es entstehen neue Rahmen, die für die Subjekte, die sie schaffen, ästhetisch, kohärent, passend und eigen sind. Sie sind eigens zusammengestellte (Re-)Kombinationen aus Bestehendem. Die Altarräume sind dann nicht einfach „nur“ synkretistisch oder eklektisch: Sie verweisen da sie in divergierendem Maße auf eine den Bühnen zugrundeliegende, komplexe synkretistische oder eklektische Praxis, deren Artefakte die Altarräume mit ihren Arrangements bilden. Der Praxis müssen dabei Bewusstseinsformationen, eine Form von mestiza consciousness, der Subjekte zugrunde liegen, die es den Subjekten ermöglicht, die jeweils abgebildeten Bühnen hervorzubringen. Ein wichtiger Aspekt dieses mestiza consciousness besteht zusammengenommen in einer – noch einmal zu betonenden – Kompetenz der Gläubigen La Santa Muertes als Modulierende und bricoleure zu agieren. Sie verfügen über ein Bewusstsein, das verschiedene Rahmen und verschiedene Symbol- und Bilderwelten kennt. Dabei sind sie in der Lage, diese verschiedenen Rahmen, Symbol- und Bilderwelten in einer Art zu modulieren und zu (re-)kombinieren, sodass etwas aus ihrer Sicht Kohärentes und Eigenes entsteht. Es sind einerseits diese Fähigkeiten zur (Re-)Kombination und Modulation der bestehenden Rahmen und andererseits ein bestehender Bedarf, ein Grad der Desintegration in bestehenden Rahmen, die diese Erschaffung des Neuen bedingen. Damit – und hier ergibt sich das gleiche Ergebnis wie bei der exemplarischen Analyse der Figur La Santa Muertes in der Einleitung – sind die Bühnen und Bühnenbilder der Verehrung La Santa Muertes ebenso wie die Figur selbst, milieuspezifische Hervorbringungen, Ausdrücke, Symbole und Sichtbarmachungen des Milieus der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes selbst.

Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit

Milieus teilen ein gemeinsames Schicksal und gemeinsame Sozialisationserfahrungen. Die Schicksals- und Sozialisationsgemeinsamkeiten der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes werden im Folgenden, vorwiegend basierend auf Einzelinterviews mit Gläubigen La Santa Muertes, als Milieuerfahrungen rekonstruiert und bestimmt. Die vier rekonstruierten Milieuerfahrungen, Erfahrungen der Bildungslosigkeit, von Anomie und Stigma, sozialer Fragmentierung und prekärer Ordnung, sind typische Milieuerfahrungen. Empirisch variiert die Signifikanz der einzelnen Milieuerfahrungen je nach Anhänger*in und je nach nationalem Kontext Anhänger*innen La Santa Muertes, im Folgenden insbesondere Fernanda und Carlos, können anschließend an Untersuchungen zur Urbanisierung in Mexiko ab den 1950er-Jahren als Teil einer zweiten bzw. dritten Generation eines marginalisierten Milieus (Lomnitz 1975, Fagen/Tuohy 1972) bezeichnet werden. Lewis (1992) folgend leben sie in einer Kultur der Armut. Anschließend an Paul Lawrence Haber (2006: 10ff.), Susan Eckstein (1977), Wayne Cornelius (1975) und Jorge Montaño (1976) bilden sie die nächste Generation eines urbanen Armutsmilieus.1 Die Angehörigen dieses urbanen Armutsmilieus sind insofern

1

Bezogen auf die Urbanisierungsprozesse der 1970er Jahre haben Cornelius (1972) und Larissa Lomnitz (1975) die Gruppierung der „urban poor“ hinsichtlich ihrer politischen Aktivität und politischen Mobilisierbarkeit untersucht. Cornelius beschrieb, wie Haber zusammenfassend darstellt, die Neuankömmlinge in den urbanen Zentren Lateinamerikas, speziell auch Mexikos, als „fundamentally conservative, too fearful to risk dissent“ (Haber 2006: 10), während Lomnitz in ihren Studien ein „nearly complete lack of influence and control over urban and national institutions“ sowie eine „passivity among those few individuals who do belong to associations beyond reciprocity networks“ (Lomnitz 1977: 181, siehe auch Haber 2006: 10), ausmacht. Die gegenwär-

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marginalisiert, als „[d]ie zu diesem Lebenskreis [zu einer Kultur der Armut] gehörenden, [...] nur zum Teil in das Leben der Nation integriert [sind] und [...] am Rande der Gesellschaft [leben], auch wenn sie mitten in der Großstadt wohnen“ (Lewis 1992: 29).2 Den sozialen Hintergrund der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes bilden urbane Formen des Gemeinwesens. (Kollektive) Erinnerungen oder ein Wissen um eine rurale Herkunfts- und Familiengeschichte bestehen dabei auch bei denjenigen fort, die in urbanen Zentren geboren wurden. Fernanda erzählt, ihre Mutter stamme von einer rancho, und José und Lautaro sind auf ranchos aufgewachsen. Auch Esmeralda ist auf dem Land, im mexikanischen Staat Chihuahua aufgewachsen. Carlos Eltern kommen beide aus dem ländlichen Umland Guadalajaras. Miguels Eltern, die mit Miguel in Los Angeles leben, stammen aus einem Dorf im mexikanischen Staat Guerrero. Eine Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit ergibt sich für Anhänger*innen La Santa Muertes aus Zeiterfahrungen der Urbanisierung und (Arbeits)Migration. Hinzu kommt die Erfahrung eines familialen Hintergrundes, der durch erodierende ländlich-traditionale Familienstrukturen geprägt ist. Diese gehen im Zuge von Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen nicht vollständig in Schutz und ökonomische Versorgung garantierende Familienstrukturen und eine übergeordnete politische Vergemeinschaftungsform über. Vor dem Hintergrund dieser Milieuerfahrung greift La Santa Muerte in Situationen subjektiv und partikular ein, in denen sich aus der Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit milieuspezifische Risiken ergeben. Diese sind Schutzdefizite, die aus einer prekären ökonomischen Sicherung sowie eines fehlenden basalen Schutzes von Leib und Leben resultieren. Die Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit, wie sie im Folgenden zunächst vornehmlich anhand des Falls von Fernanda abgeleitet wird, ist nicht für alle interviewten Anhänger*innen La Santa Muertes eine gleichermaßen zentrale Erfahrung. Während sie für Gerson und Miguel eine weniger zentrale Bedeutung tige soziale Fragmentierung der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes reicht folglich weit zurück. 2

Benjamin T. Smiths historisch begründete These, nach der sich die Verehrung La Santa Muertes in einer weiteren, der von Rubin, Smilde und Junge als solche bezeichneten „zones of crisis“, „spaces of material deprivation, violence, and environmental destruction, as well as exclusions based on gender and ethnicity“ (Rubin/Smilde/Junge 2014: 10f.) entwickelte, und zwar, wie Smith schreibt, in „the poor, urban barrios of neoliberal Mexico“ (Smith 2019: 61), ist, das wird sich im Folgenden zeigen, auch aus transnationaler Perspektive auf die Verehrung La Santa Muertes in den USA und Mexiko zu übertragen.

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hat (bei ihnen stehen die Milieuerfahrungen von Anomie und Stigma und die Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung stärker im Vordergrund), ist sie für Fernanda und auch für Carlos eine überaus bestimmende Erfahrung. In den Herkunftsfamilien und in den Gründungsfamilien von Fernanda und von Carlos liegen keine strukturlogisch eindeutigen Formen erweiterter ländlich-traditionaler Familien mit positionalen Sozialbeziehungen (vgl. Jung 2014: insb. 247ff.) vor. Auch finden sich strukturlogisch keine vollständigen Kernfamilien innerhalb eines übergeordneten politischen Verbandes mit Diffusität (vgl. Oevermann 1979: insb. 162, Oevermann 2001d: 85ff., Oevermann 2012) als vorherrschender Form der Sozialbeziehung ihrer Mitglieder. Die Familiengebilde von Fernanda und Carlos liegen zwischen diesen beiden Formen und es entfalten sich weder die Bindungskräfte der einen noch der anderen Familienform vollständig. Webers (2010) Ausführungen zur Hausgemeinschaft und zum Modernisierungsprozess dienen im Folgenden als Heuristik, anhand derer sich die der Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit zugrundeliegenden familialen Organisationsstrukturen annäherungsweise herausarbeiten und beschreiben lassen. Die Heuristik wird durch die eingangs genannten Untersuchungen, die sich nicht auf Weber beziehen, zu Armut, Marginalität, Urbanität und Familie in Mexiko, aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, – dem Zeitraum, in dem die Eltern von Carlos, Fernandas Mutter etwas später, in das urbane Zentrum Guadalajara zogen, – erweitert.

HAUSGEMEINSCHAFT UND KERNFAMILIE IN DEN USA UND IN MEXIKO Die Sozialform der Hausgemeinschaft setzt nach Weber „einen gewissen Grad planmäßiger Ackerfruchtgewinnung voraus“ (Weber 2010: 277). In Hausgemeinschaften herrscht ein „Solidaritätsprinzip“ (ebd.: 278) und sie sind durch Autorität3 und Pietät4 gekennzeichnet. Die ökonomische Versorgung der Mitglieder einer Hausgemeinschaft ist im Sinne eines „Hauskommunismus“ (ebd.) als ein gemeinsamer Güterkonsum gestaltet.

3

„Der ‚Autorität‘ 1. des Stärkeren, 2. des Erfahreneren, also: der Männer gegenüber Frauen und Kindern, der Wehrhaften und Arbeitsfähigen gegenüber den dazu Unfähigen, der Erwachsenen gegenüber den Kindern, der Alten gegenüber den Jungen.“ (Weber 2010: 277)

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„Der ‚Pietät‘ sowohl der Autoritätsunterworfenen gegen die Autoritätsträger wie untereinander.“ (Weber 2010: 277)

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Die Lebensform5 als Kernfamilie6 in einem Haushalt ist im Gegensatz zur ländlich-traditionalen Hausgemeinschaft auf das moderne, städtische Erwerbsleben zugeschnitten, das auf dieser Familienform aufbaut bzw. ihr gegenüber in einem Bedingungsverhältnis steht. Im Zuge des Aufschwungs der Kernfamilie in Europa und den USA wurde insbesondere seit den 1950er und 1960er-Jahren die bürgerliche, gattenzentrierte Kernfamilie als Lebensform auch normativ zu einem Leitbild und Rahmen. Nach William J. Goode (1970) sind es Prozesse der Urbanisierung, Rationalisierung und Industrialisierung, in deren Fortschreiten die bürgerliche Kernfamilie zur vorherrschenden Lebensform wurde. Als Lebensform wurde die Kernfamilie in den USA dabei eine Norm, an der abweichende Lebensformen gemessen wurden. „‚Familie‘ [wurde] in den USA bis in die 1960er-Jahre hinein auch von Sozialwissenschaftlern mit einer weißen Mittelschichtfamilie (‚white middle class nuclear family‘) […] [gleichgesetzt]. Immigrantenfamilien, Arbeiterfamilien, mexikanisch-stämmige oder afroamerikanische Familien wurden dagegen als pathologische Abweichungen vom Familienideal der Mehrheitsgesellschaft betrachtet.“ (Heinemann 2015: 94)7

Auch in Mexiko ist die Lebensform der Kernfamilie gegenwärtig diejenige, von der als Norm ausgegangen wird. Jedoch kommt Verbindungen zwischen verschiedenen Familienformen, die sich seit der Kolonialisierung und unter der Be-

5

Mit Lebensformen sind in Anlehnung an Rahel Jaeggi „Bündel oder […] Ensemble sozialer Praktiken“ (Jaeggi 2014: 94) gemeint. „Diese umfassen Einstellungen und habitualisiertes Verhalten mit normativem Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie gleichzeitig nicht streng kodifiziert oder institutionell verbindlich verfasst sind.“ (Ebd.: 89)

6

Während Dorett Funcke und Bruno Hildenbrand als Kernfamilie eine spezifische Familienform bezeichnen, die sich in Westeuropa entwickelte (vgl. Funke/Hildenbrand 2018: 4, 17ff.), ist mit Kernfamilie (in Abgrenzung zur erweiterten Familie) hier eine Gründungseinheit aus Eltern und Kindern gemeint.

7

Das Familienleben der Migrant*innen aus Mexiko in den USA war insbesondere bis in die „1970er Jahre hinein stark vom Katholizismus und dem Konzept der Großfamilie geprägt […]. Diese beruhte zumindest formal auf einer starken Stellung des männlichen Familienoberhauptes und der Einbeziehung nicht blutsverwandter Paten (Traditionen des ‚Machismo‘ und ‚Compadrazgo‘), was Sozialexperten und Sozialreformern seit Jahrhundertbeginn Anlass bot, die mexikanisch-stämmigen Familien im Sinne der Mehrheitsgesellschaft umzuerziehen.“ (Heinemann 2015: 99f., vgl. Roesch 2012, 2013)

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dingung von „entangled modernities“8 (Therborn 2003, Randeria 1999, 2002) entwickelt haben, eine größere Bedeutung zu (vgl. Illanes Cienfuegos 2015: 125ff.). „Der familiäre Wandel spiegelt eher die vielen Verbindungen und Wechselspiele zwischen den verschiedenen Interpretationen von ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘, und er steht in einem geohistorischen und speziellen kulturellen Zusammenhang.“ (Ebd.: 130) Lomnitzs Studie „Networks of Marginality“ (1977) in der neu-urbanisierten shantytown Cerrada del Cóndor am Rande von Mexiko-Stadt ist eine Studie über den Wandel ländlicher Familienstrukturen im Mexiko der 1970er-Jahre unter der Bedingung der Urbanisierung. Die Kernfamilien,9 die Lomnitz in Cerrada del Cóndor vorfindet, sind in Haushalten organisiert, die nicht nur eine Kernfamilie umfassen, sondern erweiterte Familien.10 „The nuclear family in Cerrada del Cóndor should be carefully distinguished from the household. Most households contain an extended family, i.e., a social group that comprises two or more mutually related nuclear families, plus other unmarried kin.“ (Lomnitz 1977: 97)11 8

Im Unterschied zu Shmuel N. Eisenstadts „multiple modernities“ (Eisenstadt 2000), ist mit dem Begriff der entangled modernities betont, dass Modernen verstrickt sind. „[A]us einer nicht-eurozentrischen Perspektive umfasst die Idee der Moderne eine Reihe von Überlegungen, in denen sich gesellschaftliche Kräfte abbilden, Konflikte zwischen ‚Moderne‘ und ‚Anti-Moderne‘, aber auch verschiedene Ansichten über Vergangenheit und Zukunft.“ (Illanes Cienfuegos 2015: 129)

9

Lomnitz findet in ihrem Untersuchungsgebiet, anders als sie bei Carlos und Fernanda vorliegen, überwiegend vollständige und insofern stabile Kernfamilien vor (vgl. Lomnitz 1975: 103). Nur knapp ein Viertel ihrer untersuchten Kernfamilien ist „unvollständig“, d.h. Mitglieder der Kernfamilie fehlen (vgl. ebd., vgl. Lomnitz 1977: 97).

10 Der in der englischsprachigen Soziologie verbreitete Ausdruck der extended family, auf Deutsch erweiterte Familie, bezeichnet Familien „aus mindestens zwei mono- oder polygamen Familien, die durch eine oder mehrere konsanguine Beziehung(en) (z.B. Geschwister, die mit ihren Prokreationsfamilien zusammen im Haushalt der Eltern leben) miteinander verbunden sind“ (Wonneberger/Stelzig-Willutzki 2018: 495). „Erweiterte Familien sind als soziale Einheiten relativ stabil: Wenn die ältere Generation stirbt, gibt es mit größerer Wahrscheinlichkeit mehrere mögliche Nachfolger, die die Familie erhalten, als in Kernfamilienhaushalten […].“ (Wonneberger 2018: 189) 11 Solche erweiterten Familien in geteilten Haushalten gab es auch im ländlichen Raum der USA bis in die 1970er-Jahre: „Im ländlichen Maine war bis in die 1970er Jahre das Ideal einer wirtschaftlichen familiären Unabhängigkeit verbreitet. Da eine Farm oft jedoch nicht die gesamte Familie ernähren konnte, fuhren üblicherweise einige Familienmitglieder zeitweise zur See. Aufgrund wirtschaftlicher Schwankungen im Seehandel war dies jedoch ebenso wenig eine verlässliche Einkommensquelle, so dass

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Den Haushalt bestimmt Lomnitz allgemein „as the social group of individuals who share the same residence and who also share the same entrance or access to a residential unit“ (ebd.: 99). Der Begriff des Haushalts unterscheidet sich insofern von dem der Hausgemeinschaft nach Weber, als Haushalte weniger implikationsreich definiert sind und in ihnen nicht unbedingt Hauskommunismus herrscht. In der neu-urbanisierten Siedlung findet Lomnitz zwischen den Lebensformen der Kernfamilie und der Hausgemeinschaft liegende, erweiterte Familien, in denen Eigenschaften der Kernfamilie wie auch der Hausgemeinschaft ineinanderfließen. Nach Weber gilt in der Hausgemeinschaft „Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschaft der Alltagsgüter (Hauskommunismus) nach innen in ungebrochener Einheit auf Basis einer streng persönlichen Pietätsbeziehung“ (Weber 2010: 278). Die Hausgemeinschaft dient auf diese Weise denjenigen, die ihr angehören, als eine Sicherheitsgarantie. Lomnitz weist darauf hin, dass, sofern die Haushalte in ihrem Untersuchungsgebiet mehrere Kernfamilien umfassten, in der Regel zwar kein Güterkommunismus und kein gemeinsames Wirtschaften der Kernfamilien stattfanden, wohl aber der Raum (z.B. die Waschküche) gemeinsam genutzt wurde (vgl. Lomnitz 1977: 101f.). „Such a household […] may be forced to occupy several neighboring rooms with independent economic lives, even though their interaction may actually be more intense than before and the total space occupied by the household may have shrunk as compared to the rural situation.“ (Ebd.: 99)

Dabei stünden „Vorteile“ der Form der Hausgemeinschaft und „Vorteile“ der Form des Zusammenlebens als Kernfamilien in Haushalten in Balance, denn es werde sowohl die Schutzfunktion für alle Mitglieder des Haushaltes erfüllt als auch ein Vorteil aus der gemeinsamen Nutzung der Raumes und der Kooperation gezogen: „Thus, a joint household has a broad base of security resting on the cooperation between close kin with a certain amount of autonomy on privacy for each component nuclear family.“ (Ebd.: 102)

sich in vielen Farmhaushalten eine Kombination aus beiden Wirtschaftsformen etablierte. Nach der Hochzeit zog ein Paar entweder auf den Hof der Eltern des Ehemannes oder der Ehefrau, um dort zur Bewirtschaftung der Farm beizutragen, oder die Männer fuhren alternativ zeitweise zur See. Jede Kernfamilie lebte in einem separaten Haus auf dem Hof, aber alle bewirtschafteten die Farm zusammen und bildeten eine erweiterte Familie (Haviland 1973, zit. nach Haviland 1996, S. 258–259 [zitiert nach Wonneberger 2018: 189]).“ (Ebd.)

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Erich Fromm und Michael Maccoby finden im Rahmen ihrer Untersuchung „Social Character in a Mexican Village“ (Fromm/Maccoby 1970) in einem landwirtschaftlich geprägten Dorf in Zentralmexiko der 1960er-Jahre ein Spektrum von Haushalten vor, das dem von Lomnitz herausgearbeiteten in der urbanen Neugründung mit seinen erweiterten Familien ähnelt.12 Die Autoren stellen in ihrer Auseinandersetzung mit dem im untersuchten Dorf verbreiteten Alkoholismus13 die Erosion der ruralen Sozialform hervor (vgl. ebd.: 41ff.).14 Die Studie 12 Wie auch Lomnitz, finden Fromm und Maccoby in dem untersuchten Dorf Haushalte mit erweiterten Familien oder mehreren Kernfamilien vor, wobei sie (auch im Sinne eines Hauskommunismus nach Weber, jedoch ohne sich direkt auf Weber zu besziehen) stärker als Lomnitz die Praktiken gemeinsamen Wirtschaftens betonen. „The 417 adult villagers can be grouped into 162 households or economic units, composed of the household head, spouse (if any), and dependents (if any). In some of these households, grown children also work or earn money, but they contribute to the household unit. In other cases, an individual, sometimes a relative but possibly a servant or a paying broader, may live within the house or house site of a household unit without being considered part of their household. Such villagers (there are 11) are considered as separate household units. […] Of the 162 households, 79 (49 percent) own their house sites. Most of the others (42 percent) live on the house sites of parents, relatives, or commodations. Due to the shortage of land in the village, it is not uncommon to find a house site with two houses, one belonging to parents and another belonging to a married son and his family.“ (Fromm/Maccoby 1970: 45) 13 Ein ganzes Kapitel widmen die Autoren der Studie, die sich wie ein Erosions-Bericht über das rurale Milieu der 1960er-Jahre liest, dem Alkoholismus. Dieser sei in dem untersuchten Dorf eine verbreitete Krankheit, die sowohl eine soziale Pathologie reflektiere, wie auch Grund und Auslöser diverser sozialer Probleme wie „violence, abandonment of families, economic stagnation, and the undermining of the ejidal system“ (Fromm/Maccoby 1970: 178) sei. Dieses von den Autoren ausgemachte zentrale Charakteristikum und die Triebfeder der sozialen Erosion, ist auch ein Thema der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes: Alkoholismus und generell Drogenabhängigkeit sind Themen, die Anhänger*innen La Santa Muertes beispielsweise während Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes hervorbringen. Auch Lewis weist im Zuge seiner Kontextualisierungen über die Kultur der Armut darauf hin, dass das Trinken, „für den Mittelstand eine soziale Annehmlichkeit ist, während man in den unteren Volksschichten aus vielerlei Gründen trinkt: um seine Sorgen zu vergessen, seine Trinkfestigkeit zu beweisen und sich den nötigen Mut anzutrinken, um Schwierigkeiten gegenüber nicht zu versagen“ (Lewis 1992: 29). 14 Zu ländlichen Familien vor dieser Zeit (1943–1947) siehe beispielsweise Lewis 1963: 58ff.

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mündet in eine Synthese der Analyseergebnisse bei einer gleichzeitigen Kontextualisierung der Ergebnisse hinsichtlich ihrer Einbettung in Prozesse der Modernisierung, Urbanisierung und Industrialisierung. „The process of industrialization, increasing alienation and hunger for commodities, and the new values of industrial society, profoundly influence the mentality of the peasant in spite of the fact that economically he hardly participates in the new structure. What we find in the village, […] is the victorious march of the spirit of technological industrialism destroying the traditional values and replacing them with nothing except a vague longing for the good life represented by the city. Cheap movies replace joyous fiestas, television replaces amateur theater, radio replaces the local band, and the cement playa replaces one of grass, trees, and flowers. The peasant is at a double disadvantage: he has lost his own culture and does not gain the material advantages of the more affluent city population.“ (Fromm/Maccoby 1970: 237)

VON DER RANCHO IN DIE STADT Carlos Eltern zogen Anfang der 1970er-Jahre aus dem Umland von Guadalajara in die Stadt Guadalajara. Ihre Migration in das urbane Zentrum fällt in eine Zeit der fortschreitenden Urbanisierung, Technisierung und Industrialisierung (Lomnitz 1977:4ff., 15ff., 35ff., vgl. Lomnitz 2008: 474). Carlos wird in Guadalajara geboren und wächst in einer Nachbarschaft auf, in der die ländliche Herkunft der Eltern der Normalfall ist. Fernandas Umzug in das urbane Zentrum unterscheidet sich hinsichtlich des Zeitpunkts von Carlos Familiengeschichte. Sie zieht mit ihrer Mutter etwa 20 Jahre nach Carlos Eltern, in den späten 1980er-Jahren, nach Guadalajara. Zu diesem Zeitpunkt war die Urbanisierung bereits fortgeschritten. Fernanda wurde auf einer rancho, vier Autostunden von Guadalajara entfernt, in eine erodierende, ländlich-traditionale Familie geboren. Im Jahr 1988 habe Fernandas Mutter, so berichtet Fernanda im Interview, die rancho der Familie in Folge eines Konflikts verlassen. Die Mutter sei damals 17 Jahre alt gewesen und Fernanda ein Jahr. Der Konflikt sei entstanden, weil Fernandas Vater der Ehemann der Cousine ihrer Großmutter gewesen sei und der Konflikt habe sich in erheblichen Beleidigungen gegen Fernandas Mutter und Fernanda ausgedrückt.

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Tabelle 3: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

I.

Fernanda

mi mamá era madre soltera. yyy su familia de mi mamá decía que para qué había nacido yo .. que la decían a mi mamá que me fuera tirar a mi donde me había encontrado. y mi mamá tenía 17 años también. y todos ustedes estuvieron en la misma casa? tu, tu madre y la familia de tu madre? mi mamá es de allá, del, de un rancho que se llama [Name]... mi mamá se vino pa´ ca, tenía.. yo tenía como un año. más o menos.

meine Mutter war alleinerziehende Mutter. uuund ihre Familie von meiner Mama sagte wofür sei ich geboren worden.. sie sagten meiner Mama sie solle mich wegwerfen gehen dorthin wo sie mich gefunden hatte. und meine Mama war auch 17 Jahre alt. und ihr wart alle im gleichen Haus? du, deine Mutter und die Familie deiner Mutter meine Mutter ist von dort, aus, von einer rancho die [Name] heißt… meine Mama kam hierher, ich war.. ich war so ein Jahr alt. mehr oder weniger.

Fernanda erzählt über ihre Herkunftsfamilie weder von einer stabilen Hausgemeinschaft noch von einem stabilen Haushalt einer erweiterten Familie, noch von einer Kernfamilie, die als Einheiten bzw. auf Basis persönlicher Pietätsbeziehungen Sicherheitsgarantien für alle Mitglieder gewährt hätten. Stattdessen berichtet sie, die Familie habe das schwächste Mitglied, die neugeborene Fernanda sowie deren Mutter beleidigt („sie sagten meiner Mama sie solle mich wegwerfen gehen dorthin wo sie mich gefunden hatte“) und ohne Ressourcenausstattung freizusetzen, d.h. aus dem Haus zu verbannen, geplant. Die Interviewerin fragt nach der von Fernanda als von ihrer eigenen Herkunftsfamilie unterschiedenen Gründungsfamilie der Großeltern Fernandas mütterlicherseits („ihre Familie von meiner Mama“), „und ihr wart alle im gleichen Haus? du, deine Mutter und die Familie deiner Mutter“. Fernanda antwortet mit dem Hinweis auf die rancho und erklärt so, dass die Familie in einer Hausgemeinschaft oder als erweiterte Familie in einem Haushalt organisiert war. Mit der rancho sind arme und einfache Verhältnisse bezeichnet und eine Auskommensquelle der Familie benannt: (Subsistenz-)Landwirtschaft. Die Familie erscheint in Fernandas Erzählung von Fernanda getrennt, sodass sie sie nur als die Familie ihrer Mutter, also als deren direkte Herkunftsfamilie bezeichnet. Die Elementarleistungen einer Familie, so kann man mit Bezug zu Weber sagen, liegen in der Monopolisierung von Sexualität und Gewalt und in der Garantie von Sicherheiten. Im Fall von Fernanda sind diese Elementarleistungen in der (erweiterten) Herkunftsfamilie (und ebenso später in ihren eigenen Grün-

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dungsfamilien) nicht gewährleistet. Als Fernandas Mutter von der Familie nahegelegt wird, sie solle Fernanda loswerden, tritt die Mutter Fernandas in der Erzählung Fernandas als eine Beleidigungen nicht hinnehmende, Konsequenzen ziehende, aktive und autonomiesuchende Mutter auf. Für Fernanda führt der Wegzug zunächst zu ihrem Fortleben in einer, wie Weber sie nennt, „‚Muttergruppe‘ (Mutter und Kinder)“ (Weber 2010: 276). Die Ressourcenausstattung der Mutter ist durch ihre Herkunft aus den einfachen Verhältnissen der rancho bereits limitiert. Durch das Verlassen der rancho und der Familie lässt sie zusätzlich die wenigen Ressourcen zurück, über die sie vorher verfügen konnte.15 Der Verstoß der Mutter Fernandas bzw. ihr Auszug nach Guadalajara fällt in eine Zeit der Modernisierung und Urbanisierung. Im Zuge von Prozessen der Modernisierung und Urbanisierung streben Subjekte nach Weber zunehmend danach, ihre Leben individueller zu gestalten und die Erträge ihrer Mühen nach Belieben zu genießen (vgl. ebd.: 293). Aus diesen Bestrebungen folgt in Bezug auf die Form des Lebens in Hausgemeinschaften eine „grundstützende Änderung der funktionellen Stellung der Hausgemeinschaft, welche derart verschoben ist, daß für den Einzelnen zunehmend weniger Anlaß besteht, sich einem kommunistischen großen Haushalt zu fügen“ (ebd.). Die Sicherheitsgarantie der Einzelnen wird nicht länger durch Haus und Sippe, sondern durch eine übergeordnete Vergemeinschaftungsform, einen Verband der politischen Gewalt geleistet (vgl. ebd.). Als ein solcher übergeordneter politischer Verband tritt der mexikanische Staat auf. Er könnte für Frauen wie Fernandas Mutter und Fernanda den Schutz garantieren, der ihnen durch den Weggang aus ihren Familien und angesichts erodierender und nur geringe Bindungskräfte entfaltender Familien bzw. durch die Freisetzung aus diesen Familien fehlt. Wie sich auch am Beispiel von Carlos Arbeitsweise als Polizist im Zuge der Rekonstruktion der Milieuerfahrung prekärer Ordnung zeigen wird, ist dieser Schutz durch den politischen Verband und seinen Durchsetzungsstab nur eingeschränkt gegeben. Für Subjekte wie Fernanda und ihre Mutter, die sich innerhalb des Nationalstaates mit uneinheitlichen Ordnungen und auf Familienebene nur äußerst schwach gebunden bewegen, bieten sich nur wenige Sicherheitsgarantien. Im Zuge von Prozessen der Modernisierung, Urbanisierung und der Auflösung von Hausgemeinschaften ist das Haus 15 Vgl. Weber: „Scheidet [aus der Hausgemeinschaft] eins ihrer Glieder aus durch Tod, Austoßung (wegen religiös unsühnbaren Frevels), Überlassung in eine andere Hausgemeinschaft (Adoption), Entlassung (‚emancipatio‘) oder freiwilligen Austritt (wo dieser zulässig ist), da ist bei ‚reinem‘ Typus von keiner Abschichtung eines ‚Anteils‘ die Rede. Sondern der lebend Ausscheidende läßt durch sein Ausscheiden eben seinen Anteil im Stich und im Todesfall geht die Kommunionwirtschaft der Überlebenden einfach weiter.“ (Weber 2010: 278)

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bzw. die rancho nicht länger der vornehmliche Ort der Arbeit: „‚Haus‘ und ‚Beruf‘ sind auch örtlich geschieden und […] der Haushalt nicht mehr Stätte gemeinsamer Produktion, sondern Ort gemeinsamen Konsums.“ (Ebd.) Weber schreibt über die Auflösung der Hausgemeinschaften allgemein: „Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen, steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Differenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Gemeinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individueller zu gestalten und den Ertrag seiner individuellen Fähigkeiten nach Belieben zu genießen.“ (Ebd.)

Fernandas Mutter stellt sich mit ihrem Wegzug von der rancho in die Stadt zwar den Beleidigungen der Familie entgegen und vollzieht Schritte zur Verwirklichung größerer Autonomie, verfügt aber als Analphabetin und ohne Schulausbildung über wenige Ressourcen, um an einer Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten in dem urbanen Zentrum teilzuhaben. Im Zuge gelingender Modernisierungsprozesse würde der Einzelne, so Weber, „seine gesamte Schulung für das Leben, auch das rein persönliche, zunehmend von außerhalb des Hauses und durch Mittel, welche nicht das Haus, sondern ‚Betriebe‘ aller Art [bereitstellten, erhalten]: Schule, Buchhandel, Theater, Konzertsaal, Vereine, Versammlungen“ (ebd.: 293f.).

Fernandas Mutter tritt mit ihrem Weggang nach Guadalajara in eine Welt ein, in der sich idealtypisch diejenigen erfolgreich bürgerlich situieren, die über einen derartigen (Bildungs-)Hintergrund verfügen. Sie selbst hatte keine Zugänge zu den Betrieben und ist mit dem Umzug in das urbane Zentrum marginalisiert und hat kaum Chancen, an dem urbanen und bürgerlichen Leben teilzuhaben. Durch die Freisetzung aus der Familie und angesichts des keine einheitliche Ordnung durchsetzenden übergeordneten politischen Verbandes, drohen ihr stärker eine basale wirtschaftliche Unsicherheit und Schutzlosigkeit als denjenigen, die sich mit einer Formierung in den Betrieben bürgerlich situieren können. Fernandas Mutter ist ohne die Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie, ohne eine stabile Gründungsfamilie oder sonstige unterstützende Kontakte in Guadalajara und ohne Schulbildung, als Analphabetin, der Weg in eine bürgerliche Situierung verstellt. So verdient sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter und wenig

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später auch für ihre beiden weiteren Kinder als Sexarbeiterin. Es gelingt Fernandas Mutter nicht, sich selbst und ihre Kinder vor einem gewalttätigen Milieu, mit dem sie durch ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin konfrontiert ist, zu schützen. Fernanda wird mit sieben Jahren zum ersten Mal von einem Freund ihrer Mutter vergewaltigt und die Mutter selbst stirbt mit 29 Jahren, als Fernanda zwölf Jahren alt ist, an den Folgen einer HIV-Infektion. Für Fernanda ist die Erfahrung der gemeinsamen Freisetzung mit der Mutter aus der Familie der rancho die erste Erfahrung einer Freisetzung aus einer Familie. Nicht lange nach dem Tod der Mutter folgt eine zweite. Fernanda konnte nach dem Tod der Mutter zunächst in den Haushalt ihrer Stieffamilie, der Familie des Vaters ihrer jüngeren Schwester, eintreten, wird aus dieser Hausgemeinschaft jedoch wenig später in Folge vermuteter sexueller Übergriffe auf Fernanda ausgeschlossen. Fernanda berichtet, die Stieffamilie habe ihr etwas Geld gegeben, damit sie zu ihrer eigenen Familie zurückkehre. Die direkte Herkunftsfamilie gibt es zu dem Zeitpunkt jedoch nicht mehr, weil die Mutter tot ist und der Vater niemals präsent war, sodass sie nach ihrem Ausschluss aus der Stieffamilie auf sich allein gestellt ist. Fernanda stellt ihre Herkunftsfamilie im Interview als eine erweiterte Familie dar, die über ihre direkte Herkunftsfamilie (Mutter und Vater) hinausreicht, sie jedoch nie als einen Teil von sich haben wollte („aber meine Familie wollte mich nie [4]“). Tabelle 4: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

pero mi familia nunca me quiso [4] entonces haz de cuenta que siempre me la pasé en, NO EN LA CALLE. porque hasta eso siempre he sido de las personas que me granjeo las personas. y siempre tengo aunque sea un techo o un taco. tuve en este momento cuando yo estaba sola.

aber meine Familie wollte mich nie [4] dann stell dir vor dass ich es immer in, NICHT AUF DER STRAßE zugebracht habe. weil bisher bin ich immer eine von den Personen gewesen die Leute für sich gewinnt. und immer habe ich denn schon ein Dach oder einen Taco. hatte ich in diesem Moment als ich alleine war.

In ihrer inneren Realität geht sie mit ihrer Familie als einer erweiterten Familie um, die sie jedoch nie gewollt habe.16 Auch dieser zweite Ausschluss aus einer 16 Fernanda hält grundsätzlich an der Idee einer Familie, die einen wollen könnte, fest, jedoch habe diese Familie sie nie gewollt. Da es in ihrem Fall niemals Hoffnung gab,

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Familie hat für Fernanda lebensbedrohliche Folgen: Für sie bleibt der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und einer Familie als einer ihre Sicherheit garantierenden Schutzinstanz verschlossen. Sie ist fortan auf sich allein gestellt. Fernanda nennt im Interview eine aus der Umgangsweise mit der Freisetzung aus dem Haushalt ihrer Stieffamilie resultierende persönliche Fähigkeit, in ihrem Milieu zu überleben. Sie sagt, sie verfüge über eigene persönliche Stärken, mit denen sie die aus dem Ausschluss aus der Familie resultierenden Risiken abzuwenden vermag. Mit ihrer Lebensstärke ist Fernanda in der Lage, in ihrem Milieu zu überleben und verfügt auch über eine Lustquelle, die es ihr ermöglicht, sich in ihrer sozialen Welt wohl zu fühlen. Ihre Vergnügungen bestehen im Alkoholrausch und in Beziehungen zu Männern. Dabei ist sie bezogen auf beide Felder, Alkohol und Sexualität, in der Lage, Kapital zu schlagen. Sie arbeitete zeitweise in einer Bar als Kellnerin, wobei sie mit den männlichen Gästen trank und Trinkgelder erwirtschaftete. Ihre Partner sucht sie sich nach deren Fähigkeit aus, sich und ihre Kinder zu versorgen. Neben diesen ihre Versorgung sichernden Beziehungen führt sie Beziehungen mit anderen Männern, die sie vor dem jeweiligen Versorger geheim hält. Sie sagt, sie sei eine Frau, die „die Leute für sich gewinnt“, sodass diese bereit seien, sie zu versorgen. Fernandas zentrales Thema hinsichtlich der Familie und ihrer Sozialbeziehungen ist das der ökonomischen Absicherung. Dabei erzielt sie ihre Absicherung nicht, indem sie beispielsweise nach einer eigenen Situierung in einer stabilen und vollständigen Kernfamilie strebt, sondern indem sie sich radikal auf sich selbst und ihre persönliche Stärke stützt. Diese Strategie umfasst, dass Fernanda sich als attraktive junge Frau in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft Männer sucht, die sich nicht zuletzt im Tausch gegen Sex um ihre ökonomische Absicherung kümmern.17 Diese gewollt zu werden, schwingt in der Aussage keine Enttäuschung mit. Fernanda beschreibt nur eine Tatsache. In Bezug auf die objektiven Daten könnte man hier auch Ansätze einer Traumaverarbeitung erkennen, indem Fernanda auf die erweiterte Familie verweist. Nach dem Motto, Mutter und Vater sind tot, aber die anderen gibt es ja noch. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte des Verlusts der Mutter und des abwesenden Vaters kann es eine Überbrückungsstrategie sein, sich trotz der Ablehnung an einem größeren Verbund zu orientieren. 17 Für Carlos stellt sich das Problem der ökonomischen Absicherung angesichts seiner zerrütteten Familienverhältnisse zwar ebenso, auch ihm gelingt der Aufbau einer bürgerlichen Situierung in stabilen Familienverhältnissen nicht, jedoch hat er als Mann vielfältigere und weniger riskante Möglichkeiten, beispielsweise in kurzfristigen Engagements als Handwerker sein Auskommen zu erwirtschaften. Solche häufig wechselnden Arbeitsverhältnisse finden sich bei allen Interviewten. Lewis beschreibt solche Formen der wechselnden und unsicheren Arbeit bereits in „Die Kinder von Sán-

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Stärke ist insofern prekär, als sie nur aus Fernanda selbst heraus gespeist ist. Die Stärke ist nicht kollektiv verankert und nicht durch eine Form der Vergemeinschaftung gesichert. Fernandas Verehrung La Santa Muertes erfüllt, wie sich im Folgenden zeigen wird, diesbezüglich eine bestärkende Funktion. La Santa Muerte schützt sie einerseits als autonome Agentin subjektiv und partikular und stärkt sie andererseits als persönliche und partikular wirkende Schutzinstanz im Sinne einer Selbstcharismatisierung.

REGULIERUNG DER SEXUALBEZIEHUNGEN IN DER FAMILIE Als Fernanda und ihre beiden Geschwister nach dem Tod ihrer Mutter zu der Familie des Vaters der jüngeren Schwester ziehen, hat die jüngere Schwester eine stabile Vaterbeziehung. Diese ermöglichte es, dass alle Kinder zur Familie des Vaters ziehen konnten. Fernanda berichtet, sich in der neuen Hausgemeinschaft zunächst um ihre jüngeren Geschwister gekümmert zu haben. Dann sei sie mit ca. 14 Jahren in der Hausgemeinschaft mit der Familie des Stiefvaters das anvisierte Opfer eines sexuellen Übergriffes durch ihren Stiefgroßvater geworden. In der Folge habe die Stieffamilie sie ausgeschlossen. Tabelle 5: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

mi padrastro me trataba muy bien. pero el papá de mi padrastro me quiso violar.

I. Fernanda

ahm. ahmm. entonces, yo le dije a la mam#, a mi abuelita. o sea la mamá de mi padrastro. Y pos ella, porque del, tapar a su familia. o sea por no.. por no salir perjudicada la familia de

mein Stiefvater behandelte mich sehr gut. aber der Vater meines Stiefvaters wollte mich vergewaltigen. ahm. ahmm. dann, ich sagte zu der Mam#, zu meiner Oma [deminutiv]. also die Mama von meinem Stiefvater. und sie dann, wegen des, um ihre Familie zu decken [verheimlichen, schützen]. also damit ihre

chez“ innerhalb der von ihm untersuchten „Kultur der Armut“ in Mexiko-Stadt der 1950er Jahre: „Besonders charakteristisch sind die wirtschaftlichen Grundzüge der Kultur der Armut; dazu gehören: der ständige Kampf ums Dasein; Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit; niedrige Löhne, eine Fülle ungelernter Berufe und Kinderarbeit […].“ (Lewis 1992: 29)

Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit | 151

I. Fernanda I. Fernanda

ella. si. a mi me dio dinero para que yo me fuera con mi familia. aha. pero mi familia nunca me quiso [4]

Familie nicht.. beschädigt würde. ja. mir gab sie Geld damit ich zu [mit] meiner Familie ginge. aha. aber meine Familie wollte mich nie [4]

Nach Weber (2010) sind Familien auch Einheiten der Regelung der Sexualbeziehungen der Gruppe im Inneren und nach außen. In Fernandas Stieffamilie sowie in ihrer Herkunftsfamilie und in ihren eigenen Gründungsfamilien ist die Regulierung der Sexualbeziehungen prekär. Nachdem es im Haushalt der Stieffamilie zu Übergriffen durch den Stiefgroßvater auf Fernanda zu kommen gedroht habe, sollte Fernanda weggeschickt werden. Die Initiative dazu sei von ihrer Stiefgroßmutter ausgegangen, die mit der Ausstoßung Fernandas ihre eigene Familie habe schützen wollen,18 so die Deutung Fernandas. Weber schreibt über die Hausgemeinschaft und die Regelung der Sexualität, es sei „gerade das im Güterbesitz kommunistische Haus diejenige Stätte, aus welcher kommunistische Freiheit des Geschlechtsverkehrs am vollständigsten verbannt ist. Die Abschwächung des Sexualreizes durch das Zusammenleben von Kind auf gab die Möglichkeit und Gewöhnung daran. Die Durchführung als bewußter ‚Norm‘ lag dann offensichtlich im Interesse der Sicherung der Solidarität und des inneren Hausfriedens gegen Eifersuchtskämpfe.“ (Ebd.: 283)

Fernanda ist, als sie in die Hausgemeinschaft der Stieffamilie eintritt, zwischen zwölf und 14 Jahre alt und steht im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester, die mit der Stieffamilie darüber hinaus auch blutsverwandt ist, am Beginn ihrer Adoleszenz. Der von der Stiefgroßmutter antizipierte, das Familiengefüge potenziell zerrüttende Übergriff des Stiefgroßvaters auf Fernanda ist damit „nahe liegender“ als ein Übergriff auf die jüngere Schwester.19 Die Stieffamilie ist pat-

18 Im doppelten Sinne nach innen wie nach außen: Die Existenz der Familie als ethisches und Pietät einhaltendes Gebilde im Inneren und deren Ruf. 19 Weber merkt an, dass „die rein sexuell zwischen Mann und Weib und die nur physiologisch begründeten Beziehungen zwischen Vater und Kindern in ihrem Bestande gänzlich labil und problematisch“ (Weber 2010: 276) sei und schreibt weiter, „die Vaterbeziehung fehlt ohne stabile Versorgungsgemeinschaft zwischen Vater und Mutter überhaupt gänzlich und ist selbst da, wo jene besteht, nicht immer von großer Trag-

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riarchal und autokratisch strukturiert, denn nicht der Stiefgroßvater, von dem die Übergriffe ausgehen könnten, wird sanktioniert, sondern Fernanda muss die Hausgemeinschaft verlassen. Weber schreibt in diesem Zusammenhang, die konventionelle Missbilligung des Sexualverkehrs bestehe auch für „solche nahe Verwandte, welche nach dem Blutsbandkodex der Sippenstruktur davon nicht ausgeschlossen sind (z.B. sehr nahe väterliche Verwandte bei ausschließlicher Mutterfolge in der Sippenexogamie)“ (ebd.: 283), die sexuelle Exklusivität sei jedoch häufig prekär gegenüber „dem autokratischen Inhaber der Hausgewalt“ (ebd.). Auch nach dem Weggang Fernandas bleibt aus Sicht der Stieffamilie die Regelung des Sexualausschlusses problematisch. Fernanda erzählt, die Familie ihres Stiefvaters, den sie ihren Vater nennt und zu dem sie auch zum Zeitpunkt des Interviews in Kontakt steht, würde vermuten, er und Fernanda würden in einem sexuellen Verhältnis zueinander stehen. Fernanda erklärt entgegen dieser Annahme der Stieffamilie, die Beziehung zu ihrem Stiefvater sei sexuell abstinent und solidarisch. Die Beziehung zum Stiefvater ist vor dem Hintergrund Fernandas zerrütteter familialer Beziehungen diejenige, die am ehesten stabil und solidarisch ist. Sie steht bei den Mitgliedern der Stieffamilie aber auch im Verdacht, sexuell, also unethisch und pietätlos zu sein. Tabelle 6: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

yo lo he buscado porque para mi si como te digo siempre va ser mi papá y nunca lo va a dejar de ser. enton-

ich habe danach gesucht weil er für mich wie ich dir sage immer mein Papa sein wird und nie wird er aufhören das zu sein. also wir

weite. ‚Urwüchsig‘ ist von den auf dem Boden des Geschlechtsverkehrs erwachsenen Gemeinschaftsbeziehungen nur die zwischen Mutter und Kind und zwar, weil sie eine Versorgungsgemeinschaft ist, deren naturgegebene Dauer die Zeit bis zur Fähigkeit des Kindes zur selbständigen ausreichenden Nahrungssuche umfaßt.“ (Ebd.: 275f.) Das Bestehen einer Ehe, im vorliegenden Fall einer mehr oder weniger dauerhaften Beziehung zwischen Fernandas Mutter und dem Stiefvater, bedeutet für die Kinder der Eheleute nach Weber auch, dass „nur die Abkömmlinge bestimmter sexueller Dauergemeinschaften im Kreise einer umfassenderen ökonomischen, politischen, religiösen oder sonstigen Gemeinschaft, welcher ein Elternteil (oder jeder von beiden) angehört, kraft ihrer Abstammung als geborene gleichstehende Verbandsgenossen (Hausgenossen, Markgenossen, Sippengenossen, politische Genossen, Standesgenossen, Kultgenossen) behandelt werden, Abkömmlinge eines Elternteils aus anderer Sexualbeziehung dagegen nicht“ (ebd.: 276).

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I. Fernanda I.

Fernanda

I. Fernanda I. Fernanda

I. Fernanda

ces siempre hemos tenido contacto. su familia no creas que le gusta mucho saber que tenemos contacto. hm. pero el ha dicho, a mi me vale. hmm.. porque piensas que no les gusta que tengan contacto? porque me ha dicho el.. porque haz de cuenta que piensan otra cosa. o sea no ven en común que, no ven bien que tengamos ese.. cariño. aha. piensan que es cariño diferente. permiso. aha, aha okay. le digo, no pero es que, no, yo te veo como mi papá, o sea, yo, como que voy a [lacht] ver como otra cosa [4] hmm. si.. entonces, por eso.

hatten immer Kontakt. seine Familie glaube nicht dass der das sehr gefällt zu wissen dass wir Kontakt haben. hm. aber er hat gesagt, mir ist es das wert [für mich zählt das]. hmm.. wieso glaubst du dass es ihnen nicht gefällt dass ihr Kontakt habt? weil er es mir gesagt hat.. weil stell dir vor sie denken etwas Anderes. also sie sehen das nicht genauso, sie sehen nicht gern dass wir diese.. Zärtlichkeit haben. aha. sie denken es sei eine andere Art von Zärtlichkeit. entschuldige. aha, aha okay. ich sage ihm, nein aber es ist so dass, nein, ich sehe dich wie meinen Papa, also, ich, wie werde ich [lacht] etwas anders sehen [4] hmm. ja.. also, darum.

GEWALT IN DER FAMILIE Während die im Hintergrund stehenden Gebilde der direkten und weiteren Herkunftsfamilie und der Stieffamilie strukturlogisch weder vollständige Kernfamilien noch stabile erweiterte Familien bilden, sind auch Fernandas eigene Gründungsfamilien ebenfalls weder erweiterte Familien noch stabile und vollständige Kernfamilien. Analog zu Fernandas innerer Realität ihrer Herkunftsfamilie als erweiterter Familie, die sie jedoch nie wollte, können ihre Partnerwechsel bei ihren eigenen Familiengründungen verstanden werden. Die einzelnen Partnerschaften stellen keine Versuche dar, sich als Kernfamilie zu situieren, sondern erscheinen wie weitere Abschnitte in einem Generationen überdauernden weiten

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Familienverband. Von wem wie und in welchem Grade Verletzungen und Missbrauch ausgehen, tritt in den Hintergrund, da Fernanda die Beziehungen zu den verschiedenen Männern immer nur zeitweise aufrechterhält und eine Traumatisierung eine stärkere Bindung an die jeweiligen Personen voraussetzten würde. In Fernandas Gründungsfamilien bestehen instabile Bindungen zwischen Mutter und Vater, bzw. verschiedenen Vätern und Kindern. Ihre Kinder könnten ihr, der Mutter, ihre Zuneigung zeitweise entziehen, so Fernanda. So, als handelte es sich bei der Familie um eine Gruppe beliebig austauschbarer Individuen mit schwachen Bindungen aneinander. Tabelle 7: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

te dije que me quitó mi marido mis chiquillos?.

I. Fernanda

si. y yo le prometí. le dije a La Santa Muerte „ay Santa Muerte. dios quiera y ust# y usted señora, me ayuda a recuperarlos.“ y hasta eso si los recuperé rápido. aha. me los quitó un .. jueves. y como en unos 15 días los recuperé [4] y.. pero esta vez tambíen te los quitó? o, o lo /sabías?/

I. Fernanda

I.

Fernanda

/me los, no. me los/, me los quitó y no me los quitó porque haz de cuenta que mis, para mis hijos no me querían ya..

I. Fernanda

aha. Les metió muchas insanias, mi marido a ellos. hm.

I.

sagte ich dir dass mein Ehemann mir meine kleinen weggenommen hat?. ja. und ich habe ihr versprochen. ich sagte zu La Santa Muerte „ay Santa Muerte. so Gott will und Si# und Sie Dame, helfe mir sie wiederzubekommen.“ und sogar das ich hatte sie schnell zurück. aha. er nahm sie mir an einem .. Donnerstag weg. und in etwa 15 Tagen hatte ich sie zurück [4] und.. aber dieses Mal hat er sie dir auch weggenommen? oder, oder /wusstest du das?/ /er hat sie mir, er hat sie mir/, er hat sie mir weggenommen und er hat sie mir nicht weggenommen weil stell dir vor dass meine, für meine Kinder sie wollten [liebten] mich nicht mehr.. aha. er hat ihnen viele Verrücktheiten in den Kopf gesetzt, mein Ehemann. hm.

Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit | 155

Fernanda

entonces.. yo me refugié mucho en ella. que.. si va pasar, que pase. en algún momento si me van a buscar, me van a buscar. y fíjate que no se tardaron tanto. tenían 2 meses que se los había llevado mi marido. y mi marido me marcó „sabes que, los niños se quieren ir con tigo. no quieren estar conmigo.“

dann.. ich habe mich viel in sie geflüchtet. dass.. wenn es passiert, dass es passiere. in einem Moment werden sie mich schon suchen, werden sie mich suchen. und siehe da sie haben sich nicht so sehr verspätet. es waren zwei Monate dass mein Ehemann sie mitgenommen hatte. und mein Ehemann rief mich an „weißt du was, die Kinder wollen zu dir. sie wollen nicht bei mir sein.“

Fernandas Beziehungen sind mit Gewalt aufgeladen. Lewis schreibt über die von ihm anhand seiner Untersuchung der Lebensweise einer Familie in Mexiko-Stadt in den 1950er-Jahren ausgemachten Kultur der Armut, es würde unter den Armen „nicht nur beim Schlichten ihrer Streitigkeiten, sondern auch in der Erziehung ihrer Kinder häufig rohe Gewalt“ (Lewis 1992: 29) angewendet. „Kennzeichnend für die Lebensweise dieser Volksschichten ist es ferner, daß die Frauen oft von ihren Männern geschlagen werden. […] [V]iele Männer verlassen Frau und Kind, daher gibt es unzählige Familien, deren Mittelpunkt die Mutter mit ihren Verwandten bildet; es besteht eine auffällige Neigung, sich um jeden Preis durchzusetzen, aber auch dem Stärkeren zu weichen […].“ (Ebd.)

Eine Innenperspektive auf die Gewalt in einer von Fernandas Gründungsfamilien eröffnet Fernanda im Interview.20 Dabei wird deutlich, dass sie ihre eigenen Gründungfamilien, indem sie die Perspektive eines der Kinder einnimmt, in Ansätzen durchaus als Kernfamilien mit einer Bindung der Kinder an ihre Eltern verstehen kann. So stellt Fernanda fest, dass ihre Tochter, vor der die Gewalt in der Paarbeziehung der Eltern nicht verborgen bleibt, zunehmend traumatisiert sei und sich wünsche, dass Fernanda und ihr gewalttätiger Ex-Partner erneut ein Paar würden.

20 Auch Carlos verfügt über Kindheitserfahrungen mit einem gewalttätigen Vater und tritt gegenüber seinen eigenen, von ihm getrenntlebenden Kindern und in deren Nachbarschaft als gewalttätiger Mann auf. So berichtet er beispielsweise betrunken in der Nachbarschaft seiner Kinder aufgetaucht zu sein und versucht zu haben, einen Nachbarn zu verprügeln.

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Tabelle 8: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

I. Fernanda I. Fernanda

I. Fernanda I. Fernanda

I. Fernanda

I. Fernanda

haz de cuenta que mi hija, la grande, empeza#, me empezaba a gritar mi marido y ya era de la, ya era ella que se, se sentaba y empezaba a taparse los oídos y como que a temblar. hm. de que ya estaba muy treumada. hm. pues imagínate.. ella tenía como cinco años cuando me empezó a golpear. hm. ya tiene nueve años la niña. ahm. y entre más p#, ya más grande se va traumando y todo eso. hm. y ella ve#, a veces.. cuando nosotros veníamos apenas estaban fincando lo de allá [deutet in den Kirchenraum]. todavía no estaba fincado este. llegaba y le .. le llevaba su manzana a la, a la Santa. y se ponía como que a rezar le digo „que le pedistes?“ „que mi papá y tu se vuelvan a juntar. le digo „no mi hija. eso si ya no se puede.“ hm „aunque yo quiera, ya no.

du musst dir vorstellen dass meine Tochter, die Große, anfin#, mein Ehemann fing an mich anzuschreien und schon war von der, schon war es sie die sich, sich hinsetzte und anfing sich die Ohren zuzuhalten und wie zu zittern anfing. hm. davon das die schon so traumatisiert war hm. also stell dir vor.. sie war um die fünf Jahre alt als er anfing mich zu schlagen hm. das Mädchen ist schon neun Jahre alt ahm. und während mehr p#, je größer sie wird wird sie treumatisiert [traumatisiert] und all das. hm. Und sie ka#, manchmal.. als wir kamen hatten sie kaum dies hier dort gebaut [deutet in den Kirchenraum]. dies war noch nicht gebaut. sie kam an und brachte ihr.. brachte der, der Santa ihren Apfel. und sie machte sich wie zum Beten ich sage ihr „um was hast du sie gebeten?“ „dass mein Papa und du wieder zusammen kommt“. ich sage ihr „nein Tochter. das geht jetzt ja nicht mehr.“ hm „auch wenn ich wollte, nicht mehr.

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I. Fernanda

yo porque, ya no som#, ya no hacemos vida. para que quieres que me mate un día de estos?“ hm. porque ya, una vez me fracturó quijada y dos costillas.. y la niña gritando „DÉJALA DÉJALA“ y llorando...

Weil ich, wir sin# kein, wir machen kein Leben mehr. für was willst du dass er mich einen dieser Tage tötet?“ hm. weil schon, einmal hat er mir den Kiefer gebrochen und zwei Rippen.. und das Mädchen schrie „LASS SIE LASS SIE“ und weinte…

Stabile Kernfamilien mit diffusen Sozialbeziehungen zwischen ihren Mitgliedern und stabilen Paarbeziehungen können in den Familien von Carlos und Fernanda auch wegen der hohen Gewaltpräsenz nicht etabliert bzw. aufrechterhalten werden. Der Grad der Zerrüttung ihrer Familien wird gerade hinsichtlich der Gewalt in den Sozialbeziehungen deutlich.

BEWÄHRUNG, MARGINALITÄT UND BINDUNGSLOSIGKEIT Die britische Punkbewegung der 1970er-Jahre hatte unter dem Slogan „No future“21 dem Streben nach bürgerlichen Idealen eines guten Lebens entsagt und ihm einen lustvollen bis hin zu einem destruktiven Lebensentwurf entgegengesetzt. Punks hatte sich in Bewährungsopposition zu bürgerlichen Vorstellungen begeben. Sie hatten sich auf diese Weise von der Enge einer aus ihrer Sicht vom Fortschrittsmythos regierten Gesellschaft befreit. Mit „No future“ erklärten sie sich provokativ zu ahistorischen Subjekten und zur gesellschaftlichen Endstation. Für Fernanda und Carlos gibt es angesichts ihrer prekären Lebenslagen und ihrer mangelnden Ressourcen keinen (Rück-)Weg in eine andere, z.B. bürgerliche Welt, zu der sie wie Punks in Opposition treten könnten. „No future“ ist für sie kein Motto oder provokanter Slogan, sondern ein Lebensprogramm oder ein Schicksal, das sich reproduziert. Es ist alternativlos und nicht gewählt. Fernandas und Carlos Lebenspraxen haben einen beinahe exklusiven Gegenwartsbezug. Lewis schreibt, die Kultur der Armut sei mit bestimmten

21 „No future. When there’s no future how can there be sin“ ist eine Zeile aus dem Stück „God save the Queen“ der Sex Pistols.

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„psychologischen Erscheinungen verbunden: eine starke, auf die unmittelbare Gegenwart gerichtete Orientierung mit nur geringer Bereitschaft, sich einen augenblicklichen Wunsch zu versagen und für die Zukunft zu planen; ein Gefühl der Resignation und des Fatalismus“ (Lewis 1992: 29f.).

