Leben und leben lassen: Eine Kritik intellektueller Toleranz [1. Aufl.] 9783662618158, 9783662618165

Toleranz – von vielen gewünscht und oft gefordert: Von der UNESCO, vom Papst, von Angela Merkel und Barack Obama. Doch w

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German Pages IX, 153 [161] Year 2020

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Leben und leben lassen: Eine Kritik intellektueller Toleranz [1. Aufl.]
 9783662618158, 9783662618165

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Dominik Balg)....Pages 1-5
Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein? (Dominik Balg)....Pages 6-37
Toleranz und Relativismus (Dominik Balg)....Pages 38-56
Sollten wir tolerant sein? (Dominik Balg)....Pages 57-119
Allgemeine Toleranzforderungen (Dominik Balg)....Pages 120-131
Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit (Dominik Balg)....Pages 132-140
Abschließende Bewertung und Ausblick (Dominik Balg)....Pages 141-145
Back Matter ....Pages 146-153

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Dominik Balg

Leben und leben lassen Eine Kritik intellektueller Toleranz

ABHANDLUNGEN ZUR PHILOSOPHIE

Abhandlungen zur Philosophie

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Philosophie bzw. zu angrenzenden oder die Fachgrenze überschreitenden Themen. Klassische Gebiete sollen neu abgesteckt, aktuelle Felder bearbeitet und innovative Fragen formuliert und zur Diskussion gestellt werden. Wir freuen uns über Ihr Interesse und Ihren Vorschlag! Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15906

Dominik Balg

Leben und leben lassen Eine Kritik intellektueller Toleranz

Dominik Balg Universität zu Köln Köln, Deutschland Diese Arbeit ist entstanden im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Dissense in der Philosophie. Semantische und epistemologische Grundlagen“ (Projektnummer 283100111).

Abhandlungen zur Philosophie ISBN 978-3-662-61815-8 ISBN 978-3-662-61816-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Danksagung Bei der Arbeit an dieser Dissertation wurde ich von mehreren Personen unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Zunächst möchte ich Prof. Dr. Thomas Grundmann nicht nur für die hervorragende Betreuung meiner Promotion danken, sondern darüber hinaus für die unersetzliche fachliche Unterstützung und Förderung während meines gesamten Studiums. Ich hätte mir keinen besseren Lehrer wünschen können. Prof. Dr. Sven Bernecker hat mir als Zweitbetreuer stets wertvolle Ratschläge gegeben und mit hilfreichen Rückmeldungen zu einzelnen Kapiteln entscheidend zur Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen. Prof. Dr. Anne Burkard danke ich unter anderem für die sorgfältige Begutachtung des eingereichten Manuskripts, deren Ergebnisse insbesondere bei der Überarbeitung für die Veröffentlichung eine große Hilfe waren. Prof. Dr. Sanford Goldberg möchte ich ebenfalls herzlich für einige wichtige fachliche Hinweise danken. Für ihre ebenso inhaltliche wie persönliche Unterstützung und ihre Freundschaft möchte ich mich schließlich zunächst bei Jan Constantin, Steffen Koch und Karolin Meinert, aber auch bei Jan Kühl, Jakob Ohlhorst, Fabian Peter, Chris Ranalli, Carina Schleeweit, Peer Schittenhelm, Tim Steeger, Marius Waldau und Sven Wunderlich bedanken. Ohne sie wäre meine Promotionszeit weitaus weniger erträglich gewesen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Förderung meines Promotionsvorhabens. Köln, im April 2020

VII

Inhalt Vorwort.................................................................................................... IX 1. Einleitung................................................................................................ 1 2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?................................ 6 2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz................................................ 8 2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen................ 28 3. Toleranz und Relativismus................................................................. 38 3.1 Wahrheitsrelativismus......................................................................... 39 3.2 Epistemischer Relativismus................................................................. 46 4. Sollten wir tolerant sein?.................................................................... 4.1 Zwei Dimensionen epistemischer Adäquatheit...................................... 4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?..................................... 4.3 Ist eine tolerante Haltung instrumentell rational?...................................

57 57 67 97

5. Allgemeine Toleranzforderungen..................................................... 120 6. Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit....................... 132 7. Abschließende Bewertung und Ausblick........................................ 141 Literaturverzeichnis............................................................................... 146

IX

Vorwort Toleranz in Fragen von Religion, Politik und Lebensform ist vermutlich eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften der Aufklärung und eine Grundvoraussetzung der Funktionsfähigkeit moderner offener Gesellschaften. Wie sollte ohne Toleranz ein friedliches und zugleich freies Zusammenleben von Menschen mit sehr unterschiedlichen Orientierungen möglich sein? Der Altpräsident Joachim Gauck hat in seinem lesenswerten Buch „Toleranz - einfach schwer“ die Matrix einer „kämpferischen“ Toleranz ausbuchstabiert: Wir sollten die anderen respektieren und mit ihnen gemeinsam um Kompromisse ringen, solange sie die demokratischen Verfassungsrechte akzeptieren und sich selbst tolerant verhalten. Unterhalb der Ebene dieser praktischen Toleranz gibt es nun jedoch ein tieferliegendes Problem, das in der Forschung bislang fast vollständig unbeachtet blieb, obwohl es nicht weniger Relevanz für uns alle hat: Wie sollte man sich eigentlich gegenüber den Meinungen von anderen verhalten, wenn sie mit der eigenen Meinung auch nach längeren Diskussionen nicht übereinstimmen? Man könnte an seinem eigenen Standpunkt einfach dogmatisch festhalten, man könnte sich des Urteils enthalten, weil man letztlich nicht entscheiden kann, wer Recht hat, oder man könnte einfach tolerieren, dass der andere an seiner eigenen Meinung festhält, auch wenn man selbst nicht nachgibt. Diese letzte Einstellung bezeichnet Dominik Balg als Position der intellektuellen Toleranz - eine Toleranz die sich weder auf Menschen noch auf Lebensformen, sondern auf die Meinungen selbst bezieht. Dass man abweichende Meinungen, obwohl man diese für falsch hält, gleichwohl als berechtigt respektieren kann, ist eine ungeheuer verlockende Auffassung, die es offenbar auch ermöglicht, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus in den Meinungsverschiedenheiten der Lebenswelt ungehindert hindurch zu navigieren. Dominik Balg weist in seiner Studie überzeugend nach, dass die Forderung einer allgemeinen intellektuellen Toleranz, trotz ihrer anfänglichen Anziehungskraft und trotz ihrer weitgehenden Akzeptanz im Alltag, bei genauerem Hinsehen weder vernünftig noch nützlich auf dem Weg zur Wahrheit ist. Wir sollten nach Balg nicht tolerant, sondern aufgeschlossen und bescheiden auftreten, wenn wir auf hartnäckige Dissense stoßen. Dieses Ergebnis der Studie ist überraschend, augenöffnend und von höchster Aktualität für die öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten unserer Zeit. Ein mutiges, ein wichtiges, ein wunderbar leicht lesbares Buch, das ich jedem ans Herz legen möchte, der sich dafür interessiert, wie man vernünftig mit Meinungsverschiedenheiten umgehen sollte. Thomas Grundmann (Köln)

1. Einleitung Wie sollen wir auf die konfligierenden Überzeugungen anderer Menschen reagieren? Die Beantwortung dieser Frage ist angesichts aktueller gesellschaftlicher und weltpolitischer Entwicklungen so dringlich wie nie zuvor. Viele Menschen hoffen auf eine Stabilisierung und Ausbreitung der Demokratie – also einer Organisationsform gesellschaftlichen Zusammenlebens, die auf einen adäquaten Umgang mit einer Pluralität einander widersprechender Ansichten fundamental angewiesen zu sein scheint: Die populistischen Tendenzen der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, wie leicht ein unangemessener Umgang mit Andersdenkenden demokratische Strukturen untergraben und grundlegend schwächen kann. Gleichzeitig leben wir in einer Welt, die durch eine zunehmende kommunikative Vernetzung geprägt ist: Das Internet und soziale Netzwerke ermöglichen einen direkten Zugang zu einer unglaublichen Fülle an Informationen sowie einen nahezu grenzenlosen Austausch von Ideen und Meinungen. Im Zusammenhang der Frage nach der besten Reaktion auf widersprechende Überzeugungen wurde im Zuge der Aufklärung eine Idee entwickelt, die sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreut. Gemäß dieser Idee ist es wenigstens unter bestimmten Umständen am vernünftigsten, tolerant auf abweichende Auffassungen zu reagieren. Der Einfluss, den das Ideal der Toleranz zumindest in der westlichen Welt hatte und bis heute hat, ist nur schwer zu überschätzen: In einer auf der 28. Weltkonferenz der UNESCO im Jahr 1995 verabschiedeten Veröffentlichung erklärten sich die Mitgliedsstaaten als „entschlossen, alle positiven Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um den Gedanken der Toleranz in unseren Gesellschaften zu verbreiten […]“.1 In derselben Erklärung wird die Erziehung zur Toleranz als eines der vordringlichsten Bildungsziele bezeichnet und der 16. November zum Internationalen Tag für Toleranz proklamiert. Im Jahr 2011 wurde mit der Universal Tolerance Organization eine Nichtregierungsorganisation ins Leben gerufen, deren vornehmliche Aufgabe die Verbreitung einer toleranten Haltung ist. Die so offen angestrebte Etablierung des Toleranzgedankens als gesellschaftliches Ideal hat offensichtlich Erfolg: In einer von der ZEIT beauftragten Studie des infas Instituts für angewandte Sozialwissenschaft aus dem Jahr 2017 gaben mehr als die Hälfte der Befragten an: "Man sollte immer auch Meinungen tolerieren, denen man eigentlich nicht zustimmen kann."2 Angesichts der großen Beliebtheit des Toleranzideals ist es auch unter Politikern gang und gäbe, mit Forderungen nach mehr Toleranz an die Öffentlichkeit zu treten. Einige aktuelle Beispiele hierfür wären etwa Angela Merkel, die in ihrer Rede zum 500. Reformationsjubiläum im Oktober 2017 Toleranz als „die Seele Europas“ bezeichnete,3 Barack Obama, der in seiner letzten Rede vor der UNO Toleranz als 1

UNESCO 1995. Kitz 2018. 3 Bundesregierung 2017. 2

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_1

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1. Einleitung

unverzichtbaren Bestandteil einer Abkehr von Fundamentalismus und Rassismus forderte,4 oder Papst Franziskus, der in einer Rede anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro 2016 seine Hoffnung auf eine von Toleranz geprägte Welt ausdrückte.5 Der hinter Forderungen nach Toleranz stehende Wunsch nach einer Gesellschaft des friedlichen Miteinanders, in der jeder nach bestem Gewissen frei entscheiden, denken und handeln darf, ist nur allzu verständlich. Gleichzeitig ist es aber auch erstaunlich, wie wenig kontrovers Toleranzforderungen sind – denn schließlich ergeben sich schon bei einer vergleichsweise oberflächlichen Reflexion des Toleranzbegriffs einige grundlegende Fragen, die nicht ohne Weiteres zu beantworten sind. Impliziert Toleranz Ablehnung? Oder ist Toleranz lediglich das Gegenteil von Dogmatismus? Muss Toleranz immer auf Gegenseitigkeit beruhen? Und wie unterscheidet sich eine tolerante von einer gleichgültigen Haltung? Die Unklarheiten mehren sich, wenn man einen Blick auf konkrete Toleranzforderungen wirft – denn diese Forderungen unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander: Von konservativen Christen zur fordern, den Bau einer Moschee zu tolerieren, ist offensichtlich etwas anderes, als von einem Evolutionsbiologen zu fordern, die Aufnahme kreationistischer Theorien in offizielle Schullehrpläne zu tolerieren, was wiederum etwas ganz anderes ist, als von einem besorgten Vater zu fordern, die neue Frisur seiner pubertären Tochter zu tolerieren. Sollen wir Überzeugungen, Handlungen, Gewohnheiten, persönliche Vorlieben oder Personen tolerieren? Und sollen wir aufgrund ethischer, religiöser, ästhetischer oder erkenntnistheoretischer Gründe tolerant sein? Versuche, diese und andere Fragen zu beantworten, finden sich in der philosophischen Literatur. Genauso wie der moderne Begriff der Toleranz im 17. und 18. Jahrhundert maßgeblich von Philosophen entwickelt wurde, sind es auch nach wie vor Philosophen, die den Toleranzbegriff auf einer wissenschaftlichen Ebene reflektieren, interpretieren, kritisieren und modifizieren. Gleichzeitig besteht ein gewisser Kontrast zwischen dem Stellenwert, der dem Ideal der Toleranz in öffentlichen Diskursen beigemessen wird, und dem Maß an Interesse, mit dem die akademische Philosophie diesem Thema begegnet – bei der Toleranzforschung handelt es sich um ein vergleichsweise kleines Arbeitsfeld innerhalb der praktischen Philosophie. In der vorliegenden Arbeit möchte ich einen Aspekt bzw. eine Art von Toleranz näher untersuchen, die von der philosophischen Forschung bisher weitestgehend vernachlässigt wurde und die ich als intellektuelle bzw. als epistemische Toleranz bezeichnen werde. Bei epistemischer Toleranz handelt es sich um eine besondere Form der Toleranz gegenüber Meinungsverschiedenheiten, also um eine spezifische Haltung, die man angesichts widersprechender Überzeugungen anderer einnimmt. Wie genau sich diese Haltung charakterisieren lässt, und inwieweit es sich hierbei tatsächlich um eine eigene Form von Toleranz handelt, ist eine schwierige 4 5

Reilly 2016. Deutsche Presse-Agentur 2016.

1. Einleitung

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Frage, die erst im Laufe der Arbeit ausführlich beantwortet werden kann. An dieser Stelle möchte ich lediglich mit Hilfe eines Beispiels verdeutlichen, um was für eine Haltung es mir geht: Viele Menschen, die Fleisch essen, fordern von vegetarisch oder vegan lebenden Menschen eine tolerante Haltung. Um was für eine Forderung handelt es sich hierbei? Zunächst scheint hier eine bestimmte Haltung gegenüber spezifischen Überzeugungen gefordert zu werden – die verlangte Haltung ist keine Einstellung gegenüber dem Verhalten der Fleischesser, sondern gegenüber ihren Überzeugungen. Denn auch wenn wohl viele Vegetarier und Veganer letztendlich gerne das Konsumverhalten der Fleischesser verändern würden, handelt es sich bei der Haltung, die Fleischesser kritisieren, zunächst um eine rein intellektuelle Haltung. So beschweren sich Fleischesser in der Regel nicht darüber, dass Vegetarier und Veganer versuchen würden, sie direkt von ihrem Fleischkonsum abzuhalten. Hierzu hätten sie vermutlich ohnehin nicht die Möglichkeit, da der Konsum von Fleisch vollkommen legal ist und Vegetarier und Veganer dadurch schon rein rechtlich dazu gezwungen sind, den Konsum von Fleisch zu dulden. Fleischesser beschweren sich vielmehr darüber, regelmäßig in Diskussionen über die ethische Legitimität ihres Konsums verwickelt zu werden und sich ständig für ihre Überzeugung rechtfertigen zu müssen, dass der Konsum von Fleisch ethisch vertretbar ist. Gefordert wird also eine spezifische Haltung gegenüber Ansichten oder Überzeugungen. Die Argumente, die nun für diese Forderung ins Feld geführt werden, sind in der Regel auch keine moralischen, sondern erkenntnistheoretische Argumente: Die Idee ist nicht, dass es unmoralisch wäre, zu versuchen, Leute von der moralischen Verwerflichkeit von Fleischkonsum zu überzeugen, sondern vielmehr, dass dies aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive unangemessen wäre. Schließlich würden die meisten Fleischesser wohl akzeptieren, dass es nicht prinzipiell moralisch problematisch ist, die Überzeugungen anderer ändern zu wollen – und zwar auch dann, wenn es sich um sehr grundlegende Überzeugungen handelt, die eine zentrale Bedeutung für das Selbst- und Weltbild der jeweiligen Person haben. Beispielsweise wären vermutlich unabhängig von ihren Essgewohnheiten die meisten Menschen dazu bereit, Personen mit rassistischen oder sexistischen Vorurteilen von der Falschheit ihrer Ansichten zu überzeugen. Der Grund, warum viele Fleischesser es für unangemessen halten, sich ständig für ihre Überzeugungen rechtfertigen zu müssen, ist anscheinend vielmehr, dass sie davon ausgehen, dass es hinsichtlich der Frage nach der ethischen Legitimität von Fleischkonsum verschiedene, gleichermaßen vernünftige Sichtweisen gibt. Die den Vegetariern und Veganern vorgeworfene Intoleranz ist also eine erkenntnistheoretische Form der Intoleranz: Die Idee ist, dass Vegetarier und Veganer unzulässigerweise ihre eigene Sichtweise für die einzig gültige halten und dabei ignorieren, dass es auch noch andere Sichtweisen gibt, die ihrerseits gerechtfertigt sind. Selbst wenn man das Beispiel des intoleranten Veganers in diesem Zusammenhang wenig überzeugend findet, werden solche rein erkenntnistheoretische Formen der Intoleranz oft kritisiert. Vor allem wenn es um politische, religiöse, welt-

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1. Einleitung

anschauliche oder ethische Themen geht, sind viele Leute der Ansicht, dass es bezüglich dieser Themen eine Vielzahl einander widersprechender, aber gleichermaßen gerechtfertigter Sichtweisen gibt, und dass die angemessene Haltung angesichts eines solchen Pluralismus eine tolerante Haltung ist. Der dieser Überlegung zugrundeliegende Gedanke ist, dass wir respektieren sollten, dass andere Menschen vernünftigerweise zu anderen Überzeugungen kommen können als wir selbst, und dass wir aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive nicht berechtigt sind, unsere eigenen Ansichten als die einzig gültigen anzusehen und anderen Menschen aufzudrängen. Eine tolerante Haltung in genau diesem Sinne, also im Sinne einer genuin erkenntnistheoretisch motivierten Haltung gegenüber fremden Überzeugungen, ist der Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Frage ist, ob und unter welchen Umständen intellektuelle bzw. epistemische Toleranz in dem soeben skizzierten Sinne eine epistemisch angemessene Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten sein kann. Um diese Frage zu beantworten, werde ich zunächst im zweiten Kapitel eine genauere Charakterisierung epistemischer Toleranz entwickeln. Dabei sollen insbesondere drei Fragen berücksichtigt werden: Erstens soll geklärt werden, was es genau bedeutet, epistemisch tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren, und inwiefern es sich bei epistemischer Toleranz um eine genuin intellektuelle bzw. erkenntnistheoretische Haltung handelt. Zweitens soll untersucht werden, ob es sich bei epistemischer Toleranz tatsächlich um eine Form von Toleranz im wörtlichen Sinne handelt, oder ob diese Bezeichnung eher im übertragenen Sinne zu verstehen ist. Und drittens soll plausibilisiert werden, dass es sich bei epistemischer Toleranz in dem von mir verstandenen Sinne in jedem Fall um eine Haltung handelt, die sowohl für philosophische Diskurse als auch für unsere alltägliche intellektuelle Praxis von großer Bedeutung ist und deren kritische Bewertung somit auch unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um eine tolerante Haltung im wörtlichen Sinne handelt, relevant ist. Im dritten Kapitel werde ich dann näher auf den Zusammenhang zwischen Forderungen nach epistemischer Toleranz und relativistischen Annahmen über Wahrheit und Rechtfertigung eingehen. Genauso wie im Falle ethischer Toleranz liegt auch bei epistemischer Toleranz die Vermutung nahe, dass Toleranzforderungen nur vor dem Hintergrund spezifischer theoretischer Annahmen sinnvoll sind. Ich werde jedoch dafür argumentieren, dass es keine problematischen Zusammenhänge zwischen Forderungen nach epistemischer Toleranz und relativistischen Annahmen über Wahrheit und Rechtfertigung gibt, und dass Toleranzforderungen in diesem Sinne theoretisch weitestgehend neutral sind. Im vierten Kapitel soll eine epistemisch tolerante Haltung dann einer umfassenden kritischen Bewertung unterzogen werden. Die leitende Frage hinter dieser Bewertung wird sein, ob bzw. unter welchen Umständen eine epistemisch tolerante Haltung als Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit epistemisch angemessen ist. Um diese Frage zu beantworten, werde ich als erstes darauf eingehen, was es überhaupt bedeutet, zu sagen, dass eine intellektuelle Haltung epistemisch angemes-

1. Einleitung

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sen ist. Konkret werde ich dafür argumentieren, dass es mit epistemischer Rationalität und instrumenteller Rationalität hinsichtlich unserer epistemischen Ziele zwei voneinander unabhängige Dimensionen der Rationalität gibt, die für die erkenntnistheoretische Bewertung intellektueller Haltungen gleichermaßen relevant sind. Anschließend daran werde ich zunächst die epistemische Rationalität intellektueller Toleranz genauer untersuchen. Genauer gesagt werde ich mich der Sorge widmen, dass eine tolerante Haltung aufgrund inhärenter Spannungen notwendigerweise epistemisch irrational ist. Dabei werde ich drei verschiedene Argumente für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung nacheinander diskutieren und zurückweisen. Dementsprechend werde ich dafür argumentieren, dass eine epistemisch tolerante Haltung nicht notwendigerweise epistemisch irrational ist. Im letzten Abschnitt des vierten Kapitels werde ich schließlich diskutieren, inwieweit eine epistemisch tolerante Haltung instrumentell rational hinsichtlich unserer epistemischen Ziele ist. Hier werde ich dafür argumentieren, dass eine epistemisch tolerante Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten zwar unter Umständen durchaus epistemisch vorteilhaft sein kann, dass diese Umstände jedoch gleichzeitig äußerst spezifisch zu sein scheinen. Im fünften Kapitel werde ich daran anschließend untersuchen, wie plausibel allgemeine Toleranzforderungen in spezifischen Domänen sind. Dabei werde ich mich beispielhaft auf die Domäne der Wissenschaft konzentrieren. In der Wissenschaftstheorie gibt es viele Autoren, die davon ausgehen, dass es im Bereich der Wissenschaft grundsätzlich angemessen ist, epistemisch tolerant auf Meinungsverschiedenheiten zu reagieren. Diese Annahme soll vor dem Hintergrund der Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels kritisch diskutiert werden. Im Zuge dieser Diskussion wird auch auf einer grundsätzlichen Ebene deutlich werden, welche Fragen beantwortet werden müssen, um über die Plausibilität allgemeiner Toleranzforderungen entscheiden zu können. Im sechsten Kapitel sollen dann Alternativen zu einer epistemisch toleranten Haltung vorgestellt und diskutiert werden. Konkret werde ich dafür argumentieren, dass es mit epistemischer Aufgeschlossenheit und epistemischer Bescheidenheit zwei in der erkenntnistheoretischen Forschung bereits ausführlich diskutierte Haltungen gibt, die vielversprechende Alternativen zu einer Haltung intellektueller Toleranz darstellen, und die sich im Gegensatz zu einer toleranten Haltung auch problemlos auf einer allgemeinen Ebene fordern lassen. Im siebten und letzten Kapitel werde ich schließlich die Ergebnisse der vorangegangenen Argumentation zusammenfassen und so zu einer abschließenden Bewertung intellektueller Toleranz kommen. Darüber hinaus werde ich die Implikationen einer solchen Bewertung für verschiedene Bereiche philosophischer Forschung skizzieren und mögliche Anknüpfungspunkte diskutieren.

2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein? In diesem Kapitel möchte ich untersuchen, was es genau bedeutet, epistemisch tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren. Wie lässt sich die eingangs skizzierte Haltung auf einer allgemeinen Ebene charakterisieren? Eine erste in diesem Zusammenhang relevante Frage ist, inwiefern die Bezeichnung dieser Haltung als tolerant überhaupt angemessen ist. Denn bei Toleranz, so scheint es, handelt es sich um keine intellektuelle, sondern vielmehr um eine ethische bzw. politische Haltung. Die tiefe Verwurzelung des Toleranzbegriffs in praktischen Diskursbereichen wird besonders deutlich, wenn man sich die Entstehungsgeschichte der Toleranzidee vor Augen führt.6 So stand von den frühesten Diskussionen um Toleranz an die Frage nach der Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanders verschiedener Religionen klar im Vordergrund. Auch sämtliche Autoren, die als Gründerväter der modernen Debatte um Toleranz angesehen werden können, wie etwa Baruch de Spinoza, John Locke, Pierre Bayle, Charles de Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau oder Gotthold Ephraim Lessing entwickelten ihre Gedanken vor dem Hintergrund gewaltvoller religiöser Konflikte. Und selbst John Stuart Mill, der als erster die Einschränkung des Toleranzdiskurses auf das Problem der Religionsfreiheit aufbricht, diskutiert den Toleranzbegriff explizit aus einer rein ethischen Perspektive.7 Unabhängig von der historischen Verortung des Toleranzbegriffs gehen auch in der gegenwärtigen Toleranzforschung manche Autoren explizit davon aus, dass es sich bei Toleranz um eine rein praktische Haltung handelt. So schreibt etwa Achim Lohmar in seinem Aufsatz „Was ist eigentlich Toleranz?“: „Klar ist, dass es sich bei Toleranz auf jeden Fall um eine moralisch signifikante Einstellung handelt, um eine Einstellung, die der moralischen Beurteilung zugänglich ist. Moralisch signifikant in diesem Sinne sind aber auch Einstellungen wie Neid und Hass. Toleranz ist von diesen Einstellungen kategorial verschieden, insofern Toleranz nicht nur eine moralisch signifikante, sondern selbst auch eine moralische Einstellung ist. Toleranz, heißt das, muss entweder eine Einstellung sein, zu deren Natur es gehört, moralisch

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Vgl. zum Folgenden Forst 2017, Abschnitt 3. Für eine ausführlichere Darstellung der Ideengeschichte der Toleranz siehe etwa Bejan 2017; Forst 2003, 1. Teil oder Kaplan 2009. 7 So macht Mill direkt zu Beginn seiner Schrift On Liberty, in der er seine Überlegungen zum Toleranzbegriff entwickelt, deutlich, dass die Frage nach der Angemessenheit von Toleranz eine ethische Frage ist, und dass er diese Frage dementsprechend auf der Grundlage seiner utilitaristischen Moraltheorie diskutiert. Er schreibt: “It is proper to state that I forego any advantage which could be derived to my argument from the idea of abstract right, as a thing independent of utility. I regard utility as the ultimate appeal on all ethical questions […].” (Mill 2015, 14). Dementsprechend basiert ein Hauptargument Mills für die Angemessenheit einer toleranten Haltung auch auf seinem utilitaristischen Schadensprinzip (engl. harm principle), demgemäß Personen in ihren Handlungen nur eingeschränkt werden dürfen, insofern dadurch Schaden von anderen Personen abgewendet wird. (Mill 2015, 1. Kapitel) © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_2

2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

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motiviert zu sein, oder es muss sich um eine Einstellung handeln, die konstitutiv mit einem moralischen Urteil verbunden ist. […] Dass Toleranz nicht nur eine moralisch signifikante, sondern auch selbst eine moralische Einstellung ist, macht sie zu einem Gegenstand der ethischen Untersuchung.“8

Sollte es sich bei Toleranz tatsächlich um eine genuin praktische Haltung handeln, wäre dies insofern problematisch, als dass ja die Haltung, um die es in der vorliegenden Arbeit geht, explizit eine intellektuelle bzw. epistemische Haltung sein soll. Nun scheint jedoch schon das eingangs gewählte Beispiel, anhand dessen die Möglichkeit rein intellektueller Formen von Toleranz plausibilisiert werden sollte, einigermaßen unglücklich gewählt: Denn selbstverständlich ist der Konflikt zwischen Fleischessern und Veganern nicht nur ein rein intellektueller, sondern eben auch ein ethischer Konflikt und somit nicht nur ein Konflikt verschiedener Überzeugungen, sondern auch ein Konflikt verschiedener Handlungsweisen. Sich auf die intellektuellen Dimensionen dieses Konflikts zu konzentrieren, um dann darauf hinzuweisen, dass Veganern und Vegetariern regelmäßig Intoleranz vorgeworfen wird, ist kein sonderlich überzeugendes Argument gegen die Annahme, dass es sich bei Toleranz letztendlich um eine rein praktische Haltung handelt. Tatsächlich gibt es aber andere Beispiele, die zeigen, dass unsere alltägliche Verwendungsweise des Toleranzbegriffs die Möglichkeit rein intellektueller Toleranzformen durchaus nahelegt: Manchmal wird Toleranz auch dort gefordert, wo ethische oder politische Überlegungen zunächst scheinbar überhaupt keine Rolle spielen. Ein Beispiel hierfür ist etwa folgende Passage aus Timothy Williamsons Buch „Tetralogue“: „Sarah: […] I completely reject Zac’s idea that insisting on the difference between truth and falsity leads to dogmatism. Remember, truth isn’t certainty. Science insists on the difference between truth and falsity, but the scientific spirit also makes us self-critical and tolerant of contrary opinions, because we are all fallible. Whenever one asserts something, one should be willing to add ’but I may be wrong’. The person one is disagreeing with may be right after all. In that sense I call myself a ‘fallibilist’. It’s the very importance of the distinction between truth and falsity that should make us humble, and tolerant of others.“9

Hierbei handelt es sich um eine Aussage im Laufe eines fiktiven Streitgesprächs, das sich um relativistische Annahmen in der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie dreht. Direkte ethische oder politische Implikationen sind also eher unwahrscheinlich – trotzdem erscheint die Verwendung des Toleranzbegriffs nicht verfehlt oder ungewöhnlich. Ein anderes Beispiel wäre folgender Ausschnitt aus Richard Feldmans Aufsatz „Reasonable Religious Disagreements“, in dem er über eine Erfahrung als Hochschuldozent berichtet: „A few years ago I co-taught a course on ‘Rationality, Relativism, and Religion’ to undergraduates majoring in either philosophy or religion. Many of the students, especially the religion majors, displayed a pleasantly tolerant attitude. Although a wide variety of 8 9

Lohmar 2010, 8. Williamson 2015, 71. Meine Hervorhebung.

8

2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein? different religious views were represented in the class and the students disagreed with one another about many religious issues, almost all the students had a great deal of respect for the views of the others. They ‘agreed to disagree’ and concluded that ‘reasonable people can disagree’ about the issues under discussion.”10

Auch hier scheint Feldman eine genuin intellektuelle Haltung im Sinn zu haben, wenn er den Begriff der Toleranz verwendet, und auch hier wirkt diese Begriffsverwendung nicht unnatürlich. Unsere alltägliche Verwendung des Begriffs der Toleranz ist also scheinbar nicht auf ethische oder politische Zusammenhänge beschränkt. Im Folgenden möchte ich versuchen, die Verwendung des Toleranzbegriffs in erkenntnistheoretischen Kontexten ernst zu nehmen und eine genuin epistemische Toleranzkonzeption entwickeln. Dabei werde ich so vorgehen, dass ich in einem ersten Schritt eine abstrakte Charakterisierung einer toleranten Haltung entwickle, um diese dann in einem zweiten Schritt auf genuin erkenntnistheoretische Phänomene zu übertragen. Das Ergebnis wird eine Toleranzkonzeption sein, die eine spezifische intellektuelle Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten herausgreift. Im Anschluss daran werde ich diskutieren, inwiefern es sich hierbei um eine Haltung handelt, die für philosophische Diskurse oder unsere intellektuelle Praxis relevant ist.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz Wie lässt sich eine erkenntnistheoretische Konzeption von Toleranz entwickeln? Angesichts eines näheren Blicks auf die philosophische Literatur zum Toleranzbegriff ist es tatsächlich einigermaßen erstaunlich, dass es noch keine genaueren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu diesem Thema gibt. Denn auch wenn die philosophische Toleranzforschung klar im Bereich der praktischen Philosophie angesiedelt ist, wird hier Toleranz oft explizit als allgemeines Phänomen verstanden, das zwar für ethische oder politische Kontexte von direkter Relevanz sein kann, seiner Natur nach jedoch nicht genuin praktisch ist. So weisen viele Autoren darauf hin, dass es sich bei Toleranz um ein vergleichsweise abstraktes Phänomen handelt, das in verschiedenen Kontexten normativer Bewertung relevant ist. Beispielsweise schreibt Rainer Forst in seinem Buch „Toleranz im Konflikt“: „Angesichts der vielfältigen und auch gegensätzlichen Verständnisse und Verwendungen des Begriffs der Toleranz […] könnte die Vermutung entstehen, dass es nicht einen, sondern viele, miteinander konkurrierende Begriffe der Toleranz gibt […]. Dies ist jedoch eine irreführende Annahme. Denn damit diese Verwendungsweisen sinnvollerweise als Verständnisse von Toleranz gelten können, müssen sie einen gemeinsamen Bedeutungskern haben. […] Sie unterscheiden sich allerdings in der weiteren Ausgestaltung dieses Kerns und bilden damit verschiedene Konzeptionen […] der Toleranz. […] Ich folge daher John

10

Feldman 2007, 194. Meine Hervorhebung.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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Rawls‘ […] Vorschlag, zwischen concept und conception zu unterscheiden: Das »Konzept« umfasst den zentralen Bedeutungsgehalt eines Begriffs, »Konzeptionen« sind spezifische Interpretationen der darin enthaltenen Bestandteile.“11

Insofern die in der Forschungsliteratur angestellten Überlegungen also nicht von Vornherein auf ethische oder politische Zusammenhänge beschränkt sind, sollte eine Anknüpfung an erkenntnistheoretische Dimensionen einigermaßen unproblematisch sein. Oder, um es in Forsts bzw. Rawls‘ Terminologie auszudrücken: Es sollte möglich sein, eine genuin erkenntnistheoretische Konzeption des abstrakten Konzepts der Toleranz zu entwickeln. Wie lässt sich Toleranz auf einer abstrakten Ebene charakterisieren? Eine in der Literatur als Standardkonzeption bezeichnete Charakterisierung lautet folgendermaßen: Toleranz besteht in der Duldung von etwas, das aus normativen Gründen sowohl abgelehnt als auch befürwortet wird. 12 Diese Charakterisierung ist zwar für sich genommen noch einigermaßen vage, ermöglicht aber schon eine hilfreiche Annäherung an das für uns relevante Phänomen. Denn sofern es sich bei Toleranz um eine spezifische Form des Nicht-Eingreifens handelt, für die eine Ambivalenz von Befürwortung und Ablehnung charakteristisch ist, lassen sich schon erste Abgrenzungen von verwandten Phänomenen vornehmen: Beispielsweise würden wir in einem Fall, in dem jemand angesichts des Verhaltens einer anderen Person nicht eingreift, obwohl er dieses Verhalten verurteilt und in keiner Weise befürwortet, eher von Ertragen und nicht von Toleranz sprechen. Genauso würden wir in einem Fall, in dem jemand nicht eingreift, weil er das Verhalten der anderen Person befürwortet und in keiner Weise ablehnt, vermutlich eher von Akzeptanz sprechen. Das gleichzeitige Vorliegen von Ablehnung und Befürwortung scheint für die Möglichkeit von Toleranz also wesentlich. Dabei müssen sowohl Ablehnung als auch Befürwortung das Ergebnis einer normativen Bewertung und nicht nur Ausdruck einer beliebigen Evaluation sein. Wenn ich beispielsweise zu einer ambivalenten Bewertung von Regen komme, weil ich zwar akzeptiere, dass er wichtig für den Ackerbau ist, gleichzeitig aber nur ungern nass werde, dann wäre es merkwürdig, in diesem Zusammenhang davon zu sprechen, dass ich Regen toleriere. Das liegt nicht daran, dass ich das Wetter nicht beeinflussen kann und somit keine andere Wahl habe, als den Regen zu ertragen – selbst dann, wenn ich aufgrund einer speziellen Superkraft grundsätzlich in der Lage wäre, Regen abzuschaffen, wäre es immer noch merkwürdig, von Toleranz zu sprechen. Der Grund dafür ist, dass Regen kein Gegenstand normativer Bewertung ist: Normativ bewertet werden kann nur, was aus Gründen geschieht. Zwar gibt es Gründe dafür, dass das Wetter regnerisch ist. Hiermit ist aber nicht gemeint, dass das Wetter regnerisch ist, weil es gute Gründe dafür hat, sondern lediglich, dass es Ursachen für das regnerische Wet-

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Forst 2003, 30 f. Vgl. etwa Ebd., Forst 2017, King 1998. Die Bezeichnung als Standardkonzeption findet sich etwa bei Lohmar 2015. 12