Eine Exklusion von Planung als Teil dieses Gegenwartsbezuges lässt sich anhand der Rahmenleistungen des Interviews mit Fernanda ablesen. Nachdem der Interviewtermin verabredet und zweimal, jeweils dichter an dem Termin, bestätigt wurde, meldet sich Fernanda, so im Forschungstagebuch notiert, „am Tag des Treffens eine halbe Stunde vor der Verabredung zum Interview, als ich bereits mit dem Bus auf dem Weg zu dem verabredeten Treffpunkt bin. Fernanda möchte den Treffpunkt ändern. In öffentlichen Verkehrsmitteln reisend, liegen der alte und der neue Treffpunkt beinahe zwei Stunden voneinander entfernt. Als Fernandas Nachricht eintrifft, springe ich aus dem Bus und nehme ein Taxi, mit dem ich nur etwas zu spät zu Fernanda komme.“

Fernandas Nicht-Planung bei gleichzeitiger indifferenter Einwilligung in die Planungen der Forscherin – Fernanda hatte jeden Vorschlag bezüglich Zeit und Ort ohne weiteres akzeptiert – sowie ihre geringe Verbindlichkeit sind Ausdruck einer generell geringen Planbarkeit ihres gesamten Lebenszusammenhangs. Planung ist ihr ein abstraktes Konzept, das sich auf ihre eigene Lebensführung nur beschränkt oder gar nicht anwenden lässt. So verabredet sie sich zwar mit der Forscherin, die gefassten Pläne entfalten jedoch wenig Wirkung auf ihre Praxis. Fernanda und Carlos kommen mit Bezug zu ihren Kindern auf ihre Sicht auf die Zukunft, Planung und Ziele und damit auch auf Bewährung zu sprechen. Carlos erzählt im Interview, seine Kinder würden ihn den „Mann des Morgen“ nennen, der stets alles auf den nächsten Tag verschiebe, anstelle es im Hier und Jetzt anzupacken. Carlos erklärt, die Bezeichnung würde grundsätzlich nicht auf ihn passen, denn für ihn gebe es weder Gestern noch Morgen. Tabelle 9: Ausschnitt aus einem Interview mit Carlos I. Carlos I. Carlos I.

em y tienes como planes para el futuro? sí. y cuáles? que yo tenga planes para el futuro? No. algunas metas que quisieras

em und hast du so etwas wie Zukunftspläne? ja. und welche? dass ich Zukunftspläne hätte? nein. einige Ziele die du wünschtest als..

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Carlos

como.. yo nomás este, vivo el día de hoy, yo planes para mí para mañana no hay, o sea atrás ya quedó para mí ahí ya

I. Carlos

mhm para mí ya es olvidado, yo vivo nada más el presente. hoy. mañana quien sabe porque a lo mejor llego y no amanezco o saliendo de aquí me van a atropellar y me matan y ya. algo que, algo algo. verdad, pero yo ah que mañana o pasado mañana voy a ir a tal lado o voy a hacer esto

I. Carlos

mhm no no tengo yo planes así verdad. a mí me dicen mis hijos „noo, mi papá es el hombre del mañana.“ Mañana y mañana pero para mí no existe el mañana. Entonces yo digo „mañana mañana y mañana“, „papí cómprame unos tenis“, „mañana“, „papí llévame a la playa“, „mañana“.. ayer que llevé a mi hijo „que vamos al cine“ „pues vamos“ tuve la ocasión y dije „bueno pues ya vamos al cine“ verdad

ich nur dies, ich lebe den Tag von Heute, ich Pläne für mich für morgen gibt es nicht, also zurückliegend ist schon zurückgeblieben für mich dort schon mhm für mich ist das schon vergessen, ich lebe nichts weiter als die Gegenwart. heute. morgen wer weiß weil am besten komme ich an und wache nicht auf oder hier herauskommend werden sie mich umfahren und mich töten und dann. etwas das, etwas etwas. stimmt, aber ich ah was morgen oder übermorgen werde ich da und da hingehen oder das machen mhm nein ich habe keine solche Pläne wirklich. mich nennen meine Söhne „neiin, mein Papa ist der Mann des Morgen.“ morgen und morgen aber für mich existiert das Morgen nicht. dann sage ich „morgen morgen und morgen“, Papi kaufe mir Turnschuhe“, „morgen“, „Papi nimm mich mit zum Strand“, „morgen“.. gestern als ich meinen Sohn mitnahm „auf geht’s ins Kino“ „also gehen wir“ ich hatte die Gelegenheit und ich sagte „gut also so auf geht’s ins Kino“ stimmt

Die Interviewerin fragt Carlos, ob er „so etwas wie“ Pläne für die Zukunft habe, worin sich angesichts Carlos Lebenswandels eine Unsicherheit der Interviewerin bezüglich der Anwendbarkeit ihres Konzepts von Planung ausdrückt. Sie zweifelt, ob Carlos überhaupt Pläne habe. Diese Logik reproduziert sich, wenn die In-

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terviewerin nach „einigen“ Zielen fragt und so weitere Zweifel daran äußert, ob Carlos überhaupt Ziele verfolge, zu deren Erreichen er Pläne schmieden könnte. Die Antwort, „ich nur dies“, wobei das „dies“ auch Carlos Suche nach dem Anschluss bedeutet, ist eine gekürzte Form von „ich bin nur dies“ oder „ich habe nur dies“, die Carlos strikten Bezug zu seinem Selbst im Hier und Jetzt ausdrückt. Mit dem „nur“ ist dieses Selbst von möglichen Zielen und Plänen distanziert. Carlos sagt mit seiner Antwort manifest, dass er keine Ziele habe, die er verfolgen könnte und latent, dass das von der Interviewerin eingeführte Konzept von Zielen und Plänen für ihn nicht passend und nicht anwendbar ist. Grundsätzlich weiß er, dass es Menschen gibt, die (Lebens-)Ziele haben und (Zukunfts)Pläne schmieden. Er kann jedoch diese Konzepte bezogen auf sein eigenes Leben nicht zur Anwendung bringen. Carlos expliziert dies weiter, indem er erklärt, er lebe den je heutigen Tag im striktesten Sinne. Was gestern geschah, sei schon vergessen und irrelevant für seine Praxis im Hier und Jetzt. Die Zukunft existiere in seiner Gegenwart als Horizont von Entscheidungen und Handlungen nicht. Mit den Fragen der Interviewerin nach den Plänen und Zielen wurde Carlos eine Frage nach Ideen von möglichen Bewährungsfeldern gestellt. Nach Oevermann gilt grundsätzlich, dass Subjekte nur während ihrer Lebenszeit an der Bewährung arbeiten, d.h. nach ihr streben können. Mit dem Tod ist die Zeitspanne zur Arbeit an der eigenen Bewährung beendet. Normalerweise ist der genaue Todeszeitpunkt nicht zu antizipieren, sodass die eigene Bewährung nach Möglichkeit zu jedem Zeitpunkt des Lebens hinlänglich bearbeitet sein müsste (vgl. Oevermann 2001a: 316f.). Nach Oevermann folgt daraus, dass der nicht zu umgehende Tod weniger bedrohlich ist, je ferner er geglaubt wird und je weniger Zeichen es für sein Nahen gibt. Denn, so Oevermann, wenn der Tod fern geglaubt ist, bleibt subjektiv noch viel Zeit zur Arbeit an der Bewährung, zum Erreichen der Lebensziele (vgl. ebd.: 320). Carlos Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit bildet in diesem Sinne nicht den fernen Horizont seines Alltagshandelns, sondern ist sehr präsent und gewissermaßen radikalisiert, sodass er Zukunftspläne angesichts der Präsenz der Möglichkeit seines verfrühten Endes exkludiert. Zukunftspläne erscheinen ihm müßig, „morgen wer weiß weil am besten komme ich an und wache nicht auf oder hier herauskommend werden sie mich umfahren und mich töten.“ Carlos illustriert damit, er könne sich nicht sicher sein, ob es ein Morgen für ihn überhaupt geben würde, er rechnet konkret damit, zu sterben. Darüber hinaus zeichnet er auch ein best-case-Szenario, in dem er den morgigen Tag lebendig erreicht, dann jedoch nicht aufwacht, sondern verschläft. Zu den Gründen für seine Exklusion der Zukunft zählt also auch seine eigene Haltung, die den Schlaf dem Verfolgen von Plänen und Zielen vorziehen

Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit | 161

kann.22 Darin wird Carlos Fähigkeit deutlich, sein Leben zu Leben und seinen Lebenswandel, der ihm auch sinnliche und lustvolle Momente ermöglicht, positiv zu wenden. Zugespitzt formuliert, identifiziert er sich derart mit der Exklusion jeglicher Bindung an Ziele und Personen und folglich an Pläne, dass er daraus ein Selbstbild erschaffen kann, in dem er vollkommen frei und losgelöst von jeglichen (Selbst-)Verpflichtungen, die mit Bindungen einhergingen, leben kann. Bewährungstheoretisch gesprochen liegt hier keine inhaltlich-zielorientierte Ausgestaltung von Bewährung, die beispielsweise mit der protestantischen Leistungsethik Webers oder einem american-dream-Ethos vergleichbar wäre, vor. Carlos formuliert einen Bewährungsmythos, der zunächst inhaltlich eigentümlich ungefüllt erscheint, da er die fortlaufende Bewältigung des Hier und Jetzt zum Inhalt hat und damit um das Überleben und das Ergreifen von Chancen und Möglichkeiten in einem Hier und Jetzt vor dem Hintergrund einer unsicheren Zukunft zentriert ist. Mit diesem Bewährungsmythos ist Carlos für den Erklärungsrahmen des Strukturmodells von Religiosität ein Grenzfall. Seine Lebenspraxis lässt sich mit dem Modell nicht gut fassen, weil das Thema Bewährung inhaltlich im Grunde keine Rolle spielt.23 Carlos ist keineswegs ein „Bewährungssucher“ (Zizek 2017: 150) im Sinne Zizeks und insofern ein Beispiel, das es erlaubt, Zweifel an dem von Zizek konstatierten „universalen Bewährungsdrang“ (ebd.: 151) anzumelden. Ein solcher scheint, wenn er denn überhaupt existiert, zwingend mit den Lebensbedingungen einer (westlichen), sicheren und bürgerlichen Moderne verbunden zu sein. Es gibt nichts, an dem Carlos sich ent22 Gleichzeitig, und hierin liegt eine seiner Lebensstärken, kann Carlos Gelegenheiten, die sich spontan ergeben, nutzen. „Gestern als ich meinen Sohn mitnahm ‚auf geht’s ins Kino‘ ‚also gehen wir‘ ich hatte die Gelegenheit und ich sagte ‚gut also so auf geht’s ins Kino‘“. 23 Ähnlich setzt eine Kritik Monika Wohlrab-Sahrs an dem Strukturmodell von Religiosität an. Sie kreidet dem oevermannschen Strukturmodell von Religiosität insbesondere einen „axiomatischen Charakter von Bewährung“ (Wohlrab-Sahr 2003: 390) an. Sie formuliert die These, dass das Modell implizit eines imaginierten oder verinnerlichten Gegenübers bedürfe, das „einen verpflichtenden Maßstab repräsentiert: etwas oder jemand, angesichts dessen man meint, sich bewähren zu müssen, das man aber auch verfehlen kann“ (ebd.: 393). Hier lässt sich entgegnen und hinzufügen, dass das Strukturmodell von Religiosität mit seiner Bestimmung von Bewährung(-sdynamik) als Strukturmerkmal von Lebenspraxis zwar nicht unbedingt der Einsicht der Untersuchten nach Bewährung zu streben oder ihrer praktischen bewährungslogischen Orientierung bedarf, jedoch eben keinen guten Erklärungs- und Untersuchungsrahmen für Fälle bietet, die sich nicht stark inhaltlich-bewährungslogisch auf etwas hin oder an etwas ausrichten.

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schlossen hätte, sich inhaltlich bewährungslogisch zu orientieren oder zu dem er wie die eingangs erwähnten Punks in Opposition tritt. Insofern kann er auch nicht scheitern, weil es gar nichts gibt, an dem er sich über die Bewältigung des Hier und Jetzt hinaus bewähren könnte. Er scheitert dann, wenn er die Gegenwart nicht (mehr) bewältigen kann, wenn ihm beispielsweise seine Balanceakte zwischen widersprüchlichen Ordnungen, um die es im Zuge der Rekonstruktion der Milieuerfahrung prekärer Ordnung gehen wird, nicht mehr gelingen. Es zeigt sich anhand seines Falls deutlich, dass Bewährungsmythen, die eine Bewährung an etwas zum Inhalt haben implizit an Lebensbedingungen einer mehr oder minder sicheren, bürgerlichen Situierung und Moderne gebunden sind. Carlos ist ein Fall der sozial bedingten Abwesenheit eines auf Bewährungsziele gerichteten Bewährungsstrebens. Der vornehmliche Grund dafür, so zeigt sich anhand von Carlos Erzählung darüber, dass seine Kinder ihn den „Mann des Morgen“ nennen würden, liegt in seiner prekären Lebenslage, die Planungen und vor allem die Hoffnung auf das tatsächliche Eintreten eines anvisierten zukünftigen Verlaufs vergeblich erscheinen lässt. Es lässt sich verallgemeinern, dass es in solchen prekären und marginalisierten Milieus wie dem der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes erhebliche Begrenzungen gibt, die, insbesondere, wenn sie besonders scharf sind, es Subjekten nicht erlauben – oder es subjektiv wenig aussichtsreich erscheinen lassen, – sich bewährungslogisch und auf Ziele gerichtet zu orientieren. Positiv gewendet ist diese Plan- und Ziellosigkeit das, was Carlos positiv von seinem Leben hat. Aus ihr ergeben sich seine Freuden und seine Vergnügungen, die sich, wenn sie von Carlos vorgetragen werden, auch als Anzeichen eines Stolzes auf seinen Lebenswandel deuten lassen. Er sagt fatalistisch, für ihn gebe es kein Morgen. Diese Ausdrucksweise ist ein milieuspezifischer und für den um das Hier und Jetzt zentrierten Bewährungsmythos typischer Code, der eine positive Wendung und einen Stolz des prekären und zerrütteten Milieus ausdrückt und die Kraft betont, über die diejenigen verfügen, die in ihn überleben. Eine kollektive Verankerung findet dieser Bewährungsmythos somit in der Milieukultur. Er findet sich in den Geschichten und in den Corridos über das Leben von Menschen wie Carlos und in der Verehrung La Santa Muertes. Während Carlos sich nur selten um seine bei der Mutter lebenden Kinder kümmert und somit seine Elternschaft praktisch kein Bewährungsfeld darstellt, zeigt sich im Interview mit Fernanda, dass ihre Mutterschaft für sie durchaus ein mögliches Bewährungsfeld ist.

Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit | 163

Tabelle 10: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda I.

Fernanda

I. Fernanda

y si te imaginas como el futuro perfecto. como sería? cuales son los planes? mi plan perfecto. que mis hijos estu#, mis hijas estudien. que tengan, yo tener una estabilidad económica bien. para mis hijas. no para mi. para mis hijas. y mínimo que. darles una carrera. para que no anden batallando. hm. porque a#, a mi papá, mi padrastro me decía „estudien. leen.“ un hijo suyo que le dej#, o sea, a uno de padres a ustedes de hijos es el estudio. nada mas. yo decía „para que estudio“. ya hasta ahorita si veo que si es cierto. o sea muchísima falta estudiar. y más cuando uno es mujer. porque los hombres como quieran. aunque sea de albañil eso que lo que caiga ahí encuentren. pero uno de mujer no.

und wenn du dir sowas wie die perfekte Zukunft vorstellst. wie wäre das? welche sind die Pläne? mein perfekter Plan. dass meine Kinder lern#, meine Töchter lernen. dass sie haben werden, ich eine gute wirtschaftliche Stabilität habe. für meine Töchter. nicht für mich, für meine Töchter. und Minimum dass. ihnen eine Ausbildung geben. damit sie nicht kämpfen müssen.. hm. weil z#, zu meinem Papa, mein Stiefvater sagte mir „lernt. lest.“ ein Sohn von ihm dass ihn läss#, also, von einem Eltern zu euch als Kindern ist das Lernen. nichts weiter. ich sagte „wozu lerne ich“. und bis jetzt sehe ich doch dass es richtig ist. also lernen fehlt sehr. und mehr noch als Frau. weil die Männer wie sie wollen. auch wenn es als Maurer sei das was gerade kommt da finden sie. aber einer als Frau nicht.

Fernanda formuliert für ihre weiblichen Nachkommen den Wunsch, dass sie lernen sollen. Sie sollen eine Ausbildung erhalten und so vor einem ständigen Kampf ums Überleben bewahrt sein. Für Männer, so erklärt Fernanda, stelle sich diese Notwendigkeit in ihrem Milieu nicht, da sie immer in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Mit diesen Ausführungen präsentiert Fernanda eine Idee eines besseren Lebens und somit einen Bewährungsmythos. Fernanda führt die bessere Zukunft ihrer Töchter als ihr eigenes Zukunftsziel an und beruft sich somit auf einen gendersensitiven Bewährungsmythos als Mutter. Unter Hinzunahme aller vorliegenden Daten zu Fernanda und basierend auf

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den vorangegangenen Analyseergebnissen des Interviews mit Fernanda ist festzuhalten, dass Fernanda den Bewährungsmythos der Elternschaft an dieser Stelle zwar formuliert, praktisch jedoch wenig an ihn gebunden ist. Sie kann nur sehr eingeschränkt auf eine stabilere Situierung ihrer Familie und die Ermöglichung einer Ausbildung für ihre Kinder hinarbeiten. Ähnlich schreibt Lewis über Kulturen der Armut, dass „die Solidarität der Familie [zwar betont wird] – ein Ideal, das allerdings nur selten erreicht wird“ (Lewis 1992: 29). Fernandas Nennung einer Idee von Bewährung in der Elternschaft lässt sich analog zu der im Zuge der Analyse der Rahmenleistungen herausgearbeiteten Bedeutung von Planung für Fernanda deuten. Zwar ist ihr ein Konzept von bewährter Elternschaft (bzw. Planung) abstrakt zugänglich, praktisch lässt es sich in ihrer sozialen Lage jedoch kaum anwenden, da Fernanda nicht über die Mittel verfügt, diese Idee zu verwirklichen. Sie kann sich somit lebenspraktisch nicht bewährungslogisch entscheiden, wohl aber die Idee formulieren. Angesichts der Zerrüttung und der herrschenden Schutzlosigkeit in dem Milieu besteht die positive Seite eines Lebens in diesem Milieu in lustvollen, momentanen und kurzfristigen Sinnesgenüssen, und vor allem in einer großen Freiheit. Es ist eine Freiheit von Bewährung, Planung und Verantwortung. Dabei ist diese positive Wendung insofern trostlos, als die Bindungslosigkeit in den Sozialbeziehungen und die schwierige Erreichbarkeit auch vager Lebensziele, die als sinnstiftend erfahren werden könnten, die notwendigen Voraussetzungen für das Überleben in dem Milieu darstellen.

LA SANTA MUERTE UND DIE MILIEUERFAHRUNG DER BINDUNGSLOSIGKEIT Fernanda hält ihre Beziehung zu La Santa Muerte durch reziproken Tausch aufrecht: Beispielsweise gewährt La Santa Muerte ihr zunächst subjektiv Schutz. Fernanda gibt La Santa Muerte dann einen Apfel als Gegengabe. Wegen ihrer prekären monetären Ausstattung hat sie eine goldene Figur La Santa Muertes auf ihrem Hausaltar, der sie täglich einen Apfel, Zigaretten und Münzen darbietet. Ihre Gaben an La Santa Muerte sind Alltagsgegenstände, die konsumiert bzw. verwendet werden können. Die Art und Weise, in der Fernanda mit La Santa Muerte kommuniziert, unterstreicht die Alltäglichkeit ihrer Verehrung La Santa Muertes innerhalb des Hauses. Fernanda berichtet, sich mit La Santa Muerte zu „unterhalten“ und mit ihr zu „plaudern“. Wie in einer Hausgemeinschaft herrscht Güterkommunismus, wenn Fernanda La Santa Muerte ihre alltäglichen Gaben bereitstellt. Dabei ist La Santa Muerte in dem Haushalt in Fernandas Vorstellung

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keine passive Güterempfängerin – kein Haustier –, sondern eine autonome Agentin, die Gaben empfängt und sich diese auch selbst beschafft, wenn Fernanda vergisst, sie darzubieten. Tabelle 11: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

I. Fernanda

al seguiente día se me olvidó dejar#, dejarle su manzana. ya yo en la noche yo no mas llegué con su cigarro y su#.. sus monedas. y yo traía una manzana en mi bolsa. de que siempre compro. o sea siempre le he comprado manzanas... yo me dormí con la bol#, así con la bolsa así [zeigt, wie sie ihre Tasche dicht an sich klemmt.]. en mi cama. yo sentí que alguien agarró. sacó la manzana. o sea tra#, agarraron mi bolsa. me la quitaron. y le pusieron en la mesa. yo ya estaba bien.. ya andaba bien borracha. yo no más ví, abrí los ojos y ví la sombra. con su manzana. en la mañana esta por, esta lo juro que me levanté.. pero así como que lle#, „que pasó eeh?“ voy abriendo mi bolsa no estaba la manzana.. aha. y donde estaba? la, la manzana estaba mordida en el altar. porque la Santa tenía hambre.

am nächsten Tag hatte ich vergessen ihren Apfel dazu#, dazulassen. schon nachts kam ich nur mit ihrer Zigarette an und ihrer#.. ihren Münzen. und ich hatte einen Apfel in meiner Tasche. von denen die ich immer kaufe. also ich habe ihr immer Äpfel gekauft… ich schlief ein mit der Tasch#, so mit der Tasche [Zeigt, wie sie ihre Tasche dicht an sich klemmt.]. in meinem Bett. ich spürte dass jemand zugriff. nahm den Apfel heraus. also nah#, griffen meine Tasche. sie nahmen sie mir weg. und legten sie auf den Tisch. ich war schon gut.. ich war schon ziemlich betrunken. mehr sah ich nichts weiter, ich öffnete die Augen und sah den Schatten. mit ihrem Apfel. am Morgen ist er auf, ist er ich schwöre ich stand auf.. aber so als ich ank#, „was ist passiert eeh?“ ich öffne meine Tasche der Apfel war nicht da.. aha. und wo war er? der, der Apfel lag angebissen auf dem Altar. weil die Santa Hunger hatte.

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Kristensen deutet Tauschbeziehung zwischen Gläubigen und La Santa Muerte24 im Lichte von Familie und familialen Beziehungen des reziproken Tauschs (vgl. Kristensen 2019). Der Verehrung La Santa Muertes liegt ein „exchange mechanism“ (Pansters 2019: 30) zugrunde, der im Sinne Grazianos durch einen „spiritual contract“ strukturiert ist „that establishes mutual obligations for the folk saint and the devotee“ (Graziano 2007: 60, vgl. Pansters 2019: 30).25 Ausgehend von der Beobachtung, „one often find that devotees speak to their santas as if they were family members or close friends” (Kristensen 2019: 148) – „They often call their image their ‚child‘ (mi niña, mi nena), ‚sister‘ (manita), ‚mother‘ 24 Im Sinne einer Ablauffigur aus 1. dem Stellen einer petición; 2. der gleichzeitigen Formulierung einer manda (einem Versprechen); 3. dem Erhalt der Gabe La Santa Muertes und 4. einer Verpflichtung zur Erfüllung der formulierten manda durch die Gläubigen. 25 Kristensen (2011: 9ff.), Pansters (2019: 31f.) und Roush (2014) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen paros und amparo (petición und manda): „It is also important to address the meaningful distinction between amparo and paro and the importance granted to time. Amparo is quintessentially about protection secured by a temporal distance – that is, protection through postponing the final encounter with danger and death. The generalized, unconditional gift exchange typical of home altars constitutes the natural and ‚familial‘ habitat that nurtures amparo. However, the balanced reciprocity typical of commercial or even utilitarian exchanges between devotees and La Santa Muerte through the mandas found in paros (favours in exchange for promises) reveals a distinct approach to exchange with La Santa Muerte (Kristensen, 2011, p. 155; Perdigón, 2008a, p. 65 [zitiert nach Pansters 2019: 32.]).“ (Ebd.) Kristensen entwirft eine Beziehung zwischen amparo und paros, „amPAROS“, folgendermaßen: „My interlocutors do not principally approach Saints, Virgins and God for salvation in the afterlife, even though this is also at stake. Rather they look for amparos and paros, which are distinct emic notions of protection or a helping hand in their present life. The relationship between paros and amparos is what I have stylistically written as amPAROS. Despite the fact that paro and amparo have distinct etymological origins, in my ethnographic material they are related, insofar as both notions concern protection obtained through evasion. Amparos postpone enmity with a potential killer (Death or God) by postponing one’s day of reckoning with them a little further into the future, whereas paros ‚cover up‘ and thereby avoid one from being seen by one’s potential enemy.“ (Kristensen 2011: 12) Diese Unterscheidungen spielten im Zuge der Feldforschung zu dieser Arbeit für interviewte Anhänger*innen, während Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes und während sonstiger beobachteter Rituale manifest und sprachlich keine Rolle. Sie können aber als analytische Unterscheidungen herangezogen werden.

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(madrecita), or ‚godmother‘ (madrina)“ (ebd.) – zeigt Kristensen Bezüge der Verehrung La Santa Muertes zu familialen Beziehungen auf. Auch Fernanda sagt allgemein, La Santa Muerte sei für ihre Anhänger*innen „wie eine Mutter“. Nach Kristensen treten Anhänger*innen La Santa Muertes im Zuge eines fortwährenden Gebens und Nehmens mit der Todesheiligen in eine Beziehung, wie sie auch in Familienkonstellationen vorkommt, in eine „relationship in which faith and loyalty are stressed through a family commitment“ (ebd.: 148).26 Fernanda geht grundsätzlich davon aus, dass La Santa Muerte besonders gut zu Menschen passe, „die sie selbst gesehen hat“. Da Fernanda selbst Waise ist, der Vater lebt zwar noch, ist aber abwesend, meint sie, La Santa Muerte sei grundsätzlich eine passende Heilige für sie. Tabelle 12: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

la Santa es muy.. muy buena con los que son, con los que ella misma ha visto. pos imagínate yo quedaba huérfana de doce años. de madre y de padre.

die Santa ist sehr.. sehr gut zu denen die sind, zu denen die sie selbst gesehen hat. also stell dir vor ich wurde mit zwölf Jahren Waise. von Mutter und Vater.

26 Die Tauschbeziehung zu La Santa Muerte evoziert nach Kristensen familiale Beziehungen zu La Santa Muerte, „what starts as an economic transaction (a manda) ends up being a family commitment, which in case of neglect might provoke the ultimate castigation (death).“ (Kristensen 2019: 149) Unter Bezug zu drei unterschiedlichen Arbeiten über Reziprozität (Sahlins 1972, Lomnitz 2005 und Graeber 2011), betont Kristensen Ambiguität und Spannungen in Situationen des reziproken Tausches würden allgemein zu Familiensettings passen: „When Lomnitz comments that tenderness and mutual affection is tested in violent matrimonial relationships being part of specific social and cultural forms of dominance, and when Graeber describes love as an important feature of nonreciprocal exchange in a mother-child relationship, I suggest that, from different sides, they exemplify a structure of exchange incorporating tense internal contradictions similar to those found in the cult to La Santa Muerte.“ (Kristensen 2019: 150) Der Umgang mit La Santa Muerte sei ganz ähnlich familialen Beziehungen. „This family approach to the saint has its pitfalls. It is no easy task to commit oneself in a family-like manner as it is also demanding, living in a household with children, sisters, brothers, mother, father, husband, wife, and godparents. Visits, flowers, food, birthdays, chatting, and cleaning all take their toll. It simply takes an effort to be regularly present in the lives of others.“ (Ebd.: 148)

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Während Fernandas familiale Situation durch Bindungslosigkeit, ihre wiederholte Freisetzung aus Familien und von der Unvollständigkeit und Zerrüttung ihrer Herkunftsfamilie und ihrer Gründungsfamilien gekennzeichnet ist, befindet sich Fernanda mit La Santa Muerte in einer fortwährenden tauschbasierten Beziehung und in einer Hausgemeinschaft. In dieser Konstellation überbrückt La Santa Muerte subjektiv und partikular als Autorität und unabhängige Agentin insbesondere solche milieuspezifischen Risiken, die sich aus Fernandas zerrütteten Familien und der Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit ergeben. Beispielsweise ist Fernanda in der Folge der Zerrüttung ihrer Familie und der schwachen Bindungen zwischen Kindern und Eltern wiederholt von ihren Kindern getrennt. Mit Hilfe La Santa Muertes, so die Deutung Fernandas, seien ihre Kinder jeweils zu ihr zurückgekommen. In Situationen, in denen Fernanda akut den Konsequenzen ihrer familiären Situation ausgesetzt ist, ist es La Santa Muerte mit deren Hilfe eine subjektive und partikulare Lösung der je akuten Problemlagen eintritt. Ein weiteres Beispiel dafür bilden die Erzählungen Fernandas über ihre erste Schwangerschaft und über die Geburt ihrer jüngsten Tochter. Dabei nimmt Fernanda auch eine Unterscheidung zwischen La Santa Muerte und der Jungfrau von Guadalupe vor. Als Fernanda mit 17 Jahren zum ersten Mal schwanger war, habe sie den Vater des ungeborenen Kindes verlassen, weil dieser sie schlecht behandelt habe.27 Sie sei zunächst zu einer Tante einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter in die rund 300 Kilometer von Guadalajara entfernt liegende Stadt Zacatecas gereist. Von dort habe sie sich nach kurzer Zeit auf den Rückweg nach Guadalajara gemacht, um zu dem Vater des ungeborenen Kindes zurückzukehren. Zu dem Zeitpunkt war sie noch keine Anhängerin La Santa Muertes und habe sich während der Reise an die Jungfrau von Guadalupe gewendet.

27 Fernanda berichtet, der Mann sei älter als sie – Fernanda war damals ca. 16 Jahre alt – gewesen und hätte bereits Kinder aus früheren Beziehungen gehabt. In der Hausgemeinschaft mit ihm und seinen Kindern habe sie „wie eine Sklavin“ im Haushalt arbeiten und die Kinder versorgen müssen.

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Tabelle 13: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

embarazada. de ahí me fui a Zacatecas con una tía de mi amiga, de la amiga de mi mamá. yo embarazada. tenía do#, me faltaban dos meses para aliviarme. me dijo „sabes que Fernanda ve y habla con el papá del

schwanger. von dort ging ich nach Zacatecas zu [mit] einer Tante meiner Freundin, der Freundin meiner Mama. ich schwanger. ich hatte zwe#, es waren noch zwei Monate bis zur Geburt. sie sagte mir „weist du was Fernanda sieh mal und rede mit dem Papa des

niño. a lo mejor te.. te ayuda“. y yo „si“ era cierto. pues ya, viene. y en el cam#, y en el transcurso del camión hay virgen de guadalupe. entonces „ojalá [1 uv] que lo haye y ya así.. y diosito.“ llegué y no estaba. que se había ido, supuestamente a estados unidos [4] a mi ya más faltaban dos meses pa´ aliviarme... pos cuando uno es la primera vez no sabe ni a lo que se enfrenta.

Kindes. am besten.. hilft er dir.“und ich „ja“ es stimmte. also ging ich schon. und auf dem We#, und auf der Überfahrt des Busses gibt es Jungfrau von Guadalupe. also „hoffentlich [1 uv] dass er da sein möge und so.. und Gott [deminutiv].“ ich kam an und er war nicht da. er war weg, wahrscheinlich in die Vereinigten Staaten gegangen [4] und es waren noch zwei Monate bis zur Geburt… also wenn es das erste Mal ist weis man nicht mal was einem bevorsteht.

Fernanda befand sich in einer schwierigen Lage. Ihre Hoffnung, den Vater des Kindes zu finden und Hilfe zu bekommen, löste sich in Enttäuschung auf. Sie war allein und auf sich selbst gestellt und die Geburt ihres ersten Kindes stand unmittelbar bevor. Fernandas Tochter kam in einem Krankenhaus in Guadalajara zur Welt. Als Fernanda aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist sie erneut auf sich allein gestellt. Sie habe sich an die Jungfrau von Guadalupe gewandt. Alles Bitten und Flehen habe nicht geholfen, um ihre Situation zu verbessern, sodass sie sich gefragt habe, wofür sie die Bemühungen um die Jungfrau von Guadalupe überhaupt auf sich nehme, wenn sie ihr praktisch doch nicht helfe.

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Tabelle 14: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda I. Fernanda

y yo le supliqué y le lloré mucho la Virgen de Guadalupe.. hm... por eso también a veces como que te quedas con la idea de que. de que te sirve. eh. ser les tan devotos y al último no. no te oyen.

und ich bat sie und weinte sehr zur Jungfrau von Guadalupe.. hm… auch deswegen manchmal bleibst du mit der Idee wozu. was es dir bringt. eh. sie so sehr zu verehren und am Ende nein. sie hören dich nicht.

Mit La Santa Muerte sei es anders. Dort sieht Fernanda praktische Erfolge. Tabelle 15: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda I. Fernanda

I. Fernanda

ahm, ahm.. y con La Santa esta diferente? si. fíjate, yo de#, me andaba muriendo de la chiquita y yo le decía „ay Santísima Muerte ayúdame porque no me quiero, no quiero que se muera.“ [2 uv] todos habían sido partos normal y de la chiquita fue cesárea. pero nació bien. hm. y yo a los tres días que me dieron de alta me la, se la traje.. a la Santa. para que ella... ella la viera. y desde entonces, fíjate que no se me enferma. no nada. y a mi los doctores me dijo „no pues, va ser una niña muy enfermiza.“

ahm, ahm.. und mit der Santa ist das anders? ja. schau, ich sag#, ich lag im Sterben wegen der Kleinen und ich sagte ihr „ay Santisima Muerte hilf mir weil ich möchte nicht [zunächst setzt Fernanda an zu erzählen, sie habe La Santa Muerte gebeten, selbst nicht sterben zu müssen], ich möchte nicht dass sie stirbt.“ [2 uv] alle waren normale Geburten gewesen und die der Kleinen war ein Kaiserschnitt. aber sie wurde gesund geboren. hm. und ich nachdem ich nach drei Tagen entlassen wurde, brachte ich sie.. zur Santa. damit sie… sie sie sehen würde. und seitdem dann, schau sie wird mir nicht krank. gar nichts. und die Ärzte hatten mir gesagt „nein also, sie wird ein sehr kränkliches Mädchen sein.“

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In der Vorstellung Fernandas garantiert La Santa Muerte unabhängig und auch entgegen der Einschätzungen der Ärzte, die Gesundheit ihrer Tochter. Fernanda stellt ihre Tochter unter den Schutz La Santa Muertes, indem sie sie nach der Geburt vor einer Figur La Santa Muertes zeigt, ganz so, wie ein Neugeborenes der erweiterten Familie vorgestellt werden würde. Die Verehrung La Santa Muertes lässt sich grundsätzlich mit dem Lebenswandel von Fernanda und Carlos vereinen, weil La Santa Muerte als eine ethisch-moralisch nicht eindeutig gebundene und nicht-richtende Heilige verstanden ist. Daneben teilt sie die bevorzugten Genüsse ihres Milieus. Der Genuss von Tabak, Marihuana oder Schnaps würde vor einer oder einem katholischen Heiligen als sündig gelten und wird in der Vorstellung von La Santa Muertes Anhänger*innen von La Santa Muerte hingegen geteilt. Huffschmid schreibt über einen jungen Anhänger La Santa Muertes in Mexiko-Stadt: „What most attracts him to La Santa Muerte is her lack of prejudice and her impartiality. ‚Whatever I do, she will always give me her blessing,‘ he said. ‚Even if you commit a crime?‘, I asked, ‚even a murder?‘ ‚Even then,‘ he responded, smiling, ‚even then La Santa Muerte will hold her hand over me to protect me.‘ ‚La Santa no me juzga‘ (She does not judge me). This absence of judgmentalism is likely one of the core elements of the saint´s attraction for urban devotees: her unconditional accessibility. Unlike Pentecostal churches, here there is no need for purification before acceptance; all manner of sinners are welcome; no one has to renounce anything, swear loyalty or promise exclusivity.“ (Huffschmid 2019: 131)

Fernanda erklärt mit Bezug zum Katholizismus auch, dass es nicht helfe, sich schuldig zu fühlen oder Schuld zu beteuern.28 Zudem schätze sie auch die prakti-

28 Während eines anderen Gesprächs erklärt Fernanda auch, die Hölle der katholischen Kirche sei fern und im Leben irrelevant, eher mache man sich seine eigene Hölle auf Erden mit seinen Handlungen. Eine ähnliche Position zur katholischen Vorstellung von der Hölle findet auch Pansters im Gespräch mit einem Taxifahrer in MexikoStadt, dem Dritte erzählt hätten, „that worshipping La Santa Muerte would send him straight to hell. But he is not particularly impressed by the threat of the hereafter: ‚Which hell? ‘, he asks rhetorically, and then adds: ‚¡El infierno está aquí!‘ – ‚Hell is right here!‘. When asked what he means by that, he tells me, first of all, about the pain he suffered when his father and then his mother passed away while he was just a child. The grief blackened his existence and overwhelmed him with loneliness and hurt so that it felt like hell. While hell manifested itself in Ricardo’s [, the taxi driver,] individual suffering, it also took a more general shape in the form of social and economic

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sche Hilfe der anderen Gläubigen La Santa Muertes aus ihrem Milieus in der Kirche. Tabelle 16: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda Fernanda

I.

Fernanda

si te ayudan. a mucha gente. y en la iglesia vas y lloras y te pones así que te p#, que por mi culpa por mi culpa, pero nadie te dice nada. y aquí te ven triste y que tienes?. no, te, te ayudan. se preocupan por ti. ahm. ahm. y porque no vas más por aquí si.. si esta, porque haz de cu#, me haz de creer de que me tengo miedo ver al mucha#, a la persona con la que, [lacht]

sie helfen dir. vielen Leuten. und in der Kirche [katholische Kirche] gehst du hin und weinst und du machst so dass sie dir ve#, von wegen meiner Schuld wegen meiner Schuld, aber keiner sagt dir etwas. und hier sehen sie dich traurig und was hast du?. nein, sie helfen dir, dir. sie kümmern [sorgen] sich um dich. ahm. ahm. und wieso gehst du nicht mehr hier her wenn.. wenn es ist, weil stell dir v#, glaub mir ich habe Angst diesen Man#, diese Person zu sehen mit der das, [lacht]

Zusammenfassend steht die Verehrung La Santa Muertes in einem Bedingungsverhältnis zu der Milieuerfahrung schwacher oder keiner Bindungen entfaltender Familiengefüge. La Santa Muerte gleicht als unabhängige Agentin durch Erosion und Zerrüttung von Familie bedingte Risiken, Problemlagen, Gefahren und Sicherheitsdefizite subjektiv und partikular aus. Subjektiv agiert La Santa Muerte dabei nach ihren eigenen Regeln und ermöglicht es, Defizite zu überbrücken und Gefahren zu bannen. Die Beziehung zwischen Anhänger*innen wie Fernanda und La Santa Muerte gestaltete sich dabei durch eine anhaltende Tauschbeziehung. La Santa Muerte wird durch die Praxis der Darbietung von Gaben und Gegengaben am Hausaltar zu einem Mitglied des Haushalts, zu einer „guten Mutter“. Anhänger*in und La Santa Muerte treten in eine Hausgemeinschaft, in der übertragen auch Formen von Autorität, Pietät und Güterkommunismus herrschen. Dabei gelten La Santa Muertes Autorität als unabhängige Agentin und La Santa Muertes Ethik, ihre Regeln von Pietät und Anstand. So kann Fernanda bemarginalization coupled with insecurity, violence, and fear. Among Mexico City taxi drivers, such feelings are by no means uncommon.“ (Pansters 2019: 2f.)

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trunken nach Hause kommen (und vergessen La Santa Muerte ihren Apfel zu geben) und La Santa Muerte rügt sie nicht (, sondern beschafft sich ihren Apfel). La Santa Muerte erhält auf ihrem Altar nicht nur vornehmlich Blumen wie die Jungfrau Guadalupe, sondern beispielsweise auch Zigaretten. Sie passt insofern auch zu dem milieuspezifischen Bedarf an Pietät und Anstand.

Milieuerfahrung von Anomie und Stigma

Eine Milieuerfahrung von Anomie und Stigma ergibt sich aus der Lage der Anhänger*innen La Santa Muertes in der Sozialstruktur und durch die ihnen nur stark eingeschränkt zur Verfügung stehenden Mittel zum Erreichen kultureller Ziele. Während zunächst mit dem Begriff der Anomie nach Durkheim und Robert K. Merton die soziale Lage der Gläubigen La Santa Muertes und die Sozialstruktur in den Blick kommen, wird anschließend mit dem Stigma-Begriff Goffmans ein Zugang zur subjektiven Bedeutung der sozialen Lage und Anomie eröffnet. Es wird mit Bezug zu der sich ergebenden Heuristik gezeigt, wie sich die Verehrung La Santa Muertes im Verhältnis zur Milieuerfahrung von Anomie und Stigma gestaltet.

ANOMIE UND ABWEICHENDES VERHALTEN Merton spricht mit Bezug zu Durkheim1 dann von Anomie, wenn kulturell definierte Ziele mit den zur Verfügung stehenden institutionellen Mitteln nicht erreicht werden können. Er unterscheidet in seiner Anomietheorie zwischen einer kulturellen Struktur, die er definiert als „den Komplex gemeinsamer Wertvorstellungen, die das Verhalten der Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft oder Gruppe regeln“ (Merton 1968: 292) und einer sozialen Struktur, mit der „der Komplex sozialer Beziehungen gemeint [ist], in die die Mitglieder der Gesellschaft oder Gruppe unterschiedlich einbezogen sind“ (ebd.).

1

Wenn Normlosigkeit, Gesetz- und Regellosigkeit herrschen, wenn die gesellschaftliche Ordnung gestört ist und dadurch die Zügelung und Integration der Individuen nicht mehr gewährleistet ist, dann ist nach Durkheim ein Zustand der Anomie gegeben (vgl. Durkheim 2017: 273ff.).

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„Als Anomie wird schließlich der Zusammenbruch der kulturellen Struktur bezeichnet, der besonders dort erfolgt, wo eine scharfe Diskrepanz besteht zwischen kulturellen Normen und Zielen einerseits und den sozial strukturierten Möglichkeiten in Übereinstimmung hiermit zu handeln, andererseits. Nach dieser Konzeption können kulturelle Werte sogar zu Verhalten führen, das zu den Forderungen dieser Werte selbst im Widerspruch steht.“ (Ebd.)

Zu abweichendem Verhalten kommt es insbesondere dann, wenn die durch die sozialstrukturelle Lage bereitstehenden Möglichkeiten, den kulturellen Zielen und Normen zu entsprechen, verstellt oder prekär sind. „Die Sozialstruktur gerät […] in Spannung zu den kulturellen Werten, indem sie wert- und normadäquates Handeln den Inhabern bestimmter Positionen in der Gesellschaft ohne weiteres ermöglicht, anderen dagegen erschwert oder gar unmöglich macht. Die Sozialstruktur wirkt sich entweder hemmend oder fördernd bei der Erfüllung kultureller Erwartungen aus. Wenn die kulturelle und soziale Struktur schlecht integriert sind, wenn die erstere Verhalten und Einstellungen verlangt, die die zweite verhindert, dann folgt daraus eine Tendenz zum Zusammenbrechen der Normen, zur Normlosigkeit.“ (Ebd.)

Abweichendes Verhalten ist in großem Ausmaß also dann zu erwarten, wenn „das kulturelle Wertsystem bestimmte Erfolgsziele für die ganze Bevölkerung über alle übrigen Ziele setzt, während die Schichtstruktur für einen großen Teil dieser Bevölkerung den Zugang zu den gebilligten Mitteln zum Erreichen dieser Ziele entscheidend einengt oder sogar völlig verwehrt“ (ebd.: 298).

Merton geht davon aus, dass „jede soziale Gruppe […] ihre kulturellen Ziele an bestimmte Regeln, die in den Sitten oder den Institutionen verankert sind und festlegen, welche Verfahren zulässig sind, um sich auf diese Ziele zuzubewegen“ (Merton 1995: 128), koppelt. Die kulturellen Ziele sind bei Merton weit definiert, als „Objekte, Zustände und Ressourcen, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft von primärem Interesse sind“ (Esser 1999: 111, vgl. Merton 1995: 128ff.). Merton weist auf eine typische Folge des Zusammenbruchs von Normen in einer Situation harscher Anomie hin, die schließlich sogar zu einem Triumph des „Amoralischen“ führen könne. „Mit zunehmender Betonung prestige-geladener Ziele – mit welchen Mitteln sie auch immer angestrebt werden – wird das Gleichgewicht zwischen kulturell festgelegten Zielen und Mitteln immer mehr gestört. Dann verkörpert schließlich ein AL CAPONE den Tri-

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umph amoralischer Intelligenz über moralisch vorgeschriebenen ‚Mißerfolg‘, weil die Kanäle vertikaler Mobilität in einer Gesellschaft, die großen Wert auf wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Aufstieg aller ihrer Mitglieder legt, verschlossen oder eingeengt sind.“ (Ebd.: 297)

Eine zeitgenössische und mexikanische Verkörperung des Triumphes amoralischer Intelligenz ist in diesem Sinne Joaquín Guzmán Loera, „El Chapo“. Dieser war im Juli 2015 in spektakulärer Flucht durch einen unterirdischen Tunnel aus einem mexikanischen Hochsicherheitsgefängnis geflohen. Auf Märkten in Mexiko konnte man Hemden kaufen, die aussahen wie die, die El Chapo auf den wenigen von ihm bekannten Fotografien trug. In den Kirchen im Süden und im Osten von Los Angeles verfolgte man die Flucht des Chapo bzw. die Fahndung nach ihm mit großem Interesse und Gefallen an den Schnippchen, die El Chapo der Strafverfolgung geschlagen hatte.2 Die Emergenz von Straßengangs in Los Angeles und ihr gegenwärtiges Fortbestehen können als Ausdruck eines anomischen, spannungsvollen Verhältnisses zwischen kulturellen Normen und Zielen und den sozial strukturierten Möglichkeiten, in Übereinstimmung mit ihnen zu handeln sowie die Ziele mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen, gedeutet werden.3 Die Straßengangs 2

Es gibt eine Vielzahl Corridos und Musikvideos auf der Plattform YouTube, die El Chapos Flucht bzw. frühere Fluchten und seine Unterwanderung der offiziellen Ordnung in Musik und Videos glorifizieren. Beispielsweise „Estrategia de Escape“, El Komander (https://www.youtube.com/watch?v=_0Pf5m9jYKU; Abrufdatum 20.02. 2019) oder „Se Quedaron a tres Pasos“, Calibre 50 (https://www.youtube.com/watch ?v=yz6mC_5jfIE; Abrufdatum 20.02.2019).

3

Straßengangs gibt es auch in mexikanischen Städten wie beispielsweise in Guadalajara. Da das Thema der Straßengangs nur von dem Interviewten Miguel aus Los Angeles hervorgebracht wurde und ihr Bestehen während der Feldforschung vor allem dort auffiel, werden Straßengangs hier nur in Bezug auf Los Angeles angeführt. In den südlichen Stadtteilen von Los Angeles finden sich an Hauswänden und auf Mauern tags und Graffitis der Florencia 13 („F13“, „Florencia 13“) sowie Tattoos („Florencia“, „F13“, „South Side“, „Sur Side“) auf (männlichen) Körpern. Der Großraum Los Angeles weist eine der größten Straßengangpopulationen der USA auf und blickt auf eine Geschichte der massiven, teils repressiven Bekämpfung (und Inhaftierung) dieser Gruppen zurück (vgl. Orisco Flores 2014: 2f.). „In California, as in many other states these measures have included ‚gang injunction‘ laws that prevent gang members from congregation in public spaces, ‚gang enhancement‘ laws that enhance sentencing for violent crimes, and ‚three strike‘ laws that mandate life sentences for third-felony convictions. These stiff measures have been shaped by, but have also helped to shape,

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setzen sich vor allem aus sozial benachteiligten jungen Männern, Afroamerikanern und Latinos, zusammen (vgl. Orosco Flores 2014: 4, Rios 2011). „Gang activity, in particular, compensates for the absence of stable employment by allowing men to symbolically create and access alternative expressions of masculine dominance through behavior, dress, and language.“ (Orosco Flores 2014: 4, siehe auch Rios 2011). Als Gruppen, also Formen von Gemeinschaft, stehen die Straßengangs der Fragmentierung der marginalen Gruppierungen in den benachteiligten Stadtteilen entgegen. Mit (Erving) Goffman kann man die Gangs als eine Art „korporativen Lebens“ bezeichnen, die von den Individuen einer Stigmatisiertenkategorie aufrechterhalten wird. „Unter seinesgleichen kann das stigmatisierte Individuum seine Benachteiligung als Basis der Lebensorganisation benutzen, aber dafür muß es sich mit einer halben Welt abfinden.“ (Goffman 2014: 32) Straßengangs wie die seit den 1980er-Jahren und bis heute in den südlichen Stadtteilen Los Angeles sichtbare „Florencia 13“ sind während Miguels Sozialisation und insbesondere während seiner Adoleszenz im Süden von Los Angeles gegenwärtig. Miguel berichtet im Interview, ihre Gegenwart und Aktivitäten hätten sein Leben in dem Stadtteil bestimmt. Tabelle 17: Ausschnitt aus dem Interview mit Miguel Miguel

I. Miguel

so [Englisch], como diez bloques, ahí, cerca de esa área pasé.. desde los 6 años hasta los 12. después me moví a otra casa. hasta, también ahí mismo, en el centro. ahí, y ahí pasé casi más de trece años [4] y cómo fue?... hmmm [6] eeeh... [lacht]...eeh

so [Englisch], so zehn Blocks, dort, in der Nähe dieser Gegend verbrachte ich.. von sechs Jahren bis zwölf. danach zog ich in ein anderes Haus. bis, auch genau dort, im Zentrum. dort, und dort verbrachte ich fast mehr als dreizehn Jahre [4] und wie wars?... hmmm [6] eeeh… [lacht]… eeh

the public perception that gang members are career criminals and that they must be prosecuted more forcefully and subjected to lengthier sentences to protect the public.“ (Ebd.: 3) Die sozialen Folgen, Reaktionen auf und Umgangsweisen mit Kriminalisierung, repressiver Politik und Polizeiarbeit hat z.B. Alice Goffman in einem vorwiegend von Afroamerikaner*innen bewohnten Stadtteil Philadelphias untersucht (Goffman, Alice 2009, Goffman, Alice 2014). Die Erkenntnisse ihrer Studie lassen sich in Teilen auf die Situation in anderen US-amerikanischen Städten übertragen. Zur Geschichte von Straßengangs in den USA allgemein siehe Howell 2015, zu Gangs und Religiosität siehe beispielsweise Brenneman 2012.

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I. Miguel

[4] cómo te lo digo? [7] en los noventas... eeeh [5] Los Ángeles estaba lleno de pandilleros [4] Pandilleros. hmm... si, lo escuché criminales... o sea, lo que. ahh... muchos.. de los muchachos, de mi edad.. eeeh, los forzaban a meterse a, a pandillas... pero yo nunca fui ese tipo. No, por mi mamá pues, mi mamá, [lacht leicht]..soo.. por eso yo [2 uv] no entrarme a eso. pero... en esa época... en Los Ángeles, vivir en los Ángeles, era una.. época... eeh.. dura. eh, de mucha delinc#, eeh... de, de pandillas, pongamos así. so [Englisch].. pero si, pero yo siempre... ahí caminé bien...

[4] wie sage ich dir das? [7] in den 90ern… eeeh [5] war Los Angeles voll von Gangs [4] Gangmitgliedern. hmm… ja, ich hörte davon Kriminelle… also, das was. ahh… viele.. von den Jungen, meines Alters.. eeeh, wurden gezwungen in, in Gangs einzutreten… aber ich war nie dieser Typ. nicht, wegen meiner Mama also, meine Mama [lacht leicht].. soo.. darum bin ich [2 uv] da nicht eingetreten. aber… zu dieser Zeit… in Los Angeles, in Los Angeles zu leben, war eine.. eeh.. harte Zeit…. eh, mit viel Krimi#, eeh… von, von Gangs, sagen wir mal so. so [Englisch].. aber ja, aber ich… ging dort immer gut…

In den 1990er-Jahren in den südlichen Stadtteilen Los Angeles aufzuwachsen, hieß für Miguel, mit den Folgen einer schlechten Integration der kulturellen und der sozialen Struktur konfrontiert zu sein: mit Normlosigkeit und mit Anomie. Er sei wegen seiner Mutter zwar kein Mitglied der Straßengangs geworden, jedoch sei sein Leben im Süden von Los Angeles „hart“ gewesen, obgleich er dort „dort immer gut“ ging, also nicht in das Gangleben oder Gangkonflikte involviert war. Miguels retrospektive Erzählung und Deutung eines Lebens in dem Stadtteil angesichts des Bestehens der Straßengangs enthält viele Abbrüche und Pausen. Es lässt sich deuten, Miguel habe Formulierungsschwierigkeiten, die in einer „ad-hoc Übersetzungsleistung“ für die Interviewerin begründet sein dürften. Miguel erkennt, dass die Forscherin keine eigenen Erfahrungen mit der von ihm in der Nennung der Straßengangs thematisierten Form abweichenden Verhaltens und von Anomie hat. Er drückt in diesem Sinne aus, dass die Forscherin in seiner Wahrnehmung mit ihren sozialstrukturellen Möglichkeiten, den kulturellen Normen und Zielen entsprechen kann. Er selbst steht in diesem Sinne in einer doppelten Hinsicht außerhalb. Außerhalb derjenigen Gruppen, die sich als Straßengangs organisieren und außerhalb der Gruppen, und hier ordnet er die

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Forscherin ein, für welche die Sozialstruktur und die kulturelle Struktur in Einklang stehen.

STIGMA, ANOMIE UND NORMEN Goffman hat mit dem Begriff des Stigmas einen „Auszug“ gemacht „aus den traditionellen Feldern sozialer Probleme: rassische und ethnische Beziehungen, soziale Desorganisation, Kriminologie, Sozialpathologie und Devianz – ein Extrakt von etwas, das alle diese Felder gemein haben.“ (Goffman 2014: 180) Grundsätzlich davon ausgehend, dass die Gesellschaft Mittel zur Kategorisierung von Personen schafft, ermöglichen es diese Mittel, sobald ein Fremder vor Augen tritt, „seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ‚soziale Identität‘ zu antizipieren“ (ebd.: 10). Aus diesen Antizipationen ergeben sich normative Erwartungen und Anforderungen (vgl. ebd.). Goffman unterscheidet zwischen denjenigen Anforderungen an ein Gegenüber, die „in latenter Rückschau“ (ebd.) vorgenommen werden, der „virtualen sozialen Identität“ (ebd.) eines Gegenübers und denjenigen Attributen, die dem Individuum tatsächlich „bewiesen“ werden können, der „aktualen sozialen Identität“ (ebd.). Wenn eine diskreditierende Wirkung durch eine Eigenschaft einer Person ausgelöst wird, so nennt Goffman diese Eigenschaft Stigma.4 Das Stigma „konstruiert eine besondere Diskrepanz

4

„Fehler“, „Unzulänglichkeit“ oder „Handikap“ bezeichnen nach Goffman ebenfalls, was er Stigma nennt (vgl. Goffman 2014: 11). Goffman unterscheidet grundsätzlich drei Typen von Stigma: „physische Deformationen“, „individuelle Charakterfehler“ und „die phylogenetischen Stigmata“ (ebd.: 12f.), zu denen er neben Nation und Rasse auch Religion zählt. Phylogenetische Stigmata sind im Sinne Goffmans sozial „vererblich“: „In der jüngsten Geschichte funktioniert der Unterklassenstatus, besonders in England, als ein wichtiges phylogenetisches Stigma, wobei die Sünden der Eltern, oder wenigstens deren Milieu, das Kind heimsuchen, wenn sich das Kind unerhört weit über seinen Ausgangsstand erheben sollte.“ (Ebd.: 13) Die Normalen, denen das betreffende Stigma nicht anhaftet, glauben, dass „eine Person mit einem Stigma nicht ganz menschlich ist“ (ebd.) und üben eine „Vielzahl von Diskriminierungen aus, durch die […] ihre Lebenschancen wirksam, wenn auch oft gedankenlos“ (ebd.: 13f.) reduziert werden. Es wird eine Stigmatheorie konstruiert, die als Ideologie die Inferiorität der Stigmatisierten erklärt und die Gefährdung durch die Stigmatisierten nachweisen soll. So können Animositäten, die auf anderen Differenzen wie z.B. sozialen Klassenunterschieden beruhen, rationalisiert werden (vgl. ebd.: 14).

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zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“ (ebd.: 11).5 Besonders ist diese Diskrepanz nach Goffman in Abgrenzung von denjenigen Diskrepanzen, die Menschen veranlassen, „ein Individuum von einer sozial antizipierten Kategorie in eine andere, aber ebenfalls wohlantizipierte zurückzustufen“ (ebd.). Eine Diskrepanz also, die zu einem Kategorienwechsel führt. Stigma wird nur in Bezug auf diejenige Eigenschaft genutzt, die zutiefst diskreditierend ist und das bedarf einer „Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften“ (ebd.).6 Vorgänge der Stigmatisierung ergeben sich entlang geltender Normen und geltender Wertvorstellungen, wenn Subjekte als von diesen Normen abweichend wahrgenommen und in der Folge diskreditiert werden. Gelten die Normen, so bedeutet das, dass Subjekte sich zu ihnen ins Verhältnis setzten müssen, auch dann, wenn sie diese ablehnen. Goffman fasste in den 1960er-Jahren das geltende Wertsystem der USA idealtypisch zusammen. „Die allgemeinen Identitätswerte einer Gesellschaft mögen nirgends vollständig verankert sein, und dennoch können sie irgendeine Art Schatten werfen über die Begegnungen, auf die man überall im täglichen Leben stößt.“ (Ebd.: 158) Er schreibt, es gäbe „in einem gewichtigen Sinn nur ein vollständig ungeniertes und akzeptables männliches Wesen in Amerika: ein junger verheirateter, weißer, städtischer, nordstaatlicher, heterosexueller protestantischer Vater mit Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen im Sport. Jeder amerikanische Mann tendiert dahin, aus dieser Perspektive auf die Welt zu sehen; dies stellt einen Sinn dar, in dem man von einem allgemeinen Wertsystem in Amerika sprechen kann.“ (Ebd.)

Merton und Steven F. Messner und Richard Rosenfeld sprechen von einem american-dream-Ethos (vgl. Merton 1995: 22, Messner/Rosenfeld 1994: 6, siehe auch Hövermann/Messner/Zick 2015: 218), der um Geld, Profitabilität und Erfolg zentriert, die Richtlinien eines breiten gesellschaftlichen Spektrums be5

Personen mit einem Stigma durchlaufen ähnliche Sequenzen persönlicher Anpassung (Goffman 2014: 45). Eine Phase innerhalb dieser Sequenz ist dabei diejenige, „in welcher die stigmatisierte Person den Standpunkt der Normalen kennenlernt und in sich aufnimmt und hierbei den Identitätsglauben der weiteren Gesellschaft und eine allgemeine Vorstellung davon erwirbt, wie es sein würde, ein bestimmtes Stigma zu besitzen“ (ebd.). In einer diesem Sozialisationsprozess folgenden Phase lernt das Individuum, dass es „ein bestimmtes Stigma besitzt, und diesmal im Detail die Konsequenzen davon, es zu besitzen“ (ebd.).

6

„Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend.“ (Goffman 2014: 11)

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stimme.7 Der american-dream-Ethos wie er im Mythos „vom Tellerwäscher zum Millionär“ verschlagwortet ist eignet sich in diesem Sinne auch als Bewährungsmythos. Ein Schlüsselfaktum des subjektiven Umgangs mit dem geltenden Wertesystem oder den kulturellen Zielen, die es einschließt, liegt nach Goffman darin, dass auch diejenigen, die den Erwartungen und Normvorstellungen nicht entsprechen, dazu tendieren, die Auffassungen von Identität der Normalen zu teilen (vgl. Goffman 2014: 16). Wenn das stigmatisierte Individuum Identitätsstandards erwirbt und diese „auf sich anwendet, obwohl es ihnen nicht entspricht, ist es unvermeidlich, daß es hinsichtlich seines eigenen Ichs einige Ambivalenzen empfinden wird“ (ebd.: 133).

DISKREDITIERTE UND DISKREDITIERBARE Das Wissen um das eigene Abweichen von der geltenden Norm und die einverleibten Standards rüsten den Stigmatisierten (und die Stigmatisierte) „mit der intimen Gewißheit dessen aus, was andere als einen Fehler sehen, wodurch er, sei es auch nur für Augenblicke, unweigerlich zu dem Eingeständnis gezwungen wird, daß er in der Tat hinter das zurückfällt, was er realiter sein sollte.“ (Goffman 2014: 133) Scham kann angesichts eines Bewusstseins über das Zurückfallen hinter die Normalen und die Normalitätserwartungen zu einer möglichen Reaktion und Haltung werden. „Diskreditierte“ nehmen an, dass ihr jeweiliges Gegenüber bereits über ihr Anderssein Bescheid weiß und „Diskreditierbare“ meinen, ihr Stigma sei von Anderen nicht unmittelbar wahrnehmbar und ihnen (noch) nicht bekannt (vgl. ebd.: 12). Während der Feldforschung zeigten weibliche Gläubige La Santa Muertes sich zurückhaltender als Männer. Dazu ein Eintrag aus dem Forschungstagebuch: „Selbst dann, wenn ich Frauen, die an La Santa Muerte glauben, kennenlerne und in einen regelmäßigen Kontakt mit ihnen trete, sind ihre Antworten auf meine Fragen nach einem Interview oder nach einem Gespräch über ihre Lebensgeschichte und persönliche Erfahrungen mit La Santa Muerte meistens ‚Lieber nicht. Vielleicht später. (schüchternes La-

7

Ein Beispiel für die Geltung dieses Ethos in dem Milieu der Anhänger*innen La Santa Muertes ist Miguels Reaktion auf einen neuen Zeitvertrag als Nachtwächter in einer High-School in Hollywood: Er postet bei Facebook ein Bild des Schulgebäudes und fügt den Text ein „My Job in Hollywood“.

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chen).‘ Oder ‚oh ich weiß nicht, das ist mir peinlich.‘ Ich habe meistens – außer bei Esmeralda und bei Fernanda – das Gefühl, sie würden sich für alles schämen; über ihre Verehrung La Santa Muertes und vor allem über sich selbst. Ganz so, als würden sie, indem sie sich in ihrer Sitzhaltung klein machen, sehr leise sprechen oder aufhören zu sprechen – mit den Hinweisen ‚mehr habe ich nicht zu erzählen‘ oder ‚das ist schon alles‘ – vor Scharm im Boden versinken und verschwinden wollen.“

Geschlecht spielt für das Stigmamanagement innerhalb des Milieus der Anhänger*innen La Santa Muertes eine nennenswerte Rolle. Die Frauen schämen sich anders als die Männer. Die Möglichkeit zum Empfinden des Schams „entsteht daraus, daß das Individuum eines seiner eigenen Attribute […] als etwas Schädliches und als etwas, worauf es gern verzichten würde“ (ebd.), begreift. In diesem Lichte lassen sich die Rahmenleistungen zu den Interviews mit Maria, Esther und Fernanda deuten. Ihre schüchterne Zurückhaltung und ihr Ausdruck von Scham, bzw. im Fall von Fernanda die Abwesenheit beider, sind Ausdrücke ihres subjektiven Zurückfallens hinter Normalitätserwartungen und Umgangsweisen mit diesen. Dazu zwei weitere Einträge aus dem Forschungstagebuch: „Mit Esther habe ich mich seit meinem ersten Besuch der Kirche im Osten von Los Angeles jedes Mal kurz unterhalten. Nach dem dritten Treffen habe ich die zurückhaltende Frau gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, mir im Rahmen eines Interviews von Ihren Erfahrungen mit La Santa Muerte zu erzählen. Sie sagt, wenn auch zögerlich, zu. Nach der nächsten Messe bleiben wir in einer der Bänke sitzen, um unser Gespräch zu führen. Zwei andere Frauen gehen an uns vorbei und witzelten, Esther würde nun ins Fernsehen kommen. Esther sagte, das sei nicht so und ich wiederholte, das Aufnahmegerät würde nur unsere Stimmen festhalten und niemand komme ins Fernsehen. Esther rutscht dennoch sichtlich beunruhigt auf der Bank hin und her. Nachdem die Frauen gegangen sind, beginnt Esther mit leiser Stimme zu erzählen, sie habe angefangen, La Santa Muerte zu verehren, nachdem ihr Haus in Folge eines Hexereischadens von Würmern befallen gewesen sei. Diese Würmer seien die Folge eines von einer anderen, Esther böse gesonnenen Person, gesendeten Übels. Sie scheint sich zunehmend unwohl zu fühlen und bricht das Interview schließlich ab, indem sie sagt, sie habe nichts zu erzählen und sie sei wahnsinnig uninteressant. Das mit den Würmern sei außerdem schon alles, was sie zu sagen habe. Schließlich beendete sie das Interview mit dem Hinweis, sie habe keine Zeit mehr und müsse gehen.“ „Maria lerne ich während einem meiner täglichen Spaziergänge in Tijuana kennen. Die junge Frau verkauft an einem Straßenstand Zeitungen. Ich kaufe eine Zeitung und wir kommen ins Gespräch, sodass ich ihr von meiner Forschung berichte. Maria zeigte sich in-

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teressiert und über La Santa Muerte informiert, sodass ich sie fragte, ob es viele Gläubige in Tijuana gäbe. Ja, sagt Maria. Dann sagt sie, sie sei selbst eine von ihnen. In Guerrero, wo sie herkomme, gäbe es kaum Gläubige La Santa Muertes und in ihrem (Indigenen-) Dorf gar keine. Sie sei erst in Tijuana mit La Santa Muerte in Kontakt gekommen. Ich frage sie, ob sie sich einmal länger mit mir unterhalten würde, ob sie mir ein Interview geben würde, ‚ja, später‘, ist ihre Antwort. Einen Termin will sie nicht vereinbaren, ich soll an einem anderen Tag wiederkommen und mich zu ihr in den Zeitungsstand setzen. Als ich zwei Tage später wieder zum Stand komme, frage ich Maria nach einem kurzen Gespräch über das Befinden, das Wetter und das Geschäft, ob sie mir von ihren Erfahrungen mit La Santa Muerte erzählen würde. Sie guckt zu Boden und sagt, das sei ihr peinlich. Ich betone noch einmal, dass sie erzählen könne, was immer sie wolle und versichere ihr erneut die Wahrung ihrer Anonymität. Schließlich beginnt sie zu erzählen, sie habe von La Santa Muerte geträumt. Dann fügt sie schnell hinzufügt, eine Freundin habe sie beruhigt und ihr erklärt, dass der Traum nicht bedeuten würde, dass sie sterben müsse. Sie solle eine Kerze für La Santa Muerte kaufen und anzünden. Maria berichtet, sie sei in eine botánica gegangen, wo man ihr eine Kerze verkauft habe, nach deren Abbrennen sichergestellt sein sollte, dass La Santa Muerte ihr nicht mehr im Traum erscheinen würde. Das sei alles, was sie zu berichten habe. Seit dem habe sie nichts mehr mit La Santa Muerte zu tun gehabt. Gar nichts. Mehr habe sie nicht zu erzählen. Ich kaufe noch eine Zeitung und gehe dann.“

Esther und Maria sind aufgrund ihrer Scham über ihren Glauben an La Santa Muerte und aufgrund ihres Bewusstseins der Deutungen anderer Menschen, sehr zurückhaltend, verschlossen und kaum bereit über sich selbst und ihren Glauben zu sprechen. Fernanda verhält sich, wie der folgende Text aus dem Forschungstagebuch illustriert, demgegenüber ganz anders. Sie artikuliert ihre Identität und dass sie La Santa Muerte verehrt, schamfrei und verhält sich in einem gesteigerten Maße offen. Ihre Offenheit und die Abwesenheit von Scham lassen sich dabei als eine milieuspezifische Lebensstärke Fernandas deuten. „Das Treffen mit Fernanda findet auf einer Plaza im Zentrum von Guadalajara statt. Fernanda möchte mir einen templo für La Santa Muerte zeigen, sodass wir direkt nach der Begrüßung einen Bus dorthin nehmen und uns während der Busfahrt kennenlernen. Fernanda ist gesprächig und erzählt laut und für rund ein Drittel der Insass*innen des vollbesetzten Busses gut hörbar, dass ihre Mutter als Sexarbeiterin gearbeitet habe und verstorben sei, als sie selbst zwölf Jahre alt gewesen sei. Sie berichtet auch, dass La Santa Muerte ihr ihre eigenen Kinder zurückgebracht habe, nachdem sie verschwunden gewesen seien. Auch erzählt sie frei heraus, dass ihr Ex-Mann sie geschlagen habe.“

Milieuerfahrung von Anomie und Stigma | 185

Fernanda enthüllt in ihrer Erzählung vor der Forscherin und einigen Insass*innen des Busses Eigenschaften ihrer Person, die eine diskreditierende Wirkung entfalten könnten.8 Eigenschaften, die potenziell eine „besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“ (Goffman 2014: 11) konstruieren und somit ein Stigma im Sinne Goffmans sein könnten. Der zentrale Unsicherheit produzierende Charakter von Stigmatisierung besteht in einer Ambivalenz, die dadurch zustande kommt, dass das stigmatisierte Individuum nicht weiß, was die Anderen von ihm denken.9 So gesehen kann Fernanda mit ihrer Offenheit Ambivalenzen einfangen und Unsicherheiten neutralisieren. Anschließend an Goffmans Unterscheidung von Diskreditierten und Diskreditierbaren, so lässt sich deuten, zieht Fernanda es vor, ihr potenzielles Stigma, das sie nicht loswerden kann, selbst in die Interaktion einzuführen und die Interaktion hinsichtlich ihrer Kategorisierung durch das Gegenüber zu kontrollieren und eindeutig zu gestalten. Fernanda betreibt gewissermaßen ein präventives Stigmamanagement, indem sie brachial ihre Lebensgeschichte einführt und damit die Kategorien benennt, in denen sie sich in Interaktionen befinden möchte, und auf diese Weise Eindeutigkeit selbst herstellt. In Hinblick auf die objektiven Daten Fernandas und angesichts ihrer sozialen Lage bleibt Fernanda kaum eine andere Möglichkeit als die Scham über ihren Lebenswandel und über ihre Herkunft10 8

Mit dieser Deutung geht die These einher, dass Fernandas Identität und ihr Lebenswandel für einen Großteil der Mitfahrer*innen in dem Bus nicht normal seien und die These, dass Fernanda sich selbst als Diskreditierbare empfindet. Es ließe sich auch die These stark machen, dass ein Großteil der Insass*innen des Busses Fernandas Lebensgeschichte teilte und somit Teil ihres Milieus mit ähnlichen Sozialisationserfahrungen und einem ähnlichen Schicksal wäre und Fernanda daher gar nicht als Diskreditierbare zu bezeichnen wäre. Im Folgenden wird der ersten These der Vorzug gegeben, weil keine umfangreichen Daten zur zahlenmäßigen Größe des Milieus von Fernanda vorliegen und doch eher anzunehmen ist, dass ihr Fall nicht massenhaft vorkommt und auch eher bürgerlich situierte Personen in dem Bus mitgefahren sind.

9

Für das stigmatisierte Individuum ist Unsicherheit eine Folge der Stigmatisierung. Diese Unsicherheit entsteht einerseits dadurch, dass das betroffene Individuum nicht sicher sein kann, welcher Kategorie es durch sein oder ihr Gegenüber zugeordnet wird. Andererseits fürchtet das Individuum, dass die anderen es auch dann, wenn die Kategorieplatzierung günstig ist, nach dem Stigma definieren könnten. Dadurch entsteht eine Unsicherheit hinsichtlich der „wahren“ Meinung, die die anderen über das stigmatisierte Individuum hegen (vgl. Goffman 2014: 24).

10 Goffman äußert sich zu möglichen Zusammenhängen von Stigma und Scham im Zusammenhang mit seiner These, dass das stigmatisierte Individuum dazu tendiere, die Auffassungen von Identität der Normalen zu teilen. „Seine innersten Gefühle über

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abzulegen. Fernandas Weise sich im öffentlichen Raum und vor ihren Mitmenschen zu bewegen und zu äußern hat darin etwas brachial Überlebenspraktisches. Es ist Ausdruck Fernandas persönlicher Fähigkeiten, sich in ihrem Milieu einzurichten und zu überleben. In anderen Milieus würde Fernanda mit ihrer Haltung anecken. Im Rahmen eines bürgerlichen Milieus könnte Fernandas Offenheit und Bereitschaft ihr mögliches Stigma selbst zu thematisieren, zu einem Stigma werden. Fernandas Gegenüber aus anderen Milieus könnten ihre große Offenheit selbst als Stigma und damit als „individuellen Charakterfehler“ (Goffman 2014: 12) in die Interaktion einfließen lassen und Fernanda diskreditieren. Diese Möglichkeit der Stigmatisierung scheint Fernanda selbst nicht zu bemerken. Daraus lässt sich schließen, dass sie sich vornehmlich innerhalb ihres Milieus bewegt, innerhalb dessen ihre Ausdrucksweise und ihre Offenheit normal sind. In Fernandas Offenheit und Distanzlosigkeit drückt sich insofern neben einem Stigma- bzw. präventiven Stigmamanagement auch die Trostlosigkeit eines wahllosen Sich-Einrichten-Müssens in ihrem Milieu aus.

BEWÄHRUNG UND ANOMIE Die persönliche objektive Abweichung von der Norm kann mehrere Lösungen und sowohl Abweichungen wie auch Konformität als Lösungen für diese „normative Misere“ (Goffman 2014: 159) erzeugen. Eine mögliche Lösung besteht darin, dass „eine Kategorie von Personen eine Norm hochhält, dabei aber von sich und anderen als die Kategorie definiert wird, die nicht dafür zuständig ist,

sein eigenes Wesen mögen besagen, daß er eine ‚normale Person‘ ist, ein menschliches Wesen wie jeder andere, daher eine Person, die eine faire Chance verdient. (Tatsächlich gründet der Stigmatisierte seine Ansprüche, wie immer er sie umschreibt, nicht auf das, was seiner Meinung nach jemandem zusteht, sondern nur jedem einer ausgewählten sozialen Kategorie, in die er fraglos paßt, z.B. jedem seines Alters, Geschlechts, Berufs usw.). Doch kann er, gewöhnlich ganz richtig, wahrnehmen, daß die anderen, was immer sie versichern, ihn nicht wirklich akzeptieren und nicht bereit sind, ihm auf gleicher Ebene zu begegnen. […] Außerdem rüsten ihn die aus der Gesellschaft im Großen einverleibten Standards mit der intimen Gewißheit dessen aus, was andere als einen Fehler sehen, wodurch er, sei es auch nur für Augenblicke, unweigerlich zu dem Eingeständnis gezwungen wird, daß er in der Tat hinter das zurückfällt, was er realiter sein sollte. Scham wird eine zentrale Möglichkeit, sie entsteht daraus, daß das Individuum eines seiner eigenen Attribute begreift als etwa Schädliches und als etwas, worauf es gern verzichten würde.“ (Goffman 2014: 16)

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die Norm zu realisieren oder sie persönlich in die Praxis umzusetzen“ (ebd.). Beispielhaft für einen solchen Umgang mit der eigenen Abweichung von der Norm sind die Fälle Miguel, José und Gerson, die die Normen zwar als geltend anerkennen, sich selbst mit ihren persönlichen Dispositionen, ihrer Herkunft und Biografie jedoch zum Zeitpunkt des Interviews nicht in erster Linie als diejenigen entwerfen, die sie auch umsetzen müssen. José berichtet von seiner Dankbarkeit gegenüber La Santa Muerte für seine Lebensbedingung der Armut in Kindheit und Jugend im mexikanischen Staat Durango. Rückblickend sei diese Armut eine Bedingung für seinen Lebensverlauf gewesen, die ihn zum Zeitpunkt des Interviews Dankbarkeit empfinden lasse. Tabelle 18: Ausschnitt aus dem Interview mit José José

si, yo vengo de de Mexico del estado de Durango. de niño vivió una pobresa extrema. cuando ya cumplí mis doce años. once, doce años, que ya habia salido de la primaria. yo queria seguir estudiando. mi papá no tenía dinero. yo doy gracias a dios y a la Santínsima Muerte por eso. porque el no tuvo dinero. huvo una tia que si me, me día, me dijo que ella me pagaba todos los estudios en el df. y yo me emocioné. al momento. pero like [Englisch] como 15 minutos despues, se apagó todo. me senté, y le dije a mi tia, no tia gracias. si mi papa no tiene diniero para cubrir mis mis estudios, prefiero no estudiar. porque? me dicen mi tia y mi papa. porque? yo voy a crecer. bueno, no crecí mucho verdad?

I. José

[lacht] [lacht] voy a crecer. de verdad?

ja, ich komme aus aus Mexiko aus dem Staat Durango. als Kind lebte ich in extremer Armut. als ich so zwölf wurde. elf, zwölf Jahre, da war ich schon aus der Grundschule raus. ich wollte weiter lernen. mein Vater hatte kein Geld. ich danke Gott und der Santínsima Muerte dafür. weil er kein Geld hatte. gab es eine Tante die mir doch, die mir gab, sie sagte mir dass sie mir alle Studien im df [Mexiko-Stadt] bezahlte. ich war gerührt [begeisterte mich]. im Moment. aber like [Englisch] so 15 Minuten später, war alles aus. ich setzte mich, und ich sagte meiner Tante, nein Tante danke. wenn mein Papa kein Geld hat um meine meine Studien zu decken, bevorzuge ich nicht zu studieren. warum? sagen mir meine Tante und mein Papa. warum? ich werde wachsen. gut, ich wuchs nicht so viel? [lacht] [lacht] ich werde wachsen. wirk-

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entonces voy a conocer muchachas. obvio. amigas, amigos. necesitas dinero. para, para comprar libros, y todo y yo le dije a mi tia. dice. dice yo te doi mi hijo. yo te voy a dar todo. le dije no.

lich? also werde ich Mädchen kennenlernen. klar. Freundinnen, Freunde. du brauchst Geld. um, um Bücher zu kaufen, und alles und ich sagte meiner Tante. sie sagte. sie sagte ich gebe dir mein Sohn. ich werde dir alles geben. ich sagte ihr nein.

Nach dem Abschluss der Grundschule habe er seinen Wunsch, weiter zu lernen, angesichts der Armut seiner Familie umformuliert. Er passte seinen Wunsch an die Gegebenheiten und zugunsten eines lustvollen, nicht-asketischen Lebensentwurfs an, der es ihm erlaubte, einen seinem Herkunftsmilieu und dessen Männlichkeitsvorstellungen entsprechenden Lebensweg zu realisieren. Tabelle 19: Ausschnitt aus dem Interview mit José José

yo no, yo no llegué a ser cura que era lo que yo quería hacer. sacerdote. era lo que yo quería en mis ilusiones. no lo logré. pero aquí estoy en, algo similar. no es lo mismo, pero similar.

ich nicht, ich habe es nicht erreicht Pfarrer zu sein was das war was ich machen wollte. Priester. war was ich in meiner Phantasie [Illusionen] wollte. ich erreichte es nicht. aber hier bin ich in, etwas Ähnlichem. es ist nicht das gleiche, aber so ähnlich.

Bezüglich seines ursprünglichen, vagen und schwer realisierbaren („in meiner Phantasie [Illusionen]“) Wunsches Pfarrer zu werden, sei es ihm unter Hinzunahme La Santa Muertes, so deutet er im Rückblick, gelungen, einen ähnlichen Beruf zu realisieren: Er ist ein profe der Verehrung La Santa Muertes geworden. Während er sein eigentliches Ziel, Pfarrer zu werden, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht realisieren konnte, steht seine Tätigkeit als profe mit seinen sozialstrukturell bestimmten Ausgangsbedingungen in Einklang. José kann bezüglich seines Lebenswegs und seines Berufswunsches rückblickend eine positive Bilanz ziehen, indem er seine gegenwärtige Tätigkeit als Professioneller der Verehrung La Santa Muertes mit seinem Kindheitstraum vom Lernen und Pfarrer sein zusammenbringt. Sein Ziel, Pfarrer zu sein, ist so in der Retrospektive nicht aufgegeben, sondern dem Prinzip der Ähnlichkeit folgend in seine biografische Erzählung eingefügt und an die ihm sozialstrukturell zugänglichen Mittel angepasst.

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Miguel nennt auf Fragen der Interviewerin nach Plänen für und Vorstellungen über die Zukunft zunächst keine Zukunftspläne oder Ziele. Er habe aber eine vage, grobe „Idee von einem Was“, die er jedoch nicht weiter spezifiziert. Während Miguel weniger langfristige Pläne hegt, fasst er konkrete kurz- und mittelfristige Pläne, wie beispielsweise die Suche nach einer neuen Arbeit, die auf eine Verbesserung seiner gegenwärtigen Lebenssituation abzielt. Tabelle 20: Ausschnitt aus dem Interview mit Miguel I.

Miguel I. Miguel I.

Miguel I. Miguel

I. Miguel

dijiste que tienes planes. cual tipo de planes?.. para el futuro, que quieres?... como te imaginas el futuro? mi futuro? si. no sé. aah, pero.. que te gustaría [6]/[Miguel atmet laut aus]/.. algo. que.. te parece importante? un logro? personal? si. [10] no... no. tengo ambiciones. pero un logro así como decir „esto lo quiero en el futuro“ [10] hay, hay, si tengo una idea de un que. pero, no sé. ahí, cuando llegue el momento. hmm. pues si... pero, pero así como planes. No hay pues. pero bueno, ahorita si tengo planes. Así [2 uv]. tengo que, primero, me voy a buscar un mejor trabajo. yo no quiero trabajar en lo que trabajo. Ess, ess .. ess, ess trabajar.. de mano de obra.

du sagtest du hast Pläne für die Zukunft. was für Pläne?.. was willst du, für die Zukunft?... wie stellst du dir die Zukunft vor? meine Zukunft? ja. ich weiß nicht. aah, aber.. was würde dir gefallen [6] /[Miguel atmet laut aus]/.. etwas. dass.. dir wichtig erscheint? ein Ziel? persönlich? ja. [10] nein... nein. ich habe Ambitionen. aber ein Ziel so zu sagen „dies das will ich in der Zukunft“ [10] gibt es, gibt es, ich habe schon eine Idee von einem Was. aber, ich weiß nicht. dort, wenn der Moment kommt. hmm. also ja... aber, aber so als Pläne. also gibt es nicht. aber gut, jetzt [deminutiv] habe ich doch Pläne. so [2 uv]. ich muss, zuerst, ich werde mir eine bessere Arbeit suchen. ich will nicht in dem arbeiten in dem ich arbeite. es isst, isst.. isst, isst arbeiten.. als Arbeitskraft.

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I. Miguel

I. Miguel I. Miguel I. Miguel I. Miguel

I. Miguel

aha y no es estudiado, eso. eeh, yo conozco mis limitaciones ahorita [lacht leicht]. so. ese es un primero, ese es un, como un plan. dos... eeeh.. cuestiones [6] eeeh [4] eeh... uhmm [5] si, tengo planes no más te puedo decir. que si. si. todos tenemos planes. hm. pues, tú tienes un plan de ir a México. hm. ese es un plan. estás viendo tu futuro. si. y tú sabe#.. lo, lo vas a pensar cómo vas a pensar llegar a ese momento. que tienes hasta el 16. igualmente yo. todos tenemos planes, simplemente unos llegan más rápidos que otros. uno máaas como lentitos.. y otros ssshhhhh.. unos son de corta distancia? aha. porque unos son más inteligentes.. que otros. que es, y otros son menos. pero eso, eso no quiere decir que uno no va a llegar a ese momento. si me entiendes. O, EH AHÍ VAN AHÍ VAN [legt die Hand ausschauhaltend an die Stirn als würde er ein Wettrennen beobachten]. pero el otro ya está hasta acá. la cosa

aha und es ist nicht gelernt, das. eeh, ich kenne meine Begrenzungen jetzt [lacht leicht]. so. das ist ein erster, das ist ein, wie ein Plan. zwei… eeeh.. Angelegenheiten [6] eeeh [4] eeh... uhmm [5] ja, ich habe Pläne mehr kann ich dir nicht sagen. dass ja. ja. wir haben alle Pläne. hm. also, du hast den Plan nach Mexiko zu gehen. hm. das ist ein Plan. du siehst deine Zukunft. ja. und du weiß#.. das, das du wirst dir überlegen wie du zu diesem Moment zu gelangen gedenkst. das du bis zum 16. hast. genauso ich. wir haben alle Pläne, einige kommen einfach schneller an als andere. einer eheeer so langsam [deminutiv].. und andere ssshhhh.. [wie ein vorbeirauschendes Auto] einige sind von kurzer Distanz? aha [ja]. weil einige sind intelligenter.. als andere. was ist, und andere sind weniger. aber das, das soll nicht heißen dass einer nicht bei diesem Moment ankommen wird. wenn du mich verstehst. ODER, EH DA GEHEN SIE DA GEHEN SIE [legt die Hand ausschauhaltend an die Stirn als würde er ein Wettrennen beobachten]. aber der andere ist schon hier. Die

Milieuerfahrung von Anomie und Stigma | 191

es que todos tenemos planes. no más depende de cada quien esto, no?

Sache ist dass wir alle Pläne haben. nur hängt das alles von jedem selbst ab, nein?

Grundsätzlich, so Miguel, sei es normal Pläne zu haben. Jeder Mensch habe Pläne. Die Umsetzung von Plänen hänge von den individuellen Fähigkeiten eines jeden Menschen („weil einige sind intelligenter.. als andere.“) und vom individuellen Tempo beim Erreichen dieser Pläne („einige kommen einfach schneller an als andere“) ab. Seine eigenen Pläne wie die Beschaffung einer neuen Arbeit seien im Gegensatz zu früheren Plänen, die er gefasst habe, mit seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten in Einklang („ich kenne meine Begrenzungen jetzt [lacht leicht]“). Miguel erklärt so, im Verlauf seines Lebens zu einer realistischen Wahrnehmung seiner Möglichkeiten und Begrenzungen und damit zu einer realistischen Selbsteinschätzung gekommen zu sein. Miguels realistische Einschätzung seiner eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten bildet einen Gegensatz zu den kulturellen Zielen eines american-dream-Ethos, da Miguel aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten und seiner Ressourcen nicht mit einem ganz großen Erfolg rechnen kann. Worin der ganz große Erfolg für Miguel zuvor bestanden hatte, vertraute er der Forscherin in einem informellen Gespräch in der Kirche an: Er erzählt, er habe anfänglich La Santa Muerte um plötzlichen und sehr großen Reichtum im Stile eines Lotteriegewinnes gebeten. Miguel versuchte die kulturellen Ziele durch die rituelle Praxis mit La Santa Muerte zu erreichen und auf diese Weise seine mangelnden Voraussetzungen zu überbrücken, um dennoch das erwünschte Ziel zu erreichen. Miguel berichtet von einer über den Zeitverlauf abnehmenden Identifikation mit den kulturellen Zielen eines american-dream. Während die Sozialstruktur ihm das Erreichen hochgesteckter Ziele nicht ermöglicht, passt er seine Ziele wie auch die ihm gangbaren Wege zu ihrem Erreichen an seine Voraussetzungen an. Dabei sieht er seine Begrenzungen weniger als José in der Sozialstruktur begründet, sondern stärker in seinen persönlichen Fähigkeiten und in seiner eigenen Geschwindigkeit. Gerson ist im mexikanischen Staat Morelos geboren, wo er bis zu seinem zehnten Lebensjahr bei seinen Eltern in einer vollständigen Kernfamilie aufwuchs. 1984 migrierte sein Vater zum Arbeiten in die USA. Seine Mutter folgte dem Vater wenig später und Gerson und sein Bruder wurden bei einer Tante untergebracht. Die Eltern sendeten der Tante zum Unterhalt der Kinder Geld, das sie in den USA erwirtschaften. Auch nach der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes der Kernfamilie besteht der Haushalt als Lebensform, nun mit der erweiterten Familie, für Gerson und seinen Bruder weiter. Indem Gersons Eltern der Tante das nötige Geld zur Versorgung der Kinder zukommen lassen, bildet

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zu dem Zeitpunkt ein transnationaler Haushalt mit der erweiterten Familie unter der Bedingung der Abwesenheit der Eltern, also als unvollständige Kernfamilie, den familialen Hintergrund Gersons. Tabelle 21: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

vivíamos con una tía que nos cuidaba. pero ella trabajaba también. so [Englisch], si fuimos a la escuela y la mayoría de, de la tiempo estábamos en la calle.

wir lebten bei einer Tante die auf uns aufpasste. aber sie arbeitete auch. so [Englisch], wir gingen doch [schon] zur Schule und die meiste, die meiste Zeit waren wir auf der Straße.

Die Aufsicht über die in Obhut gestellten Geschwister wird im Haus der Tante aufgrund der Berufstätigkeit der Tante und daraus resultierendem Zeitmangel etwas vernachlässigt. Für die Geschwister ergeben sich aus der Abwesenheit der Eltern und der daraus resultierenden Unvollständigkeit der Kernfamilie, die in der Obhut der Tante nicht ganz getilgt werden kann, größere Freiheiten. Sie können ihre Freizeit unbeaufsichtigt auf der Straße verbringen. Als Gerson 13 Jahre alt ist, holen die Eltern ihn und seinen Bruder zu sich in die USA nach Los Angeles, wo sie fortan einen Haushalt teilen. Gerson, der zu dem Zeitpunkt seiner Migration in die USA am Beginn der Adoleszenz steht, sieht darin zum Zeitpunkt des Interviews mit 41 Jahren rückblickend eine Erfahrung eines Autonomieverlusts, die im Gegensatz zu der Zeit, welche die Kinder selbstbestimmt und unbeaufsichtigt auf der Straße verbrachten, steht.

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Tabelle 22: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

pos „yo me quedo allá“ en méxico. estaba yo feliz. mis papás nos mandaban dinero a nosotros y pff. no, no teníamos control mi hermano y yo.

also „ich bleibe dort“ in Mexiko. ich war glücklich. meine Eltern schickten uns Geld und pff. wir hatten keine, keine Kontrolle mein Bruder und ich.

Auch um den Preis einer dauerhaften und räumlichen Trennung von seiner direkten Herkunftsfamilie wäre Gerson, der sich auf diese Weise rückblickend als freiheitsliebenden und autonomiebegehrenden Jugendlichen darstellt, lieber in Mexiko geblieben, als in die USA zu migrieren. Gerson verortet die Migration seiner Eltern in die USA innerhalb allgemeiner Migrationsbewegungen, für die er konkrete Motivationen ausmacht. Tabelle 23: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

so, pero ya nos, nos trajeron pa’ ca. que es la diferencia. mucha gente viene pa’ ca por necesidad. porque quieren mejorar. porque en México no lo, no hay, no hay lo aquí les pueden dar. trabajo, dinero, lo que sea. y una educación a sus hijos. por eso si van pa’ ca. y eso nos pasó a nosotros. a nos otros nos trajeron pa’ca para darnos una mejor educación, una mejor vida, se puede decir, que allá. okay?

so, aber dann brachten sie uns, uns hierher. das ist der Unterschied. viele Leute kommen hierher aus Not. weil sie verbessern möchten. weil es in Mexiko nicht gibt, nicht gibt, nicht gibt was sie ihnen hier geben können. Arbeit, Geld, was auch immer. und eine Ausbildung für ihre Kinder. darum kommen sie doch hierher. und das ist uns passiert. uns haben sie hierhergebracht um uns eine bessere Ausbildung zu geben, ein besseres Leben, kann man sagen, als dort. okay?

Indem Gerson die Gründe für die Migration in dem Wunsch seiner Eltern, ihm eine bessere Ausbildung und ein besseres Leben zu ermöglichen, begründet sieht, erhält er im Sinne einer Delegation (vgl. Stierlin 1982) einen Bewährungsauftrag und ist mit einer Solidaritätsverpflichtung gegenüber den Eltern, schließlich sind die Eltern aus Sicht Gersons seinetwegen migriert, einem Erfolgsdruck ausgesetzt. Das Motiv der Eltern, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, ist aus Gersons Sicht nicht nur ein partikulares Migrationsmotiv, sondern

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ein typisches und kollektiv verankertes Motiv, das eine massenhafte Migrationsbewegung aus Mexiko in die USA bedingt. Die Ziele und Aspirationen der Generation der Kinder sind insofern auch von den Motiven der Elterngeneration und von einer Solidaritätsverpflichtung aufgrund der „Opferbereitschaft“ der Eltern bestimmt und geprägt. Für die Kinder ergibt sich daraus die ambivalente Herausforderung, einerseits den Erwartungen der Eltern, andererseits den Normen und der kulturellen Struktur der US-amerikanischen Gesellschaft, in die sie migrierten, gerecht zu werden. Gerson liefert mit seiner Erklärung im Sinne Goffmans und Mertons eine Darstellung der geltenden kulturellen Ziele seiner Eltern („weil sie verbessern möchten“, „Arbeit, Geld, was auch immer. und eine Ausbildung für ihre Kinder. darum kommen sie doch hierher.“). Gerson besucht nach seinem Umzug von Morelos nach Los Angeles zu den Eltern im Jahr 1987 eine High-School in Los Angeles, beendet die Schule und beginnt zu arbeiten. Das Ziel der Eltern, den Kindern eine Ausbildung und ein besseres Leben durch die Migration in die USA zu ermöglichen, müsste aus Perspektive der Eltern verwirklicht sein. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Gerson als Abschleppwagenfahrer auf den Freeways von Los Angeles. Zwischen dem americandream-Ethos und den Vorstellungen der Eltern von einer besseren Zukunft ihrer Kinder zeigt sich jedoch eine Differenz. Die Ziele der Eltern und Gersons Schulabschluss und Anstellungsverhältnis als Abschleppwagenfahrer sind vor dem Hintergrund eines american-dream-Ethos absolute Minimalziele. Auf die Frage der Interviewerin hin, was ihm im Leben wichtig sei, erklärt Gerson, dass seine Relevanzsetzungen grundsätzlich normal seien, weil sie dem entsprächen, was alle Menschen im Leben bräuchten: Fröhlichkeit, Wohlbefinden und Gesundheit. An die Feststellung der allgemein geltenden und geteilten kulturellen Ziele schließt Gerson eine Erklärung über sein Verständnis des Wegs zum Erreichen eines solchen Ziels, des Reichtums, an. Tabelle 24: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson I. Gerson

que es importante para ti en tu vida?.. pues más que nada... pues si, la felicidad, el bienestar, la salud. no? todo lo que, es todo lo que necesitamos, básicamente. nunca.. oo el que quiere la riqueza, tienes que trabajar para ello. okay? desde muy chicos ya tienes

was ist dir wichtig in deinem Leben?.. also mehr als alles andere… also ja, die Fröhlichkeit, das Wohlbefinden, die Gesundheit. nein? alles was, das ist alles was wir brauchen, im Grunde. nie.. ooder wer den Reichtum will, du muss für ihn arbeiten. okay? von klein auf musst du schon, sein, wissen was du

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que, que estar, saber la que quieres y estudios, trabajo con esfuerzo, todo lo consigues. okay? tienes que tener una, una meta fija, okay? hay veces que uno lo logra, hay veces que unos que no, okay. el chiste es que siempre hay que seguir adelante. okay? nunca quedarnos azorados [... hice y ya.. humor 1 uv] siempre ir adelante, delante. y seguir adelante.

willst [dass du den Reichtum willst] und Ausbildung, arbeiten mit Anstrengung, alles erreichst du. okay? du musst ein, ein festes Ziel haben, okay? manchmal erreicht das einer, manchmal einige nicht, okay. der Witz ist dass man immer weiter vorwärts muss, okay? sich nicht verschrecken lassen [... gemacht und schon.. Humor 1 uv] immer vorausgehen, nach vorn gehen. und weiter vorwärts.

Grundsätzlich geht Gerson davon aus, dass jeder Mensch jedes Lebensziel erreichen könne, was sie oder er sich vorgenommen habe. Er geht von einer basalen Chancengleichheit aller Menschen aus, wenn er äußert, mit Anstrengung könne man alles erreichen. Einen Unterschied zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zum Erreichen hochgesteckter Ziele wie dem Reichtum, sieht er in Hinblick auf die eigene Zielstrebigkeit, Bereitschaft zur Anstrengung und vor allem die persönliche Durchhaltekraft. Man müsse eben „immer weiter Vorwärts“ gehen, um das Ziel zu erreichen.11 Gerson nimmt insofern kein Spannungsverhältnis zwischen der kulturellen Struktur und der Sozialstruktur mit ihren sozialstrukturellen Möglichkeiten zum Erreichen von Zielen wahr. Er erkennt keine Mechanismen des sozialen Ausschlusses und nimmt keine Chancenungleichheit als Folge sozialer Ungleichheit wahr, sondern formuliert, dass jede*r ihres oder seines eigenen Glückes Schmied sei. Er formuliert somit einen einen american-dream-Ethos, einen Bewährungsmythos. Mit seinem Rekurs auf Autonomie („wissen was du willst“) und persönliche Stärke („arbeiten mit Anstrengung“) zeichnet er auch einen Weg, um diese Ziele zu erreichen. Gerson selbst hat mit der von seinen Eltern herbeigeführten Migrationserfahrung eine für sein Leben zentrale Erfahrung des Autonomieverlustes gemacht. Vor diesem Hintergrund ist ihm eine Form der Bewährung, wie er sie in seiner Auseinandersetzung mit dem Ziel Reichtum formuliert, verwehrt geblieben. Im Rahmen seiner Kindheit in Mexiko hegte er keine Erfolgsziele, die vor dem Hintergrund

11 Aufrechterhaltung und Kontinuität sind die zentralen Charakteristika einer solchen Bewährungsfigur. Sie finden ihren Ausdruck auch in den anspornenden Mantras „auf geht’s“ und „packs an“, wie sie oft in Kirchen La Santa Muertes zu hören sind.

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seines späteren Lebens in Los Angeles hätten passende Ziele bilden könnten („von klein auf musst du schon, sein, wissen was du willst“). Während eines anderen Gesprächs mit der Interviewerin berichtete Gerson, er sei in der Vergangenheit, bevor er regelmäßig zur Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles kam, oft deprimiert und frustriert gewesen. Kleinigkeiten hätten ihn so wütend gemacht, dass er gar nicht gewusst habe, wohin mit seinen „schlechten Energien“. Mit Blick auf die vorangegangene Interviewstelle lässt sich als eine Frustrationsquelle das Verfehlen eines von Gerson formulierten americandream-Ethos und eine von Gerson verinnerlichte und auf Autonomie und persönlichen Stärken zum Erreichen von Zielen fokussierende kulturelle Struktur ausmachen. Auch Miguel macht deutlich, dass mit der Anpassung der Erwartungen und Ziele an die persönlichen Möglichkeiten, ambivalente Gefühle, Frustration und Wut vorangingen. Miguel erklärt: „Ich kenne meine Begrenzungen jetzt [lacht leicht].“ Norbert Elias und John L. Scotson schreiben in ihrer Studie zu Etablierten und Außenseiter*innen über die Folgen der sozialen Lage ihrer untersuchten Außenseiter*innen auf Gläubige La Santa Muertes Übertragbares: „Kinder und Jugendliche in anderen [nicht marginalen] sozialen Kontexten lernen früh, sich selbst im Blick auf eine Zukunft zu sehen. Den meisten der unbändigen Halbwüchsigen aus der ‚Siedlung‘ [, den Außenseitern,] fiel es schwer, eine langfristige Perspektive von sich selbst zu fassen. Sie lebten mehr als gewöhnliche Jugendliche im und für den aktuellen Moment. Das war ein weiterer Unterschied, der zum Aufbau von Barrieren zwischen ihnen und ihren Altersgenossen am Ort beitrug. […] Permanent versuchten sie die ordentliche Welt, von der sie, ohne zu wissen, warum, ausgeschlossen waren, zu provozieren, zu stören, anzugreifen und so weit wie möglich zu vernichten.“ (Elias/Scotson 2013: 203)

GRUPPENBILDUNG – IDENTITÄTSNORMEN, BEWÄHRUNG UND RELIGIÖSE GEMEINSCHAFT Gerson erzählt, sein Glaube an La Santa Muerte, sein Kontakt zu profe Lautaro und seine regelmäßigen Besuche der Kirche im Osten von Los Angeles hätten großen Anteil daran gehabt, dass er mittlerweile zufrieden mit sich und der Welt sei. Tabelle 25: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

hay que tener siempre fe, en algo. okay? mucha fe. mucha

man muss immer Glauben haben, an etwas. okay? viel Glauben. viel

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fe. okay? el profe nos ha enseñado eso. no importa lo que haces pero hay que tener mucha fe. es lo que mueve todo. okay? y, pos para mi... lo que, hasta eso lo que tengo, con eso soy feliz yo. Piensame con#, lo que sea, conformista, pero no necesito ahorita más. so [Englisch], [1 uv] mi pan [1 uv] me da. siempre le pido, dame lo que tu quieras. cuídame mucho. eso si le pido tooodas las mañanas. porque no sé, no, no sabemos que decide ella sobre nuestro último día o no. que ya es a decir a padre dios y ella nos lleve. okay?

Glauben. okay? der profe hat uns das beigebracht. es ist egal was du machst aber man muss viel Glauben haben. der bewegt alles. okay? und, also für mich... das was, bis zu dem was ich habe, damit bin ich glücklich. finde mich kon#, was auch immer, konformistisch, aber ich brauche jetzt nicht mehr. so [Englisch], [1 uv] mein Brot [1 uv] gibts mir. ich bitte sie immer, gibt mir was du willst. behüte mich sehr. Darum bitte ich sie schon jeeeden Morgen. weil ich weiß nicht, wir wissen nicht, nicht was sie über unseren letzten Tag entscheidet oder nein. ob es schon an Gottvater ist zu sagen und sie uns mitnimmt. okay?

Gerson richtet sein Streben und seine Erwartungen nicht länger an hochgesteckten Zielen wie dem Reichtum aus, sondern hat die Ziele sowohl reduziert („ich brauche jetzt nicht mehr“) als auch an La Santa Muerte überstellt, indem er ihr überlässt, was es für ihn zu erreichen gibt („ich bitte sie immer, gibt mir was du willst“). Die Autonomie und persönliche Stärken betonende kulturelle Struktur wird auf diese Weise durch den Glauben an La Santa Muerte ersetzt. Die normative Misere, in der sich Gerson, mit Goffman gesprochen, angesichts der nicht zu erreichenden Erfolgsziele befand, ist aufgelöst, indem Gerson die kulturellen Ziele hinter seinen auch von profe Lautaro vermittelten Glauben und das Credo von der Zufriedenheit mit dem Gegebenen zurücktreten lässt. Indem Gerson sich eine Idee von Bewährung und von einem Weg zu ihrem Erreichen, die sich aus seinem Glauben an La Santa Muerte und vermittelt durch Lautaro ergeben, zu eigen macht, entfernt er sich von der Gruppe, die den american-dream-Ethos als ihren Bewährungsmythos anerkennt. In Goffmans Sinne drückt sich darin eine weitere Umgangsweise mit Stigma aus, indem „das Individuum, das eine Identitätsnorm nicht halten kann, sich von der Gemeinschaft, die die Norm verteidigt, entfremdet oder es unterläßt, eine Bindung in erster Linie an die Gemeinschaft zu entwickeln“ (Goffman 2014: 159f.). Obgleich Gerson das verfehlt, was im Sinne der kulturellen Ziele von ihm verlangt wird,

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bleibt er von diesem relativen Versagen unberührt, indem er sich auf ein separates Ehrsystem12 (ebd.: 15) bezieht, das La Santa Muerte stellt („gibt mir was du willst“, „wir wissen nicht, nicht was sie über unseren letzten Tag entscheidet“) und dem er durch seinen Glauben und seine religiöse Praxis angehört. Indem er Lautaro folgt und mit seinen regelmäßigen Besuchen der Kirche La Santa Muer12 Goffman schreibt auch von der Möglichkeit, dass ein Individuum, das verfehle, was die Normalen effektiv von ihm verlangen und dennoch von diesem relativen Versagen unberührt bleibt. Das ist möglich, wenn es „separate Ehrsysteme“ (Goffman 2014: 15) gibt. In dieser Form ist das Individuum geschützt durch einen eigenen Identitätsglauben, der es ihm ermöglicht, sich selbst vollkommen normal und menschlich zu empfinden, obwohl er oder sie ein Stigma trägt. Goffman attestierte 1967, diese separaten Ehrsysteme, die sich beispielsweise bei „Mennoniten, Zigeunern, scharmlose Schurken und sehr orthodoxen Juden“ (ebs.) finden ließen, würden an Bedeutung verlieren. Die Verehrung La Santa Muertes kann ein separates Ehrsystem bilden, eine neue Bezugsgruppe von großer Identifikations- und Bindungskraft, die einen eigenen Normen- und Identitätsglauben einsetzen lassen kann. In diesem Sinne kann ein separates Ehrsystem eine neue „Bewährungsgemeinschaft“ darstellen. Bewährungsmythen müssen nach Oevermann allgemein oder in einer Gemeinschaft verbürgt sein, also „über die subjektive Erfahrung hinausgehen“ (Gärtner 2019: 471, vgl. Oevermann 1995: 65). Es bedarf einer „Evidenz des Mythos aufgrund einer vergemeinschafteten Praxis“ (Oevermann/Franzmann 2006: 53). Beispielhaft für Erlösungsmythen ist „die Evidenzsicherung durch eine verbindliche vergemeinschaftete Praxis in diesem Glauben, bestärkt durch Riten und kultische Kollektivhandlungen und gestützt durch eine kollektiv verbindliche Symbolik, geradezu konstitutiv.“ (Ebd.: 75) Der Übertritt in eine neue primäre Bewährungsgemeinschaft „mischt die Karten“ gewissermaßen neu, so dass sich nach einem Wechsel in die neue Bewährungsgemeinschaft erneut eine Hoffnung auf Bewährung jenseits der kulturellen Struktur der alten Bewährungsgemeinschaft entwickeln kann. Für Gerson tritt nach seiner Aufnahme eines Bezugs zur neuen Bewährungsgemeinschaft in der Kirche La Santa Muertes in diesem Sinne eine Art Stillstand ein. Gerson sagt, „ich brauche jetzt nicht mehr“. Er erklärt seine Zufriedenheit mit dem Gegebenem, bzw., dass die Leistungsethik des american-dream-Ethos in seiner neuen Bewährungsgemeinschaft abgestreift wird. Da, – das zeigte sich in der exemplarischen Analyse der Figur La Santa Muertes in der Einleitung und mit den Bildanalysen – auch die Verehrung La Santa Muertes und die Figur selbst von popkulturellen und kulturindustriellen US-amerikanischen Massenwarenelementen durchsetzt ist und an diese Traditionen anschließt, geschieht eine solche Orientierung an einer neuen Bewährungsgemeinschaft, eine solche Separierung nicht vollkommen, sondern immer im Anschluss und in Verbindung zu der hegemonialen kulturellen Struktur sowie anderen Rahmen.

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tes im Osten von Los Angeles ist er auch Teil einer alternativen Gemeinschaft, der der Gläubigen La Santa Muertes. In diesem Zusammenhang können Gemeinschaften der Verehrung La Santa Muertes auch als „Schutzgruppen“ und als alternative Gruppen dienen. Im Zuge der individuellen Bindung an diese Gruppen kann es zu einer Entfernung von denjenigen Gruppen kommen, deren Normen und Anforderungen nicht bedient werden können. Gerson verbleibt deshalb nicht in einer der Kirchen, die er vor der Kirche La Santa Muertes und während seiner religiösen Suchbewegung aufsuchte, sondern findet erst in der Kirche La Santa Muertes eine Gemeinschaft, die seiner Identität und seinem Milieu entspricht. In Gersons Erzählung seiner Konversion zur Verehrung La Santa Muertes im Interview ist es zunächst eine persönliche Bindung an La Santa Muerte, die auch zum Zeitpunkt des Interviews anhält und ihn zu einem regelmäßigen Besucher der Kirche im Osten von Los Angeles macht. Im Fernsehen habe er von der Verehrung La Santa Muertes gehört und habe bei einer Internetrecherche die Adresse der Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles gefunden.13 Tabelle 26: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

una vez estaba viendo la televisión y hablaban de la santa muerte. so [Englisch] me metía, me metí al internet y había una, una pagina y ví la dirección. y vine pa’ ca. yo es-

einmal sah ich Fernsehen und sie sprachen von der Santa Muerte. so [Englisch] ich ging, ich ging ins Internet und es gab eine, eine Seite und ich sah die Adresse. und ich kam hierher. ich war. da gegenüber

13 Einige Anhänger*innen La Santa Muertes informierten sich vor dem Besuch von Kirchen La Santa Muertes über die Verehrung und über die jeweilige Kirche. Gerson nimmt eine Internetrecherche vor, Miguel wirft in einer öffentlichen Bibliothek einen Blick in ein wissenschaftliches Buch über die Verehrung La Santa Muertes. Nach Goffman ist es „wichtig zu betonen, daß – zumindest in Amerika – dem Standpunkt der Mitglieder einer stigmatisierten Kategorie, unabhängig davon, wie klein und wie übel dran sie ist, aller Wahrscheinlichkeit nach öffentlicher Ausdruck irgendwelcher Art gegeben wird. So kann man sagen, daß stigmatisierte Amerikaner dazu neigen, in einer literarisch definierten Welt zu leben, wie ungebildet sie auch immer sein mögen. Wenn sie keine Bücher über die Situation von Personen ihrer Art lesen, lesen sie wenigstens Zeitschriften und sehen Filme; und wo sie dies nicht tun, lauschen sie den Reden örtlicher Schicksalsgenossen. Eine intellektuell aufgearbeitete Version ihres Standpunkts steht so für die meisten stigmatisierten Personen zur Verfügung.“ (Goffman 2014: 37)

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taba. allá enfrente había un restaurancito. colombiano. yo me sentí allá. dentro del carro. yo escuché que ya me dijo VEN. llegaré, ya cruzé pa’ ca y aquí estaba antes. aquí tenían la misa. aquí esto era el templo antes. este pedacito. okay? y la primera santita que es la Santita negra estaba aquí. cuando yo la miré a ella me impactó porque yo veía, que ella me sonrió. yo puedo ver a los demás y ninguna veo que me sonría más que ella. pero por [1 uv]. pero no. ella si. que me sonrió. ahorita que llegué la miré y ví que me estaba cerrando un ojo. un ojo. teníamos, que tres semanas sin venir porque estaba [1 sek. uv]. ahorita que la ví me dio mucho. [atmet laut ein]. vengo cansado y todo eso. y yo con eso me siento normal. no me canso.

gab es ein Restaurant [deminutiv]. kolumbianisch. ich setzte mich dort. im Auto. ich hörte dass sie mir schon sagte KOMM. ich werde kommen, schon überquerte ich hierher und hier war es vorher. hier hatten sie die Messe. hier dies war der templo früher. dieses Stückchen. okay? und die erste Santita die schwarze Santita war hier. als ich sie ansah beeindruckte es mich weil ich sah, dass sie mich anlächelte. ich kann die anderen ansehen und ich sehe keine die mich mehr anlächelt als sie. aber wegen [1 uv] aber nein. sie ja. das sie mich anlächelte. jetzt [deminutiv] da ich ankam sah ich sie an und ich sah dass sie mir zuzwinkerte. wir hatten, drei Wochen ohne kommen weil ich [1 sek. uv] war. jetzt [deminutiv] da ich sie sah gab es mir viel. [atmet laut ein]. ich komme müde und so. und damit fühle ich mich normal. Ich werde nicht müde.

Am Eingang der Kirche steht eine schwarze Figur La Santa Muertes, die Gerson angelächelt und zu ihm gesprochen habe.14 Durch den Ruf und das Lächeln die-

14 Nach der Trennung von seiner Partnerin in einer Lebenskrise und als er in eine tiefe Depression gefallen sei, habe er zu La Santa Muerte gefunden. In seinem durch seine Sozialisation in einer die evangelikale Kirchen besuchenden Familie bedingtem Wissen, man solle in solchen Momenten Jesus und Gott suchen, habe er zunächst mehrere evangelikale templos besucht, von denen ihm keiner gefallen habe. „hm. es ist.. es ist sechs Jahre her dass ich. dass ich hierher kam. ah. ich trennte mich von meiner Partnerin. wir trennten uns und ich war mit ihr sieben Jahre zusammen gewesen und also plötzlich betrog sie mich. Und ich fiel in eine.. Depression. sehr hässlich. ich fiel so sehr dass, dies, ich begann nach Glauben zu suchen. mit neun, 10 Jahren hörte ich auf

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ser Figur ist für Gerson eine persönliche Bindung an La Santa Muerte entstanden, auf deren Grundlage die Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles zu der Kirche wird, die er regelmäßig besucht. Zu der spezifischen Figur La Santa Muertes, aber auch in die Kirche zu profe Lautaro und den anderen Gläubigen zu kommen, ist für Gerson eine Quelle der Entspannung. Besuche der Kirche sind mit seinem schweren und ermüdenden Arbeitsalltag vereinbar, weil er in dieser Kirche so wie er ist ankommen kann und aufgenommen wird. Tabelle 27: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

aquí es el único lugar que yo vení y no, no te critican, no te miran como, como estas vestido. no importa. [1 uv] la primera vez que vienes, es todo que pedimos que tengan fe. mucha fe. y tengan este.. que no, no no comparé con nadie ni nada de eso. okay? so [Englisch] ibas a esos partes y, y como que te miran q#, feoo, simplemente por ser diferente a veces.

hier ist der einzige Ort an den ich kam und nein, sie kritisieren dich nicht, sie schauen dich nicht an wie, wie du angezogen bist. ist nicht wichtig. [1 uv] das erste Mal wenn du kommst, das einzige was wir fordern ist dass sie Glauben haben. viel Glauben. und dass sie haben dies.. dass nicht, ich habe mit niemandem und nichts von dem verglichen. okay? so [Englisch] du gingst dorthin und, und wie sie dich ansehen q#, hässlich, manchmal einfach nur weil du anders bist.

Für Gerson ist die Gemeinschaft von Gläubigen in der Kirche La Santa Muertes eine Gruppe, die sich im authentischen Glauben an La Santa Muerte verbindet und die niemanden aufgrund sozialer und sozioökonomischer Gründe ausschließt. Die an Äußerlichkeiten zu erkennende soziale Identität der Einzelnen („sie schauen dich nicht an wie, wie du angezogen bist“) spielt in Gersons Vorstellung keine Rolle bei der Aufnahme von neuen Gläubigen in die Kirche La in die Kirche zu gehen. zum templo gingen wir. und nie wieder ging ich dann in einen. so [Englisch], okay also. aber ich wusste doch dass, gut, wenn etwas passiert also, suche Jesus, suche Gott. und er wird dir helfen.“ Auslöser von Gersons religiöser Suchbewegung sei zunächst die Trennung von seiner Freundin gewesen. Die Entstehung seiner Beziehung zu La Santa Muerte entspricht mit dem von Gerson wahrgenommenen Lächeln einer Figur La Santa Muertes der Logik eines Flirts und der Anbahnung einer Liebesbeziehung. Es bietet sich daher an, Gersons Konversionserfahrung auch hinsichtlich seiner gescheiterten amourösen Beziehung zu deuten.

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Santa Muertes. Zuvor hatte sich Gerson von den Gemeinschaften in den evangelikalen Kirchen, die er während seiner Suche nach einer passenden religiösen Gemeinschaft besuchte, wegen seiner Kleidung, seiner Arbeit und seiner Zugehörigkeit zu seinem Milieu, so lässt sich deuten, als Diskreditierten im Sinne Goffmans empfunden. Tabelle 28: Ausschnitt aus dem Interview mit Gerson Gerson

pos hace como 6 años yo empecé ir a un templo. una vez fui pero no me gustó. no, no me gustó para nada. fui a otro templo, fue otra hermana, y tampoco me gustó. Fui a como dos, tres más. pero, la gente le mira a uno a vezes.. fue diferente. como es vestido a ver pues. como aquí vengo a veces, que vengo del trabajo directamente pa’ ca, no llego ni a mi casa, no me puedo ir a bañar. yo vengo desde Sur Side [South Side] pa’ ca, so [Englisch] me, una hora más o menos. Salgo a las 6 de la tarde, so [Englisch], aquí empiezan a las siete, so. so [Englisch], a veces que hay mucho tráfico y llego tarde. y sabes no me ha dí tiempo pero ya.. [abtuende Geste] so [Englisch], a veces vení a los templos, y no más como se queda uno mirando fe o y todo eso.

also vor ungefähr sechs Jahren begann ich in einen templo zu gehen. einmal ging ich aber es gefiel mir nicht. nein, gefiel mir überhaupt nicht. ich ging zu einem anderen templo, war eine andere Schwester, und gefiel mir auch nicht. ich ging zu so zwei, drei weiteren. aber, die Leute schauen einen manchmal an.. war anders. wie man angezogen ist mal sehen also. wie hier komme ich manchmal, ich komme von der Arbeit direkt hierher, ich komme nicht mal nach hause, ich kann mich nicht waschen gehen. ich komme von Sur Side [South Side] hierher, so [Englisch] mich, eine Stunde mehr oder weniger. ich komme um 6 am Nachmittag raus, so [Englisch], hier beginnen sie um sieben, so [Englisch]. so [Englisch], manchmal gibt es viel Verkehr und ich komme zu spät. und weißt du ich hatte keine Zeit aber so.. [abtuende Geste] so [Englisch], manchmal kam ich zu den templos, und so als ob man den Glauben nur anschauen würde und so.