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

ter gibt. Den hier relevanten Unterschied zwischen Gründen und Ursachen verdeutlicht John Gibbons in seinem Buch „The Norm of Belief“ anhand des Beispiels einer Lawine: „There’s an avalanche coming down the mountain, about to hit a ridge. If it goes to the left, it will destroy the village. If it goes to the right, it won’t. It would be for the best if the avalanche went to the right. But we don’t think the avalanche has a reason to go to the right. […] And we don’t think that it has an excuse when it goes to the left, even though it had no way of knowing that going to the left would destroy the village. People, like other natural disasters, are a source of consequences, and these consequences can be evaluated in a way that is independent of their source. […] But people have things that avalanches don’t. We have reasons to do things, believe things, and care about things. Sometimes we have most reason to do, believe, or care. So we are often required to do, believe, or care. Evaluative notions apply straightforwardly to avalanches. But genuinely normative notions do not.”13

Eine normative Bewertung dreht sich also immer um die Frage, was getan oder geglaubt werden sollte. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, welche Gründe für oder gegen die fragliche Handlung bzw. Überzeugung sprechen. Dementsprechend ist der mögliche Gegenstandsbereich von Toleranz schon einigermaßen klar umgrenzt: Denn wenn nur toleriert werden kann, was aufgrund von Gründen geschieht und somit einer normativen Bewertung zugänglich ist, dann beschränkt sich Toleranz auf Phänomene wie Handlungen, Verhaltensweisen oder Überzeugungen. Manche Philosophen fassen den Begriff der Toleranz sogar noch enger, indem sie dafür argumentieren, dass es nur dann sinnvoll ist, eine Haltung als tolerant zu bezeichnen, wenn die zugrundeliegenden normativen Bewertungen ihrerseits auf guten Gründen basieren. Hintergrund dieser Annahme ist die Überlegung, dass es beispielsweise unangebracht wäre, einen Rassisten, der den Bau eines Flüchtlingsheims duldet, als tolerant zu bezeichnen, da dadurch die Vorurteile des Rassisten als begründete Urteile akzeptiert würden.14 Meiner Meinung nach ist eine solche Argumentation jedoch nicht sonderlich überzeugend. Ich halte es für durchaus plausibel, den Rassisten in diesem Beispiel als tolerant zu bezeichnen. Anstatt das Vorliegen guter Gründe von vornherein als notwendige Bedingung in den Begriff der Toleranz zu stecken, sollte es vielmehr die Möglichkeit geben, zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Instanzen von Toleranz zu unterscheiden. Denn der Fall des Rassisten scheint kein Fall von Intoleranz, sondern eher ein Fall von ungerechtfertigter Toleranz zu sein: Der Rassist ist tolerant, sollte es jedoch nicht sein, da die für seine tolerante Haltung konstitutive Ablehnung gegenüber Flüchtlingen ungerechtfertigt ist. Auf einer abstrakten Ebene lässt sich Toleranz also folgendermaßen charakterisieren: Etwas zu tolerieren, bedeutet, es aufgrund einer ambivalenten normativen Bewertung zu dulden. Wie lässt sich nun diese Charakterisierung von Toleranz auf

13 14

Gibbons 2013, 133 f. Vgl. etwa Forst 2003, Horton 1998.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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den erkenntnistheoretischen Bereich übertragen? Zunächst bedeutet die Anwendung auf erkenntnistheoretische Überlegungen eine zusätzliche Eingrenzung der relevanten Dimensionen normativer Bewertung: Etwas epistemisch zu tolerieren, bedeutet, es aufgrund einer ambivalenten epistemischen Bewertung zu dulden. Sofern wir in einem rein erkenntnistheoretischen Kontext von Toleranz sprechen, spielen moralische, politische oder ästhetische Überlegungen keine Rolle mehr. Dadurch wird auch der mögliche Gegenstandsbereich einer epistemisch toleranten Haltung eingegrenzt: Epistemisch toleriert werden kann nur, was einer epistemischen Bewertung zugänglich ist. Da es uns im vorliegenden Zusammenhang um epistemische Toleranz als mögliche Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit und somit als Haltung gegenüber fremden Überzeugungen geht, kann der Gegenstandsbereich sogar noch weiter eingegrenzt werden: Epistemische Toleranz in dem hier relevanten Sinne bezeichnet die Duldung einer fremden Überzeugung, die man aus einer rein erkenntnistheoretischen Perspektive sowohl normativ ablehnt als auch normativ befürwortet.15 Was für Möglichkeiten gibt es, eine Überzeugung aus erkenntnistheoretischer Perspektive normativ abzulehnen bzw. zu befürworten? Die moralische Bewertung einer Handlung dreht sich normalerweise um die Frage, welche moralischen Normen von dieser Handlung erfüllt bzw. verletzt werden. Gleichermaßen sollte es auch für die epistemische Bewertung einer Überzeugung relevant sein, welche epistemischen Normen von dieser Überzeugung erfüllt bzw. verletzt werden. Aber welche

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Tatsächlich könnte sich der Fokus auf Überzeugungen im Kontext der Beschäftigung mit Toleranz als intellektuelle Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten als zu restriktiv herausstellen. Ein mögliches Problem ergibt sich in diesem Zusammenhang insbesondere hinsichtlich Meinungsverschiedenheiten mit Agnostikern. Nehmen wir etwa einen Fall, in dem ich davon überzeugt bin, dass in Deutschland ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden sollte, während sich mein Freund diesbezüglich des Urteils enthält. Scheinbar liegt in diesem Fall eine echte Meinungsverschiedenheit vor. Ob diese Meinungsverschiedenheit jedoch deshalb besteht, weil mein Freund und ich konfligierende Überzeugungen haben, ist zumindest kontrovers. Zwar gibt es einige Philosophen, die eine Urteilsenthaltung bezüglich einer bestimmten Frage als spezifische Überzeugung verstehen – beispielsweise als die Überzeugung, dass es unmöglich ist, zu einer gerechtfertigten Antwort auf die entsprechende Frage zu kommen, oder dass angesichts der verfügbaren Evidenz noch kein abschließendes Urteil zulässig ist (eine solche Auffassung findet sich etwa bei Bergmann 2005). Es gibt jedoch genauso Philosophen, die davon ausgehen, dass es sich bei Urteilsenthaltungen um eine eigenständige Form doxastischer Einstellungen handelt, und dass eine agnostische Haltung dementsprechend nicht einfach in einer spezifischen Überzeugung höherer Ordnung besteht (Für eine solche Auffassung siehe etwa Friedman 2017). Sollte sich nun herausstellen, dass eine agnostische Haltung tatsächlich eine sui generis Einstellung ist und nicht einfach in einer spezifischen Überzeugung besteht, wäre es vermutlich möglich, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren, ohne gleichzeitig eine Überzeugung zu tolerieren. In diesem Fall müsste separat untersucht werden, was es genau bedeutet, im Rahmen einer Meinungsverschiedenheit eine agnostische Haltung epistemisch zu tolerieren, und unter welchen Umständen eine solche Tolerierung angemessen ist. Sollte sich jedoch herausstellen, dass es sich bei einer agnostischen Haltung lediglich um eine spezifische Überzeugung handelt, gelten die folgenden Überlegungen vermutlich uneingeschränkt auch für Meinungsverschiedenheiten mit Agnostikern.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

epistemischen Normen gelten für Überzeugungen?16 In der neueren erkenntnistheoretischen Forschung wurden im Wesentlichen drei verschiedene Kandidaten vorgeschlagen. Der erste Kandidat ist Wahrheit: Man sollte eine Überzeugung nur dann bilden, wenn sie wahr ist.17 Der zweite Kandidat ist Rechtfertigung: Man sollte eine Überzeugung nur dann bilden, wenn sie gerechtfertigt ist.18 Der dritte Kandidat ist Wissen: Man sollte eine Überzeugung nur dann bilden, wenn sie Wissen konstituiert.19 Wie das genaue Verhältnis zwischen diesen drei Normen aussieht, und ob es darüber hinaus noch weitere Normen gibt, wird gegenwärtig lebhaft diskutiert.20 Für den jetzigen Zusammenhang ist jedoch lediglich relevant, dass es drei verschiedene erkenntnistheoretische prima facie Normen für die Bildung von Überzeugungen gibt. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass einzelne dieser Normen auf andere Normen reduzierbar sind, oder dass es darüber hinaus noch weitere Normen der Überzeugungsbildung gibt, kommt diesen drei Normen eine gewisse prima facie Geltung zu. Das lässt sich besonders gut anhand von Beispielen veranschaulichen, in denen eine Überzeugung einige, aber nicht alle dieser Normen erfüllt:21 Angenommen, Peter ist zu Hause und legt seinen Schlüsselbund auf den Wohnzimmertisch. Direkt danach geht er in die Küche. Während er in der Küche ist, nimmt seine Frau Maria den Schlüsselbund vom Wohnzimmertisch. Noch in der Küche fragt sich Peter nun, wo sein Schlüsselbund ist. Er kommt zu der Überzeugung, dass sein Schlüsselbund auf dem Wohnzimmertisch liegt. Wie würden wir Peters Überzeugung erkenntnistheoretisch bewerten? Einerseits kann man Peter keinen Vorwurf machen – schließlich weiß er nichts davon, dass seine Frau gerade den Schlüssel vom Wohnzimmertisch genommen hat, und er kann sich genau daran erinnern, dass er den Schlüssel erst vor ein paar Minuten dort abgelegt hat. So gesehen sollte Peter also genau das glauben, was er glaubt. Sofern er keinen Grund zur Annahme hat, dass seine Schlüssel nicht auf dem Wohnzimmertisch liegen, wäre es geradezu verrückt zu glauben, dass die Schlüssel nicht auf dem Wohnzimmertisch liegen. Andererseits ist Peters Überzeugung aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive offensichtlich auch defizitär, denn sie ist falsch. Wenn Peter glaubt, dass seine Schlüssel auf dem Wohnzimmertisch liegen, dann irrt er, seine Überzeugung ist also falsch und konstituiert kein Wissen. In gewisser Hinsicht sollte Peter dementsprechend nicht das glauben, 16

Davon auszugehen, dass es für die Bildung von Überzeugung genauso wie für das Ausführen von Handlungen spezifische Normen gibt, bedeutet in keiner Weise, davon auszugehen, dass Überzeugungen Handlungen sind. Tatsächlich scheint die Idee, dass es genuin epistemische Normen gibt, die ausschließlich für die Bildung von Überzeugungen relevant sind, im Gegenteil eher dafür zu sprechen, dass Überzeugungen keine Handlungen sind. 17 David 2001, Wedgwood 2002. 18 Adler 2002, Gibbons 2013. 19 Pritchard 2007, Williamson 2002. Mittlerweile vertritt Pritchard nicht mehr diese Position, siehe Pritchard 2012. 20 Vorschläge für weitere Normen finden sich etwa bei Kvanvig 2003. Eine ausführliche Diskussion des Verhältnisses zwischen Wahrheits-, Rechtfertigungs- und Wissensnorm findet sich bei Gibbons 2013. Für eine Argumentation, dass es überhaupt keine spezifischen Normen für die Bildung von Überzeugungen gibt, siehe Papineau 2013. 21 Das folgende Beispiel ist entnommen aus Gibbons 2013.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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was er glaubt, denn er glaubt etwas Falsches. So würde Peter seine Überzeugung auch sofort aufgeben, wenn er erfahren würde, dass sein Schlüsselbund nicht auf dem Wohnzimmertisch liegt: Die Information, dass seine Überzeugung falsch ist, stellt also einen Grund für Peter dar, diese Überzeugung fallenzulassen. Ein zweites Beispiel: Weil er sehr abergläubisch und es Freitag, der 13. ist, ist Peter der festen Überzeugung, dass ihm etwas Schreckliches zustoßen würde, wenn er zur Arbeit ginge. Aufgrund dieser Überzeugung beschließt Peter, zu Hause zu bleiben. Diese Entscheidung ist tatsächlich eine gute, da zufälligerweise an diesem Tag das Gebäude, in dem sich sein Büro befindet, aufgrund eines Kurzschlusses im Keller komplett abbrennt. Peter wäre also wirklich etwas Schlimmes passiert, wenn er zur Arbeit gegangen wäre, und dementsprechend ist auch seine diesbezügliche Überzeugung wahr. Das ist aus erkenntnistheoretischer Perspektive insofern gut, als dass wahre Überzeugungen besser als falsche Überzeugungen sind. Andererseits hat Peter seine Überzeugung nur aufgrund seines irrationalen Aberglaubens gebildet, und dementsprechend ist sie auch nicht gerechtfertigt. Und genau dafür kann man ihm auch einen Vorwurf machen: Wir sollten nur das glauben, wofür wir gute Gründe haben, und nicht einfach irgendwelche Überzeugungen aufgrund von Aberglauben oder Vorurteilen bilden. Ein letzter Fall:22 Maria befindet sich im Scheunenfassadenland und ist davon überzeugt, vor einer Scheune zu stehen. Das ist auch wahr, Maria steht tatsächlich vor einer Scheune. Darüber hinaus hat sie auch gute Gründe für ihre Überzeugung, schließlich sieht sie eine Scheune vor sich stehen. Sie weiß jedoch nicht, dass im Scheunenfassadenland ganz viele Scheunenfassaden stehen, und sie deshalb auch geglaubt hätte, vor einer Scheune zu stehen, wenn sie ein paar Meter weiter vor einer Scheunenfassade gestanden hätte. Die Überzeugung von Maria ist also wahr und gerechtfertigt – und das ist aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive sehr gut, denn wahre und gerechtfertigte Überzeugungen sind besser als falsche und ungerechtfertigte Überzeugungen. Trotzdem weiß Anna nicht, dass eine Scheune vor ihr steht, denn Wahrheit und Rechtfertigung sind nicht hinreichend für Wissen. Und da Annas Überzeugung in diesem Fall kein Wissen konstituiert, ist sie in gewisser Weise epistemisch defizitär.23

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Der in der Erkenntnistheorie berühmt gewordene Scheunenfassadenfall findet sich ursprünglich bei Goldman 1976. 23 So wie viele konkrete Gettier-Fälle ist auch der Scheunenfassadenfall insofern kontrovers, als dass die Intuition, dass in diesem Fall kein Wissen vorliegt, nicht von allen akzeptiert wird. So hat etwa eine von Joachim Horvath und Alex Wiegmann durchgeführte Studie ergeben, dass selbst viele Fachphilosophen in Fällen wie dem Scheunenfassadenfall die Intuition haben, das Wissen vorliegt (Horvath und Wiegmann 2016). Tatsächlich hängt an dieser Stelle aber nicht viel von der Plausibilität konkreter Gedankenexperimente ab: Denn unabhängig von konkreten Einzelfällen ist es in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie breit akzeptiert, dass Wahrheit und Rechtfertigung nicht hinreichend für den Wissensstatus einer Überzeugung sind, und dass es dementsprechend prinzipiell Fälle gibt, in denen eine Überzeugung wahr und gerechtfertigt ist, aber kein Wissen konstituiert. Darüber hinaus wäre es für den vorliegenden Zusammenhang sogar in gewisser Weise irrelevant, wenn sich herausstellen sollte, dass Wahrheit und Rechtfertigung hinreichend für Wissen sind.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

Diese drei Beispiele sollen plausibilisieren, dass Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung jeweils epistemisch wertvoll sind, gleichzeitig aber auch in bestimmten Fällen auseinanderfallen können, und dass sich somit drei voneinander unabhängige prima facie Normen für die Überzeugungsbildung formulieren lassen. Entlang dieser Normen lässt sich nun eine Überzeugung epistemisch bewerten. Wenn tolerant zu sein im erkenntnistheoretischen Sinne bedeutet, eine Überzeugung zu dulden, die man aus einer rein epistemischen Perspektive sowohl ablehnt als auch befürwortet, dann heißt das, dass man eine Überzeugung genau dann im erkenntnistheoretischen Sinne toleriert, wenn man sie duldet, obwohl man zu dem Urteil gekommen ist, dass sie zwar manche, aber nicht alle Normen der Überzeugungsbildung erfüllt. Mögliche Objekte epistemischer Toleranz wären demgemäß Überzeugungen, die wahr und ungerechtfertigt, falsch und gerechtfertigt, oder wahr, gerechtfertigt und nicht gewusst sind.24 Insofern es uns hier nun um Toleranz als mögliche Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit geht, lässt sich direkt die nächste Einschränkung vornehmen: Denn im Rahmen eines Dissenses bewertet man die Überzeugung der Gegenseite immer als falsch – vor dem Hintergrund der drei bisher erwogenen epistemischen Normen besteht also die einzige Möglichkeit einer ambivalenten Bewertung der fremden Überzeugung im Rahmen eines Dissenses in der Bewertung dieser Überzeugung als falsch und gerechtfertigt. Die für die vorliegende Arbeit relevante Form epistemischer Toleranz lässt sich entsprechend folgendermaßen charakterisieren: Eine Überzeugung angesichts einer Meinungsverschiedenheit epistemisch zu tolerieren, bedeutet, diese Überzeugung zu dulden, obwohl man sie für falsch hält, weil man sie dennoch für gerechtfertigt hält. An diese Charakterisierung schließt sich unmittelbar eine Reihe verschiedener Fragen an. Im Folgenden möchte ich drei besonders grundlegende und für ein genaues Verständnis der vorgeschlagenen Konzeption epistemischer Toleranz zentrale Fragen beantworten: Was bedeutet es, eine Überzeugung zu dulden? Welchen Zusammenhang gibt es im Rahmen einer toleranten Haltung zwischen der Duldungskomponente und der Bewertungskomponente? Und ist jede Duldung einer Denn in diesem Fall würden Wahrheit, Rechtfertigung und Wissen ja immer noch insofern auseinanderfallen, als dass eine Überzeugung gerechtfertigt und nicht gewusst bzw. wahr und nicht gewusst sein kann, da Rechtfertigung und Wahrheit vermutlich zumindest notwendig für Wissen sind. 24 Vor dem Hintergrund der drei erwogenen Normen gibt es nur diese drei Möglichkeiten, da Wissen Wahrheit und Rechtfertigung impliziert. Sobald eine Überzeugung also die Wahrheits- oder Rechtfertigungsnorm verletzt, verletzt sie auch die Wissensnorm. Dass es überhaupt diese drei Möglichkeiten gibt, hängt zudem bereits von der Plausibilität fallibilistischer Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung ab. Gemäß infallibilistischer Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung ist es unmöglich, dass es Fälle von falschen, gerechtfertigten Überzeugungen gibt. Auf den ersten Blick scheint eine solche Auffassung einigermaßen kurios, da es viele Fälle gibt, in denen eine Person eine falsche Überzeugung hat, wir aber intuitiv dennoch klar geneigt sind, die Überzeugung dieser Person als gerechtfertigt zu bezeichnen. Dementsprechend handelt es sich hierbei in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie eindeutig um eine Minderheitenposition. Im Folgenden wird ein Fallibilismus in Bezug auf epistemische Rechtfertigung vorausgesetzt.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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ambivalent bewerteten Überzeugung eine Form von Toleranz, oder muss vielmehr ein spezifisches Verhältnis zwischen positiver und negativer Evaluation vorliegen? Beginnen wir mit der ersten Frage – was bedeutet es, eine Überzeugung zu dulden? Duldung bezeichnet zunächst eine spezifische Form des Gewährenlassens: Eine Sache zu dulden, bedeutet, nicht gegen diese Sache vorzugehen. Beispielsweise duldet ein besorgter Vater nur dann den Alkoholkonsum seiner minderjährigen Tochter, wenn er auch wirklich nicht versucht, sie davon abzubringen. Zwar sind verschiedene Grade der Duldung und somit vielleicht auch verschiedene Grade von Toleranz denkbar, sodass eine Person umso toleranter reagiert, je duldsamer sie ist. In einem strengen Sinne ist Duldung jedoch inkompatibel mit sämtlichen Formen der Intervention. Gleichzeitig ist bloßes Nicht-Eingreifen nicht hinreichend für Duldung. Wenn etwa unser besorgter Vater Gefallen an der Lieblingsmusik seiner Tochter findet, und daraufhin anfängt, heimlich ihre Platten zu hören, dann würden wir nicht sagen wollen, dass er den Musikgeschmack seiner Tochter duldet – und das, obwohl er keinerlei Versuche unternimmt, den Musikgeschmack seiner Tochter zu ändern. Neben dem interpersonalen Aspekt des Nicht-Eingreifens gehört zu einer duldsamen Haltung also auch eine genuin intrapersonale Komponente: Diese Komponente besteht darin, dass man sich von dem Geduldeten abgrenzt. Der Vater duldet eben nur dann den Musikgeschmack seiner Tochter, wenn er zwar keinerlei Versuche unternimmt, sie davon abzubringen, gleichzeitig selbst aber auch nie auf die Idee kommen würde, dieselbe Musik zu hören. Klar ist auch, dass es sich bei Duldung um einen intentionalen Akt handelt: Wenn beispielsweise ein Dieb die Wohnung meiner Nachbarn ausraubt, ohne dass ich etwas davon mitkriege, dann würden wir nicht sagen, dass ich den Raub geduldet habe – und das, obwohl ich keinerlei Versuche unternommen habe, ihn zu verhindern und gleichzeitig selbst nie auf die Idee kommen würde, die Wohnung meiner Nachbarn auszurauben. Eine Duldung in dem hier relevanten Sinne basiert also immer auf einer bewussten Entscheidung. Darüber hinaus scheint es so zu sein, dass im Falle einer toleranten Duldung diese Entscheidung einer spezifischen Begründung bedarf. Tolerant ist man eben nicht, sobald man etwas duldet: Wenn etwa die neunjährige Emma ihren kleinen Bruder ihr Spielzeug mitbenutzen lässt, weil ihre Mutter ihr als Belohnung dafür ein Eis versprochen hat, dann duldet sie zwar das Verhalten ihres Bruders, toleriert es aber nicht. Der Grund dafür scheint zu sein, dass Emmas Entscheidung, das Verhalten ihres Bruders zu dulden, lediglich auf der Aussicht auf Belohnung basiert. Die naheliegende Vermutung ist nun, dass im Rahmen einer toleranten Haltung die Entscheidung zur Duldung etwas mit der für eine tolerante Haltung charakteristischen ambivalenten Bewertung des Geduldeten zu tun hat – etwas zu tolerieren, bedeutet eben, etwas aufgrund einer ambivalenten normativen Bewertung zu dulden. Was ist aber in diesem Zusammenhang genau damit gemeint, etwas aufgrund einer ambivalenten normativen Bewertung zu dulden? Offensichtlich ist hiermit nicht lediglich gemeint, dass eine ambivalente normative Bewertung die Ursache für die Duldung ist. Nehmen wir etwa folgenden Fall: Die Scharfschützin Selma hat den Bombenleger Bob anvisiert, der im Begriff ist, eine Schule in die Luft zu jagen.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

Fest entschlossen, die Schüler vor dem Attentat zu retten, ist Selma kurz davor, abzudrücken. Dann erhält sie jedoch eine Benachrichtigung von ihrem Vorgesetzten, der im Zuge der Ermittlungen herausgefunden hat, dass Bob tatsächlich gute Absichten hat – fälschlicherweise geht Bob nämlich davon aus, dass die Schüler der Schule mit einem hochansteckenden, tödlichen Virus infiziert sind, und dass ihre sofortige Tötung die einzige Möglichkeit ist, den Ausbruch einer Pandemie zu verhindern. Angesichts dieser Information entscheidet sich Selma dazu, nicht einzugreifen. Denn wenn Bob aus hehren Motiven handelt, so ihre Überlegung, dann wird seine Tötung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine kontroverse öffentliche Debatte entfachen, die sich als hinderlich für Selmas weitere Karriere im Polizeidienst erweisen könnte. In diesem Fall wäre es merkwürdig, zu sagen, dass Selma Bobs Anschlag toleriert. Zwar duldet sie Bobs Handeln, und darüber hinaus basiert ihre Entscheidung hierfür in gewisser Weise auf einer ambivalenten normativen Bewertung: Schließlich duldet Selma Bobs Attentat nur, weil sie vermutet, dass es aufgrund seiner guten Absichten ihrer Karriere schaden könnte, ihn zu töten. Der Grund dafür, dass wir in diesem Fall trotzdem nicht von Toleranz sprechen würden, scheint zu sein, dass sich Selma aus rein egoistischen Interessen dafür entscheidet, angesichts der ambivalenten normativen Bewertung von Bobs Attentat auf einen Eingriff zu verzichten. Der dahinterstehende Gedanke ist, dass man nur dann eine Handlung toleriert, wenn man es angesichts der ambivalenten ethischen Bewertung dieser Handlung für moralisch angemessen hält, diese Handlung zu dulden. Konkret scheint die Idee zu sein, dass spezifische moralische Bewertungen aus einer moralischen Perspektive spezifische Reaktionen rationalisieren. Wenn ich beispielsweise das Verhalten einer anderen Person moralisch bewerte und zu dem Ergebnis komme, dass dieses Verhalten moralisch verwerflich ist, dann rationalisiert meine Bewertung sowohl auf der intrapersonalen Ebene als auch auf der interpersonalen Ebene eine spezifische Reaktion. Auf der intrapersonalen Ebene besteht sie darin, dass ich das fremde Verhalten weder unterstütze noch übernehme. Auf der interpersonalen Ebene besteht sie in dem Versuch, das fremde Verhalten zu modifizieren. Ein Beispiel: Yusuf erfährt, dass sein Freund Peter ein Impfskeptiker ist und dementsprechend auch seine Kinder nicht impfen lässt, weil er glaubt, dass Impfungen Autismus verursachen können. Yusuf hält diese Überzeugung nicht nur für falsch, sondern auch das darauf basierende Verhalten für moralisch höchst problematisch. Denn dass Peter seine Kinder nicht impfen lässt, stellt nicht nur ein akutes Risiko für ihre Gesundheit dar, sondern begünstigt darüber hinaus die Verbreitung gefährlicher Krankheiten. Welche Reaktion ist nun für Yusuf angesichts seiner Bewertung von Peters Verhalten rational? Die Antwort ist relativ einfach: Yusuf sollte seine Kinder – sofern er welche hat – impfen lassen und versuchen, auch Peter dazu zu bringen, seine Kinder impfen zu lassen. Es scheint geradezu offensichtlich zu sein, dass wir Handlungen, die wir für moralisch falsch halten, nicht ausführen sollten, und dass wir andere Personen von der Ausführung von Handlungen, die wir für moralisch falsch halten, abhalten sollten.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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Die Überlegung hinter einer toleranten Duldung ist nun, dass die durch eine negative normative Bewertung rationalisierte Reaktion nicht mehr rational ist, wenn der negativen Evaluation eine positive Evaluation gegenübergestellt wird. Auch hier hilft wieder ein Beispiel: Peter findet es problematisch, dass Yusufs Ehefrau Arzu als gläubige Muslima ein Kopftuch trägt. Denn abgesehen davon, dass er als Atheist sämtliche Religionen ablehnt, hält er die islamische Vorschrift des Kopftuchtragens für sexistisch. Auf der anderen Seite akzeptiert er aber auch, dass es für Arzu wichtig ist, ein Kopftuch zu tragen, da es ihren religiösen Überzeugungen entspricht und ihr darüber hinaus auch die Möglichkeit gibt, ihrer kulturellen Identität Ausdruck zu verleihen. Wie sollte sich Peter angesichts seiner ambivalenten Bewertung verhalten? In dieser Situation würden wohl viele eine tolerante Duldung als angemessene Reaktion ansehen: Anders als in dem Fall von Yusuf und Peter, so die Idee, ist hier der Versuch einer Modifikation des negativ evaluierten Verhaltens nicht rational, weil der negativen Evaluation eine positive Evaluation gegenübergestellt wird. Zwar sollte sich Peter aufgrund seiner negativen Bewertung in gewisser Weise von Arzus Verhalten distanzieren – er sollte etwa nicht anfangen, Arzu in ihrem Verhalten zu bestärken und erst recht nicht von seiner eigenen Frau das Tragen eines Kopftuchs fordern. Da er aber auch die positiven Aspekte von Arzus Verhalten sieht, sollte er nicht versuchen, Arzu vom Tragen eines Kopftuchs abzubringen. Auf den ersten Blick scheint es also durchaus vernünftig, dafür zu argumentieren, dass sich Peter in diesem Fall angesichts seiner ambivalenten Bewertung tolerant verhalten sollte. Diese Überlegungen lassen sich nun direkt auf den erkenntnistheoretischen Bereich übertragen: Sofern es so etwas wie epistemische Toleranz geben soll, wäre ganz analog auch hier der Gedanke, dass verschiedene epistemische Bewertungen aus epistemischer Perspektive spezifische Reaktionen rationalisieren. Angenommen, ich bewerte eine fremde Überzeugung als falsch. In diesem Fall, so die Idee, gibt mir meine Bewertung der fremden Überzeugung als falsch einen Grund, diese Überzeugung zu modifizieren.25 Inwieweit diese Annahme plausibel ist, soll im Zuge der kritischen Bewertung epistemischer Toleranz noch ausführlich diskutiert werden – auf den ersten Blick scheint die dahinterstehende Überlegung jedoch durchaus plausibel: Wenn etwa mein Arzt bemerkt, dass ich der Überzeugung bin, dass ich einen grippalen Infekt habe, und er weiß, dass ich eine echte Grippe habe, dann sollte er versuchen, meine Überzeugung zu modifizieren und mir erklären, warum ich eine echte Grippe und keinen grippalen Infekt habe. Wenn eine Philosophielehrerin feststellt, dass viele Schüler in ihrer Klasse der Meinung sind, dass Hilary Putnam eine Frau war, dann sollte sie klarstellen, dass Hilary Putnam ein Mann

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Eine Andeutung dieser Idee findet sich in zwei Aufsätzen von Huw Price (Price 1998, Price 2003), wo er die Ansicht vertritt, dass Diskussionen über die Wahrheit einer Proposition immer ein Hinweis darauf sind, dass eine Seite eine falsche Überzeugung bezüglich dieser Proposition hat. Die dahinterstehende Überlegung scheint zu sein, dass Diskussionen über die Wahrheit einer Proposition dadurch getriggert werden, dass beide Seiten die diesbezügliche Überzeugung des jeweiligen Gegenübers für falsch halten (Kölbel 2004a).

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

war. Und wenn über die Hälfte aller US-Amerikaner davon ausgeht, dass die Evolutionstheorie falsch ist, dann sollten Biologen versuchen, die Gründe und Überlegungen, die für die Wahrheit der Evolutionstheorie sprechen, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Genauso wie in ethischen Kontexten, sollten wir also auch in erkenntnistheoretischen Kontexten Handlungen bzw. Überzeugungen, die wir normativ ablehnen, versuchen zu modifizieren. Nun könnte es aber auch in erkenntnistheoretischen Kontexten unter gewissen Umständen rational sein, stattdessen tolerant zu reagieren. Dies wäre eben dann der Fall, wenn es neben der negativen normativen Evaluation auch eine positive normative Evaluation gibt. Bezogen auf unsere Konzeption epistemischer Toleranz bedeutet das, dass man im Falle einer Meinungsverschiedenheit von dem Versuch einer Modifikation der fremden Überzeugung absehen sollte, obwohl man sie für falsch hält, insofern man gleichzeitig davon ausgeht, dass diese Überzeugung auf guten Gründen basiert. In solchen Fällen, so die Idee, ist es vernünftiger, die fremde Überzeugung zu dulden. Dulden bedeutet hier, zwar aufgrund der negativen Evaluation der fremden Überzeugung bei seiner eigenen Meinung zu bleiben, andererseits aber angesichts der positiven Evaluation von einer Modifikation der fremden Überzeugung abzusehen und somit der anderen Person ihre Meinung zu lassen. 26 Eine sich an diese Überlegungen unmittelbar anschließende Frage ist, ob jede Bewertung einer Überzeugung als falsch und gerechtfertigt eine duldsame Reaktion rationalisiert, oder ob eine tolerante Haltung nur vor dem Hintergrund eines besonderen Verhältnisses zwischen positiver und negativer Evaluation möglich ist. Auf den ersten Blick scheint es nämlich so zu sein, dass die für Toleranz charakteristische Rationalisierungsrelation zwischen ambivalenter Bewertung und Duldung nur dann besteht, wenn die ambivalente Bewertung des Geduldeten eine spezifische Struktur aufweist. Insbesondere scheint diese Relation nicht zu bestehen, sobald es einfach irgendeine positive normative Evaluation gibt, die der negativen Evaluation gegenübergestellt werden kann. Andererseits scheint sie auch nicht in Fällen zu bestehen, in denen die positive Evaluation die negative Evaluation bei Weitem überwiegt. Wie kann das erforderliche Verhältnis von Ablehnung und Befürwortung nun genau ausbuchstabiert werden? In seinem Buch „Toleranz im Konflikt“ macht Rainer Forst folgenden Vorschlag: „Neben der Ablehnungs-Komponente gehört zur Toleranz […] eine Akzeptanz-Komponente, der zufolge die tolerierten […] Praktiken zwar als falsch oder schlecht verurteilt werden, doch nicht in einem solchen Maße als falsch oder schlecht, dass nicht andere, positive Gründe für ihre Tolerierung sprechen. Wichtig ist dabei, dass die positiven Gründe die negativen Gründe nicht aufheben dürfen, sondern ihnen gegenübergestellt werden, so dass sie zwar die negativen Gründe […] übertrumpfen […], die Ablehnung dabei aber bestehen lassen.“27

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Eine ganz ähnliche Charakterisierung epistemisch toleranter Duldung findet sich bei Schafer 2011. 27 Forst 2003, 34.