„Wenn der Fehler des Stigmatisierten schon allein dadurch wahrgenommen werden kann, daß wir unsere (in der Regel visuelle) Aufmerksamkeit überhaupt auf ihn richten – wenn

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er, kurz gesagt, eine diskreditierte, nicht erst diskreditierbare Person ist –, fühlt er wohl, daß ihn allein die Tatsache, sich in Gegenwart Normaler zu befinden, Invasionen des Privaten hüllenlos preisgibt […].“ (Goffman 2014: 26)

Gersons und Miguels Zugehörigkeit zu ihrem statusniedrigen, hart und körperlich arbeitenden Milieu hat sich in ihre Körper und in ihre Bewegungen eingeschrieben, das ergibt sich auch anhand einer Zusammenstellung von Einträgen aus dem Feldforschungstagebuch: „Gerson kommt direkt von der Arbeit in die Kirche. Er ist etwas zu spät, die Messe hat schon begonnen. Leise tritt er in den Raum ein, bleibt kurz stehen und bekreuzigt und verbeugt sich. Lautaro nickt ihm vom Altar her freundlich zu, dann nimmt der übergewichtige Gerson mit einem leise und schüchtern gemurmelten „Entschuldigung“, das nur kurz den Blick auf seine dunklen, deformierten Schneidezähne freigibt, neben einer anderen Teilnehmerin und mir Platz. Seine Augen sind etwas gerötet, die Haare trägt er mit glänzender Pomade aus dem Gesicht gestrichen. Aber nach seinem langen Arbeitstag scheint die Frisur nicht mehr ganz zu sitzen und um seinen Körper im Arbeitsanzug hat sich ein säuerlicher Geruch von Schweiß entwickelt, der sich etwas ausbreitet.“ „Miguel trägt fast immer die gleichen schwarzen Lederschuhe, Jeans, T-Shirt und darüber eine Sweatshirt-Kapuzenjacke in schwarz. Er kommt zwei bis dreimal pro Woche leicht vorgebeugt und mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze zur Kirche. Wenn er nach den Veranstaltungen auf die Straße tritt, wirft er sich die Kapuze über und geht zügig davon. Er ist etwas übergewichtig, hat dunkle, etwas ungeputzt wirkende Zähne und einen Gang, bei dem er ein Bein leicht nachzieht.“

Gersons Suche nach einer passenden, an seinen familiären evangelikalen Hintergrund anschließenden Gemeinschaft scheitert daran, dass er während seiner Besuche in der evangelikalen Kirche angeschaut und als diskreditierte Person wahrgenommen wird („die Leute schauen einen manchmal an.. war anders. wie man angezogen ist“). An seine Glaubensgemeinschaft hat Gerson folglich den Anspruch, dass sie ihn so aufnehmen solle, wie er ist. In der Kirche La Santa Muertes ist Gerson unter seinesgleichen, dort wird er nicht kritisiert und kann so erscheinen, wie er ist, normalerweise in seiner Arbeitskleidung des Abschleppunternehmens. Mit Goffman kann man sagen, dass er in der Kirche La Santa Muetes Teil einer Stigmatisiertengruppe geworden ist, nachdem er sich seines Stigmas und seiner Andersartigkeit in den evangelikalen Kirchen bewusst geworden ist. Ein stigmatisiertes Individuum kann auf sympathisierende Andere treffen, die das Stigma teilen. Da diese sympathisierenden Anderen

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„aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, dieses bestimmte Stigma zu haben, können einige von ihnen das Individuum mit […] einem Lamentierkreis versorgen, in den es sich zurückziehen kann zur moralischen Unterstützung und wegen des Behagens, sich zu Hause, entspannt, akzeptiert zu fühlen, als eine Person, die wirklich wie jede andere normale Person ist“ (Goffman 2014: 31).

Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung

Aus der Marginalität der Gläubigen La Santa Muertes, den Milieuerfahrungen von Anomie und Stigma und der Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit ergibt sich die Milieuerfahrung einer sozialen Fragmentierung. Indem die marginalisierte Gruppierung der Anhänger*innen La Santa Muertes mit Gramsci als subalterne1 Gruppierung gedeutet wird, kommt die soziopolitische Dimension2 ihrer sozialen Lage in den Blick. Gegenüber hegemonialen Gruppen bilden sie eine fragmentierte Gruppierung. Während nach Gramsci die dominanten Gruppen in einer Gesellschaft ihre Einheit im Staat realisieren, formen die Subalternen eine – im Gegensatz zu den dominanten Gruppen – fragmentierte Gruppierung, „die

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Gramsci verwendet die Begriffe „classi subalterne“, „classi subordinate“ und „classi strumentali“ (Castro Varela/Dhawan 2015: 186). „Gramsci, who because he was in prison and his writings subject to censorship used it as a codeword for any class of people (but especially peasants and workers) subject to the hegemony of another more powerful class.“ (Buchanan 2010: Stichwort „Subaltern“). Zu Subalternität siehe auch Spivak 1988 und zu Subalternität und den Amerikas Mignolo 2012. „The term has also been used in Latin American studies to similar purpose, though there it is given a slightly different slant: it also refers to the habit or mindset of servitude and subservience that needs to be overcome in order to bring about political change.“ (Buchanan 2010: Stichwort „Subaltern“)

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Für Gramsci hat die Fragmentierung subalterner Gruppierungen politische Bedeutung. Sein Ziel ist es, Wege zu finden diese Fragmentierung zu überwinden. Seine Überlegungen zur Lage der Subalternen sind für diese Arbeit weniger als politisches Programm relevant, sondern auf ihrer Grundlage lässt sich die Anhänger*innenschaft La Santa Muertes hinsichtlich ihrer spezifischen Form von Kollektivität und ihrer Kollektivierungspotenziale untersuchen. Weitergehend lassen sich auf dieser Grundlage Prozesse der Gruppenbildung in der Verehrung La Santa Muertes als Überschreitungen der spezifischen Form der sozialen Fragmentierung untersuchen.

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durch mangelnde Autonomie, fehlende organische Intellektuelle und durch strukturelle und ökonomische Ausgrenzung gekennzeichnet ist“ (Castro Varela/Dhawan 2015: 186) und deren „modes of thought, worldviews, levels of political organisation, and culture“ (Green/Ives 2009: 8) sie weiter beschränken. Während Goffman in Bezug auf Stigmatisierte von einer „Kategorie“ oder von einem „Ensemble“ spricht, das eine Gruppe bilde, „ein guter Teil derer, die in eine gegebene Stigmakategorie fallen, kann sich gut durch den Terminus ‚Gruppe‘ oder ein Äquivalent […] auf die Gesamtmitgliederschaft beziehen“ (Goffman 2014: 34f.), muss die Anhänger*innenschaft La Santa Muertes eher als eine Gruppierung bezeichnet werden. Dadurch wird dem soziologisch und soziopolitisch bedeutsamen Umstand ihrer relativen Fragmentierung Rechnung getragen. Die Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung geht einher mit Erfahrungen sozioökonomischer Ungleichheit. So zeigt sich eine drohende Fragmentierung im Aufkommen von Neid, Misstrauen und von Hexereivorwürfen, denen Gläubige La Santa Muertes in Ritualen und mit der Verehrung der Todesheiligen entgegentreten. Anhand eines Gruppeninterviews mit Luis, Ximena und Raúl, den Geschwistern aus Chihuahua, wird zunächst die Bedeutung sozioökonomischer Ungleichheit im Milieu der Anhänger*innen La Santa Muertes herausgestellt. Anschließend wird anhand des Interviews mit Esther die Milieuerfahrung der (drohenden) Fragmentierung im Aufkommen von Neid, Misstrauen und Hexereivorwürfen aufgezeigt.

UNGLEICHHEIT, FRAGMENTIERUNG UND NEID Raúl erzählt von seinen Erfahrungen mit Menschen, die von ihm fordern würden, La Santa Muerte um die Übermittlung der kommenden und gewinnenden Lottozahlen zu bitten.3 Er und seine Geschwister betten diesen Wunsch nach

3

Die Verehrung Santa Muertes lässt sich in Bezug auf die Themen soziale Ungleichheit, ungleiche Ressourcenausstattung und ungleiche Möglichkeiten zur Erlangung von Reichtum auch als eine Form der „okkulten Ökonomie“ (Comaroff/Comaroff 1999, 2001) deuten. Pansters (2019) schreibt mit Bezug zu Jean Comaroff und John L. Comaroff (Comaroff/Comaroff 1999, 2001): „Social groups experience their predicament as the outcome of arcane and uncontrollable forces behind the creation of value and wealth as well as the loss of community and protection.“ (Pansters 2019: 41f.) Okkulte Ökonomien weisen einen polaren Charakter auf. „At one level, they consist in the constant quest for new, magical means for otherwise unattainable ends; at another, they vocalize a desire to sanction, to demonize and even eradicate, people

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großem Reichtum und den Fall seiner Erfüllung im Gespräch in die Lebenswirklichkeit ihres Milieus ein und erläutern wieso plötzlicher Reichtum wie bei einem Lottogewinn problematisch sei. Tabelle 29: Ausschnitt aus dem Gruppeninterview mit Raúl, Luis und Ximena Raúl

Luis Raúl

Luis Raúl Luis Raúl Luis

me han contactado personas, que me dicen, „es que yo me quiero ganar la lotería“, o sea me ha pasado gente de que, „ay es que dime los números de la lotería para yo comprarlos y sacarme“,„AMIGO amigo“. /es un poco ilógico/ si, es un poco ilógico.. o sea tú quieres ganarte millones tras millones de dólares de pesos, como quieras, digo.. „pero para qué quieres ese dinero?“ „es que yo ya me cansé de ser pobre“. „trabaja honradamente para que seas alguien en la vida, no pidas algo que no es para ti“. „porque sí fuera para ti, mira ahí lo tuvieras“. pero yo mira „para ganar la lotería sabes qué?. es que estoy muy /ocupado/“ /es que/ son cosas ilógicas hay cosas que no hay /cosas que no/ /es que nunca hay que ambicionar más/ no pero, es que esta dentro de la naturaleza humana ambi-

mich haben Personen kontaktiert, die mir sagen, „also ich will die Lotterie gewinnen“, also mir sind Leute vorbeigekommen die so, „ay sag mir die Zahlen der Lotterie damit ich die kaufen und gewinnen kann“, „FREUND Freund“. /das ist etwas unlogisch/ ja, es ist etwas unlogisch.. also du willst Millionen über Millionen von Dollars von Pesos gewinnen, wie du willst, sage ich.. „aber wofür willst du dieses Geld?“ „ich bin müde vom arm sein“. „arbeite ehrlich damit du jemand im Leben bist, wünsche dir nichts was nichts für dich ist“. „weil wenn es für dich wäre, sieh mal dort hättest du es“. aber ich sieh mal „um die Lotterie zu gewinnen weist du was?. ich bin sehr /beschäftigt/“

/es ist/ sind unlogische Sachen es gibt Dinge die nicht /es gibt Dinge die nicht/ /dann braucht man nicht mehr nach etwas streben/ aber nein, es liegt in der menschlichen Natur nach etwas zu streben.

held to have accumulated assets by those very means. The salvific and the satanic are conditions of each other’s possibility.“ (Comaroff/Comaroff 2001: 26)

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I. Luis

Raúl Luis

Raúl

cionar, siempre queremos más y más y más y más. de cierta forma hasta cierto punto es bueno. pero luego hay personas que se pasan de los límites, y eso ya es malo. el el ambicionar demasiado, dinero para empezar. sí a esa persona que te llegó a decir. „OYE quiero ganarme la lotería“„bueno ok. te quieres ganar la lotería. pero para qué te quieres ganar la lotería? qué harías con tanto dinero? qué harías?“ „bueno en primera, me compraría esto, esto, esto, esto, esto, esto, y esto“.„pero eso es despilfarrar dinero eso es tirarlo /a la basura/“ /cosas que no necesitas?/ exactamente, son cosas que no necesitas. para qué? para qué? con que tengas las fuerzas en tus manos en tus brazos en tus piernas. aire para respirar. una vida dentro de tu ser… más que suficiente eso es más que suficiente. y sabe MÁS, rico el dinero cuando te lo ganas con el sudor de tu frente así es.

wir wollen immer mehr und mehr und mehr und mehr. in gewisser Weise bis zu einem gewissen Punkt ist das gut. aber dann gibt es Personen die das Maß überschreiten und das ist dann schlecht. das das Streben nach allzu viel, nach Geld zunächst mal. ja dieser Person die zu dir kam um zu sagen. „HÖR MAL ich will die Lotterie gewinnen“ „gut okay. du willst die Lotterie gewinnen. aber wieso willst du die Lotterie gewinnen? was würdest du mit dem vielen Geld machen? was würdest du machen?“ „also gut zuerst würde ich mir das, das, das, das, das, das, und das kaufen“. „aber das ist Geldverschwendung das ist als würdest du es /in den Müll werfen/“ /Dinge die du nicht brauchst? genau, das sind Dinge die du nicht brauchst. wofür? wofür? wozu hast du die Kräfte in deinen Händen in deinen Armen in deinen Beinen. Luft zum Atmen. ein Leben in deinem Wesen... mehr als genug das ist mehr als genug und das Geld schmeckt BESSER wenn du es dir im Schweiße deines Angesichts verdienst so ist es.

Die Geschwister argumentieren, die Menschen, die zu ihnen kämen, um reich zu werden, wären nicht für den Reichtum vorgesehen oder geeignet („weil wenn es für dich wäre, sieh mal dort hättest du es“). Außerdem müsse Reichtum verdient und erarbeitet sein, damit er genossen werden könne. Plötzlicher Reichtum wäre schädlich, da er Anstrengungen und Ambitionen unerheblich machen würde und der menschlichen Natur („wozu hast du die Kräfte in deinen Händen in deinen

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Armen in deinen Beinen. Luft zum Atmen. ein Leben in deinem Wesen...“) nicht entspräche. Ein weiteres Argument, das sie gegen plötzlichen Reichtum hervorbringen, ist das der sozialen Einheit, die sie durch plötzlichen Reichtum bedroht sehen. Tabelle 30: Ausschnitt aus dem Gruppeninterview mit Raúl, Luis und Ximena Raúl

Luis Raúl Luis Raúl Luis Raúl Luis Raúl

el dinero te da felicidad pero también te la quita y es una cosa que yo digo „a mi nada más dame lo justo y lo necesario. nada más“, nada más es lo único que yo digo una vida justa sin carencias de nada sin carencias de nada que es exacto /o sea/ /justamente/ hay que dar y justamente hay que recibir exactamente porque todos necesitamos de todos es una es una cadenita hay que echarnos la mano los unos a los otros

Geld macht glücklich aber nimmt dir das Glück auch und es ist eine Sache die ich sage „gib mir nur was rechtens und was notwendig ist. nichts weiter“, nichts anderes das ist das einzige was ich sage ein gerechtes Leben ohne Mangel ohen Mangel was genau ist /also/ /gerecht/ ist zu geben und gerecht ist zu empfangen genau weil wir alle einander brauchen es ist eine es ist eine Kette wir müssen uns gegenseitig einer dem anderen die Hände reichen

Die Geschwister problematisieren plötzlichen Reichtum hinsichtlich seiner sozialen Einbettung und ihrer milieutypischen Vorstellung von Gerechtigkeit. Es sei eine Form der Ungerechtigkeit, wenn ein Mensch plötzlich und nicht legitim erwirtschaftet mehr als andere Menschen haben würde, die für ihr Auskommen im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten. Den sozialen Zusammenhalt drücken sie über das Bild einer Kette aus, „es ist eine es ist eine Kette wir müssen uns gegenseitig einer dem anderen die Hände reichen“. Nur in dieser Weise, im Zusammenhalt („weil wir alle einander brauchen“), könne das Geld glücklich machen, heben sie hervor. Zerstört Geld diese Kette, weil es nicht legitim erwirtschaftet wurde oder unverhältnismäßig viel ist, so „nimmt es das Glück“. Insofern formulieren die Geschwister aus Chihuahua hier einen Bewährungsmythos, der um Solidarität und soziale Einbettung, aber auch um die zuvor erläuterte Legitimität des Erreichten – als „Frucht“ von Anstrengung und Ambition –

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zentriert ist. Unverhältnismäßig und illegitim besser gestellt zu sein, wird als eine Demütigung derjenigen erfahren, die ihren Lebensunterhalt legitim erwirtschaften und kann dadurch zu einem Verlust des sozialen Zusammenhalts, zu einer Entzweiung des Milieus, zu sozialer Fragmentierung führen. Luis berichtet, er habe eine solche Entzweiung am eigenen Leib erfahren. Tabelle 31: Ausschnitt aus dem Gruppeninterview mit Raúl, Luis und Ximena Luis

I. Luis

I. Luis

y vaya que es una lección, que aprendí, que yo tuve que aprender a la mala, a la mala la tuve que aprender. que tenemos que echarnos la mano los unos a los otros, que tenemos que aprender, a convivir, como seres humanos, sin ambicionar y sin hacer menos sin humi# sin humillar sin sobajar absolutamente a nadie porque todos somos iguales, todos todos, […] tenemos amigos vecinos amigos de más y eso de humillar sobajar gente. no sirve absolutamente de nada, al contrario no te hace mejor persona, al contrario, es algo que nos nos consume y nos va matando nos corroe y y por qué lo tuviste que aprender a la mala? porque yo era tuve un una una una racha. Donde me creía se me subió un poquito el humo se me subieron un poquito los humos aha y como tengo poquito vea? y como mi vecino no tiene a y y decía y echaba a las personas de esta de esta forma

und das ist eine Lektion, die ich gelernt habe, die ich auf die harte Tour lernen musste, auf die harte Tour musste ich das lernen. dass wir uns gegenseitig die Hände reichen müssen, dass wir lernen müssen, als Menschen, zusammen zu leben, ohne zu streben und ohne weniger zu tun ohne Demü# ohne Demütigung ohne jemanden absolut zu demütigen, denn wir sind alle gleich, alle alle, […] wir haben Freunde Nachbarn weitere Freunde und dies mit dem Demütigen der Leute. Bringt gar nichts, im Gegenteil macht es dich zu keinem besseren Menschen, im Gegenteil, es ist etwas das uns zerfrisst und uns tötet und vertreibt und und wieso musstest du auf die harte Tour lernen? weil ich ein eine eine eine Glückssträhne hatte. wo ich dachte, ich wäre jemand. mir ist das ein wenig zu Kopfe gestiegen ein wenig zu Kopfe gestiegen war mir das. aha und wie ich wenig habe seht ihr? und wie mein Nachbar nichts hat und und sagte ich und ich habe die Leute auf diese diese Weise rausgeworfen [vor den Kopf gestoßen]

Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung | 211

In ihrer Studie über „Witchcraft and Policing“ in Südafrika arbeitet Riekje Pelgrim (2003) auf den Kontext der Verehrung La Santa Muertes Übertragbares über die sozialen Bedingungen des Aufkommens von Hexereivorwürfen heraus. Hexereivorwürfe, so ein Ergebnis der Studie, gründen in Neid und Eifersucht. Sie kommen daher vor allem unter nahen Bekannten vor, „typically strenuous relationships – co-wives, in-laws, children of the same father, but of different mothers, troublesome neighbors and colleagues – are typically prone to accusations of witchcraft, because they are susceptible to jealousy“ (ebd.: 52). In Nähe, Bekanntschaft und im Wissen um die Güterausstattung der nahen Anderen, angesichts einer gleichzeitigen knappen Ressourcenausstattung, sieht Pelgrim den Grund für das Aufkommen von Neid. Nachbarn, Familienangehörige und Bekannte konkurrieren um dieselben knappen Güter. „From this point of view, accusations of witchcraft are thus aimed at restoring equality within the community. They bring those that prosper back to the same level as the rest of the community.“ (Ebd.: 53) Esther berichtet im Interview von einem Schadenszauber unter dem sie gelitten habe und unter dessen Druck sie die Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles aufgesucht habe, um sich dort einer Behandlung bei profe Lautaro mit La Santa Muerte zu unterziehen. Tabelle 32: Ausschnitt aus dem Interview mit Esther Esther

I. Esther

I.

si, yo cuando vine pa’ ca, estaba pasando por una experiencia muy fea. de de gente mala que le hace a uno cosas como brujerías. y todo. y ella me ayudó. me protegió. cual tipo de brujerías? sss.. con tipo de brujerías. el maestro [Lautaro], estuve veniendo aquí a sanación, muchos.. ahm. cada día 13 del mes. el maestro haci sanación. aquí en el templo [4] sanación. si. y así poquito a poco me he recuperado.

aha. y como sabía usted que

ja, als ich hierherkam, ging ich gerade durch eine sehr hässliche Erfahrung. von von schlechten Leuten die einem Sachen zufügen wie Hexereien. und alles. und sie half mir. sie beschützte mich. was für eine Art von Hexereien? sss.. mit einer Art von Hexereien. der Meister [auch Lehrer; gemeint ist Lautaro], ich kam hierher für Genesungsbehandlungen, für viele.. ahm. jeden dreizehnten des Monats. der Meister machte Genesungsbehandlungen. hier im templo [4] Genesungsbehandlungen. ja. und so Stückchen für Stück habe ich mich erholt. aha. und wie wussten Sie dass es

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Esther

I. Esther

había un problema con con con hhmm eh, en mi persona, en mi casa. ah, me pasaron muchas cosas. ah, perdí mi trabajo. estee, tenía un departamento muy bonito. este ess, se me llenaba así el piso de gusanos. AH MUCHOS. en mi, en mi apartamento. en la carpete y todo eso. puras cosas feas. ahm.. yyy.. ella me ha ayudado. se me aparecieron muchas cosas feas en mi cuerpo. como, como me aparecí en el cuerpo así todo, morado. me parecera mi cuerpo así como, como todo morado, como que me habían golpeado. y muchas cosas horribles.

ein Problem gab mit mit mit hhmm eh, in meiner Person, in meinem Haus. ah, mir viele Dinge passiert. ah, ich verlor meine Arbeit. diess, ich hatte eine sehr schöne Wohnung. dies ess, mir füllte sich der Boden so mit Würmern. AH VIELE. in meinem, in meinem Apartment. im Teppich und alles. nur hässliche Sachen. ahm.. uuund.. sie hat mir geholfen. mir erschienen viele hässliche Sachen auf meinem Körper. wie, wie mir erschien auf dem Körper alles so, braun. mein Körper wurde so, so alles braun, als hätten sie mich geschlagen. und viele schreckliche Sachen.

Auf die spätere Frage der Forscherin, ob sie gewusst habe, wer sie verhext habe, antwortet Esther, „ja, ich glaube schon.“ In Esthers Erzählung tritt die Vorstellung hervor, dass Neid wie ein Gift oder ein Angriff ihren Körper beschädigen würde („mir erschienen viele hässliche Sachen auf meinem Körper. wie, wie mir erschien auf dem Körper alles so, braun.“) und ihre weiteren Lebensgrundlagen wie Wohnung und Arbeit zerstören würde. Esther konkurriert mit anderen Menschen ihres sozialen Umfeldes in Los Angeles um knappe und schwer erreichbare Güter. Relativer Wohlstand kann vor diesem Hintergrund zur Entstehung von Neid und Misstrauen führen. Mit La Santa Muerte und Lautaros Hilfe lässt sich der zerstörerischen Kraft des Neids etwas entgegensetzten. La Santa Muerte tritt in Esthers Vorstellung als unabhängige Agentin für sie ein.

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Tabelle 33: Ausschnitt aus dem Interview mit Esther Esther

pues, ella le protege a uno mucho. mucho de de personas malas, que ponen envidia. por envidia, por maldad.

also, sie schützt einen sehr. sehr vor vor schlechten Personen, die Neid streuen. aus Neid, aus Schlechtigkeit.

VON DER GRUPPIERUNG ZUR GRUPPE – PROFESSIONELLE DER STIGMATISIERTENGRUPPE Zu Professionellen einer Stigmatisiertengruppe können nach Goffman diejenige oder derjenige werden, die oder „der anfangs ein bißchen redegewandter, ein bißchen besser bekannt ist oder ein bißchen mehr Beziehungen hat als seine Leidensgenossen“ (Goffman 2014: 37f.). Von den Gläubigen und Besucher*innen der Kirchen La Santa Muertes werden die profes in diesem Sinne als Professionelle der Gruppe anerkannt. Ihnen kommen repräsentative Rollen zu, weil sie die eloquentesten Mitglieder ihrer Gruppen sind. Dies wird insbesondere anhand der Rahmenleistungen der Interviews mit Miguel und Gerson, wie sie sich in den folgenden Notizen der Forscherin zur Interviewsituation zeigen, deutlich. Beide versuchen zunächst den jeweiligen profe, José bzw. Lautaro, anstatt ihrer selbst sprechen zu lassen. „Das Interview mit Miguel, als Gespräch über seine Lebensgeschichte und seine Verehrung La Santa Muertes verabredet, wurde im November 2015, vier Tage im Voraus verabredet. Ich hatte den Tag mit der Vorbereitung des zugesagten Interviews verbracht und war ernüchtert und genervt, als Miguel am Abend in der Kirche abwinkte und meinte, ich könne nun ja erst mal profe José befragen. José wäre interessanter, wisse mehr und hätte ja auch mehr Erfahrung.“ „Ich hatte Gerson zweimal gefragt, ob er mit mir über seine Lebensgeschichte und über seine Verehrung La Santa Muertes sprechen würde. Einmal hatte er gesagt, er würde es sich überlegen und ob ich schon mit profe Lautaro, der besser im Erzählen sei und sich auch viel besser als er selbst auskenne, gesprochen habe. Beim zweiten Mal sagte er ein Gespräch nach der nächsten Messe zu. Nachdem die Messe vorbei ist, frage ich Gerson, ob er Lust habe, das Interview in dem Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu führen. Gerson sagt, er würde lieber in den Nebenraum der Kirche, in die botánica, gehen. Er wirkt schüchtern und möchte, so scheint es mir, lieber nicht mit mir allein sein und in der Nähe von profe Lautaro bleiben.“

214 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

Als Angehörige einer Stigmatisiertengruppe offenbaren Gerson und Miguel sich nicht gern, auch nicht gegenüber der Forscherin. Sie bevorzugen es, die profes, ihre Repräsentant*innen anstatt ihrer selbst sprechen zu lassen. Die meisten profes sind in den sozialen Medien aktiv und verbreiten dort Gebetstexte und Ritualanleitungen, stehen in Kontakt mit Anhänger*innen La Santa Muertes und mit anderen Professionellen. Darüber hinaus kommentieren sie das tagespolitische Geschehen oder nehmen zu ethischen Fragen Stellung. Mit Goffman sind die Aktivitäten der profes in den sozialen Medien in Ansätzen Schritte in Richtung der Formulierung einer Ideologie der Gruppe. Sie deuten Wirklichkeit und stellen selbst Deutungen bereit. Auf diese Weise übernehmen sie die Rolle von Professionellen der Stigmatisiertengruppen: „Die von einem bestimmten Stigma Betroffenen fördern oft eine Publikation irgendeiner Art, die gemeinsamen Gefühlen Ausdruck verleiht und so ihrem Leser den Sinn für die Wirklichkeit ‚seiner‘ Gruppe und seiner Verbindungen mit ihr konsolidiert und stabilisiert. Hier wird die Ideologie der Mitglieder formuliert – ihre Klagen, ihre Wünsche, ihre Politik.“ (Ebd.: 37)

Ist ein Mitglied einer Kategorie von Stigmatisierten zu einer oder einem Professionellen geworden, gibt es für dieses Individuum die Möglichkeit als Professionelle*r die Stigmakategorie zu verlassen, denn „gruppenangehörige Führer [sind], indem sie einen Beruf aus ihrem Stigma machen, verpflichtet, mit Repräsentanten anderer Kategorien umzugehen, wobei sie die Erfahrung machen, daß sie aus dem geschlossenen Zirkel ihrer eigenen Art ausbrechen“ (ebd.: 39). Lautaro besuchten in Los Angeles beispielsweise Reporter*innen verschiedener lokaler oder nationaler Printmedien, um ihn zu interviewen und von der Verehrung La Santa Muertes zu erfahren. Auch Esmeralda und José haben in den Kirche Journalist*innen und Filmemacher*innen empfangen. Die profes laufen mit ihrer Bereitschaft auch außerhalb ihrer Gruppen als Repräsentanten aufzutreten Gefahr, sich von ihren Gruppen zu entfernen, denn „[e]rstens sind gruppenangehörige Führer, indem sie einen Beruf aus ihrem Stigma machen, verpflichtet, mit Repräsentanten anderer Kategorien umzugehen, wobei sie die Erfahrung machen, daß sie aus dem geschlossenen Zirkel ihrer eigenen Art ausbrechen. Statt sich auf ihre Krücken zu stützen, bringen sie es dahin, Golf mit ihnen zu spielen, und hören so vermittels sozialer Partizipation auf, repräsentativ zu sein für die Menschen, die sie repräsentieren.“ (Ebd.: 39)

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Die Rolle der Professionellen geht einher mit der Möglichkeit zu einer (intellektuellen) Entrückung von der eigenen Gruppe. Das kann geschehen, indem doe profes reflexive Distanz zu ihrer Gruppe herzustellen vermögen und graduell zu einem Teil der anderen Gruppe werden, der gegenüber sie ihre Gruppe repräsentieren, indem sie ihr Handeln an dieser ausrichten. Eine andere Form der Entrückung von der eigenen Gruppe kann sich durch die Aufwertung des sozialen Status der profes ergeben, wenn sie als erfolgreiche profes zu einer herausgehobenen Stellung innerhalb ihrer Kategorie gelangen und dadurch befähigt sind, die Kategorie zu verlassen. Diese Möglichkeit der Entrückung von der eigenen Gruppe war zuletzt für José gegeben, der als erfolgreicher profe mit seinem Charisma und seiner Eloquenz eine Frau heiratete, die einem anderen Milieu angehörte. Die Frau ist sozioökonomisch etwas besser gestellt als die anderen Besucher*innen der Kirche. Zwar wurde sie zu einer Anhängerin La Santa Muertes, jedoch stammt sie nicht aus Mexiko wie die übrigen Gruppenmitglieder und deren Familien, sondern aus dem südlichen Südamerika. Für José führt die Ehe zu einer Entrückung von der Gruppe als in der Kirche Unzufriedenheit aufkommt, weil er seine Frau und deren Familie nicht aus den Angelegenheiten der Kirche herausgehalten habe. Die anderen Gruppenmitglieder habe, so schreibt Miguel 2019, der „Geschmack“ der neuen Ehefrau und ihrer Familie gestört. Sie hätten darum von José gefordert, er solle seine neue Familie aus der Kirche und ihren Angelegenheiten heraushalten. Aus ihrer Sicht hatte José durch die Heirat einen Schritt aus seinem Milieu herausgetan. Auf diese Weise war seine Stellung als Professioneller seiner Gruppe ins Wanken geraten. Die Besucher*innen der Kirche schienen zu fürchten, dass fortan die Möglichkeit bestehen würde, José könnte sich von ihnen entfernen und entsprechend nicht länger vollständig einer von ihnen sein und sich für die Gruppe stark machen. Mit seiner Heirat war die Möglichkeit aufgekommen, er könnte Verrat an der Gruppe begehen. Die Professionellen der Verehrung La Santa Muertes verfügen über Fähigkeiten der Entzweiung von ihren Gruppen entgegenzuwirken. José, Esmeralda und Lautaro teilen, wenn sie während der Veranstaltungen in den Kirchen zu den Gläubigen sprechen, eine bestimmte Art Witze zu machen. Im Rahmen folkloristischer Einlagen, zu denen es während der Messen regelmäßig kommt, machen sie verschiedene regionale Dialekte des mexikanischen Spanischs nach und benutzen regionalgeschichtliche Referenzen. Lautaro bringt die Teilnehmer*innen seiner Messen beispielsweise zum Lachen, indem er mit quietschender Stimme und in einem rural klingenden Spanisch von „mi rancho“, meiner rancho, und somit auf die Zeiterfahrung der Urbanisierung rekurrierend, spricht. Den Klang und Dialekt des Spanischs der Einwohner*innen Mexiko-Stadts können Esmera-

216 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

lda, Lautaro und José auf besonders erheiternde Weise imitieren. Mit Goffman lassen sich diese Referenzen der profes als Bestrebungen deuten, ihren kulturellen Bezugsrahmen, ihre Herkunft und Identität vor ihrer Gruppe darzustellen und zu versichern, wodurch sie auch ihrer Entzweiung von der Gruppe entgegenwirken. Wenn sich die profes „mit sozialen Angelegenheiten unter ihresgleichen befassen, mögen sie eine spezielle Verpflichtung fühlen zu zeigen, daß sie die Gewohnheiten der Gruppe oder ihren eigenen Platz nicht vergessen haben, und so mögen sie auf der Bühne Dialekt, Gestik und Ausdruck, die der Gruppe eigenen, in humorvoller Karikatur ihrer Identität verwenden.“ (Ebd.: 166)

VON DER GRUPPIERUNG ZUR GRUPPE – TATTOOS ALS ZEICHEN UND PRAXIS DER GRUPPENZUGEHÖRIGKEIT Fernanda möchte sich ein Tattoo La Santa Muertes auf ihren Rücken stechen lassen. Dazu ein Ausschnitt aus dem Feldforschungstagebuch: „Als ich mit ihr noch ein Stück zusammen im Bus fahre, erklärt sie gerade das Design ihres Wunschtattoos, als mir ein Mann auf die Schulter tippt. Der Mann kann kaum sprechen und deutet daher, als er unser beider Aufmerksamkeit erlangt hat, auf seinen Unterarm. Er schiebt seinen Ärmel zurück und sichtbar wird ein großes Bild La Santa Muertes, das seinen gesamten Unterarm einnimmt. Wir schauen, ‚woow‘. Fernanda erklärt, sie habe ihr Tattoo noch nicht unter die Haut stechen lassen, weil ihr das nötige Geld fehle. Eines Tages möchte sie es aber machen lassen, nur größer soll es sein als das des Mannes, ‚über der gesamten Rücken.‘“

Judith Katia Perdigón Castañeda und Bernardo Robles Aguirre deuten die Praxis des Tätowierens in der Verehrung La Santa Muertes als Dank für erfüllte peticiones und als eine Form der Verkörperung, durch die der Körper der Anhänger*innen selbst zu einem Altar würde: „When people ask La Santa Muerte for a favour, or after she performs a miracle, they offer flowers, make her a new dress, or adorn her with jewellery. Women may cut off some of their own hair to make her a wig, while others share the joy of a ‚miracle‘ by giving away candy, apples, flowers or stamps bearing the Santa’s image. But when they sense that such acts fall short of expressing their thanks, devotees may be moved to offer more, to sacrifice something deeply personal, unique: their body, which is transformed into an altar, a blank canvas upon which they display their gratitude in the form of tattoos. It is in this sense that, once tattooed on the believer's body, La Santa Muerte becomes a symbol

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of protection; emerging from the soul, she finds expression on the body.“ (Perdigón Castañeda/Robles Aguirre 2019: 160)

Tattoos stehen der sonst eher üblichen Geheimhaltung des Glaubens an La Santa Muerte vor Angehörigen anderer Milieus und Nichtgläubigen entgegen. Beispielsweise ist Carlos wie viele der Anhänger*innen La Santa Muertes eher bestrebt seinen Glauben an La Santa Muerte für sich zu behalten.4 Dies zeigt sich anhand der Notizen aus dem Feldforschungstagebuch zur Kontaktanbahnung zu Carlos: „Der Kontakt zu Carlos wurde durch Ignacio, der ein langjähriger Freund von Carlos ist, vermittelt. Ich war auf der Suche nach Polizist*innen, die an La Santa Muerte glaubten und hatte darum Kontakt zu Ignacio aufgenommen, der Kontakte zu Polizist*innen hatte. Seit ca. 15 Jahren kennen sich die beiden Männer so gut, dass Ignacio Carlos gelegentlich zu Familienessen einlädt. Dass Carlos an La Santa Muerte glaubt, hat Ignacio in den 15 Jahren ihrer Freundschaft nicht erfahren. Ignacio berichtet, er habe Carlos gefragt, ob er Polizisten kenne, die an La Santa Muerte glaubten. Carlos habe ihm geantwortet, viele Po4

Vergleichbar ist hier auch die von Flores Martos beschriebene Performance eines Architekten, die sich innerhalb eines gehobenen Milieus abspielt. Der Architekt möchte es während einer Poolparty vermeiden, sich zu entkleiden, um seine große Tätowierung einer Figur La Santa Muertes vor den anderen Anwesenden nicht preiszugeben: „A colleague witnessed the following scene in the city of Tuxtla-Gutiérrez (Chiapas): during a family get-together, an architect friend of his was reluctant to swim in the pool, or even take off his T-shirt, despite the heat of the day. […] His excuses seemed strange, but after a few beers, and as night fell, others saw him finally get ready to take a swim after someone offered him a full-body swimsuit. When he finally took off his T-shirt they saw a tattoo on his back with an image of La Santa Muerte. The architect was clearly embarrassed to reveal to his friends and professional companions that he was a follower of the cult to La Santa Muerte and averse to answering questions or justifying his belief, as he would surely be obliged to do upon seeing his tattoo. Apart from the others at the pool, he showed it to my colleague, who described it to me as follows: It covered his whole back, a tattoo of La Santa Muerte with the legend: ‚Thank you for what you did for me‘. A more ornate tattoo adorned his calf: a Zapotec demon. The size was scary, giving the impression that his body was a walking altar. He told me he’d had them done to thank La Santa Muerte for extricating him from a critical situation, but that he didn’t profess that faith, or perform rituals or anything like that. But later his wife told me that he was, indeed, a worshipper. (K. Chacón, personal communication, September 30, 2014).“ (Flores Martos 2019: 84, siehe auch Lomnitz 2019: 187)

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lizisten würden an La Santa Muerte glauben und er selbst sei seit seiner Zeit bei der Polizei ebenfalls ein Gläubiger der Todesheiligen. Ignacio habe verwundert gefragt, wieso er ihm das nie erzählt habe. Carlos habe abgewinkt und gemeint, er habe ihn schließlich nicht danach gefragt.“

La Santa Muerte als religiösen Glaubensinhalt zu haben ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund des sozioökonomischen Statusgefälles zwischen Ignacio und Carlos ein Stigma, das Carlos nicht grundlos preisgibt.5 Auch Lomnitz schlägt vor, die Verehrung La Santa Muertes unter Stigmagesichtspunkten zu untersuchen. Er bringt den Bezug zu Stigma jedoch nicht zur allgemeinen Bestimmung des sozialen Hintergrundes der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes in die Diskussion ein, sondern engt diese theoretische Einbettung auf die Praxis der Verehrung La Santa Muertes selbst ein, besonders in Hinblick auf die Praxis des Tätowierens unter Gläubigen. „Stigma, as Erving Goffman discussed, can be both a visible or at least discoverable individual handicap, and an exalted sign of ‚tribal‘ pride […].“ (Lomnitz 2019: 184) Hinsichtlich des Tattoos als sichtbarem Zeichen, argumentiert er: „Indeed there is often a connection between stigmata and the sacred: the mark of personal suffering becomes a sign of allegiance with that which cannot be profaned. The centrality of tattooing in La Santa Muerte cult suggests a process wherein social and personal stigma is willfully transformed into physically visible stigma, which then operates as sacred sign. The transformation of unseen to discoverable stigma through tattooing is meant to be indelible testimony of a pact with a deity. At the same time, however, this personal transformation, from a sense of psychological suffering to the voluntary acquisition of physical stigma, is also a move away from individual suffering and toward the acquisition of a social identity.“ (Ebd.)

Einmal mehr wird deutlich: Auf symbolsicher Ebene zeigt La Santa Muerte – hier als Darstellung in Form von Tattoos, aber die These wurde bereits im Zuge der Analyse der roten Figur La Santa Muertes zu Anfang der Arbeit wie auch im Zuge der Analysen der Bühnen der Verehrung formuliert – als Hervorbringung ihres Milieus die Existenz dieses Milieus an und ist auf diese Weise eine identi5

Während Ignacio als Familienvater und Angehöriger eines etablierten und ökonomisch besser gestellten Milieus einer gesicherten und festen Arbeit nachgeht, gibt Carlos im Vergleich zu Ignacio eher das Bild eines Rumtreibers und Trinkers ab. Die Beziehung der beiden erinnert in Ansätzen an die von John Steinbeck fingierte und dargestellte Beziehung zwischen dem Meeresforscher Doc und den Herumtreibern und Taugenichtsen aus Cannery Row (Steinbeck 1993).

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tätsstiftende und verbindende Figur.6 Das zeigt auch eine Beobachtung von Roush in Mexiko-Stadt: „Beyond the congregation at Alfarería Street, devotees also acknowledge each other in ways that signal their shared stigma and disapproval of a hypothetical, stylized antagonist. In Mexico City, on the street and in the subway, strangers who discover that they share the devotion—tattoos, scapulars, and T-shirts are conversation starters—engage in generic dialogues that resemble a miniature catechism, one whose ideas coincide with the printed and handwritten prayers that circulate hand to hand.“ (Roush 2014a: 145)

Die Heiligenfigur La Santa Muerte steht als eine Hervorbringung ihres Milieus in engem Zusammenhang mit der Milieuerfahrung einer drohenden oder gegebenen sozialen Fragmentierung. Sie kann praktisch eine Überschreitung dieser Milieuerfahrung anstoßen, wenn sie als Tattoo auf der Haut ihrer Anhänger*innen zur Identifikationsfigur wird und zu einem sichtbaren Ausdruck dieses Milieus, eines Stolzes der Tätowierten auf ihre Zugehörigkeit zu diesem sonst wenig sichtbaren Milieu, denn mit Tattoos La Santa Muertes sind ihre Anhänger*innen „interlinked by a common sense of belonging, as they share symbols and social representations“ (Perdigón Castañeda/Robles Aguirre 2019: 167). Sie können einander erkennen und ansprechen, so wie es der Mann im Bus in Guadalajara tat.

6

Huffschmid stellt, so lässt sich in Bezug zu Stigma und der Verehrung La Santa Muertes deuten, außerdem die These auf, öffentliche Performances der Verehrung La Santa Muertes, wie die von ihr beobachtete in Tepito, wären eine Art von „counterperformance“ (Huffschmid 2019: 128), in dem Sinne, dass diese Performances „based on a strategy of visual excess, or transgression“ dazu dienten, „to confront stigmatization and diabolic visual semantization“ (ebd.), also dazu dienten, der stigmatisierenden medialen Berichterstattung und anderen stigmatisierenden Repräsentationen entgegenzutreten.

Milieuerfahrung prekärer Ordnung

Die Milieuerfahrung prekärer Ordnung besteht angesichts der Koexistenz einer offiziellen Ordnung und (teilweise diverser) inoffizieller Ordnungen insbesondere innerhalb des mexikanischen Nationalstaates.1 Bezogen auf den politischen Kontext der USA ist es vornehmlich die marginale soziale Lage angesichts einer (idealtypisch) einheitlich geltenden und durchgesetzten Ordnung, aus der sich eine Milieuerfahrung eines spannungsvollen Verhältnisses zur geltenden Ordnung ergibt. In Mexiko kommen demgegenüber in größerem Umfang widersprüchliche, ambivalente offizielle und innoffizielle Ordnungen zur Handlungsorientierung der Subjekte vor.2 Mit dem mexikanischen Staat besteht eine den Subjekten übergeordnete politische Vergemeinschaftung mit einer offiziellen Ordnung, neben der jedoch weitere inoffizielle nicht minder mächtige Ordnungen existieren. Es gibt ein ganzes Spektrum inoffizieller mehr oder weniger

1

Die inoffiziellen Ordnungen lassen sich teilweise, so kann man Salvador Maldonado Aranda folgend sagen, gar als Parallelregierungen bezeichnen. Er schreibt in einer Untersuchung der Transformationen des Drogenhandels, seiner Ökonomie und Kultur im mexikanischen Bundesstaat Michoacán, „[t]he way, for example, the agro-industrial and mining economic is interrelated with the illegal economy has had significant political effects. In terms of governability, it led to the emergence of parallel governments […] given the domination of the criminal organizations.“ (Maldonado Aranda 2014: 159)

2

Zur Problematik einer gleichzeitigen Ausrichtung von Handlungen an mehreren Ordnungen, legalen und illegalen und zu illegalen Aktivitäten der Anhänger*innen La Santa Muertes in Los Angeles, liegen keine ausreichenden Daten vor. Eine Untersuchung zu „illegalen Routinen“ in einem mexican-american-barrio führte Daniel Dohan durch. Seine Untersuchung legt nahe, dass in manchen Stadtvierteln USamerikanischer Großstädte, ähnlich wie im Folgenden gezeigt wird, ebenso mächtige illegale Ordnungen gelten wie legale (vgl. Dohan 2003: 103ff.).

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mächtiger Gruppen, die ihre eigenen Ordnungen hervorbringen und teilweise miteinander, mit dem Staat oder mit weiteren Gruppen in Konflikte geraten.3 Zwischen der offiziellen und den inoffiziellen Ordnungen haben Subjekte in diesem Kontext Spielräume: Sie können ihr Handeln situativ an der offiziellen Ordnung oder einer inoffiziellen Ordnung ausrichten. In einigen Situationen müssen sie jedoch mehrere Ordnungen zur selben Zeit zur Handlungsorientierung nutzen oder geraten mit einer der Ordnungen oder mehreren in Konflikt, wenn es nicht gelingt, das Handeln gleichzeitig an allen relevanten Ordnungen auszurichten. Im Folgenden geht es zunächst um den US-amerikanischen Kontext, in den anschließenden Abschnitten steht der mexikanische Kontext im Mittelpunkt. Bezogen auf den mexikanischen Kontext wird das Verhältnis von offizieller Ordnung und inoffiziellen Ordnungen zunächst exemplarisch anhand eines Corridos entfaltet. Folgend wird dieses Verhältnis anhand von Carlos Erzählungen über seine Tätigkeit als Polizist beleuchtet. Schließlich rücken genderspezifische Aspekte der Koexistenz offizieller und inoffizieller Ordnungen anhand eines Ausschnitts aus dem Interview mit Fernanda in den Blick.

ORDNUNG UND MARGINALITÄT IM KONTEXT DER USA Da Gläubige La Santa Muertes wie José und Sol in den USA im Sinne der Milieuerfahrungen von Anomie und Stigma leicht in ein Spannungsverhältnis zur geltenden offiziellen Ordnung geraten, sind sie in manchen Situationen bestrebt, in ihrer religiösen Praxis mit La Santa Muerte rituell „Lücken im System“ oder „Ausnahmen von den geltenden Regeln“ zu erzeugen. José berichtet, er habe eine solche „Lücke im System“ im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozess gegen ihn selbst rituell erzeugt. Durch das Ritual mit La Santa Muerte habe diese dafür gesorgt, dass er, José, der Verurteilung durch ein US-amerikanisches Gericht entgangen sei. Vorangegangen sei, dass andere Personen etwas, José spezifiziert es nicht weiter, in der Kirche deponiert hätten und die Polizei daraufhin in die Kirche gekommen sei und José verhaftet habe. José habe mit der Sache nichts zu tun gehabt und von allem auch nichts gewusst. Als José später wieder

3

Deutlich zeigte sich dieser Umstand beispielsweise im mexikanischen Bundesstaat Michoacán, wo es, in der Folge langandauernder Prozesse des Machtgewinns und Machtmissbrauchs krimineller Gruppen, in den frühen 2010er-Jahren zur Bildung von zivilgesellschaftlichen Selbstverteidigungseinheiten (autodefensas) gekommen war. Diese, aber auch die mexikanische Regierung, traten in einen bewaffneten Kampf gegen lokale kriminelle Organisationen ein (vgl. Pansters 2015).

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auf freiem Fuß zur Gerichtsverhandlung vorgeladen worden sei, habe er zuvor an La Santa Muerte eine petición gestellt, durch die sein Name aus der Datenbank des US-amerikanischen Justizapparates verschwunden sei und durch die sein Fall gelöscht gewesen sei. Tabelle 34: Ausschnitt aus dem Interview mit José José

I. José

pos obvio, tienes que ir a corte después. cuando llego a corte no estaba mi nombre en las listas de afuera. dije „ay esta adentro“. entonces llego adentro. tampoco esta. tampoco esta mi nombre. me voy a la ventanilla. estaba una una morenita. una mujer de color negro. y me atendió ella en la ventanilla. ya le dije pues que venía a corte pero mi nombre no lo encuentro porque en ningún lado haya en las listas. dice „no te preocupes“. dice „como te llamas?“ empezó ya a tipear y me dice „como te llamas?“ ya le dije. en cuando ella tipeó mi nombre... cuando tenía tipeado mi nombre ella pegó un grito fuerte. un grito con terror. con miedo. hizo las manos así [macht eine abwehrende Handbewegung] en la, frente a la computadora. hm. y luego le digo yo „estás bien? que te pasa?“ „no, i am not okay not okay“ dice no. „no estoy bien.“ y da vuelta a la pantalla para que la vea yo y yo, el único que miré fue que la pantalla estaba así como las teles

also klar, musst du vor Gericht danach. als ich bei Gericht ankomme war mein Name nicht auf der Liste draußen. ich sagte „ay er ist drinnen“. dann komme ich rein. ist er auch nicht. ist mein Name auch nicht. ich gehe zum Schalter. da war eine Dunkelhäutige. eine Schwarze. und sie bediente mich am Schalter. schon hatte ich ihr gesagt also dass ich zum Gericht kam aber meinen Namen nicht finden kann weil er nirgends auf den Listen ist. sie sagt „mach dir keine Sorgen“. sie sagt „wie heißt du?“ sie fing schon an zu tippen und sagte zu mir „wie heißt du?“ sagte ich ihr gleich. und als sie meinen Namen tippte… als sie meinen Namen getippt hatte stieß sie einen lauten Schrei aus. ein Schrei mit Schrecken. mit Angst. sie machte die Hände so [macht eine abwehrende Handbewegung] vor dem, vor dem Computer. hm. und später sage ich zu ihr „geht’s dir gut? was ist mir dir?“ „no, i am not okay not okay“ nein sagt sie. „mir geht’s nicht gut.“ und dreht den Bildschirm um damit ich ihn sehen kann und ich, das einzige was ich sah war dass der Bildschirm so wie

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antiguas de blanco y negro… [klopft auf den tisch]. I. José

hm. que se hacían como a, como a granizo no sé como. así estaba. yo no sé que ha miró ella. porque ya después se para y esta con, este, se para y fue corriendo pa’ adentro. no sé que fue a hacer. vino otra vez, un montón de archivos que tenía ahí, estuvo buscando por uno. nada. agarró. llamó, no sé a cuantas partes. tampoco. dice „no, tu no existes.“ dice „tu no estas aquí,“ dice. „vete,“ dice.

I.

y hiciste una petición antes /a la Santísima?/ /YESS/ yes. lo hago solamente cuando cuando tengo ese tipo de problemas. como yo le digo mi madre. le digo madre. le digo mamá. digo „mamá ya sabes lo que. lo que tienes que hacer.“ así.

José

die alten Fernseher in weiß und schwarz war… [klopft auf den Tisch]. hm. sie wurden zu so, wie zu so Körnchen ich weiß nicht wie. so war das. ich weiß nicht was sie gesehen hatte. weil sofort danach steht sie auf und ist mit, diesem, sie steht auf und lief nach drinnen. Ich weiß nicht was sie machte. sie kam wieder, sie hatte da eine Menge Ordner, sie suchte in einem. Nichts. griff. Sie rief an [telefonierte], ich weiß nicht wo überall. auch nichts. sie sagt „nein, du existierst nicht.“ sie sagt „du bist hier nicht,“ sagt sie. „verschwinde,“ sagt sie. und machtest du eine petición vorher /an die Santísima /? /yess/ yes. das mache ich nur wenn wenn ich diese Art von Problemen habe. wie ich sie meine Mutter nenne. ich sage Mutter. ich sage Mama. ich sage „Mama du weißt schon was. was du zu tun hast.“ so.

Auch Sol berichtet, mit Hilfe La Santa Muertes der geltenden Ordnung und denen, die sie durchsetzen sollen, hier der Polizei von Los Angeles, entkommen zu sein.

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Tabelle 35: Ausschnitt aus dem Interview mit Sol Sol

i ask her and she will help me. like there was this time where i got my license suspended and i was driving without a license cause i had to drive to work and go home. so it was like three month. and during those three month there was .. two times where i got stopped by the cops. and i was like, and as soon as i saw them i started praying „ooh lady, please keep them away, keep them away, keep them away. Don’t let them stop me, don’t let them stop me!“ and when they did, she would come to my head and she will be like „I couldn’t stop it but I’m gonna help you, so i won’t, it won’t cause you any damage.“ and they did stop me and they were like „can i see your license?“ and i was like „aha, my license is suspended“. you know they usually, they are allowed to take your car away and give you a ticket. they are supposed to do that. but i was praying and praying to my death „oh Santa Muerte please help me, protect me, don’t let them do any harm to me, don’t let them give me a ticket“. and gonna take me a ticket. and they just told me „ooh, okay. well, you know we are supposed to give you a ticket and take your car away, right?“ and i was like „ya“. [2 uv]. „but just go home. just don’t do it again.“ and that was two times. TWO TIMES. and i was like „oh my god“. and i would have come home and i was like „thank you for saving me. i would turn on a candle and give her her flowers and her apples. and then like for those three month i would like pray „don’t let them stop me, don’t let them stop me“. and they didn’t. sometimes i would have them in back of me and i would tell her „guide them away, guide them away, take them away“ and i would turn back and they would make a u-turn. [lacht]

LA SANTA MUERTE IN EINEM CORRIDO „Los Bukanas de Culiacan“ heißt die Musikgruppe, aus deren Repertoire der Corrido „La Santa Muerte en Sinaloa“ stammt. Die Gruppe ist Teil des vorwiegend in den USA produzierten und dort wie auch in Mexiko bekannten „Movimiento Alterado“ [verstörte Bewegung]. Zu dieser Bewegung zählen (sich) eine ganze Reihe von Musikern.4 Darunter viele, die von dem in Los Angeles ansässigen Label „Twiins Corporation“ produziert werden und die großen Erfolg mit sogenannten canciones enfermas [kranken Liedern] haben. Diese 4

Beispielsweise El Komander, Los Buitres, Erik Estrada, Noel Torres oder El RM.

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Lieder handeln häufig vom Drogenhandel, extremem Reichtum und ebensolcher Gewalt.5 Ein Corrido über La Santa Muerte aus diesem Genre stellt einen exemplarischen Extremfall und keinen Sonderfall dessen dar, was über die Todesheilige musikalisch zu hören ist. Es gibt eine Vielzahl weiterer Corridos, die La Santa Muerte in ähnlicher Weise besingen.6 Als exemplarischer Extremfall – der Corrido ist innerhalb der Norm besonders eindrücklich und explizit, jedoch kein Sonderfall – ebenso wie als gelungene künstlerisch verdichtete Ausdrucksgestalt zeichnet der Corrido „La Santa Muerte in Sinaloa“ ein Bild La Santa Muertes und der folgenreichen Beziehung, in die man zu ihr treten kann. Der Corrido eignet sich, um die Struktureigenschaften des um die Figur der Santa Muerte zentrierten Glaubens in seinem Krisenbewältigungspotential, die Figur selbst in ihrem ordnungsstiftenden Potenzial und die popkulturelle Kommunikation über die Verehrung La Santa Muertes zu rekonstruieren. Der Name der Band „Los Bukanas de Culiacan“ stellt einen räumlichen Bezug zur Stadt Culiacán im mexikanischen Staat Sinaloa7 her und nimmt Bezug auf den in der Popkultur als Luxusgut und Lieblingsgetränk der Narcos geltenden Whisky der Marke „Buchanan’s“. Im Englischen klingt das „ch“ in „Buchanan’s“ wie ein Spanisches „c“ oder „k“. Spanisch würde man „Buchanan’s“ „Butschanans“ aussprechen, sodass der Whiskyname den für ungebildet und naiv gehaltenen und in Narco-Ästhetik gekleideten Frauen, die sich möglicherweise gern einen Narco zum Ehemann nehmen würden, den Namen „Butscho-

5

Zur Ökonomie der Narcocorridos siehe beispielsweise Amaya 2014. Zum Movimiento Alterado und canciones enfermas siehe Ramírez Paredes 2012, Galvin 2014 und Orozco Martínez/Zapata Galindo 2018.

6

In anderen, weniger extremen Narcocorridos als denen des Movimento Alterado, wird La Santa Muerte ebenfalls besungen. Ein Vergleich würde sich mit dem etwas älteren Corrido „La Santisíma Muerte“ z.B. in der Interpretation von Beto Quintanilla anbieten (https://www.youtube.com/watch?v=tpf_eyFM9q4; Abrufdatum 01.02.2019). Weitere Narcocorridos, in denen es um La Santa Muerte geht, sind beispielsweise: „La Santísima Muerte de Colima“ (Interpret: Selva Norteña), ,,La Muerte y el Sicario“ (Interpret: Gerardo Ortiz), ,,La Santa Muerte“ (Interpret: Los Arrieros de Tijuana), „La Muerte Mi Compañera“ (Interpret: Juan Rivera) oder „La Santísima Muerte“ (Interpret: Los Originales De San Juan), der in manchen Aufnahmen mit Maschinengewehrsalven hinterlegt ist.

7

Culiacán ist die Hauptstadt des mexikanischen Bundestaats Sinaloa und als Heimat der Corridos bekannt; in jüngerer Zeit auch besonders der Corridos über den Drogenhandel, deren Geschichten vom Reichtum, Aufstieg und Fall der Narcos häufig in Culiacán spielen (z.B. „Quien Se Anima“, Interpret: Gerardo Ortiz).

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nas“ einbrachte.8 Das „k“ anstelle eines „ch“ im Bandnamen „Los Bukanas de Culiacan“ drückt Zugehörigkeit zur oder Insider-Wissen um die Kultur des lokalen Drogenhandels in Culiacán, Sinaloa, aus.9 „Los Bukanas de Culiacan“ geben regelmäßig Konzerte in den USA und in Mexiko. Es liegt an dieser Stelle ein Eintrag aus dem Feldforschungstagebuch zum Besuch der Forscherin eines Auftritts der Gruppe an einem Samstagabend im November 2015 in Los Angeles vor: „Der Veranstaltungsort liegt in einem Industriegebiet im Süden der Stadt. Ich komme gegen 21 Uhr an. Es sind noch nicht viele Gäste anwesend, aber der Türsteher zeigt sich zuversichtlich, dass sich dies schnell ändern wird. Später kommen viele Paare, aber auch Gruppen von Frauen, die in Highheels und hautengen, kurzen Kleidern an die ‚Butchonas‘ aus den Musikvideos der Narcocorridos erinnern. Frauen müssen hier keinen Eintritt zahlen, sondern nur für ihren Verzehr aufkommen. Auch Gruppen von Männern finden sich an den Tischen im VIP-Bereich neben der Tanzfläche ein. Sie haben Energydrinks in Dosen bestellt, Wodka, Whisky und Tequila in Flaschen. Dosen- und Flaschengetränke mixen sie sich selbst mit viel Eis in ihren Gläsern zusammen. Die Mixturen bieten sie zu etwas vorgeschrittener Stunde auch den Frauen an. Gegen 22:30 Uhr geht es auf der Bühne los: ‚Los Bukanas de Culiacan‘ treten mit Cowboyhüten und Baseballkäppis auf den Köpfen auf. Der Sänger trägt eine mit Strass besetzte dekorative, (vielleicht tatsächlich?) kugelsichere Weste. Der wankende Beat der Corridos setzt ein und bereits beim zweiten Lied ist die Tanzfläche gut gefüllt. Engumschlungen tanzen die Paare dann auch zu ‚La Santa Muerte en Sinaloa‘.“

Tabelle 36: Ausschnitt aus dem Text des Corridos „La Santa Muerte en Sinaloa“ 8

Die Informationen stammen aus Gesprächen während der Feldforschung. Die Begriffserklärung unter Bezug zur Whiskymarke findet sich ebenso bei Lucía Elena Acosta Ugalde (2014: 122). Martha Orozco Martínez und Teresa Zapata Galindo schreiben über das „Phänomen Buchón“: „The term ‚Buchón‘ first appeared in Mexico and there are various versions as to its meaning. Most explanations coincide in that it referes to a group of subjects from the mountain ranges of Sinaloa who are drug dealers or associated with drug trafficking. [...] The subjects that are currently concidered Buchones are young people who wear special and extravagant fashion, share specific codes and identify with the narcocorridos of the ‚Movimiento Alterado‘. [...] Subjects incorporated among the middle and lower ranks of the drug trafficking are also known as Buchones.“ (Orozco Martínez/Zapata Galindo 2018: 131)

9

Zu dieser Kultur des Drogenhandels, Narcocultura, siehe weiter Sánchez Godoy 2009, Muehlmann 2014.