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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Gemäß der in dieser Passage formulierten Idee darf also einerseits keine der beiden Komponenten die andere aufheben, da ansonsten die für Toleranz spezifische Ambivalenz von Befürwortung und Ablehnung verlorengehen würde. Andererseits soll die Befürwortungskomponente die Ablehnungskomponente übertrumpfen. Was damit gemeint ist, lässt sich gut anhand eines Beispiels verdeutlichen: Wenn Robin Hood den Reichen nimmt und den Armen gibt, dann gibt es – zumindest aus einer konsequentialistischen Perspektive – sowohl Gründe für die Ablehnung als auch Gründe für die Befürwortung seiner Taten. Denn insofern das Nehmen von den Reichen Leid erzeugt, ist sein Handeln abzulehnen, und insofern das Geben an die Armen Leid verhindert, ist sein Handeln zu befürworten. In gewisser Weise ist hier also eine ambivalente moralische Bewertung angemessen. Sollte man dementsprechend tolerant auf Robin Hoods Taten reagieren? Sofern die ambivalente Bewertung von Robin Hoods Taten lediglich auf einer moralischen Abwägung ihrer Konsequenzen basiert, scheint Toleranz keine angemessene Reaktion zu sein. Denn wenn man davon ausgeht, dass Robin Hoods Geben an die Armen wesentlich mehr Leid verhindert als erzeugt, dann überwiegt die Befürwortung nicht nur die Ablehnung, sondern hebt sie vielmehr auf. Das liegt daran, dass Verhinderung und Erzeugung von Leid kommensurabel, also direkt miteinander verrechenbar sind. Wenn wir wissen wollen, ob eine bestimmte Handlung hinsichtlich ihrer Leidbilanz abzulehnen oder zu befürworten ist, dann können wir einfach das Leid, das durch diese Handlung erzeugt wird, und das Leid, das durch diese Handlung verhindert wird, gegeneinander aufrechnen und so zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Dementsprechend würden wir eine Duldung von Robin Hoods Taten auch nicht als Toleranz bezeichnen wollen, sofern lediglich die Leidbilanz dieser Taten der Maßstab ihrer normativen Bewertung ist – und das, obwohl eine solche Bewertung in dem Sinne ambivalent ausfallen würde, als dass durch Robin Hoods Handeln sowohl Leid verhindert als auch Leid erzeugt wird. Eine leichte Modifikation – so die Überlegung hinter Forsts Vorschlag – genügt jedoch, um das zu ändern: Angenommen, Robin Hood handelt nicht aufgrund eines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns, sondern aus reiner Geltungssucht. Insofern nicht nur die Konsequenzen, sondern auch die zugrundliegenden Absichten in die normative Bewertung einer Handlung einfließen, könnte in diesem Fall Toleranz eine mögliche Haltung darstellen, wenn wir davon ausgehen, dass die unbeabsichtigten guten Folgen die schlechten Absichten überwiegen. Der Grund, warum Toleranz hier eine mögliche Reaktion sein könnte, ist, dass Absichten und Folgen einer Handlung nicht kommensurabel, also nicht direkt miteinander verrechenbar sind. Es ist zwar denkbar, dass die guten Folgen einer Handlung die dahinterstehenden schlechten Absichten überwiegen. Trotzdem bleibt auch in einem solchen Fall die Handlung in gewisser Hinsicht schlecht, auch wenn sie in anderer Hinsicht gut ist. Man kann also nur dann eine Handlung tolerieren, wenn man sie sowohl befürwortet als auch ablehnt, wobei die Befürwortung die Ablehnung zwar überwiegen muss, aber nicht aufheben darf. Das ist aber nur dann möglich, wenn sich Befürwortung und Ablehnung auf verschiedene Hinsichten beziehen und somit inkommensurabel sind. Beziehen sie sich auf dieselbe Hinsicht, kann man sie gegeneinander aufrechnen

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

und zu einem eindeutigen Urteil kommen, wodurch eine der beiden Komponenten aufgehoben wird. Was ist von Forsts Vorschlag zu halten? Meiner Meinung nach ist er insofern problematisch, als dass er erstens nicht vollständig unsere vortheoretischen Intuitionen einfangen kann, und er sich zweitens nicht ohne Weiteres auf alle Dimensionen normativer Bewertung anwenden lässt. Warum kann er nicht vollständig unsere vortheoretischen Intuitionen einfangen? Das grundlegende Problem, vor dessen Hintergrund Forst argumentiert, war ja das folgende: Die Duldung von etwas ist nur dann eine Form von Toleranz, wenn sie durch eine ambivalente normative Bewertung des Geduldeten rationalisiert wird. Nun scheint es aber so zu sein, dass eine ambivalente normative Bewertung nur unter bestimmten Umständen eine duldsame Reaktion rationalisiert. Forst gelingt es nun ein Stück weit, diese Umstände näher zu spezifizieren: So bemerkt er vollkommen richtig, dass sich Befürwortung und Ablehnung auf unterschiedliche Hinsichten beziehen müssen, da ansonsten eine einfache Aufrechnung möglich ist, die die Ambivalenz der Bewertung aufheben würde. Durch die Einführung der Bedingung, dass die positive Evaluation die negative Evaluation übertrumpfen muss, können zudem Fälle ausgeschlossen werden, in denen einer substantiellen negativen Bewertung eine sehr schwache Befürwortung gegenübergestellt wird. Diese Bedingung reicht jedoch nicht aus, um Fälle auszuschließen, in denen eine sehr starke Befürwortung einer vergleichsweise schwachen Ablehnung gegenübergestellt wird. Trotzdem ist es wichtig, auch solche Fälle auszuschließen. Denn in Fällen, in denen die Befürwortung die Ablehnung hinreichend stark überwiegt, scheint Duldung keine Form von Toleranz, sondern vielmehr eine Form von Ignoranz zu sein: Sofern es beispielsweise in Fällen, in denen eine abweichende Handlung aus moralischer Perspektive eindeutig positiv bewertet wird, angesichts dieser Bewertung ignorant wäre, sein eigenes Verhalten aus Faulheit oder Bequemlichkeit nicht entsprechend zu modifizieren, wäre es ebenso ignorant, eine positiv bewertete Handlung lediglich zu dulden, sobald es irgendeine noch so vernachlässigbare negative Bewertung dieser Handlung gibt, die der positiven Bewertung gegenübergestellt werden kann. Angesichts dessen könnte man nun Forsts Vorschlag einfach ergänzen: Eine duldsame Reaktion wird nur dann in dem für eine tolerante Haltung charakteristischen Sinne durch eine ambivalente Evaluation rationalisiert, wenn sich Befürwortung und Ablehnung auf unterschiedliche Hinsichten beziehen, und die Befürwortung die Ablehnung zu einem gewissen Grad überwiegt. Das Problem ist jedoch, dass – selbst wenn man zugesteht, dass sich der nun geforderte spezifische Grad, zu dem die Befürwortung die Ablehnung überwiegen soll, genau identifizieren lässt – sich auch dieser modifizierte Vorschlag nicht ohne Weiteres auf alle Dimensionen normativer Bewertung anwenden lässt. Worin genau hier die Schwierigkeit besteht, wird deutlich, wenn man versucht, Forsts Vorschlag auf unsere Konzeption epistemischer Toleranz zu übertragen. Auf den ersten Blick scheint die formulierte Konzeption epistemischer Toleranz kompatibel mit den von Forst geforderten Bedingungen zu sein. Wenn die für die hier relevante Form epistemischer Toleranz spezifische Befürwortung auf die

2.1 Eine Konzeption epistemischer Toleranz

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Rechtfertigung, die Ablehnung aber auf die Wahrheit der geduldeten Überzeugung abzielt, dann beziehen sich Befürwortung und Ablehnung auf unterschiedliche Hinsichten und lassen sich somit nicht direkt miteinander verrechnen. Es muss also nicht befürchtet werden, dass die negative Bewertung einer Überzeugung als falsch durch ihre positive Bewertung als gerechtfertigt aufgehoben wird. Ein Problem ergibt sich jedoch, wenn man überlegt, wie im Fall epistemischer Toleranz die Befürwortung die Ablehnung überhaupt überwiegen kann. Beim obigen Beispiel aus dem praktischen Bereich gab es hier noch kein Problem: Sowohl schlechte Absichten, als auch gute Folgen kommen in Graden – Absichten können mehr oder weniger schlecht sein, und Folgen können mehr oder weniger gut sein. Dass im modifizierten Fall von Robin Hood Toleranz eine rationale Reaktion sein könnte, insofern die Befürwortung die Ablehnung überwiegt, bedeutet also lediglich, dass Toleranz in diesem Fall eine rationale Reaktion sein könnte, wenn die Folgen zu einem höheren Grad gut sind als die Absichten schlecht. 28 Diese Überlegung lässt sich nun aber nicht ohne Weiteres auf den erkenntnistheoretischen Bereich übertragen: Das Problem ist, dass in Fällen epistemischer Toleranz die tolerierte Überzeugung aufgrund ihrer Falschheit abgelehnt werden soll. Wahrheit und Falschheit sind aber keine graduellen Eigenschaften, eine Überzeugung kann nicht mehr oder weniger falsch sein. Dementsprechend ist auf den ersten Blick überhaupt nicht klar, was es im Falle epistemischer Toleranz überhaupt heißen könnte, die Befürwortung müsse die Ablehnung überwiegen.29 Wenn bei epistemischer Toleranz die Befürwortungskomponente die Ablehnungskomponente nicht überwiegen kann in dem Sinne, dass das zu Befürwortende 28

In gewisser Weise kann man natürlich auch bezweifeln, dass es wirklich klar ist, was es in dem Fall von Robin Hood bedeutet, dass die guten Folgen die schlechten Absichten überwiegen. Denn auch wenn sowohl Folgen, als auch Absichten mehr oder weniger gut sein können, ist es ja nicht so, als ob die moralische Güte von Folgen und Absichten in einer Art gemeinsamer Maßeinheit gemessen werden könnte, die dann die Grundlage eines Vergleichs bilden würde. Im Folgenden soll diese Schwierigkeit jedoch nicht weiter beachtet und stattdessen zugestanden werden, dass eine Abwägung von Absichten und Folgen prinzipiell möglich ist. 29 Wenig überraschend gibt es auch einige Philosophen, die der Meinung sind, dass es sich bei Wahrheit sehr wohl um eine graduelle Eigenschaft handelt – etwa Vertreter der sogenannten Fuzzylogik wie Lotfi Zadeh oder Richard Bellman (siehe bspw. Zadeh 1975, Bellman und Zadeh 2011). Sollte Wahrheit tatsächlich graduell sein, ließe sich das für Toleranz erforderliche Verhältnis von Befürwortung und Ablehnung in epistemischer Hinsicht vermutlich analog zu den obigen Überlegungen ausbuchstabieren: Eine abweichende Überzeugung zu tolerieren, würde dann einfach bedeuten, diese Überzeugung zu dulden, weil man sie für in einem höheren Maße gerechtfertigt als falsch hält. Das Problem ist jedoch, dass die Vorstellung gradueller Wahrheit intuitiv sehr merkwürdig erscheint. So, wie wir normalerweise über Wahrheit nachdenken und sprechen, lässt Wahrheit einfach keine Grade zu: Peters Überzeugung, dass seine Schlüssel auf dem Wohnzimmertisch liegen, ist genau dann wahr, wenn Peters Schlüssel auf dem Wohnzimmertisch liegen, und genau dann falsch, wenn Peters Schlüssel nicht auf dem Wohnzimmertisch liegen. Es ist zunächst überhaupt nicht klar, was damit gemeint sein könnte, zu sagen, Peters Überzeugung sei mehr oder weniger wahr. Dementsprechend gehen auch die meisten Philosophen davon aus, dass Wahrheit keine graduelle Eigenschaft ist. Genauso werde auch ich in der weiteren Argumentation annehmen, dass Wahrheit keine graduelle Eigenschaft ist, und meine Konzeption epistemischer Toleranz vor dem Hintergrund dieser Annahme entwickeln.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

in einem höheren Maße oder stärkeren Grade vorliegt als das Abzulehnende, dann wäre es vielleicht eine Lösung, stattdessen über das Verhältnis zwischen den Überzeugungen, die die für epistemische Toleranz charakteristische ambivalente Bewertung konstituieren, nachzudenken. Denn auch wenn man Grade der Rechtfertigung nicht mit Graden der Wahrheit vergleichen kann, weil es überhaupt keine Grade der Wahrheit gibt, so kann man dennoch Grade der Überzeugung über Rechtfertigung mit Graden der Überzeugung über Wahrheit vergleichen. Schließlich können auch Überzeugungen, die sich auf nicht-graduelle Eigenschaften beziehen, in verschiedenen Graden vorliegen. Es macht zwar keinen Sinn, davon überzeugt zu sein, dass eine Überzeugung mehr oder weniger wahr ist – es macht aber durchaus Sinn, mehr oder weniger davon überzeugt zu sein, dass eine Überzeugung wahr ist. Die Idee wäre also, dass im Falle epistemischer Toleranz die Befürwortung die Ablehnung überwiegt in dem Sinne, dass die Überzeugung in die Rechtfertigung der fremden Überzeugung stärker ist als die Überzeugung in die Falschheit der fremden Überzeugung. Alternativ könnte statt der Überzeugungsstärke auch der Rechtfertigungsgrad der jeweiligen Überzeugungen in Betracht gezogen werden: Die Idee wäre hier, dass im Rahmen einer epistemisch toleranten Haltung die Befürwortung die Ablehnung in dem Sinne überwiegen muss, dass die Überzeugung in die Rechtfertigung der fremden Überzeugung besser gerechtfertigt sein muss als die Überzeugung in die Falschheit der fremden Überzeugung. Ein Problem an diesen Vorschlägen ist jedoch, dass sie den Begriff epistemischer Toleranz stark verengen würden. Nehmen wir etwa an, man wäre angesichts einer Meinungsverschiedenheit nur dann tolerant, wenn man stärker davon überzeugt wäre, dass die Überzeugung der Gegenseite gerechtfertigt ist, als davon, dass sie falsch ist. Wenn dem so wäre, könnte man in einem Dissens, in dem man sich seiner Sache einigermaßen sicher ist, nur tolerant sein, wenn man sich extrem sicher ist, dass die Gegenseite gerechtfertigt ist. Dieses Ergebnis könnte insofern problematisch sein, als dass sich Forderungen nach Toleranz nicht auf Fälle beschränken sollten, in denen die beteiligten Personen nur schwach von ihrer Position überzeugt sind. Denn auf Forderungen nach Toleranz stößt man vor allem in Kontexten, in denen es um grundlegende Fragen über die Wahrheit von wissenschaftlichen, weltanschaulichen oder religiösen Ansichten geht. Gerade in solchen Fällen haben viele Menschen jedoch besonders starke und stabile Überzeugungen. Eine tolerante Haltung wäre hier also nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Ein ähnliches Problem ergibt sich, wenn man davon ausgeht, dass man nur dann angesichts einer Meinungsverschiedenheit tolerant ist, wenn man bessere Gründe für die Annahme hat, dass die Überzeugung der Gegenseite gerechtfertigt ist, als für die Annahme, dass sie falsch ist. Denn wenn dem so wäre, könnte man in vielen Fällen vermutlich erst nach einer sehr sorgfältigen Bewertung des Rechtfertigungsstatus der fremden Überzeugung eine tolerante Haltung gegenüber dieser Überzeugung einnehmen. Oft genug wird es vermutlich schwierig sein, hinreichend viel Evidenz über den Rechtfertigungsstatus der fremden Überzeugung zu sammeln, um zu einer sehr gut gerechtfertigten Bewertung zu kommen. Das wäre nun insofern

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problematisch, als dass es nicht übermäßig schwierig sein sollte, tolerant gegenüber konfligierenden Überzeugungen zu sein, da ansonsten Forderungen nach Toleranz nur eine sehr begrenzte Reichweite hätten. Ein zweites und vermutlich schwerwiegenderes Problem der beiden Vorschläge ist jedoch, dass sie einigermaßen ad hoc wirken. Warum sollten auf der erkenntnistheoretischen Ebene plötzlich die mit Befürwortung und Ablehnung einhergehenden Überzeugungs- oder Rechtfertigungsgrade relevant sein? Denn schließlich gehen auch auf der praktischen Ebene Befürwortung und Ablehnung mit spezifischen Überzeugungs- und Rechtfertigungsgraden einher. Deren Verhältnis zueinander scheint jedoch für die Möglichkeit von praktischer Toleranz irrelevant zu sein. Nehmen wir etwa das modifizierte Beispiel von Robin Hood: Für die Möglichkeit von Toleranz ist hier gar nicht relevant, wie stark man von den schlechten Absichten oder den guten Folgen überzeugt ist, oder wie gut man in den jeweiligen Überzeugungen gerechtfertigt ist. Ausschlaggebend ist lediglich, dass man von beidem überzeugt ist und somit Robin Hoods Taten sowohl befürwortet als auch ablehnt. Wie stark man davon überzeugt ist, dass Robin Hood schlechte Absichten hat, oder in welchem Maße man in dieser Überzeugung gerechtfertigt ist, ist irrelevant hinsichtlich der Möglichkeit von Toleranz, solange man gleichzeitig auch noch davon überzeugt ist, dass seine Handlungen gute Folgen haben, die die schlechten Absichten überwiegen.30 Aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Eigenschaft der Wahrheit zeigt sich also bei dem Versuch der Anwendung auf den erkenntnistheoretischen Bereich ein grundlegendes Problem der von Forst formulierten Bedingungen. Entscheidend ist nun, dass sich dieses Problem nicht auf erkenntnistheoretische Dimensionen beschränkt – ganz analog taucht es auch dann auf, wenn man Toleranz aus einer rein praktischen Perspektive betrachtet. Denn auch in ethischen Kontexten gibt es nichtgraduelle normative Evaluationen. Beispielsweise ist im Rahmen deontologischer Ansätze für die ethische Bewertung einer Handlung relevant, ob diese Handlung eine moralische Pflicht verletzt oder nicht. Die Verletzung einer moralischen Pflicht durch eine Handlung ist aber ebenso wie die Wahrheit einer Überzeugung keine graduelle Angelegenheit. Sofern Forsts Vorschlag also theoretisch neutral sein und deontologische Ansätze nicht von Vornherein ausschließen möchte, ergibt sich auch auf rein praktischer Ebene das Problem, dass zunächst überhaupt nicht klar ist, was damit gemeint sein soll, dass die Befürwortung die Ablehnung überwiegen, aber nicht aufheben soll. Die obigen Überlegungen zeigen also nicht, dass sich das Konzept der Toleranz nicht oder nur bedingt auf den erkenntnistheoretischen Bereich übertragen lassen – sie legen vielmehr nahe, dass auf einer ganz grundsätzlichen 30

Natürlich kann es sein, dass gute Gründe für die Annahme, dass die Handlungen einer Person gute Folgen haben, gleichzeitig gute Gründe gegen die Annahme sind, dass diese Person schlechte Absichten hat – etwa, weil die Handlungen von Personen mit schlechten Absichten meistens auch schlechte Folgen haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass in solchen Fällen die Befürwortung immer besser gerechtfertigt ist als die Ablehnung, und die Befürwortung die Ablehnung in diesem Sinne überwiegt. Es ist problemlos möglich, dass man sowohl für die Annahme, dass die Handlungen einer Person gute Folgen haben, als auch für die Annahme, dass diese Person schlechte Absichten hat, gleichermaßen gute Gründe hat.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

Ebene nicht klar ist, wie genau das für eine tolerante Haltung charakteristische Verhältnis von Befürwortung und Ablehnung am besten interpretiert werden sollte. Anstatt nun direkt nach besseren Interpretationsmöglichkeiten zu suchen, scheint es an dieser Stelle zunächst sinnvoll, noch einmal einen Schritt zurück zu treten und zu hinterfragen, ob und warum eine solche Interpretation überhaupt notwendig ist. Die bisherige Überlegung diesbezüglich war ja, dass es nur dann ein Ausdruck von Toleranz ist, etwas aufgrund einer ambivalenten normativen Bewertung zu dulden, wenn die zugrundeliegende ambivalente Bewertung durch ein spezifisches Verhältnis von Befürwortung und Ablehnung gekennzeichnet ist. Duldungen aufgrund ambivalenter Bewertungen, bei denen eine Bewertungskomponente die andere bei Weitem überwiegt, wären dementsprechend streng genommen überhaupt keine Instanzen von Toleranz, und aus diesem Grund ist eine genaue Spezifizierung des erforderlichen Verhältnisses von Befürwortung und Ablehnung für ein adäquates Verständnis des Toleranzbegriffs unentbehrlich. Nun kann man sich aber fragen, wie plausibel man diese Überlegung überhaupt findet. Nehmen wir etwa folgendes Beispiel: Ein junger Mann begeht einen Banküberfall, erschießt dabei zwei Bankangestellte, bei der anschließenden Verfolgungsjagd werden drei Polizisten getötet und mehrere Passanten schwer verletzt. Doch der Bankräuber handelt aus hehren Motiven: Er braucht das Geld, um seiner Verlobten eine Reise auf die Malediven zu spendieren und ihr somit eine Freude zu bereiten. Wäre es in diesem Fall ein Ausdruck von Toleranz, das Verhalten des Mannes zu dulden, weil er zwar im Zuge seines Banküberfalls mehrere Personen getötet hat, gleichzeitig aber seiner Verlobten eine Freude machen wollte? Es sollte unstrittig sein, dass gute Absichten und schlimme Folgen hier in einem extremen Missverhältnis stehen, und aus genau diesem Grund würden wohl auch viele Leute zögern, eine Duldung seines Verhaltens als Toleranz zu bezeichnen. Nun könnte man jedoch dafür argumentieren, dass auch an dieser Stelle wieder zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Formen von Toleranz unterschieden werden muss. So wäre es zwar in keinem Fall gerechtfertigt, das Verhalten des Bankräubers zu dulden, nur weil er aus lobenswerten Absichten handelt. Das bedeutet aber nicht, dass eine entsprechende Duldung kein Ausdruck von Toleranz wäre. Vielleicht stimmt es einfach nicht, dass eine auf einer ambivalenten normativen Bewertung basierende Duldung nur dann Toleranz konstituiert, wenn die zugrundeliegende ambivalente Bewertung durch ein spezifisches Verhältnis von Ablehnung und Befürwortung gekennzeichnet ist. Um eine Konzeption epistemischer Toleranz zu entwickeln, wäre es dann gar nicht notwendig, ein genaues Verhältnis von Befürwortung und Ablehnung zu spezifizieren – epistemisch tolerant zu sein, würde eben nichts anderes bedeuten, als eine fremde Überzeugung zu dulden, weil man sie zwar für falsch, gleichzeitig aber auch für gerechtfertigt hält. Doch selbst wenn diese Überlegung richtig ist, kommt man wohl nicht um die Spezifizierung eines genaueren Verhältnisses von Ablehnung und Befürwortung herum: Denn auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Duldung einer fremden Überzeugung ein Ausdruck epistemischer Toleranz ist, sobald sie auf einer ambivalenten epistemischen Bewertung beruht, sollte nach wie vor unstrittig sein, dass

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die Duldung einer fremden Überzeugung nicht angemessen ist, sobald sie auf einer ambivalenten epistemischen Bewertung beruht. Und genauso verhält es sich auch hinsichtlich praktischer Toleranz: Selbst wenn die Duldung einer Handlung ein Ausdruck von Toleranz ist, sobald sie auf einer ambivalenten ethischen Bewertung beruht, sollte unstrittig sein, dass die Duldung einer Handlung nicht angemessen ist, sobald sie auf einer ambivalenten ethischen Bewertung beruht – das zeigen die obigen Überlegungen zum Fall des Bankräubers. Eine substantielle philosophische Reflexion praktischer Toleranz sollte ihren Ausgangspunkt nun nicht bei einer Toleranzkonzeption nehmen, die eine Haltung beschreibt, die ganz offensichtlich in sehr vielen Fällen inadäquat ist. Viele Leute finden es sehr plausibel, dass die Duldung einer Handlung aufgrund einer ambivalenten ethischen Bewertung angemessen ist, sofern ein spezifisches Verhältnis zwischen Ablehnung und Befürwortung vorliegt. Die philosophische Forschung sollte nun zunächst versuchen, herauszufinden, wie genau dieses Verhältnis aussehen soll, und dann untersuchen, ob die Duldung einer Handlung aufgrund einer ambivalenten ethischen Bewertung tatsächlich adäquat ist, sofern das entsprechende Verhältnis von Befürwortung und Ablehnung vorliegt. Analoges gilt für eine philosophische Reflexion epistemischer Toleranz: Dass die Duldung einer fremden Überzeugung aufgrund einer ambivalenten epistemischen Bewertung in allen Fällen adäquat ist, scheint offensichtlich falsch zu sein. Gleichzeitig sind aber viele Leute der Meinung, dass eine solche Duldung adäquat ist, sofern ein spezifisches Verhältnis zwischen Ablehnung und Befürwortung vorliegt. Eine philosophisch gehaltvolle Konzeption epistemischer Toleranz sollte nun genau diese Haltung herausgreifen, die viele Leute für besonders empfehlenswert halten, und für diese Haltung ist ein besonderes Verhältnis von Ablehnung und Befürwortung nun einmal charakteristisch. Zwar könnte es sein, dass eine solche Konzeption nur eine spezifische Form epistemischer Toleranz herausgreift – sie greift dann jedoch immer noch genau die Form epistemischer Toleranz heraus, die philosophisch interessant ist und somit einer erkenntnistheoretischen Untersuchung zugänglich gemacht werden sollte. Was bedeutet das konkret? Offensichtlich sollte man nicht jede Überzeugung dulden, die man als falsch und gerechtfertigt bewertet. Besonders deutlich wird das in Fällen, in denen man eine fremde, gerechtfertigte Überzeugung für sehr viel besser gerechtfertigt hält als die eigene Überzeugung. Wenn ich beispielsweise aufgrund akuter Rückenschmerzen der Meinung bin, an einer Muskelverspannung zu leiden, mein Arzt aufgrund einer sorgfältigen Untersuchung meines Rückens aber der Meinung ist, dass ich eine Blockade im Lendenwirbelbereich habe, dann muss ich zugestehen, dass mein Arzt sehr viel bessere Gründe für sein Urteil hat und dementsprechend auch in seiner Meinung besser gerechtfertigt ist als ich. In diesem Fall die Überzeugung des Arztes zu dulden, weil ich sie zwar für falsch, gleichzeitig aber auch für gerechtfertigt halte, scheint eindeutig inadäquat zu sein. Da mein Arzt sehr viel bessere Gründe für sein Urteil hat, sollte ich meine Überzeugung modifizieren und nicht weiter davon ausgehen, an einer Muskelverspannung zu leiden. Ob eine Duldung in diesem Fall überhaupt ein Ausdruck von Toleranz wäre, ist unklar – vielleicht würde man hier eher von Ignoranz als von Toleranz sprechen. Doch

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

selbst wenn es sich um einen Ausdruck von Toleranz handeln sollte, dürfte es unstrittig sein, dass es sich dabei um eine ungerechtfertigte Form der Toleranz handelt. Weil mein Arzt sehr viel bessere Gründe für sein Urteil hat als ich, sollte ich seine Überzeugung nicht einfach tolerieren. Ebenfalls sollten wir Überzeugungen nicht tolerieren, sobald ihnen auch nur der geringste Grad der Rechtfertigung zukommt: Wenn beispielsweise ein Grundschüler der Überzeugung ist, dass 6x6=28 gilt, dann sollte sein Mathematiklehrer diese Überzeugung nicht einfach dulden. Denn auch wenn der Grundschüler aufgrund redlicher Rechenbemühungen zu seinem Ergebnis gekommen und somit in seiner Überzeugung zumindest in einem gewissen Grade gerechtfertigt ist, hat sein Lehrer doch ungleich bessere Gründe, um zu wissen, dass sein Schüler falsch liegt. Andererseits gibt es aber auch Fälle, in denen eine tolerante Duldung angesichts der Bewertung einer fremden Überzeugung als falsch und gerechtfertigt sehr wohl eine adäquate Reaktion darzustellen scheint: Marta ist eine Atheistin und glaubt, dass es so etwas wie den christlichen Gott nicht gibt. Sie wurde in einem latent religiösen Elternhaus groß, hat aber früh gemerkt, dass sie mit der Idee einer allmächtigen und allwissenden Gottheit nicht viel anfangen kann. Während ihres Studiums hat sie sich mit verschiedenen philosophischen Argumenten für und gegen die Existenz Gottes auseinandergesetzt, was sie in ihrem Atheismus bestätigte. Martas Freund Ulf hingegen ist Theist und glaubt, dass Gott existiert. Sein Gottesglaube ist nicht etwa das Ergebnis einer strengen religiösen Erziehung, sondern basiert auf sorgfältiger Reflexion. Ursprünglich eher agnostisch eingestellt, hatte Ulf nach dem Abitur aus Neugierde angefangen, Theologie zu studieren. Das Studium brach er zwar letztendlich ab, doch im Zuge seiner Beschäftigung mit grundlegenden theologischen Fragestellungen kam er immer mehr zu der Überzeugung, dass Gott tatsächlich existiert. Marta und Ulf haben schon viele ausführliche Diskussionen über die Existenz Gottes geführt. Beide schätzen sich als redliche und aufgeschlossene Gesprächspartner, und beide respektieren die Gründe, die der jeweils andere für seine Überzeugung hat. Obwohl sie bei ihrer Meinung bleiben, lassen sie auch dem jeweils anderen seine Überzeugung. Im Gegensatz zu der Situation zwischen mir und meinem Arzt oder der zwischen dem Grundschüler und seinem Lehrer scheint in dem Fall von Marta und Ulf die gegenseitige Duldung ihrer Überzeugungen absolut adäquat: Die beiden halten die Überzeugung des jeweils anderen zwar für falsch, respektieren sie aber gleichzeitig als gleichermaßen gerechtfertigt – ihre duldsame Reaktion scheint ein Ausdruck wünschenswerter Toleranz zu sein. Ob die Duldung einer fremden Überzeugung aufgrund ihrer Bewertung als falsch und gerechtfertigt also eine gerechtfertigte Form von Toleranz bzw. überhaupt erst eine Form von Toleranz darstellt, hängt offensichtlich von dem Grad der Rechtfertigung ab, der der fremden Überzeugung zugeschrieben wird. Konkret scheint der Gedanke hinter epistemischer Toleranz zu

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sein, dass eine tolerante Reaktion auf eine abweichende Überzeugung genau dann angemessen ist, wenn diese Überzeugung gleichermaßen gerechtfertigt ist.31 Die Annahme, dass es einen substantiellen Zusammenhang zwischen der Tolerierung einer Sache und der Bewertung dieser Sache als in gewisser Hinsicht ebenbürtig oder gleichwertig gibt, hat in der Ideengeschichte der Toleranz Tradition. Eine frühe, prominente Ausführung dieses Gedankens stellt Lessings sogenannte Ringparabel dar: In seinem Drama „Nathan der Weise“ werden die drei abrahamitischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams mit drei Brüdern verglichen, die von ihrem Vater jeweils einen Ring geerbt haben. Obwohl alle drei Ringe äußerlich ununterscheidbar sind, besitzt nur einer von ihnen eine besondere magische Kraft. Im weiteren Verlauf der Parabel wird nun dafür argumentiert, dass es angesichts dieser Konstellation für die drei Söhne am vernünftigsten wäre, sich tolerant zu verhalten: Zwar sollte jeder fest daran glauben, im Besitz des magischen Rings zu sein, andererseits aber auch die entsprechenden Ansprüche der jeweils anderen als gleichermaßen legitim anerkennen. Tatsächlich gehen auch in der gegenwärtigen philosophischen Forschung viele Autoren davon aus, dass es für eine tolerante Haltung notwendig ist, dem Tolerierten eine spezifische Form der Gleichwertigkeit zuzugestehen. So schreibt etwa Wendy Brown in ihrem Artikel „Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität“: „[…] Toleranz erfordert die öffentliche Zustimmung zu oder den Respekt gegenüber Überzeugungen und Werten, die sich mit den unsrigen nicht vertragen, gegenüber Überzeugungen und Werten, die wir für gänzlich falsch […] halten. […] Toleranz erfordert zudem, daß wir uns entweder in unserem Respekt gegenüber anderen heuchlerisch verhalten, indem wir vorgeben, das zu bejahen, was wir eigentlich für falsch […] halten, oder zu radikalen Relativisten werden, die davon ausgehen, daß unseren Überzeugungen kein größerer innerer Wert oder keine größere Glaubwürdigkeit zukommt als den Überzeugungen anderer.“32

Aufgrund ähnlicher Überlegungen wird in der Forschungsliteratur oft der von Brown postulierte Zusammenhang zwischen der Möglichkeit toleranten Verhaltens und der Plausibilität relativistischer Annahmen akzeptiert. Rainer Forst spricht in diesem Kontext von der sogenannten Wertschätzungskonzeption von Toleranz, die er von anderen Toleranzkonzeptionen abgrenzt.33 Charakteristisch für diese Konzeption von Toleranz ist laut Forst eine spezifische Form wechselseitiger Anerkennung, die letztlich auf wertepluralistische Annahmen zurückzuführen ist, gemäß derer es verschiedene gleichermaßen wertvolle, aber miteinander inkompatible normative Systeme gibt. In erkenntnistheoretischen Kontexten scheint es also sinnvoll, eine vergleichsweise anspruchsvolle Konzeption von Toleranz zu bemühen, in deren Rahmen tolerierte Überzeugungen als in entscheidender Hinsicht epistemisch gleichwertig bewertet werden müssen. Denn vor dem Hintergrund einer solchen Konzeption kann 31

Die Idee, dass für epistemische Toleranz eine Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt charakteristisch ist, findet sich schon bei Grundmann 2015. 32 Brown 2000, 271. Eine ganz ähnliche Überlegung findet sich bei Forst 2003, 18. 33 Vgl. hierzu Forst 2003, 47 f.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

eine tolerante Haltung problemlos abgegrenzt werden von offensichtlich ungerechtfertigten Formen epistemischer Duldung wie etwa einem ignoranten Dogmatismus oder einem gleichgültigen ‘anything goes‘–Pluralismus.34 In einem erkenntnistheoretischen Sinne ist man angesichts eines Dissenses dementsprechend nicht tolerant, sobald man eine Überzeugung duldet, die man für falsch und gerechtfertigt hält – epistemisch tolerant ist man erst dann, wenn man eine Überzeugung duldet, obwohl man sie für falsch hält, weil man gleichzeitig davon ausgeht, dass sie gleichermaßen gerechtfertigt ist. Die Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit, um die es im Weiteren gehen soll, lässt sich also folgendermaßen charakterisieren: [Epistemische Toleranz] Angesichts einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Subjekten S und S‘ hinsichtlich der Proposition p toleriert S die Überzeugung M von S’ bezüglich p genau dann epistemisch, wenn S M duldet, weil S M zwar für falsch, aber dennoch im Vergleich zu der eigenen Überzeugung bezüglich p für gleichermaßen gerechtfertigt hält.

Eine epistemisch tolerante Haltung in genau diesem Sinne soll nun im restlichen Teil der Arbeit einer ausführlichen, kritischen Bewertung unterzogen werden. Zuvor möchte ich jedoch noch diskutieren, inwieweit es sich bei der durch die soeben entwickelte Konzeption herausgegriffenen Haltung um eine relevante Haltung handelt, und ob es sich tatsächlich um eine tolerante Haltung im wörtlichen Sinne handelt.

2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen Die obigen Überlegungen zeigen, dass es eine genuin epistemische Haltung gibt, die zentrale Merkmale aufweist, die viele Philosophen als spezifische Merkmale von Toleranz bezeichnen würden. Tatsächlich sind die Parallelen zwischen der durch die entwickelte Konzeption epistemischer Toleranz herausgegriffenen Haltung und der unter dem Begriff der Toleranz im Rahmen der praktischen Philosophie diskutierten Haltung auffällig: Bei beiden Haltungen handelt es sich um eine spezifische Form der Duldung, die durch eine ambivalente normative Bewertung des Geduldeten rationalisiert wird. Und bei beiden Haltungen ergeben sich dieselben Fragen und Probleme, wenn man versucht, das genaue Verhältnis von Ablehnung und Befürwortung zu spezifizieren, das diese Duldung rationalisiert. All dies legt nahe, dass es sich bei Toleranz eben nicht, so wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, um eine genuin politische oder ethische Haltung handelt, sondern vielmehr um eine abstrakte Haltung, die sich auf ganz verschiedene Bereiche normativer Bewertung übertragen lässt und somit auch auf rein intellektuelle Kontexte anwendbar ist. 34

Vgl. hierzu auch Šešelja et al. 2015, 114 ff.

2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen

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Doch selbst wenn man dieses Ergebnis akzeptiert, drängt sich die Frage auf, inwieweit es sich hierbei überhaupt um ein relevantes Ergebnis handelt. Denn auch wenn es ganz verschiedene Formen von Toleranz geben mag, könnte sich immer noch herausstellen, dass einige Toleranzformen bedeutsamer sind als andere. Eine einfache Erklärung dafür, dass die philosophische Toleranzforschung im Bereich der praktischen Philosophie angesiedelt ist, wäre etwa, dass es sich bei praktischen Toleranzformen schlichtweg um die Toleranzformen handelt, die aus akademischer und gesellschaftlicher Perspektive besonders relevant sind. Eine eingehende Beschäftigung mit rein epistemischen Toleranzformen wäre dementsprechend vielleicht nicht mehr als eine philosophische Fingerübung, die für andere philosophische Kontexte nicht von allzu großer Bedeutung ist. Doch auch wenn man weniger pessimistisch bezüglich der Relevanz epistemischer Toleranz ist, stellt sich angesichts der vorangegangenen Überlegungen die Frage, worin genau diese Relevanz besteht. Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass es sich bei der durch die im vorherigen Abschnitt entwickelte Konzeption herausgegriffenen Haltung um eine Haltung handelt, deren kritische Bewertung sowohl für verschiedene philosophische Diskurse als auch für unsere intellektuelle Praxis von großer Bedeutung ist. Gemäß der vorgeschlagenen Konzeption bezeichnet epistemische Toleranz die Duldung einer als falsch, aber gleichermaßen gerechtfertigt bewerteten Überzeugung. Damit greift diese Konzeption eine Haltung heraus, die in verschiedensten intellektuellen Diskursen von zentraler Bedeutung und Gegenstand lebhafter Kontroversen ist. Beginnen wir mit einem Beispiel. Am 22. Oktober 1996 titelte die New York Times: „Indian Tribes‘ Creationists Thwart Archeologists“. In dem dazugehörigen Artikel ging es um eine Meinungsverschiedenheit bezüglich der Herkunft indigener Völker in Nordamerika – während Archäologen davon ausgingen, dass vor etwa 10.000 Jahren die ersten Menschen von Asien über die Beringstraße nach Nordamerika gelangten, vertraten etwa die Cheyenne River Sioux die Auffassung, dass ihre Vorfahren aus dem Inneren der Erde gestiegen sind. Bemerkenswert ist nun die Art und Weise, wie beide Seiten auf diesen Konflikt reagierten. So wurde etwa Sebastian LeBeau, ein Vertreter der Cheyenne River Sioux, mit folgender Aussage zitiert: „We never asked science to make a determination as to our origins. We know where we came from. We are the descendants of the Buffalo people. They came from inside the earth after supernatural spirits prepared this world for humankind to live here. If non-Indians choose to believe they evolved from an ape, so be it. I have yet to come across five Lakotas who believe in science and in evolution.“35

Auf der anderen Seite äußerte sich Roger Anyon, ein britischer Archäologe: „Science is one of many ways of knowing the world. [The American Indian world view is] just as valid as the archeological viewpoint of what prehistory is about.“36 35 36

Johnson 1996. Ebd.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

Ganz ähnlich kommentierte Larry Zimmerman, ein Anthropologe an der University of Iowa: “I personally do reject science as a privileged way of seeing the world.”37 Es scheint so, als hätten in diesem Fall beide Seiten des Konflikts eine Haltung eingenommen, die einer epistemisch toleranten Haltung im hier relevanten Sinne entspricht: Sie bleiben bei ihrer Meinung, respektieren aber die Meinung der jeweiligen Gegenseite als gleichermaßen gültig und plädieren angesichts dessen für ein friedliches Nebeneinander beider Positionen. Der Autor des Artikels, George Johnson, weist nun explizit darauf hin, dass es sich bei diesem Beispiel nicht um einen außergewöhnlichen Einzelfall handelt, sondern dass es sich vielmehr um eine Konstellation handelt, wie sie auch regelmäßig in Auseinandersetzungen zwischen christlichen Kreationisten und Evolutionsbiologen beobachtet werden kann. Dies erklärt Johnson vor dem Hintergrund des Einflusses eines postmodernen Relativismus: Tatsächlich haben viele postmoderne Denker vor dem Hintergrund starker relativistischer Annahmen über Moral, Wahrheit und Rechtfertigung eben jene Haltung gefordert, die ich als epistemische Toleranz bezeichne. Die Idee hinter diesen Forderungen ist, dass es angesichts der Einsicht in die grundsätzliche historische und kulturelle Bedingtheit all unserer Überzeugungen unvernünftig wäre, arrogant oder belehrend gegenüber Andersdenkenden aufzutreten, die relativ zu ihrem kulturell-historischen Kontext ja genauso in ihren Ansichten gerechtfertigt sind wie wir selbst. Abgesehen davon, dass diese Forderungen in weiten Teilen der Geistes- und Kulturwissenschaften auf breite Resonanz gestoßen sind, haben sie in jüngster Zeit vor allem durch ihre politische Instrumentalisierung an unerwarteter Brisanz gewonnen. Unerwartet ist die politische Brisanz insofern, als dass aktuelle Versuche einer solchen Instrumentalisierung aus einem Umfeld kommen, von dem man eine Nähe zu postmodernem Gedankengut am wenigsten erwartet hätte. So versuchen gegenwärtig vermehrt konservative oder rechtsgesinnte Politiker, ihre Positionen zu stärken, indem sie darauf hinweisen, dass die konfligierenden Überzeugungen von gesellschaftlich akzeptierten Autoritäten nur eine von vielen möglichen, gleichberechtigten Sichtweisen repräsentieren. Ein besonders spektakulärer Auswuchs in diesem Kontext wäre vielleicht das Postulat von alternative facts von Seiten der Trump-Regierung – ein eindeutigeres Beispiel, das ebenfalls für einige öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist eine Situation, die sich im November 2018 im Deutschen Bundestag abgespielt hat: Nachdem sich die deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, in den Medien kritisch gegenüber der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und dem Adoptivrecht für Homosexuelle geäußert und unter anderem die Durchführung langfristig angelegter Studien zum Kindeswohl in Regebogenfamilien gefordert hatte, wurde sie im Bundestag vom Grünen-Abgeordneten Kai Gehring mit entsprechenden Langzeitstudien konfrontiert, die bereits durchgeführt wurden und eindeutig gegen eine Beeinträchtigung des Kindeswohls in Regenbogenfamilien sprechen. Karliczeks Reaktion auf diese Konfrontation bestand nun in einer 37

Ebd.

2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen

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Forderung nach mehr Toleranz: Sie betonte, dass sie lediglich ihre persönliche Meinung dargelegt hätte und zeigte sich überrascht, dass ausgerechnet eine Partei wie die Grünen, für deren Selbstverständnis der Wert der Toleranz eine zentrale Rolle zu spielen scheint, hierauf so intolerant reagierte. Die Art von Toleranz, die Karliczek hier einfordert, scheint nun klarerweise epistemischer Natur zu sein: So scheint sie zunächst eine spezifische Haltung gegenüber Überzeugungen einzufordern – Karliczeks Kritiker haben sich vermutlich nicht primär daran gestört, dass sie eine bestimmte Meinung geäußert hat, sondern eher daran, dass sie eine bestimmte Meinung überhaupt erst hat. Darüber hinaus scheint die Kritik an Karliczeks Überzeugung eindeutig intellektuell motiviert zu sein. Sie basiert nicht auf der Überlegung, dass es aus irgendeinem Grund ungünstig wäre, diese Überzeugung zu haben – sondern vielmehr auf der Überlegung, dass diese Überzeugung nicht der Wahrheit entspricht. Doch auch unabhängig von den radikalen und kontrovers rezipierten Theorien postmoderner Philosophie und ihrer politischen Instrumentalisierung finden sich in vielen anderen intellektuellen Diskursen regelmäßig Beschreibungen und Empfehlungen einer epistemisch toleranten Haltung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die politische Philosophie: In der politischen Philosophie beschäftigt sich eine ganze Reihe von Autoren mit der Frage, inwieweit der Umstand, dass Menschen hinsichtlich grundlegender Fragen unterschiedlicher Meinung sind, relevant für politische Theorien gerechter Gesellschaftsordnungen ist. So dreht sich etwa ein beachtlicher Teil des Werks von John Rawls um folgendes Problem: Wie lässt sich eine politische Gerechtigkeitskonzeption für eine demokratische Gesellschaft formulieren, die auf einer freiwilligen und fairen Kooperation zwischen freien, gleichen und politisch autonomen Bürgern basiert, wenn es zwischen diesen Bürgern grundlegende Dissense hinsichtlich fundamentaler moralischer und philosophischer Fragestellungen gibt?38 Bei der Diskussion dieses Problems legt Rawls großen Wert darauf, dass die problematischen Dissense sowohl stabil als auch rational sind: Dass Menschen verschiedener Meinung sind, ist kein zufälliger Umstand, der auf die Irrationalität Einzelner zurückzuführen ist. Vielmehr ist es ein zentrales Charakteristikum einer jeden demokratischen Gesellschaft, dass sich verschiedene miteinander konfligierende, aber dennoch gleichermaßen gerechtfertigte Ansichten herausbilden. Dies erklärt Rawls mit Hilfe des Konzepts der sogenannten Bürden der Urteilskraft, die in Unvollkommenheiten menschlicher Vernunft bestehen. Weil Menschen Evidenz unterschiedlich gewichten, Begriffe unterschiedlich interpretieren, private Evidenz besitzen oder unterschiedliche Hintergrundüberzeugungen haben, ist es geradezu unvermeidbar, dass sich in einer Gesellschaft konfligierende Überzeugungen bilden, die zwar nicht alle wahr, aber dennoch gleichermaßen vernünftig sein können.39 Angesichts dieser Konstellation, so Rawls, müssen vernünftige Individuen

38 39

Vgl. etwa Rawls 2005, 22 f. Rawls 2001, 32 ff.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

zwar die Ebenbürtigkeit abweichender Überzeugungen akzeptieren, können aber gleichzeitig auch bei ihren eigenen Überzeugungen bleiben. Er schreibt: „We recognize that our own doctrine has, and can have, for people generally, no special claims on them beyond their own view of its merits. Others who affirm doctrines different from ours are, we grant, reasonable also, and certainly not unreasonable. […] When we take the step beyond recognizing the reasonableness of a doctrine and affirm our belief in it, we are not being unreasonable. […] Beyond this, reasonable persons will think it unreasonable […] to repress comprehensive views that are not unreasonable, though different from their own.”40

Die Haltung, die Rawls hier vernünftigen Mitgliedern einer Gesellschaft zuschreibt, scheint nun tatsächlich nichts anderes zu sein als das, was ich unter epistemischer Toleranz verstehe: Sie bleiben bei ihrer Meinung, sehen aber gleichzeitig davon ab, die abweichenden Meinungen anderer zu modifizieren, insofern sie diese Meinungen als gleichermaßen vernünftig anerkennen. Mit dieser Überlegung steht Rawls alles andere als alleine dar. Tatsächlich dürfte eine kritische Untersuchung epistemischer Toleranz für alle liberalistischen Theorien, die einen sogenannten public reason account politischer Legitimität beanspruchen, von zentraler Bedeutung sein. Hierbei handelt es sich um einen weit verbreiteten und viel diskutierten Ansatz, dessen zentrale Idee ist, dass die Möglichkeit öffentlicher Rechtfertigung eine notwendige Bedingung politischer Legitimität ist. Genauer gesagt ist die Überlegung, dass eine politische Maßnahme oder Institution nur dann legitim ist, wenn sie gegenüber den Mitgliedern der Gesellschaft gerechtfertigt werden kann in dem Sinne, dass alle Mitglieder der Gesellschaft diese Maßnahme oder Institution gerechtfertigterweise akzeptieren können.41 Ausgehend von dieser Grundannahme gehen public reason-Theoretiker nun davon aus, dass vernünftige Mitglieder einer Gesellschaft zwar einerseits als Einzelpersonen in allen möglichen weltanschaulichen, politischen oder ethischen Überzeugungen gerechtfertigt sind, dass sie aber gleichzeitig akzeptieren, dass andere Mitglieder der Gesellschaft gerechtfertigterweise konfligierende Überzeugungen haben, und dass es dementsprechend nicht legitim wäre, die eigenen diesbezüglichen Überzeugungen auf einer politischen Ebene einzubringen, die über den Bereich privater Überzeugungsbildung hinausgeht.

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Rawls 2005, 60. So zumindest der Grundgedanke. Eine offensichtliche Sorge ist, dass die Rechtfertigungsmöglichkeit gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft eine zu starke Bedingung ist. So könnte sich leicht herausstellen, dass es kaum Maßnahmen oder Institutionen gibt, die gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft gerechtfertigt werden können – in diesem Fall würde ein public reason account politischer Legitimität anarchistische Konsequenzen haben. Angesichts dessen formulieren Liberalisten üblicherweise spezifische Restriktionen, sodass eine Maßnahme oder Institution nicht gegenüber allen, sondern etwa nur gegenüber allen hinreichend rationalen Mitgliedern einer Gesellschaft rechtfertigbar sein muss, um legitim zu sein (Enoch 2017). Für eine Diskussion, inwieweit es sich bei der Formulierung solcher Restriktionen um eine legitime Strategie handelt, siehe etwa Enoch 2015. 41

2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen

33

Im Rahmen des Liberalismus ist also ein stabiler Pluralismus konfligierender, aber gleichermaßen gerechtfertigter Meinungen charakteristisch für moderne Gesellschaften mit vernünftigen Mitgliedern.42 Entscheidend ist nun, dass mit Rechtfertigung in diesem Zusammenhang scheinbar tatsächlich epistemische Rechtfertigung gemeint ist. Beispielsweise schreibt Kevin Vallier in seinem Artikel über Public Justification in der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“: “A core assumption of public reason liberalism, the political theory associated with the idea of public justification, is that people’s reasons for action and belief can differ substantially. […] [Any] public reason liberal must accept that citizens can be rational to comply with reasons that others systematically reject and so, in some way or another, different individuals must be epistemically justified in affirming very different reasons. Note that this does not mean that members of the public must acknowledge the validity of a particular conception of justificatory reasons, rather that the public reason liberal theorist must accept an epistemology of justificatory reasons that allows that different reasons can be epistemically justified for different persons.”43

Die Idee ist also, dass vernünftige Mitglieder einer Gesellschaft in spezifischen Ansichten epistemisch gerechtfertigt sind, während sie gleichzeitig akzeptieren, dass andere Personen konfligierende Ansichten haben, die ebenfalls epistemisch gerechtfertigt sind.44 Das bedeutet zwar nicht direkt, dass im Rahmen des Liberalismus vernünftigen Mitgliedern eine epistemisch tolerante Haltung zugesprochen wird: Zunächst gehen Liberalisten lediglich davon aus, dass vernünftige Mitglieder einer Gesellschaft konfligierende Überzeugungen anderer Personen als gleichermaßen gerechtfertigt akzeptieren und dabei gerechtfertigterweise an ihrer eigenen Überzeugung festhalten. Prinzipiell ist eine solche Haltung kompatibel mit einer intoleranten Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten, bei der jeder versucht, Andersdenkende von der Falschheit ihrer Ansichten zu überzeugen. Andererseits ist aber nur schwer zu sehen, warum eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich zwar gegenseitig als gleichermaßen gerechtfertigt akzeptieren, in der aber gleichzeitig alle versuchen, abweichende Überzeugungen den eigenen Meinungen anzupassen, durch einen stabilen Pluralismus gekennzeichnet sein sollten. Von einer solchen Gesellschaft würde man vermutlich eher erwarten, dass sie zu einer monistischen Struktur tendiert, in der es der Mehrheit gelingt, ihre jeweilige Meinung durchzusetzen. Dementsprechend scheint es zunächst am natürlichsten, davon auszugehen, dass im Rahmen des Liberalismus vernünftigen Mitgliedern einer Gesellschaft eine tolerante Haltung in dem hier relevanten Sinne zugeschrieben wird: Sie bleiben bei ihrer Meinung, bewerten konfligierende Meinungen anderer Personen aber als

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Rawls 2005, xvii ff.; Vallier 2018, Abschnitt 1. Vallier 2018, Abschnitt 2.1. Meine Hervorhebung. 44 David Enoch diskutiert in seinem Aufsatz „Political Philosophy and Epistemology: The Case of Public Reason“ verschiedene Möglichkeiten, das im Kontext des Liberalismus relevante Verständnis epistemischer Rechtfertigung auszubuchstabieren sowie die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Implikationen (Enoch 2017). 43

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

gleichermaßen gerechtfertigt und versuchen dementsprechend auch nicht, diese abweichenden Meinungen den eigenen anzupassen. Angesichts dessen ist ohne Weiteres verständlich, warum Gesellschaften, deren Mitglieder vernünftig sind, durch einen stabilen Pluralismus konfligierender, aber gleichermaßen gerechtfertigter Überzeugungen gekennzeichnet sein sollen. Doch selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der Liberalismus vernünftigen Mitgliedern einer Gesellschaft keine epistemisch tolerante Haltung im engeren Sinne zuschreibt, wäre eine kritische Untersuchung epistemischer Toleranz für liberalistische Theorien immer noch von einiger Bedeutung. Denn in jedem Fall gehen Liberalisten davon aus, dass vernünftige Mitglieder einer Gesellschaft konfligierende Überzeugungen anderer Personen als gleichermaßen gerechtfertigt bewerten und angesichts dieser Bewertung trotzdem bei ihrer Überzeugung bleiben. Diese Haltung hat offensichtlich eine große Ähnlichkeit zu einer epistemisch toleranten Haltung. Sollte sich nun etwa herausstellen, dass eine epistemisch tolerante Haltung deshalb unangemessen ist, weil es irrational ist, angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt an seiner eigenen Überzeugung festzuhalten, dann würde dieses Ergebnis auch direkt für die Irrationalität eben jener Haltung sprechen, die Liberalisten vernünftigen Mitgliedern einer Gesellschaft explizit zuschreiben, und somit die Legitimität des Desiderats eines stabilen Pluralismus konfligierender, aber gleichermaßen gerechtfertigter Überzeugungen grundsätzlich infrage stellen. Dieser Zusammenhang wird sich darüber hinaus vermutlich nicht auf liberalistische Ansätze beschränken: So verteidigt etwa Robert Audi in seinem Beitrag zum „Oxford Handbook of Political Philosophy“ explizit die Ansicht, dass die politische Philosophie im Allgemeinen einen stabilen Pluralismus konfligierender, aber epistemisch gleichwertiger Überzeugungen als zentrales Desiderat einer adäquaten Theoriebildung berücksichtigen muss – und macht unmittelbar deutlich, dass ein solcher Pluralismus in seinen Augen ein Toleranzprinzip als zentrales Prinzip freiheitlich-demokratischer Gesellschaftsordnungen nahelegt. 45 Darüber hinaus gibt es auch in der Ethik verschiedene Strömungen, für die die Frage nach der Rationalität einer epistemisch toleranten Haltung von einiger Bedeutung sein wird. So gehen viele neo-aristotelische, intuitionistische und tugendethische Ansätze implizit oder explizit von der Annahme aus, dass es in ethischen Fragen Meinungsverschiedenheiten geben kann, in denen beide Seiten gleichermaßen gerechtfertigt sind, und in denen durch das bloße Auftreten der Meinungsverschiedenheit auch kein rationaler Druck zur Überzeugungsmodifikation generiert wird.46 Und auch im Bereich der theoretischen Philosophie gibt es Diskurse, in denen eine epistemisch tolerante Haltung explizit als wünschenswert propagiert oder zumindest als unproblematisch vorausgesetzt wird. So werden wir etwa noch sehen, dass in der Wissenschaftstheorie viele Autoren davon ausgehen, dass wissenschaftliche Gemeinschaften von einem epistemisch toleranten Verhalten ihrer Mitglieder 45 46

Audi 2012. Vgl etwa Wiggins 1998, 209 f.

2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen

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profitieren können. Eine kritische Bewertung dieser Haltung ist also eindeutig für verschiedene philosophische Diskurse von großer Bedeutung. Letztendlich ist die von mir als epistemische Toleranz bezeichnete Haltung aber auch abgesehen von irgendwelchen philosophischen Fachdiskursen für unsere alltägliche epistemische Praxis relevant. Sich gegenüber Überzeugungen, die man für falsch, aber gleichermaßen gerechtfertigt hält, tolerant zu verhalten, scheint nicht nur in den Augen der Vertreter spezifischer akademischer Disziplinen oder Strömungen, sondern auch in den Augen vieler Laien durchaus erstrebenswert. Zu Beginn des Kapitels wurde bereits Richard Feldman erwähnt, der bei vielen seiner Studenten eine spezifische intellektuelle Haltung beobachtet hat, die er explizit als tolerant bezeichnet. Und tatsächlich scheint Feldman dabei genau die Haltung zu meinen, die durch die hier entwickelte Konzeption epistemischer Toleranz herausgegriffen wird. Er schreibt: „Thinking someone else has a false belief is consistent with having any of a number of other favorable attitudes toward that person and that belief. You can think that the person is reasonable, even if mistaken. And this seems to be what my students thought: while they had their own beliefs, the others had reasonable beliefs as well. I think that the attitude that my students displayed is widespread. It is not unusual for a public discussion of a controversial issue to end with the parties to the dispute agreeing that this is a topic about which reasonable people can disagree.”47

Der Eindruck, dass es sich bei einer epistemisch toleranten Haltung um eine weit verbreitete Haltung handelt, sollte wenig überraschen. Denn tatsächlich ist eine tolerante Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten prima facie durchaus empfehlenswert: Sie scheint einen attraktiven Kompromiss zwischen zwei Haltungen zu ermöglichen, die auf den ersten Blick eindeutig unattraktiv wirken. So möchten wir einerseits nicht dogmatisch sein – wir sind uns unserer epistemischen Schwächen bewusst und wollen andere Sichtweisen nicht leichtfertig als minderwertig diskreditieren. Andererseits möchten wir aber auch skeptische Konsequenzen vermeiden und die Möglichkeit haben, an grundlegenden moralischen, philosophischen, religiösen oder politischen Ansichten festzuhalten, die teilweise von zentraler Bedeutung für unsere Identität sind – und zwar auch dann, wenn diese Ansichten nicht von allen geteilt werden. Genau deshalb scheint eine tolerante Haltung so attraktiv: Sie erlaubt es uns, andere Sichtweisen ernst zu nehmen und zu respektieren, ohne dabei von uns zu verlangen, die eigenen Überzeugungen aufzugeben. Die in diesem Kapitel entwickelte Konzeption epistemischer Toleranz greift also eine spezifische intellektuelle Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten heraus, deren kritische Bewertung aus verschiedenen Gründen relevant sein sollte. So handelt es sich einerseits um eine Haltung, die in verschiedenen philosophischen Diskursen eine gewisse Beachtung gefunden hat und von vielen Autoren mehr oder weniger explizit als erkenntnistheoretisch adäquat bewertet wurde. Andererseits handelt es sich um eine Haltung, die auch außerhalb akademischer Fachdiskurse in

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Feldman 2007, 194 ff. Ähnliche Beobachtungen finden sich auch bei Burkard 2017.

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2. Was bedeutet es, epistemisch tolerant zu sein?

den Augen vieler Menschen empfehlenswert ist und dementsprechend auch in unserer alltäglichen intellektuellen Praxis häufig anzutreffen ist. Das bedeutet, dass eine Konzeption epistemischer Toleranz nicht nur möglich, sondern auch nötig ist: Sofern es sich bei der herausgearbeiteten Haltung um eine solch relevante Haltung handelt, spielt es sogar nur eine untergeordnete Rolle, ob es sich hierbei auch um eine tolerante Haltung im wörtlichen Sinne handelt. Die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen haben zwar gezeigt, dass es tatsächlich zentrale Gemeinsamkeiten zwischen der herausgearbeiteten intellektuellen Haltung und einer toleranten Haltung im herkömmlichen, praktischen Sinne gibt. Somit liegt die Vermutung nahe, dass wir bereits die konzeptuellen Ressourcen besitzen, um die für uns relevante Haltung zu beschreiben, und dass es sich hierbei tatsächlich um eine besondere Form von Toleranz im wörtlichen Sinne handelt. Letztendlich hängt jedoch von der Richtigkeit dieser Vermutung nicht viel ab. Sollte sich herausstellen, dass es sich trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit bei der herausgearbeiteten Haltung nicht um eine tolerante Haltung im wörtlichen Sinne handelt, wäre eine genaue Beschreibung und Bewertung dieser Haltung nach wie vor relevant. Dementsprechend könnte man in diesem Fall auch für eine Modifikation bzw. Erweiterung des herkömmlichen Toleranzbegriffs argumentieren: Selbst wenn der Begriff der Toleranz, so wie wir ihn für gewöhnlich verwenden, lediglich politisch oder ethisch motivierte Haltungen herausgreift, könnte es unter Umständen trotzdem sinnvoll sein, diesen Toleranzbegriff so zu erweitern, dass er auch andere Haltungen mit einschließt, die zwar weder politisch noch ethisch motiviert sind, aber dennoch eine große Ähnlichkeit zu den durch den herkömmlichen Toleranzbegriff herausgegriffenen Haltungen aufweisen.48 Eine solche Erweiterung des Toleranzbegriffs wäre vor allem dann eine attraktive Option, wenn es einerseits noch keinen Begriff gibt, der diese fraglichen Haltungen herausgreift, es aber andererseits Kontexte gibt, in denen es wichtig ist, eine entsprechende Bezeichnung zu haben – und beides scheint auf die hier beschriebene Haltung zuzutreffen. Andererseits könnte man natürlich auch einfach einen neuen Begriff einführen, um eine Bezeichnung für die fragliche Haltung zu haben. Im Folgenden werde ich an der Bezeichnung als epistemische Toleranz festhalten. Diese Bezeichnung setzt jedoch nicht zwingend

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Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer Carnapschen Explikation des Toleranzbegriffs sprechen. Im ersten Kapitel seines Buches „Logical Foundations of Probability“ beschreibt Rudolf Carnap eine spezifische philosophische Herangehensweise, die er als Explikation bezeichnet (Carnap 1971). Grob gesprochen besteht eine Explikation darin, einen alltäglichen Begriff (Explikandum), der mehr oder weniger ungenau ist, in einen exakt definierten, wissenschaftlich verwertbaren Begriff (Explikatum) zu transformieren, bzw. durch einen solchen Begriff zu ersetzen. Dabei sollte der im Laufe der Explikation entwickelte Begriff einerseits fruchtbarer bzw. nützlicher als der ursprüngliche Begriff sein, gleichzeitig aber dem ursprünglichen Begriff möglichst ähnlich sein. Der von mir vorgeschlagene Toleranzbegriff wäre nun insofern eine erfolgreiche Explikation des alltäglichen Toleranzbegriffs, als dass er uns einerseits erlaubt, eine Vielzahl relevanter politischer, ethischer und epistemischer Phänomene zu beschreiben, andererseits aber trotzdem dem herkömmlichen Toleranzbegriff sehr ähnlich ist.

2.2 Warum wir eine Konzeption epistemischer Toleranz brauchen

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voraus, dass es sich bei der bezeichneten Haltung tatsächlich um eine tolerante Haltung im wörtlichen Sinne handelt und ist ebenso kompatibel mit der Annahme, dass es sich hierbei streng genommen um eine uneigentliche Bezeichnung handelt.

3. Toleranz und Relativismus Bevor ich mich der Frage widme, ob und unter welchen Umständen es epistemisch adäquat ist, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren, möchte ich zunächst auf ein etwas anders gelagertes Problem eingehen, nämlich das des Zusammenhangs zwischen Toleranz und Relativismus. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Forderungen nach Toleranz und relativistischen Annahmen? Diese Frage wird in Bezug auf Toleranz als ethische Haltung in der praktischen Philosophie bereits breit diskutiert.49 Auf den ersten Blick scheint eine positive Antwort durchaus plausibel: Ist es für eine tolerante Haltung nicht gerade charakteristisch, abweichende Verhaltensweisen als in gewisser Weise gleichwertig zu respektieren und sich somit von universalistischen Vorstellungen von richtig und falsch abzuwenden? Andererseits haben einige Autoren auf mögliche Spannungen zwischen Toleranzforderungen und relativistischen Annahmen hingewiesen. Die grundlegende Idee ist dabei, dass es unmöglich ist, universelle moralische Toleranzforderungen vor dem Hintergrund eines moralischen Relativismus zu verteidigen, der ja gerade die kontextuelle Bedingtheit aller moralischen Forderungen zu implizieren scheint. Ergibt sich ein analoges Problem auch hinsichtlich epistemischer Toleranz? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, um welche Art relativistischer Annahmen es überhaupt gehen soll. Denn der moralische Relativismus scheint für Forderungen nach epistemischer Toleranz in gewisser Weise irrelevant zu sein. Schließlich handelt es sich bei epistemischer Toleranz um keine moralische, sondern um eine intellektuelle Haltung: Forderungen nach epistemischer Toleranz sind somit in erster Linie rein intellektuelle Forderungen – sie beziehen sich auf Toleranz als eine aus einer rein erkenntnistheoretischen Perspektive empfehlenswerte Haltung und sind dementsprechend vollkommen kompatibel mit der relativistischen Annahme, dass es keine universell gültigen moralischen Forderungen gibt. Gleichzeitig sind sie aber auch kompatibel mit der universalistischen Annahme, dass es absolut gültige moralische Forderungen gibt. Auf der anderen Seite könnte es insofern Spannungen zwischen einem moralischen Relativismus und Forderungen nach epistemischer Toleranz geben, als dass es unter Voraussetzung des moralischen Relativismus problematisch sein könnte, die abweichenden ethischen Überzeugungen anderer als falsch zu bewerten – genau das verlangt jedoch eine epistemisch tolerante Haltung, für die eine Bewertung abweichender Überzeugungen als falsch ja gerade charakteristisch ist. Gleichzeitig sieht man leicht, dass es sich hierbei um kein spezifisches Problem des moralischen Relativismus handelt: Ganz allgemein scheinen unabhängig von einer spezifischen Domäne wahrheitsrelativistische Annahmen dagegen zu sprechen, im Falle einer Meinungsverschiedenheit die Überzeugung der Gegenseite einfach als falsch zu be-

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Siehe bspw. Graham 1998, Harrison 1976, Kim und Wreen 2003, Tilley 1994.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_3

3.1 Wahrheitsrelativismus

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werten. Eine solche Bewertung, so die Überlegung, setzt bereits einen nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff voraus, demgemäß Überzeugungen in einem absoluten, subjekt-unabhängigen Sinne wahr oder falsch sind. Wie überzeugend ist diese Überlegung?

3.1 Wahrheitsrelativismus Vor dem Hintergrund eines relativistischen Verständnisses von Wahrheit muss im Falle einer Meinungsverschiedenheit nicht zwangsweise eine Seite falsch liegen. Wenn Überzeugungen immer nur relativ – etwa zu Kulturen, persönlichen Erfahrungen oder akzeptierten Standards – wahr oder falsch sind, dann können in einer Meinungsverschiedenheit ebenso gut beide Seiten recht haben. Wenn beispielsweise ein Christ der Meinung ist, dass Jesus der Sohn Gottes ist, während ein Jude der Überzeugung ist, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist, dann könnten vor dem Hintergrund einer entsprechenden relativistischen Wahrheitstheorie beide eine wahre Überzeugung haben – etwa, weil beide Überzeugungen wahr relativ zum jeweiligen kulturellen Kontext sind. In diesem Fall wäre es also nicht richtig, die Überzeugung des Gegenübers als falsch zu bewerten – genau das verlangt jedoch eine epistemisch tolerante Haltung von uns. Diese Überlegung ist jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch. Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, was genau Relativisten in Bezug auf Wahrheit überhaupt behaupten. So gibt es zunächst eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten wahrheitsrelativistischer Theorien, nämlich die Unterscheidung zwischen einem genuinen und einem indexikalischen Wahrheitsrelativismus.50 Die grundsätzliche Idee hinter dem indexikalischen Wahrheitsrelativismus ist, dass Äußerungen der Form „x ist F“ relativierte Propositionen der Form [relativ zum Parameter P ist x F] ausdrücken. Diese relativierten Propositionen haben ihrerseits absolute Wahrheitsbedingungen – die Proposition [relativ zum Parameter P ist x F] ist genau dann wahr, wenn relativ zum Parameter P x F ist. Wenden wir dieses Modell auf unser Beispiel an: Wenn der Christ äußert, dass Jesus der Sohn Gottes ist, dann drückt er dadurch die Überzeugung aus, dass relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter Jesus der Sohn Gottes ist. Analog dazu drückt die Äußerung des Juden, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist, die Überzeugung aus, dass relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Die Äußerung des Christen ist nun genau dann wahr, wenn relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter Jesus der Sohn Gottes ist, und die Äußerung des Juden ist genau dann wahr, wenn relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter Jesus nicht der Sohn Gottes ist.51

50

Für eine genauere Diskussion dieser Unterscheidung siehe etwa Kölbel 2004b. An dieser Stelle drängt sich unmittelbar die Frage auf, was genau ein Parameter ist, und was es bedeutet, ein Parameter zu akzeptieren. Diese Frage lässt sich jedoch in dieser Allgemeinheit nicht 51

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3. Toleranz und Relativismus

Der genuine Wahrheitsrelativist hat demgegenüber eine etwas andere These. Gemäß des genuinen Wahrheitsrelativismus drücken Äußerungen der Form „x ist F“ nicht-relativierte Propositionen der Form [x ist F] aus. Diese nicht-relativierten Propositionen haben jedoch keine absoluten, sondern relative Wahrheitsbedingungen: Die Äußerung „x ist F“ ist also genau dann wahr, wenn relativ zu einem entsprechenden Parameter P die Proposition [x ist F] wahr ist. Wenden wir auch dieses Modell auf unser Beispiel an: Wenn der Christ äußert, dass Jesus der Sohn Gottes ist, dann drückt er dadurch die Überzeugung aus, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Analog dazu drückt die Äußerung des Juden, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist, die Überzeugung aus, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Die Überzeugung des Christen ist nun genau dann wahr, wenn es relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter wahr ist, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und die Überzeugung des Juden ist genau dann wahr, wenn es relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter wahr ist, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Inwiefern sind diese beiden Varianten des Wahrheitsrelativismus inkompatibel mit der für eine tolerante Haltung charakteristischen Bewertung einer abweichenden Überzeugung als falsch? Die Überlegung war ja, dass vor dem Hintergrund einer relativistischen Wahrheitstheorie im Falle einer Meinungsverschiedenheit problemlos beide Seiten eine wahre Überzeugung haben können. Zumindest vor dem Hintergrund des indexikalischen Wahrheitsrelativismus ist jedoch überhaupt nicht klar, warum dies der Fall sein sollte. Denn natürlich ist es vor dem Hintergrund des indexikalischen Relativismus möglich, dass sowohl die jüdische als auch die christliche Person eine wahre Überzeugung haben – dies wäre genau dann der Fall, wenn relativ zu dem von der christlichen Person akzeptierten Parameter Jesus der Sohn Gottes ist, während relativ zu dem von der jüdischen Person akzeptierten Parameter Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Gleichzeitig ist es aber fraglich, ob in einer solchen Situation überhaupt noch eine Meinungsverschiedenheit vorliegt. Denn dass relativ zu dem von der christlichen Person akzeptierten Parameter Jesus der Sohn Gottes ist, ist vollkommen kompatibel damit, dass relativ zu dem von der jüdischen Person akzeptierten Parameter Jesus nicht der Sohn Gottes ist. 52 Dementsprechend könnten in diesem Fall auch beide Seiten die Überzeugung ihres jeweiligen Gegenübers einfach übernehmen: Der Christ kann ohne Weiteres davon überzeugt sein, dass relativ zu dem von der jüdischen Person akzeptierten Standard Jesus nicht der Sohn Gottes ist, und die jüdische Person kann ohne Weiteres davon überzeugt sein, dass relativ zu dem von dem Christen akzeptierten Standard Jesus der Sohn Gottes. Es scheint also, als könne man vor dem Hintergrund beantworten, da verschiedene relativistische Theorien den Begriff des Parameters jeweils unterschiedlich ausbuchstabieren. Plausible Beispiele für entsprechende Parameter wären etwa kulturelle Bezugssysteme, subjektive Präferenzen, persönliche Erfahrungen oder Standards der Richtigkeit. Ein Parameter zu akzeptieren würde dementsprechend bedeuten, in einer bestimmten Kultur sozialisiert worden zu sein, bestimmte Präferenzen zu haben, spezifische Erfahrungen gemacht zu haben oder von spezifischen Standards der Richtigkeit überzeugt zu sein. 52 Dass der indexikalische Relativismus inkompatibel mit der Möglichkeit echter Meinungsverschiedenheiten ist, wurde schon von verschiedenen Autoren erkannt und oft als entscheidende Schwäche dieser Theorie angesehen. Siehe etwa Ebd., Lasersohn 2005 oder Wright 2001.