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Tabelle 36: Ausschnitt aus dem Text des Corridos „La Santa Muerte en Sinaloa“ La Santa Muerte en Sinaloa

La Santa Muerte in Sinaloa

hace unos días nos topamos me pegaron seis balazos y cuando iba cayendo de la muerte se oye en pasos y antes de tocar el suelo ella me cubrió en sus brazos con su mano recorrió los huecos de los plomazos „a ti no te voy a llevar pos tengo mucho trabajo necesito que me ayudes“ y en eso me dio un abrazo „te quedas en este mundo para a mi lado tenerte ahora tu eres mi ayudante ahora ya cambió tu suerte siempre estarás protegido te lo digo yo la muerte“ (Zwischenruf: puro Sinaloa compa, si no es bukanas no es nada)

vor einigen Tagen stießen wir zusammen mich erwischten sechs Schüsse und als ich fiel hört man Schritte des Todes und vor dem Berühren des Bodens hüllte sie mich in ihre Arme mit ihrer Hand zeichnete sie die Löcher der Bleikugeln nach „dich nehme ich nicht mit denn ich habe viel Arbeit ich brauche deine Hilfe“ und darauf gab sie mir eine Umarmung „du bleibst in dieser Welt um dich an meiner Seite zu haben nun bist du mein Gehilfe nun hat sich dein Glück schon gewendet immer wirst du beschützt sein das sage ich dir, ich, der [die] Tod“ (Zwischenruf: pures Sinaloa Kumpel, wenn es nicht Bukanas ist, dann ist es gar nichts)

In dem Corrido wird die Geschichte eines Kampfes zwischen zwei Gruppen erzählt, in dessen Verlauf der Protagonist so schwer verletzt wird, dass er sterben müsste. Während er von sechs Kugeln getroffen zu Boden fällt, „hört man Schritte des Todes“. Der Protagonist tritt im Laufe der Geschichte in einen Bund mit La Santa Muerte, durch den er trotz seiner erheblichen Verletzung nicht sterben muss. Er verbleibt als Helfer La Santa Muertes in der Welt. Mit dem verallgemeinernden „man“ („hört man Schritte des Todes“) wird die Privatheit des Todes in eine Allgemeinheit transzendiert. Der Tod wurde nur gehört, nicht gesehen. Er nähert sich von einem Bereich aus, der außerhalb des wahrnehmbaren Bereichs liegt, etwa von hinten und ist damit eher bedrohlich. „Und vor dem Berühren des Bodens“ wird der Protagonist vom Tod in Gestalt La Santa Muertes aufgefangen und geradezu mütterlich in ihren Armen geborgen („hüllte sie mich in ihre Arme“). Bevor der Sprecher tatsächlich den Boden, ein Symbol für das Tod-Sein erreicht, transformiert sich der Tod, die bedrohliche, nicht genau wahrnehmbare Quelle der Geräusche der Schritte in etwas Be-

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stimmbares, Bergendes und Rettendes. Der fallende Protagonist wird von La Santa Muerte aufgefangen, umhüllt und geborgen. Sie umfasst ihn mit ihren knochigen Armen. Die Situation ist damit stark von Ambiguität geprägt. Sie changiert zwischen unangenehm-angenehm und bedrohlich-bergend. Diese Spannung bleibt erhalten, da La Santa Muerte sich mit ihrer Hand fürsorglich, erkundend und aggressiv zugleich dem in ihren Armen Liegenden zuwendet: „Mit ihrer Hand zeichnete sie die Löcher der Bleikugeln nach.“ Zunächst als bedrohlich wahrgenommen, findet eine eindrückliche Transformation der Todeswahrnehmung des Angeschossenen statt, im Zuge derer der Tod zu einer schützenden und bergenden Instanz wird, mit welcher der Protagonist im weiteren Verlauf des Corridos einen Handel eingeht und in eine reziproke Beziehung tritt. Er kann in der Welt am Leben bleiben, verpflichtet sich aber gleichzeitig, und hierin besteht der Preis für die Rettung als Helfer La Santa Muertes auf Erden. Die Fähigkeit einen solchen Pakt trotz der erheblichen Verletzung des Protagonisten schließen zu können, zeugt von La Santa Muertes großer Macht. La Santa Muerte ist in diesem Corrido die Instanz, die den zentralen Übergang im menschlichen Leben verwaltet, das Streben. Sie begründet das am Leben lassen des schwer Getroffenen, das Aussetzen des zentralen, das Leben strukturierenden Übergangs, konkretistisch in der Logik einer überlasteten Dienstleisterin. Aus ihrer Überlastung folgt ein Bedarf nach Hilfe, „Dich nehme ich nicht mit, denn ich habe viel Arbeit, ich brauche deine Hilfe“. An Stelle der Ambiguität und des Machtgefälles zwischen dem Protagonisten und La Santa Muerte setzt Reziprozität in Form einer rationalistischen Geschäftsbeziehung ein, die aufgrund der Position des Protagonisten als „Helfer“ und Abhängiger der Santa Muerte nicht in Analogie zu einem Verhältnis zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmer, sondern eher als Beziehung zwischen wohltätiger Herrin und Knecht oder Patronin und Klient gedeutet werden muss. Die Beziehung sieht die arbeitsteilige Verwaltung des zentralen Übergangs im Leben vor. Es wird ein Pakt geschlossen, durch den der Protagonist in den Dienst La Santa Muertes eintritt und durch den er fortan innerhalb der Ordnung La Santa Muertes, nach ihren Regeln, handelt. Zur Besiegelung der mündlichen Vereinbarung umarmt La Santa Muerte den Protagonisten; „und darauf gab sie mir eine Umarmung“. Während das erste Einhüllen in die Arme bergend war, ist die zweite Umarmung eine rituelle Besiegelung des vorangegangenen performativen Sprechaktes und Ausdruck der Transformation der Beziehung zwischen der Todesbringerin und dem Protagonisten. Mit Turner (2008) kann man sagen, der Protagonist sei rituell im Handel mit dem Tod von der herrschenden Sozialordnung abgelöst worden und befinde sich nun als Helfer des Todes, bezogen auf

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die Sozialordnung, der er bis zum Eintreten der Beziehung und Communitas mit La Santa Muerte angehörte, dauerhaft in einer von Strukturlosigkeit gekennzeichneten Liminalität. Nach Turner, der sich auf Martin Bubers Definition von Gemeinschaft10 bezieht, „tritt Communitas dort auf, wo Sozialstruktur nicht ist“ (Turner 2008: 257). Turner definiert Communitas daran anschließend in Bezug zu Liminalität und Struktur: „Communitas dringt in der Liminalität durch die Lücken der Struktur, in der Marginalität an den Rändern der Struktur und in der Inferiorität von unterhalb der Struktur ein. Sie gilt beinahe überall auf der Welt als sakral oder ‚heilig‘, vielleicht, weil sie die Normen, die strukturierte und institutionalisierte Beziehungen leiten, überschreitet oder aufhebt und von der Erfahrung beispielloser Kraft begleitet ist.“ (Ebd.: 258)

In der Transformation der Beziehung und mit dem Eintreten einer Communitas im Sinne Turners wird die Todbringende für den Protagonisten zu seiner Heiligen und mächtigen Retterin, zur „Santísima Muerte“.11 Sie kann den Tod verhindern, der für den Protagonisten eigentlich unumgänglich gewesen wäre. Der mit der Umarmung besiegelte Deal ist eine Konversion, in der die Verbindung mit La Santa Muerte entsteht und sich eine den Protagonisten stärkende, schützende und ermächtigende Wirkung entfaltet, jedoch um den Preis der Verpflichtung gegenüber der Heiligen und damit auch der Ablösung von der bis dahin geltenden Sozialordnung mit ihrer Ethik. Darüber berichtet der zweite Teil des Corridos, in dem das, was nach der Transformation der Beziehung des Protagonisten zum Tod und dem Einsetzen seiner Beziehung zu La Santa Muerte folgt, verdichtet zum Ausdruck kommt. 10 „Gemeinschaft […] ist das Nichtmehr-Nebeneinander, sondern Beieinandersein einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zu bewegen, überall ein Aufeinanderzu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich und Du erfahren: Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht.“ (Buber 1984: 185) 11 Zum Vergleich Turner: „Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der ‚Liminalität‘) oder von Schwellenpersonen (‚Grenzgängern‘) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Person durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. […] Viele Gesellschaften, die soziale und kulturelle Übergänge ritualisieren, verfügen deshalb über eine Vielzahl von Symbolen, die diese Ambiguität und Unbestimmtheit des Schwellenzustands zum Ausdruck bringen. So wird der Schwellenzustand häufig mit dem Tod, mit dem Dasein im Mutterschoss, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der Wildnis und mit einer Sonnen- oder Mondfinsternis gleichgesetzt.“ (Turner 2008: 249)

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Tabelle 37: Ausschnitt aus dem Text des Corridos „La Santa Muerte en Sinaloa“ y aquí ando hechando bala mi trabajo ya es eterno mi labor es ayudar a mandar los al infierno la santa esta con migo que se cuide ese gobierno me dicen el ayudante y siempre corro con suerte mi vida es más relajada y lo violento más fuerte ahora duermo acompañado de la Santísima Muerte la Santísima me pidió que agarrar la tambora porque le gusta escuchar esos Corridos de ahora porque le tiene cariño a todo mi Sinaloa

und hier gehe ich Kugeln schießend meine Arbeit ist sogleich ewig meine Arbeit ist es zu helfen sie in die Hölle zu schicken die Heilige ist mit mir dass diese Regierung auf sich aufpasst sie nennen mich den Helfer und immer laufe ich mit Glück mein Leben ist entspannter und das Gewalttätige stärker nun schlafe ich begleitet von La Santísima Muerte die Santísima hat mich gebeten zur Pauke zu greifen weil es ihr gefällt diese Corridos von heute zu hören weil sie liebevolle Zuneigung zu meinem ganzen Sinaloa hat

Die Beziehung zu La Santa Muerte bedeutet für den Protagonisten neben seiner Stärkung und seinem absoluten Schutz („und immer laufe ich mit Glück“, „mein Leben ist entspannter“, „nun schlafe ich begleitet von La Santísima Muerte“) auch, dass er dabei hilft, die anderen „in die Hölle zu schicken“. Mit der Hölle ist eine dualistische Unterscheidung zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse eingeführt, die für den Protagonisten keine wirkmächtige Ethik mehr darstellt, da er in Folge seiner Beziehung zu La Santa Muerte ungestraft töten kann und muss.12 Die Ethik der Sozialordnung wird in der Liminalität des drohenden To-

12 Turner geht ein auf mögliche Folgen pathologischer und extremer Formen von Communitas, die hier als Hinweis zu einer weiteren Auseinandersetzung mit Anomie und der Legitimation von Gewalt im Corrido anzumerken sind: „Eine Überbetonung der Struktur kann zu pathologischen Erscheinungsformen von Communitas führen, die ausserhalb des Rahmens „des Gesetzes“ stehen und gegen es gerichtet sind. Eine Überbetonung der Communitas, wie sie in bestimmten, Unterschiede nivellierenden religiösen und politischen Bewegungen vorkommt, kann schnell in Despotie, über-

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des durch die Regeln der Beziehung in Communitas zu La Santa Muerte ersetzt. Für den Protagonisten gilt fortan die Ordnung La Santa Muertes und ihre Ethik. Daraus folgt auch, dass die Staatsmacht als offizielle Ordnung mit einem Gewaltmonopol und Organen, welche die Ordnung durchsetzen, herausgefordert werden kann („dass diese Regierung auf sich aufpasst“).13 Der Corrido legt auf diese Weise nahe, dass durch die beschriebene Form der Beziehung zu La Santa Muerte Gewalt inklusive Töten legitimiert werden kann und sogar muss, da der Protagonist durch seinen Eintritt in die Beziehung zu La Santa Muerte sein Handeln nur noch an ihren Regeln und ihrer Ordnung ausrichtet. Im Corrido wird schließlich ein regionaler Ortsbezug zum mexikanischen Staat Sinaloa hergestellt. Diesem sei La Santa Muerte zugeneigt. Sinaloa und seiner Populärkultur, dem Corrido, ist La Santa Muerte wohlgesonnen, der Verfassung und der Regierung jedoch nicht. La Santa Muerte wird als eine Figur derjenigen dargestellt, die nicht Teil der Regierung sind bzw. nicht zu den Regierenden oder Regierten gehören und der Regierung auch nicht nahestehen. Sie wird als eine Figur der populären Gruppierungen, für die auch andere Ordnungen als die offizielle staatliche gelten, besungen. Der Corrido selbst, so heißt es im Text, wurde als die typische und von La Santa Muerte geschätzte Populärmusik Sinaloas im Auftrag La Santa Muertes gespielt, „die Santísima hat mich gebeten zur Pauke zu greifen“ und ist somit selbst eine Performance von Anhänger*innenschaft und eine Gabe an La Santa Muerte. Der Corrido „La Santa Muerte en Sinaloa“ der „Los Bukanas de Culiacan“ ist nicht nur eine künstlerische und damit verdichtete Ausdrucksgestalt des Glaubens an La Santa Muerte, sondern bildet als Medium der Informationsverbreitung und der popkulturellen Kommunikation auch einen massenmedialen, populärmusikalischen Soundtrack der Verehrung La Santa Muertes. Er formt als Rahmen sowohl die öffentliche Wahrnehmung der Verehrung wie auch die Verehrung La Santa Muertes selbst, indem er Wissen über Beziehungs- und Umgangsformen zu und mit La Santa Muerte bereitstellt. mässige Bürokratisierung oder andere Formen struktureller Erstarrung münden. […] Eine zum Höchstmass gesteigerte Communitas provoziert eine zum Höchstmass gesteigerte Struktur, die wiederum revolutionäre Bestrebungen nach erneuter Communitas entstehen lässt.“ (Turner 2008: 259) 13 Dabei kann die Sequenz, „dass diese Regierung auf sich aufpasst“ durchaus auch als Ausdruck einer Anklage gegen die Regierung gedeutet werden. Die Regierung etabliert auch darum keine stabile und einheitliche Ordnung, weil sie vornehmlich an ihrem eigenen Erhalt („auf sich aufpasst“) interessiert ist, so müsste der Anklagetext lauten.

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Bezogen auf die öffentliche, oft negative Wahrnehmung und Darstellung der Verehrung La Santa Muertes ist mit der im Corrido ausgedrückten Etablierung einer alternativen Ordnung La Santa Muertes und mit der Legitimation von Gewalt in der Beziehung zu ihr bei gleichzeitiger Abkehr des Protagonisten von der offiziellen Ordnung ein konkreter Grund für die „schlechte Presse“ La Santa Muertes auszumachen. In der dargestellten Form bedroht das Eingehen einer Beziehung zu La Santa Muerte die offizielle Ordnung.

GESETZESHÜTER UND GESETZESBRECHER Carlos berichtet, ihm hätten, als er zwischen acht und zehn Jahre alt war, Polizisten aus seiner Nachbarschaft mit ihren Waffen das Schießen beigebracht. In seiner Adoleszenz habe er eine Abneigung gegen Polizisten gehegt, denn regelmäßig sei er mit ihnen in Konflikt geraten und auch festgenommen worden. Als sich jedoch im Rahmen einer staatlichen Rekrutierungsinitiative die Möglichkeit geboten habe, in die Polizei einzutreten, habe er sich mit damals 23 Jahren gemeldet.14 Von 1993 bis 2006 sei er Patrouillenpolizist in verschiedenen Einheiten und zeitweise auch Anführer einer dieser Patrouillengruppen gewesen. Seine Arbeitsstelle als Polizist habe er verloren, nachdem er in polizeilichen Drogentests positiv auf Kokain getestet worden sei. Zugang zu diesem Kokain und anderen Drogen habe er auch gehabt, weil die Polizisten es während der Arbeitszeit konfiszierten. Außerdem habe er während der Zeit bei der Polizei Beziehungen zu denjenigen gepflegt, die er während seiner Arbeitszeit bekämpfen sollte: Zu

14 Er habe sehen wollen, wie es sich anfühle, Polizist zu sein, gibt er als Grund für seinen Eintritt in die Polizei an. Tatsächlich liegt in dem Polizeidienst auch die Möglichkeit, zu einem besseren Auskommen zu gelangen, als er mit seinen ungelernten Gelegenheitsjobs erwirtschaften konnte. Im biografischen Rückblick stellt Carlos seine Rekrutierung als Polizist weder als einen Versuch dar, sich bürgerlich zu situieren, noch in Zusammenhang mit seiner im Zeitraum um seinen Eintritt in die Polizei stattfindenden Hochzeit. Carlos spricht im Interview mit Stolz und Begeisterung von den Waffen und von dem Leben als Polizist im Allgemeinen. Er berichtet, er bewahre aus seiner Zeit bei der Polizei noch Erinnerungsfotos von sich selbst vor der Kathedrale und an anderen Orten im Stadtzentrum auf. Auf diesen Fotografien, so berichtet er, trage er die respekteinflößende, auch eine kugelsichere Weste einschließende Uniform der Polizei und er sei mit einem cuerno de chivo, wie er seine Waffe wohl auch mit Bezug zu der Glorifizierung und Mystifizierung dieser Waffe in Narcocorridos nennt, zu sehen.

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Kriminellen. Er habe in Bars, an Orten, wo Drogen verkauft wurden und in Bordellen ein Zusatzeinkommen und Drogen erwirtschaftet, indem er beispielsweise weitergegeben habe, wann Razzien durch die Polizei geplant seien. Carlos erklärt, sein Handeln als Polizist sei normal gewesen, viele Polizisten hätten so gehandelt. Er konstatiert: „Als Polizist endest du entweder tot oder im Gefängnis“. Mit dieser Aussage stellt Carlos fest, dass ein einfacher Polizist in einem Konflikt mit zweierlei Ordnungen stehe, die jede für sich früher oder später ihre spezifische und äußerste oder schlimmste Sanktion einer Ordnungsverletzung gegen den Polizisten verhängen würden. Verletzungen der offiziellen Rechtsordnung werden mit einer Inhaftierung sanktioniert, Verletzungen der inoffiziellen Ordnungen mit dem Tode. Eine der beiden Sanktionen würde mit der Zeit unausweichlich eintreten, da die Ordnungen, an denen das Handeln eines Polizisten sich simultan orientiert, einander widersprechen. Dem Polizisten kann es kaum gelingen, sein Handeln über einen längeren Zeitraum an beiden Ordnungen zu orientieren und es gegenüber der jeweiligen gegensätzlichen Ordnung zu verhehlen oder anzuzeigen. Weber schreibt im Zuge seiner Auseinandersetzungen zur legitimen Ordnung, dass soziales Handeln an der „Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert werden“ (Weber 1988: 573) kann. Die Chance, dass Handeln tatsächlich an diesen Vorstellungen von einer legitimen Ordnung ausgerichtet wird, nennt Weber die „Geltung“ der betreffenden Ordnung (ebd.). Eine Ordnung gilt auch dann, wenn Subjekte ihr zuwiderhandeln, sich also insofern an ihr orientieren, dass sie ihre der Ordnung widersprechende Handlung geheim zu halten trachten. „Der Dieb orientiert an der ‚Geltung‘ des Strafgesetzes sein Handeln: indem er es verhehlt. Daß die Ordnung innerhalb eines Menschenkreises gilt äußert sich eben darin, daß er den Verstoß verhehlen muß.“ (Ebd.: 574) Weber unterscheidet zwei Arten der Garantie von legitimen Ordnungen: rein innerliche (rein affektuell, wertrational und religiös) und äußerliche in „Erwartung spezifischer äußerer Folgen“ (ebd.: 576). Diese zweite Weise der Garantie gilt für die Ordnungen des Rechts und der Konvention. Während im Fall der Konvention eine Abweichung lediglich auf eine „praktisch fühlbare Mißbilligung“ durch einen „angebbaren Menschenkreis“ (ebd.: 576) stößt, wird im Fall des Rechts mit Zwang reagiert (vgl. ebd.). Die Rechtsordnung gilt, „wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance physischen oder psychischen Zwanges durch eine auf Erzwingung der Innehaltung oder auf Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.“ (Ebd.: 576f.) Für Weber ist hinsichtlich seines Rechtsbegriffs die Existenz eines solchen „Erzwingungs-Stabes“ (ebd.: 577), etwa einer Polizei, entscheidend. Ein solcher möglicher Erzwingungs-Stab wäre in Mexiko der Polizeiapparat, als dessen Teil Carlos arbeitete.

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Carlos ist in seiner Erzählung Teil eines solchen Erzwingungs-Stabes, jedoch handelte dieser Stab zum einen insgesamt selbst nicht stringent ordnungsgemäß und regelmäßig als Garant der offiziellen Ordnung und wird zum anderen derart herausgefordert, dass er die Rechtsordnung nicht immer erzwingen kann. Die Rechtsordnung als Teil deren Erzwingungs-Stabes Carlos arbeitete, ist nicht durchgängig und dauerhaft implementiert, sondern wird herausgefordert und kann aufgehoben werden. Sie ist störungsanfällig. Für die Subjekte, die als Teile dieses Erzwingungs-Stabes handeln, ergibt sich daraus eine prekäre und gefahrvolle Lage. Diese kann schlimmstenfalls zum Tode im Dienst führen, beispielsweise während eines Angriffs durch diejenigen, welche die Ordnung, die die Polizisten erzwingen sollen, herausfordern. Im Interview beschreibt Carlos eine solche prekäre und gefahrvolle Lage des polizeilichen Arbeitsalltags. Er sei auf Patrouille in Gegenden Guadalajaras unterwegs gewesen, die sich des Nachts in einem kriegsähnlichen Zustand zu befinden schienen, sodass die Polizisten fürchten mussten, angegriffen und erschossen zu werden. Deutlich wird in der Darstellung, dass die Polizisten ihren Angreifer*innen zunächst nichts entgegensetzen konnten. Sie seien geflohen, nachdem das Feuer auf sie eröffnet wurde. Die Macht und Stärke der inoffiziellen Ordnung, die des Nachts auf den Straßen herrscht und Gewalt ausübt, beschreibt Carlos als gewaltig und übermächtig, als ebenso stark oder in der Situation sogar stärker als den Erzwingungs-Stab der offiziellen Ordnung. Die Polizisten haben fliehen und Verstärkung holen müssen. Sie befanden sich somit in einer prekären Lage, in der sie an ihrer Kernaufgabe, die offizielle Ordnung durchzusetzen, scheiterten und Gefahr liefen, selbst getötet zu werden. Tabelle 38: Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos Carlos

I. Carlos I. Carlos

I. Carlos

también en una, en una ocasión, andábamos como a las dos de la mañana patrullando aha, aquí en el centro también? no allá para donde te digo aha a okay en las zona, pues, bajas. aquí pues, no, no. allá se usa mucho, pues, las pistolas. aha pues, hay más agresión.

auch bei einer, bei einer Gelegenheit, wir waren so gegen zwei am Morgen auf Patrouille aha, hier im Zentrum auch? nein dort rum wo ich dir sage aha a okay in den Zonen, also, schlechteren. nicht hier also, nein. dort benutzt man viel, also, die Pistolen. aha also, es gibt mehr Aggression.

236 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

I. Carlos

I. Carlos

I. Carlos I. Carlos I. Carlos

mhm verdad.. íbamos puess, subiendo por una calle que se llama [Straßenname]. que es la colonia [Name]. mhm allá pa’ el oriente de Guadalajara, y a las 2 de la mañana, di vuelta una calle, y en cuanto di vuelta, mhm con el chaleco, para protegernos si mi compañero iba dormido, mhm a las 2 de la mañana.. entonces, como yo te digo siempre siempre cargaba mi estampita en ese entonces .. me agarran y me balacean por atrás de la patrulla

I. Carlos

mhm no me pegaron. no me dieron. lo que hice yo pues, pisarle al acelerador de la patrulla y

I. Carlos

mhm pues, huir de ese lugar, pues vamos. y ya a pedir el auxilio.

mhm stimmt.. wir fuhren alsoo, eine Straße hoch die [Straßenname] heißt. Die zur colonia [Name] gehört. mhm dort im Osten von Guadalajara, und um 2 am Morgen, ich drehte in eine Straße, und als ich drehte, mhm mit der Weste, um uns zu schützen ja mein Kumpel war am Schlafen, mhm um 2 am Morgen.. dann wie ich dir sage, immer immer trug ich mein Bildchen [Kärtchen mit einer Abbildung La Santa Muertes] bei diesem dann.. sie greifen mich an und sie schießen auf mich von hinten auf die Patrouille mhm sie trafen mich nicht. sie gabens mir nicht. was ich machte also, auf das Gaspedal der Patrouille treten und mhm also, fliehen von dem Ort, also auf geht’s. und dann Hilfe holen.

Die Polizisten befanden sich Carlos Erzählung zufolge quasi im Feindesland, da sie während ihrer Patrouillenfahrt direkt angegriffen wurden. Die Angreifer*innen demonstrierten ihre Macht und verhehlten ihre Zuwiderhandlung zur offiziellen Ordnung nicht. Sie forderten die Polizisten und mit ihnen die offizielle Ordnung heraus und siegten dabei zunächst, denn die Polizisten mussten ihren Rückzug antreten und Hilfe holen. Die Geltung der offiziellen Ordnung ist pre-

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 237

kär und die Polizisten sind gegenüber der großen Stärke und Macht derjenigen, die sie herausforderten, mit dem Tode bedroht. Carlos Glauben an und seine Praxis mit La Santa Muerte („immer trug ich mein Bildchen“) spielen in dieser Szene eine zentrale Rolle, denn Carlos rechnet La Santa Muerte zu, aus der Konfrontation unbeschadet hervorgegangen zu sein. Tabelle 39: Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos Carlos

I. Carlos

pero siempre a todo eso yo pues le, le daba las gracias al otro día le ofrendía una vela, de la Santa Muerte, eh, la bañaba en oro mhm eh. vamos, su cigarro. pero si sí siempre

aber immer bei all dem also, dankte ich ihr am nächsten Tag spendete ich ihr eine Kerze, der Santa Muerte, eh, ich badete sie in Gold. mhm Eh. auf geht, ihre Zigarette. aber ja ja immer

Der erfahrene Schutz La Santa Muertes bringt Carlos am nächsten Tag dazu, La Santa Muerte rituell zu danken. Er habe ihr gedankt, indem er sie „in Gold“, einer speziellen Essenz aus der botánica, gebadet habe und indem er ihr eine Gegengabe in Form einer Zigarette übergeben habe, sowie ihr eine Kerze angezündet habe. Eine zweite Weise, auf die Carlos wegen seiner Tätigkeit als Polizist hätte sterben können, unterscheidet sich insofern von der ersten, als dass sie außerhalb der Arbeitszeit angesiedelt ist. Sie besteht darin, dass die Polizisten von denen, die sie bekämpfen, auch außerhalb ihrer Arbeitszeit in ihrem privaten Umfeld angegriffen werden können und nicht ausreichend vor solchen Übergriffen geschützt sind. Carlos berichtet von einer Erfahrung, in der sich seine Schutzlosigkeit aufgrund seiner Handlungsorientierung an der offiziellen Ordnung zeigt. Er hatte, seiner Aufgabe als Teil des Erzwingungs-Stabes entsprechend, jemanden festgenommen, der sich nach seiner Freilassung an ihm persönlich habe rächen wollen.15 15 Aus Carlos Erzählung des Versuchs des Mannes, Rache an ihm zu nehmen, lässt sich auch schließen, dass es für Polizisten nur ratsam ist, ihre Handlungen auch hinsichtlich der inoffiziellen Ordnung auszurichten, um später nicht persönlich für die Durchsetzung der offiziellen Ordnung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Rache übt man, wenn man das Gefühl hat, dass einem Unrecht angetan wurde. Indem die anvisierte Tat des zuvor von Carlos Verhafteten in diesem Sinne durch ein empfundenes Unrecht motiviert zu sein scheint, treten eindrücklich die Macht und Deu-

238 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

Tabelle 40: Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos Carlos

en una ocasión agarré a uno aquí en [Stadtviertel], traía una pistola. lo agarré y se fue la penal pues a, pues a este, a pagar. a pagar, con cárcel por lo que traía

I. Carlos

mhm pero ándale, que a los.. 5 años salió a los 5 años salió y como yo, ya, no salgo de aquí de [Stadtviertel], todo eso por aquí ando diario. ee es mi casa como quien dice pues, verdad. pero. estaba yo aquí por la de [Straßenname] mhm en un bar. estaba tomando. y presentí que alguien me estaba viendo... sentí la mirada bien pesada.. le digo pues ayúdame mamacita le dije a la Santa Muerte. no sé ni ni que quiera este fulano. yo andaba con mi

I. Carlos

bei einer Gelegenheit griff ich hier einen in [Stadtviertel] auf, er trug eine Pistole. ich griff ihn auf und er ging in die Strafanstalt also um, also um dies, zu bezahlen. um zu bezahlen, mit Gefängnis für das was er bei sich hatte mhm aber na los, nach den.. 5 Jahren war er raus nach 5 Jahre kam er raus und wie ich, also, ich komme hier nicht raus aus [Stadtviertel], überall hier bewege ich mich täglich. ee ist mein Haus wie man so sagt also, stimmt. aber. ich war hier bei der [Straßenname] mhm In einer Bar. am trinken. und ich ahnte das mich jemand anguckte… ich spürte einen bohrenden Blick.. ich sage ihr dann „helfe mir Mamilein“ sagte ich zu La Santa Muerte. ich weiß nicht mal nicht mal was dieser Typ will. ich war mit meiner

tungshoheit, die sich aus einer Verwobenheit mit der inoffiziellen Ordnung auf Seiten der Kriminellen ergeben, hervor. Für diejenigen, die ihr Handeln an der inoffiziellen Ordnung orientieren, kann diese inoffizielle Ordnung eine primäre sein und die Durchsetzung der offiziellen Ordnung durch die Polizei angesichts der primären Geltung der inoffiziellen Ordnung ein Unrecht gegen sie seien. Kontrastiv kann man sich vorstellen, dass ein Dealer oder eine Dealerin in einem Land mit starker offizieller (staatlicher) Ordnung einen Polizisten, der ihn oder sie festnimmt, zwar nicht unbedingt mögen, sich aber eher nicht rächen wird. Die Deutungshoheit des Staates ist in diesem Beispiel so wirkmächtig, dass der Dealer oder die Dealerin im Grunde weiß, warum er oder sie verhaftet wurde und, dass er ein Unrecht begangen hat. Nicht so der Mann in Carlos Erzählung. Dieser fühlt sich verletzt in seinem Tun, er erkennt nicht an, dass er ein Unrecht begangen hat, und versucht sich daher an dem Polizisten, der ihn festnahm, zu rächen.

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 239

I. Carlos I. Carlos I. Carlos

I. Carlos

novia. Verdad. con la mamá pues, de este niño, pero pues, apenas estábamos iniciando esto. pues cruzamos ahí por atrás de, de de, por esta calle de abajito pos por este lado de la calzada, cuando bajas por la de [Straßenname] aja hay una calles oscuras. te vas al parque [Name] si sí creo que sí acá has visto unas callecitas obscuras? si AH bueno por la [Straßenname] hay una callecita como como cuchilla aja y hay un hotelito pues varios hotelitos y varios bares... y ahí se me acerca y me saca una navaja, si, „te voy a matar“.. „tú me metistes al bote“.

I. Carlos

mhm le digo no estás equivocado le digo yo no fui „NO NO“„SI SI“. te conozco bien.. uno pues aquí trae su pelito corto y todo eso, pues, alineado pues, en la policía

I. Carlos

mhm pero yo en ese entonces, yo estaba comisionado a la dirección, y traía mi pelo largo como este

Freundin unterwegs. stimmt. mit der Mama also, von diesem Kind, aber also, wir finden grad erst an. also überqueren wir dort hinter der, der der, durch die Straße von unten [deminutiv] also durch diese Seite der Pflasterstraße, wenn du durch die [Straßenname] runtergehst aja da gibt es eine dunkle Straßen. du gehst zum [Name] Park doch ja ich glaube ja hier hast du einige dunkle Sträßchen gesehen? ja AH gut bei der [Straßenname] gibt es ein Sträßchen wie wie eine Rasierklinge aja und es gibt ein Hotel [deminutiv] also mehrere Hotels [deminutiv] und mehrere Bars… und da kommt er mir näher und er zieht mir ein Taschenmesser, ja, „ich werde dich töten“.. „tu hast mich in den Knast gesteckt“. mhm ich sage ihm nein du irrst dich sage ich ihm ich war es nicht „NEIN NEIN“ „DOCH DOCH“. ich kenne dich gut.. man also hier trägt man sein Haar [deminutiv] kurz und so, also, eingegliedert also, in die Polizei mhm aber ich in diesem dann, ich war der Direktion unterstellt, und trug mein Haar lang wie dies [wie jetzt]

240 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

I. Carlos

aha así me reconoció.. así me reconoció.

aha so erkannte er mich wieder.. so erkannte er mich wieder.

Dass Carlos unbeschadet aus dieser Situation hervorgegangen ist, rechnet er La Santa Muerte zu, wie er im Anschluss an das Vorangegangene noch einmal betont. Tabelle 41: Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos Carlos

I. Carlos

igual, te digo, yo le, le pedí le devoté a la santa muerte, le digo, protégeme. ayúdame. verdad, siempre siempre cargaba pues yo en mi cartera mi estampita. mhm siempre. verdad. para la protección, para esto

auch, ich sage dir, ich, ich bat sie ich war der Santa Muerte fromm, ich sagte ihr, beschütze mich. helfe mir. wirklich, immer immer trug ich also in meinem Portemonnaie mein Bildchen bei mir. mhm immer. wirklich. für den Schutz, dafür

Hinsichtlich Carlos eigener gesetzesbrecherischer Handlungen als Polizist (Auskunft über Razzia-Termine, Konsum konfiszierter Drogen) lässt sich nicht einfach sagen, die offizielle Rechtsordnung sei schwach, würde unterlaufen und gelte folglich nicht mehr, da Teile des Erzwingungs-Stabes der inoffiziellen Ordnung entsprechend handelten.16 Vielmehr gilt die offizielle Rechtsordnung in dem Maße, in dem Handeln an ihr orientiert wird, und sei es in ihrem Unterlaufen. Weber weist darauf hin, dass es „flüssige Übergänge“ (Weber 1988: 575) zwischen dem Gelten und nicht mehr Gelten von Ordnungen gibt, wenn sie regelmäßig verletzt werden. Jede Ordnung gilt eben nur in dem Umfang, in dem „die Chance besteht, daß das Handeln tatsächlich an ihr orientiert wird.“ (Ebd.) Grundsätzlich widersprechen sich die offizielle und die inoffizielle Ordnung, an denen Carlos sein Handeln ausrichtet, bei gleichzeitigem Bezug aufeinander. Die Rechtsordnung ist die offizielle Ordnung der gegenüber die inoffizielle Ordnung, obgleich sie nicht minder mächtig sein mag, sich doch klandestin verhalten muss. Entsprechend sind es in Carlos Erzählungen Situationen „im Schutze der

16 Zu Webers Überlegungen zur Ordnung und deren Anwendung in einer Untersuchung zum Staatskollaps siehe Lambach/Johais/Bayer 2016: insb. 71ff.

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 241

Nacht“, in denen sich die Macht der inoffiziellen Welt zeigt.17 Weber nennt ein Beispiel für die Handlungsorientierung an zwei einander widersprechenden Ordnungen in derselben Handlung: „Wer einen Zweikampf vollzieht, orientiert sein Handeln am Ehrenkodex, indem er aber dies Handeln verhehlt oder umgekehrt: sich dem Gericht stellt, am Strafgesetzbuch.“ (Ebd.) Carlos handelt diesem Beispiel analog, indem er als Polizist sowohl entsprechend der offiziellen Ordnung wie auch einer inoffiziellen Ordnung handelt. Diese Handlungen können ihn ins Gefängnis bringen („als Polizist endest du entweder tot oder im Gefängnis“). Der folgende Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos zeigt, wie seine offizielle Arbeit als Polizist mit seiner inoffiziellen Tätigkeit vereinbar ist und, wie bei seiner gleichzeitigen Handlungsorientierung an einer inoffiziellen und einer offiziellen Ordnung erhebliche Risiken bestehen und Gefahren lauern, aber auch Reichtum und große sinnliche Genüsse locken. Tabelle 42: Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos Carlos

I.

yo adentro de la, adentro de la policía. a uno que vendía, que narcomenude, narco pos menudeo de cocaína, de polvo, allá por lo donde anda pues trabajando yo para rumbo hacia [Ort]. ahí yo llegaba ahí unos edificios ahí mhm

ich drinnen in der, drinnen in der Polizei. einer der verkaufte, der Drogendelikte, Drogendealer also Kokainhandel, Pulver, dort wo dort wo ich rumging also wo ich arbeitete dort um [Ort]. dort kam ich an bei einigen Gebäuden da

mhm

17 Es lassen sich eine Reihe von Beispielen anführen, die darauf hindeuten, dass dieser Umstand bezogen auf andere Situationen durchaus zu relativieren ist. In Culiacán hatten es 2019 nach einer Festnahme eines gesuchten Kriminellen durch die mexikanische Polizei über mehrere Tage Feuergefechte zwischen Kartelleinheiten und der mexikanischen Polizei gegeben (vgl. https://elpais.com/internacional/2019/10/18/mexico /1571358013_226950.html [Abrufdatum: 06.10.2020]). Im Zuge der „Corona-Pandemie“ werden an mehreren Orten in Mexiko sogenannte Narco Despensas, aus Lebensmitteln und Haushaltswaren bestehende Hilfslieferungen der Drogenkartelle, verteilt. Die Verteilungsaktionen wurden über soziale Medien öffentlich sichtbar gemacht. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador äußerte sich dazu kritisch (vgl. https:// www.eluniversal.com.mx/estados/coronavirus-amlo-confirma-que-narco-ha-entregadodespensas-en-estados [Abrufdatum: 06.10.2020]).

242 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

Carlos

I. Carlos

I. Carlos I. Carlos

I. Carlos

I. Carlos I. Carlos

él me pagaba, me daba dinero por, por andarle rondando ahí todo eso por andarle pues cuidando, dándole que si iban a ir los federales que si lo iban a joder mhm si. entonces, me pagaba. me daba 1500 pesos por semana y me daba la droga que yo quería mhm 1500 pesos por semana y luego /1500 pesos y la droga/ llegó el límite de tanta droga tanta droga tanta coca. que yo llegué y me metí a su a su negocio. adentro de su negocio yo por la ventanita vendiendo. uno y otro y otro y otro y también les daba chance para que fumaran la la marihuana la piedra, y yo ahí adentro, a hacer mis líneas mis rallas, eh.. y con quien estaba acompañado él.. si? con quién crees? a quién tenía ahí en la esquinita ahí con veladores y mhm a la, ala suerte a la Santa Muerte. para la protección era algo peligroso exactamente.. yo dejé de ir una semana y que le cae la federal y al bote, pues a la a

er bezahlte mich, er gab mir Geld für, um ihn abzusichern dort alles also um auf ihn aufzupassen, anschlagend wenn die [Bundes-] Polizei kommen würde falls sie ihn hochnehmen kommen würden mhm ja. dann, er bezahlte mich. er gab mir 1500 Pesos pro Woche und er gab mir die Droge die ich wollte mhm 1500 Pesos pro Woche und später /1500 Pesos und die Droge/ es kam das Limit von so viel Droge so viel Droge so viel Kokain. das ich ankam und ich beteiligte mich an seinem an seinem Geschäft. innen in sein Geschäft verkaufte ich durch das Fensterchen. einer und ein anderer und ein anderer und ein anderer und es gab auch Gelegenheit das sie das Marihuana rauchten den Stein [Crack], und ich da drinnen, um meine Linien zu machen meine Strahlen, eh.. und von wem war er begleitet.. ja? von wem glaubst du? wen hatte er da in der Ecke [deminutiv] mit Kerzen und mhm das, das Glück die Santa Muerte. für den Schutz es war etwas gefährlich genau.. ich hörte eine Woche auf zu gehen und da fällt ihm die [Bundes]Polizei ein und in den Knast, also in

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 243

I. Carlos

la penal a la cárcel, le decomisaron todo se lo llevaron. me salvé, imagínate, un policía adentro de, donde vendían droga y esto que no pues ya estuviera allá adentro mhm verdad pero sí tenía la Santa Muerte

die in die Strafanstalt in das Gefängnis, sie beschlagnahmten alles nahmen alles mit. Ich rettete mich, stell dir vor, ein Polizist da drin, wo sie Drogen verkauften und das das nein also schon wär ich dort drinnen [im Gefängnis] mhm aber doch stimmts er hatte die Santa Muerte

Carlos Anstellung als Polizist qualifiziert und befähigt ihn dazu, sowohl auf Seiten der offiziellen Regeln und Gesetze wie auch auf Seiten der Illegalität mit ihren inoffiziellen Ordnungen und in illegalen Geschäften zu operieren. Da Carlos auf zwei Seiten aktiv ist und zwischen ihnen hin und her wechselt, befindet er sich in einem Spannungsverhältnis, das seine gefahrvolle Lage bedingt. Ihm drohen ständig Gefängnis oder Tod. Diese Lage ähnelt einem Balanceakt, da er verschiedenen Interessen nachkommen und unterschiedliche Anforderungen bedienen muss, indem er sein Handeln gleichzeitig an einander widersprechenden bzw. einander ausschließenden Ordnungen ausrichtet. Während dieses Balanceaktes herrscht entsprechend große Gefahr, von der jeweils anderen Seite beim Verrat ertappt, entdeckt und sanktioniert zu werden. La Santa Muerte findet sich als Schutzpatronin auf Seiten der offiziellen Ordnung wie auch auf Seiten der inoffiziellen Ordnung. Sie stellt ein unabhängiges, aber verbindendes Element dar und spendet, wie Carlos feststellt, Subjekten auf beiden Seiten Schutz.18 Dementsprechend ist La Santa Muerte für Carlos während seiner Handlungsorientierungen an der offiziellen Ordnung wie auch an der inoffiziellen Ordnung eine „passende“ Heilige, mit der seine doppelten und widersprüchlichen Handlungsorientierungen in keinem Konflikt stehen. Als Heiligenfigur beider Welten erzeugt La Santa Muerte auch symbolisch eine Einheitlichkeit und neutralisiert Ambivalenzen des fließenden Übergangs von einer Ordnung zur anderen, indem sie Kontinuität herstellt, ohne einer der Seiten ausschließlich anzugehören.

18 Siehe dazu auch den Artikel „Meet Santa Muerte, The Tequila-Loving Saint Comforting Both Criminals And The Marginalized“ (Roush 2014b).

244 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

ORDNUNG UND ETHIK An die Überlegungen zu Carlos simultanen Handlungsorientierungen an der offiziellen und den inoffiziellen Ordnungen und seine Aktivitäten in der Legalität und in der Illegalität lassen sich Überlegungen zur Bedeutung eines ethischen Maßstabs für sein Handeln anschließen. Die beiden unterschiedlichen und einander widersprechenden Ordnungen der offiziellen und der inoffiziellen Welt würden, was ihre ethischen Ansprüche betrifft, eigentlich zu Ausschließlichkeit verpflichten. Weber weist darauf hin, dass „‚[ä]ußerlich‘“ garantierte Ordnungen zusätzlich „‚innerlich‘“ garantiert sein können (Weber 1988: 579). „Ein ‚ethischer‘ Maßstab“ ist dabei ein solcher innerlich garantierter, „der eine spezifische Art von wertrationalem Glauben von Menschen als Norm an menschliches Handeln legt, welches das Prädikat des ‚sittlich Guten‘ in Anspruch nimmt“ (ebd.). Carlos richtet sein Handeln an unterschiedlichen und widersprüchlichen Ordnungen mit je eigenen ethischen Maßstäben aus. Dementsprechend ist seine Bindung an einen bestimmten ethischen Maßstab zur Handlungsorientierung gering. Die Existenz und Bindungskraft ethischer Maßstäbe würde darüber hinaus soziale Bindungen und Erfahrungen der Kollektivität voraussetzen, über die sowohl Carlos wie auch Fernanda kaum verfügen. Ihre Bindungslosigkeit und soziale Fragmentierung stehen in einem Bedingungsverhältnis zu ihrer schwachen Handlungsorientierung an einheitlichen ethischen Maßstäben. Ethik, so schreibt Weber, „pflegt weitgehend durch die Chance der Mißbilligung ihrer Verletzung, also: konventionell, garantiert zu sein“ (ebd.). Die Existenz widersprüchlicher Ordnungen, der offiziellen und der inoffiziellen, sowie die dynamisierend wirkenden Milieuerfahrungen führen dazu, dass Ethiken keine starken Bindungskräfte entfalten. Die geltende Ethik wechselt nach der jeweiligen Ordnung, an der ein Subjekt sein Handeln gerade orientiert. Diese ethischen Maßstäbe sind schwach, da sie, je nach Fall mehr oder weniger, einer kollektiven Verbürgung angesichts von Bindungslosigkeit und sozialer Fragmentierung entbehren. In diesem Zusammenhang verfügen Angehörige des Milieus über eigene und spezifische Lebensstärken, die es ihnen ermöglichen, in ihrem Milieu zu überleben und auch ihre Lustgewinne aus ihrer Existenz zu ziehen. Sie können ethische wie unethische Möglichkeiten wahrnehmen und ergreifen und ihre Fähigkeiten ausspielen. Die folgenden im Feldforschungstagebuch festgehaltenen Interaktionen zwischen Fernanda und der Forscherin und Carlos und der Forscherin dokumentieren diesen Umstand. Anhand der Rahmenleistungen zu den Interviews lassen sich die milieuspezifischen Lebensstärken aufzeigen.

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 245

Der Kontakt zu Fernanda war über eine Freundin der Forscherin bergestellt worden. Ein Interviewtermin zwischen Fernanda und der Forscherin wurde dann ohne, dass die beiden sich zuvor persönlich oder im Rahmen eines Telefongesprächs kennengelernt hätten, in einem Chat über Whatsapp verabredet. Am Tag vor dem Interviewtermin, ereignete sich die folgende, von Fernanda initiierte Unterhaltung per Whatsapp:19 Tabelle 43: Wiedergabe der Unterhaltung zwischen Fernanda und der Forscherin per Whatsapp Fernanda I. Fernanda I. Fernanda

I.

como esta Hola Fernanda! Bien. Y tu? oy te puedo aser una pregunta Si, claro que si tu que arias si tienes la manera de recuperar a tus hijos pero no tienes nada que ofreserles Hmmm oh la verdad no sé es deficil. En que piensas tu?

Fernanda

la verdad estoy echa pola porque no tengo ni donde acostarlos y luego son cuatro

I.

Y que seria una opcion? Ahorita con quien viven? co su pade en nayarid en [ORT] Ay deficil Y no es ninguna opcion que tu tambien vas a nayarit? no tengo dinero

Fernanda I.

Fernanda

wie geht’s Hallo Fernanda! Gut. Und dir? hör mal kann ich dir eine Frage stellen Ja, klar was würdest du machen wenn du eine Weise hast deine Kinder zurückzubekommen aber du hättest ihnen nichts zu bieten Hmmm oh ich weiß es ehrlichgesagt nicht das ist schwierig. Woran denkst du? ehrlich gesagt bin ich total am Ende denn ich kann sie nicht mal unterbringen und dann sind es auch noch vier Und was wäre eine Möglichkeit? Im Moment leben sie mit wem? mit ihrem Vater in Nayarit in [ORT] Ay schwierig Und es ist keine Möglichkeit dass du auch nach Nayarit gehst? ich habe kein Geld

19 Fernandas mangelnde formale Ausbildung im Schreiben wird in der ChatUnterhaltung sichtbar. Sie schreibt ohne Satzzeichen und schreibt Worte so, wie sie ausgesprochen werden. Die Übersetzung ins Deutsche gibt diesen Umstand nicht immer wieder.

246 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

I. Fernanda I.

bueno ya bere que ago grasias Espero que pronto te llega el dinero que necesitas. si te beo en [NAME] Si. Me alegro verte! Suerte y que te vaya bien!

gut ich sehe was ich mache danke Ich hoffe dass du zu dem Geld kommst das du brauchst. ja ich sehe dich bei [NAME] Ja. Ich freue mich dich zu sehen! Glück und habs gut!

Fernanda befindet sich in einer Notlage und konfrontiert die Forscherin, die sie zu dem Zeitpunkt noch nicht persönlich kennt, mit ihrem Problem. Die Notlage besteht darin, dass ihre Kinder mit ihrem Ex-Partner in Nayarit sind und Fernanda sie gern zurück bei sich in Guadalajara hätte, jedoch über keine Ressourcen verfügt, die es ihr ermöglichen würden, die Kinder überhaupt bei sich zu haben. Als Kern, Dreh- und Angelpunkt ihres Problems macht Fernanda ihren Mangel an Geld aus. Ein Ausschnitt aus dem Forschungstagebuch gibt die Interaktion aus Sicht der Forscherin wieder: „Nach der Unterhaltung per Whatsapp überlege ich, von der Offenheit, Schamlosigkeit und – wie ich zunächst finde – Distanzlosigkeit sowie der Nennung des Geldmangels irritiert, das Interview abzusagen. Schließlich entscheide ich mich gegen eine Absage und mache mich auf, um ein Geschenk für Fernanda zu erstehen: Ein Täschchen, das ich mit Süßigkeiten und einem Umschlag mit 200 Peso fülle. Dies will ich Fernanda als Dankeschön für das Interview geben.“

Die Äußerung Fernandas, welche die Forscherin zunächst als schamlos und distanzlos interpretiert, führt dazu, dass sie, die Fernanda eigentlich nur Schokolade überreicht hätte, sich an der Problemlösung beteiligt und ihr etwas Geld gibt. So zeigt sich in der Interaktion vor dem Interview, dass Fernanda über eine für ihr Milieu typische Lebensstärke verfügt. Sie kann ihren Mangel schamfrei ausdrücken und so ihre Offenheit und Direktheit als eine Ressource nutzen, die es ihr ermöglicht, erfolgreich Mängel und knappe Ressourcen auszugleichen. Auch Carlos versucht ansatzweise einen Vorteil aus der Beziehung zur Forscherin zu ziehen. Zunächst entwickelt sich die Gesprächssituation, so die Notizen der Forscherin, wie folgt: „Carlos treffe ich erst kurz bevor wir an einem Samstagabend im Februar mit dem Interview beginnen. Ignacio stellt uns einander vor. Ich könnte mit meinen 28 Jahren knapp eine Tochter des 45-jährigen Carlos sein. Und so ist es ein wenig, als würde Ignacio mich in die Obhut Carlos übergeben, als er sich von uns vor einem der Restaurants im Zentrum

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 247

Guadalajaras, wo wir zusammen essen und unser erstes Interview führen wollen, verabschiedet. Die Situation in dem Restaurant ist alltäglich, das Gespräch wird gelegentlich durch Interaktionen mit dem Kellner oder mit Bettler*innen unterbrochen, wir plaudern zunächst und lernen uns kennen.“

Während des Essens fällt das Gespräch auf die weitere Anhänger*innenschaft La Santa Muertes. Carlos berichtet, dass im „fröhlichen Leben“ viele der Sexarbeiterinnen Anhängerinnen La Santa Muertes seien. Die Forscherin fragt interessiert nach und berichtet, dasselbe gehört und vergeblich versucht zu haben, in Tijuanas zona norte Interviews mit Sexarbeiterinnen zu erheben. Carlos bietet ihr daraufhin an, Sexarbeiterinnen, die er in der Nähe des Restaurants kenne, zu fragen, ob sie bereit wären, sich mit ihr zu unterhalten. Die Forscherin sagt zu dem Vorschlag zunächst nichts, Carlos beginnt mit der konkreten Planung seiner Kontaktaufnahme und schlägt vor, bereits am selben Abend in ein Bordell zu gehen. Er brauche dafür nur Geld, das er aber nicht habe. Er fragt schließlich die Forscherin (, die im Laufe seiner Ausführungen zunehmend stiller und zurückhaltender wird,) nach Geld. Tabelle 44: Ausschnitt aus dem Interview mit Carlos Carlos

I. Carlos

I. Carlos

I. Carlos

cómo andarías pues tú de dinero? que me, me podrías prestar 100 pesos o eso no sé mhm [lacht] ya ya estoy este, como se dice haciendo abuso de confianza piensas pues que estás abusando confianza? no no digo así digo pos ya, es un abuso de confianza aja pero no digo, sí he tratado, pos, llegan esos temas porque también le he ayudado yo a [Name] en [Anlass] esta. que hemos entrado a casas de puros drogadictos

wie sieht’s bei dir mit Geld aus? du könntest mir, mir 100 Peso leihen oder so ich weiß nicht mhm [lacht] schon schon bin ich dabei dies, wie sagt man einen Vertrauensmissbrauch zu machen du denkst also du missbrauchst Vertrauen? nein ich sage das so nicht ich sage es nun, es ist ein Missbrauch des Vertrauens aha aber ich sage nicht, ja ich habe es versucht, also, diese Themen kommen, weil ich auch [Name] mit [Anlass] geholfen habe. wir sind hier in die Häuser von ausschließlich Drogenabhängigen eingetreten, wir wa-

248 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

aquí hemos andado pues entre la#, entre los drogadictos pues vamos

ren hier unter den#, unter den Drogenabhängigen unterwegs

Carlos antwortet auf die Frage der Interviewerin, ob und wie er denke, Vertrauen zu missbrauchen, indem er erklärt, dass er das Vertrauen missbrauche, jedoch genau genommen an der Grenze zum Vertrauensmissbrauch stehe („nein ich sage das so nicht ich sage es nun, es ist ein Missbrauch des Vertrauens“), bzw. für seinen Vorschlag gute Gründe habe. Als Hintergrund seines Vorschlags bzw. seines Vertrauensmissbrauchs führt er an, dass er jemand anderem („[Name]“) geholfen habe, Zugang zu Drogenkonsument*innen zu bekommen. Sein Vorschlag sei aus seiner Perspektive somit nicht grundsätzlich ein Vertrauensmissbrauch. Dennoch erkennt Carlos in der Situation einen Vertrauensmissbrauch, weil er unter dem Vorwand, sich hilfreich zu zeigen, die Interviewerin nach Geld für den Bordellbesuch fragt. Damit versucht er einerseits einen persönlichen Vorteil zu erzielen, die Finanzierung eines Bordellbesuchs. Andererseits würde die durch seinen Freund vermittelte Interviewsituation mit der jüngeren, weiblichen Forscherin, welche die Einhaltung von Anstandsregeln gebietet, die Frage nach der Finanzierung eines Bordellbesuches ausschließen. Er bemerkt, dass seine Anfrage unangebracht erscheinen könnte und lenkt ein. Für Carlos hat sich die Interviewsituation zu einer ambivalenten Situation entwickelt, die von mehrdeutigen Verpflichtungen und widersprüchlichen Möglichkeiten gekennzeichnet ist. Wie schon bei dem Treffen mit Fernanda, so kommt auch Carlos auf den Gedanken, einen Vorteil aus der Beziehung zur Forscherin zu ziehen. Was ihn einlenken lässt, ist seine Vertrauensbeziehung zu dem Freund, der das Treffen vermittelt hatte. Carlos sieht Gelegenheiten und kann diese auch nutzen, wenn nötig auch ungeachtet der ethischen oder sozialen Problematiken, die mit dem Ergreifen der Möglichkeiten einhergehen könnten. Carlos und ebenso Fernanda gehören einem Milieu an, in dem Leistung Gegenleistung bedeutet und in dem Gelegenheiten erkannt und genutzt sowie Fähigkeiten ausgespielt werden. In diesem Milieu unterliegen Sozialbeziehungen schnell widersprüchlichen und gegensätzlichen Verpflichtungen und ebensolchen Möglichkeiten. Sie sind insofern kaum von einheitlichen und für alle handelnden Subjekte verbindlichen ethischen Maßstäben gerahmt.