3.1 Wahrheitsrelativismus

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des indexikalischen Relativismus eine fremde Überzeugung nur dann als wahr bewerten, wenn keine echte Meinungsverschiedenheit vorliegt. Das ist jedoch vollkommen kompatibel mit Forderungen nach einer epistemisch toleranten Haltung, die ja lediglich im Falle echter Meinungsverschiedenheiten eine Bewertung der fremden Überzeugung als falsch verlangt. Sollte sich der indexikalische Relativismus als korrekt herausstellen, könnte das zwar tatsächlich bedeuten, dass man nicht epistemisch tolerant sein sollte – allerdings nur, insofern es dann überhaupt keine echten Meinungsverschiedenheiten gäbe, auf die man tolerant reagieren könnte, und nicht etwa, weil eine tolerante Haltung keine angemessene Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit wäre. Wie sieht es aus mit dem genuinen Wahrheitsrelativismus? Vor dem Hintergrund des genuinen Wahrheitsrelativismus ist es durchaus möglich, auch im Falle einer echten Meinungsverschiedenheit die Überzeugung des Gegenübers als wahr zu bewerten. So könnte etwa die christliche Person akzeptieren, dass die Überzeugung der jüdischen Person wahr ist, weil die Proposition [Jesus ist nicht der Sohn Gottes] relativ zu dem von der jüdischen Person akzeptierten Parameter wahr ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine echte Meinungsverschiedenheit vorliegt: Aus der Sicht der christlichen Person ist die Proposition [Jesus ist nicht der Sohn Gottes] nach wie vor falsch, und aus diesem Grund könnte sie diese Überzeugung auch nicht einfach übernehmen, ohne ihre Meinung zu ändern. Trotzdem gibt es keine Inkompatibilität zwischen dem genuinen Wahrheitsrelativismus und Forderungen nach epistemischer Toleranz. Denn nur, weil man vor dem Hintergrund des genuinen Wahrheitsrelativismus auch im Falle einer Meinungsverschiedenheit die Überzeugung des Gegenübers als wahr bewerten kann, heißt das noch nicht, dass man die Überzeugung des Gegenübers immer als wahr bewerten muss. So sollte es etwa möglich sein, dass man sich darüber irren kann, ob die eigenen Überzeugungen relativ zu dem akzeptierten Parameter wahr oder falsch sind. Nehmen wir etwa an, ein Christ glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und ein Bahai glaubt, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Tatsächlich ist es aber sowohl relativ zum christlichen, als auch relativ zum bahaistischen Parameter wahr, dass Jesus der Sohn Gottes ist – der Bahai geht also irrtümlicherweise davon aus, dass es relativ zum bahaistischen Parameter wahr ist, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Sofern der Christ nun weiß, dass es auch relativ zum bahaistischen Parameter wahr ist, dass Jesus der Sohn Gottes ist, wäre es aus seiner Perspektive legitim, die Überzeugung der bahaistischen Person als falsch zu bewerten – und zwar als falsch sowohl relativ zu dem von der bahaistischen Person akzeptierten Parameter als auch relativ zu dem von ihm selbst akzeptierten Parameter. Somit ist es also auch vor dem Hintergrund des genuinen Wahrheitsrelativismus möglich, im Falle einer Meinungsverschiedenheit die Überzeugung des Gegenübers als falsch zu bewerten. Viel entscheidender ist jedoch, dass selbst in Fällen, in denen die Überzeugung des Gegenübers relativ zu dem von ihm akzeptierten Parameter als wahr bewertet wird, diese Überzeugung immer noch als in entscheidender Weise epistemisch defizitär bewertet werden sollte – und zwar genau in der Weise, die für eine epistemisch tolerante Haltung entscheidend ist. Wenn etwa die christliche Person die

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3. Toleranz und Relativismus

Überzeugung hat, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und die jüdische Person die Überzeugung hat, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist, und darüber hinaus die Wahrheit von Überzeugungen von dem jeweils akzeptierten Parameter abhängt, dann sollten sowohl der Christ als auch der Jude die Überzeugung des jeweils anderen als wahr bewerten. Gleichzeitig sollten aber beide die Überzeugung des jeweils anderen als nicht den Tatsachen entsprechend bewerten: Denn entweder ist Jesus der Sohn Gottes, oder er ist nicht der Sohn Gottes. Vor dem Hintergrund des genuinen Relativismus mögen zwar beide Überzeugungen wahr sein – das bedeutet aber nicht, dass beide Überzeugungen korrekt die Wirklichkeit repräsentieren. An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen genuin wahrheitsrelativistischen und tatsachenkonstruktivistischen Theorien deutlich: Während der Tatsachenkonstruktivist davon ausgeht, dass Tatsachen immer nur relativ zu einem spezifischen, bewusstseinsabhängigen Parameter bestehen, geht der genuine Wahrheitsrelativist lediglich davon aus, dass Überzeugungen immer nur relativ zu einem solchen Parameter wahr oder falsch sein können.53 Vor dem Hintergrund des indexikalischen Relativismus war eine solche Unterscheidung zwischen wahrheitsrelativistischen und tatsachenkonstruktivistischen Auffassungen noch wenig plausibel, da hier für die jeweils ausgedrückten Propositionen ja ganz gewöhnliche, absolute Wahrheitsbedingungen gelten sollten. Zusammen mit der harmlosen Annahme, dass wenigstens einige der Aussagen mit relativem Wahrheitswert wahr sind, folgt somit aus dem indexikalischen Relativismus unmittelbar ein entsprechender Tatsachenkonstruktivismus. Analoges gilt aber nicht für den genuinen Relativismus – die Grundidee des genuinen Relativismus ist es ja gerade, sich von der orthodoxen Annahme zu verabschieden, dass jede Proposition entweder wahr oder falsch ist.54 Da der genuine Wahrheitsrelativist somit in der Lage ist, allein mit Hilfe seines relativen Wahrheitsbegriffs die postulierte relative Wahrheit von Aussagen zu erklären, ist er nicht – so wie der indexikalische Relativist, der die postulierte relative Wahrheit von Aussagen ja erklären möchte, ohne die orthodoxe Annahme aufzugeben – gezwungen, die fragliche Relativität auf der Ebene der Tatsachen zu lokalisieren. Diese Beobachtung ist für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen epistemischer Toleranz und genuinem Wahrheitsrelativismus nun deshalb relevant, weil die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als falsch für eine intellektuell tolerante Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten nur insofern charakteristisch ist, als dass eine solche Haltung notwendigerweise mit einer negativen epistemischen Evaluation der Überzeugung der Gegenseite einhergeht. Diese negative epistemische Evaluation mit einer Bewertung der konfligierenden Überzeugung als falsch gleichzusetzen, ist auf den ersten Blick zwar naheliegend, könnte sich aber vor dem Hintergrund des genuinen Wahrheitsrelativismus als unplausibel herausstellen, da im Rahmen dieser Theorie konfligierende Überzeugungen auch in Fällen 53

Eine ausführliche Erläuterung der Unterscheidung zwischen Wahrheitsrelativismus und Tatsachenkonstruktivismus findet sich – jedoch vor dem Hintergrund einer etwas anderen Terminologie – etwa bei Boghossian 2006. 54 siehe etwa Kölbel 2004b, 310.

3.1 Wahrheitsrelativismus

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echter Meinungsverschiedenheiten durchaus als wahr bewertet werden können. Das bedeutet jedoch nicht, dass vor dem Hintergrund des genuinen Wahrheitsrelativismus eine epistemisch tolerante Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten in Fällen, in denen die Überzeugung des Gegenübers relativ zu dem von ihm akzeptierten Standard wahr ist, unangemessen ist, sondern lediglich, dass in solchen Fällen die für die tolerante Haltung charakteristische negative Evaluation dieser Überzeugung eben nicht in einer Bewertung als falsch besteht. Doch selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es einen fundamentalen Zusammenhang zwischen dem genuinen Wahrheitsrelativismus und dem Tatsachenkonstruktivismus gibt – etwa, weil viele Wahrheitsrelativisten implizit auch den Tatsachenkonstruktivismus akzeptieren, oder der Wahrheitsrelativismus plausiblerweise einen Tatsachenkonstruktivismus voraussetzt – gibt es vermutlich keine Inkompatibilität zwischen dem Wahrheitsrelativismus und Forderungen nach epistemischer Toleranz. Nehmen wir etwa an, sowohl der Wahrheitsrelativismus als auch der Tatsachenkonstruktivismus sind wahr, und betrachten wir noch einmal unser Beispiel: In diesem Fall ist aus der Sicht der jüdischen Person die Überzeugung der christlichen Person nicht nur relativ zu dem für die christliche Person relevanten Parameter wahr, sondern entspricht relativ zu diesem Parameter auch den Tatsachen. Und umgekehrt ist aus der Sicht der christlichen Person die Überzeugung der jüdischen Person nicht nur relativ zu dem für die jüdische Person relevanten Parameter wahr, sondern entspricht relativ zu diesem Parameter auch den Tatsachen. In diesem Fall scheint es tatsächlich so zu sein, als gäbe es keinen Raum mehr für eine epistemisch tolerante Haltung. Denn sowohl die jüdische, als auch die christliche Person haben genau die Überzeugung, die sie jeweils haben sollten – somit ist überhaupt nicht klar, inwiefern hier aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive überhaupt noch eine negative normative Evaluation, die ja für eine tolerante Haltung charakteristisch ist, möglich ist. Andererseits ist aber auch nicht klar, ob in diesem Fall noch eine echte Meinungsverschiedenheit vorliegt. Denn die jüdische und die christliche Person haben hier nur insofern eine Meinungsverschiedenheit, als dass beide die Überzeugung des jeweils anderen nicht übernehmen können, ohne eine ihrer eigenen Überzeugungen zu ändern. Eine solche Konstellation ist natürlich eine Meinungsverschiedenheit in irgendeinem Sinne – die Frage ist jedoch, ob sie eine Meinungsverschiedenheit in dem Sinne ist, den viele Leute normalerweise voraussetzen, wenn sie über politische, religiöse, oder ethische Dispute und die Rolle einer toleranten Haltung in diesem Zusammenhang sprechen.55 Denn auf den ersten Blick ist es doch sehr plausibel, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt zwischen einem echten Dissens, beispielsweise zwischen einem Atheisten und einer gläubigen Person, und einer Situation, in der zwei Personen jeweils eine Überzeugung haben, die die 55

Tatsächlich gibt es einige Autoren, die die Tatsache, dass zwei Personen die Überzeugung der jeweiligen Gegenseite nicht übernehmen können, ohne eine ihrer eigenen Überzeugungen zu modifizieren, als geeignetes Kriterium für das Vorliegen einer echten Meinungsverschiedenheit vorgeschlagen haben. Für eine Verteidigung und Diskussion dieses als non-cotenability bezeichneten Kriteriums siehe etwa Kölbel 2004b oder MacFarlane 2009.

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3. Toleranz und Relativismus

Gegenseite nicht ohne Weiteres übernehmen kann. Nehmen wir etwa einen Fall, in dem sich zwei Personen grundsätzlich einig sind, aber unterschiedlich starke Überzeugungen haben. Beispielsweise meint der Atheist, sich grob erinnern zu können, dass die letzte Straßenbahn um Mitternacht fährt, und die gläubige Person, die zur Sicherheit noch einmal den Fahrplan kontrolliert hat, ist ebenfalls dieser Meinung – ist sich aber um einiges sicherer als der Atheist.56 Selbstverständlich haben der Atheist und die gläubige Person in diesem Fall eine Meinungsverschiedenheit in dem Sinne, dass sie mit verschiedenen Graden davon überzeugt sind, dass die letzte Straßenbahn um Mitternacht fährt. Dementsprechend können beide auch nicht einfach die Überzeugung der jeweiligen Gegenseite übernehmen, ohne eine ihrer eigenen Überzeugungen zu modifizieren. Trotzdem handelt es sich hierbei klarerweise nicht um eine Meinungsverschiedenheit in demselben Sinne, in dem sich die beiden etwa über die Existenz Gottes uneinig sind. Der Unterschied scheint nun darin zu liegen, dass die beiden bezüglich der Existenz Gottes nicht einfach nur irgendwie verschiedene Meinungen haben, sondern dass sie darüber hinaus in diesem Fall die Überzeugung des jeweils anderen als in spezifischer Hinsicht epistemisch defizitär betrachten würden. Das bedeutet, dass eine spezifische negative epistemische Evaluation nicht nur Bedingung für eine tolerante Haltung ist, sondern dass die Neigung zu einer solchen Evaluation auch schon für das Vorliegen einer echten Meinungsverschiedenheit erforderlich ist. Dementsprechend kann eine Konzeption, die die bloße Tatsache, dass zwei Personen die Überzeugung des jeweils anderen nicht übernehmen können, ohne eine ihrer eigenen Überzeugungen zu modifizieren, als hinreichend für das Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit betrachtet, nicht vollständig den grundsätzlichen Konfliktcharakter echter Dissense einfangen. Das bedeutet, dass der genuine Warheitsrelativismus, sofern er mit einem Tatsachenkonstruktivismus kombiniert wird, die Möglichkeit echter Meinungsverschiedenheiten von Vornherein ausschließt und somit in keiner Weise unvereinbar mit 56

Ein eindeutigeres, aber auch kontroverseres Beispiel wäre etwa eine Situation, in der der Atheist auf einen Agnostiker trifft. Nehmen wir etwa an, bei dem Atheisten handelt es sich um einen angesehenen Professor für Religionsphilosophie, der sich sein ganzes Leben lang ausführlich mit Argumenten für und gegen die Existenz Gottes auseinandergesetzt hat. Sofern es sich bei dem Agnostiker beispielsweise um einen Abiturienten handelt, der erst vor Kurzem angefangen hat, über die Existenz Gottes nachzudenken, muss es sich hierbei nicht um eine echte Meinungsverschiedenheit handeln. Ob in diesem Fall eine echte Meinungsverschiedenheit vorliegt oder nicht, hängt entscheidend davon ab, was es genau bedeutet, eine agnostische Haltung bezüglich der Existenz Gottes zu haben. Sofern es sich bei einem solchen Agnostizismus beispielsweise um eine Überzeugung höherer Ordnung handelt – etwa um die Überzeugung, dass die jeweils verfügbare Evidenz noch kein eindeutiges Urteil zulässt, ist nicht klar, inwiefern es hier einen echten Dissens gibt. Denn der Atheist könnte ja durchaus zustimmen, dass die Evidenz, die dem Abiturienten zur Verfügung steht, kein eindeutiges Urteil zulässt, und gleichzeitig angesichts der ihm verfügbaren Evidenz an seiner atheistischen Überzeugung festhalten. Trotzdem ist klar, dass weder der Agnostiker noch der Atheist die Überzeugung der Gegenseite einfach übernehmen kann, ohne eine der eigenen Überzeugungen zu modifizieren. Wie wir jedoch bereits gesehen haben, wird die Frage nach der Natur einer agnostischen Haltung gegenwärtig kontrovers diskutiert.

3.1 Wahrheitsrelativismus

45

der Auffassung ist, dass eine epistemisch tolerante Haltung die angemessene Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit ist. Somit ergibt sich eine Art Dilemma: Entweder akzeptiert der Wahrheitsrelativist eine klare Unterscheidung zwischen dem Wahrheitsrelativismus und dem Tatsachenkonstruktivismus – in diesem Fall ist auch vor dem Hintergrund des Wahrheitsrelativismus im Rahmen einer Meinungsverschiedenheit immer noch eine negative epistemische Evaluation der fremden Überzeugung möglich. Oder der Wahrheitsrelativist verneint eine klare Unterscheidung zwischen dem Wahrheitsrelativismus und dem Tatsachenkonstruktivismus. In diesem Fall wäre es vor dem Hintergrund des Wahrheitsrelativismus vermutlich korrekt, dass man nie epistemisch tolerant sein sollte – allerdings wiederum nicht, weil eine tolerante Haltung als Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit unangemessen wäre, sondern nur, weil es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten im eigentlichen Sinne gäbe. Ein näherer Blick zeigt also, dass es keinen fundamentalen Zusammenhang zwischen Forderungen nach epistemischer Toleranz und relativistischen Annahmen über Wahrheit gibt. Die Forderung, im Rahmen einer Meinungsverschiedenheit die Überzeugung des Gegenübers als falsch zu bewerten, ist sowohl mit relativistischen, als auch mit nicht-relativistischen Annahmen kompatibel. Vor dem Hintergrund nicht-relativistischer Annahmen muss im Rahmen einer Meinungsverschiedenheit mindestens eine Seite eine falsche Überzeugung haben. Vor dem Hintergrund eines indexikalischen Relativismus können sich zwar auf den ersten Blick widersprüchliche Aussagen als gleichermaßen wahr herausstellen, jedoch liegt in solchen Fällen keine echte Meinungsverschiedenheit vor. Nur vor dem Hintergrund eines genuinen Relativismus können auch im Rahmen einer echten Meinungsverschiedenheit beide Seiten eine wahre Überzeugung haben – nämlich dann, wenn beide Überzeugungen relativ zu jeweils unterschiedlichen Parametern wahr sind. Doch abgesehen davon, dass selbst in solchen Fällen beide Überzeugungen zumindest relativ zu dem von der jeweiligen Gegenseite akzeptierten Parameter falsch bleiben, gibt es auch vor dem Hintergrund des genuinen Relativismus Fälle, in denen eine Überzeugung relativ zu den Parametern beider Seiten falsch ist. Darüber hinaus repräsentieren im Rahmen einer echten Meinungsverschiedenheit beide Überzeugungen aus der Perspektive der jeweiligen Gegenseite die Wirklichkeit nicht korrekt, was zwar im Rahmen des genuinen Relativismus nicht mit einer Bewertung als falsch einhergehen muss, in jedem Fall aber hinreichend für die für eine tolerante Haltung charakteristische negative epistemische Evaluation der Überzeugung der Gegenseite ist. Letztendlich hilft auch keine Kopplung des Wahrheitsrelativismus an einen Tatsachenkonstruktivismus, da vor dem Hintergrund einer solchen Kombination wiederum die Möglichkeit echter Meinungsverschiedenheiten von Vornherein ausgeschlossen wird.

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3. Toleranz und Relativismus

3.2 Epistemischer Relativismus Neben dem Wahrheitsrelativismus gibt es noch eine andere relativistische Theorie, die in erkenntnistheoretischen Kontexten von zentraler Bedeutung ist. Hierbei handelt es sich um den sogenannten epistemischen Relativismus. Im Gegensatz zum Wahrheitsrelativismus bezieht sich der epistemische Relativismus nicht auf den Wahrheitswert, sondern auf den Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen. Genauso wie der Wahrheitsrelativist davon ausgeht, dass Wahrheit eine relative Eigenschaft ist, geht der epistemische Relativist davon aus, dass epistemische Rechtfertigung eine relative Eigenschaft ist. Und tatsächlich scheint die Frage nach der Relativität epistemischer Rechtfertigung für die Legitimität von Forderungen nach epistemischer Toleranz direkt relevant zu sein. Denn in diesem Zusammenhang droht ein Problem, das ganz analog zu dem eingangs beschriebenen, in praktischen Kontexten bereits breit diskutierten Problem des Verhältnisses von Toleranz und Relativismus ist: Einerseits scheinen Forderungen nach epistemischer Toleranz einen epistemischen Relativismus direkt vorauszusetzen. Schließlich ist es für eine epistemisch tolerante Haltung charakteristisch, im Falle einer Meinungsverschiedenheit sowohl die eigene Überzeugung als auch die Überzeugung der Gegenseite als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten. Setzt eine solche Bewertung konfligierender Überzeugungen als gleichermaßen gerechtfertigt nicht bereits voraus, dass epistemische Rechtfertigung eine relative Eigenschaft ist? Andererseits ist nicht klar, ob ein epistemischer Relativismus überhaupt kompatibel mit allgemeinen Forderungen nach epistemischer Toleranz sein kann. Denn solche Forderungen sind nur vor dem Hintergrund der Annahme möglich, dass es zumindest in manchen Fällen allgemein gerechtfertigt ist, angesichts des konfligierenden Urteils einer anderen Person einfach bei seiner Überzeugung zu bleiben. Unter der Voraussetzung des epistemischen Relativismus scheinen jedoch solche allgemeinen Urteile darüber, welche Reaktion angesichts einer Meinungsverschiedenheit gerechtfertigt ist, unmöglich. Um beurteilen zu können, inwiefern es sich hier um ein ernstzunehmendes Problem handelt, ist es wieder hilfreich, zunächst besser zu verstehen, was genau der epistemische Relativismus überhaupt besagt. Gemäß einer in der erkenntnistheoretischen Forschung weit verbreiteten Auffassung handelt es sich beim epistemischen Relativismus um die These, dass eine gegebene Überzeugung immer nur relativ zu spezifischen epistemischen Standards gerechtfertigt sein kann, und dass es deshalb auch von den jeweiligen epistemischen Standards abhängt, ob eine Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. So schreibt etwa Duncan Pritchard in seinem Aufsatz „Defusing Epistemic Relativism“: „So an epistemic relativism would hold that two parties to a dispute could be genuinely disagreeing over some fact […] but that the disagreement is nevertheless faultless, where the faultlessness is to be construed in a specifically epistemic fashion. Continuing the idea of framework-relative truth, the thought would be that relative to one epistemic framework […] your claim has a certain epistemic standing, while relative to another epistemic framework […] my counterclaim would have an epistemic standing of identical strength. While

3.2 Epistemischer Relativismus 47 only one of us is in fact right, the point remains that any epistemic criticism I make of your claim will only have force relative to my framework and not relative to yours.”57

Im Einklang hiermit steht etwa auch die vielbeachtete Charakterisierung des epistemischen Relativismus, die Paul Boghossian in seinem Buch „Fear of Knowledge“ entwickelt.58 Gemäß dieser Charakterisierung stellt der epistemische Relativismus eine komplexe erkenntnistheoretische Theorie dar, die sich im Wesentlichen auf drei Annahmen zurückführen lässt: Die Annahme des epistemischen Non-Absolutismus, die Annahme des epistemischen Relationismus und die Annahme des epistemischen Pluralismus. Der epistemische Non-Absolutismus besagt, dass es keine absoluten Tatsachen darüber gibt, welche Überzeugung angesichts einer bestimmten Evidenzmenge gerechtfertigt ist. Der epistemische Relationismus besagt, dass nicht-relationale Urteile der Form „Evidenz E rechtfertigt Meinung M“ streng genommen falsch sind und als Ausdruck relationaler Propositionen der Form [Relativ zu dem epistemischen System S rechtfertigt Evidenz E Meinung M] verstanden werden müssen, sofern sie irgendeine Aussicht auf Wahrheit haben sollen. Der epistemische Pluralismus besagt schließlich, dass es tatsächlich verschiedene, sich gegenseitig ausschließende epistemische Systeme gibt, relativ zu denen der Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen bewertet werden kann, und dass es keine Tatsachen gibt, aufgrund derer einige dieser Systeme besser als andere wären. Als letztes Beispiel für ein solches Verständnis des epistemischen Relativismus sei Steven Luper genannt, der in seinem Aufsatz „Epistemic Relativism“ eine negative Definition vorschlägt und den epistemischen Relativismus lediglich als Ablehnung des epistemischen Absolutismus versteht, wobei mit epistemischem Absolutismus die Annahme gemeint ist, dass es genau einen korrekten fundamentalen Standard gibt, relativ zu dem der Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen beurteilt werden muss.59 Vor dem Hintergrund dieser weit verbreiteten Konzeption des epistemischen Relativismus wird schnell deutlich, warum es zunächst plausibel erscheint, dass die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung einer abweichenden, fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt von relativistischen Annahmen abhängt. Denn nur vor dem Hintergrund des epistemischen Relativismus kann – so scheint es – zufriedenstellend erklärt werden, wie es überhaupt sein kann, dass zwei inkompatible Überzeugungen gleichermaßen gerechtfertigt sind: Wenn Überzeugungen immer nur relativ zu bestimmten epistemischen Standards bzw. Systemen gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sind und es gleichzeitig mehrere verschiedene Systeme gibt, die sich zumindest teilweise gegenseitig ausschließen, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass es Fälle gibt, in denen inkompatible Überzeugungen gleichermaßen gerechtfertigt sind – dies wären dann nämlich lediglich Fälle, in denen eine Überzeugung relativ zu einem epistemischen System gerechtfertigt ist, während eine andere Überzeugung relativ zu einem anderen epistemischen System 57

Pritchard 2009, 398. Vgl. zum Folgenden Boghossian 2006, Kap. 5. 59 Vgl. Luper 2004. 58

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3. Toleranz und Relativismus

gerechtfertigt ist. Da es gleichzeitig auch keine Tatsachen geben soll, aufgrund derer einige epistemische Systeme besser als andere wären, ist auch klar, warum die beiden Überzeugungen nicht nur jeweils gerechtfertigt, sondern tatsächlich gleichermaßen gerechtfertigt sind. Dementsprechend kann im Rahmen des epistemischen Relativismus nicht nur sehr gut erklärt werden, warum es möglich ist, dass im Falle eines Dissenses beide Seiten gleichermaßen gerechtfertigt sind, sondern darüber hinaus würde der epistemische Relativismus auch dafür sprechen, dass solche Fälle tatsächlich regelmäßig und sogar häufig auftreten. Sollte die Möglichkeit der Bewertung einer abweichenden, fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt tatsächlich von der Plausibilität des epistemischen Relativismus abhängen, wäre dies jedoch einigermaßen problematisch. Denn abgesehen davon, dass nicht klar ist, ob ein epistemischer Relativismus überhaupt kompatibel mit allgemeinen Toleranzforderungen ist, handelt es sich beim epistemischen Relativismus um eine äußerst kontroverse These. So gibt es sehr viele Erkenntnistheoretiker, die sich kritisch gegenüber relativistischen Theorien geäußert haben – vor allem in der gegenwärtigen analytischen Philosophie sind stark relativistische Theorien der Rechtfertigung äußerst unbeliebt.60 Meiner Meinung nach ist jedoch die Sorge, dass die Bewertung einer abweichenden, fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt den epistemischen Relativismus bereits voraussetzt, unbegründet. So sollte es erstens in Fällen unterschiedlicher Evidenz vollkommen unkontrovers sein, dass verschiedene Meinungen gleichermaßen gerechtfertigt sein können. Die Überlegung ist hierbei, dass es unabhängig von irgendeiner spezifischen Theorie epistemischer Rechtfertigung plausibel ist, davon auszugehen, dass es zumindest unter anderem von der verfügbaren Evidenz abhängt, ob eine gegebene Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. Wenn dem so ist, dann sieht man aber relativ leicht, dass in Fällen, in denen verschiedene Personen verschiedener Meinung sind, und in denen die verschiedenen Personen darüber hinaus unterschiedliche Evidenz zur Verfügung haben, das Auftreten der Meinungsverschiedenheit alleine auf die Unterschiede hinsichtlich der verfügbaren Evidenz zurückgeführt werden kann und somit nicht dafür sprechen muss, dass eine Seite eine ungerechtfertigte Überzeugung hat. Nehmen wir etwa das Beispiel der beiden Vogelforscher Anselm und Maike, die die Art eines Vogels bestimmen möchten. Während Anselm Vogelarten anhand ihres Gesangs erkennt, erkennt Maike sie anhand des Gefieders. Nehmen wir darüber hinaus an, dass beide in etwa gleich zuverlässig in der Bestimmung von Vogelarten sind. Nun kommen Anselm und Maike zu unterschiedlichen Ergebnissen: Anselm 60

So hat etwa eine im Jahr 2009 erhobene Studie ergeben, dass unter Philosophen, die mindestens einen PhD haben und auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie spezialisiert sind, lediglich 1,8% einen Relativismus in Bezug auf Wissen akzeptieren. Da zumindest vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Auffassung, dass Wahrheit und Rechtfertigung notwendig für Wissen sind, sowohl der Wahrheitsrelativismus, als auch der Rechtfertigungsrelativismus einen Wissensrelativismus implizieren, dürfte der Anteil der Rechtfertigungsrelativisten entsprechend geringer sein. Für dieses und weitere Ergebnisse der Studie siehe Bourget und Chalmers 2014. Für eine ausführliche Kritik am epistemischen Relativismus siehe Boghossian 2006, Kap. 6. Für eine weiterführende Diskussion siehe etwa Boghossian 2007, Neta 2007 oder Rosen 2007.

3.2 Epistemischer Relativismus 49

glaubt, dass der fragliche Vogel eine Krähe ist, während Maike glaubt, dass es sich um einen Raben handelt. Offensichtlich können in diesem Fall beide in ihrer jeweiligen Überzeugung gerechtfertigt sein, weil sie von jeweils unterschiedlicher Evidenz ausgegangen sind. Während Anselm als Evidenz für seine Überzeugung den Gesang des Vogels auswertet, untersucht Maike das Gefieder. Hier muss es nun gar nicht so sein, dass einer der beiden einen Fehler macht, und beide zu demselben Ergebnis gekommen wären, wenn sie die ihnen verfügbare Evidenz korrekt ausgewertet hätten. Es ist ja durchaus möglich, dass der Gesang des Vogels wirklich dafür spricht, dass der Vogel ein Rabe ist, während das Gefieder des Vogels dafür spricht, dass es sich um eine Krähe handelt. Wenn wir davon ausgehen, dass Maike Vogelarten anhand des Gefieders genauso zuverlässig bestimmen kann wie Anselm anhand des Gesangs, dann scheint es durchaus plausibel zu sein, davon auszugehen, dass beide eine gerechtfertigte Überzeugung haben. Und dass dem so ist, kann ohne Weiteres mit Bezug auf die jeweils unterschiedliche verfügbare Evidenz erklärt werden, ohne einen epistemischen Relativismus zu bemühen und dafür zu argumentieren, dass Anselms und Maikes Überzeugungen relativ zu jeweils unterschiedlichen epistemischen Systemen gerechtfertigt sind. Dass also zumindest in Fällen unterschiedlicher Evidenz unabhängig von irgendwelchen kontroversen Annahmen über die Struktur epistemischer Rechtfertigung zwei konfligierende Überzeugungen als gleichermaßen gerechtfertigt bewertet werden können, scheint unbestreitbar zu sein. Dementsprechend setzt die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung einer fremden, abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht notwendigerweise einen epistemischen Relativismus voraus. Hierbei handelt es sich auch nicht lediglich um eine spitzfindige Beobachtung, die irrelevant für unsere epistemische Praxis ist: So könnte man zwar zunächst denken, dass die Möglichkeit der Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt in Fällen unterschiedlicher Evidenz insofern wenig relevant ist, als dass die jeweilige Evidenz ja einfach öffentlich gemacht werden kann. Eine tolerante Haltung wäre dementsprechend nur so lange angebracht, bis die relevante Evidenz geteilt wurde, und in diesem Sinne notorisch instabil, insofern nur in Fällen unterschiedlicher Evidenz die Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt unproblematisch ist. Tatsächlich ist es aber falsch, davon auszugehen, dass die einer Überzeugung zugrundeliegende Evidenz immer einfach geteilt werden kann. So sind einerseits Fälle denkbar, in denen Evidenz aufgrund kontingenter Umstände nicht geteilt werden kann, beispielsweise aufgrund begrenzter zur Verfügung stehender zeitlicher oder kognitiver Ressourcen. Andererseits könnte es aber auch sein, dass zumindest spezifische Arten von Evidenz prinzipiell nicht teilbar sind. So haben mehrere Autoren explizit die Möglichkeit privater Evidenz in Betracht gezogen, die grundsätzlich nicht an andere Personen weitergegeben werden kann.61 Bemerkenswerterweise wurde die Möglichkeit privater Evidenz insbesondere in Domänen vermutet, in denen auch häufig Forderungen nach epistemischer Toleranz anzutreffen sind, 61

Siehe bspw. Feldman 2007, Rosen 2001, oder van Inwagen 1996.

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3. Toleranz und Relativismus

wie beispielsweise Ethik oder Religion. Die Beobachtung, dass in Fällen unterschiedlicher Evidenz die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt vollkommen unproblematisch sein kann, ist also für die Beschäftigung mit einer epistemisch toleranten Haltung von einiger Relevanz. Im Folgenden möchte ich nun darüber hinaus dafür argumentieren, dass selbst in Fällen geteilter Evidenz die Bewertung einer fremden, abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht notwendigerweise einen epistemischen Relativismus voraussetzt. Genauer gesagt werde ich dafür argumentieren, dass schon die Voraussetzung der viel schwächeren und weniger kontroversen These des Permissivismus ausreicht, um auch in Fällen geteilter Evidenz die Möglichkeit konfligierender, gleichermaßen gerechtfertigter Überzeugungen zu akzeptieren. Wie der Name schon andeutet, besagt der Permissivismus, dass Evidenz permissiv ist – was ist hiermit konkret gemeint? In gewisser Weise handelt es sich beim Permissivismus um eine These, die dem epistemischen Relativismus sehr ähnlich ist. Der epistemische Permissivismus impliziert genauso wie der epistemische Relativismus, dass eine gegebene Evidenzmenge alleine nicht notwendigerweise genau eine Überzeugung determiniert, die angesichts dieser Evidenzmenge maximal gerechtfertigt ist. Der entscheidende Unterschied besteht nun erstens darin, dass der Permissivist im Gegensatz zum epistemischen Relativisten nicht behauptet, dass es nie alleine von der verfügbaren Evidenz abhängt, welche Überzeugung gerechtfertigt ist – der Permissivist bestreitet lediglich, dass dies notwendigerweise in allen Fällen so ist. Zweitens ist der Permissivist auch nicht darauf festgelegt, dass in solchen Fällen, in denen es nicht nur von der verfügbaren Evidenz, sondern darüber hinaus von einem weiteren Parameter abhängt, welche Überzeugung gerechtfertigt ist, das relativierende Parameter in einem epistemischen System besteht. Der epistemische Permissivismus besagt lediglich, dass es in diesen Fällen nicht nur von der verfügbaren Evidenz, sondern darüber hinaus von irgendeinem weiteren, evidenzunabhängigen Parameter abhängt, ob eine bestimmte Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. So gesehen ist der epistemische Permissivismus schwächer als der epistemische Relativismus – er stellt lediglich die Negation der These evidentieller Eindeutigkeit dar, dergemäß es angesichts einer gegebenen Evidenzmenge immer nur genau eine Überzeugung gibt, die maximal gerechtfertigt ist. Der epistemische Permissivismus ist dementsprechend die These, dass eine gegebene Evidenzmenge nicht notwendigerweise genau eine angesichts dieser Evidenzmenge gerechtfertigte Überzeugung determiniert. Wie plausibel ist der epistemische Permissivismus? In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie gibt es eine kontroverse Diskussion zwischen Vertretern der These evidentieller Eindeutigkeit und Vertretern des epistemischen Permissivismus. Argumente gegen den epistemischen Permissivismus wurden vor allem von Roger White in den Aufsätzen „Epistemic Permissiveness“ und „Evidence Cannot Be Permissive“ entwickelt, weitere Vertreter der These evidentieller Eindeutigkeit wären etwa

3.2 Epistemischer Relativismus 51

David Christensen, Richard Feldman, oder Ernest Sosa.62 Argumente gegen die These evidentieller Eindeutigkeit finden sich unter anderem in Arbeiten von Christopher Meacham, Miriam Schoenfield, Anthony Brueckner und Alex Bundy sowie Nathan Ballantyne und EJ Coffman.63 Die jeweiligen Argumentationen sind dabei sowohl relativ spezifisch, als auch eng aufeinander bezogen, sodass sich eine einigermaßen dichte, isolierte Debatte entwickelt hat. Im Folgenden möchte ich eine hiervon unabhängige Argumentation für den epistemischen Permissivismus bemühen. Ich werde dafür argumentieren, dass die These evidentieller Eindeutigkeit mit verschiedenen Standardtheorien epistemischer Rechtfertigung inkompatibel ist und deswegen im Gegensatz zum epistemischen Permissivismus eine extrem kontroverse Annahme darstellt. Die Idee, dass die These evidentieller Eindeutigkeit mit prominenten Theorien epistemischer Rechtfertigung inkompatibel ist, ist alles andere als neu. So argumentiert etwa Igor Douven in seinem Aufsatz „Uniqueness Revisited“ dafür, dass alle gegenwärtig verfügbaren, plausiblen Theorien epistemischer Rechtfertigung mit der These evidentieller Eindeutigkeit inkompatibel sind.64 Miriam Schoenfield versucht in ihrem Aufsatz „Permission to Believe“, zu zeigen, dass die Kohärenztheorie und der subjektive Bayesianismus dezidiert permissivistische Theorien darstellen.65 Und Jochen Briesen argumentiert in seinem Aufsatz „Evidentielle Einzigkeit in klassischer und formaler Erkenntnistheorie“ dafür, dass der Reliabilismus und der Subjekt-Sensitive Invariantismus die Falschheit der These evidentieller Eindeutigkeit implizieren.66 Selbst Roger White geht als einer der prominentesten Vertreter der These evidentieller Eindeutigkeit davon aus, dass viele Theorien epistemischer Rechtfertigung permissivistisch sind. 67 Ich möchte nun an diese Überlegungen anknüpfen und dafür argumentieren, dass die These evidentieller Eindeutigkeit mit mindestens drei weit verbreiteten Theorien epistemischer Rechtfertigung inkompatibel ist – dem Reliabilismus, dem Subjekt-Sensitiven Invariantismus und der Kohärenztheorie. Beginnen wir mit dem Reliabilismus.68 Der Reliabilismus stellt eine vielbeachtete Theorie epistemischer Rechtfertigung dar, die ursprünglich von Alvin Goldman entwickelt wurde. Weitere wichtige Vertreter sind beispielsweise William Alston, 62

Vgl. hierzu Christensen 2007, Feldman 2007, Sosa 2010, White 2005, 2014. Feldman benutzt sogar explizit die These evidentieller Eindeutigkeit, um gegen eine epistemisch tolerante Haltung zu argumentieren. 63 Vgl. hierzu Ballantyne und Coffman 2011, Brueckner und Bundy 2012, Meacham 2014, Schoenfield 2014. 64 Siehe Douven 2009. 65 Siehe Schoenfield 2014. 66 Siehe Briesen 2017. 67 White 2005. 68 Die folgenden Überlegungen zum Reliabilismus und zum Subjekt-Sensitiven Invariantismus finden sich in verkürzter Form schon bei Briesen 2017. Eine etwas andere Argumentation für die Inkompatibilität des Reliabilismus mit der These evidentieller Eindeutigkeit findet sich bei Grundmann 2013, wo für die Möglichkeit von Fällen argumentiert wird, in denen zwei Personen aufgrund derselben Evidenz konfligierende Überzeugungen haben, die vor dem Hintergrund des Reliabilismus als gleichermaßen gerechtfertigt bewertet werden müssen.