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 249

FEMIZID – ANGST DER FRAUEN Auch Fernanda teilt die Milieuerfahrung prekärer Ordnung, die Milieuerfahrung, sich in einem Spannungsfeld zwischen offizieller Ordnung und inoffiziellen Ordnungen zu bewegen. Fernanda berichtet, sie sei, als sie zwischen 14 und 15 Jahre alt war, aus ihrer Stieffamilie ausgeschlossen worden und habe sich anschließend allein durchschlagen müssen. Um ihren Unterhalt zu verdienen, habe sie sich eine Arbeit in einer Fabrik in Guadalajara gesucht. Da das Gesetz, Kinderarbeit verbietet und Fernanda somit eigentlich nicht eingestellt werden durfte, habe sie sich in der Fabrik mit einem falschen Ausweisdokument, auf dem als älter ausgewiesen gewesen sei, vorgestellt. Indem sie – und ebenso diejenigen, die sie anstellten und ihr wahres Alter vermutlich hätten erahnen können – mit dem gefälschten Ausweisdokument die geltende Ordnung mit ihren Gesetzen unterlief, habe sie künftig ihren Unterhalt in der Fabrik erwirtschaftet. Dort habe sie auch einen 26-jährigen Mann kennengelernt, der ihr wahres Alter, wie sie sagt, nicht gekannt habe und von dem sie wenig später mit 17 Jahren ein Kind bekommen habe. Aus der Existenz von inoffiziellen und einer offiziellen Ordnung und aus der eingeschränkten Geltung der offiziellen Rechtsordnung, ergeben sich geschlechtsspezifische Gefahrenlagen. So sind Frauen des Milieus mit anderen Formen der aus der Koexistenz der Ordnungen resultierenden Schutzlosigkeit konfrontiert als Männer. Von einer Gefahr, der sich besonders Frauen ausgesetzt finden und die eine kollektive Angst motiviert, erzählt Fernanda. Es geht um die Gefahr und die Angst davor, Opfer eines Femizids20 zu werden. Fernanda be-

20 Der Begriff Femizid bezeichnet nach Jill Radford und Diana Russel (1992) den Mord an Frauen aus Hass gegen Frauen (vgl. Radford 1992a: xi). Der Ausdruck Femizid wird im mexikanischen Diskurs um Morde an Frauen genutzt. Femicidio oder feminicidio, Femizid ist ein Ausdruck, der die Geschlechtsdimension von Mord im Gegensatz zum geschlechtlich nicht unterscheidenden spanischen Begriff homicidio, in den Blick rückt. „In the context of radical feminist analysis, femicide has great political significance. As a form of capital punishment, it affects the woman who are its victims and their families and friends. More generally, it serves as a means of controlling woman as a sex class, and as such it is central to the maintenance of the patriarchal status quo.“ (Radford 1992b: 6) In Ciudad Juárez im Norden Mexikos wurde im Jahr 2009 auf der Haut einer ermordeten Frau eine Nachricht hinterlassen: „The devil is in Juárez. Take care; don´t walk alone or look sexy. We will keep you posted.“ (Monárrez Fragoso 2014: 2) Der Fall ist Teil der sogenannten Frauenmorde von Ciudad Juárez. Aus Mangel an verlässlichen Statistiken ist nicht genau zu sagen, wie vie-

250 | La Santa Muerte – Leben mit dem Tod

richtet von einer Situation, in der sie sich von Vergewaltigung und Femizid bedroht sah und in der sie ihrer Wahrnehmung nach von La Santa Muerte geschützt und gerettet worden war. Auf die Frage der Interviewerin nach Ambivalenzen im Umgang mit La Santa Muerte, die Frage, ob Fernanda sich schon einmal vor La Santa Muerte erschreckt habe, hin, erzählt Fernanda von dieser Situation und ihrer Erfahrung. Tabelle 45: Ausschnitt aus dem Interview mit Fernanda I.

Fernanda

y, te asustaste una vez en tu vida de ella, /por verla a algo así? UNA VEZ. una vez andaba, y yo había bien tomada. pero tomada. y yo iba caminando por una calle obscura.. sola.. y haz de cuenta que hay gente que ahí que me iba cam#, me iba persiguiendo. Y volteaba y no veía a nadie. y de repente se enfrente de mi. la vi. y me paré [4] al, y me rep#, me, como la vi me dio miedo y m#, rodeé por otro lado. ese día en la mañana, escuché que habían matado a una muchacha. en esa calle. y en ese pedacito donde la

und, erschrakst du dich einmal in deinem Leben vor ihr? weil du sie sahst oder so etwas? EIN MAL. ein Mal war ich unterwegs, und ich war ordentlich betrunken. aber betrunken. und ich ging durch eine dunkle Straße.. alleine.. und du musst dir vorstellen dass es Leute gibt die da das ich gin#, mich verfolgten. und ich drehte mich um und sah niemanden. und plötzlich stellt sie sich mir gegenüber. ich sah sie. und ich hielt an [4] im, und mich rep#, mich, wie ich sie sah bekam ich Angst und m#, ich ging woanders entlang. am Morgen dieses Tags, hörte ich dass sie ein Mädchen getötet hatten. in

le Frauen in Ciudad Juárez verschwanden und starben. Julia Monárrez Fragoso nennt 2009 ca. 740 ermordete Frauen in den Jahren 1993 bis 2009, wozu noch eine hohe Zahl von Verschwundenen kommt (vgl. Monárrez Fragoso 2009: 93ff.). In Ciudad Juárez stammen über 80 Prozent der ermordeten Frauen aus armen Stadtteilen (schlechte Infrastruktur, schwache soziale Netzwerke wegen hoher Mobilität und Arbeitsmigration der Bewohner*innen). Zum einen sind die Aufklärungsraten von Morden niedrig, – umso niedriger in Armutsmilieus – zum anderen stellte sich die Strafverfolgung in der Vergangenheit auf die Seite der Täter, indem die Schuld für die Verbrechen bei den Opfern, also den Frauen, gesehen wurde (vgl. Monárrez Fragoso 2014, Torres Falcón 2015, siehe auch Berlanga Gayón 2015, Olivera 2006, Segato 2007).

Milieuerfahrung prekärer Ordnung | 251

vi... I. Fernanda

hm.. y como era la Santa? yo pienso que me quisó asu#, que me quisó avisar, oo, no sé. porque yo, o sea.. no me as#, no fue como susto. fue comoo, prevención. como decir no. por aquí no me voy. mejor me voy por... si. y ya. la mañana. yo vivía en el centro.. y en la mañana al siguiente día. oí, que ahí mataron y violaron a un, a una muchacha. en esas horas más o menos donde...

I. Fernanda

hm. donde yo iba pasaba... entonces.. y yo le platiqué. dice no. es que más bien te quiso a prevenir. hm. o a lo mejor, ya estaban haciendo eso con la muchacha y... hm. y para que no te dañaron a ti también... pos a lo mejor si.

I. Fernanda

I. Fernanda

dieser Straße. auf dem Stückchen wo ich sie sah... hm.. und wie war die Santa? ich denke das sie mich erschr# wollte, dass sie mich hinweisen wollte, ooder, ich weiß nicht. weil ich, also.. ich ersch# mich nicht, es war nicht wie ein Schreck. es war wie, Prävention. wie zu sagen nein. hier gehe ich nicht lang. besser gehe ich durch... ja. und also. der Morgen. ich lebte im Zentrum.. und am Morgen des nächsten Tags. hörte ich, dass sie dort ein Mädchen getötet und vergewaltigt hatten. In diesen Stunden mehr oder weniger wo… hm. wo ich vorbeiging... dann.. und ich sprach mit ihr [La Santa Muerte]. sie sagt nein. ist eher so dass ich dich hüten wollte. hm. oder am besten, machten sie das schon mit dem Mädchen und... hm. und damit sie dich nicht auch schädigen. also am besten ja.

Fernanda erklärt, sie sei betrunken und allein, also ohne die Anwesenheit oder Blicke wohlgesonnener anderer Menschen, eine dunkle Straße entlanggelaufen. Fernandas Aussage („du musst dir vorstellen dass es Leute gibt die da das ich gin#, mich verfolgten“) changiert zwischen Allgemein und Spezifisch: Das Allgemeine wäre „es gibt potenziell immer Leute, die“ und das Spezifische: Fernanda fällt in dieser Nacht unter eine Regel, nach der es Leute gibt, die andere verfolgen. Sie kann die Verfolger nicht lokalisieren und somit nicht bannen. Dennoch bleibt sie bei ihrer Wahrnehmung und Überzeugung von der Gegenwart der Verfolger. Die Angst, verfolgt zu werden, erscheint daher als ein allge-

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meines und kollektives Deutungsmuster. Als plötzlich La Santa Muerte vor ihr erschienen sei, habe sie Angst bekommen und habe daher einen anderen Weg eingeschlagen. Mit Aurel Kolnai kann man zunächst sagen, dass Fernandas Angst („wie ich sie sah, bekam ich Angst.“) sie zum Erkennen des Gefährlichen angeleitet habe (Kolnai 2007: 16). Angst ist nach Kolnai eine Abwehrreaktion und eine Grenzerfahrung,21 in der, wie Axel Honneth es ausdrückt, „uns in der Profanität des Alltags die Unverfügbarkeit unserer Existenz gewahr wird: In der Angst sind wir mit der ständigen Bedrohung unseres eigenen Lebens konfrontiert […].“ (Honneth 2007: 158) „Im Gegensatz zum mißmutigen ‚Fürchten-um-etwas‘ greift die Angst nie an erster Stelle einzelne Interessenkreise der eigenen Person heraus: bei jeder echten Angst ist irgendwie das Ganze, besser gesagt der Bestand des Selbst in Frage, sei es nur das nackte Leben, das Seelenheil, der Lebensunterhalt, meinetwegen die gesellschaftliche Stellung oder die persönliche Freizügigkeit oder gar die Unberührtheit eines jungfräulichen Wesens, die gleichsam diesen Bestand ‚ausfüllt‘, vertritt.“ (Kolnai 2007: 15)

Eine weitere für die Deutung von Fernandas Erzählung operationalisierbare Unterscheidung von Angst und Furcht findet sich bei Søren Kierkegaard.22 Dieser 21 Kolnai schreibt, die Intendierungsweise der Angst sei eine doppelte: „Sie intendiert zugleich zwei völlig auseinandergehaltene Gegenstände: ihren Erreger und ihre Subjektperson. Ich habe Angst beim Anblick des Gefahrdrohenden, beim Gedanken daran; aber auch deutlich nur im Hinblick auf mich selbst, meine Person. Ob es sich des näheren um meinen Bestand, meine Interessen, mein Seelenheil oder aber um fremde, jedoch ‚mir‘ eben teure ‚Interessen‘ handelt, ist dabei vollkommen gleichgültig, nämlich für die Richtungseigentümlichkeit der Intention; insofern nicht gleichgültig allerdings, als der typischste Furchtzustand der selbstisch gegründete ist, während ‚Furcht um einer geliebten (fremden) Person willen‘ bereits eine verwickeltere Gefühlsart darstellt.“ (Kolnai 2007: 13) 22 Kolnai definiert Angst anders als Kierkegaard: „Angsterregend sind doch nicht Sachverhalte an sich – wie sie etwa unerfreulich, rätselhaft, unerträglich sein können, – sondern Objekte, Gebilde, Zustände, Ereignisse, in ihrer Sachverhaltsbeziehung zum Subjekt.“ (Kolnai 2007: 15) Neuere Theorien und Modelle zur Angst finden sich z.B. bei Andrew Tudor. Er schreibt: „Perceived (and thus socially mediated) danger of a future state of affairs is constitutive of a present state of fear.“ (Tudor 2003: 240) Oder Jörg R. Bergmann, der schreibt, „[j]ede Angst beruht auf einer Wahrnehmung, Vorstellung oder Antizipation, und dabei spielen Imagination und Interpretation als Vermittler zwischen einem äußeren Ereignis und der durch dieses Ereignis bewirkten physiologischen Angstreaktion eine zentrale Rolle“ (Bergmann 2002: 9). In diesem

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unterscheidet zwischen Angst und Furcht insofern, als man Angst nicht bestimmen könne, weil sie kein konkretes Objekt habe. Furcht ist für Kierkegaard Gefahr, die aus der Entfernung auf einen zukommt und die man definieren kann. Angst ist Gefahr, die auf einen zukommt, die man aber nicht definieren kann. Vor dem Tod kann man entsprechend Angst, aber keine Furcht haben, weil man normalerweise nicht weiß, wann er kommt und wie er sein wird. Angst ist in diesem Sinne immer auf Zukünftiges gerichtet: „Wenn ich mich also vor einem vergangenen Unglück ängstige, dann nicht deshalb, weil es vergangen ist, sondern weil es sich wiederholen, d.h. zukünftig werden kann.“ (Kierkegaard 1992: 108) Entsprechend befand sich Fernanda des Nachts in der Gasse in einem Zustand der Angst, weil sie glaubte verfolgt zu werden und die Verfolger nicht erkennen und nicht dingfest machen konnte. La Santa Muerte wird in ihrer Erscheinung vor Fernanda zum Angstobjekt und zur plötzlichen Gefahr, vor der Fernanda erschrickt. Fernanda sagt, sie habe Angst gespürt und sei umgekehrt.23 In den Begriffen Kierkegaards hat Fernanda Furcht vor La Santa Muerte. Vor ihrem eigenen Tod kann Fernanda nur Angst haben, aber keine Furcht, weil der Tod eben nicht bestimmbar ist. In der Erscheinung La Santa Muertes wird der Tod bestimmbar, weil er in La Santa Muerte personifiziert und somit adressierbar wird. Auf diese Weise kann die zunächst ungerichtete Angst in gerichtete Furcht bzw. in ein Erschrecken vor der plötzlich auftauchenden La Santa Muerte übergehen und somit handhabbar, weil adressier- und zurechenbar gemacht werden. Eine ähnliche Transformation einer lebensbedrohlichen Situation wurde auch in dem Corrido der Bukanas de Culiacan dargestellt. Dort ergab sich die Transformation der Beziehung zwischen dem Protagonisten und La Santa Muerte in einer Situation der Liminalität, im Sterben. Diese Situation wurde für den Protagonisten des Corridos im Bunde mit La Santa Muerte und durch seinen Eintritt in eine neue Ordnung, die sich aus seiner Beziehung zu La Santa Muerte speiste und die nach La Santa Muertes Regeln funktionierte, aufgelöst. Der von Fernanda erzählte Umwälzungsprozess ihrer Angst vor einer unbestimmten LebensbeSinne bedarf es zum Aufkommen von Angst einer Imagination eines Angst-Szenarios. Ein solches Angst-Szenario können z.B. Nachrichten über Vergewaltigungen und Morde an Frauen in Medien kreieren. 23 Vgl. zu Fernandas unmittelbarer Reaktion der Wegänderung Honneth über Angst bei Kolnai: „Der Haß, der Ekel und die Angst unterbrechen den Bewegungsfluß unseres Lebens, weil sie uns mit Objekten konfrontiert sein lassen, die keine Chance zur Bereicherung unserer Persönlichkeit enthalten; wir können daher in derartigen Situationen nicht anders, als uns ruckartig von dem entsprechenden Gegenstand zu verschließen und zu einem punktförmigen Ich zu machen.“ (Honneth 2007: 166)

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drohung in Furcht vor der bestimmbaren La Santa Muerte, folgt derselben Struktur wie die im Corrido zur Darstellung gebrachte Transformation: In der Communitas mit La Santa Muerte und als Anhänger*in La Santa Muertes sind Möglichkeiten gegeben, der Liminalität wie auch der Unbestimmbarkeit der Angst, etwas, nämlich La Santa Muerte, entgegenzusetzen. Das Unbestimmte, also die Liminalität mit ihrer Strukturlosigkeit, wird in der Gestalt La Santa Muertes bestimmbar. Mit Bezug zu den vorangegangenen Überlegungen zu Ordnungen kann hinzugefügt werden, dass es in Gefahrensituation wie der von der Fernanda erzählt, auch die Unsicherheit über die tatsächliche Geltung der offiziellen – oder auch einer inoffiziellen – Ordnung ist, die für die Subjekte ambivalent ist und subjektiv Unsicherheit produziert. Diese Situation der Unsicherheit löst La Santa Muerte subjektiv auf, indem sie brachial und den Regeln des Bundes mit ihren Anhänger*innen entsprechend Schutz durchsetzt. Es wird in diesem Akt eine alternative, wenn auch partikulare Ordnung durchsetzt. La Santa Muerte repräsentiert auf diese Weise die subjektive Lösung einer für viele Menschen bestehenden Bedrohungslage. Im Fall Fernandas ist es die verbreitete Angst vor einem Femizid, der durch Fernandas Beziehung zu La Santa Muerte und mit der Erscheinung La Santa Muertes subjektiv La Santa Muertes Schutz entgegengestellt wird. In dem Corrido ist es der im Gefecht drohende Tod, der durch das Eingehen eines Bündnisses mit La Santa Muerte abgewandt wird. Am nächsten Morgen habe Fernanda gehört, dass eine Frau von Unbestimmten getötet worden sei. Nach dem Auftauchen La Santa Muertes, das Fernanda sich fürchten lies, unterhält sie sich im Stil einer Alltagsunterhaltung („ich sprach mit ihr“) mit der nahbaren La Santa Muerte, um zu verstehen, was in der Nacht passiert war. Erst im Nachhinein, nach der gelungenen Abwehr der Gefahr, kommt es zur Selbstkonfrontation Fernandas mit ihrer Angst. Als die Bedrohung nicht mehr akut ist, stellt Fernanda sich vor, dass die Vergewaltigung und die Tötung des Mädchens passiert seien, als sie allein durch die dunkle Straße ging. Schließlich gibt sie die wörtliche Rede La Santa Muertes wieder, „und damit sie dich nicht auch schädigen“. Die massive Übermacht der Täter, die auf Seiten der inoffiziellen Ordnung handeln, wird hier deutlich. Auch im Nachhinein im Gespräch mit La Santa Muerte kann der Tat nichts Allgemeines entgegengesetzt werden. La Santa Muerte kann zwar erscheinen und Fernanda individuell warnen, das Mädchen musste aber sterben. Auch Fernanda, die in der Nähe war, konnte das Verbrechen nicht verhindern (oder Hilfe holen) und ist nur froh, selbst nicht betroffen zu sein. Da für Frauen wie Fernanda kaum eine Möglichkeit besteht sich effektiv zu schützen, muss die dauerhaft bestehende und dauerpräsente diffuse Angst, Opfer eines Femizids zu werden, verdrängt werden. La Santa Muerte ist eine Projektion dieser Ängste und kann die diffuse, kaum be-

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nennbare Angst in eine erträgliche Form umwandeln: in Furcht, die benennbar, adressierbar und somit bearbeitbar ist. Durch diesen Projektions- und Umwälzungsprozess können Frauen aus Fernandas Milieu eine individuelle Entlastung für den Druck einer permanent präsenten, aber objektlosen Angst finden. Dass Fernanda sich der Gefahr, Opfer eines Femizids zu werden, ausgesetzt sieht, ist nicht nur in der mangelnden Schutzgewährung durch einen übergeordneten politischen Verband mit einem Stab zur Durchsetzung der offiziellen Ordnung begründet. Eine Schutzfunktion könnte außerdem durch einen starken Familienverband oder durch eine bessere Ressourcenausstattung gewährleistet werden, z.B. indem Fernanda mit einem Auto fahren würde oder nachts generell nicht unterwegs sein müsste. Eine Schutzfunktion könnte ebenfalls durch eine stärkere soziale Integration, indem Fernanda z.B. nicht allein, sondern mit Freunden oder einer Partnerin oder einem Partner unterwegs wäre, garantiert werden. Weder Fernanda noch Carlos können effektiv auf stabile, stärkende und schützende Sozialbeziehungen zurückgreifen. Die Gefahrenlagen, denen Angehörige ihres Milieus ausgesetzt sind, sind damit sowohl in der schwachen Geltung einer einheitlichen Ordnung und der Schwäche der übergeordneten, staatlichen, politischen Vergemeinschaftungsform bei ihrer Durchsetzung als auch in den Milieuerfahrungen der sozialen Bindungslosigkeit und Fragmentierung begründet.

SOUVERÄN UND ORDNUNGSMACHT Lomnitz schreibt über das zeitgenössische Mexiko Folgendes: „The state is no longer the absolute symbol of sovereignty, at least not in the imagination of many.“ (Lomnitz 2008: 496) Dies ist eine Konsequenz des gleichzeitigen Bestehens mehrerer widersprüchlicher bzw. einander ausschließender Ordnungen und der Schwäche des Staates bzw. seines Erzwingungsstabes bei der Durchsetzung der offiziellen Ordnung. Eine Reihe von Forschungsbeiträgen schlug Deutungen vor, nach denen die Figur La Santa Muerte in ihrer Verehrung zu einer Form von „Souverän“ oder unabhängiger Agentin (ebd.: 419), „nomos“ (Fragoso 2007b: 32) oder zu einer alternativen Agentin (Pansters 2019: 43 mit Bezug zu Castellas Ballarín 2008) würde, welche die eigentlichen Kernaufgaben des Staates übernehmen würde (vgl. Flores Martos 2019: 100). Bezüglich der Milieuerfahrung prekärer Ordnung lässt sich zusammengenommen feststellen, dass La Santa Muerte die ordnungspolitischen Ambivalenzen, mit denen ihre Anhänger*innen innerhalb des mexikanischen Nationalstaates umgehen, neutralisiert, indem subjektiv eine eigenständige und alternative Ordnung nach den Regeln des Verhält-

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nisses zu La Santa Muertes gestiftet und etabliert wird.24 Mit dieser Eigenschaft entspricht La Santa Muerte lebenspraktisch25 den Anforderungen eines Lebens in dem Milieu aus dem sie hervorgegangen ist und das sie als dessen Symbol repräsentiert. Lomnitz schlägt vor, La Santa Muerte als Souverän und ihre Verehrung als ein Symptom Mexikos zweiter „säkularer Revolution“ (Lomnitz 2008: 491) zu verstehen. In Lomnitzs Verständnis ist La Santa Muerte „neither a simple emissary of God nor the representative of the state. She is, from the viewpoint of her devotees, for all intents and purposes, an independent agent […].“ (Ebd.) Wie nicht zuletzt mit der Analyse des Corridos deutlich wurde, werden die Beziehungen zu La Santa Muerte auch rituell eingegangen und für ihren gewährten Schutz, ihre Gabe, geben ihre Anhänger*innen ihr Gegengaben (Carlos badet sie beispielsweise in „Gold“). Der Bund mit La Santa Muerte stiftet eigene Gesetze, die zwar bezogen auf die offizielle Ordnung unethisch seien mögen, in der Beziehung zu La Santa Muerte aber legitimiert sind. La Santa Muerte ist darum mehr als die ikonische Repräsentanz dieser sozialen Lage, sondern sowohl ihre Repräsentanz wie auch ihre Lösung oder Überschreitung. Mit La Santa Muerte wird eine Oppositionsposition zur offiziellen Ordnung, aber auch zu inoffiziellen Ordnungen eingenommen und eine neue partikulare Ordnung etabliert und legitimiert. Ähnlich deutet Kristensen La Santa Muerte in einem Repräsentationsverhältnis zur Ambiguität der mexikanischen Familie: La Santa Muerte „becomes the iconic representation of the ambiguous Mexican family whereby the distinction between good and evil, formal and informal, has become problematic since people often find themselves forced to operate on both sides of the moral chasm“ (Kristensen 2015: 22). Dem darf im Rückgriff auf den Corrido und die Analysen der Interviews hinzugefügt werden, dass La Santa Muerte nicht nur eine Repräsentation der mit Ambiguität konfrontierten Sozialform der 24 Pilar Castells Ballarín, die die Verehrung La Santa Muertes vor dem Hintergrund der Menschenrechte diskutiert, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, das Pansters zusammenfasst: „as the state delegitimizes itself and produces anomie, La Santa Muerte presents herself as an alternative actor who has the ability to re-organize that condition of anomie, though at a price: opting for La Santa Muerte as a justice-making entity not only signals the shortcomings of the state ‚but also means renouncing the exercise of rights and duties as citizens and, therefore, a separation from the imaginary of human rights‘ (Castells 2008, p. 21 [zitiert nach Pansters 2019: 43]).“ (Ebd.) 25 Auch Lomnitz weist auf diese Lebensnähe La Santa Muertes hin, wenn er sie im Vergleich zum Staat oder zu Gott für näher oder zugänglicher hält: „God, too [as the state], is a bit remote for the drug lord, and for intensely hybridized urban popular groups that must live on the frings of legality. Death best represents sovereignty here […].“ (Lomnitz 2008: 496)

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Familie bildet, sondern, dass diese Ambiguität wiederum durch die Koexistenz widersprüchlicher Ordnungen bedingt ist. Die Koexistenz mehrerer Ordnungen findet ihren Ausdruck in Ambiguität, Unsicherheit und Schutzlosigkeit. Subjekte, die in diesem Rahmen Handeln und sich an den Ordnungen orientieren müssen, sind erheblichen Gefahren ausgesetzt,26 vor denen La Santa Muerte als Souverän und alternative Ordnungsmacht sie konkret, partikular und subjektiv schützt. Eine Konklusion Smiths – „[a]lthough the Santa Muerte cult may face new problems […] it is an attempt to describe, shape, and to an extent legitimize a new social and political order“ (Smith 2019: 61) – ist hinsichtlich der Milieuerfahrung prekärer Ordnung und soziologisch fundiert dahingehend zu spezifizieren, dass die Verehrung La Santa Muertes hier keine allgemeine, sondern partikulare Ordnungen hervorbringt.

26 Der Vollständigkeit halber sei wiederholt, dass es nicht nur Gefahren sind, die sich aus der Handlungsorientierung an widersprüchlichen, einander ausschließenden Ordnungen ergeben, sondern auch Genüsse (z.B. Drogenkonsum) und große Freiheiten (von ethischen Maßstäben).

Aufführungen – religiöse Praxis mit La Santa Muerte

Die Analyse der Bühnen der Verehrung La Santa Muertes verwies über die Bühnen hinaus auf die religiöse Praxis, die Ebene der Aufführung und Inszenierung, und die Performances der Gläubigen La Santa Muertes. Diese Ebene wird nun in den Blick genommen. Es werden zwei Veranstaltungen, die in Kirchen La Santa Muertes stattfanden, vergleichend untersucht. Im Mittelpunkt stehen ein nur unregelmäßig in einer Kirche La Santa Muertes im Süden von Los Angeles stattfindender sogenannter Mitternachtskult und eine regelmäßig in einer Kirche im Osten von Los Angeles stattfindende sogenannte Messe. In beiden Kirchen werden regelmäßig Messen und unregelmäßig Rituale wie der Mitternachtskult abgehalten. Die beiden Veranstaltungen sind exemplarische und typische Rituale, die in fast allen während der Feldforschung besuchten Kirchen in ähnlicher Form regelmäßig bzw. unregelmäßig stattfinden. Ein ritualtheoretischer Zugang bei der Analyse, der nun zunächst entwickelt wird, erlaubt es, die Performances in den Kirchen auch hinsichtlich ihrer performativen Potenziale, einen – tiefgreifenden oder weniger tiefgreifenden – Wandel für die Teilnehmenden einzuleiten, zu untersuchen. Ausgehend von den Analysen auf Ebene der Aufführung wird es um die Frage gehen, ob die beiden exemplarischen Veranstaltungen als prägnante Beispiele für die polyphonen religiösen Praxen mit La Santa Muerte, für die Teilnehmenden einen Wandel hinsichtlich der Milieuerfahrungen, also eine Transformation ihrer Lebenslage einzuleiten vermögen.

RITUALE UND DIE VEREHRUNG LA SANTA MUERTES La Santa Muerte kann in Rituale zur Ausgestaltung von Statuspassagen (Gennep 1981) eingebunden sein. Anhänger*innen thematisieren die Möglichkeit, die

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quinzeañera1 in Kirchen La Santa Muertes zu begehen oder sich vor La Santa Muerte zu verheiraten. Fernanda berichtet z.B., eine solche Heirat geplant zu haben. Profe José heiratete 2019 in der Kirche La Santa Muertes im Süden von Los Angeles. Daneben, und alltäglicher, wird La Santa Muerte in Heilungsrituale, Reinigungsrituale, Exorzismen und in Schadenszauber eingebunden. Bei diesen Ritualen mit La Santa Muertes werden die pragmatischen Potenziale der Figur besonders deutlich. So betont auch Flores Martos „[i]t is, above all, a utilitarian cult more devoted to resolving small everyday problems than performing exceptional, awe-inspiring miracles“ (Flores Martos 2019: 92). In den Praxisbüchern der Verehrung La Santa Muertes werden Rituale zur Bearbeitung alltäglicher und lebenspraktischer Belange beschrieben. Es wird z.B. erklärt, wie sich der persönliche Schutz durch La Santa Muerte rituell herstellen lasse (z.B. Goodman 2013: 59), wie sich rituell mit La Santa Muerte eine Arbeit finden (z.B. Velázquez 2012: 63f.) oder das Geld vermehren lasse (z.B. Garibay Díaz 2007: 66ff.), wie sich mit La Santa Muerte in einem Ritual Alkoholabhängigkeit heilen lasse (z.B. Anonym/A 2007: 57f.) oder, wie verlorene Ex-Partner*innen durch Rituale zurückgewonnen werden könnten (z.B. Garibay Díaz 2007: 62). Darüber hinaus enthalten die Bücher Rezeptkapitel zur Herstellung von Cremes und Wässerchen für den Ritualgebrauch. Im Zusammenhang mit der öffentlichen und medialen Rezeption von Ritualen der Verehrung La Santa Muertes kam es zur Stigmatisierung der Gläubigen La Santa Muertes und ihrer religiösen Praxis. In den US-amerikanischen und mexikanischen Medien wurde die Verehrung La Santa Muertes als ein Phänomen dargestellt, das (ausschließlich) mit Drogenhandel, Prostitution, Menschenhandel und allgemein Kriminalität zu tun habe (vgl. Reyes Ruiz 2011: 51, Villamil Uriarte/Cosneros 2011: 34, Mancini 2010: 154, Lomnitz 2008: 492). Solche Repräsentationen der religiösen Praxis und der Gläubigen La Santa Muertes wurden ebenfalls in der Popkultur hervorgebracht oder in diese eingespeist und auf diese Weise auch wiederholt und verfestigt (vgl. Huffschmid 2019: 113f.).2 Massenmedien in den USA und in Mexiko haben zum Thema Ritual und La Santa Muerte teilweise Schreckensmeldungen verkündet. Davon zeugen die 1

Die qunizeañera ist eine Feier zum 15. Geburtstag eines Mädchens, die einen Übergangsritus ins Erwachsenenleben darstellt.

2

Beispielsweise in der Serie Breaking Bad verehren zwei männliche Charaktere, die in der Serie einer mexikanischen Drogenbande zugehörig sind, La Santa Muerte. In einer Folge (Staffel 3, Folge 1 „No Más“) werden die beiden Männer gezeigt, wie sie zusammen mit einer Reihe weiterer Menschen während eines Rituals über Wüstenboden auf einen Altar La Santa Muertes zu kriechen. Als sie dort ankommen zünden sie Kerzen an und stellen das Bild eines Mannes, den sie töten wollen, auf dem Altar auf.

Aufführungen – religiöse Praxis | 261

Schlagzeilen: „Mexiko: Der Mord an 28 Inhaftierten in einem Gefängnis war ein Ritual für La Santa Muerte“3 und „La Santa Muerte, Inspiration für Auftragsmörder in Chicago“.4 Im „Law Enforcement Bulletin“, einem Magazin der „Training Division, Training Coordination and Support Unit“ des „FBI“, findet sich ein Artikel, der ausgehend von einer Bestimmung der Anhänger*innen als „typically poor, uneducated, and superstitious individuals who practice a form of unsanctioned saint worship mixed with varying elements of folk Catholicism“ ein Spektrum der Verehrung La Santa Muertes ausmacht, das von „more mainstream and older forms of Santa Muerte worship“ bis zur „narcocultura (drug culture) variant of the Cult of Santa Muerte“ und einer „dark spirituality“ (Bunker 2013) reiche. Der Artikel fokussiert auf die konstatierte letzte Gruppe und konstruiert unter dem Titel „Santa Muerte: Inspired and Ritualistic Killings“ (ebd.) einen Zusammenhang von (Menschenopfer-)Ritualen und der Verehrung La Santa Muertes. Mehrere nicht überzeugend belegte Beispiele für vermeintliche Ritualmorde, die sich wie Drehbücher zu Horrorfilmen lesen, werden aufgelistet.5 Rituale der Verehrung La Santa Muertes erhalten in ihrer massenmedialen Verarbeitung und Darstellung oft eine Interpretation und Repräsentation der Gläubigen La Santa Muertes als triebhaft, unberechenbar, extrem gewalttätig und primitiv. Solche Interpretationen von Ritualen und Repräsentationen derjenigen, die diese Rituale praktizieren, finden sich auch in der Geschichte der Ritualtheorie. 3

„México: el asesinato de 28 presos de una cárcel fue un ritual a la Santa Muerte“ (http://www.infocatolica.com/blog/infories.php/1707111116-mexico-el-asesinato-de28-pre [Abrufdatum: 23.01.2019]).

4

„La

Santa

Muerte,

inspiración

de

sicarios

en

Chicago“

(http://www.

chicagotribune.com/hoy/ct-hoy-8836957-la-santa-muerte-inspiracion-de-sicarios-enchicago-story.html [Abrufdatum: 23.01.2019]). 5

Zwei Beispiele: „In July 2011 in Ciudad Júarez, Mexican police discovered a skeleton dressed as a bride at a Santa Muerte altar in a house used to hold kidnap victims. The perpetrators left two skulls and numerous cigarette packs as offerings. The circumstances behind the origins of the skeleton and skulls – if they were prior cult victims – remain unknown.“ (Bunker 2013) Oder: „In December 2009 and January 2010 in Ciudad Júarez, perpetrators murdered individuals in apparent Santa Muerte ritual killings. Regarding one incident, authorities found at the crime scene the remnants of an apparent altar and the words ‚Santa Muerte‘ and cuídanos flakita (take care of us, skinny) spray painted. In the second crime, gang members burned a victim behind a house containing an altar and a small Santa Muerte statue. Interviewed neighbors said that the killers – part of the Hillside 13 Gang – asked for ‚something big‘; as a result, the perpetrators performed multiple human sacrifices.“ (Bunker 2013)

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In den entsprechenden wissenschaftlichen Diskursen des letzten Jahrhunderts wurde das Ritual als „a kind of collective social instinct“ (Stephenson 2015: 104) verstanden. Auf diese Weise wurden diejenigen, die Rituale praktizieren, ritualtheoretisch und diskursiv in weiter Ferne vom vermeintlich rationalen, technologischen, individualistischen, liberalen, entzauberten und modernen Europa (vgl. ebd.) platziert. Auch in den zeitgenössischen massenmedialen Diskursen um die Verehrung La Santa Muertes, ebenso über Rituale in Westafrika (vgl. z.B. Bonhomme 2016: 7) oder bezogen auf indigene oder afroamerikanische rituelle Praxen in den USA (vgl. z.B. Murray 2007) finden sich Interpretationen und Repräsentationen, die Rituale und diejenigen, die sie praktizieren, von der vermeintlich entzauberten europäischen Moderne unterscheiden, ausschließen und entsprechend stigmatisieren. Die Geschichte der Ritualtheorie6 ist auch eine Geschichte evolutionsbiologisch inspirierter Kulturtheorie und der Bildung oppositioneller Begriffspaare. Primitiv und modern, Magie und Religion, Magie und Wissenschaft sind nur einige der binären Unterscheidungen, Begriffspaare und Kategorien, die in der Geschichte der Theoriebildung über Rituale bedeutsam und einflussreich waren. Beispielsweise Durkheim schreibt, die Magie habe, „wie die Religion, ihre Mythen und ihre Dogmen; sie sind nur unterentwickelter, weil sie technische und nutzbringende Ziele verfolgt“ (Durkheim 1994: 69).7 Für Durkheim sind Riten „Handlungsweisen“ (Durkheim 1994: 61), die von anderen 6

In der Soziologie gibt es einen intensiven Diskurs über den Begriff des Rituals, und seine Verwendung ist divers. Goffman untersucht Interaktionsrituale (Goffman 2005) als grundsätzliche Kategorie sozialer Interaktion. Merton bezeichnet mit Ritualismus (Merton 1995: insb. 144ff.) eine Handlungsweise in Reaktion auf Anomie und in der deutschen Soziologie spricht Hans-Georg Soeffner in Bezug auf den Umgang mit der Moderne von einem „undurchschauten Ritualismus“ (Soeffner 1992: 103). Im Rückgriff auf Ritualtheorien lassen sich auch politische Transformationsprozesse analysieren und beschreiben (z.B. Handelman 2004, Pansters/Rinsum 2016) oder subkulturelle Sozialformen (z.B. Steuten 2000) hinsichtlich ihrer spezifischen Nutzung von Ritualen zur Gemeinschaftsbildung und Abgrenzung von anderen Gruppen untersuchen.

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Religion definiert Durkheim in Abgrenzung zu Magie als ein „solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“ (Durkheim 1994: 75) Nach Durkheim gibt es entsprechend „keine magische Kirche“ (ebd.: 72).

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menschlichen Handlungen „durch die spezielle Natur ihres Ziels definiert und unterschieden werden“ (ebd.: 62) können. Sie sind ein Mittel zur Gemeinschaftsstiftung, das Emotionen hervorruft,8 die eine Bindungskraft entfalten, wenn sie von der das Ritual gemeinsam erlebenden Gruppe auf ein Heiliges projiziert werden (vgl. ebd., Fugger 2011: 395). Rituelle Handlungen bewirken für Durkheim Gruppensolidarität und die Reproduktion der Gruppe, denn durch den Ritus „erneuert die Gruppe periodisch das Gefühl, das sie von sich und von ihrer Einheit hat. Zur gleichen Zeit werden die Individuen in ihrer Natur als soziale Wesen bestätigt.“ (Durkheim 1994: 505, siehe auch 520) Roy Rappaport schließt an Durkheims Vorstellungen an, indem er Rituale als performative Handlungen versteht, die kanonische Botschaften kommunizieren und zu wirkmächtigen Handlungen machen. Er definiert das Ritual als „eine Form oder Struktur“, als „die Ausführung mehr oder weniger unveränderlicher Sequenzen formaler Handlungen und Aussagen, die nicht von den Akteuren codiert worden sind“ (Rappaport 2008: 191). Rappaport fokussiert auf einzelne Aspekte des Rituals, z.B. seine Formalität,9 geht aber davon aus, „dass kein einziger Aspekt des Rituals ihm allein eigen ist. Erst das Zusammentreffen all seiner Eigenschaften macht das Ritual einzigartig.“ (Ebd.: 191) Rappaports Ritualtheorie ist auch wegen ihrer Bezüge zu den Sprechakttheorien John Austins und John Searles und somit ihrer Sensibilität für performative Äußerungen interessant. In Rappaports Worten ist das Ritual „voller konventioneller Aussagen, die konventionelle Wirkungen haben“ (ebd.: 195). Auch in Stanley Tambiahs Ritualtheorie10 ist Performativität von Bedeutung: 8

Dabei hat das Ritual bei Durkheim auch starke sinnliche und emotionale Qualitäten: Ritus kann Spaß machen und trägt dazu bei, „die Fröhlichkeit und gute Laune in der Gruppe aufrechtzuerhalten“ (Durkheim 1994: 510) oder dient „zur einfachen, öffentlichen Belustigung“ (ebd.: 511).

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Zum Aspekt der Formalität des Rituals gehören bei Rappaport „liturgische Ordnungen“, „mehr oder weniger unveränderliche Sequenzen formaler Handlungen und Aussagen, welche in spezifischen Kontexten wiederholt werden“ (Rappaport 2008: 191). Dabei ermöglicht es die Formalität liturgischer Ordnungen, „dass performative Aussagen, die in Ritualen vorkommen, […] unter geeigneten Umständen vollzogen werden können“ (ebd.: 196). Das Ritual garantiert, „dass performative Aussagen richtig vollzogen werden, […] macht sie explizit und dadurch auch wichtig“ (ebd.), wodurch wiederum die Erfolgschancen der performativen Aussagen wirkmächtig zu werden erhöht werden (vgl. ebd.).

10 Tambiah definiert das Ritual als „ein kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation. Es besteht aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Worten und Handlungen, die oft multi-medial ausgedrückt werden und deren Inhalt und Zu-

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„Rituelle Handlung ist auf drei Arten performativ: erstens im Sinne von Austin, wonach etwas sagen gleichzeitig auch etwas tun (als konventionelle Handlung) bedeutet; zweitens in dem davon völlig verschiedenen Sinn einer dramatischen Performance, in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ereignis intensiv erfahren; und schließlich in einer dritten Bedeutung im Sinne eines indexikalen Wertes (der Begriff stammt von Peirce), den die Akteure während der Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten.“ (Tambiah 2008: 228)

In Bezug auf Performativität im Sinne Austins steht Tambiah für eine Schärfung des Performativitätsbegriffes. Tambiah betont in diesem Zusammenhang eine Notwendigkeit zur Sensitivität hinsichtlich der „kosmologischen Voraussetzungen“ und der „sozialen Interaktionsnormen“ einer Gruppe. „[W]enn rituelle Ereignisse performative Handlungen sind – in einem viel strengeren Sinn als normal Sprechakte, die auch etwas mit Worten tun –, dann können die Verbindungen zwischen den einzelnen Handlungen und Aussagen in einem Ritual […] nicht vollständig verstanden werden, ohne das Wissen, dass sie die Einkleidung sozialer Handlungen darstellen. Diese sozialen Handlungen ihrerseits können nicht unabhängig von den kosmologischen Voraussetzungen und den sozialen Interaktionsnormen der Teilnehmer verstanden werden.“11 (Ebd.: 245)

Tambiah vertritt somit die Position, man könne magische Rituale nicht ausschließlich „aus der Perspektive und nach den Wahrheitskriterien westlicher wissenschaftlicher Rationalität […] beurteilen, denn als konstitutive und überzeugende Handlungen können sie nicht ‚falsifiziert‘ werden“ (ebd.: 236). Folglich gelte es, die Untersuchung von Ritualen „der Idee [zu] öffnen, dass magische Rituale konventionelle Handlungen sind, die im performativen Rahmen sozialen Handelns untersucht werden sollten“ (ebd.: 236). In einem solchen Vorgehen lege die Chance, einen „Horizont für das Verstehen der Logik solcher Handlungen und der Regeln ihrer Gültigkeit“ (ebd.) zu eröffnen. Die Arbeiten des Religionswissenschaftlers Jan Platvoet zum Ritual eröffnen einen deskriptiv-analytischen Zugang zu Ritualen und fusionieren die zuvor genannten Ansätze. Platvoet spricht sich am wittgensteinschen Konzept der Famisammenstellung mehr oder weniger charakterisiert sind durch: Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholung).“ (Tambiah 2008: 227f.) 11 Unter kosmologischen Ideen versteht Tambiah „jene orientierenden Prinzipien und Begriffe, die als heilig betrachtet, ständig als Massstäbe benutzt und wegen ihrer Würde ohne grosse Änderung beibehalten werden“ (Tambiah 2008: 229).

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lienähnlichkeit (vgl. Wittgenstein 2001, Stephenson 2015: 73) orientierend, immer dann von Ritual, wenn eine ausreichende Anzahl an Eigenschaften und Funktionen oder zusammengenommen von Dimensionen gegeben ist (vgl. Platvoet 2008: 173ff.).12 Platvoets Ansatz zeichnet sich besonders durch seine Offenheit und seine Sensibilität für Situationen kultureller und religiöser Pluralität aus. In solchen Situationen – und in den US-mexikanischen borderlands liegt so eine Situation vor, – nutzen Gruppen nach Platvoet „Ritualverhalten […], um ihre verschiedenen Identitäten, ihre Grenzen, ihre Konflikte, Indifferenz und Achtung füreinander auszudrücken“ (ebd.: 173, siehe auch 184). Generell sind Rituale zwischen Gruppen, so Platvoet, „eine markante Eigenschaft stratifizierter Gesellschaften, in denen soziale Gruppen nach religiösen, sozialen, ökonomischen und/oder politischen Kriterien hierarchisch geordnet sind. Wir finden sie in ‚pluralen‘ […], ‚Einheits‘- oder ‚Apartheid‘-Gesellschaften, in denen Gruppen, die nebeneinander leben, ihre Interaktionen durch die Förderung von Einstellungen und Praktiken der sozialen Abtrennung auf der Basis von Hautfarbe, Ethnizität, Religion oder anderen Barrieren eingrenzen, und damit unterschiedliche und ausschliessende ethnische, ‚Rassen‘- und/oder religiöse Identitäten und Grenzen entwickeln.“ (Ebd.: 183f.)

12 Platvoets Ritualdefinition ist eine „Hypothese mit heuristischen Eigenschaften“ (Platvoet 2008: 173) ohne Anspruch auf universelle Gültigkeit. Seine „provisorische“ und polythetische Definition des Rituals lautet: „Ein Ritual ist eine Reihenfolge stilisierten sozialen Verhaltens, das von normaler Interaktion durch seine besonderen Fähigkeiten unterschieden werden kann, die es ermöglichen, die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer – seiner Gemeinde wie auch eines breiten Publikums – auf sich zu beziehen, und welche die Zuschauer dazu bringt, das Ritual als besonderes Ereignis, das an einem besonderen Ort und/oder zu einer besonderen Zeit, zu einem besonderen Anlass und/oder mit einer besonderen Botschaft ausgeführt wird, wahrzunehmen. Dies wird dadurch erreicht, dass das Ritual geeignete, kulturell spezifische, übereinstimmende Konstellationen von Kernsymbolen benutzt. Das Ritual führt mehrere redundante Transformationen dieser Symbole durch. Dies geschieht mittels multimedialer Performance, die eine reibungslose Übertragung einer Vielzahl von Botschaften – einige offen, die meisten aber implizit – und von Reizen gewährleistet. Damit werden aber auch die strategischen Ziele – die meisten latent, manchmal aber auch offenkundig – von jenen erreicht, die das Ritual aufführen. Diese Ziele beziehen sich im Fall vereinheitlichter Gemeinden auf die Teilnehmer ad intra und im Fall pluralistischer Situationen auch auf Teilnehmer ad extra.“ (Ebd.: 187)

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Die Rituale, die im Folgenden untersucht werden, finden in Situationen kultureller und religiöser Pluralität innerhalb eines Milieus und in einer Situation sozialer Stratifizierung statt. Dafür sind insbesondere die Milieuerfahrung von Anomie und Stigma und die Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung emblematisch. Platvoet macht Dimensionen des Rituals aus, von denen einige Eigenschaften der sozialen Welt per se sind. Diese allgemeineren Dimensionen treten „im Fall rituellen Verhaltens in reiner und wirksamer Form hervor […]“ (ebd.: 182f.) und werden von anderen ritualspezifischen Dimensionen, „der Performance, der performativen, der ästhetischen und der traditionalisierenden Dimension, ergänzt […].“ (Ebd.) Platvoet unterscheidet 13 Dimensionen des Rituals,13 die für die hier angestrebte Analyse einen heuristischen Wert haben. Entsprechend werden im Verlauf der Untersuchung von culto de medianoche und misa Platvoets Systematisierungen erläutert und Bezüge zu diesen hergestellt.

MITTERNACHTSKULT UND MESSE Der unregelmäßig stattfindende Mitternachtskult ist ein von profe José organisiertes Ritual, das mit La Santa Muerte und unter Josés Anleitung eine ganze Reihe von Wirkungen je nach individuellem Bedarf der Teilnehmenden erzielen soll. Es geht einerseits um die Reinigung der Teilnehmenden von Übeln und um ihre persönliche Stärkung. Andererseits geht es auch um Formen ritueller Einflussnahme auf andere Personen, die Polizei, die wirtschaftliche Situation der Teilnehmenden oder allgemeiner ihre Zukunftsaussichten. Der Mitternachtskult beginnt an einem Freitag gegen Mitternacht – daher der Name culto de medianoche – und dauert etwa drei Stunden. Die Ankündigung der Veranstaltung durch profe José richtet sich an eine Gruppe ihm gut bekannter und regelmäßiger Besucher*innen der Kirche. Am Freitagabend, an dem der Mitternachtskult ab ca. 23 Uhr stattfinden soll, ist die Florence Avenue im Süden von Los Angeles, wo die Kirche La Santa Muertes zu finden ist, beinahe menschenleer. Zwei verbliebene Betrunkene schwanken zu einem Auto aus dem gedämpft der Rhythmus eines Corridos tönt. Die Läden sind verrammelt. Wie ein weiteres Ladenlokal reiht sich die Kirche in

13 Die 13 Dimensionen sind: Eine interaktive, kollektive, expressive, kommunikative, symbolische, multimediale ästhetische, strategische und integrative Dimension; eine Gewohnheits-Dimension, eine Dimension der traditionalisierenden Innovation und schließlich eine performative Dimension und eine Performance-Dimension (vgl. Platvoet 2008: 175ff.).

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die Fassaden zu beiden Seiten der Straße ein. Die Kirche ist noch verschlossen, das Licht aus, profe José nicht zu sehen. Gegen 23:30 Uhr sperrt José die Eingangstür der Kirche auf. Die Neonbeleuchtung der Werbetafel der Kirche ist ausgeschaltet. Erste, schnellen Schritts ankommende Teilnehmer*innen verschwinden in der Kirche. Der von der Straße aus zugängliche Altarraum der Kirche ist etwas länger als breit und an einer Wand der Eingangstür gegenüberliegend befindet sich ein großer, prächtiger und bunter Altar mit einer großen Figur La Santa Muertes. Auch die anderen Wände des Raumes sind mit kleineren Altären und Figuren gefüllt. Normalerweise gibt es drei Bankreihen und einige Stühle auf jeder Seite eines Mittelgangs, der zum Altar führt. Für den Mitternachtskult hat José die Bestuhlung verändert. Er hat die einfachen Holzbänke im Halbkreis vor dem großen Altar und um ein großes Pentagramm, das er mit Klebeband am Boden vor dem Altar angebracht hat, angeordnet. Das Pentagramm ist eine dauerhafte Installation, die auch wenn die Bänke in Reihen angeordnet sind, deutlich sichtbar ist. Gegen 23:45 Uhr ist José nicht im Altarraum zu sehen, es sind aber bereits sechs Teilnehmer*innen anwesend. Drei weitere Teilnehmer*innen und ein junges Paar kommen mit dem Auto, zwei Eheleute um die 50 Jahre parken hinter der Kirche und gelangen durch den Hintereingang in den Raum. Dort werden auf den Bänken im Zwielicht wenige Worte gewechselt. Die meisten der Anwesenden machen einen müden Eindruck, die vergangene Arbeitswoche scheint ihnen in den Knochen zu stecken und die späte Stunde tut ihr Übriges. Eine BluetoothMusikbox gibt leise Rap und Corridos über La Santa Muerte wieder. Dann kommt José, einen großen Karton tragend, in den Raum, murmelt „Hallo“ und verschwindet wieder. Er trägt seine Alltagskleidung: Lederstiefel, Jeans und schwarzes T-Shirt. Bunte Ketten liegen um seinen Hals, ein großes Amulett mit einer Figur La Santa Muerte sticht hervor. Er trägt viele Armbänder und auf seinen Unterarmen sieht man mehrere große Santa Muerte Tattoos. Er bereitet den Mitternachtskult emsig und konzentriert vor, läuft zwischen Büro, cuarto negro, dem schwarzen Zimmer,14 und dem Altarraum mit menschlichen Schädeln, Tüt14 Der sehr enge, muffige und fensterlose Raum ist nicht öffentlich zugänglich. Besucher*innen gelangen dort erst nach einem ersten (Diagnose-)Gespräch mit José für die Durchführung verschiedener trabajos und limpias hinein. Die Wände des schwarzen Zimmers sind dem Namen entsprechend schwarz angemalt und mit mehreren Spiegeln behängt. Es gibt Schrägen, weil über dem Raum eine Treppe aufsteigt. Irgendwo in den Wänden ist eine Lüftungsanlage installiert, die unablässig summt, sodass ein Aufenthalt in dem Raum alle Sinne beeindruckt. In einer Ecke gibt es einen Altar mit einigen Santa Muerte Statuen und Kerzen sowie Schädeln. Davor ist auf dem Boden

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chen, Fläschchen und Kerzen hin und her. Die Schädel und Kerzen platziert er gewissenhaft und leise vor sich hinmurmelnd auf dem Pentagramm am Boden. Die Fläschchen kommen neben einen Hocker und eine Djembé-Trommel neben dem Pentagramm. Immer wieder hält er kurz inne, richtet sich auf und blickt auf den Aufbau, um dann den Standort eines Elementes noch ein wenig zu verändern. Schließlich nickt er. Der Aufbau ist fertig. Es ist kurz nach Mitternacht und die Teilnehmer*innen sitzen in einem Halbkreis um den Aufbau in der Mitte vor dem Altar als José sein Handy nimmt, die Musik ausschaltet, die DjembéTrommel zwischen die Knie klemmt, kräftig anschlägt. Er wendet sich an die Gruppe: „Lasst uns anfangen“. Die Teilnehmer*innen blicken José an und signalisieren so oder mit einem Nicken ihre Bereitschaft anzufangen. Die zweite Veranstaltung, die misa, Messe, wird in einer Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles abgehalten. Die Kirche befindet sich in einem freistehenden Wohnhaus an einer viel befahrenen Straße. Ein großes Schild mit einer Darstellung La Santa Muertes und dem Namen der Kirche ist an dem Haus angebracht. In der Einfahrt neben dem Haus parkt ein komplett mit Santa Muerte Graffitis, einer Internetadresse und einer Telefonnummer bemaltes Auto. Mit diesem Auto pendelt Lautaro, der die Kirche als profe betreibt, zwischen Los Angeles und Tijuana. Das Haus in Los Angeles beherbergt neben dem Altarraum der Kirche auch eine kleine botánica, in der es Amulette, Ketten, Figuren La Santa Muertes, Kerzen und Pulver zu kaufen gibt. Von hier aus kann man in einen weiteren Raum gelangen, in dem consultas möglich sind und in dem z.B. limpias durchgeführt werden. Das ist jedoch nicht unmittelbar ersichtlich und Einlass erhalten Besucher*innen nur dann, wenn sie eine Behandlung mit profe Lautaro in Anspruch nehmen. Messen finden einmal in der Woche Werktags am späten Nachmittag und jeden Samstag um 16 Uhr statt. An einem Samstag im November 2015 kurz vor 16 Uhr parkt wenige Meter von der Kirche entfernt eine Familie, Frau, Mann und zwei Kinder, ihr Auto. Das größere Kind läuft los, der Mann ruft ihm „warte“ hinterher, sie sammeln sich und schieben sich gemeinsam durch die geöffnete Eingangstür in den Altarraum. Es gibt zehn Bankreihen, fünf auf jeder Seite eines Mittelgangs, der zum Altar führt. Esther, die jeden Samstag hier ist, kommt mit ihren drei Kindern zwischen sechs und 15 Jahren und einer Freundin in den Altarraum. Die Erwachsenen begrüßen La Santa Muerte, indem sie sich vor ihr bekreuzigen und verbeugen, die Kinder zanken sich und alle verteilen sich auf zwei Bänke. Zwei junge Paare kommen und nehmen Platz. Sie alle, eine Frau mit ihrer Mutter, mit Klebeband ein Pentagramm geklebt, dahinter stehen zwei Stühle. In dem cuarto negro habe José, wie er berichtet, in der Vergangenheit neben trabajos und limpias auch Exorzismen durchgeführt.

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zwei Paare, drei einzelne Frauen und zwei Männer, der profe Lautaro und seine zehnjährige Tochter15 und die Forscherin sind schließlich im Raum. Ein Nachzügler kommt noch, Gerson in der Neon-Arbeitskleidung des Abschleppunternehmens, bei dem er angestellt ist. Im Gegensatz zu den Teilnehmer*innen und zu profe José in der Kirche im Süden der Stadt, trägt profe Lautaro während der Messen niemals Alltagskleidung. Er hat einen Hang zum schillernden Auftritt. Heute ist sein ganzer Körper von einem glockenförmigen blauen Umhang aus schwerem Stoff mit grünen und goldenen Stickereien umschlossen. Auf seinem Kopf trägt er eine blaue Haube mit schwarz-grün-goldener Verzierung. Zwei große Santa Muerte Amulette, ein Rosenkranz mit Jesus am Kreuz und eine Muschelkette hängen um seinen Hals. Außerdem trägt er opulenten goldenen Schmuck an einem Ohr und mehrere Ringe mit Steinen und einem Santa Muerte Schädel an seinen Fingern. Lautaro steht hinter dem Altar und befestigt ein Mikrofon hinter seinem Ohr. Er sagt: „Handys bitte ausschalten. Ich höre Interferenzen.“ Noch einmal rückt er das Mikrofon zurecht, dann tritt er dichter an den Altar und begrüßt die Anwesenden mit ausgebreiteten Armen und einem liebenswürdigen Lächeln: „Willkommen.“ Die Messe dauert etwa eine Stunde. Sie beginnt als Lautaro mit ausgebreiteten Armen ein erstes Gebet spricht. Dann tauscht er mit den Teilnehmenden Neuigkeiten aus. Er wendet sich Tagesthemen und aktuellen Nachrichten aus den USA und Mexiko zu und widmet die Messe den Opfern einer aktuellen Naturkatastrophe in Mexiko. Er hält eine Ansprache im Stil einer Lehrstunde über die limpia. Er warnt davor, leichtfertig eine limpia durchführen zu lassen und Scharlatanen zum Opfer zu fallen. Dann spricht Lautaro ein Gebet an La Santa Muerte und Gott. Je eine Sequenz spricht er vor und die Teilnehmenden wiederholen sie anschließend im Chor. Unter Anleitung Lautaros schließen die Anwesenden ihre Augen, senken die Köpfe, heben die Arme und strecken die Hände nach vorn zum Altar. La Santa Muerte wird angebetet und es werden peticiones vorgetragen, Lautaro formuliert sie und die Teilnehmenden antworten mit ihrer Wiederholung. Anschließend predigt er über die Themen Ungleichheit, Gerechtigkeit, Armut und Reichtum, indem er eine Geschichte vorliest, die er anschlie15 Lautaros Frau und Tochter sind häufig in der Kirche zugegen. Auch anhand einer Notiz aus dem Feldforschungstagebuch („als ich Lautaro nahe Tijuana besuche, sitzen wir mit seiner Frau und seiner Tochter zusammen in ihrer Küche und unterhalten uns, auch eine Nachbarin kommt vorbei.“) wird deutlich, dass die Präsenz von Lautaros Familienmitgliedern und sein Auftreten in der Kirche im Osten von Los Angeles sowie in seiner Kapelle La Santa Muertes auf seinem Grundstück nahe Tijuana, von dem zeugt, was Kristensen bezogen auf die Altäre in Tepito in Mexiko-Stadt, die „intimate family-like organization“ (Kristensen 2019: 152) der Verehrung nennt.

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ßend interpretiert. Im Stil einer weiteren Lehreinheit unterrichtet Lautaro die Teilnehmer*innen in der Durchführung eines Rituals zur Herstellung des persönlichen Schutzes durch La Santa Muerte auf Reisen. Nach einer kurzen Pause ermahnt Lautaro die Anwesenden, regelmäßig in der Bibel zu lesen und auch zu Hause, außerhalb der Messe zu beten. Daran anschließend beginnt er ein Gleichnis aus der Bibel vorzutragen, das er in eine weitere Predigt integriert. Im Anschluss werden erneut peticiones formuliert. Einige Teilnehmer*innen tragen persönliche peticiones vor und alle beten gemeinsam und bitten La Santa Muerte um die Erfüllung der jeweiligen petición. Dann geht die Messe aufs Ende zu und es wird gemeinsam gesungen. Zum Abschluss segnet Lautaro alle mit ausgebreiteten Händen. Einige Teilnehmer*innen gehen zu Lautaro vor an den Altar. Ein Mann lässt dort seine Figur La Santa Muertes von Lautaro segnen. Andere reden noch etwas miteinander und dann leert es sich schnell. Zu Beginn des Mitternachtskultes im Süden von Los Angeles erhält jede*r Teilnehmer*in von José ein Paket mit Ritualutensilien, die nach seinen Anweisungen in Stille von allen Teilnehmenden für sich selbst arrangiert und bearbeitet werden. Die Ritualutensilien umfassen: zwei Stücke Alufolie, aus denen flache Schälchen geformt werden, ein Stoffmännchen aus brennbarem Kunststoff mit einer schwarzen und einer roten Seite, eine locker gedrehte, große Zigarre, einen Holzspieß, zwei Kerzen, eine rote und eine schwarze. In die rote Kerze wird mit dem Holzspieß von oben nach unten als Text das eingeritzt, was gewünscht wird, in die Schwarze das, was nicht gewünscht wird. Die verschiedenen Gegenstände werden nach Anweisung Josés angeordnet: Die Aluschälchen nebeneinander, die beschrifteten Kerzen vor die Aluschälchen, das Stoffmännchen in eines der Schälchen und die Zigarre für später unter die Bank. Als diese Vorbereitungen abgeschlossen sind, geht José mit einer Tüte rohen Hackfleischs von Teilnehmer*in zu Teilnehmer*in und gibt jeder und jedem einen Klumpen in die linke Hand. Aus dem Fleisch werden menschliche Figuren von der Größe des Stoffmännchens (ca. 10 cm lang) geformt. Die modellierten Männchen aus Hackfleisch werden in die zweite Aluschale gelegt. Die Teilnehmer*innen können entscheiden, ob ihr Ritualaufbau ihren eigenen Schutz bewirken soll, dann sollen die Füße der beiden Männchen in den Schälchen zu ihnen zeigen oder ob Feinde angegriffen werden sollen, dann müssen die Füße der Männchen in Richtung des Pentagramms in der Mitte zeigen. José verteilt Nägel. Jede*r soll drei Nägel in das Fleischmännchen stecken: In den „Kopf“, ins „Herz“ und in die „Genitalien“.16 Es folgt eine gemeinsame Invokation La Santa Muertes, die auch 16 Das magische Ritual mit Hackfleisch und La Santa Muerte beim Mitternachtskult entspricht in Technik und Struktur weitestgehend dem, was James Georg Frazer als „homeopathic or imitative Magic“ (Frazer 1977: 15ff.) bezeichnete. Die Bearbeitung

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der Aktivierung der trabajos dient. Unter der Anleitung Josés sitzen alle Teilnehmenden mit geschlossenen Augen und auf die trabajos gerichteten, nach vorn ausgestreckten Händen im Kreis. Es herrschen drei Minuten Stille. Dann nehmen die Teilnehmer*innen die Holzstäbe in die linke Hand und zünden mit dem Feuer einer Kerze in der Mitte ihre beschrifteten Kerzen an. José trommelt unterdessen. Alle schließen ihre Augen, senken die Köpfe und strecken die Hände zu den trabajos vor sich. Es folgt über eine knappe halbe Stunde eine Invokation La Santa Muertes, während der auch peticiones formuliert werden. Anschließend gibt es eine Art Erfahrungsaustausch und gemeinsame Reflexion über die Invokation La Santa Muertes. Dann bittet José darum, aufzustehen und die Stoffmännchen, die von nun an die Feinde repräsentieren, in die linke Hand zu nehmen und zum Herzen zu führen. Die Köpfe werden gesenkt, die Augen geschlossen, die rechte Hand nach vorn Richtung der Statue La Santa Muertes ausgestreckt. José beginnt zu trommeln und ein erneuter Wechselsprechgesang beginnt. Zunächst wird nochmals La Santa Muerte angerufen, dann werden die peticiones von José ausformuliert, die Teilnehmer*innen antworten mit einer Wiederholung seiner Worte und die Augen werden geöffnet. Alle halten die Hand mit dem Stoffmännchen nach vorn und José geht herum und tränkt jedes Männchen in Alkohol oder Spiritus. Am Scheitel beginnend von oben nach unten, reiben die Teilnehmenden ihre Körper mit dem Männchen ab. Wie im Wechselsprechgesang angekündigt, reinigen sie sich mit den Männchen. Dann wird das Männchen in der linken Hand 13-mal mit der rechten Hand geschlagen und das gleiche Vorgehen andersherum wiederholt. Die Männchen werden anschließend auf den Boden geworfen. Mit dem linken Fuß wird 13-mal drauf getrampelt und dies mit dem Rechten wiederholt. Die Männchen werden zurück in die Aluschale gelegt. José geht von Teilnehmer*in zu Teilnehmer*in und fragt jede*n „Liebe oder Schutz?“, um dann je nach Antwort verschiedenfarbige Pulver auf die trabajos zu streuen. Danach dürfen die Schüsseln nicht mehr berührt werden. Alle sitzen wieder und rücken etwas von den trabajos ab. José gießt Alkohol oder Spiritus auf die Figuren in den Aluschälchen, die dann angezündet werden. Es folgt ein Wortwechsel, wobei die Augen geschlossen und die Hände zum Feuer der brennenden trabajos gestreckt sind. José geht mehrmals schnell im Kreis der Teilnehmenden umher und kippt die brennbare Flüssigkeit in die brennenden trabajos, sodass die einzelnen trabajos in einem Flammenkreis verbunden werden. Die Flammen schlagen hoch, große Wärme entsteht und beißender Rauch des Hackfleischmännchens folgt dem Gesetz der Ähnlichkeit (vgl. ebd), nachdem Gleiches Gleiches erzeugt und eine Wirkung ihrer Ursache ähnelt, sodass man durch Nachahmung eine Wirkung erzeugen kann (mit dem Nagel wird in diesem Sinne in den repräsentierten Körper eingedrungen).

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und strenger Geruch machen das Atmen schwer. Nachdem alles niedergebrannt ist, gibt es eine kurze Pause. Die Teilnehmer*innen trinken etwas Wasser, klatschen und loben José. Nachdem sich alle mit ihren Zigarren in der linken Hand dreimal vor La Santa Muerte bekreuzigt haben, werden die Zigarren geraucht. José lässt seine Zigarre einmal von Teilnehmer*in zu Teilnehmer*in reichen und raucht sie dann für die peticiones der ganzen Gruppe. Während des Rauchens schnipsen alle im Rhythmus des Einatmens mit der rechten Hand, wodurch wegen des schnellen Einatmens leichter Schwindel und teilweise leichte Übelkeit erzeugt werden. Dann werden die Zigarren im verbrannten Hackmännchen ausgedrückt und die einzelnen trabajos werden in der Alufolie zu Kugeln zusammen gedrückt, mit denen sich jede*r dreimal mit dem linken Arm vor La Santa Muerte bekreuzigt, bevor die Kugel auf dem Pentagramm und vor La Santa Muerte abgelegt wird. Die Veranstaltung ist damit beendet und löst sich langsam auf. Einige rauchen noch weitere Zigarren und schwärmen von dem Gefühl des Schwindels, das sie erfasst. Die Abfälle gelten später als unschädlich und José entsorgt sie im Hausmüll.

VERGLEICHENDE ANALYSE VON MITTERNACHTSKULT UND MESSE Anschließend an den Überblick über den Ablauf der beiden Veranstaltungen werden im Folgenden zunächst die Performances der beiden profes José und Lautaro vergleichend untersucht. Es wird deutlich, dass beide charismatisch durch die Veranstaltungen führen, wobei Lautaros Performance auch traditionale Anteile aufweist und sich seine Führerschaft auch auf Amtscharisma stützt. In beiden Veranstaltungen ergibt sich eine Art (pastorales) Arbeitsbündnis zwischen den profes und den Teilnehmenden der Veranstaltungen. Es wird weiter darum gehen, die in den Veranstaltungen herangezogenen oder hervorgebrachten Rahmen sowie die jeweilige spezifische Form der Performances herauszuarbeiten. Anschließend wird aufgezeigt, wie sich im jeweiligen Ritual eine je unterschiedliche Form der Gemeinschaft herausbildet, bevor schließlich die Inhalte und Themen der beiden Veranstaltungen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden. Es geht um die Fragen, inwiefern sich in den Ritualen die Ausgangssituationen transformieren und wie in beiden Veranstaltungen unterschiedliche Lösungen, – eine Aussicht auf Erlösung und Lösungen – für die Milieuerfahrungen und Anliegen der Teilnehmer*innen bereitgestellt werden.

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Charisma und magisches Wissen Profe José verfügt aufgrund seiner Erfahrung mit La Santa Muerte, und indem er seine besonders enge Beziehung zu ihr öffentlich darstellt, über Charisma. Die Teilnehmer*innen des Mitternachtskultes erkennen dieses Charisma an. Sie führen Josés Anweisungen aus, sodass seine Performance während des Mitternachtskults die eines charismatischen Führers ist. Den Idealtyp des charismatischen Führers entwirft Weber anhand des Begriffs des Charismas in seiner Typologie der legitimen Herrschaft. Charismatische Herrschaft kommt zustande „kraft affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben (Charisma), insbesondere: magische Fähigkeiten, Offenbarungen oder Heldentum, Macht des Geistes und der Rede“ (Weber 1988: 481). Weber versteht unter Charisma „eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit […], um derentwillen sie als mit übernatürlichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ (Weber 2010: 179, §10)

Ob jemand als ein solcher Führer gewertet wird, hängt allein davon ab, wie das Charisma des Führers „von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘, bewertet wird“ (ebd.). Die Teilnehmer*innen der Messe und des Mitternachtskultes erkennen José und Lautaro als Führer an, weil sie die charismatischen Qualitäten als solche bewerten. Sie kommen zu den Veranstaltungen und sie treten mit den profes in Interaktion. Sie hören ihren Predigten zu und folgen ihren Anweisungen. Ihre Anerkennung des Charismas ist dabei freiwillig und kann durch die andauernde Bewährung des Charismas gesichert werden. Charisma bewährt sich z.B. in Wundern oder allgemein in Zeichen, die auf die Besonderung und die Gnadengabe, also auf das Charisma, schließen lassen (vgl. ebd.: 179, §10,1.). Bei José und Lautaro sind Erzählungen der Auserwähltheit durch La Santa Muerte, übernatürliche Begabungen und Erzählungen von Erscheinungen und Offenbarungen, die Quellen ihres Charismas. Bewähren muss sich ihr Charisma jedoch fortwährend (ebd.: 179, §10,2.), wenn sie nicht als von La Santa Muerte und im Falle Lautaros auch vom Heiligen Geist verlassen gelten wollen (vgl. ebd.). „Ist ihm [dem charismatischen Führer] Erfolg versagt, so wankt seine Herrschaft.“ (Weber 1988: 484) Insofern ist gerade der Mitternachtskult, dessen Wirkung heikel ist, eine potenzielle Gefahr für die fortwährende Bewährung von Josés Charisma. Seine genaue Ritualausführung, seine Deutung des Ri-

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tualverlaufs und seine Wahrnehmung La Santa Muertes lassen sich vor diesem Hintergrund als Josés Darstellung der andauernden Bewährung seines Charismas und insofern als Aktualisierung seines Charismas deuten. Auch profe Lautaro bezieht Charisma aus seiner Beziehung zu La Santa Muerte, aber ebenso aus seiner Verbindung zum Heiligen Geist. Seine Performance bei der Messe hat neben der Darstellung von Führerschaft aufgrund seiner charismatischen Qualitäten auch einen traditionalen und amtscharismatischen Anteil, da seine Performance in einen katholischen Rahmen eingebettet ist, durch den er implizit auf das Priesteramt rekurriert. Weber meint mit traditionaler Herrschaft eine „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“ (Weber 2010: 159, §2) beruhende Legitimität. Traditionale Herrschaft wird etabliert „kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnung und Herrengewalten. […] Gehorcht wird der Person kraft ihrer durch Herkommen geheiligten Eigenwürde: aus Pietät.“ (Weber 1988: 478) Indem Lautaro sich auf die Dreifaltigkeit bezieht, seine Performance also in einen katholischen Rahmen stellt, bezieht er auch Legitimation aus dieser religiösen Tradition. Mit dem Bezug zu katholischen Rahmen hat Lautaro auch das Amtscharisma der Priester inne. Für die Performance Josés gilt dies nur eingeschränkt, da er zwar eine katholische Form, z.B. das Vor-Nachsprech-Beten, nutzt, sie aber gleichzeitig in Inversionen unterläuft,17 sodass sein Charisma doch die zentrale Kraft, in der seine Herrschaft begründet ist, bleibt. José und Lautaro haben durch ihre Kleidung und ihren Schmuck ein besonderes Äußeres. Wie alle für diese Arbeit interviewten profes sind sie auffällige 17 In der charismatischen Führerschaft Josés und Lautaros ist grundsätzlich ein Potenzial für Veränderungen angelegt. Bereits die Bildanalysen der Fotografien von Altarräumen haben ergeben, dass die Verehrung La Santa Muertes auch eine Seite der Subversion und Appropriation hat. Die charismatische Herrschaft ist in der Herrschaftstypologie Webers derjenige Herrschaftstyp mit einem besonders großen Potenzial zu Wandel und Umformung von Bestehendem. „Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der ‚ratio‘, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme und dadurch mittelbar der Einstellungen zu diesen, oder aber: durch Intellektualisierung, kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Welt‘ überhaupt bedeutet. In vorrationalistischen Epochen teilen Tradition und Charisma nahezu die Gesamtheit der Orientierungsrichtungen des Handelns unter sich auf.“ (Weber 2010: 182, §10, 5.)

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Erscheinungen,18 die unter den gewöhnlichen Anhänger*innen hervorstechen. Während ihrer Performances haben sie als Erscheinungen einen dramaturgischen Eigenwert.19 In ihrem Äußeren entsprechen sie dabei dem Geschmack des Milieus, dem sie entstammen und in dem sie als profes tätig sind. Die Tätowierungen, die in der Regel als Dank an La Santa Muerte für Vollbrachtes gestochen werden, zeugen darüber hinaus von ihrer engen, dauerhaften und intakten Beziehung zu La Santa Muerte. Insofern sind die Tattoos auf der Haut der profes auch Zeichen ihres sich bewährenden Charismas. Josés Charisma erlaubt es ihm als Führer und Vermittler zwischen der Welt La Santa Muertes und den Anwesenden aufzutreten. Während des Rituals drückt 18 Sol, die in einer botánica in Los Angeles arbeitet und Rituale mit La Santa Muerte durchführt und anleitet, hat ein Santa Muerte Tattoo auf ihrem Arm. Sie ist stark geschminkt, hat sehr lange, gefärbte Haaren, lange künstliche und pink lackierte Nägel. Profa Esmeralda aus Los Angeles hat keine sichtbaren Tattoos, trägt aber auffällige Ketten und Armbänder. Ihre langen Haare sind blondierte und ihr Gesicht ist mit einem aufwendigen Make-up versehen. Ximena aus Chihuahua trägt viel schwarze Schminke um ihre Augen und einen silbernen Ring in ihrer Lippe. Sie spricht stets leise und wirkt geheimnisvoll. Ihr Bruder Raúl kleidet sich in einem modernen Narco-Stil. Seine Cowboystiefel aus Schlangenleder oder einem Schlangenlederimitat haben lange nach oben ragende Spitzen. Er trägt Jeans mit auffälligen Nähten und gemusterte Hemden und dazu einen Gürtel mit einem mit Glitzersteinchen besetzten Colt als Gürtelschnalle. Sein Bruder Luis ist im Vergleich zu den anderen Professionellen etwas unauffälliger in enger Jeans und Hemd gekleidet. In einem Ohr trägt er einen Ohrring aus Strass. Auf seinem Whatsapp-Profilbild sieht man ihn Wange an Wange zusammen mit seinem Partner. Luis zeigt sich öffentlich als Homosexueller und auch auf diesem Bild sieht man seinen glitzernden Ohrring. 19 Für Mauss liegt in einer solchen Auffälligkeit ein zentrales Charakteristikum des Magiers: „Zum Magier sind auch bestimmte Gestalten ausersehen, die die allgemeine Aufmerksamkeit, Furcht und Feindseligkeit durch physische Besonderheiten oder auch eine außergewöhnliche Geschicklichkeit auf sich ziehen, wie die Bauchredner, die Jongleure und Taschenspieler, oder es genügt ein Gebrechen, wie bei den Buckligen, Einäugigen oder Blinden, etc. Die Gefühle, die bei ihnen durch die Behandlung hervorgerufen werden, deren Objekt sie gewöhnlich sind, und die Vorstellungen von Verfolgung oder Größe schaffen bei ihnen die Disposition, sich im Besitz spezieller Kräfte zu glauben. Vergessen wir nicht, daß alle diese Individuen, Krüppel und Ekstatiker, Nervöse und Vagabunden, in Wirklichkeit Arten sozialer Klassen bilden. Was ihnen magische Fähigkeiten verleiht, ist nicht so sehr ihr individueller physischer Charakter, als vielmehr die von der Gesellschaft ihrer ganzen Art gegenüber eingenommene Haltung.“ (Mauss 2010b: 61)

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seine Position im Raum seine Vermittlerrolle aus. Er platziert sich beweglich auf dem Kreis um das Pentagramm und übertritt im Laufe des Rituals die mit dem Klebeband abgegrenzten Bereiche. José befindet sich „auf der Schwelle“ in der Position eines Vermittlers und Mediators zwischen dem durch das Pentagramm und La Santa Muerte eingeführten und im Raum anwesenden, aber transzendenten und nicht unmittelbar Sichtbaren und den Teilnehmer*innen auf den Bänken, die mit Abstand zu dem Pentagramm und La Santa Muerte platziert sind. Die Kontrastierung der Performances von José und Lautaro macht, bezogen auf ihre räumlichen Arrangements, deutlich, dass Lautaro von den Teilnehmenden der Messe entrückter ist als José von den Teilnehmenden des Mitternachtskultes. Dies zeigt sich in seiner persönlichen Fassade und seiner Position im Raum, worin sich auch sein Amtscharisma ausdrückt. Lautaro bleibt während der gesamten Messe hinter dem Altar, zu dem die Anwesenden in einigem Abstand sitzen und hinter den sie nicht blicken können. Während José abwechselnd sitzt, steht oder zwischen den Teilnehmenden des Mitternachtskultes herumgeht, steht Lautaro während der gesamten Messe. Durch die Kappe auf seinem Kopf wirkt er zusätzlich größer und erhöht im Vergleich zu den sitzenden Teilnehmer*innen der Messe. José stellt sein Charisma, aus dem seine Führerschaft und seine Rolle als Vermittler erwachsen, während des Mitternachtskultes immer wieder dar und aktualisiert es. Nachdem die Gruppe gemeinsam unter seiner Anleitung die Invokation La Santa Muertes durchgeführt hatte, ist es José, der am besten und genauesten sagen kann, wo La Santa Muerte sich im Raum aufgehalten habe. Er kann die Erfahrungen der Teilnehmer*innen deuten und korrigieren. Ein Mann berichtet im Anschluss an die Invokation La Santa Muertes, es seien so viele Leute im Raum, dass es für ihn schwierig gewesen sei, genau zu sagen, wo La Santa Muerte umhergewandelt sei. Er habe gespürt, dass sie zuerst vom Altar heruntergestiegen und nach links gegangen sei und dann an einer Seite kurz angehalten hätte. Eine andere Frau erklärt, sie habe während der Invokation flüsternde Stimmen gehört. Als profe José daraufhin spricht, beschreibt er ausführlich und eindeutig die Wege, die La Santa Muerte in seiner Wahrnehmung im Raum zurückgelegt habe, und gleicht die Wahrnehmungen der anderen daran an. Die vermutete Wahrnehmung der Stimmen weist er zurück, denn er habe keine Stimmen gehört und er sagt schließlich, „wir haben keine Gefahr oder schlechte Energie im Raum“. Er fügt noch hinzu, er habe zu Beginn des Gebets ein gelbes Licht gesehen, das sich nach und nach verändert habe, bis es klar und weiß gewesen sei, „dann ist es zu einem weißen Tunnel geworden. der Tunnel ist etwas sehr Schönes, der Tunnel ist ein schöner Weg aus purem weiß, weiß, weiß. Und dieser Weg führt uns zu unserem letzten Ziel“. Mit dieser Erzählung konstatiert

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José, dass dem Gelingen des Rituals nichts im Wege stehe. Er stellt auf diese Weise sein Charisma und seine herausragenden Fähigkeiten als Vermittler und Mediator in enger Verbindung zu La Santa Muerte dar. Auch Lautaro stellt sich während der Messe im Osten von Los Angeles als Vermittler und ausgestattet mit den Fähigkeiten, Gott um Erlaubnis zu bitten, La Santa Muerte anzurufen und letztere schließlich im Raum willkommen zu heißen dar.20 Diese Fähigkeiten Lautaros werden während eines Gebets deutlich. Er spricht je eine Zeile vor und die Teilnehmer*innen antworten mit einer Wiederholung: Tabelle 46: Ausschnitt aus dem Transkript der Messe oh Santísima Muerte en tu nombre y con el poder de tu preciosissimo guardaña señamos toda persona hecho o conocimiento

oh Santísima Muerte in deinem Namen und mit der Macht deiner kostbaren Sense

a travez de los cuales el enemigo quere hacer daño

durch welche der Feind Schaden zufügen will

a este templo y a sus mienbros

diesem Tempel und seinen Mitgliedern

Santísima Muerte con el poder de tu preciosissimo imagen seyamos toda protestad destructora en el mundo en el cual nos movemos hoy

Santísima Muerte mit der Macht deines kostbaren Bildes

wir weisen auf jede Person hin jede Tat oder Wissen

lasst uns alle zerstörerischen Kräfte sehen in der Welt, in der wir uns heute bewegen

20 La Santa Muerte wird von Lautaro als unter der Führung Gottes gedeutet, der erst um Erlaubnis gebeten werden muss, bevor La Santa Muerte angerufen werden kann. Diese Art der Integration La Santa Muertes in einen katholischen Rahmen stellt auch Roush, basierend auf ihren Beobachtungen der rosarios, Rosenkränze, so werden die öffentlichen „Gottesdienste“ in der Alfarería Straße in Mexiko-Stadt genannt, heraus: „The opening address to God, asking for permission to pray directly to Santa Muerte, not only respects the Catholic distinction between adoration and veneration, but places the two entities in a close proximity […].“ (Roush 2014a: 141, siehe auch Pansters 2019: 26f.)

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y rompemos todo el plan del enemigo con el poder de la Santa Muerte

und wir brechen den ganzen Plan des Feindes mit der Macht der Santa Muerte

rompemos todo lo interferrente y toda accion del mal

wir zerstören alles was sich einmischt und jede Aktion des Bösen

te pedimos que envies las fuerzas celestiales

wir bitten dich zu senden die himmlischen Kräfte

guiadas por ti, Santísima Muerte

die von dir geleitet sind, Santísima Muerte

para que nos protejen y guien te alabamos y como devotos pedimos tu misericordia Niña blanca madre mía Santísima Muerte En ti confio

damit sie uns schützen und führen wir loben dich und als Anhänger bitten wir um deine Gnade Weißes Mädchen meine Mutter Santísima Muerte ich vertraue auf dich

Lautaro bekreuzigt sich und sagt, „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. ich bitte um Erlaubnis, die Santísima Muerte anzurufen“. Stille, „so sei es“. Im Anschluss an die Anrufung Santa Muertes und das Einholen der Erlaubnis Gottes, soll La Santa Muerte anwesend sein und Lautaro spricht: „Du, mit deiner schönen Gegenwart, schenkst diesem Tempel und deinen Geweihten Wohlstand und Wohlergehen. danke für deine Wohltätigkeit und willkommen, Santa Muerte“. Lautaro ist derjenige, unter dessen Anleitung und Führung Gott und La Santa Muerte angerufen werden. Er steht in herausgehobener und besonderer Verbindung zu beiden transzendenten Entitäten. Er kann mit ihnen kommunizieren und sie gegenwärtig machen. Profe Josés zeigt sich mit seiner Performance beim Mitternachtskult als derjenige, der über Charisma, die nötige Erfahrung und auch über das nötige magische Wissen verfügt, sodass das Ritual korrekt ausgeführt werden und gelingen kann. Dazu weist er alle Ritualhandlungen an und achtet penibel auf die Einhaltung der Regeln. Die Hände sollen nach dem Formen des Hackfleischmännchens nicht gereinigt, sondern nur an der Hose abgestrichen werden. José begründet, „so bleibt die Energie bei dir“. Die Kerzen werden von oben nach unten beschriftet. Ritualutensilien dürfen nur mit einer bestimmten Hand entgegengenommen werden. Die von José postulierten Regeln und formulierten Anweisungen gehen während der Erstellung und Bearbeitung der trabajos auch in die Be-

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wegungen und Körper der Teilnehmer*innen über. Diese machen eine umfassende Erfahrung, indem die Anweisungen Josés in der performativen Dimension21 des Rituals auch körperlich bzw. verkörpert wirken.22 Lautaro verfügt ebenso wie José über magisches Wissen. Bei der Messe kommt dieses Wissen jedoch praktisch nicht zum Einsatz, sondern ist Thema und Gegenstand einer Art Lehreinheit. Lautaro unterrichtet die Teilnehmer*innen in einem Gebet und Ritual, das sicheres Reisen und heile Wiederkehr sicherstellen soll. Die Teilnehmenden sollen das Ritual bei Bedarf später selbstständig an ihren Hausaltären anwenden können.23 Obgleich es also nicht um die konkrete Anwendung des Gebets im Ritual geht, möchten die Teilnehmer*innen, wie zusammen abgestimmt, das Gebet gemeinsam einüben. Sie schätzen die interaktive Dimension24 der Rituale. Lautaro erklärt zunächst, man brauche zur Ri21 Die „performative Dimension“ nach Platvoet schließt die Performativität von Sprechakten nach Austin ein, ebenso wie die Performativität symbolischer Handlungen in Übergangsritualen, die eine Veränderung im Bewusstsein des Einzelnen wie auch der Gruppe bewirken, wobei die innere Haltung der Teilnehmenden für diesen Aspekt der performativen Dimension unbedeutend ist (vgl. Platvoet 2008: 181). 22 Zu embodiment siehe Vásquez 2011, allgemein Weiss 1999 und über den konkreten Gegenstand diesen Rituals hinaus ist die Studie zu Religion und embodiment von Phil A. Mellor und Chris Shilling 2014 interessant. 23 Während der Feldforschung in Mexiko wie in den USA bestand die gleiche Praxis, wenn auch nicht als fester und regelmäßiger Bestandteil der Messen in allen Kirchen. Je nach Bedürfnissen der Teilnehmer*innen oder einfach nur so werden Gebete und Rituale vorgestellt, erklärt und geübt. In den Praxisbüchern zur Verehrung Santa Muertes gibt es eine Vielzahl solcher speziellen und okkasionelleren Gebetstexte und Ritualanleitungen. Auch auf den Santa Muerte-Kärtchen, die einige Gläubige im Portemonnaie tragen, sind solche Gebetstexte für bestimmte Anlässe abgedruckt. In der Kirche im Süden von Los Angeles hatte José während einer Messe ein Gebet gelehrt, mit dem man ungesehen an allem und wo man wolle vorbeikommen können sollte. Der Anlass war der bevorstehende Ausflug eines der regelmäßigen Besucher der Kirche nach Tijuana. Im Zuge dieser Reise sollten wahrscheinlich Waren unentdeckt zurück in die USA gebracht werden. Das Format dieser Gebete ist so offen, dass es ermöglicht, die Inhalte an akute Belange der Teilnehmer*innen und Alltagsrelevantes anzupassen. Die Gebete sind performativ und von symbolischen Handlungen begleitet, die Zustandsveränderungen, der das Ritual Ausführenden, aber ggf. auch ihrer Umwelt bewirken können. 24 Nach Platvoet haben Rituale eine „interaktive Dimension“. Das bedeutet, dass das Ritual ein „spezifischer Typus sozialen Verhaltens zwischen ansprechbaren Personen“ (Platvoet 2008: 175) ist. „Diese Dimension begrenzt das Ritual auf soziales Verhalten,

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tualausführung eine gelbe Kerze, die während des Gebets brennen sollte, und eine rote, die bei der Wiederkehr von der Reise vor einem Bild oder einer Figur La Santa Muertes angezündet werden sollte. Alle sollen ihre Augen schließen und ihre ganze Konzentration auf das Gebet richten. Lautaro spricht je eine Zeile vor und die Teilnehmer*innen antworten mit einer Wiederholung: Tabelle 47: Ausschnitt aus dem Transkript der Messe espíritu santísimo de la muerte Invoco a tu santo nombre para que me auxilies en esta empresa facilita mi curso sobre montañas valles y caminos teje los destinos de modo tal que los malévolos instintos se desvanezcan ante mí por tu poderosa protección evita Santa Muerte que los problemas crezcan y ahoguen mi corazón evita señora mía que la enfermedad abrace con sus alas mi material aleja la tragedia el dolor y la carencia esta veladora enciendo para que el brillo de tus ojos forme una muralla invisible en torno mío dame prudencia y paciencia dame, santa reina de las tinieblas fuerza

allerheiligster Geist des Todes ich rufe deinen heiligen Namen damit du mir bei diesem Unternehmen hilfst erleichtere meinen Kurs über Berge Täler und Straßen stricke die Ziele der Welt so dass die bösen Instinkte vor mir verschwinden durch deinen mächtigen Schutz vermeide Santa Muerte dass die Probleme wachsen und mein Herz ertränken vermeide meine Dam dass die Krankheit umarmt mit ihren Flügeln mein Material halte die Tragödie auf Abstand den Schmerz und den Mangel diese Kerze entzünde ich damit der Glanz deiner Augen eine unsichtbare Mauer formiere um mich herum gib mir Umsicht und Geduld gib mir, heilige Königin der Dunkelheit Stärke

das durch Lernen in Sozialisationsprozessen und als Teil einer Kultur angeeignet wird. Sie schliesst Verhalten aus, das zwangsmässig, sich ständig wiederholend, ohne kommunikative Intention und bloss triebhaft ist.“ (Ebd.)

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poder y sabiduría di a los elementos que no desaten su furia por dónde haya de atravesar cuida de mi feliz retorno que ya quiero adornar y engalanar tu morada en mi santo altar amén

Kraft und Weisheit sprich zu den Elementen dass sie ihre Wut nicht entfesseln dort wo ich hindurch muss kümmere dich um meine glückliche Rückkehr so will ich verehren und ausschmücken deine Wohnung auf meinem heiligen Altar Amen

Zusammengenommen tritt Lautaro damit während der Messe mit guten Verbindungen zur Dreifaltigkeit und La Santa Muerte als charismatischer Führer mit traditionalen und amtscharismatischen Anteilen auf. Darüber hinaus zeigt auch Lautaro sein magisches Wissen. Professionalität und Arbeitsbündnis Lautaro hält während der Messe eine Ansprache, in der er auf eine Professionalisierungsbedürftigkeit25 magischer Praxis hinweist. Auch seine eigene, quasi mit einer professionellen Ethik ausgestattete Professionalität sowie sein Expertentum drückt er dabei aus. Er warnt die Anwesenden vor Scharlatanen. Scharlatane sind seiner Ansicht nach diejenigen, die nicht über das nötige Ritual-Wissen verfügen oder ohne die Orientierung an einer professionellen Ethik handeln. Sie handelten unprofessionell, indem sie magische Behandlungsformen nicht basierend auf einer individuellen Diagnose verordneten. Gegenstand seines Plädoyers für die Professionalisierung magischer Praxis ist die limpia. Er warnt davor, leichtfertig diese rituellen Reinigungsbehandlungen durchführen zu lassen, und fragt die Teilnehmenden der Messe, wer kürzlich eine limpia habe durchführen lassen. 25 Im Folgenden wird vorgeschlagen, die Beziehung zwischen profe und Ritualteilnehmer oder -teilnehmerin als eine Art Arbeitsbündnisses zu deuten. Der Bezug zur Professionalisierungstheorie und dem Arbeitsbündnis kann an dieser Stelle jedoch nur thesenhaft formuliert werden. Um die Übertragung auf oder die Deutung der (magischen) Praxis in Anschluss an die strukturale Professionalisierungstheorie hieb und stichfest zu gestalten, bedürfte es weiterer umfangreicher Forschung hinsichtlich dieser spezifischen Fragestellung. Im Folgenden werden daher eher Analogien ausgemacht und sich der strukturalen Professionalisierungstheorie als einer Heuristik bedient.

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Eine Frau meldet sich und sagt, sie hätte eine „limpia de abre caminos“, eine limpia zur Öffnung von Wegen und neuer Möglichkeiten erhalten. Lautaro widerspricht ohne weitere Nachfrage energisch, „NEIN. wieso? Erstens, du hast ihnen nicht gesagt, was für eine limpia du benötigst. zweitens, diese Person, die die limpia durchführte, hat dich auch gar nicht gefragt. So läuft das in 95% der Fälle. Dann ist die limpia vielleicht gratis. Aber wozu? Bevor sie die limpia machen, müssen sie erstmal wissen was du benötigst. Sie müssen dich ansehen, sie müssen gucken, nachforschen. Und dann die passende limpia finden. Lass also nicht irgendeine limpia an dir durchführen, bevor du nicht weißt, was für eine limpia es ist und ob sie die Passende ist.“

Während eine professionelle magische Praxis in der Messe thematisiert wird, folgt die Performance Lautaros eher der Logik pastoralen Handelns. Beim Mitternachtskult hingegen ist eine magische Praxis live zu sehen. Die Beziehungen zwischen José und den am Mitternachtskult Teilnehmenden gestaltet sich ähnlich einem professionalisierten Arbeitsbündnis. Professionalität, Arbeitsbündnis und pastorales Handeln werden im Folgenden mit Bezug zur oevermannschen Professionalisierungstheorie (vgl. Oevermann 1996b, 2010, siehe auch Parsons 1939, 1991: 288ff.) und Volkhard Krechs Anwendung der Theorie auf den Beruf der Pfarrerin bzw. des Pfarrers (vgl. Krech 2011: 91ff.) entfaltet. Im Zentrum der Professionalisierungstheorie Oevermanns steht das Arbeitsbündnis zwischen Professioneller bzw. Professionellem und Patient*in oder Klient*in. Es dient allgemein dazu, Krisen zu bewältigen und die beschädigte Autonomie von Patient*innen oder Klient*innen gemeinsam mit Professionellen wiederherzustellen. Klassische Professionen sind Pfarrer*in, Arzt, Ärztin, Therapeut*in und die juristischen Berufe wie Anwältin und Anwalt oder Richter*in. Im Bereich der Religion stellt sich, wenn professionelle Krisenlösung in Arbeitsbündnissen erfolgen soll, anschließend an Oevermann das Problem, dass die Sinnfrage, „d.h. Kontingenzbewältigung“ (Sammet 2018: 558) „nicht stellvertretend, sondern nur persönlich gelöst werden kann“ (ebd., vgl. Oevermann 1995: 64f.). In diesem Sinne besteht die professionelle Aufgabe einer Pfarrerin bzw. eines Pfarrers darin, Welt- und Lebensdeutungen bereitzustellen. Dabei ist diese Aufgabe grundsätzlich prekär, da letzte Sinnfragen nicht stellvertretend beantwortet werden können. Sie müssen verbindlich und unverwechselbar in der konkreten Lebenspraxis beantwortet werden (vgl. Oevermann 1995: 64f.). Anschließend an Oevermann formuliert Krech, Pfarrer*innen stellten in dieser Lage „Hilfe zur Selbsthilfe“ (Krech 2011: 91) bereit, indem sie Deutungsangebote unterbreiteten (vgl. Sammet 2018: 558). Arbeitsbündnisse in medizinischen Settings hingegen

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bearbeiten keine Sinnkrisen, sondern (akute) traumatische Krisen.26 Oevermann bedient sich in seiner Skizze der Theorie professionellen Handelns zur Veranschaulichung „des Modells der psychoanalytischen Therapie und der darin erscheinenden Arzt-Patient-Beziehung als Kern-Modell professionalisierten Handelns“ (Oevermann 1996b: 115). Idealtypisch wird das Arbeitsbündnis zwischen Ärztin oder Arzt und Patient*in zunächst „gestiftet durch die Entscheidung des Patienten, sich in die Behandlung zu begeben. Konstitutiv für das Arbeitsbündnis ist also der Leidensdruck des Patienten.“ (Ebd.) Mit dem Eintritt in diese Sozialbeziehung und der Stiftung eines Arbeitsbündnisses gilt für den Patienten oder die Patientin, was Oevermann die „Grundregel“ nennt. Diese Regel „gibt dem Patienten auf, alles zu thematisieren, was ihm durch den Kopf geht und ihm einfällt, vor allem eben auch das, was er für ganz unwichtig hält und was ihm eher peinlich ist“ (ebd.: 116). Mit der Grundregel, die zu Offenheit verpflichtet, sind Patient*innen als ganze Personen in das Arbeitsbündnis eingebunden und handeln somit nicht nur rollenförmig. In Oevermanns Worten: „Die Grundregel entspricht exakt der Struktur der diffusen Sozialbeziehung. Sie fordert den Patienten auf, sich gemäß der Strukturlogik dieser Sozialbeziehung in der therapeutischen Situation zu verhalten.“ (Ebd.) Der Therapeut oder die Therapeutin bzw. der Arzt oder die Ärztin muss als anderer Part des Bündnisses die „Abstinenzregel“ (ebd.: 117, vgl. Körner 2014) einhalten, also keinen persönlichen Nutzen aus der Einhaltung der Grundregel durch die Patientin oder den Patienten ziehen. Aus dieser Ablauffigur, diesem Strukturmodell, ergibt sich, was Oevermann „die widersprüchliche Einheit von spezifischen und diffusen Beziehungsanteilen“ (Oevermann 1996b: 118) nennt: „Der Patient sucht Hilfe als Beschädigter, und der Therapeut bietet kompetente Hilfe an unter der Voraussetzung, daß er seinerseits dafür garantieren kann, daß Beschädigungen auf seiner Seite nicht ins Spiel kommen, sondern im Gegenteil: daß die Bedingungen für eine souveräne Grenzziehung zwischen den spezifischen und den diffusen Anteilen der therapeutischen Praxis jederzeit erfüllt sind.“ (Ebd.) 27 26 Zur Unterscheidung von Krisentypen siehe Oevermann 2000a: 459ff. und Pilz 2007: 111ff. 27 Eine gelungene Zusammenfassung gibt Burkhard Müller: „Ulrich Oevermann (1996 [zitiert nach Müller 2011: 1, hier Oevermann 1996b]) hat aus dieser Figur des Arbeitsbündnisses ein allgemeines, aber insbesondere auf Pädagogik bezogenes Strukturmodell professionellen Handelns entwickelt. Danach sind dem Professionellen zwei Arten von Kompetenz abverlangt, die es kunstvoll zu balancieren gilt: Zum einen die Kompetenz dem Adressaten potentiell Nützliches anzubieten: stellvertretende Deutungen der Ursachen seines Leidens, im Fall des Lehrers Bildungsangebote, oder auch

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Das auf diese Weise entworfene Arbeitsbündnis ist der Beziehung, die die Teilnehmer*innen des Mitternachtskultes im Zuge der Veranstaltung mit profe José eingehen, sehr ähnlich. Es wird mit einer Art Diagnosegespräch, zu dem die Teilnehmenden freiwillig kommen und in dem sie der Grundregel folgend ihre Anliegen vortragen, eröffnet. Daran anschließend wird mit einer Verordnung der Behandlung – hier mit der Verordnung des passenden Rituals – an der Krisenlösung gearbeitet. Beim Mitternachtskult erklärt José zu Beginn, er würde in sein Büro, das sich in einem Nebenraum zum Altarraum befände, gehen und eine*r nach der oder dem anderen solle herüberkommen. Er würde dort die Ritualutensilien aushändigen. In seinem Büro erkundigt sich José nach dem Befinden der jeweiligen Teilnehmerin und des jeweiligen Teilnehmers. Er fragt nach Gründen für das Kommen.28 Mit der Frage nach dem Befinden fordert José sein jeweiliges Gegenüber auf, als ganze Person gemäß der Logik der diffusen Sozialbeziehung zu antworten und dann den Leidensdruck bzw. Motive für die Teilnahme am culto de medianoche darzulegen. Ähnlich zur ärztlichen Sprechstunde finden in Josés Büro Diagnosegespräche statt, in denen er zunächst Einblicke in das Befinden der Teilnehmenden erhält und ihre individuellen Gründe für das Kommen erfährt, um dann unter Rückgriff auf sein magisches Wissen kompetent – hierin liegt der spezifische Anteil des Arbeitsbündnisses –, die jeweils passende trabajo zu verordnen. Diese trabajo ist analog zur adäquaten Behandlung im medizinischen Arbeitsbündnis zu verstehen. Als José im Anschluss an das Diagnosegespräch die Ritualutensilien überreicht, fordert er dazu auf, ihm die rechte Hand entgegenzustrecken. Die Regel, die Gegenstände nur mit der rechten Hand ent-

materielle Hilfen in Sozialer Arbeit. Zum andern die Kompetenz, sich dabei auf die verletzliche Seite eines Klienten oder Schulkinds oder Jugendlichen einzulassen (seine Wut, Trauer, Unwissenheit, seelische Bedürftigkeit und daraus resultierende Abhängigkeit); dies aber auf aber ‚abstinente‘ Weise zu tun, d.h. ohne solche Abhängigkeit auszunutzen.“ (Müller 2011: 1) Oevermann schreibt in diesem Zusammenhang: „Die Grundfrage ist also, ob und wie diese widersprüchliche Einheit von spezifischen und diffusen Sozialbeziehungen im pädagogischen Handeln in ein professionelles Arbeitsbündnis überführt werden kann.“ (Oevermann 1996b: 148) 28 Für diese Interaktionen in Josés Büro liegen keine Beobachtungsprotokolle zu allen Interaktionen zwischen José und den Teilnehmenden vor. Die Beobachtungsnotizen der Forscherin zu ihrem eigenen Gespräch mit José dürften jedoch verallgemeinerbar sein: „Im Büro angekommen, begrüßt José mich noch einmal, fragt, wie es mir geht und ob ich ein bestimmtes Anliegen habe. Ich bringe kein konkretes Anliegen hervor, sondern sage, ich würde generell um Schutz bitten wollen.“

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gegenzunehmen, verbürgt Josés spezifisches magisches Wissen analog zum medizinischen Wissen der Ärzt*innen. Das Befolgen der Regeln, so die implizite Botschaft, ist für das Gelingen des Rituals unabdingbar. Später erzeugen und bearbeiten die Teilnehmenden ihre trabajos selbst, aber unter der Anleitung und Supervision Josés. Im Anschluss an die Aushändigung der Ritualutensilien sollen die Teilnehmer*innen des Mitternachtskultes in Josés Büro eine Geldspende entrichten. José spricht bezüglich der Höhe der Spende keine Empfehlung aus, sondern sagt, La Santa Muerte begrüße jede ernstgemeinte Spende.29 José führt so die transzendente Figur als Empfängerin der Gabe in die Übergabe der Spende ein. Er selbst tritt als Empfänger zurück und wird zu einem Vermittler zwischen Teilnehmer*in und La Santa Muerte. Das Arbeitsbündnis, in das der oder die jeweilige Teilnehmer*in sich im Zuge des Gesprächs in Josés Büro und mit der Übergabe der Spende begibt, umfasst damit nicht nur José und die oder den Teilnehmer*in, es verbindet José, La Santa Muerte und die oder den Teilnehmer*in. In dieser Dreiecksbeziehung ist es José, der die korrekte Einbindung La Santa Muertes mit seinem spezifischen magischen Wissen und mit seinem Charisma sicherstellt. Entsprechend stellt er, indem er die Spenden in ein Kästchen legt und sie nicht etwa in sein Portemonnaie steckt, dar, die Spende sei keine Bezahlung seiner Dienste. In dieser Performance, so lässt sich mit Bezug zu Weber feststellen, wird symbolisch Josés Charisma und seine dem Charisma und seiner Professionalität entsprechende (Berufs-)Ethik dargestellt: „Reines Charisma ist wirtschaftsfremd. Es konstituiert, wo es auftritt, einen ‚Beruf‘ im emphatischen Sinn des Worts: als ‚Sendung‘ oder innere ‚Aufgabe‘. Es verschmäht und verwirft, im reinen Typus, die ökonomische Verwertung der Gnadengabe als Einkom-

29 Zur Übergabe der Spende liegt das Protokoll der Forscherin zu ihrer Interaktion mit José vor: „Bevor ich in Josés Büro gehe, erkundige ich mich bei meinen Banknachbarinnen, wie hoch die Spende sein sollte. Sie antworten, ich könnte das selbst entscheiden, und sie sagen mir nicht, wie viel sie selbst geben würden. Als ich an der Reihe bin, zu José ins Büro zu gehen, habe ich 20 Dollar in der Hand. Ich vermute, dass ein höherer Betrag als meine null bis fünf Dollar, die ich normalerweise bei den Messen spende, angemessen sein könnte. […] Als meine Spende übergebe ich José die 20 Dollar und erkläre, ich wisse nicht, wie viel angemessen sei. Er sagt, ich solle über die Höhe der Spende selbst entscheiden, jede Spende sei willkommen und ganz freiwillig, La Santa Muerte nehme jede Spende, die von Herzen komme. Er nimmt die 20 Dollar entgegen, legt sie in ein dekorativ verziertes Kästchen und bittet mich, die nächste Teilnehmerin hereinzuschicken.“

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mensquelle, – was freilich oft mehr Anforderung als Tatsache bleibt.“ (Weber 2010: 181, §10, 4.) 30 30 In diesem Zusammenhang kann sich für die profes ein Problem ergeben: Sie leben von den Spenden und finanzieren den Unterhalt der Kirchen mit den Spenden der Gläubigen. Ihre finanzielle Situation betreffende Fragen sind für die Professionellen daher potenziell kritische, denen sie in der Regel vorgreifen, indem sie zu ihrem Einkommen Stellung nehmen. So erklären die Geschwister in Chihuahua, es handele sich bei ihrer Tätigkeit mit La Santa Muerte um eine Form der Hilfe, aus der sie Zufriedenheit ziehen würden, die wichtiger sei als finanzielle Aspekte ihrer Arbeit. Die Geschwister erklären, sie würden sich bei der Durchführung von Ritualen die Ritualutensilien bezahlen lassen und würden eine kleine Entschädigung für ihre Leistungen, je nachdem wie aufwendig die jeweilige trabajo gewesen sei, berechnen. Manche Ritualutensilien können auch kostenfrei beschafft werden und an die Klient*innen verkauft werden. Während eines gemeinsamen Spaziergangs der Forscherin mit Luis ereignet sich, so die folgende Notiz aus dem Feldforschungstagebuch, das Folgende: „Luis und ich gehen in unser Gespräch vertieft nebeneinander eine Straße am Rande ihrer Siedlung am abgelegenen Rand von Chihuahua entlang. Es ist bereits dunkel, eine der wenigen Lampen der Straßenbeleuchtung erleuchtet ein Stück der beginnenden Wüste am linken Straßenrand. Plötzlich springt Luis von der Straße. Er hat einen Vogel erblickt und beginnt dem Tier nachzujagen, verschwindet in der Dunkelheit. Luis ist zu langsam. Der Vogel entkommt. Außer Atem und zurück auf der Straße erklärt er, ‚schade. dieser Vogel ist selten, sein Blut außergewöhnlich stark. das ist gut für limpias.‘ Er fügt hinzu, er habe in der kommenden Woche einen Termin, einen besonders schweren Fall. Es gehe um die Beseitigung von Geistern, die in einer Wohnung ihr Unwesen treiben würden. Das Tier hätte ihm sehr nützlich sein können.“ Profe Lautaro berichtet, er würde für die Durchführung von trabajos stets nur die Materialkosten berechnen. José geht im Interview mit der Forscherin so weit zu erklären, dass das Geld für seine Miete und die Miete der Kirche auf ungeklärte Weise bzw. durch seine Beziehung zu La Santa Muerte und deren Wirken zusammenkomme. Die Einnahmen aus den Spenden sind, wie José nahelegt, seine einzigen Einnahmen und diese könnten die Kosten nicht decken. Sol verkauft in der botánica Armbänder und Halsketten mit Amuletten, die sie anschließend umsonst segnet. Während der Feldforschung zu dieser Arbeit wurde keinen Diskussionen unter den gewöhnlichen Gläubigen über die (Un-)rechtmäßigkeit der Einkommen der profes beigewohnt. Kristensen findet jedoch unter den Gläubigen, die in Mexiko-Stadt von Professionellen betriebene Altäre oder Kirchen besuchen, eine rege Diskussion um die Einkommen der Professionellen. „The fragile balance between an economy of need (‚priests also need to dress and eat, and they suffer from sickness’) and one of greed (‚the price rose to more than 1,000 pesos’) was a recurrent issue when I spoke to devotees.“ (Kristensen 2019: 152) In

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Die Spende schafft eine Vergemeinschaftungsform der Teilnehmer*innen und Josés, die jenseits einer marktförmigen Kund*innen-Anbieterbeziehung liegt. Indem die Höhe der Geldspende den Gebenden überlassen wird, steigt auch ihre Selbstverpflichtung – analog zur Entscheidung von Patienten in medizinischen Settings, sich in Behandlung zu begeben (vgl. Oevermann 1996b: 115) –, die für Arbeitsbündnisse konstitutiv ist. Profe Lautaro zeigt sich während der Messe als theologischer Experte und ausgestattet mit Fähigkeiten zur Kommunikation und Übersetzung religiöser Inhalte, ethischer Fragen und Fragen der Lebensführung in die Sprache des Milieus, dem er selbst und die Teilnehmer*innen der Messe entstammen bzw. angehören. José verfügt ebenfalls über diese Übersetzungsfähigkeiten, jedoch stehen sie beim Mitternachtskult weniger im Mittelpunkt der Performance als bei der Messe. Lautaro spricht in seiner Predigt über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, über Armut und Reichtum. In den USA und in Mexiko seien die Gefängnisse Orte der Ungerechtigkeit. Lautaro sagt, „in unseren Ländern sitzen nicht alle Kriminellen im Gefängnis, aber auch nicht alle, die drinsitzen, sind Kriminelle“. Esther nickt; ihr Bruder ist im Gefängnis. Dann liest Lautaro die Geschichte „Wie arm wir sind“ von Paulo Coelho31 vor. Am Ende der Geschichte Coelhos Mexiko-Stadt war der 2011 festgenommene und anschließend zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Professionelle David Romo in der Wahnehmung der Gläubigen (und Forscher*innen) in ein Spannungsverhältnis zwischen legitimen und illegitimen Einkommen geraten: „It seemed hard for David Romo to be both a trustworthy Catholic padre, charging moderately in the name of the divine, and a father-like figure giving his love to his ‚children’ generously.“ (Ebd.) Auch Doña Queta, die den Altar in Tepito, Mexiko-Stadt, betreibt, sei, so Kristensen, Kritik, Misstrauen und Verdächtigungen, ob sie nicht unverhältnismäßigen persönlichen Vorteil aus ihrer Arbeit als Professionelle ziehen würde, nicht gewahr gewesen: „Devotees also widely suspected that doña Queta was benefiting economically from the cult. They found that she had bought new teeth and her children new cars. Most of this was rumor, yet she has surely benefited from the shop she put up next to the altar. Doña Queta was, from the start, acutely aware that this income was a source of envy, and this is also one of her reasons for redistributing much of it by arranging rosaries, inviting mariachis, and redressing the effigy in ever more spectacular ways. She also returns the apples given to her image (they are put in a basket next to the altar to take for free), and she has, for more than a decade, offered devotees bread and atole at the monthly rosaries. Still, it has not been enough to dispense with the suspicion that she benefits enormously.“ (Ebd.) 31 Coelho ist Schriftsteller und Autor christlich-spiritueller Romane. Die Geschichte, die Lautaro vorliest, findet sich auf Coelhos Homepage: (http://paulocoelhoblog.

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steht die Botschaft, dass wahrer Reichtum im Miteinander, in Liebe, Teilhabe und Menschlichkeit liege und nicht im Geld. In Hinblick auf Lautaros Performance als Professioneller ist es zunächst von Bedeutung, dass Lautaro den Inhalt der Geschichte kontextualisiert und an die Lebensrealität der Teilnehmer*innen der Messe in Los Angeles anpasst. Lautaro erklärt: „Cousin Pancho, der in Hollywood Partys feiert und mit seinem Geld um sich schmeißt. Das sind Menschen, die eigentlich arm sind und denen Liebe und Zuneigung am meisten fehlen.“ Im Verlauf der Messe meldet sich ein Teilnehmer mit einer theologischen Frage zu Wort. Es geht um Lautaros Bestimmung La Santa Muertes. Er fragt: „Wer genau ist der Engel, der La Santa Muerte ist?“ Lautaro stellt sich mit seiner Antwort als Professioneller und Kenner der Systematik dar: „Azrael. Der ist kein Engel, sondern Erzengel. Azrael. Azrael ist die Santísima. für uns ist der Todesengel die Santísima, das Weiße Mädchen, die Dünne. Aber biblisch gesehen, in den Religionen, ist sie der Erzengel Azrael.“32 Mit der Wortmeldung des Mannes und seiner Frage nach dem Engel, der La Santa Muerte sei, und damit einhergehend nach der genauen Position La Santa Muertes innerhalb des von Lautaro konstatierten erweiterten katholischen Rahmens, kommt es während der Messe zu einer Versicherung und Erklärung Lautaros über die Positionalität La Santa Muertes. Die Integration La Santa Muertes in den katholischen Rahmen ist damit nicht das Ergebnis gleichberechtigter Performances aller Beteiligten, sondern deutlich durch profe Lautaro bestimmt, der die Deutungen vornimmt, bereitstellt und anbietet. Zusammengenommen besteht Lautaros Professionalität als charismatischer Führer mit an das katholische Priesteramt angelehnten amtscharismatischen Anteilen auch in seiner Fähigkeit, La Santa Muertes theologisch zu com/2011/05/13/que-pobres-somos/ [Abrufdatum 21.01.2019]). Lautaro zitiert die Geschichte nicht, sodass während der Messe der Eindruck entsteht, er selbst habe sie geschrieben. Er bereitet seine Predigten auf Grundlage von Internetrecherchen vor und so zirkulieren die Gebete, die in der misa gesprochen werden, in ähnlicher Form häufig auf Websites und Blogs im Internet oder in den diversen offenen und geschlossenen Gruppen von Gläubigen La Santa Muertes auf Facebook. 32 Azrael ist biblisch nicht bezeugt. In späten nachbiblischen (mittelalterlichfrühneuzeitlichen) jüdischen und vor allem in post-koranischen arabischen Schriften ist Azrael der Todesengel. In der christlichen Tradition ist zwar der Todesengel bekannt, aber nicht der Name Azrael. (Zu Azrael siehe: Totolli 2019: 'Izra'il ('Azra'il) Es stellt sich die Frage, worin sich Lautaros Bezug zu Azrael gründet. Eine islamische Vermittlung ist mangels Kontakten und Anknüpfungspunkten Lautaros zu islamischen Traditionen und Muslimen unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist ein Bezug zu popkulturellen Verarbeitungen des Azrael.

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deuten. Beide profes können mit ihrer intimen Kenntnis des Milieus der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes Deutungen offerieren, die in diesem Milieu anschlussfähig sind. Sie können Übersetzungen in Form von Sinn-, Welt- und Lebensdeutungen bereitstellen, aber auch ganz praktische Ansätze zur Krisenbewältigung in der Sprache des Milieus formulieren. Entsprechend können ihre Ansätze, Angebote und Deutungen von den Teilnehmer*innen gehört, verstanden und umgesetzt werden.33

33 Brian W. McNeill und Joseph M. Cervantes schreiben über curanderas bzw. curanderos auf Lautaros und Josés Performances Übertragbares: „Curanderas/os are typically known individuals in the community who share their clients’ experiences, geographic location, socioeconomic status, class, language, religion, and beliefs regarding the causes of pathology. It is this shared worldview between patient and healer that explains why Mexican Americans seek help from curanderas/os and why they are effective.“ (McNeill/Cervantes 2008: xxiv) McNeill und Cervantes beziehen sich auch auf Robert T. Trotter und Juan Antonio Chavira, die ebenfalls auf die Bedeutung eines geteilten Herkunftsmilieus für die Rolle der curanderas und curanderos in diesen Milieus hinweisen (vgl. Trotter/Chavira 1997: 1f.). Konjunktive Erfahrungen, das gemeinsame Schicksal und geteilte Sozialisationserfahrungen machen die Dienste der curanderas und curanderos für ihre Klient*innen, die aus demselben Milieu wie die curanderas und curanderos stammen, besonders attraktiv auch im Vergleich zu staatlichen Gesundheitseinrichtungen: „The curandero is often a person chosen from the community, who shares the same experiences, the same language, and the same socioeconomic status as his or her patients. The curandero is highly accessible, without the intervening variables of excessive social and spatial distance that often affect the delivery of health care in the United States.“ (Ebd.) Die profes sind, verglichen mit staatlichen Gesundheitseinrichtungen oder privat zu engagierenden Therapeut*innen, besonders leicht erreichbar, ihre Angebote niedrigschwellig und eher günstig. Diejenigen, die die Professionellen in den Kirchen und botánicas der Verehrung La Santa Muertes aufsuchen, müssen nicht versichert sein, sodass ein Ritual mit La Santa Muerte auch eine kostengünstigere Alternative zu den Angeboten von Mediziner*innen und Psychotherapeut*innen sein kann. Auch diesbezüglich lassen sich Untersuchungen zur Praxis der curanderas und curanderos – für die gilt, „[n]o appointments are necessary, referrals are not often required, no burocratic forms must be filled out, and no fees for services are charged (the patient gives a donation, using his conscience as his guide)“ (ebd.: 2) – auf die Professionellen der Verehrung La Santa Muertes übertragen.