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3. Toleranz und Relativismus

Hilary Kornblith, Michael Levin oder Jack Lyons. Die zentrale Idee des Reliablismus ist, dass der Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung von der Genese dieser Überzeugung abhängt – dementsprechend werden reliabilistische Theorien der Rechtfertigung auch oft als historische Theorien bezeichnet. Genauer gesagt geht der Reliabilismus davon aus, dass der Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung von der Zuverlässigkeit des zugrundeliegenden überzeugungsbildenden Prozesses abhängt. Grob gesprochen ist eine Überzeugung nur dann gerechtfertigt, wenn sie durch einen zuverlässigen überzeugungsbildenden Prozess hervorgebracht wurde – also durch einen Prozess, der dazu tendiert, mehr wahre als falsche Überzeugungen zu generieren. Eine solche Theorie ist nun deshalb mit der These evidentieller Eindeutigkeit inkompatibel, weil sie neben der jeweils verfügbaren Evidenz noch ein weiteres für den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung relevantes Parameter postuliert. So hängt es im Rahmen des Reliabilismus eben nicht nur von der verfügbaren Evidenz, sondern auch von dem Prozess ab, durch den die Evidenz ausgewertet wurde, ob die fragliche Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. Ein Beispiel: Max und Peter sollen ein ihnen präsentiertes mathematisches Problem lösen. Beide sind in etwa gleich gute Kopfrechner und hätten unter normalen Bedingungen auch beide gleich gute Chancen, das Problem erfolgreich zu lösen. Leider sind aber die Bedingungen zumindest für Peter alles andere als normal. Denn Moritz, ein guter Freund von Max, will um jeden Preis, dass Max besser dasteht als Peter, und hat deshalb Peter heimlich ein Medikament ins Essen gemischt, das dazu führt, dass er nicht mehr gut Kopfrechnen kann. Peter merkt davon nichts, für ihn fühlt sich alles normal an. Tatsächlich ist er aber unter dem Einfluss des Medikaments kein guter Kopfrechner mehr – in den meisten Fällen, in denen er nun versuchen würde, ein mathematisches Problem zu lösen, würde er zum falschen Ergebnis kommen. Doch Peter hat unerwartet Glück: Als die beiden versuchen, das ihnen präsentierte Problem zu lösen, kommen beide zum richtigen Ergebnis. Das liegt nicht etwa daran, dass das Medikament bei Peter nicht gewirkt hat – Peter steht wie von Moritz beabsichtigt unter Wirkung des Medikaments und ist aufgrund dessen ein schlechter Kopfrechner. Es ist vielmehr nur so, dass das Medikament nicht garantieren kann, dass Peter zu einem falschen Ergebnis kommt, sondern es lediglich sehr wahrscheinlich macht. Das für uns Interessante an diesem Fall ist nun erstens, dass Max und Peter dieselbe Überzeugung angesichts derselben Evidenz haben, und zweitens, dass im Rahmen des Reliabilismus zwar Max, nicht aber Peter in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist. Dass Peter und Max dieselbe Überzeugung haben, wurde in diesem Fall einfach stipuliert. Diese Stipulation ist auch nicht weiter problematisch – das Medikament garantiert wie gesagt nicht, dass Peter zu einem falschen Ergebnis kommt, sondern macht es lediglich sehr wahrscheinlich. Es ist also durchaus möglich, dass beide zum richtigen Ergebnis kommen. Wie plausibel ist es aber, dass beide dieselbe Evidenz haben? Um genau zu sagen, welche Evidenz Max und Peter haben, müsste man nun mehr dazu sagen, was überhaupt Evidenz genau ist und wie sie individuiert wird. Beide Fragen sind jedoch nicht ohne Weiteres zu beantworten und werden in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie lebhaft diskutiert. Tatsächlich

3.2 Epistemischer Relativismus 53

ist es aber in dem Fall von Max und Peter auch unabhängig von irgendwelchen spezifischen Annahmen über die Natur von Evidenz plausibel, davon auszugehen, dass beide ihre Überzeugung aufgrund derselben Evidenz bilden. Der Grund hierfür ist, dass Peter nichts von dem Einfluss des Medikaments merkt. Aus seiner Innenperspektive sieht es so aus, als hätte er unter normalen Umständen ein einfaches mathematisches Problem gelöst. Es sollte jedoch vortheoretisch plausibel sein, dass die Evidenz, aufgrund derer man eine Überzeugung bildet, einem prinzipiell zugänglich sein muss. Peter und Max haben nun aber Zugang zu exakt denselben Informationen – der einzige Unterschied zwischen den beiden ist, dass Peter häufig Fehler macht, ohne es zu merken. Doch selbst wenn man den konkreten Fall von Max und Peter nicht als plausibles Beispiel für einen Fall akzeptiert, in dem zwei Personen dieselbe Überzeugung angesichts derselben Evidenz bilden und dennoch im Rahmen des Reliabilismus nur einer gerechtfertigt ist, weil jeweils unterschiedlich zuverlässige überzeugungsbildende Prozesse wirksam sind, dann sollte generell die Möglichkeit solcher Fälle doch akzeptiert werden. Denn in seiner allgemeinsten Formulierung besagt der Reliabilismus zunächst lediglich, dass für den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung die Zuverlässigkeit des zugrundeliegenden überzeugungsbildenden Prozesses von zentraler Bedeutung ist. Um zu behaupten, dass diese Theorie der Rechtfertigung kompatibel mit der These evidentieller Eindeutigkeit ist, müsste man dafür argumentieren, dass der überzeugungsbildende Prozess immer Teil der verfügbaren Evidenz ist. Denn dann wäre es von vornherein unmöglich, dass zwei Personen, die aufgrund unterschiedlicher überzeugungsbildender Prozesse dieselbe Überzeugung gebildet haben, auch dieselbe verfügbare Evidenz teilen. Eine solche Sichtweise ist jedoch nicht sonderlich plausibel. Auch unabhängig von einem genaueren Verständnis davon, worin Evidenz besteht oder wie man Prozesse individuiert, scheint es schon im Rahmen einer vortheoretischen Beschreibung von Evidenzen und Prozessen klarerweise so zu sein, dass wir zumindest in manchen Fällen uns verfügbare Evidenz mit Hilfe spezifischer kognitiver Prozesse auswerten, dass das Ergebnis dieser Auswertung eine Überzeugung ist, und dass der Prozess, mit dessen Hilfe die Evidenz ausgewertet wurde, seinerseits nicht Teil der Evidenz ist. Zwar mag es neben Prozessen der Evidenzauswertung auch Prozesse der Evidenzauswahl geben, aber auch solche Prozesse sind eben nicht selbst Teil der Evidenz. Tatsächlich ist es gerade eine der Hauptmotivationen des Reliabilismus, skeptische Argumente mit der Annahme zurückweisen zu können, dass es gerechtfertigte Überzeugungen geben kann, die nicht evidenzbasiert sind. 69 Vor dem Hintergrund dieser Annahme wird unmittelbar deutlich, dass der Reliabilismus und die These evidentieller Eindeutigkeit inkompatibel sind. Die zweite Theorie epistemischer Rechtfertigung, für deren Inkompatibilität mit der These evidentieller Eindeutigkeit ich argumentieren möchte, ist der SubjektSensitive Invariantismus. Gemäß des Subjekt-Sensitiven Invariantismus hängt der

69

Briesen 2017.

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3. Toleranz und Relativismus

Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung von den praktischen Interessen der Person ab, die diese Überzeugung hat. Motiviert wird diese Theorie, die gegenwärtig etwa von Jeremy Fantl und Matthew McGrath vertreten wird, durch den Vergleich von Fällen, in denen unsere Zuschreibungen epistemischer Rechtfertigung zusammen mit den praktischen Interessen der beschriebenen Personen schwanken. 70 Um die Motivation für den Subjekt-Sensitiven Invariantismus besser zu verstehen, betrachten wir eine Variante des Falls von Peter und Max: Peter und Max stehen vor der Aufgabe, ein mathematisches Problem zu lösen. Es handelt sich um kein besonders schwieriges Problem, und beide sind gute Kopfrechner. Um auf Nummer sicher zu gehen, wäre natürlich eine Lösung mit Stift und Papier am besten, aber beide sind gut genug im Kopfrechnen, um auch ohne schriftliches Nachrechnen mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig zu liegen. Während für Peter von der richtigen Lösung des Problems nicht sonderlich viel abhängt, sieht die Situation für Max anders aus. Denn sein Freund Moritz will um jeden Preis, dass Max das Problem korrekt löst, und hat ihm deswegen eine große Summe Geld versprochen für den Fall, dass er zum richtigen Ergebnis kommt. Zufälligerweise kann Max das Geld sehr gut gebrauchen, denn er hat sich unglücklich an der Börse verspekuliert und dementsprechend massive Schulden. Obwohl seine gesamte finanzielle Zukunft von dem Ergebnis abhängt, verzichtet Max jedoch ebenso wie Peter darauf, das mathematische Problem schriftlich zu lösen. Beide rechnen lediglich im Kopf und kommen zum Glück auch beide zum richtigen Ergebnis. Die Intuition zu diesem Fall soll nun sein, dass Peter in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist, Max aber nicht. Und der Subjekt-Sensitive Invariantismus liefert auch direkt eine Erklärung für diese Differenz: Ob eine Person in einer Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht, hängt nicht nur davon ab, welche Evidenz verfügbar ist, sondern darüber hinaus auch von den praktischen Interessen dieser Person. So hängt es insbesondere davon ab, wie viel für die Person hinsichtlich der Wahrheit einer Überzeugung auf dem Spiel steht, ob sie in dieser Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. Dementsprechend ist auch Peter in seiner Überzeugung gerechtfertigt, weil für ihn nicht besonders viel auf dem Spiel steht – für Max geht es jedoch um sehr viel, weshalb er auch nicht in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist. Dass eine solche Theorie epistemischer Rechtfertigung inkompatibel mit der These evidentieller Eindeutigkeit ist, scheint relativ offensichtlich. Denn wenn auch praktische Interessen des jeweiligen Subjekts relevant für epistemische Rechtfertigung sind, dann hängt es eben nicht nur von der verfügbaren Evidenz ab, ob eine bestimmte Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht. Genau das besagt aber die These evidentieller Eindeutigkeit. Die letzte Theorie, die ich hier besprechen möchte, ist die Kohärenztheorie. Die Kohärenztheorie ist eine Theorie über die Struktur epistemischer Rechtfertigung, die ursprünglich von britischen Idealisten wie F. H. Bradley formuliert und dann im Laufe des 20. Jahrhundert von namhaften Philosophen wie W. V. O. Quine, Keith 70

Fantl und McGrath 2002. Subjekt-Sensitive Invariantisten in Bezug auf Wissen wären etwa John Hawthorne oder Jason Stanley.

3.2 Epistemischer Relativismus 55

Lehrer, Donald Davidson oder Laurence BonJour aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Die grundlegende Idee der Kohärenztheorie ist, dass epistemische Rechtfertigung nicht primär die Eigenschaft einzelner Überzeugungen, sondern vielmehr eine holistische Eigenschaft größerer Überzeugungssysteme ist. Eine einzelne Überzeugung kann gemäß der Kohärenztheorie nur epistemisch gerechtfertigt sein, insofern sie Teil eines kohärenten Überzeugungssystems ist. Dementsprechend sind die Kohärenzrelationen einer Überzeugung zu anderen Überzeugungen konstitutiv für die Rechtfertigung dieser Überzeugung. Eine offensichtliche Frage, die sich angesichts dessen stellt, ist nun, was genau in diesem Zusammenhang mit Kohärenz gemeint ist. Eine notwendige Bedingung für Kohärenz sollte wohl Konsistenz, also logische Widerspruchsfreiheit sein. Gleichzeitig scheint Konsistenz alleine zu schwach zu sein – so haben etwa einige Kohärenztheoretiker dafür argumentiert, dass neben bloßer Widerspruchsfreiheit auch Systematizität und Inklusivität für die Kohärenz eines Überzeugungssystems notwendig sind, wobei ein Überzeugungssystem umso systematischer ist, je mehr inferentielle Stützungsrelationen zwischen den einzelnen Überzeugungen vorliegen, und umso inklusiver ist, je umfassender es ist.71 Tatsächlich ist es für den vorliegenden Zusammenhang aber auch weitestgehend irrelevant, was genau unter Kohärenz zu verstehen ist. Denn unabhängig von den Details eines spezifischen Kohärenzbegriffs wird relativ schnell ersichtlich, warum die Kohärenztheorie mit der These evidentieller Eindeutigkeit unverträglich ist. Zwar impliziert die Kohärenztheorie nicht unbedingt, dass Evidenz irrelevant für epistemische Rechtfertigung ist – so hat etwa Laurence Bonjour als Kohärenztheoretiker ausführlich für die Relevanz von empirischem Input für epistemische Rechtfertigung argumentiert.72 Gleichzeitig ist aber auch klar, dass im Rahmen der Kohärenztheorie neben der verfügbaren Evidenz in jedem Fall vor allem Kohärenzrelationen innerhalb des Überzeugungssystems der überzeugungsbildenden Person für epistemische Rechtfertigung konstitutiv sind. Diese Kohärenzrelationen sind aber erstens unabhängig von der verfügbaren Evidenz, und zweitens von Person zu Person unterschiedlich.73 Im Einklang mit der These evidentieller Eindeutigkeit davon auszugehen, dass alleine die verfügbare Evidenz determiniert, welche Überzeugung angesichts dieser Evidenz gerechtfertigt ist, und dass dementsprechend keine 71

Vgl. etwa Blanshard 2013, 264 ff. Vgl. BonJour 1985, Kap. 6 und 7. 73 Insbesondere der zweite Punkt ist relevant: Selbst wenn man dafür argumentiert, dass im Rahmen der Kohärenztheorie eben das jeweilige Überzeugungssystem und die Kohärenzrelationen innerhalb dieses Systems konstitutiver Bestandteil der Evidenz sind (eine solche Argumentation findet sich etwa bei Brueckner und Bundy 2012), wäre dies für den vorliegenden Zusammenhang nur bedingt relevant. Wären das jeweilige Überzeugungssystem und die Kohärenzrelationen innerhalb dieses Systems konstitutiver Bestandteil der Evidenz, würde das zwar tatsächlich bedeuten, dass die Kohärenztheorie nicht notwendigerweise inkompatibel mit der These evidentieller Eindeutigkeit ist – andererseits gäbe es dann aber auch keine Fälle geteilter Evidenz, weil Überzeugungssysteme klarerweise personenspezifisch sind. Dementsprechend wäre die Bewertung fremder, konfligierender Überzeugungen als gleichermaßen gerechtfertigt auch vor dem Hintergrund der These evidentieller Eindeutigkeit vollkommen unproblematisch, da fremde Überzeugungen immer aufgrund unterschiedlicher Evidenz gebildet wären. 72

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3. Toleranz und Relativismus

zwei Personen angesichts derselben Evidenz unterschiedliche Überzeugungen bilden und trotzdem gleichermaßen gerechtfertigt sein können, steht somit eindeutig im Widerspruch zu der grundlegenden Idee der Kohärenztheorie. Wie die Überlegungen zum Reliabilismus, zum Subjekt-Sensitiven Invariantismus und zur Kohärenztheorie exemplarisch zeigen, handelt es sich bei der These der Evidentiellen Eindeutigkeit um eine sehr starke und mit vielen prominenten Theorien epistemischer Rechtfertigung inkompatible Annahme. Das bedeutet nicht, dass sie falsch ist – gleichzeitig liegt somit die Beweislast jedoch eindeutig auf der Seite ihrer Befürworter, und nicht etwa auf Seiten des Permissivisten, der eine vergleichsweise schwache und scheinbar wenig kontroverse These vertritt. Für den Zusammenhang zwischen Forderungen nach epistemischer Toleranz und relativistischen Annahmen ist diese dialektische Situation nun insofern relevant, als dass es vor dem Hintergrund des Permissivismus auch in Fällen geteilter Evidenz prinzipiell möglich ist, konfligierende Überzeugungen als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten. Das bedeutet, dass die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung einer fremden, abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt keineswegs einen epistemischen Relativismus voraussetzt. Gleichzeitig ist der Permissivismus prinzipiell verträglich mit der Möglichkeit allgemeiner Urteile darüber, welche Reaktion angesichts einer Meinungsverschiedenheit gerechtfertigt ist. Dementsprechend hängen Toleranzforderungen nicht von irgendwelchen kontroversen relativistischen Annahmen über epistemische Rechtfertigung ab und sind auch in keiner Weise selbstwidersprüchlich. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die Zusammenhänge zwischen Forderungen nach Toleranz und relativistischen Wahrheits- und Rechtfertigungstheorien einigermaßen unproblematisch sind. Weder setzt die Bewertung einer abweichenden Meinung als falsch die Falschheit des Wahrheitsrelativismus, noch die Bewertung einer abweichenden Meinung als gleichermaßen gerechtfertigt die Wahrheit des epistemischen Relativismus voraus. Eine mögliche Spannung ergibt sich lediglich vor dem Hintergrund des epistemischen Relativismus, insofern ein solcher Relativismus inkompatibel mit allgemeinen Urteilen darüber sein könnte, welche Reaktion angesichts einer Meinungsverschiedenheit gerechtfertigt ist. Da es sich beim epistemischen Relativismus jedoch um eine sehr kontroverse Theorie handelt, scheint dieser Befund zunächst nicht allzu problematisch. Nachdem die Sorge, dass es problematische Zusammenhänge zwischen Forderungen nach intellektueller Toleranz und relativistischen Annahmen über Wahrheit und Rechtfertigung geben könnte, aus dem Weg geräumt ist, können wir uns nun der Frage widmen, ob bzw. unter welchen Umständen es epistemisch adäquat ist, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren.

4. Sollten wir tolerant sein? Das Ziel dieses Kapitels ist die kritische Bewertung intellektueller Toleranz. Die leitende Frage dabei ist, ob bzw. unter welchen Umständen es epistemisch adäquat ist, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren. Doch was bedeutet es überhaupt, dass eine spezifische Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit epistemisch adäquat ist? Anhand welcher Kriterien lässt sich entscheiden, ob eine bestimmte intellektuelle Haltung aus erkenntnistheoretischer Perspektive angemessen ist? Im Folgenden möchte ich zunächst dafür argumentieren, dass es insbesondere zwei voneinander unabhängige Rationalitätsformen gibt, die für eine Bewertung der epistemischen Angemessenheit einer toleranten Haltung gleichermaßen relevant sind.

4.1 Zwei Dimensionen epistemischer Adäquatheit In der sozialen Erkenntnistheorie hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte um die epistemisch beste Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten entwickelt. 74 Die Mehrheit der Autoren innerhalb dieser Debatte geht davon aus, dass die epistemisch angemessene Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit insbesondere in der angesichts dieser Meinungsverschiedenheit rational gebotenen Modifikation der eigenen Meinung besteht. Alvin Goldman fasst diesen Gedanken in seinem Artikel über Soziale Erkenntnistheorie in der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“ folgendermaßen zusammen: „Suppose that two people form conflicting beliefs about a given question: one believes p while the other believes not-p. […] Obviously they cannot both be correct in their beliefs; the two propositions believed are contradictory. But can they be rational to hold fast to their initial beliefs […]? How (if at all) should they proceed to revise their initial assessments in light of their disagreement? This is the problem of […] disagreement.“75

Tatsächlich ist es sehr plausibel, davon auszugehen, dass es zumindest unter bestimmten Umständen angesichts einer Meinungsverschiedenheit irrational ist, einfach an seiner Überzeugung festzuhalten, und dass deshalb die epistemisch angemessene Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit unter diesen Umständen auch darin besteht, seine Überzeugung entsprechend zu modifizieren.

74 75

Für einen einführenden Überblick siehe etwa Balg und Constantin 2019. Goldman 2016, Abschnitt 3.4.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_4

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4. Sollten wir tolerant sein?

Um diesen Punkt zu verdeutlichen, betrachten wir etwa folgendes Beispiel:76 Zusammen mit drei guten Freunden gehe ich in einem Restaurant essen. Als am Ende die Rechnung kommt, beschließen wir, den Gesamtbetrag einfach durch vier zu teilen, sodass jeder gleich viel bezahlt. Zu diesem Zweck rechnen mein Freund Ali und ich im Kopf den entsprechenden Teilbetrag aus. Dieses Prozedere hat Tradition: Wir sind schon oft in dieser Konstellation essen gegangen, und immer sind Ali und ich es, die den Betrag im Kopf vierteln. Meistens kommen wir dabei zu demselben Ergebnis – und in den wenigen Fällen, in denen wir zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind, lag ich selbst genauso oft falsch wie Ali. Ich gehe also davon aus, dass Ali mit etwa gleich großer Wahrscheinlichkeit Fehler macht, wenn es um einfache Kopfrechnungen geht. Während Ali nun zu dem Ergebnis kommt, dass jeder 17 Euro bezahlen muss, komme ich zu dem Ergebnis, dass jeder 19 Euro bezahlen muss. Wie sollten wir auf die Meinungsverschiedenheit reagieren? In dieser Situation scheint es eindeutig so zu sein, dass wir uns nun beide des Urteils darüber enthalten sollten, wie viel jeder zu bezahlen hat. Nehmen wir etwa an, Ali und ich bemerken unsere Meinungsverschiedenheit, worauf sich Ali des Urteils enthält, während ich einfach weiterhin davon ausgehe, dass jeder 19 Euro zahlen muss. In diesem Fall reagiert Ali im Vergleich zu mir aus epistemischer Sicht besser auf die Meinungsverschiedenheit, da er im Gegensatz zu mir seine vorherige Überzeugung modifiziert. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich angesichts einer Meinungsverschiedenheit immer des Urteils enthalten muss. Ob und zu welchem Grad das Auftreten eines Dissenses die Modifikation der eigenen Meinung erfordert, hängt von verschiedenen Faktoren ab und wird gegenwärtig lebhaft diskutiert. Eine wichtige Rolle scheint dabei die Einschätzung der epistemischen Leistungsfähigkeit des Gegenübers zu spielen – im obigen Fall sollte ich mich vermutlich deshalb des Urteils enthalten, weil ich Ali als in etwa gleich guten Kopfrechner bewerte. Dementsprechend haben sich in der Erkenntnistheorie der Meinungsverschiedenheiten auch verschiedene Debatten zu verschiedenen Arten von Dissensen entwickelt. Die weitaus größte dieser Debatten dreht sich um die rational gebotene Reaktion auf sogenannte Ebenbürtigendissense – also Meinungsverschiedenheiten mit Personen, die man für genauso leistungsfähig hält wie sich selbst.77 Es gibt jedoch auch eine eigene Forschung, die sich mit der Frage nach der besten Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten mit epistemischen Autoritäten beschäftigt – also mit Personen, die man für leistungsfähiger hält als sich selbst.78 Darüber hinaus gibt es entsprechende

76

Bei dem folgenden Beispiel handelt es sich um eine Variante des in der Forschungsliteratur zur Erkenntnistheorie der Meinungsverschiedenheiten berühmt gewordenen Restaurantfalls, der ursprünglich von David Christensen entwickelt wurde (vgl. Christensen 2007). 77 Für einen einführenden Überblick in diese Debatte siehe Christensen 2009. 78 Siehe etwa Constantin und Grundmann 2018, Dormandy 2017, Jäger 2016, Zagzebski 2012.

4.1 Zwei Dimensionen epistemischer Adäquatheit

59

Publikationen mit Hinsicht auf Meinungsverschiedenheiten mit epistemisch unterlegenen Personen79 oder mit Personen, deren epistemische Leistungsfähigkeit man nicht genau einschätzen kann.80 Und auch wenn die meisten dieser Debatten einigermaßen kontrovers geführt werden, scheint es doch in Bezug auf einen Punkt Einigkeit zu geben: Die meisten Autoren scheinen implizit davon auszugehen, dass die Frage nach der epistemisch adäquaten Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit nichts anderes ist als die Frage nach der angesichts einer Meinungsverschiedenheit gebotenen Überzeugungsmodifikation. Die meisten Publikationen zur Erkenntnistheorie der Meinungsverschiedenheiten konzentrieren sich ausschließlich auf diese Frage, und tatsächlich haben manche Autoren sogar explizit behauptet, dass eine Beantwortung dieser Frage eine vollständige Erklärung der epistemischen Signifikanz von Meinungsverschiedenheiten konstituiert.81 Diese Annahme wurde jedoch in jüngster Zeit problematisiert, erste kritische Überlegungen finden sich etwa in gemeinsamen Arbeiten von Christoph Kelp und Igor Douven.82 Eine ausführlichere Argumentation, an die ich im Weiteren anknüpfen möchte, wurde von Andrea Robitzsch vorgestellt:83 In ihrem Buch „An Externalist Approach to Epistemic Responsibility“ kritisiert Robitzsch die Fokussierung der erkenntnistheoretischen Forschung zu Ebenbürtigendissensen auf die Frage nach der angesichts eines Ebenbürtigendissenses gebotenen Überzeugungsmodifikation. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen, epistemisch signifikanten Dimensionen in Fällen von Ebenbürtigkeitsdissensen: Einerseits gibt es die doxastische Dimension, entlang derer sich die Überzeugungen der Beteiligten vor dem Hintergrund des Dissenses epistemisch bewerten lassen. Hier geht es vor allem um die Frage, welche Überzeugungen angesichts eines Ebenbürtigendissenses gerechtfertigt sind. Darüber hinaus gibt es aber noch die Dimension des intellektuellen Verhaltens. Unter intellektuellem Verhalten versteht Robitzsch überzeugungsbeeinflussende Handlungen und Unterlassungen wie beispielsweise kritische Reflexion, Suche nach weiterer Evidenz oder argumentative Interaktion. Bei der Bewertung des intellektuellen Verhaltens der Beteiligten eines Dissenses geht es vor allem um die Frage, ob das gezeigte Verhalten epistemisch wünschenswert ist. Epistemisch wünschenswert ist intellektuelles Verhalten genau dann, wenn es das Erreichen epistemischer Ziele wahrscheinlicher macht. Als wichtigstes epistemisches Ziel nennt Robitzsch dabei das Ziel der Wahrheit, woraus sich direkt ein Kriterium für wünschenswertes intellektuelles Verhalten ableiten lässt: Intellektuelles Verhalten ist genau dann epistemisch wünschenswert, wenn es zuverlässig ist, das heißt, wenn es mehr wahre als falsche Überzeugungen generiert.

79

Priest 2016. King 2012. 81 Kelly 2010, Lackey 2010, Matheson 2015, Thune 2010. 82 Vgl. Douven und Kelp 2011, Kelp und Douven 2012. 83 Vgl. Robitzsch 2019. 80

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4. Sollten wir tolerant sein?

Ausgehend von dieser Unterscheidung argumentiert Robitzsch nun dafür, dass sich die epistemische Signifikanz eines Ebenbürtigendissenses nicht darin erschöpft, dass das Bemerken eines solchen Dissenses unter bestimmten Umständen spezifische Überzeugungsmodifikationen rational erforderlich macht. Worin besteht die epistemische Signifikanz eines Ebenbürtigendissenses? Robitzsch geht davon aus, dass die epistemische Signifikanz eines Ebenbürtigendissenses in der Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung besteht, wobei sie sich auf David Christensen beruft. In seinem Aufsatz „Epistemology of Disagreement: The Good News” schreibt Christensen: „[…] Disagreement of an epistemic peer provides reason for belief revision. From my point of view, this is a good thing: other people's opinions, in these circumstances, present opportunities for epistemic improvement.“84

Dass eine Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung epistemisch signifikant ist, und dass dementsprechend die epistemische Signifikanz eines Ebenbürtigendissenses, insofern er Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung bietet, zumindest zum Teil genau hierin besteht, sollte einigermaßen unkontrovers sein. So gehen etwa auch alle Theorien zur angesichts eines Dissenses rational gebotenen Überzeugungsmodifikation davon aus, dass das Auftreten eines Dissenses zusätzliche Evidenz generiert, die für die Wahrheit oder Falschheit der fraglichen Überzeugung relevant ist, und dementsprechend eine Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung bietet, insofern die Beteiligten ihre jeweiligen Überzeugungen adäquat der neuen Evidenz anpassen. Kontroverser ist hingegen die Annahme, dass ein Ebenbürtigendissens auch über die Tatsache hinaus, dass er Gründe zur Überzeugungsmodifikation liefert, Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung bietet, und sich somit die epistemische Signifikanz eines Ebenbürtigendissenses eben nicht darin erschöpft, dass er unter Umständen spezifische Überzeugungsmodifikationen rational erforderlich macht. Um diese Annahme zu plausibilisieren, präsentiert Robitzsch folgendes Gedankenexperiment: Nora und Cara haben beide die Überzeugung, dass p. Tatsächlich stützt aber die ihnen verfügbare Evidenz ¬ p, sodass beide eine ungerechtfertigte Überzeugung haben. Nun begegnen Nora und Cara jeweils einer Person, die sie für epistemisch ebenbürtig halten, und die ¬ p glaubt. Sowohl Nora als auch Cara bleiben bei ihrer Überzeugung, dass p. Während Nora die Überzeugung der anderen Person einfach komplett ignoriert, reagiert Cara auf den Dissens, indem sie noch einmal sorgfältig die Gründe für ihre Überzeugung überprüft, mit ihrem Gegenüber ausführlich diskutiert und versucht, mehr relevante Evidenz zu sammeln. Letztendlich findet sie aber ihre Überzeugung nach wie vor am plausibelsten und bleibt bei ihrer Meinung. Vor dem Auftreten der Meinungsverschiedenheit haben Noras und Caras Überzeugung denselben epistemischen Status – beide haben die gleiche Evidenz auf die gleiche Art ausgewertet und sind zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Und beide 84

Christensen 2007, 194.

4.1 Zwei Dimensionen epistemischer Adäquatheit

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reagieren insofern gleich auf das Auftreten des Ebenbürtigendissenses, als dass beide bei ihrer ursprünglichen Überzeugung bleiben. Unabhängig davon, ob in diesem Fall eine Überzeugungsmodifikation rational geboten ist oder nicht, dürften Noras und Caras Überzeugungen also auch nach dem Auftreten des Dissenses denselben epistemischen Status haben. Trotzdem scheint es einen epistemischen Unterschied zwischen Nora und Cara zu geben, aus einer rein epistemischen Perspektive reagiert Cara besser auf den Ebenbürtigendissens als Nora. Denn Caras Reaktion führt vermutlich dazu, dass sie besser versteht, aufgrund welcher Überlegungen sie glaubt, was sie glaubt, warum überhaupt ein Dissens besteht, was es für Gegenargumente zu ihrer Position gibt, und welche weitere Evidenz man bräuchte, um die Frage endgültig zu klären. Anders ausgedrückt: Im Gegensatz zu Nora zeigt Cara als Reaktion auf die Meinungsverschiedenheit epistemisch wünschenswertes Verhalten. Insofern bietet das Auftreten des Ebenbürtigendissenses eine Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung, die von Cara, aber nicht von Nora genutzt wird, obwohl beide bei ihrer ursprünglichen Überzeugung bleiben. Somit ergeben sich angesichts eines Ebenbürtigendissenses Möglichkeiten zur epistemischen Verbesserung, die klar über etwaige Überzeugungsmodifikationen hinausgehen. Dass dem so ist, sollte tatsächlich wenig überraschen – denn selbst in Fällen, die eigens für die Diskussion um die rational gebotene Überzeugungsmodifikation entwickelt wurden, besteht die intuitiv vernünftigste Reaktion oft eben nicht bzw. nicht nur in einer Anpassung der jeweils strittigen Überzeugung. In Christensens Restaurantfall scheint beispielsweise die epistemisch beste Reaktion auf die aufgetretene Meinungsverschiedenheit darin zu bestehen, einfach noch einmal nachzurechnen oder einen Taschenrechner zu benutzen. Auf den ersten Blick wirkt es dementsprechend einigermaßen unnatürlich, dass sich Erkenntnistheoretiker hier ausschließlich auf etwaige Überzeugungsmodifikationen konzentriert haben. Aber zeigt die Unterscheidung zwischen der doxastischen Dimension und der Dimension des intellektuellen Verhaltens wirklich, dass sich die epistemische Signifikanz einer Meinungsverschiedenheit nicht darin erschöpft, dass sie spezifische Überzeugungsmodifikationen rational erforderlich macht? Ein möglicher Einwand angesichts der bisherigen Argumentation wäre etwa der folgende: Auch in dem Fall von Nora und Cara lässt sich die durch das Auftreten der Meinungsverschiedenheit ermöglichte epistemische Verbesserung von Caras Situation vollständig entlang der doxastischen Dimension erklären. Diese Verbesserung besteht nämlich darin, dass weitere gerechtfertigte Überzeugungen gebildet werden. Sofern die doxastische Dimension aber nichts anderes darstellt als die Dimension, anhand derer die Überzeugungen der Beteiligten einer Meinungsverschiedenheit epistemisch bewertet werden, kann auch scheinbar ausschließlich entlang dieser Dimension Caras epistemische Verbesserung erklärt werden. Wenn Cara beispielsweise durch die aufgetretene Meinungsverschiedenheit eine ganze Reihe gerechtfertigter Überzeugungen darüber bildet, welche Überlegungen gegen ihre Position sprechen und was man diesen Überlegungen entgegnen könnte, dann gibt es alleine entlang der doxastischen Dimension einen relevanten epistemischen Unterschied zwischen Nora und Cara, da

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4. Sollten wir tolerant sein?

Cara nach dem Auftreten des Dissenses mehr gerechtfertigte Überzeugungen hat als Nora, und aus diesem Grund auch besser auf den Dissens reagiert. Das Beispiel, so die Überlegung, zeigt also in keiner Weise, dass die Dimension des intellektuellen Verhaltens für die Beantwortung der Frage nach der epistemisch besten Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit relevant ist. Wie erfolgreich dieser Einwand ist, hängt letztendlich jedoch davon ab, wie man die von Robitzsch vorgeschlagene Unterscheidung genau interpretiert. Sofern die doxastische Dimension tatsächlich lediglich die Dimension ist, anhand derer die Überzeugungen der Beteiligten einer Meinungsverschiedenheit bewertet werden, lässt sich Caras epistemische Verbesserung vollständig entlang dieser Dimension erklären. Denn Caras epistemische Verbesserung besteht darin, dass sie im Zuge ihrer Reaktion auf die Meinungsverschiedenheit mehr gerechtfertigte Überzeugungen bildet als Nora. Anders sieht es jedoch aus, wenn man die Unterscheidung zwischen der doxastischen Dimension und der Dimension des intellektuellen Verhaltens vor dem Hintergrund einer Unterscheidung verschiedener Arten von Rationalität interpretiert. Nehmen wir etwa an, dass entlang der doxastischen Dimension die epistemische Rationalität der Beteiligten einer Meinungsverschiedenheit bewertet wird, während anhand der Dimension des intellektuellen Verhaltens deren instrumentelle Rationalität relativ zum epistemischen Ziel der Wahrheit bewertet wird. Mit epistemischer Rationalität ist dabei die Art von Rationalität gemeint, die man zeigt, wenn man Überzeugungen in Propositionen bildet, die von der verfügbaren Evidenz gestützt werden, und davon absieht, Überzeugungen in Propositionen zu bilden, die angesichts der verfügbaren Evidenz unwahrscheinlich sind. Mit instrumenteller Rationalität ist hingegen die Art von Rationalität gemeint, die man zeigt, wenn man die richtigen Mittel wählt, um seine Ziele zu erreichen. Versteht man die Unterscheidung zwischen der doxastischen Dimension und der Dimension des intellektuellen Verhaltens in diesem Sinne, wird auch deutlich, warum Caras epistemische Verbesserung nicht entlang der doxastischen Dimension erklärt werden kann. Denn aus der Perspektive epistemischer Rationalität gibt es keinen Unterschied zwischen Nora und Cara: Vor dem Auftreten der Meinungsverschiedenheit haben beide dieselben Überzeugungen angesichts derselben Evidenz, beide erhalten durch das bloße Auftreten der Meinungsverschiedenheit dieselbe Evidenz, und beide modifizieren ihre Überzeugungen angesichts dieser Evidenz auf dieselbe Weise – nämlich gar nicht. Dementsprechend ist es auch nicht epistemisch irrational, dass Nora im Gegensatz zu Cara davon absieht, noch einmal gewissenhaft ihre Gründe zu überprüfen oder nach weiterer Evidenz zu suchen – und trotzdem verpasst sie dadurch eine Gelegenheit zur epistemischen Verbesserung. Cara zeigt also nicht aus der Perspektive epistemischer Rationalität, sondern aus der Perspektive instrumenteller Rationalität eine bessere Reaktion auf die Meinungsverschiedenheit. Eine Interpretation der Unterscheidung zwischen der doxastischen Dimension und der Dimension des intellektuellen Verhaltens entlang der Unterscheidung zwi-

4.1 Zwei Dimensionen epistemischer Adäquatheit

63

schen epistemischer und instrumenteller Rationalität ist nun im vorliegenden Zusammenhang insofern hilfreich, als dass vor dem Hintergrund einer solchen Interpretation unmittelbar deutlich wird, warum die epistemisch beste Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit nicht einfach nur in der angesichts dieser Meinungsverschiedenheit erforderlichen Überzeugungsmodifikation besteht. Das in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie der Meinungsverschiedenheiten vorherrschende Bild, demgemäß das Auftreten von Meinungsverschiedenheiten Evidenz konstituiert, angesichts derer die Beteiligten ihre vorherigen Überzeugungen modifizieren müssen, ist offensichtlich verkürzt: Denn es setzt voraus, dass die epistemisch beste Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit lediglich in der epistemisch rationalen Reaktion auf diese Meinungsverschiedenheit besteht. Wie wir gesehen haben, sind Überlegungen aus der Perspektive instrumenteller Rationalität hinsichtlich epistemischer Ziele jedoch gleichermaßen relevant. Dieses Ergebnis ist umso signifikanter, als dass es sich bei epistemischer und instrumenteller Rationalität um zwei grundsätzlich voneinander unabhängige Formen der Rationalität handelt. So könnte man zunächst denken, dass die beiden Formen von Rationalität in gewisser Weise zusammenfallen. Nehmen wir etwa das epistemische Ziel der Wahrheit – ist es relativ zu diesem Ziel nicht offensichtlich instrumentell rational, seine Überzeugungen immer der verfügbaren Evidenz anzupassen? Wenn dem so wäre, dann wäre es unmöglich, dass eine spezifische Reaktion epistemisch rational, aber instrumentell irrational relativ zum epistemischen Ziel der Wahrheit ist. Zwar gäbe es – wie der Fall von Nora und Cara zeigt – immer noch spezifische Handlungen und Verhaltensweisen, die instrumentell rational relativ zum Ziel der Wahrheit sind, ohne epistemisch rational zu sein. Solche Handlungen und Verhaltensweisen wären dann aber lediglich „epistemische Extras“, wohingegen epistemische Rationalität eine Minimalbedingung für instrumentelle Rationalität relativ zum epistemischen Ziel der Wahrheit wäre. Angesichts dessen – so der weitere Gedanke – wäre es wohl durchaus sinnvoll, sich bei der Beantwortung der Frage nach der epistemisch besten Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten zunächst auf die angesichts einer Meinungsverschiedenheit epistemisch rationale Reaktion zu konzentrieren. Tatsächlich handelt es sich aber bei epistemischer Rationalität und instrumenteller Rationalität relativ zu epistemischen Zielen um zwei eigenständige und voneinander unabhängige Formen der Rationalität, die nicht aufeinander reduziert werden können: Es gibt Fälle, in denen die Bildung einer Überzeugung epistemisch irrational, aber relativ zu gegebenen epistemischen Zielen instrumentell rational ist, und es gibt genauso Fälle, in denen die Bildung einer Überzeugung epistemisch rational, aber relativ zu gegebenen epistemischen Zielen instrumentell irrational ist. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:85 Larissa ist ein großer Star Wars-Fan. Aufgrund einer hartnäckigen Grippe hat sie jedoch leider den Kinostart der neuesten Episode verpasst, während alle ihre Freunde den Film schon gesehen haben. Das 85

Der folgende Fall ist angelehnt an Überlegungen aus Kelly 2003, wo gegen eine Reduktion von epistemischer Rationalität auf instrumentelle Rationalität argumentiert wird.

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4. Sollten wir tolerant sein?

bringt Larissa in eine einigermaßen prekäre Situation: Sie will auf keinen Fall im Vorhinein erfahren, wie der Film ausgeht, und muss deshalb in Unterhaltungen mit ihren Freunden ständig auf der Hut sein, um einen Spoiler zu vermeiden. Eines Tages, noch bevor sie den Film gesehen hat, ist sie jedoch für einen kleinen Moment unaufmerksam und das Unvermeidliche passiert – sie hört zu, während ihr Mitbewohner das Ende des Films ausplaudert. Ist es in dieser Situation für Larissa epistemisch rational, eine entsprechende Überzeugung über das Ende des Films zu bilden? Die unstrittige Antwort sollte sein: Ja! Hinsichtlich der Frage nach epistemischer Rationalität gibt es einfach keinen Unterschied zwischen diesem Fall und einer Situation, in der Larissa absichtlich ihren Mitbewohner befragt, weil sie unbedingt das Ende des Films erfahren möchte. In beiden Fällen hat sie aufgrund der Aussage ihres Mitbewohners exzellente Gründe, eine Überzeugung über das Ende des Films zu bilden – keine diesbezügliche Überzeugung zu bilden, wäre epistemisch irrational. Das Entscheidende ist nun, dass die hier relevante Form der Rationalität nichts mit instrumenteller Rationalität zu tun hat. Denn es wäre nur dann instrumentell rational für Larissa, eine Überzeugung über das Ende des Films zu bilden, wenn sie ein entsprechendes Ziel hätte, das sie durch das Bilden dieser Überzeugung erreichen würde. Tatsächlich hat Larissa aber kein solches Ziel: Vielmehr hat sie sogar explizit das epistemische Ziel, keine Überzeugung über das Ende des Films zu bilden, zumindest in dieser konkreten Situation. Zwar mag sie generell das Ziel haben, irgendwann das Ende des Films zu erfahren – in der spezifischen Situation mit ihrem Mitbewohner möchte sie es aber auf jeden Fall vermeiden, irgendwelche Informationen über den Film zu bekommen. Gegeben, dass es in dieser spezifischen Situation Larissas epistemisches Ziel ist, keine Überzeugungen über den Film zu bilden, wäre es also relativ zu ihren epistemischen Zielen irrational, eine Überzeugung über das Ende des Films zu bilden.86

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Natürlich könnte man an dieser Stelle einwenden, dass Larissas Ziel, keine Überzeugung über den Film zu bilden, kein epistemisches Ziel ist. Zwar bezieht es sich auf Larissas Überzeugungssystem – das sollte jedoch für sich genommen nicht hinreichend sein, um es zu einem epistemischen Ziel in dem hier relevanten Sinne zu machen. Tatsächlich scheint Larissa ja gerade deshalb keine Überzeugung über den Film bilden zu wollen, weil dadurch der Genuss ihres geplanten Kinobesuchs geschmälert werden würde. Wenn dem so ist, dann handelt es sich aber eher um ein praktisches, und kein epistemisches Ziel. Um praktische und epistemische Überlegungen besser voneinander zu trennen, könnte man den Fall ein wenig modifizieren bzw. ausführen: So können wir einfach stipulieren, dass Larissa aus rein epistemischen Gründen nichts über den Film erfahren möchte. Nehmen wir etwa an, Larissa glaubt überhaupt nicht, dass ein vorzeitiger Spoiler die Qualität ihres geplanten Kinobesuchs schmälern würde. Sie weiß jedoch, dass sie im Falle eines Spoilers bis zum tatsächlichen Kinobesuch so viel Zeit damit verbrächte, über den Film nachzudenken, dass sie dabei zwangsläufig ihr Studium vernachlässigen würde, das sie im Übrigen nicht aus praktischen Gründen, sondern aus reiner intellektueller Neugier bestreitet. In diesem Fall ist es schon viel plausibler, davon auszugehen, dass es relativ zu Larissas epistemischen Zielen instrumentell irrational ist, wenn sie eine Überzeugung über das Ende des Films bildet.

4.1 Zwei Dimensionen epistemischer Adäquatheit

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Vergleichen wir dieses Beispiel mit folgender Situation: Larissa hat aufgrund ihrer Grippe die neue Star Wars-Episode nicht sehen können, und möchte jetzt unbedingt wissen, was in dem Film passiert. Sie ist so ungeduldig, dass sie nicht warten möchte, bis sie wieder gesund ist und selbst ins Kino gehen kann. Deshalb befragt sie ihren Mitbewohner, der den Film schon gesehen hat. Der verspricht, ihr umfassend zu berichten – allerdings nur unter der Bedingung, dass Larissa die Überzeugung bildet, dass er bereits das Bad der WG geputzt hat. In dieser Situation ist es für Larissa epistemisch irrational, diese Überzeugung zu bilden. So ärgert sie sich schon seit Tagen darüber, dass ihr Mitbewohner noch nicht – wie im Putzplan vorgesehen – das Bad der WG geputzt hat, und tatsächlich sprechen auch alle verfügbaren Indizien eindeutig dafür, dass das Bad noch nicht geputzt wurde. Trotzdem wäre es relativ zu den epistemischen Zielen, die Larissa hat, instrumentell rational, die fragliche Überzeugung zu bilden. Schließlich besteht ihr vornehmliches epistemisches Ziel in der Bildung wahrer Überzeugungen über die neue Star Wars-Episode. Epistemische Rationalität und instrumentelle Rationalität bezüglich epistemischer Ziele sind also zwei voneinander unabhängige Formen der Rationalität – Thomas Kelly hat in diesem Zusammenhang auch von dem hybriden Charakter theoretischer Rationalität gesprochen.87 Diese beide Rationalitätsformen fallen im Übrigen auch nicht nur auseinander, sofern sie sich auf verschiedene Propositionen beziehen: So könnte man angesichts der obigen Beispiele zunächst denken, dass es zwar prinzipiell hinsichtlich epistemischer Ziele instrumentell rational sein kann,

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Ebd. Dass es sich bei epistemischer Rationalität und instrumenteller Rationalität hinsichtlich epistemischer Ziele um voneinander unabhängige Formen der Rationalität handelt, ist zudem auch nicht abhängig von irgendwelchen spezifischen theoretischen Annahmen über die Natur epistemischer Rechtfertigung, so wie einige Autoren behauptet haben. Beispielsweise argumentiert Selim Berker in seinen Aufsätzen Epistemic Teleology and the Separateness of Propositions und The Rejection of Epistemic Consequentialism dafür, dass vor dem Hintergrund einer reliabilistischen Rechtfertigungstheorie epistemische Rationalität und instrumentelle Rationalität hinsichtlich epistemischer Ziele in gewisser Weise zusammenfallen (Berker 2013a, Berker 2013b). Laut Berker wäre beispielsweise Larissas Überzeugung, dass ihr Mitbewohner das Bad der WG geputzt hat, vor dem Hintergrund einer reliabilistischen Rechtfertigungstheorie epistemisch rational bzw. gerechtfertigt, weil sie dazu führt, dass Larissa zuverlässig viele wahre Überzeugungen über den neuen Star Wars-Film bildet. Alvin Goldman hat in seiner Replik auf Berkers Überlegungen meiner Meinung nach jedoch überzeugend dafür argumentiert, dass auch vor dem Hintergrund des Reliabilismus epistemische Rationalität und instrumentelle Rationalität hinsichtlich unserer epistemischen Ziele zwei voneinander unabhängige Formen der Rationalität sind (Goldman 2015). Denn auch wenn der Reliabilismus insofern eine konsequentialistische bzw. instrumentalistische Theorie epistemischer Rechtfertigung ist, als dass er den Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen von den Kausalwirkungen überzeugungsbildender Prozesse ableitet, bedeutet das nicht, dass vor dem Hintergrund einer reliabilistischen Rechtfertigungstheorie alle möglichen instrumentellen Überlegungen für den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung relevant sind. Insbesondere die kausalen Nachwirkungen von Überzeugungen sind auch vor dem Hintergrund des Reliabilismus klarerweise irrelevant für den Rechtfertigungsstatus dieser Überzeugungen. Dementsprechend würde auch ein Reliabilist Larissas Überzeugung, dass ihr Mitbewohner das Bad geputzt hat, eindeutig als ungerechtfertigt bewerten.

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4. Sollten wir tolerant sein?

eine epistemisch irrationale Überzeugung zu bilden, dass sich dabei aber die instrumentelle Rationalität dieser Überzeugung immer auf andere Propositionen bezieht als die, die der Gehalt der bereits gebildeten, epistemisch irrationalen Überzeugung ist. Beispielsweise mag Larissas Überzeugung, dass ihr Mitbewohner das Bad der WG geputzt hat, instrumentell rational sein – diese instrumentelle Rationalität bezieht sich hier jedoch eindeutig nicht auf Wahrheiten darüber, wer das Bad geputzt hat, sondern auf Wahrheiten über Star Wars. Tatsächlich sind aber auch Fälle denkbar, in denen die Bildung einer Überzeugung zwar epistemisch irrational ist, gleichzeitig aber instrumentell rational hinsichtlich des Ziels, eine wahre Überzeugung hinsichtlich der den Gehalt dieser Überzeugung konstituierenden Proposition zu bilden. Nehmen wir etwa an, Paul fragt sich, ob er ein guter Vater ist, und hat diesbezüglich noch keine Überzeugung gebildet. Die ihm verfügbare Evidenz spricht weder eindeutig dafür noch dagegen, dass Paul ein guter Vater ist. Dementsprechend wäre es epistemisch rational, wenn sich Paul des Urteils enthalten würde. Nun weiß Paul jedoch, dass Väter, die davon überzeugt sind, ein guter Vater zu sein, tatsächlich meist gute Väter sind – etwa, weil sie alles daransetzen, ihrem Selbstbild zu entsprechen. In diesem Fall wäre es nach wie vor epistemisch irrational, wenn Paul die Überzeugung bilden würde, dass er ein guter Vater ist. Denn noch hat er ja die entsprechende Überzeugung nicht gebildet und dementsprechend keinen Grund, davon auszugehen, ein guter Vater zu sein. Trotzdem wäre es instrumentell rational, diese Überzeugung zu bilden – und zwar hinsichtlich des epistemischen Ziels, eine wahre Überzeugung hinsichtlich der Frage zu haben, ob Paul ein guter Vater ist.88 Epistemische Rationalität und instrumentelle Rationalität hinsichtlich unserer epistemischen Ziele fallen also auf einer ganz grundlegenden Ebene auseinander. Dementsprechend gibt es auch zwei voneinander unabhängige Dimensionen, die bei der Beantwortung der Frage nach der epistemisch besten Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten berücksichtigt werden müssen: Eine spezifische intellektuelle Haltung angesichts einer Meinungsverschiedenheit ist genau dann epistemisch adäquat, wenn sie sowohl epistemisch rational, als auch instrumentell rational relativ zu unseren epistemischen Zielen ist. Bei der kritischen Bewertung einer epistemisch toleranten Haltung müssen somit Überlegungen zur epistemischen Rationalität und Überlegungen zur instrumentellen Rationalität hinsichtlich epistemischer Ziele gleichermaßen berücksichtigt werden. Im Folgenden werde ich mich zunächst der Frage nach der epistemischen Rationalität einer toleranten Haltung widmen.

88

Ähnliche Fälle, in denen sich epistemische und instrumentelle Rationalität auf dieselbe Proposition beziehen, finden sich bei Berker 2013b. Für eine Diskussion siehe Hallsson und Kappel 2018.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational? Ist es epistemisch rational, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren? Gemäß der im ersten Kapitel entwickelten Konzeption ist es für eine tolerante Haltung charakteristisch, angesichts einer Meinungsverschiedenheit bei seiner Meinung zu bleiben. Eine tolerante Reaktion ist also nur in solchen Fällen epistemisch rational, in denen es epistemisch rational ist, angesichts der konfligierenden Überzeugungen anderer seine eigene Überzeugung beizubehalten. Dass es aber in vielen Fällen epistemisch irrational ist, angesichts einer Meinungsverschiedenheit an seiner Überzeugung festzuhalten, sollte offensichtlich sein. Zwar gibt es – wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben – eine kontroverse Debatte innerhalb der gegenwärtigen Erkenntnistheorie darüber, unter welchen spezifischen Umständen eine Beibehaltung der eigenen Meinung epistemisch irrational ist. Dass es jedoch solche Umstände gibt, ist unbestritten. Als Beispiel haben wir schon den Restaurantfall von Christensen kennengelernt: In diesem Fall wäre es klarerweise epistemisch irrational, einfach seine Überzeugung beizubehalten.89 Wenn es jedoch unter vielen Umständen epistemisch irrational ist, angesichts einer Meinungsverschiedenheit seine Überzeugung beizubehalten, dann ist es auch unter vielen Umständen epistemisch irrational, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren. Darüber hinaus muss bei der Bewertung der epistemischen Rationalität einer toleranten Haltung nicht nur die für diese Haltung charakteristische Beibehaltung der eigenen Überzeugung, sondern auch die ebenfalls charakteristische Bewertungskomponente berücksichtigt werden: Auch die Bewertung einer fremden Überzeugung als falsch und gleichermaßen gerechtfertigt kann unter Umständen epistemisch irrational sein und somit dazu führen, dass eine tolerante Haltung epistemisch inadäquat ist. Im Folgenden möchte ich jedoch ein viel grundlegenderes Problem diskutieren: Die Sorge ist nicht, dass eine tolerante Haltung nicht immer epistemisch rational ist, sondern dass eine tolerante Haltung immer epistemisch irrational ist. Der hinter dieser Sorge stehende Verdacht ist, dass eine tolerante Haltung notwendigerweise epistemisch irrational ist, weil es eine inhärente Spannung zwischen den für epistemische Toleranz konstitutiven Bestandteilen der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt und der gleichzeitigen Beibehaltung der eigenen Überzeugung gibt. Sollte sich dieser Verdacht als zutreffend herausstellen, dann wäre eine tolerante Haltung selbst in solchen Fällen epistemisch irrational, in denen die Bewertung der fremden Überzeugung als falsch und gleichermaßen gerechtfertigt epistemisch rational ist und darüber hinaus auch keine unabhängigen Gründe zur Modifikation der eigenen Überzeugung – etwa aufgrund von Autoritäts- oder Ebenbürtigkeitszuschreibungen – vorliegen. Tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren, wäre schon allein deshalb epistemisch irrational, weil die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt bereits für sich genommen 89

Christensen 2007.

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4. Sollten wir tolerant sein?

eine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht. Aber ist dies wirklich der Fall? Im Folgenden möchte ich drei verschiedene Argumente für die Annahme diskutieren, dass es eine inhärente rationale Spannung zwischen der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt und der gleichzeitigen Beibehaltung der eigenen Überzeugung gibt. Ich werde dafür argumentieren, dass alle drei Argumente insofern fehlgeleitet sind, als dass sie keine grundsätzliche Instabilität einer epistemisch toleranten Haltung etablieren können. Trotzdem zeigen sie, dass unter spezifischen Umständen bzw. vor dem Hintergrund spezifischer theoretischer Annahmen durchaus eine rationale Spannung zwischen der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt und der gleichzeitigen Beibehaltung der eigenen Überzeugung besteht, und dass dementsprechend eine epistemisch tolerante Haltung durchaus allein aufgrund ihrer charakteristischen Struktur problematisch sein kann. 4.2.1 Das erste Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung Warum sollte man sich der Überzeugung seines Gegenübers annähern müssen, wenn man davon ausgeht, dass diese Überzeugung gleichermaßen gerechtfertigt ist? Eine ebenso einfache wie naheliegende Antwort wäre folgende: Um entscheiden zu können, ob die Überzeugung einer anderen Person gerechtfertigt ist, muss man die Gründe bewerten, aufgrund derer diese Überzeugung gebildet wurde – basiert die Überzeugung auf guten Gründen, ist sie gerechtfertigt, basiert sie auf schlechten Gründen, ist sie ungerechtfertigt. Um die abweichende Überzeugung einer anderen Person als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, muss man also die dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründe evaluiert und als gut befunden haben. Im Zuge der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt erhält man dementsprechend Zugang zu guten Gründen für diese Überzeugung.90 Zugang zu guten Gründen zu erhalten, bedeutet aber, dass diese Gründe für einen selbst epistemisch relevant werden. So gibt es zwar eine Menge guter Gründe für alle möglichen Überzeugungen – allerdings sind nur die wenigsten dieser Gründe für mich epistemisch relevant. Beispielsweise gibt es verschiedene Gründe, aufgrund derer gerechtfertigte Überzeugungen über das aktuelle Wetter in Kapstadt gebildet werden können. Diese Gründe sind mir jedoch nicht zugänglich, und dementsprechend für mich auch nicht epistemisch relevant – ich habe keine Überzeugung über das aktuelle Wetter in Kapstadt, und das scheint aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive auch nicht weiter problematisch zu sein. Sobald ich jedoch Zugang zu Gründen erhalte, werden diese für mich epistemisch relevant. Wenn ich beispielweise zufällig in der Zeitung lesen sollte, dass heute in Kapstadt strahlender

90

Ein ähnliches Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung findet sich bei Feldman 2007.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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Sonnenschein ist, dann wäre es epistemisch irrational von mir, keine entsprechende Überzeugung zu bilden.91 Genauso verhält es sich nun auch mit den Überzeugungen anderer: Sobald ich Zugang zu den Gründen erhalte, die eine Person für ihre Überzeugung hat, werden diese Gründe für mich epistemisch relevant. Und wenn ich aufgrund einer Bewertung des Rechtfertigungsstatus einer fremden Überzeugung zu dem Ergebnis komme, dass es gute Gründe für diese Überzeugung gibt, dann habe ich selbstverständlich auch Zugang zu diesen Gründen. Wenn ich aber Zugang zu Gründen habe, die ich für gute Gründe für eine bestimmte Überzeugung halte, dann sollte ich mich dieser Überzeugung annähern. Ein Beispiel: Peter muss mit seinem Kollegen Mark geschäftlich für einige Tage nach Berlin fahren. Am Tag der Abreise steht Peter zum vereinbarten Zeitpunkt am Bahnhof, aber Mark ist nicht da. Da Peter Marks Nummer nicht hat, ruft er stattdessen seine Chefin Petra an und fragt sie, ob sie weiß, wo Mark ist. Petra sagt Peter, dass sie gerade mit Mark gesprochen hat und er ihr erklärt hat, dass er erst ein wenig später zum Bahnhof fahren wird, weil er davon ausgeht, dass der Zug ohnehin Verspätung haben wird. Peter weiß nicht, wie Mark zu dieser Überzeugung kommt: Er hat nichts von einer Verspätung mitbekommen, und er kennt Mark auch nicht und kann dementsprechend nicht einschätzen, wie zuverlässig er ist. Als Mark schließlich auch am Bahnhof ankommt, fragt Peter ihn, warum er davon ausgeht, dass der Zug Verspätung hat. Daraufhin antwortet Mark, dass er beim Frühstück im Radio gehört hat, dass aufgrund eines Unwetters in der Nacht viele Oberleitungen zerstört wurden und dementsprechend die meisten Züge aufgrund technischer Störungen verspätet sind oder ausfallen. Angesichts dieser Information sieht Peter ein, dass Mark gute Gründe für seine Vermutung hat und geht nun ebenfalls davon aus, dass ihr Zug Verspätung hat. In diesem Beispiel ist Peter zunächst agnostisch bezüglich des Rechtfertigungsstatus von Marks Überzeugung – er weiß nicht, ob Mark gute Gründe für seine Überzeugung hat. Um den Rechtfertigungsstatus von Marks Überzeugung bewerten zu können, bittet Peter ihn, ihm seine Gründe zu nennen. Durch Marks Erklärung erhält Peter nun Zugang zu dessen Gründen und kommt zu dem Ergebnis, dass Mark in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist. Darüber hinaus nähert er sich auch selbst Marks Überzeugung an – und genau das scheint die rational gebotene Reaktion zu sein: Schließlich kennt Peter nun die Gründe von Mark und kann sie dementsprechend für seine Überzeugungsbildung nutzen. Das Beispiel von Peter und Mark 91

In gewisser Hinsicht mag es merkwürdig erscheinen, in dem Fall, in dem ich den entsprechenden Zeitungsartikel überhaupt nicht gelesen habe, zu sagen, es gäbe Gründe, die für eine spezifische Überzeugung sprechen. Letztendlich hängt aber von der Terminologie, mit der das hier relevante Phänomen beschrieben wird, nicht viel ab. So könnte man etwa auch eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Gründen (Gibbons 2013, 29 ff.) bemühen, und dafür argumentieren, dass der Zeitungsartikel einen objektiven Grund für die Annahme darstellt, dass in Kapstadt die Sonne scheint, der für mich zu einem subjektiven Grund wird, wenn ich ihn lese. Genauso könnte man auch versuchen, den Begriff des Grundes komplett zur vermeiden. Man könnte den Fall etwa so beschreiben, dass der Zeitungsartikel Informationen enthält, die für mich erst dann epistemisch relevant werden, wenn ich von ihnen erfahre.

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4. Sollten wir tolerant sein?

zeigt also, wie man im Zuge der epistemischen Evaluation einer fremden Überzeugung Zugang zu den zugrundeliegenden Gründen erhält, durch den einem diese Gründe nun zur eigenen Überzeugungsbildung zur Verfügung stehen. Eine Konsequenz dieses Phänomens ist, dass man sich im Falle eines positiven Ergebnisses der epistemischen Evaluation der Überzeugung seines Gegenübers annähern sollte. Wie stark man sich dabei dieser Überzeugung annähern sollte, hängt natürlich davon ab, für wie gut man die fraglichen Gründe hält. Das Besondere an einer epistemisch toleranten Haltung ist in diesem Zusammenhang, dass man die Überzeugung seines Gegenübers für gleichermaßen gerechtfertigt hält, dass man also davon ausgeht, dass die Gründe, die für die fremde Überzeugung sprechen, genauso gut sind wie die Gründe, die für die eigene Überzeugung sprechen. Im Rahmen einer toleranten Haltung befindet man sich somit in folgender Situation: Man hat einerseits Zugang zu Gründen, die für die eigene Überzeugung sprechen – das sind die Gründe, aufgrund derer man seine eigene Überzeugung ursprünglich gebildet hat. Andererseits hat man auch Zugang zu Gründen, die gegen die eigene Überzeugung sprechen – das sind die Gründe, aufgrund derer die Gegenseite ihre Überzeugung gebildet hat. Man hat also sowohl Zugang zu Gründen, die für die eigene Überzeugung sprechen, als auch Zugang zu Gründen, die gegen die eigene Überzeugung sprechen. Darüber hinaus sind die Gründe, die für die eigene Überzeugung sprechen, genauso gut wie die Gründe, die gegen die eigene Überzeugung sprechen. Angesichts dieser Situation sollte es klar sein, dass man seine ursprüngliche Überzeugung aufgeben und sich des Urteils enthalten sollte. Was ist von dieser Argumentation zu halten? Meiner Meinung nach gibt es hier verschiedene Probleme. Erstens ist überhaupt nicht klar, inwieweit sich das in dem Fall von Peter und Mark illustrierte Phänomen auf andere Fälle generalisieren lässt. Tatsächlich scheint die Überlegung, dass man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gerechtfertigt Zugang zu guten Gründen für diese Überzeugung gewinnt, angesichts derer man seine eigene Überzeugung modifizieren sollte, bei einem näheren Blick einigermaßen problematisch: Insofern nämlich damit gemeint ist, dass eine konfligierende Überzeugung nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie auf der Grundlage entsprechender Evidenz gebildet wurde, und dass ein Zugang zu dieser Evidenz eine Annäherung an die konfligierende Überzeugung rational erforderlich macht, wird hier klarerweise die Falschheit des Permissivismus vorausgesetzt. Denn vor dem Hintergrund des Permissivismus muss der Zugang zu Evidenz, angesichts derer eine konfligierende Überzeugung gerechtfertigt ist, nicht notwendigerweise eine Annäherung an diese Überzeugung rational erforderlich machen, da ja die Evidenz alleine im Rahmen des Permissivismus überhaupt nicht determiniert, welche Überzeugung rational ist. Wenn es nämlich von einem weiteren, evidenzunabhängigen Parameter – wie beispielsweise den entsprechenden Hintergrundüberzeugungen oder praktischen Interessen des Subjekts – abhängt, welche Überzeugung angesichts einer gegebenen Evidenzmenge rational ist, dann kann es durchaus Fälle geben, in denen eine Person angesichts einer gegebenen Evidenzmenge eine gerechtfertigte Überzeugung hat, während eine andere Person angesichts derselben Evidenzmenge nicht in dieser Überzeugung gerechtfertigt wäre.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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Vor dem Hintergrund des Permissivismus ist also überhaupt nicht klar, warum die Gründe, aufgrund derer eine andere Person eine gerechtfertigte Überzeugung gebildet hat, auch für mich eine Annäherung an diese Überzeugung rational erforderlich machen. Das ist nun insofern problematisch, als dass – wie wir im letzten Kapitel gesehen haben – der Permissivismus auf den ersten Blick eine schwache und wenig kontroverse Annahme darstellt. Doch selbst wenn man die These evidentieller Eindeutigkeit und somit die Falschheit des Permissivismus voraussetzt, gibt es noch ein ganz anderes Problem. Denn eine weitere Voraussetzung des obigen Arguments scheint zu sein, dass man den Rechtfertigungsstatus einer fremden Überzeugung nur dann evaluieren kann, wenn einem die dieser Überzeugung zugrundliegenden Gründe bekannt sind. Tatsächlich dürfte es aber in sehr vielen Fällen möglich sein, den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung zu evaluieren, ohne dabei einen direkten Zugang zu den zugrundeliegenden Gründen zu haben in dem Sinne, dass einem diese Gründe bekannt sind, oder dass man sie nachvollziehen kann. Ein Beispiel wäre etwa ein Physiker, der mir erklärt, dass die Stringtheorie in den vergangenen Jahren massiver Kritik ausgesetzt war und aktuell von immer weniger Forschern vertreten wird. Diese Information ist für mich komplett neu – ich weiß nicht einmal genau, was die Stringtheorie überhaupt besagt, geschweige denn, wie populär sie in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion ist. Dementsprechend habe ich auch keine Ahnung, welche Gründe für oder gegen die Stringtheorie sprechen. Trotzdem bin ich auch in diesem Fall in der Lage, den epistemischen Status der Überzeugung des Physikers zu bewerten, und zwar auch ohne dass er versucht, mir irgendwelche Gründe zu erläutern, die ich ohnehin nicht verstehe: Wenn ich etwa weiß, dass er ein gut ausgebildeter Physiker ist, der als Wissenschaftler an einer renommierten Universität arbeitet und auf dem Gebiet der Teilchenphysik spezialisiert ist, und wenn sich darüber hinaus die meisten seiner in der Vergangenheit getätigten Aussagen über aktuelle Forschungsstände in der Physik insofern als korrekt herausgestellt haben, als dass sie von anderen Physikern bestätigt wurden, dann habe ich gute Gründe anzunehmen, dass er gute Gründe für seine Überzeugung hat. Trotzdem gewinne ich in diesem Fall im Zuge meiner epistemischen Bewertung der Gründe meines Gegenübers keinen direkten epistemischen Zugang zu diesen Gründen – diese bleiben mir tatsächlich gänzlich verborgen und stehen mir somit auch nicht direkt zur eigenen Überzeugungsbildung bzw. -modifikation zur Verfügung. Man kann sich auch noch extremere Fälle vorstellen, in denen die Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt rational ist, ohne dass man in irgendeiner Form Zugang zu den zugrundeliegenden Gründen hat und auch sonst nichts über die fragliche Person weiß. Nehmen wir etwa einen Fall, in dem mir ein Freund versichert, dass eine Bekannte von ihm davon überzeugt ist, entfernt mit Angela Merkel verwandt zu sein, und dass sie tatsächlich auch gute Gründe für diese Überzeugung hat. Sofern ich davon ausgehe, dass mein Freund zuverlässig darin ist, zu bewerten, ob jemand gute Gründe für seine Überzeugung hat, habe auch ich in diesem Fall gute Gründe für die Annahme, dass die Bekannte meines Freundes in ihrer Überzeugung gerechtfertigt ist. Trotzdem habe ich keinerlei Zugang zu

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den konkreten, dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründen und auch keine weiteren Informationen über die Person, die sie gebildet hat. Das erste Argument für die Annahme, dass es eine inhärente rationale Spannung zwischen der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt und der gleichzeitigen Beibehaltung der eigenen Überzeugung gibt, kann also nicht überzeugen: Abgesehen davon, dass die Gründe, aufgrund derer eine Person eine gerechtfertigte Überzeugung hat, nicht notwendigerweise auch für andere Personen eine Annäherung an diese Überzeugung rational erforderlich machen, ist es problemlos möglich, eine fremde Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, ohne einen Zugang zu den dieser Überzeugung zugrundliegenden Gründen zu haben. 4.2.2 Gründe erster Ordnung, Gründe zweiter Ordnung und Anfechtungsgründe Gibt es bessere Argumente dafür, dass es epistemisch irrational ist, bei seiner Meinung zu bleiben, während man die abweichende Meinung einer anderen Person als gleichermaßen gerechtfertigt bewertet? In gewisser Weise deutet die Diskussion des ersten Arguments schon eine vielversprechende Möglichkeit an: Zwar zeigen die dort präsentierten Fälle, dass es durchaus möglich ist, eine abweichende Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, ohne Zugang zu den dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründen zu haben. Andererseits scheint aber auch in diesen Fällen eine Annäherung an die als gerechtfertigt bewertete Überzeugung rational geboten zu sein: Wenn ich beispielsweise erfahre, dass ein Physiker, den ich für einen führenden Experten im Bereich der Teilchenphysik halte, der Überzeugung ist, dass die Stringtheorie vermutlich falsch ist, dann gibt diese Information auch mir einen Grund, davon auszugehen, dass die Stringtheorie falsch ist. Und wenn mir mein Freund versichert, dass seine Bekannte in ihrer Überzeugung, entfernt mit Angela Merkel verwandt zu sein, gerechtfertigt ist, dann gibt mir diese Information einen Grund, davon auszugehen, dass die Bekannte meines Freundes tatsächlich entfernt mit Angela Merkel verwandt ist. Die Bewertung einer fremden Überzeugung als gerechtfertigt kann einem also anscheinend auch dann einen Grund liefern, sich dieser Überzeugung anzunähern, wenn man überhaupt keinen direkten Zugang zu den dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründen hat. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? An dieser Stelle ist es hilfreich, eine Unterscheidung zwischen Gründen erster Ordnung und Gründen zweiter Ordnung einzuführen. Bei der Unterscheidung zwischen Gründen erster Ordnung und Gründen zweiter Ordnung handelt es sich zumindest in der Moralphilosophie, also hinsichtlich praktischer statt epistemischer Gründe, um eine weit akzeptierte Unterscheidung, die auf Joseph Raz zurückgeht.92 Raz versteht unter Gründen erster Ordnung Handlungsgründe, die sich unmittelbar aus ethischen Überlegungen, Interessen oder Wünschen ergeben. Demgegenüber 92

Vgl. hierzu und zum Folgenden Raz 2002, 34 ff.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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sind Gründe zweiter Ordnung Gründe dafür, auf der Grundlage bestimmter Gründe zu handeln oder nicht zu handeln. Ein Beispiel:93 Thomas überlegt, ob er seine Tochter auf eine bestimmte Schule schicken soll. Dass die Schule sehr nah gelegen ist, dass dort Philosophieunterricht angeboten wird, und dass es der Karriere von Thomas zuträglich sein könnte, an dieser Schule ein Kind zu haben, sind Gründe erster Ordnung für Thomas, seine Tochter auf diese Schule zu schicken. Andererseits hat Thomas seinem Freund David versprochen, dass er bei der Wahl der Schule nur Überlegungen berücksichtigen wird, die für das Wohl seiner Tochter relevant sind, und dass Überlegungen zu seiner Karriere dabei keine Rolle spielen werden. Dieses Versprechen ist nun ein Grund zweiter Ordnung für Thomas. Grob gesprochen sind also Gründe zweiter Ordnung Gründe, die sich auf andere Gründe beziehen. Entscheidend ist nun, dass auch diese Gründe zweiter Ordnung relevant dafür sind, welche Entscheidung Thomas treffen sollte: Denn wenn Thomas versprochen hat, bei der Wahl der Schule keine Überlegungen zu seiner Karriere zu berücksichtigen, dann sollte er seine Tochter auch nicht auf eine Schule schicken, nur weil es seiner Karriere zuträglich sein könnte, an dieser Schule ein Kind zu haben. Eine ganz ähnliche Unterscheidung findet sich auch in der erkenntnistheoretischen Literatur, wo etwa zwischen Evidenz erster Ordnung und Evidenz höherer Ordnung unterschieden wird. Das Besondere an Evidenz höherer Ordnung ist, dass sie sich selbst auf evidentielle Stützungsrelationen bezieht. 94 Ein Beispiel: Martin hört den aktuellen Wetterbericht, weil er gerne wissen würde, ob es morgen regnet. Der Wetterbericht kündigt strahlenden Sonnenschein an, woraufhin Martin die Überzeugung bildet, dass es morgen nicht regnen wird. Kurz darauf hat Martin ein Gespräch mit seiner Kollegin Anna. Anna erzählt Martin, dass sie von einer Studie gelesen hat, aus der eindeutig hervorgeht, dass Wetterberichte auch heutzutage trotz modernster Technik und ausgefeilter Methoden immer noch extrem fehleranfällig und unzuverlässig sind. Daraufhin ändert Martin wieder seine Überzeugung und enthält sich nun des Urteils über das morgige Wetter. In diesem Fall konstituiert der Wetterbericht Evidenz erster Ordnung und Annas Aussage Evidenz höherer Ordnung. Beides ist relevant für Martins Überzeugung bezüglich des morgigen Wetters – der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass sich die Aussage Annas im Gegensatz zu dem Wetterbericht nicht direkt auf das morgige Wetter, sondern vielmehr auf die evidentielle Situation bezieht, in der sich Martin hinsichtlich der Frage nach dem morgigen Wetter befindet. Die Unterscheidung zwischen Evidenz erster Ordnung und Evidenz höherer Ordnung in der Erkenntnistheorie ist also in gewisser Weise analog zu der Unterscheidung zwischen Gründen erster Ordnung und Gründen zweiter Ordnung in der Moralphilosophie. Genauso wie es das Spezifische an Gründen zweiter Ordnung ist, dass sich Gründe zweiter Ordnung auf andere Gründe beziehen, ist es das Spezifische an Evidenz höherer Ordnung, dass Evidenz höherer Ordnung Evidenz über Evidenz ist. Dementsprechend lässt sich nun auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine Unterscheidung einführen zwischen Gründen 93