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Rahmen und Form Die Messe findet in einem Kirchenraum mit Sitzbänken und einem freibleibenden Mittelgang, der zum Altar führt, statt.34 Was den Aufbau des Altarraumes betrifft, ähnelt die Messe in der Kirche La Santa Muertes im Osten von Los Angeles in ihrem räumlichen Arrangement Messen in katholischen Kirchen. Beide Veranstaltungen weisen mit der Form des Gebets ein katholisches Format auf, mit dem die in der Regel katholisch sozialisierten Teilnehmer*innen beider Veranstaltungen vertraut sind:35 Der jeweilige profe spricht vor und die Teilnehmenden antworten in einer Wiederholung. Bei der Messe im Osten von Los Angeles sind in den katholischen Rahmen auch evangelikale Elemente integriert. Beim gemeinsamen Sprechen der Gebete begeben sich die Teilnehmer*innen in eine von Lautaro angewiesene Körperhaltung: Sie schließen die Augen, senken die Köpfe, heben die Arme und drehen die Handflächen bzw. recken die Fingerspitzen nach vorn zum Altar. Mit dieser Gebetshaltung ist der katholische Rahmen der Messe um ein evangelikales Element erweitert.36

34 Auch die Kirche im Süden von Los Angeles ist alltags so eingerichtet. Nur während des Mitternachtskults werden die Möbel des Altarraums zu dem beschriebenen Halbkreis vor dem Altar und um das Pentagramm umgebaut. 35 Ähnlich schreibt Roush über die rosarios in Tepito in Mexiko-Stadt: „The rosary form, which orders most of the event, is legible to the majority of devotees raised Roman Catholic. In Catholicism, rosaries retell moments in the life of Christ, and one is encouraged to find correspondences with moments in the lives of mortals. Each of these moments also corresponds to a divine mystery, in which the divine is experienced in earthly being. They are ‚mysteries‘ because it is impossible to explain in earthly terms how the divine makes itself felt.“ (Roush 2014a: 132f., vgl. Flores Matos 2007: 295, Pansters 2019: 26f.) Diese direkte Orientierung an Mysterien findet sich in der Messe im Osten Los Angeles nicht. In der Kirche, in der der Mitternachtskult stattfindet, wird hingegen während der regelmäßig stattfindenden Messen ein Gebetsbuch mit dem Titel „Rosario de la Santa Muerte“ (Rosenkranz La Santa Muertes) im Sprechwechsel verlesen. 36 Einige evangelikale Gruppen glauben, der Heilige Geist könne in dieser Haltung durch die Hände in den Körper einströmen „The Holy Spirit is believed actually to enter their physical bodies and fill them to overflowing with joy and power. The initial sign of this experience, described as the ‚baptism in the Holy Spirit,‘ is glossolalia, or

‚speaking in tongues,‘ interpreted as a spiritual language known only to God.“ (Grif-

fith 1997: 61) Allgemein zur Bedeutung von Körperpraxis für religiöses Bewusstsein

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Das katholische Format beider Veranstaltungen findet sich auch in der Bezeichnung und dem Format der peticiones wieder. Wie es auch während katholischer Messen und in manchen evangelikalen Gemeinschaften Praxis ist, trägt während der Messe in der Kirche La Santa Muertes eine Frau ihre petición laut vor: „Ich danke ihr für alles, was mir meine Santita gegeben hat. Für die Arbeit, die sie mir gegeben hat, und dafür, dass sie meine Kinder gerettet hat. Ich bitte auch für die Kinder, die kein Brot haben, und für die Menschen, die nichts haben.“ Alle Teilnehmer*innen sprechen im Chor; „erhöre uns und verrichte es, Santísima Muerte“. Lautaro schließt an: „Santa Muerte, wir bitten dich auch für unsere Schwester (NAME). Führe sie aus ihren Problemen. Ich bitte dich und Jesus Christus.“ Alle Teilnehmer*innen sprechen im Chor: „Erhöre uns und verrichte es, Santísima Muerte.“ Wie in katholischen Messen werden während der Messe in der Kirche La Santa Muertes Fürbitten vorgetragen, Predigten gehalten bzw. diesen gelauscht und Segnungen gespendet und empfangen. Lautaro und die Teilnehmer*innen singen auch gemeinsam. Die Lieder entstammen keinem katholischen Gesangsbuch, sondern kursieren im Internet oder sind von Lautaro selbst getextete Stücke. Es werden laminierte Zettel mit Liedtexten verteilt, und es wird laut und etwas uneins gesungen. Erst im Refrain kommt man zusammen.37 Tabelle 48: Ausschnitt aus dem Transkript der Messe […] siempre que estoy sufríendo, busco en ti tu protección

[…] immer wenn ich leide, suche ich bei dir deinen Schutz

nunca me has abandonado, tú eres el faro eres mi luz

du hast mich nie verlassen, du bist der Leuchtturm, du bist mein Licht

en mi vida cosas malas me han pasado y con pétalos de rosas alfombraste el camino que una vez perdí [Beginn des Refrains] Santísima Muerte, eres mi buena fe mi buena suerte

in meinem Leben ist mir Schlechtes passiert und mit Rosenblättern hast du den Weg geteert den ich einst verlor [Beginn des Refrains] Santísima Muerte, du bist mein guter Glaube, mein Glück

siehe Knoblauch 2012: insb. 29ff. Für eine theologische Innenperspektive siehe z.B. Zimmerling 2003. 37 Hier sind nur ein Textausschnitt und der Refrain wiedergegeben. Das ganze Lied kann man sich bei YouTube anhören: https://www.youtube.com/watch? v=iUgNm8QGQ_Q [Abrufdatum 20.12.2018].

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la rosa blanca que al verle se le entrega el corazón [Ende des Refrains, der Refrain wird wiederholt] […]

die weiße Rose der man wenn man sie sieht das Herz gibt [Ende des Refrains, der Refrain wird wiederholt] […]

Lautaro untermalt den Gesang nach einer Weile mit einer Glocke und einer Rassel. Das gemeinsame Singen schafft in der multimedialen Dimension38 des Rituals eine weitere, auch körperliche Erfahrung. Es verbindet die Singenden in eine „unvergleichlich engere Einheit und Stimmungsgemeinsamkeit“ (Simmel 2009: 123). Auch beim Mitternachtskult werden, neben der Form des Sprechwechsels, formale und inhaltliche Bezüge zum Katholizismus hergestellt. Hier werden jedoch vermehrt Inversionen vorgenommen, sodass die Praxis in ihrem Bezug zum Katholizismus als formgebender Vorlage als Inversion und gar als Subversion gedeutet werden muss. Bevor zum Abschluss des Mitternachtskultes die Zigarren geraucht werden, bekreuzigen sich alle Teilnehmer*innen mit den Zigarren in der linken Hand dreimal vor La Santa Muerte. Indem sie sich mit der linken Hand bekreuzigen, ist die Performance eine Inversion des katholischen Bekreuzigens, das mit der rechten Hand gemacht wird. Umkehrungen und Abwandlungen katholischer Rituale kommen in allen La Santa Muerte Kirchen vor, die während der Feldforschung besucht wurden. Lautaro hält beispielsweise gelegentlich eine Art von Abendmahl, wie er es nennt, ab, bei der er den Teilnehmenden Oblaten zu essen gibt, die jedoch nicht wie in katholischen Kirchen zur Eucharistie rituell bearbeitet und auf diese Weise zur Hostie werden. Er nutzt die Übergabe der Oblate stattdessen zu einer persönlichen Segnung der Teilnehmenden.39

38 Rituale haben nach Platvoet eine „multimediale Dimension“. Diese umfasst „‚Botschaften‘ und Reize, die durch ein Ritual gesendet werden […] [und] ihren Ausdruck in den zahlreichen, komplexen und vieldeutigen Symbolen“ (Platvoet 2008: 179) finden. Diese Formen sind: „[V]erbale Sprache; Gesichtsausdrücke; andere Formen von Körpersprache; […] Bekleidung; Schmuck und andere symbolische Formen der Selbstdarstellung […] wie z.B. Musik, Tanz, Trance und Theater […].“ (Ebd.) 39 Durkheim leitete aus spannungsvollen Verhältnissen zwischen Professionellen der Magie und der Religion nicht zuletzt seine Unterscheidung von Magie und Religion ab. Er stellt die rhetorische Frage: „Darf man […] sagen, daß man die Magie nicht streng von der Religion unterscheiden kann; daß die Magie ebenso voller Religion ist, wie die Religion voller Magie, und daß es folglich unmöglich ist, die eine von der anderen zu trennen und unabhängig voneinander zu definieren? Der deutliche Widerwille der Religion gegen die Magie und, umgekehrt, die Feindschaft der Magie gegen-

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Die Professionellen hegen in der Regel sogar eine Abneigung gegen die katholische Kirche. Lautaro ist der katholischen Kirche wenig wohlgesonnen. Er meint insbesondere, sie sollte La Santa Muerte offiziell anerkennen.40 José steht der katholischen Kirche ebenfalls ablehnend gegenüber. Er nennt dafür drei Gründe. Erstens stehe er ohnehin auch im Bunde mit dem Teufel. Zweitens sei die katholische Kirche seiner Ansicht nach unhaltbar, denn Priester seien Täter in Missbrauchsfällen gewesen. Drittens nehme die katholische Kirche Geld von ihren Gläubigen. Zusammengenommen lassen sich die Inversionen der katholischen Form und die offene Opposition der Professionellen auch als eine Art der Subversion und Kritik deuten.41 Der Mitternachtskult weist mehrere Elemente auf, die in verschiedenen rituellen Praxen afroamerikanischer Religionen zu finden sind: Die musikalische Gestaltung des Rituals mit dem Rhythmusinstrument Djembé-Trommel, die trabajo und ihre Bearbeitung mit Nägeln sowie das abschließende Rauchen der Zigarren erinnern an die Ritualpraxis des Voodoo und an afroamerikanische Santería Rituale (vgl. Beliso-De Jesús 2015, Brown 2003, Fernández Olmos/Paravisini-Gebert 2011, 1997). Während die Zigarren geraucht werden, schnipsen die Teilnehmer*innen mit der rechten Hand im Rhythmus ihrer Atemzüge. José erklärt, mit dem Rauch des Tabaks, – der insofern als Medium zwischen Diesseits und Jenseits genutzt wird, – solle die jeweilige petición einmal mehr zu La Santa Muerte transportiert werden und außerdem könne der Rauch eine reinigende Wirkung erzielen. Noch bevor die Zigarren geraucht werden, wird im Gebet ein Bezug zu afroamerikanischen Traditionen hergestellt: über der Religion, machen diese These schwer haltbar. Die Magie sieht eine Art Berufsvergnügen darin, die heiligen Dinge zu entweihen […]; in den Riten tut sie das Gegenteil von den religiösen Zeremonien.“ (Durkheim 1994: 70) Zur Explikation fügt Durkheim in einer Fußnote das an, was sich auch beim Mitternachtskult in Los Angeles mit seinen Inversionen der katholischen Form beobachten lässt: „Man wendet dem Altar den Rücken zu, oder man geht von links um den Altar statt von rechts.“ (Ebd.) 40 Eine ablehnende Haltung der Professionellen der Verehrung La Santa Muertes, wegen einer erfahrenen Ablehnung durch die katholische Kirche findet auch Perdigón Castañeda in Interviews mit Professionellen (Perdigón Castañeda 2008a: 75). 41 Huffschmid macht einen aggressiven Subtext der Verehrung La Santa Muertes am Beispiel eines Zusammentreffens mit einem Anhänger La Santa Muertes am Rande einer öffentlichen Messe in Mexiko-Stadt aus: „[D]ownplaying the cult’s antiCatholic potential so as not to defy ecclesiastical authorities is accompanied by a more aggressive subtext: that of a ‚war of cultures and religions,‘ as one young man commented while proudly pointing to his lower leg, tattooed with an image of a church in flames.“ (Huffschmid 2019: 130)

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Tabelle 49: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults Santísima Muerte hágame fuerte y poderoso hágame fuerte y poderosa para que por medio de estos cultos de estos rituales mi Santísima Muerte negra quede yo liberado quede yo liberada do todo daño y de todo mal hecho de mala fe o por medio de brujería Santería Palo mayombe Chamanismo o de qualquier otra identidad que daño nos pueda hacer Santísima Muerte negra que estos puros me purifiquen me sanan me protegan de todo peligro habido y pueda haber cúrame con su sagrado manto cúrame con sus sagradas alas amén

Santísima Muerte mache mich stark und mächtig (m) mache mich stark und mächtig (f) damit durch diese Kulte durch diese Rituale meine schwarze Santa Muerte ich befreit werde (m) ich befreit werde (f) von allem Schaden von allem Schlechten gemacht von schlechtem Glauben oder durch brujería [Hexerei] Santería Palo Mayombe Chamanismo oder irgendeine andere Identität die uns Schaden zufügen kann schwarze Santísima Muerte das diese Zigarren mich reinigen mich genesen mich beschützen vor aller Gefahr die es gab und die es geben kann heile mich mit Ihrem heiligen Umhang heile mich mit Ihren heiligen Flügeln Amen

Die von anderen in schlechter Absicht gesendeten Schäden und Übel sollen mit La Santa Muerte abgewehrt und geheilt werden. Afroamerikanische Religionen werden als feindliche Kulte und als mögliche Quellen dieser gesendeten Übel ebenso genannt wie Schamanismus und brujería. Der Kontext eines spirituellen borderlands und eines Lebens im religiös und kulturell pluralen Los Angeles ermöglicht es bzw. macht es für die Teilnehmenden notwendig, sich bei der Abwehr von Übeln auch auf diese Praxen und Traditionen zu beziehen.

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Herausbildung von Gemeinschaften Beim Mitternachtskult wird nach der Eröffnung unter Josés Anleitung die Anzahl der Anwesenden festgestellt. Die erste Teilnehmerin beginnt mit „eins“, der zweite sagt „zwei“ und so weiter. Mit José sind insgesamt 15 Personen anwesend, zu denen José noch La Santa Muerte (16) und San la Muerte42 (17) rechnet. Mit dem Feststellen der Anzahl der Anwesenden stellt José einerseits ein weiteres Mal die Regelhaftigkeit des Geschehens dar; andererseits hat das gemeinsame Durchzählen zu Beginn der Veranstaltung eine integrierende Wirkung auf die Teilnehmenden: Sie zählen im wörtlichen Sinne. Sie sind einzeln, aber auch zusammen als Gruppe von Individuen, derer auch La Santa Muerte und San La Muerte angehören, von Bedeutung. Der Mitternachtskult ist damit in der kollektiven Dimension43 des Rituals in einem weniger strengen Sinne kollektiv als das für die Messe gilt. Man kollektiviert sich als Gruppe der Anwesenden unter Hinzunahme der transzendenten Wesen La Santa Muerte und San La Muerte, jedoch nicht über die Gruppe der Anwesenden hinaus, etwa zu einer weiter gefassten Glaubensgemeinschaft. Das gemeinsame Durchzählen wirkt als symbolische Handlung ad intra integrierend und extern trennend, denn beim Mitternachtskult zählen nur die, die in der Situation und im Raum anwesenden sind.

42 Zur Verehrung der vorwiegend in Argentinien verehrten männlichen Todesfigur San La Muerte siehe beispielsweise Frigerio 2016, Martín 2010: 473ff. oder Carassai 2007. Die männliche Todesfigur San La Muerte ist von Argentinien ausgehend bekannt geworden. In Los Angeles haben einige botánicas San La Muerte in ihrem Sortiment und einige der Kirchen für La Santa Muerte haben ebenfalls Statuen San La Muertes aufgestellt. Eigene Kirchen für San La Muerte gibt es nicht und die Figur zog zumindest in der Kirche im Süden von Los Angeles bisher keine Argentinier*innen oder Argentinian-Americans in die Kirche. In Mexiko, so schien es während der Feldforschung, ist San La Muerte wenig bekannt. 43 Rituale haben nach Platvoet eine „kollektive Dimension“. Sie sind minimal kollektiv in dem Sinne, dass es mindestens zwei Teilnehmer*innen braucht, um ein Ritual durchzuführen. Darüber hinaus bestimmt Platvoet solche Rituale als in einem strengeren Sinne kollektiv, die unter den sichtbaren Teilnehmer*innen Akteure unterschiedlicher Art einbeziehen wie Priester oder eine Gemeinde. „[W]enn sie nämlich eine ganze Gemeinschaft einbeziehen, egal ob diese im Sinne einer säkularen oder einer religiösen Kosmologie verstanden wird. […] [D]ie Gläubigen [meinen], dass das Kollektive die sichtbaren wie auch die unsichtbaren ‚Teilnehmer‘ umfasst.“ (Platvoet 2008: 175)

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Im Zuge einer Invokation La Santa Muertes werden die Teilnehmer*innen des Mitternachtskultes „die Auserwählten“ genannt. Die Gruppe der Teilnehmenden ist somit eine exklusive:44 Tabelle 50: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults Santísima muerte queremos pedirle de todo corazón que nos abra los caminos que nos de la fortaleza que nosotros necesitamos Santísima muerte negra somos pocos los escogidos para estar esta noche con usted

Santísima Muerte wir wollen Sie bitten von ganzem Herzen dass Sie uns die Wege öffne dass Sie uns die Kraft gäbe die wir brauchen schwarze Santísima Muerte wir sind wenige die Auserwählten um heute Nacht mit Ihnen zu sein

Die Messe im Osten von Los Angeles ist in einem strengeren Sinne kollektiv als der Mitternachtskult. Das Kollektiv, auf das während der Messe rekurriert wird, ist eine transnationale Gemeinschaft von Gläubigen La Santa Muertes und Professionellen. Diese reicht über die Kirche, über Los Angeles und über die Grenze der USA hinaus nach Mexiko und befindet sich in einem Prozess der Vernetzung.45 Als Agent und treibende Kraft dieser Vernetzung wirkt profe Lautaro, der die Teilnehmer*innen der Messe in Los Angeles mit Anhänger*innen und Professionellen aus Mexiko in einen Kommunikationszusammenhang bei gegenseitiger Anteilnahme stellt. Lautaro, der gerade von einer Reise aus Mexiko wie-

44 In dieser Auserwählung liegt, neben der inkludierenden und nach außen abgrenzenden Wirkung des Rituals, symbolisch eine erhöhte Gelingenswahrscheinlichkeit des Rituals, sind die Anwesenden doch bereits zur Teilnahme vorbestimmt: Mit der Nennung der Auserwählten wird das Ritual in eine Vergangenheit verlegt, in der begründet ist, dass die Anwesenden an dem Ritual teilnehmen, weil sie dazu auserwählt wurden. 45 Solche organisationalen und transnationalen Vernetzung(-sbestrebung-)en der Verehrung La Santa Muertes sind wenig untersucht. Ein Hinweis auf ihre Verbreitung findet sich bei Kristensen bezüglich der Verehrung in Mexiko-Stadt: Eine der Professionellen dort „has connections in California, while Romo’s congregation used to have connections both in the USA and in cities elsewhere in Mexico. Moreover, leading individuals running their own centers of worship in the USA and Mexico have visited the altars in Mexico City.“ (Kristensen 2019: 154)

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dergekommen ist, überbringt den Anwesenden zu Beginn der Messe „Grüße aus Mexiko von den Brüdern und Schwestern dort“. Während die von Lautaro forcierte Vernetzung der Anhänger*innen La Santa Muertes und der Professionellen in den USA und in Mexiko fortschreitet, arbeitet Lautaro auch an der Etablierung der Kirche in der US-amerikanischen Religionslandschaft. Er versucht mit seinem Engagement das Stigma, das der Verehrung La Santa Muertes und entsprechend seiner Kirche anhaftet, aufzulösen, indem er sich um eine staatliche Anerkennung der Kirche bemüht. Im Verlauf der Messe schickt Lautaro seine Tochter einen Brief holen, der vor den Augen aller geöffnet wird. Die offizielle staatliche Anerkennung der Kirche! Eine Frau beginnt zu klatschten, die anderen stimmen ein. Die Frau fragt später, ob es möglich sei, einen offiziellen Ausweis über die Anerkennung der Kirche außen am Gebäude sichtbar aufzuhängen. Lautaro schlägt diesen Wunsch mit vielen Worten aus, er habe so ein Zertifikat nicht und der Brief sei nur für seine Akten. Ein Problem vieler Anhänger*innen, die Kirchen für La Santa Muerte besuchen, besteht in der mangelnden Anerkennung ihrer Praxis durch ihr soziales Umfeld. Miguel berichtet beispielsweise im Interview, seine Familie sähe seine Besuche der Kirche im Süden von Los Angeles nicht gern, „weil sie der schlechten Presse La Santa Muertes Glauben schenken und in der katholischen Kirche gesagt bekommen, die Verehrung La Santa Muertes sei falsch.“ Öffentliche Anerkennungen, wie die von Lautaro konstatierte, sind daher gern gehörte Botschaften. Sie vermögen ein Gegengewicht zu den negativen und stigmatisierenden Diskursen über die Verehrung La Santa Muerte und die Gläubigen zu setzten und können möglicherweise den sozialen Status der Gruppe verbessern.46

46 Mit Weber gesprochen, stellen die Existenz der Kirche La Santa Muertes und Lautaros Bestrebungen, die Kirche staatlich anerkennen zu lassen, auch Versuche der Rationalisierung (und der Legalisierung) dar. Die Rationalisierung ist ein Schritt, den Weber als typisch für solche Situationen ausmacht, in denen sich eine charismatische Herrschaft veralltäglicht. „In ihrer genuinen Form ist die charismatische Herrschaft spezifisch außeralltäglichen Charakters und stellt eine streng persönlich, an die Charisma-Geltung persönlicher Qualitäten und deren Bewährung, geknüpfte soziale Beziehung dar. Bleibt diese nun aber nicht rein ephemer, sondern nimmt sie den Charakter einer Dauerbeziehung: – ‚Gemeinde‘ von Glaubensgenossen oder Kriegern oder Jüngern […] an, so muß die charismatische Herrschaft, die sozusagen nur in statu nascendi in idealtypischer Reinheit bestand, ihren Charakter wesentlich ändern: sie wird traditionalisiert oder rationalisiert (legalisiert) oder: beides in verschiedenen Hinsichten.“ (Weber 2010: 182, §11)

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Die transnationale Gemeinschaft, die zu Beginn der Messe in der integrativen Dimension47 des Rituals hergestellt wird, verbindet die Zivilgesellschaften der beiden Nationalstaaten USA und Mexiko – auch vor dem Hintergrund der Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit – entlang der verwandtschaftlichen Beziehungen der Teilnehmenden der Messe. Als von Lautaro zu Beginn der misa Tagesthemen und aktuelle Nachrichten angesprochen werden, drückt er zunächst seine Bestürzung über Mordfälle in Mexiko aus und fragt anschließend, ob die Teilnehmer*innen Neues über die Folgen des Hurrikans, der zu dem Zeitpunkt in Mexiko für Verwüstungen gesorgt hatte, gehört hätten: „Irgendwas Neues?“ Eine Frau antwortet, sie habe kürzlich mit ihrem Bruder in Jalisco gesprochen, dort sei alles gut. Die Messe widmet Lautaro „allen Schwestern und Brüdern, die vom Hurrikan geschädigt wurden oder aus anderen Gründen in Mexiko leiden“. Er fügt hinzu, „es ist ein Unglück, dass wir uns fast nicht mehr an dort erinnern, weil es uns hier so gut geht“. Daraufhin wird gemeinsam um eine Vereinigung zu „einem einzigen Körper“ gebetet: Tabelle 51: Ausschnitt aus dem Transkript der Messe bendita y gloriosa madre ángel de la muerte unifícanos como un solo cuerpo que con nuestras manos enseñemos el amor hacía todos los demás. pero sobre todo que el día de hoy bendita y gloriosa Santa Muerte nos seguras con tu manto maternal ángel de la muerte digno servidor de dios baja esta tu iglesia y por siempre guíanos con el poder del espíritu santo amén

gesegnete und herrliche Mutter Engel des Todes vereine uns zu einem einzigen Körper damit wir mit unseren Händen Allen die Liebe zeigen aber vor allem dass am heutigen Tag gesegnete und herrliche Mutter mit deinem mütterlichen Umhang du uns beschützt Engel des Todes würdiger Diener Gottes unter dieser deiner Kirche und führe uns für immer mit der Macht des Heiligen Geistes Amen

47 In der „integrativen Dimension“ nach Platvoet wirken Rituale „intern stark integrativ und extern schwach trennend“ (Platvoet 2008: 182). Alle Dimensionen des Rituals nach Platvoet tragen in ihrem Zusammenspiel dazu bei, Menschen in Gemeinschaften und Gruppen zu integrieren.

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Profe Lautaro überträgt die regelmäßig stattfindenden Messen gelegentlich live auf YouTube. Auf diese Weise wird der Teilnehmer*innenkreis über die im Raum Anwesenden hinaus ausgeweitet.48 Für die Anwesenden in der Kirche stellen das Mikrofon, das Lautaro trägt, und eine auf den Altar gerichtete Kamera in einer Ecke des Raumes symbolisch diese Möglichkeit dar, in der Kirche anwesend und gleichzeitig Teil eines größeren Rezipient*innenkreises zu sein. Den kulturellen Hintergrund dieser Praxis bilden auch die Fernsehprediger in den USA und in Mexiko. In der Kirche im Süden von Los Angeles filmen profe José und die Teilnehmer*innen gelegentlich kürzere Sequenzen ihrer Veranstaltungen mit Mobiltelefonen und stellen die Aufnahmen in Facebook online, seltener auch auf YouTube.49 Im Zentrum des Mitternachtskultes steht die trabajo, die durch die Arbeit der jeweiligen Teilnehmerin und des jeweiligen Teilnehmers mit und an den Ritualutensilien entsteht.50 Dabei ist die trabajo durch die Person, die sie erstellt, und deren Energie und petición bestimmt.51 Obgleich die peticiones bzw. trabajos

48 Die Übertragungen dienen vermutlich auch der Anwerbung neuer Besucher*innen der Kirche. Auch wirtschaftliche Aspekte könnten in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, da Besucher*innen mit ihren Spenden zum Unterhalt der Kirche beitragen. 49 Smith stellt die Bedeutung sozialer Medien in der Verehrung La Santa Muertes hervor: „[U]nlike previous cults, La Santa Muerte benefits from social media. Blogs and Facebook pages that testify to her miraculous powers have aided her ascent.“ (Smith 2019: 82) Flores Martos unterstreicht, die Verehrung entwickle sich mit ihrer Präsenz in „forums, webpages, and Internet communities“ auch „as a ‚virtual‘ cult“ (Flores Martos 2019: 90). 50 Zum Vergleich: Joseph M. Murphy beschreibt in „Working the Spirit“ (Murphy 1994) wie in Candomblé und Santería der „spirit“ erschaffen wird: „In the language of candomblé and santería, the spirit is ‚made‘ by human action. This means that the spirit is made present by gestural metaphors, and can be localized or ‚fixed‘ into physical objects and human bodies. But it also suggests that the spirit is manufactured by human action, ‚works‘ from more basic spiritual forces into the special force or personality to be reverenced.“ (Murphy 1994: 180) Brujería in Puerto Rico beinhaltet ebenfalls die Herstellung von trabajos im Ritual. Siehe dazu Romberg 2009: 242ff. 51 Die trabajos der Teilnehmer*innen des Mitternachtskultes sind persönlich und werden nicht untereinander getauscht. Außerhalb des Mitternachtskultes ist es durchaus möglich, sich von José – und ebenso von anderen Professionellen – eine persönliche trabajos herstellen zu lassen. Dazu bedarf es häufig persönlicher Zutaten wie z.B. Haare

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der Teilnehmenden des Mitternachtskultes individuell und partikular sind, lassen sie sich doch auf gemeinsame Nenner bringen: Es geht um den Gewinn von Liebe, den Schutz vor Gefahren und Feinden sowie die Erfüllung von Bedürfnissen. Stabilität in verschiedenen zentralen Lebensbereichen, der Familie, dem Arbeitsleben und der Ausstattung mit finanziellen Ressourcen, ist ein Bedürfnis, das während der Performance des Rituals besonders häufig formuliert wird. Während der rituellen Aktivierung der trabajos und der Formulierung der peticiones geht es sowohl um das die jeweilige petición stellende „Ich“ wie auch um die gemeinsam La Santa Muerte anrufende „Wir“-Gruppe. Tabelle 52: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults con el permiso de diospadre todopoderoso Santísima Muerte negra nosotros le invocamos Santa Muerte ser de luz ser divino

mit der Erlaubnis von Gottvater dem Allmächtigen schwarze Santísima Muerte wir flehen Sie an Santa Muerte Wesen des Lichts heiliges Wesen

oder Fotografien. Den Hintergrund der generellen Nichtübertragbarkeit der trabajos bilden energetische Vorstellungen. Deutlich werden diese beispielsweise als José während des Mitternachtskultes nach der Bearbeitung rohen Hackfleisches mit den Händen die Reinigung der Hände verbietet: Nachdem jede*r das rohe, riechende, kühle und feuchte Fleisch in die Hand genommen und das Männchen geformt hat, kommt bei einigen Ekel auf. Ein Mann fragt, ob er kurz zur Toilette gehen und sich die Hände waschen könne. José ermahnt, die Hände dürften nicht gereinigt, sondern höchstens an der Kleidung abgestrichen werden – „so bleibt die Energie bei dir“, ist seine Begründung. Bei der Messe im Osten von Los Angeles spricht Lautaro im Zusammenhang seiner Lehreinheit über die limpia ebenfalls von der Bedeutung der (eigenen) Energien bei der magischen Arbeit mit La Santa Muerte. Er erklärt, um zur „Santita“ zu werden, müsse die jeweilige Figur gereinigt sein; „wenn du sie kaufst muss sie sauber sein oder sie müssen dir eine limpia durchführen. die Reinigung neuer Figuren ist sehr wichtig, weil man sich sonst die schlechten Energien irgendwelcher Leute ins Haus holt.“ Die Lehreinheit Lautaros verdeutlicht insofern, was beim Mitternachtskult in der Erstellung der individuellen trabajos praktisch verwirklicht ist: Für die magische Arbeit ist es notwendig, Energien zu kontrollieren und sich Gegenstände wie Statuen La Santa Muertes für den Ritualgebrauch zu eigenen zu machen. Analog sind auch die trabajos beim Mitternachtskult, die individuellen Zwecken dienen, eigens geschaffen.

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aquí estamos una vez más frente a usted ser iluminado

hier sind wir einmal mehr vor Ihnen erleuchtetes Wesen

Nach der gemeinsamen Invokation La Santa Muertes werden peticiones gemeinsam, aber in einer „Ich“-Form vorgetragen: Tabelle 53: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults quiero pedirle mi Santísima Muerte por todos mis enemigos por todos los peligros esta noche quiero pedirle por todas mis necesidades quiero pedirle por mi trabajo por mi estabilidad económica por mi estabilidad sentimental

ich will Sie bitten meine Santísima Muerte für alle meine Feinde für all die Gefahren diese Nacht ich will Sie bitten für alle meine Bedürfnisse ich will Sie bitten für meine Arbeit für meine Stabilität ökonomische [Stabilität] für meine Stabilität sentimentale [Stabilität]

Schließlich werden die individuellen trabajos miteinander durch Feuer verbunden. Zunächst betet man jedoch gemeinsam: Tabelle 54: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults Santísima Muerte aquí le presento este fetiche de color rojo y negro con el que yo limpié mi cuerpo ahorita se esta quemando quiero que ahí se queme toda Maldad todo Daño

Santísima Muerte hier präsentiere ich Ihnen diesen Fetisch von roter und schwarzer Farbe mit dem ich meinen Körper gereinigt habe nun brennt er ich will dass hier verbrennt alles Übel [alle Schlechtigkeit] aller Schaden

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que el me ha enviado que se rompa y se destruya que en este momento se regrese a su lugar de origen

den sie mir geschickt haben dass er kaputt geht und zerstört wird dass er in diesem Moment zurückkehrt an seinen Ursprungsort

Anschließend verbindet José die einzelnen brennenden trabajos zu einem Feuerkreis, indem er eine brennbare Flüssigkeit verspritzt.52 Die einzelnen peticiones der Anwesenden werden symbolisch erst in der Verbindung aller trabajos wirkmächtig. Zwar werden beim Mitternachtskult partikulare Belange verfolgt, jedoch wird dies im Ritual erst in der Verbindung aller trabajos möglich. Nachdem alles niedergebrannt und das Feuer erloschen ist, hebt José entsprechend hervor, das Ritual sei wegen der vielen Teilnehmenden und der vielen trabajos und peticiones „sehr stark“, also wirkmächtig gewesen. Zusammengenommen zeichnet sich die Vergemeinschaftung im Mitternachtskult dadurch aus, dass sie auf die Gruppe der Teilnehmer*innen im Raum beschränkt ist und die Gruppe der Anwesenden als exklusiven Kreis der von La Santa Muerte zur Teilnahme Auserwählten von weiteren möglichen und übergeordneten Vergemeinschaftungsform abgrenzt. Der Mitternachtskult wirkt nach innen stark integrierend und nach außen stark abgrenzend. Mit dem Mitternachtskult werden individuelle Ziele mit der Kraft der ganzen Gruppe rituell verfolgt. Dafür steht sinnbildlich das von José entzündete Feuer, das die trabajos aller Teilnehmenden verbindet und das Ritual mit seinen erhofften individuellen Wirkungen somit erst in dieser Verbindung wirkmächtig macht. Die Messe wirkt nach innen ebenfalls integrierend. Im Gegensatz zum Mitternachtskult kommt es jedoch zu einer schwachen Außenabgrenzung, da man sich in der Messe über den Kreis der Anwesenden hinaus zu einer transnationalen Gemeinschaft der

52 In Mexiko-Stadt wird bei den rosarios am Altar der Familie von Doña Queta in Tepito eine cadena de la fuerza (Roush 2014a: 135f., vgl. Pansters 2019: 27, Huffschmid 2019: 130), eine Kraftkette aus Menschen formiert, indem sich die Hunderten Anwesenden an den Händen fassen. Roush schreibt dazu, „each person present is encouraged to take the hand of the next, to form a chain through which energy can flow“ (Roush 2014a: 136). Pansters deutet nach einem Besuch der Veranstaltung: „I experienced the chain and the blessing of the images as compelling instances of devotion and community building, as well as manifestations of the cult´s self-consciousness and pride.“ (Pansters 2019: 27) Auch anschließend an diese Deutungen der Menschenkette am Altar in Tepito hat das Anzünden und Verbinden der trabajos im Feuer beim Mitternachtskult eine kollektivierende und integrative Wirkung.

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Gläubigen vergemeinschaftet. Diese Gemeinschaft nimmt Anteil an den zivilgesellschaftlichen Belangen beider Nationalstaaten, den USA und Mexiko, mit denen die Gläubigen in verwandtschaftlichen Beziehungen verbunden sind. Entsprechend sind die Anwesenden nicht nur als Individuen in die Gemeinschaft integriert, sondern mit ihren Familien, die während der Messe teilweise auch anwesend sind. Beim Mitternachtskult sind keine Kinder anwesend, man kommt allein oder als Paar. Die Vergemeinschaftungsform der Messe ist insofern weniger flüchtig als die des Mitternachtskultes, da während der Messe eine weite, der Gruppe der Anwesenden übergeordnete, an Zeiterfahrungen und über einen längeren Zeitverlauf Anteil nehmende Gemeinschaft etabliert wird. (Er-)Lösung – Predigt und trabajo Die Messe und der Mitternachtskult unterscheiden sich inhaltlich. Während beim Mitternachtskult mit der trabajo vornehmlich partikulare und individuelle, wenn auch von den Teilnehmer*innen geteilte Belange bearbeitet werden, sind es bei der Messe neben persönlichen auch grundlegendere und alle betreffende Belange der Gemeinschaft oder der transnationalen (Zivil-)Gesellschaften, die in der Predigt vorgebracht und besprochen werden. Bei beiden Veranstaltungen sind es eher (essenzielle) Bedürfnisse als Wünsche, die als Inhalte der peticiones hervorgebracht bzw. beim Mitternachtskult auch mit den trabajos bearbeitet werden. Lautaro spricht im Rahmen einer Predigt während der Messe unter der Frage „Wie arm oder wie reich sind wir?“ über die Themen Ungleichheit, Gerechtigkeit, Armut und Reichtum. Er sagt, „viele von uns haben nicht mal einen fünf Dollar Schein in der Tasche. und dann gibt es die, die viel haben und zum Spaß mit teuren Autos rumfahren oder auf ihren ranchos wie die Kakerlaken tanzen“. Ungleichheiten – etwa in Form von zur Schau gestelltem und unverhältnismäßig großem Reichtum – sind Themen seiner Predigt. Mit ihren Konklusionen ist Lautaros Predigt dabei ein Plädoyer für Haltungen der Demut und Genügsamkeit. Er ermahnt die Anwesenden dazu, solche Haltungen einzunehmen, denn wahrer Reichtum seien Dinge wie Gesundheit und Liebe, nicht aber das Monetäre und Materielle. Auch in den anderen Kirchen La Santa Muertes, die im Zuge der Feldforschung besucht wurden, sind (unverhältnismäßig großer materieller) Reichtum und die (versuchte) rituelle Erlangung von Reichtum durch peticiones und trabajos mit La Santa Muerte regelmäßig zentrale Themen der Predigten und Gespräche. Profe José proklamiert während einer anderen Veranstaltung in der Kirche im Süden von Los Angeles – wie es in ähnlicher Weise auch von den die Geschwistern in Chihuahua hervorgebracht wurde –, La Santa Muerte gebe jeder und jedem das, was er oder sie

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„wirklich“ brauche, „keinen Ferrari und keine Millionen, die einen ins Unglück stürzen können“. Es geht um moderate Wunscherfüllung und vor allem um Bedürfnisbefriedigung. In diesem Zusammenhang spielt bei vielen Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes das Thema Neid eine Rolle. Lautaro redet den Anwesenden mit seiner Predigt ins Gewissen. Mit seiner Predigt werden den Teilnehmer*innen während der Messe Sinn-, Welt- und Lebensdeutungen bereitgestellt und eine Ethik zur Lebensführung formuliert. Lautaro trägt den Anwesenden einen Bewährungsmythos vor. Er hält in seiner Predigt ein ausführliches Plädoyer für Einfachheit und „Zufriedenheit mit dem, was das Universum einem gegeben hat“. Eine seiner Botschaften ist, „egal um was ihr La Santa Muerte, Gott und das Universum bittet, tut es mit viel Glaube und ohne Neid, Hass oder Missgunst“. Man solle außerdem nicht zu sehr und zu ungeduldig bitten. Man müsse sich „in Ruhe, im Vertrauen und mit Freude an La Santa Muerte wenden“. Immer wieder ermahnt Lautaro die Anwesenden zu einer Gott und La Santa Muerte gefälligen Lebensführung. Sie sollten nicht exzessiv leben, nicht so wie der verschwenderische Cousin Pancho aus Lautaros Predigt. Bei der Messe wird La Santa Muerte diskursiv an die Bibel angeschlossen. Dabei geht es inhaltlich auch um die „Errettung des Geistes“ und „das ewige Leben“. Nach Lautaros Ansicht sollten die Anhänger*innen La Santa Muertes möglichst regelmäßig in der Bibel lesen. Die Messe transportiert zusammengenommen eine Ethik und somit symbolisch die Botschaft des Bestehens einer ethischen Ordnung, die eine Orientierung stiftende und stabilisierende Wirkung auf die Teilnehmer*innen, die sich in der Messe als Teil dieser ethischen Sozialordnung erfahren, entfaltet. Im Lichte dieser Ethik lässt sich auch die Anwesenheit von Familien mit Kindern erklären. In der Messe wird ein Kollektiv erschaffen, das eine Ordnung mit einer Ethik teilt, die es sich für die einzelnen Subjekte zu teilen lohnt und die sie entsprechend auch an ihre Kinder weitergeben möchten. Beim Mitternachtskult äußert sich José ebenfalls, – wenn auch knapp – zu Fragen individueller Lebensführung. Im Anschluss an die Invokation La Santa Muertes erklärt er, ihm sei der Gedanke in den Kopf gekommen, man dürfe sich nicht hinfallen lassen, nicht verzweifeln, sondern müsse weitergehen, egal wie groß die Probleme seien; „vorwärts“ und „pack‘s an“. Diese anspornenden Mantras gegen das Aufgeben sind unter La Santa Muertes Anhänger*innen in den USA und in Mexiko oft zu hören. Auch Lautaro hat diese Leitsprüche während der Messen in Los Angeles und nahe Tijuana vorgetragen. Als Leitsätze formulieren sie eine allgemeine Strategie zur Lebensführung, eine Ethik, die den Teilnehmenden „mitgegeben“ wird. Abgesehen von Josés vorgetragenen Leitsätze

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gegen das Aufgeben, geht es beim Mitternachtskult im Gegensatz zur Messe nicht um Fragen der Ethik und Lebensführung. Die beim Mitternachtskult verfolgten Strategien zur Erfüllung der peticiones fußen weniger auf einer Veränderung der Lebensführung der Teilnehmenden, sondern bestehen vor allem in dem Versuch La Santa Muerte rituell zu Aktivitäten zu bewegen oder die Umwelt zu beeinflussen. So wünschen José und die Teilnehmer*innen ihren Feinden im Verlauf des Mitternachtskultes zunächst den Tod. Laut rufend betet man gemeinsam: Tabelle 55: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults Santísima Muerte negra MUERTE MUERTE MUERTE MUERTE MUERTE PARA MIS ENEMIGOS MUERTE PARA MIS ENEMIGOS Santísima Muerte negra

Schwarze Santísima Muerte TOD TOD TOD TOD TOD FÜR MEINE FEINDE TOD FÜR MEINE FEINDE schwarze Santísima Muerte

Weiter soll durch das Ritual der Schutz der Teilnehmenden durch La Santa Muerte sichergestellt werden. Dazu wird beim Mitternachtskult im Zuge eines Gebets genau ausformuliert, wovor La Santa Muerte die Teilnehmenden schützen soll: Tabelle 56: Ausschnitt aus dem Transkript des Mitternachtskults mi Santísima Muerte negra con so manto sagrado cúrame protégeme de los ojos de mis enemigos de los ojos del traidor cúrame protéjeme de los ojos de la justicia cúrame protégeme de los ojos de la policía cúrame protégeme

schwarze Santísima Muerte meine mit ihrem heiligen Umhang heile mich beschütze mich vor den Augen meiner Feinde vor den Augen des Betrügers heile mich beschütze mich vor den Augen der Strafverfolgung heile mich beschütze mich vor den Augen der Polizei heile mich, beschütze mich

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de toda persona que me desea algún mal tapenle los ojos para que no vean las huellas de mis pasos que me conducen aquí a su sagrada iglesia

vor allen Personen die mir irgendein Übel wollen verdecke ihnen die Augen damit sie nicht sehen die Spuren meiner Schritte die mich lenken hierher zu Ihrer heiligen Kirche

Dem Gebet nach sollen Gefahren gebannt und gefahrvolle Situationen gemeistert werden, indem die Teilnehmer*innen Unsichtbarkeit erlangen. Die Feinde sollen in die Irre geführt werden. Dabei ist die Gefahr, die von den Feinden ausgeht, einerseits eine magische, von der man geheilt werden kann, andererseits geht es auch um eine ganz konkrete Gefahr, die die Milieuerfahrung von Anomie und Stigma zum Hintergrund hat: die Gefahr, von der Polizei53 und den Organen der Strafverfolgung verfolgt und gefasst zu werden. Die formulierte Abwehr der Polizei zeugt von einer Furcht der am culto de medianoche Teilnehmenden vor staatlicher Willkür und eigener Schutzlosigkeit angesichts staatlicher Eingriffe. Das Ritual steht damit in enger Beziehung zur Milieuerfahrung prekärer Ordnung. Die Erfüllung der jeweiligen petición liegt beim Mitternachtskult in der Auslöschung der Feinde, in ihrem Tod oder sozusagen im „Übersehen werden“ der Teilnehmer*innen und in der Erzeugung eines „Fehlers im System“, einer „Lücke“ in der Struktur der geltenden Ordnung. Die anvisierten Lösungen sind keine generellen, sondern partikulare. Man bittet im Ritual mit La Santa Muerte beim Mitternachtskult um eine Ausnahme von der Regel, um eine „Lücke im System“, durch die man hindurch schlüpfen könnte.

53 Während die Polizei in diesem Gebet im Kontext von Los Angeles als feindlich bestimmt ist und abgewehrt werden soll, erlebt Blanca Estela Bravo Lara während einer Messe in Guadalajara 2010 ein Gebet, durch das auch Polizisten der Schutz La Santa Muertes gewährleistet werden soll. Der dortige Professionelle sprach das Gebet „für die Brüder im Gefängnis, damit diejenigen, die nicht hinaus können, in Würde leben und diejenigen, die hinaus können, Freiheit erlangen können, für alle Priester, die sich der Anbetung des Heiligen Todes und seinen Anhängern widmen, damit es in den Familien Geld, Gesundheit, Liebe und Harmonie gibt [...], wir bitten für die Polizisten, Juristen und Personen im Sicherheitsdienst [...] (Messe am 22. Mai 2010)“ (Bravo Lara 2013: 26 [Übersetzung der Autorin]).

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Zusammengenommen sollen mit dem Mitternachtskult partikulare und auch von der geltenden Ordnung abweichende Entwicklungen hervorgerufen werden, aus denen sich für die Teilnehmer*innen persönliche Vorteile ergeben sollen. Als Lösungen der hinter den peticiones stehenden milieuspezifischen Erfahrungen und Handlungsprobleme sind sie in diesem Sinne keine generellen Lösungen, sondern partikulare. Auch Lomnitz schreibt, „[s]alvation in La Santa Muerte cult is no longer transcendental. It is temporary, transitory, and precarious. Being wedded to La Santa Muerte appears […] to be an act of accepting a life with some possibilities for respite, but no redemption.“ (Lomnitz 2019: 191) Eine wichtige subjektive Bedeutung der Verehrung La Santa Muertes besteht für ihre Anhänger*innenschaft vor dem Hintergrund der Milieuerfahrungen insofern in dem konkreten Nutzen, den sie aus ihrem Glauben ziehen. Wie Huffschmid es verallgemeinernd ausdrückt, sind sie weniger auf der Suche nach „origins but for social effects and functions“ (Huffschmid 2019: 114). Hingegen bietet die Messe im Osten von Los Angeles inhaltlich in größerem Umfang Generalisierbares an: Einen Bewährungsmythos, Strategien zur Lebensführung und eine Ethik. Sie bietet insofern inhaltlich eine überindividuelle Erlösung und weniger konkretistische Lösungen wie der Mitternachtskult.

Schluss und Ausblick auf eine zukünftige Verehrung La Santa Muertes

Die Anhänger*innenschaft La Santa Muertes ist durch ihre (drohende) soziale Fragmentierung entzweit, erfahrungsmäßig ist sie jedoch durch ihr Schicksal und ihre ähnlichen Sozialisationserfahrungen verbunden. US-mexikanische Zeiterfahrungen wie Erfahrungen sozialer Ungleichheit, prekärer Sicherheit oder der Urbanisierung bedingen für Gläubige La Santa Muertes vier milieuspezifische Erfahrungen. Diese anhand von verschiedenen Protokollen und Ausdrucksgestalten rekonstruierten Milieuerfahrungen sind die Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit, die Milieuerfahrung von Anomie und Stigma, die Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung und die Milieuerfahrung prekärer Ordnung. Die Figur La Santa Muerte, der um die Figur zentrierte Glaube und die religiösen Praktiken stehen zu diesen Milieuerfahrungen in einem spezifischen Passungsverhältnis. Die Milieuerfahrungen mit ihren Chancen und die Risiken bilden den sozialen Hintergrund der Verehrung. Dabei sind die einzelnen Milieuerfahrungen nicht für alle Gläubigen La Santa Muertes und nicht für alle im Rahmen dieser Forschungsarbeit interviewten Menschen in gleichem Maße signifikant. Eher bilden die geteilten Erfahrungen ein Spektrum oder sie spannen ein Feld auf, innerhalb dessen die einzelnen Gläubigen unterschiedlich positioniert sind. Die Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit ergibt sich aus der Zeiterfahrung der Urbanisierung und dem Bestehen von in Erosion befindlichen ländlichtraditionalen Familienstrukturen, die im Zuge von Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen nicht vollständig in Schutz und ökonomische Versorgung garantierende Familienstrukturen und eine übergeordnete politische Vergemeinschaftungsform übergegangen sind. Der Milieuerfahrung von Anomie und Stigma geht für die Gläubigen La Santa Muertes mit einer Einschränkung ihrer Bewährungsmöglichkeiten einher. Dies bedeutet eine erhebliche Begrenzung ihrer Möglichkeiten, ihre Lebensführung

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auch hinsichtlich einer gestaltbaren Zukunft auszurichten, langfristige Pläne zu fassen und sich bewährungslogisch zu orientieren. Die Milieuerfahrung sozialer Fragmentierung besteht in einer Erfahrung nicht realisierter Einheit des Milieus zu einer Gruppe bzw. in einer Erfahrung der Bedrohung sozialer Einheit. Deutlich wird dieser Umstand auch im Aufkommen von Hexereivorwürfen innerhalb des Milieus, in Form von Neid und Misstrauen angesichts sozialer Ungleichheit und der Konkurrenz um knappe Güter. Die Milieuerfahrung prekärer Ordnung ergibt sich aus der gleichzeitigen Existenz einer offiziellen Ordnung und inoffizieller Ordnungen. Im Kontext der USA sind es vornehmlich die marginale soziale Lage der Gläubigen La Santa Muertes und der Milieuerfahrung von Anomie und Stigma, die angesichts einer (idealtypisch) einheitlich geltenden und durchgesetzten Ordnung, die Milieuerfahrung prekärer Ordnung ausmachen. Innerhalb des mexikanischen Nationalstaats bestehen für Subjekte des Milieus Widersprüche und Spannungsverhältnisse zwischen der offiziellen Ordnung und den inoffiziellen Ordnungen, insbesondere dann, wenn sie ihre Handlungen gleichzeitig an mehreren Ordnungen orientieren müssen und ihr Zuwiderhandeln zur einen jeweils vor dem Durchsetzungsstab der anderen verbergen müssen. In solchen Situationen ergeben sich für die Gläubigen Schutzdefizite und die Gefahr sanktioniert zu werden. Die Gläubigen La Santa Muertes verfügen über spezifische Kompetenzen und Lebensstärken. Diese ergeben sich aus den Milieuerfahrungen und bestimmen das Handlungsrepertoire der Anhänger*innenschaft La Santa Muertes. Sie dürfen bei einer Bestimmung des sozialen Hintergrundes der Verehrung La Santa Muertes nicht übersehen werden. Zu den Lebensstärken zählen zunächst die mit dem mestiza consciousness einhergehende Ambiguitätstoleranz sowie die kreativen und schöpferischen Kompetenzen im Umgang mit diversen Rahmen. Außerdem haben Angehörige des Milieus die Fähigkeit sich in ihrem Milieu einzurichten und sich in diesem Rahmen auch lustvoll zu amüsieren. Ihre Bindungslosigkeit und die teilweise Abwesenheit geltender Ethiken ermöglicht ihnen dabei und darüber hinaus große Freiheiten. Dazu gehört, dass sie in der Lage sind, Chancen, wenn sie sich ergeben, und insbesondere auch dann, wenn es ethische Gründe geben könnte, sie nicht zu nutzen, dennoch zu nutzen und ihre Fähigkeiten auszuspielen. Einige von ihnen besitzen, Fernanda zeigte dies, als sie sich des Nachts in der dunklen Straße in Guadalajara verfolgt fühlte, auch ein inkorporiertes Wissen um oder ein Gespür für die Gefahren, denen sie ausgesetzt sein können. Darüber hinaus zählt zu den Lebensstärken der Gläubigen La Santa Muertes auch ein (Selbst-)Bewusstsein um die eigene Identität, mit der sie vor anderen dann entweder offen umgehen können oder die sie verbergen können.

Schluss und Ausblick | 311

Anhänger*innen La Santa Muertes (über-)leben in ihrem Milieu und können diesem Leben positiv auch etwas abgewinnen. Die gegenwärtige Verehrung La Santa Muertes steht zu den Milieuerfahrungen in einem Passungsverhältnis. La Santa Muertes und ihre Verehrung bilden für die Gläubigen eine Lösung in Hinblick auf den Umgang mit Risiken und eine Ermöglichung in Hinblick auf das Nutzen von Chancen. La Santa Muerte greift in solchen Situationen subjektiv und partikular ein, in denen die Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit Risiken bedingt. Schutzdefizite, die sich als Konsequenzen einer prekären ökonomischen Sicherung sowie fehlenden basalen Schutzes von Leib und Leben ergeben, können subjektiv und partikular in Beziehung zur Todesheiligen behoben werden. Im Zuge der vergleichenden Analyse der Veranstaltungen in Kirchen La Santa Muertes in Los Angeles wurde außerdem deutlich, dass mittels der Verehrung La Santa Muertes in Kirchen der Milieuerfahrungen basaler Bindungslosigkeit auch Formen der solidarischen Vergemeinschaftung entgegengesetzt werden können. Im Gabenaustausch zwischen La Santa Muerte und der oder dem jeweiligen Gläubigen, in Hausgemeinschaft mit der Todesheiligen, kann die Beziehung zu La Santa Muerte außerdem ähnlich familialen Beziehungen gestaltet sein. Hinsichtlich der Milieuerfahrung von Anomie und Stigma und den sich aus ihr ergebenden begrenzten Bewährungsmöglichkeiten der Anhänger*innen La Santa Muertes kann der Glaube an La Santa Muerte insbesondere dann, wenn er auch in kollektiven Formen praktiziert wird, den Eintritt in eine neue Bewährungsgemeinschaft ermöglichen. Den Stigmata, die den Gläubigen anhaften, kann mit der Verehrung La Santa Muertes in kollektiven Formen eine aus dem Milieu heraus formierte Stigmatisiertengruppe als Schutzgruppe entgegengesetzt werden. Den Professionellen der Verehrung kommt dabei eine führende Rolle zu. Wenn die Figur La Santa Muerte selbst als Stigma betrachtet wird, so erzeugt ihre öffentliche Darstellung in Kirchen, auf Straßenaltären und als Tätowierung auf der Haut ihrer Gläubigen auch eine Sichtbarkeit des Milieus, dessen emanzipative und eigene Hervorbringung und Symbol La Santa Muerte ist. Als sichtbares Symbol des Milieus kann es um die Figur La Santa Muerte zentriert auch zu Formen der Vergemeinschaftung des fragmentierten Milieus kommen. Der sozialen Fragmentierung oder der drohenden sozialen Fragmentierung, aber auch der Milieuerfahrung der Bindungslosigkeit wird bei Messen eine transnationale Gemeinschaft der Gläubigen La Santa Muertes entgegengestellt. Bei kollektiven und nicht-kollektiven Formen der Durchführung magischer Rituale wie dem Mitternachtskult geht es hingegen stärker um eine individuelle Ermächtigung und Stärkung. Letztere kann den Milieuerfahrungen der Bindungslosigkeit und der sozialen Fragmentierung im Gegensatz zu Messen folg-

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lich keine dauerhafte Gemeinschaft entgegensetzen. Der Großteil der für diese Arbeit Interviewten Anhänger*innen La Santa Muertes führt okkasionelle und individuumszentrierte Rituale mit La Santa Muerte durch und nimmt an kollektiven Messen teil. Die Unterscheidung der Veranstaltungen nach ihrem Vergemeinschaftungspotenzial fällt aufgrund dessen für diese Gläubigen zusammen. Die Verehrung La Santa Muertes schließt für einen Großteil der Gläubigen beide Formen ein, sowohl den Eintritt in eine Gemeinschaft der Gläubigen als auch individuelle, okkasionelle und konkrete Stärkung und Selbstermächtigung. Bezüglich der Milieuerfahrung prekärer Ordnung schützt La Santa Muerte zunächst subjektiv und situativ vor den Gefahren des Geltungsanspruchs sich ausschließender Ordnungen wenn Gläubige La Santa Muertes ihre Handlungen an einander widersprechenden Ordnungen ausrichten. Die Heiligenfigur La Santa Muerte findet sich in der Welt der offiziellen Ordnung ebenso wie in den Welten der inoffiziellen Ordnungen. Als Figur beider bzw. verschiedener Welten stellt sie für solche Subjekte, die sich in beiden Welten bewegen, Kontinuität her und stellt eine passende Schutzinstanz dar, weil im Bund mit La Santa Muerte subjektiv die Gesetze und Regeln der Beziehung zur Todesheiligen wirken und ethische Maßstäbe der geltenden Ordnung durch die flexibleren Maßstäbe La Santa Muertes ersetzt werden können. Grundsätzlich passt La Santa Muerte daher auch zu dem milieuspezifischen Bedarf an ethischen Maßstäben, Pietät und Anstand. Diesen Umstand verdeutlichen die Ausgestaltungen der Beziehungen der Gläubigen zu La Santa Muerte, die Inhalte ihrer peticiones und ihre Gaben an La Santa Muerte: Zigaretten, Blumen und Alkohol. Mit der religiösen Figur und ihrer Verehrung können grundsätzlich Situationen akuter Bedrohung oder Vulnerabilität subjektiv und partikular entschärft und überbrückt werden. Diese Partikularität ist ein charakteristisches Merkmal der Verehrung La Santa Muertes; insbesondere in ihren weniger kollektiven Formen. In diesen schwach-kollektiven Formen kann die Verehrung La Santa Muertes individuelle, konkrete und partikulare Entlastungen und eine Form des religiösen Beistands in akut krisenhaften und riskanten Lebenslagen leisten. Sie kann die soziale Lage der Gläubigen jedoch nicht tiefgreifend und dauerhaft transformieren, sondern hält eher einen Status Quo aufrecht. In ihren strenger kollektiven Formen, die Gemeinschaften, Ideen möglicher Lebensführung und Bewährungsmythen umfassen, ermöglicht die Verehrung La Santa Muertes hingegen eher eine grundsätzlichere Transformation der prekären und marginalisierten Lebenszusammenhänge der Gläubigen. Offen bleibt, wie sich die Verehrung La Santa Muertes zukünftig entwickeln wird. Die vorliegende Arbeit hat ergeben, dass die Verehrung sich anhand der rekonstruierten Milieuerfahrungen erklären lässt. Insofern ist zu prognostizieren,

Schluss und Ausblick | 313

dass die zukünftige Entwicklung der Verehrung sich an der Entwicklung, dem Fortbestand, dem Wachstum oder der Auflösung des Milieus der Gläubigen La Santa Muertes festmachen lassen wird. Mit seinem Fortbestehen müsste auch die Verehrung La Santa Muertes vital bleiben, mit seiner Ausweitung müsste auch La Santa Muerte mehr und mehr Anhänger*innen finden. Mit seinem Ende, d.h. mit einer Überwindung der sozialen, soziopolitischen und sozioökonomischen Zeiterfahrungen, welche die milieuspezifischen Erfahrungen, Chancen und Risiken evozieren, müsste auch die Verehrung La Santa Muertes sich auflösen. Es lässt sich die These aufstellen, dass eine Überwindung der milieuspezifischen Risiken maßgeblich auch von der Fähigkeit Angehöriger des Milieus abhängen wird, eine Form der sozialen Einheit herzustellen. Diese könnte es ermöglichen, die in dieser Arbeit herausgearbeiteten gegenwärtigen Milieuerfahrungen dauerhaft zu überwinden. La Santa Muerte eignet sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich als sichtbare und eigens von den Subjekten des Milieus hervorgebrachte Heiligenfigur, die mit ihrer großen Sichtbarkeit auch das Bestehen des Milieus anzeigt und entsprechend kollektive und um die Figur zentrierte Formen sozialer Praxis zu evozieren vermag. So schnell, wie La Santa Muerte eine wachsende Zahl von Anhänger*innen fand, dürfte eine wie auch immer geartete Überwindung der Milieuerfahrungen wohl nicht geschehen, gründen die Milieuerfahrungen doch in Generationen andauernden Verläufen und sozialstrukturell bedingten Formen der Ausschließung und Marginalisierung wie auch in politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich kaum allein aus dem Milieu heraus transformieren lassen dürften.

Notationskonvention

Der Darstellung der Ausschnitte aus den Interviews in den Tabellen liegt die folgende Notationskonvention zugrunde. I. . [4] , # ? „“ / / (SI) kursiv [1 uv] [Ort, lacht] […]

Interviewerin eine Sekunde Pause ab 4 Sekunden Pause erfolgt die Sekundenangabe als Zahl kurze Pause unter einer Sekunde Wortabbruch Frageintonation Interviewpartner*in stellt wörtliche Rede nach gleichzeitiges Sprechen Ganze Wörter in Großbuchstaben: Betonung/laut nicht ganz sicher, ob es so gesagt wurde Anzahl der Sekunden unverständlich Anmerkungen, Anonymisierungen und alternative Übersetzungen Auslassung

Literaturverzeichnis

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Abbildungsnachweise

Abbildung 1: José Guadalupe Posada. Online zugänglich über IberoAmerikanisches Institut Preußischer Kulturbesitz. https://digital.iai.spkberlin.de/viewer/image/827658834/1/ [Abrufdatum: 09.10.2020]. Abbildung 2: José Guadalupe Posada. Online zugänglich über IberoAmerikanisches Institut Preußischer Kulturbesitz. https://digital.iai.spkberlin.de/viewer/image/827732074/1/ [Abrufdatum: 09.10.2020]. Abbildung 3–27: Fotografien von Silke Müller.

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