Das folgende Beispiel ist entnommen aus Whiting 2016. Eine solche Charakterisierung findet sich etwa bei Christensen 2010, unter dem Begriff der Evidenz zweiter Ordnung finden sich ähnliche Überlegungen bei Feldman 2005. 94

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4. Sollten wir tolerant sein?

erster Ordnung und Gründen zweiter Ordnung, wobei Gründe zweiter Ordnung Gründe sind, die sich auf andere Gründe beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung lässt sich besser verstehen, wie es möglich ist, dass die Bewertung einer fremden, abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einem auch dann einen Grund zur Überzeugungsmodifikation liefern kann, wenn man überhaupt keinen direkten Zugang zu den der fremden Überzeugung zugrundeliegenden Gründen hat. So mag es zwar einerseits Fälle geben, in denen man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt Gründe erster Ordnung für diese Überzeugung gewinnt, angesichts derer eine Überzeugungsmodifikation rational erforderlich ist. Dies ist etwa der Fall in dem Beispiel von Peter und Mark, deren Zug Verspätung hat: Hier ist Peters Bewertung von Marks Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt das Resultat einer direkten Bewertung von Marks Gründen – Peter kennt Marks Gründe und akzeptiert, dass diese Gründe gute Gründe für Marks Überzeugung sind. Das bedeutet aber auch, dass Peter einen direkten Zugang zu diesen Gründen hat und sie dementsprechend für die eigene Überzeugungsbildung bzw. modifikation nutzen kann. So sollte Peter, nachdem er von Marks Gründen erfahren hat, Marks Überzeugung als gerechtfertigt bewerten und darüber hinaus auch Marks Überzeugung übernehmen. Würde man ihn nun fragen, warum er davon überzeugt ist, dass der Zug aufgrund einer technischen Störung verspätet ist, wäre es merkwürdig, wenn er als Grund anführen würde, dass jemand anders gute Gründe für diese Überzeugung hat. Vielmehr sollte er als Grund sein Wissen von der Radiomeldung anführen – also die Gründe erster Ordnung, die er im Zuge der epistemischen Evaluation von Marks Überzeugung gewonnen hat. Wie wir jedoch bereits gesehen haben, gibt es andererseits auch sehr viele Fälle, in denen man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gerechtfertigt keinen direkten Zugang zu den dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründen und somit auch keine Gründe erster Ordnung für diese Überzeugung gewinnt. Dass man sich auch in diesen Fällen der als gerechtfertigt bewerteten Überzeugung annähern sollte, lässt sich nun dadurch erklären, dass man hier zwar keine Gründe erster Ordnung, dafür aber Gründe zweiter Ordnung für die Wahrheit der fraglichen Überzeugung gewinnt. Diese Vermutung ist natürlich zunächst noch einigermaßen vage: Was bedeutet es genau, einen Grund zweiter Ordnung zu gewinnen? Und warum sollte man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gerechtfertigt einen Grund zweiter Ordnung für diese Überzeugung gewinnen? Im Folgenden möchte ich zwei weitere Argumente dafür präsentieren, dass die Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt notwendigerweise epistemisch irrational ist. Beide Argumente stellen Versuche dar, zu erklären, warum man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einen Grund zweiter Ordnung erhält, der eine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht. Bei der Diskussion dieser Argumente wird das Konzept epistemischer Anfechtung eine zentrale Rolle spielen, weswegen ich zunächst noch kurz darauf eingehen

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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möchte, was hiermit gemeint ist. Die grundlegende Idee hinter dem Konzept epistemischer Anfechtung ist, dass es spezifische Informationen – sogenannte Anfechtungsgründe – gibt, die, sobald wir sie erhalten, dafür sorgen, dass zuvor gerechtfertigte Überzeugungen nicht weiter gerechtfertigt sind. Wie genau Anfechtungsgründe den Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen angreifen, und was für Arten von Anfechtungsgründen es gibt, ist Gegenstand einer eigenständigen Forschungsdiskussion innerhalb der gegenwärtigen Erkenntnistheorie.95 Gemäß einer breit akzeptierten Unterscheidung gibt es jedoch mindestens drei verschiedene Arten von Anfechtungsgründen – nämlich widerlegende Anfechtungsgründe (engl. rebutting defeater), unterminierende Anfechtungsgründe (engl. undercutting defeater) und Anfechter des Grundes (engl. reason-defeating defeater).96 Widerlegende Anfechtungsgründe sind Informationen, die direkt gegen die Wahrheit der angefochtenen Überzeugung sprechen. Unterminierende Anfechtungsgründe sind Informationen, die dafür sprechen, dass etwas mit der Stützungsrelation zwischen der angefochtenen Überzeugung und der ihr zugrundeliegenden Evidenz nicht stimmt, sodass die Überzeugung angesichts der Evidenz überhaupt nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Und Anfechter des Grundes sprechen gegen die Wahrheit der Gründe, auf denen die angefochtene Überzeugung basiert. Die jeweils unterschiedliche Funktionsweise dieser drei Arten von Anfechtungsgründen lässt sich gut anhand eines Beispiels veranschaulichen:97 Angenommen, Peter kommt aufgrund der Beobachtung einer Reihe von Schwänen zu der gerechtfertigten Überzeugung, dass alle Schwäne weiß sind. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie diese gerechtfertigte Überzeugung angefochten werden könnte. So könnte Peter einerseits die Information erhalten, dass es schwarze Schwäne gibt. Diese Information spräche direkt gegen die Wahrheit von Peters Überzeugung und konstituiert somit einen widerlegenden Anfechtungsgrund für diese Überzeugung. Andererseits könnte Peter die Information erhalten, dass die Schwäne, die er beobachtet hat, keine repräsentative Stichprobe bilden. Diese Information spräche dafür, dass Peters Überzeugung angesichts der ihr zugrundeliegenden Evidenz überhaupt nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist, und konstituiert dementsprechend einen unterminierenden Anfechtungsgrund für diese Überzeugung. Letztendlich könnte Peter auch die Information erhalten, dass er in Wahrheit nicht nur weiße, sondern tatsächlich auch einige schwarze Schwäne beobachtet hat. Diese Information spräche direkt gegen die Wahrheit des Grundes, auf dem Peters Überzeugung basiert, und konstituiert dementsprechend einen Anfechter des Grundes für diese Überzeugung. Entscheidend ist nun, dass Peters Überzeugung, dass alle Schwäne weiß sind, angesichts all dieser Informationen jeweils nicht mehr gerechtfertigt ist, und dass er dementsprechend auch angesichts dieser Informationen seine Überzeugung aufgeben sollte. Indem Anfechtungsgründe den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung

95

Für eine Einführung siehe etwa Grundmann 2011. Die deutsche Übersetzung orientiert sich an Grundmann 2009. 97 Das folgende Beispiel ist entnommen aus Ebd. 96

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4. Sollten wir tolerant sein?

angreifen, machen sie also eine Überzeugungsmodifikation erforderlich: Angesichts eines Anfechtungsgrundes an seiner Überzeugung festzuhalten, ist paradigmatisch irrational. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist ein zentraler Gedanke hinter den beiden nächsten Argumenten für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung, dass man im Zuge der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt Gründe zweiter Ordnung erhält, die einen Anfechtungsgrund für die eigene Überzeugung konstituieren, angesichts dessen eine Beibehaltung dieser Überzeugung epistemisch irrational ist. 4.2.3 Das zweite Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung Warum sollte man im Zuge der für eine tolerante Haltung charakteristischen Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt Gründe zweiter Ordnung für diese Überzeugung gewinnen, angesichts derer eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung irrational ist? Ein auf den ersten Blick vielversprechender Ausgangspunkt für eine mögliche Erklärung ist das sogenannte EEE-Prinzip (kurz für evidence of evidence is evidence). Dieses Prinzip geht auf Richard Feldman zurück – in seinem Aufsatz „Reasonable Religious Disagreements“, in dem er für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung argumentiert, schreibt er: “[…] [Even] if it is true that the theists and the atheists have private evidence, this does not get us out of the problem. Each may have his or her own special insight or sense of obviousness. But each knows about the other’s insight. Each knows that this insight has evidential force. […] A point about evidence that plays a role here is this: evidence of evidence is evidence. More carefully, evidence that there is evidence for P is evidence for P. Knowing that the other has an insight provides each of them with evidence.”98

Die in dieser Passage entwickelte Überlegung lässt sich direkt auf unser gegenwärtiges Problem übertragen: Wenn ich epistemisch tolerant bin, dann bewerte ich eine konfligierende Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt und bleibe gleichzeitig bei meiner eigenen Überzeugung. Das ist jedoch irrational: Denn da eine Überzeugung nur dann gerechtfertigt ist, wenn es Evidenz für die Wahrheit dieser Überzeugung gibt, muss ich Evidenz dafür haben, dass es Evidenz für die Wahrheit der fremden Überzeugung gibt, um in meiner Annahme gerechtfertigt zu sein, dass die fremde Überzeugung gerechtfertigt ist. Evidenz für die Annahme, dass es Evidenz für die Wahrheit einer Überzeugung gibt, ist jedoch selbst Evidenz, die für diese Überzeugung spricht. In diesem Sinne gewinne ich also im Zuge meiner Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einen widerlegenden Anfechtungsgrund, der für die Wahrheit dieser Überzeugung und dementsprechend gegen die Wahrheit der eigenen Überzeugung spricht, und angesichts dessen eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung irrational ist.

98

Feldman 2007, 151. Meine Hervorhebung.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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Ein Beispiel: Peter studiert Philosophie. Im Laufe seines Studiums hat er sich mit verschiedenen Überlegungen, die für oder gegen die Existenz Gottes sprechen, auseinandergesetzt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Gott nicht existiert. Nun erfährt Peter, dass seine Kommilitonin Petra glaubt, dass Gott existiert. Peter kennt Petra seit Beginn seines Studiums und schätzt sie als gute Philosophin. Er geht davon aus, dass sie bezüglich der kritischen Bewertung philosophischer Argumente und der sorgfältigen Reflexion komplexer Problemstellungen genauso zuverlässig ist wie er selbst. Darüber hinaus glaubt er, dass Petra eine sehr redliche Philosophin ist, die in einer philosophischen Debatte erst dann Stellung bezieht, wenn sie sich ausführlich mit verschiedenen Argumenten beschäftigt hat, die in diesem Zusammenhang relevant sind. Zudem weiß er, dass Petra letztes Semester ein Seminar über die Frage nach der Existenz Gottes besucht hat. Aufgrund all dessen geht Peter nun davon aus, dass Petras Überzeugung in die Existenz Gottes gerechtfertigt ist. Andererseits hält er seine eigene Überzeugung aber für ebenso gerechtfertigt, schließlich hat er sich ebenfalls mit relevanten Argumenten auseinandergesetzt. Dementsprechend verhält er sich tolerant: Er geht weiterhin davon aus, dass Gott nicht existiert, versucht aber auch nicht, Petra von seiner Position zu überzeugen. Die Idee ist nun, dass eine solche Haltung deshalb irrational ist, weil Peter – sofern seine Bewertung von Petras Überzeugung als gerechtfertigt ihrerseits gerechtfertigt ist – Evidenz für die Annahme haben muss, dass es Evidenz für die Wahrheit von Petras Überzeugung gibt – gäbe es keine solche Evidenz, wäre Petra auch nicht gerechtfertigt. Und da Peter weiß, dass Petra eine kompetente und redliche Philosophin ist, die sich erst vor kurzem mit in diesem Zusammenhang relevanten Argumenten auseinandergesetzt hat, besitzt er tatsächlich Evidenz für die Annahme, dass es Evidenz für die Wahrheit ihrer Überzeugung gibt und Petra somit in ihrer Überzeugung gerechtfertigt ist. Nun ist es aber so, dass – vorausgesetzt das EEE-Prinzip – Evidenz, die dafür spricht, dass es Evidenz für die Annahme gibt, dass Gott existiert, auch selbst direkt Evidenz für Gottes Existenz ist. Dementsprechend hat Peter Gründe zweiter Ordnung für die Annahme, dass Gott existiert und dementsprechend einen widerlegenden Anfechtungsgrund, angesichts dessen es irrational wäre, wenn er einfach an seiner Überzeugung festhielte. Was ist von dieser Argumentation zu halten? Tatsächlich scheint es vor dem Hintergrund des EEE-Prinzips eine direkte Möglichkeit zu geben, dafür zu argumentieren, dass man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt Gründe zweiter Ordnung für diese Überzeugung gewinnt. Denn gemäß diesem Prinzip wäre die Evidenz, aufgrund derer man zu der Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt gekommen ist, einfach Evidenz höherer Ordnung für die Wahrheit dieser Überzeugung. Hieraus ergäbe sich dann, so die weitere Überlegung, das vermutete Problem für eine tolerante Haltung: Wenn das EEE-Prinzip gilt, kann ich nicht einfach an meiner Überzeugung festhalten, wenn ich Evidenz für die Annahme habe, dass es Evidenz für eine fremde, mit meiner eigenen Überzeugung inkompatible Überzeugung gibt. Wenn ich angesichts einer Meinungsverschiedenheit tolerant bin, dann halte ich die abweichende Über-

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zeugung meines Gegenübers jedoch für gerechtfertigt und es ist nur dann gerechtfertigt, eine Überzeugung für gerechtfertigt zu halten, wenn man Evidenz für die Annahme hat, dass es Evidenz für diese Überzeugung gibt. Deshalb ist es – zumindest in allen Fällen, in denen die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt ihrerseits gerechtfertigt ist – irrational, die abweichende Überzeugung seines Gegenübers für gerechtfertigt zu halten und gleichzeitig an seiner eigenen Überzeugung festzuhalten. Letztendlich hängt an dieser Stelle aber klarerweise viel von einer kritischen Bewertung des von Feldman postulierten EEE-Prinzips ab. Das Problem ist hierbei, dass es sich beim EEE-Prinzip um ein einigermaßen umstrittenes Prinzip handelt. So wurden in der erkenntnistheoretischen Forschung als Reaktion auf Feldmans Argumentation verschiedene Gegenbeispiele präsentiert, die zeigen sollen, dass das EEE-Prinzip falsch ist. Branden Fitelson entwickelt in seinem Aufsatz „Evidence of Evidence is not (necessarily) Evidence“ etwa folgendes Szenario: 99 Johannes ist eine Person, die mir und meinem Freund Jonas gänzlich unbekannt ist – wir haben beide keinerlei Informationen über Johannes. Dann erhält jeder von uns genau eine Information über Johannes – Jonas erfährt sein Alter, und ich erfahre etwas über sein Aussehen. Wir dürfen uns über diese Informationen jedoch nicht austauschen. Ich erhalte die Information, dass Johannes volles weißes Haar hat. Das Johannes volles weißes Haar hat, ist Evidenz dafür, dass Jonas nun weiß, dass Johannes älter als 35 Jahre ist. Wenn Jonas aber weiß, dass Johannes älter als 35 Jahre ist, dann hat er Evidenz dafür, dass Johannes eine Glatze hat. Somit habe ich Evidenz dafür, dass Jonas Evidenz dafür hat, dass Johannes eine Glatze hat. Meine Evidenz, also die Information, dass Johannes volles weißes Haar hat, ist jedoch selbst nicht Evidenz dafür, dass Johannes eine Glatze hat. Tatsächlich ist diese Information sogar Evidenz, die dagegen spricht, dass Johannes eine Glatze hat. Somit haben wir ein potentielles Gegenbeispiel für das EEE-Prinzip: Dass Johannes volles weißes Haar hat, ist einerseits Evidenz dafür, dass Jonas Evidenz dafür hat, dass Johannes eine Glatze hat, und andererseits Evidenz dagegen, dass Johannes eine Glatze hat. Evidenz dafür, dass jemand Evidenz für eine bestimmte Überzeugung hat, ist also nicht notwendigerweise Evidenz für diese Überzeugung. Wie überzeugend ist dieses Gegenbeispiel? Meiner Meinung nach konstituiert der von Fitelson beschriebene Fall ein echtes Problem für das EEE-Prinzip. Denn unabhängig von irgendwelchen spezifischen Ansichten darüber, was genau Evidenz ist und was es genau bedeutet, zu sagen, dass eine Überzeugung evidentiell gestützt wird, sollte es einigermaßen unstrittig sein, dass die Information, dass Johannes volles weißes Haar hat, keine Evidenz dafür ist, dass er eine Glatze hat. Gleichzeitig ist diese Information aber sehr wohl Evidenz dafür, dass Jonas Evidenz dafür hat, dass Johannes eine Glatze hat. Denn dass Johannes volles weißes Haar hat, ist Evidenz dafür, dass Johannes älter als 35 Jahre alt ist – und gegeben, dass Jonas weiß, wie alt Johannes ist, ist es ebenfalls Evidenz dafür, dass Jonas weiß, dass Johannes älter als 35 Jahre alt ist. Dass Jonas weiß, dass Johannes älter als 35 Jahre alt ist, 99

Vgl. hierzu Fitelson 2012.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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bedeutet jedoch, dass Jonas Evidenz dafür hat, dass Johannes eine Glatze hat – um den Fall eindeutiger zu machen, können wir etwa stipulieren, dass in dem beschriebenen Szenario alle Männer mit vollem weißen Haar älter als 35 Jahre alt sind, dass aber gleichzeitig die meisten Männer, die älter als 35 Jahre alt sind, eine Glatze haben. In diesem Fall ist die Information, dass Johannes volles weißes Haar hat, eindeutig Evidenz dafür, dass Jonas Evidenz dafür hat, dass Johannes eine Glatze hat, aber gleichzeitig keine Evidenz dafür, dass Johannes eine Glatze hat. Sollte sich der von Fitelson beschriebene Fall als erfolgreiches Gegenbeispiel für das EEE-Prinzip erweisen, würde auch das zweite Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung scheitern: Sofern das EEE-Prinzip falsch ist, ist die Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht schon allein deshalb irrational, weil jegliche Evidenz, die für die Bewertung der abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt spricht, auch gleichzeitig Evidenz für die Falschheit der eigenen Überzeugung ist. Ob das Gegenbeispiel von Fitelson jedoch tatsächlich erfolgreich ist, ist zumindest fraglich – in der gegenwärtigen Forschung hat sich eine eigenständige, recht komplizierte Debatte um die korrekte Formulierung des EEE-Prinzips und den Umgang mit etwaigen Gegenbeispielen entwickelt. Fälle wie der obige werden bei Weitem nicht von allen Autoren als echte Gegenbeispiele akzeptiert, sodass es vorschnell wäre, das EEE-Prinzip ohne Weiteres zu verwerfen.100 Vielleicht könnte der Verteidiger einer epistemisch toleranten Haltung an dieser Stelle einfach die Beweislast verschieben und darauf hinweisen, dass er eine sehr viel schwächere These als der Vertreter des EEE-Prinzips vertritt: Während der Verteidiger einer toleranten Haltung durchaus akzeptieren kann, dass zumindest in manchen Fällen Evidenz dafür, dass es Evidenz für eine bestimmte Überzeugung gibt, Evidenz für die Wahrheit dieser Überzeugung ist, muss der Vertreter des EEEPrinzips darauf beharren, dass dies notwendigerweise in allen Fällen gilt. Der Verteidiger einer toleranten Haltung könnte also darauf bestehen, dass der Vertreter des EEE-Prinzips erst einmal überzeugende Gründe für seine Behauptung vorlegen muss. Im Folgenden möchte ich jedoch dafür argumentieren, dass die epistemische Rationalität einer toleranten Haltung sogar kompatibel mit dem EEE-Prinzip ist und ein Verteidiger dieser Haltung somit überhaupt nicht auf die Falschheit des EEEPrinzips angewiesen ist. Wenn das EEE-Prinzip korrekt ist, dann ist es unmöglich, eine abweichende Überzeugung gerechtfertigterweise als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, ohne Evidenz für die Wahrheit dieser Überzeugung zu gewinnen. Das bedeutet aber nicht, dass es unmöglich ist, eine abweichende Überzeugung gerechtfertigterweise als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, ohne einen Grund dafür zu gewinnen, die eigene Überzeugung zu modifizieren. Es ist nämlich durchaus möglich, Evidenz

100

Für die aktuelle Debatte über das EEE-Prinzip siehe etwa Comesaña und Tal 2015, Moretti 2016, Roche 2014, Roche 2018 oder Tal und Comesaña 2017.

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4. Sollten wir tolerant sein?

für die Wahrheit einer Proposition zu haben, ohne gleichzeitig einen Grund zu haben, von dieser Proposition überzeugt zu sein. Betrachten wir etwa folgenden Fall: Laura weiß, dass Mark ein notorischer Lügner ist. Eines Tages treffen Laura und ihre Freundin Vera, die Mark nicht kennt, Mark in der Stadt. Im Laufe des Gesprächs behauptet Mark, im Lotto gewonnen zu haben. Dass Mark behauptet hat, im Lotto gewonnen zu haben, ist nun einerseits Evidenz dafür, dass Vera Evidenz dafür hat, dass Mark im Lotto gewonnen hat, und andererseits Evidenz dafür, dass Mark im Lotto gewonnen hat. Gleichzeitig hat Laura zwar einen Grund, davon auszugehen, dass Vera in der Überzeugung gerechtfertigt ist, dass Mark im Lotto gewonnen hat – sie hat aber keinen Grund, davon auszugehen, dass Mark im Lotto gewonnen hat. Erklären lässt sich dies durch Lauras Wissen, dass Mark ein notorischer Lügner ist: Weil Laura weiß, dass Mark ein notorischer Lügner ist, gibt ihr Marks Behauptung, im Lotto gewonnen zu haben, keinen Grund, davon auszugehen, dass Mark im Lotto gewonnen hat. Marks Behauptung, im Lotto gewonnen zu haben, ist zwar Evidenz dafür, dass Mark im Lotto gewonnen hat – diese Evidenz wird jedoch unterminiert durch die Hintergrundinformationen über Marks Glaubwürdigkeit, die Laura hat. Betrachten wir noch ein zweites Beispiel: Ich schaue die Wand an und habe einen Roteindruck. Dieser Roteindruck ist Evidenz dafür, dass die Wand rot ist. Nun erfahre ich aber, dass die Wand von einem roten Scheinwerfer angestrahlt wird. Angesichts dieser Information gibt mir mein Roteindruck keinen Grund zur Annahme, dass die Wand rot ist. Das bedeutet aber weder, dass mein Roteindruck keine Evidenz dafür ist, dass die Wand rot ist, noch, dass mein Roteindruck mir keinen Grund für andere Überzeugungen geben kann. So gibt mir mein Roteindruck etwa einen Grund zur Annahme, dass ich nicht farbenblind bin. Evidenz für eine Proposition gibt uns also nur dann einen Grund, von dieser Proposition überzeugt zu sein, wenn sie nicht durch entsprechende Hintergrundinformationen unterminiert wird. Gleichzeitig kann die Stützungsrelation zwischen einem Stück Evidenz und einer Proposition vollständig unterminiert sein, obwohl ganz andere Propositionen nach wie vor durch dieses Stück Evidenz gestützt werden. Bei dem hier relevanten Phänomen handelt es sich um eine allgemeine Eigenschaft unterminierender Anfechtungsgründe: Unterminierende Anfechtungsgründe sind immer propositionsspezifisch in dem Sinne, dass sie sich auf spezifische evidentielle Stützungsrelationen beziehen. Wenn eine Person auf der Grundlage einer Evidenzmenge E eine Überzeugung in die Proposition p gebildet hat, dann wäre es angesichts eines unterminierenden Anfechtungsgrundes, der dafür spricht, dass etwas mit der evidentiellen Stützungsrelation zwischen E und p nicht in Ordnung ist, für diese Person irrational, an ihrer Überzeugung in p festzuhalten. Das bedeutet aber nicht, dass sie E überhaupt nicht mehr für ihre Überzeugungsbildung nutzen kann. So könnte es etwa auch angesichts des Anfechtungsgrundes vollkommen ra-

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tional sein, auf der Grundlage von E eine Überzeugung in die Proposition q zu bilden, solange dieser Anfechtungsgrund nicht gleichzeitig dafür spricht, dass auch mit der Stützungsrelation zwischen E und q etwas nicht in Ordnung ist.101 Auf den für uns relevanten Kontext angewandt bedeutet das: Selbst wenn Evidenz dafür, dass eine andere Person Evidenz für eine bestimmte Überzeugung hat, immer auch Evidenz für die Wahrheit dieser Überzeugung ist, dann sind immer noch Fälle möglich, in denen man angesichts von Evidenz dafür, dass eine andere Person Evidenz für eine bestimmte Überzeugung hat, Grund zur Annahme hat, dass diese Person in dieser Überzeugung gerechtfertigt ist, aber keinen Grund zur Annahme hat, dass diese Überzeugung wahr ist. Konkret wären dies Fälle, in denen ein unterminierender Anfechtungsgrund vorliegt, der sich lediglich auf die Stützungsrelation zwischen der entsprechenden Evidenz und der Annahme bezieht, dass die Überzeugung der anderen Person wahr ist. Dementsprechend reicht das EEE-Prinzip nicht aus, um zu zeigen, dass eine tolerante Haltung notwendigerweise epistemisch irrational ist: Denn auch wenn es vor dem Hintergrund dieses Prinzips unmöglich ist, eine fremde Überzeugung gerechtfertigterweise als gerechtfertigt zu bewerten, ohne zumindest prima facie Evidenz für die Wahrheit dieser Überzeugung zu gewinnen, ergibt sich hieraus nicht, dass eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt notwendigerweise irrational ist. 4.2.4 Das dritte Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung Gibt es noch eine weitere Möglichkeit, dafür zu argumentieren, dass die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einen Grund zweiter Ordnung generiert, der eine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht? In gewisser Weise scheint die hinter dem zweiten Argument stehende Strategie, das EEE-Prinzip zu bemühen, um für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung zu argumentieren, sehr indirekt. Warum sollte ausgerechnet Evidenz dafür, dass es Evidenz für eine Überzeugung gibt, Evidenz für die Wahrheit dieser Überzeugung sein? Spricht nicht schon allein der bloße Umstand, dass es Evidenz für eine Überzeugung gibt, für die Wahrheit dieser Überzeugung? Die bisherige – und wie wir gesehen haben, durchaus problematische – Überlegung war ja, dass gute Gründe für die Bewertung einer Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt gleichzeitig gute Gründe, die für die Wahrheit dieser Überzeugung sprechen, sind. Aber ist die Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht schon für sich genommen ein Grund, der für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht? Sofern schon allein die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt ein Grund zur Modifikation der eigenen Überzeugung ist,

101

Siehe bspw. Constantin und Grundmann 2018.

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4. Sollten wir tolerant sein?

wäre es für den vorliegenden Zusammenhang irrelevant, wenn die Gründe, auf denen eine solche Bewertung beruht, nicht notwendigerweise auch Gründe zur Modifikation der eigenen Überzeugung wären. Aber warum sollte die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt schon für sich genommen ein Grund zur Modifikation der eigenen Überzeugung sein? Die Idee ist hier, dass es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt: Ein Grund für eine Überzeugung ist aus epistemischer Perspektive nur dann ein guter Grund, wenn angesichts dieses Grundes die Überzeugung mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr ist. Dass es einen prinzipiellen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, ist unter Erkenntnistheoretikern breit akzeptiert und wird zuweilen sogar als Lehrbuchmeinung bezeichnet.102 Vor dem Hintergrund dieser Annahme wird nun deutlich, warum die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt selbst ein guter Grund für die Modifikation der eigenen Überzeugung sein könnte. Denn wenn gute Gründe die Wahrheit einer Überzeugung wahrscheinlicher machen, dann ist angesichts der Information, dass es gute Gründe für eine Überzeugung gibt, die Wahrheit dieser Überzeugung wahrscheinlicher. Und wenn angesichts der Information, dass es gute Gründe für eine abweichende Überzeugung gibt, die Wahrheit dieser Überzeugung wahrscheinlicher ist, dann ist diese Information selbst ein guter Grund für die Modifikation der eigenen Überzeugung. Um sinnvollerweise bestreiten zu können, dass die Information, dass es gute Gründe für eine Überzeugung gibt, selbst für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht, müsste man also dafür argumentieren, dass es keinen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt. Eine solche Strategie scheint jedoch einigermaßen ambitioniert, da so gut wie alle Erkenntnistheoretiker akzeptieren, dass Überlegungen zu Wahrheit und Falschheit eine entscheidende Rolle für die Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Überzeugungen spielen.103 Einer der Gründe, warum es so plausibel ist, einen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit anzunehmen, ist der normative Charakter epistemischer Rechtfertigung. Denn würde es einen solchen Zusammenhang überhaupt nicht geben, wäre gar nicht klar, inwiefern epistemische Rechtfertigung überhaupt für unsere epistemische Praxis bedeutsam sein soll.104 Warum sollte aus epistemischer Perspektive eine gerechtfertigte Überzeugung wertvoller sein als eine ungerechtfertigte Überzeugung, wenn der Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung nichts mit der Wahrheit dieser Überzeugung zu tun hat? Dass epistemische Rechtfertigung für unsere epistemische Praxis bedeutsam ist, scheint aber unbestreitbar zu sein – wir sollten nur Überzeugungen bilden, für die wir gute Gründe haben, und Überzeugungen, von denen wir erfahren, dass sie ungerechtfertigt sind, sollten wir aufgeben.

102

Graham 2013. Vgl. etwa Cruz und Pollock 2004; Williams 2001, 65. 104 Alston 1999. 103

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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Dass epistemische Rechtfertigung in diesem Sinne normativ relevant ist, muss wohl auch der Verteidiger einer toleranten Haltung akzeptieren, da ja eine ambivalente normative Bewertung einer fremden Überzeugung für Toleranz charakteristisch ist. Wenn es aber keinen interessanten Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, warum sollte epistemische Rechtfertigung dann überhaupt normativ relevant sein? Eine natürliche Erklärung der Normativität epistemischer Rechtfertigung ist, dass epistemische Rechtfertigung deshalb normativ ist, weil sie uns hilft, der Wahrheit auf der Spur zu bleiben. Der Grund, warum wir nur gerechtfertigte Überzeugungen bilden möchten, ist, dass wir gerne wahre Überzeugungen hätten, und dass Überzeugungen eine umso höhere Wahrheitswahrscheinlichkeit haben, je gerechtfertigter sie sind. Oder, wie John Gibbons es in seinem Buch „The Norm of Belief“ ausdrückt: „At least from the first-person point of view, it certainly seems that the point of being reasonable is to find out about the world, or at the very least, to get things right. So in an everyday case when you need some groceries, it’s not only true that you ought to go to the store. It’s also true that you ought to get in the car […] If the importance of getting in the car depends on its standing in a certain relation to your getting to the store, in this case it’s something like a means to getting to the store, and if in a certain situation getting in the car doesn’t stand in that relation because the car won’t start, then it looks as though the importance of getting in the car is merely apparent.”105

Genauso wie das Einsteigen in das Auto für mich nur insofern relevant ist, als dass es mir dabei hilft, am Supermarkt anzukommen, scheint auch epistemische Rechtfertigung für uns nur insofern relevant zu sein, als dass sie uns dabei hilft, wahre Überzeugungen zu bilden. Um dafür zu argumentieren, dass es keinen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, müsste man also zunächst eine alternative Erklärung für die normative Relevanz epistemischer Rechtfertigung plausibilisieren. Sofern es einen fundamentalen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, so die bisherige Überlegung, konstituiert die Information, dass eine Person in einer Überzeugung gerechtfertigt ist, einen Grund zweiter Ordnung für diese Überzeugung. Wenn man, um in einer Überzeugung gerechtfertigt zu sein, gute Gründe für diese Überzeugung haben muss, und gute Gründe solche Gründe sind, die die Wahrheit der auf sie gestützten Überzeugung wahrscheinlicher machen, dann ist eine gerechtfertigte Überzeugung mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr als eine ungerechtfertigte Überzeugung. In diesem Sinne stellt die Information, dass eine Person in einer abweichenden Überzeugung gerechtfertigt ist, einen Grund zweiter Ordnung dar, angesichts dessen die Beibehaltung der eigenen Überzeugung epistemisch irrational ist.106

105

Gibbons 2013, 29. Eine Andeutung dieses Arguments findet sich bei Grundmann 2015, wo in diesem Zusammenhang von der „versteckten Paradoxie“ epistemischer Toleranz die Rede ist. 106

84

4. Sollten wir tolerant sein?

Auch hier lässt sich der relevante epistemische Mechanismus wieder mithilfe des allgemeineren Phänomens epistemischer Anfechtung erklären: Sofern die Information, dass die konfligierende Überzeugung einer anderen Person gerechtfertigt ist, für die Wahrheit dieser Überzeugung und somit für die Falschheit der eigenen Überzeugung spricht, konstituiert diese Information einen widerlegenden Anfechtungsgrund, angesichts dessen eine Beibehaltung der ursprünglichen Überzeugung irrational ist. Dabei ist es auch irrelevant, ob die fremde Überzeugung aufgrund derselben Evidenz wie die eigene Überzeugung gebildet wurde: Sofern es den fraglichen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, spricht die Tatsache, dass eine Überzeugung gerechtfertigt ist, für ihre Wahrheit – und zwar unabhängig davon, aufgrund welcher Evidenzmenge sie gebildet wurde. Eine Besonderheit ergibt sich in diesem Zusammenhang lediglich bei Fällen, in denen die fremde Überzeugung aufgrund derselben Evidenzmenge wie die eigene Überzeugung gebildet wurde, und in denen man darüber hinaus guten Grund zur Annahme hat, dass es sich dabei um eine nicht-permissive Evidenzmenge handelt – also um eine Evidenzmenge, angesichts derer genau eine spezifische Überzeugung rational ist. Um das Besondere an diesen Fällen zu verstehen, betrachten wir etwa folgendes Beispiel: Die beiden Meteorologinnen Maria und Marianne wollen herausfinden, ob es morgen in Berlin regnet. Dazu werten die beiden eine große Menge relevanter Daten aus, die ihnen von einem Computer zur Verfügung gestellt wurde. Marianne studiert die verfügbaren Daten und kommt zu dem Ergebnis, dass es morgen in Berlin regnen wird. Dann erfährt sie, dass ihre Kollegin Maria zu einem anderen Ergebnis gekommen ist: Maria ist der Überzeugung, dass es morgen in Berlin trocken bleibt. Marianne, die Maria schon seit dem Studium kennt und als kompetente Kollegin schätzt, geht davon aus, dass Maria gute Gründe hat, wenn sie glaubt, dass es morgen in Berlin trocken bleibt, und somit in ihrer Überzeugung gerechtfertigt ist. Darüber hinaus ist sie davon überzeugt, dass angesichts der verfügbaren Datenmenge lediglich eine Überzeugung rational sein kann, da ihr Freund Roger, ein angesehener Erkenntnistheoretiker, ihr versichert hat, dass jede beliebige Evidenzmenge notwendigerweise genau eine Überzeugung determiniert, die angesichts dieser Evidenzmenge rational ist. In diesem Fall spricht aus Mariannes Perspektive die Information, dass Marias konfligierende Überzeugung gerechtfertigt ist, nicht nur dafür, dass Marias Überzeugung wahr ist, sondern auch dafür, dass ihre eigene Überzeugung nicht durch die verfügbaren Daten gestützt wird und somit überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Denn wenn – so wie Marianne glaubt – jede beliebige Evidenzmenge genau eine Überzeugung determiniert, die angesichts dieser Evidenzmenge gerechtfertigt ist, und wenn eine Überzeugung nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie angesichts der zugrundeliegenden Evidenz mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist, dann kann es nicht sein, dass sowohl Mariannes Überzeugung als auch Marias Überzeugung gleichermaßen durch die verfügbare Evidenz gestützt werden, da sich die beiden Überzeugungen widersprechen, obwohl sie aufgrund derselben Evidenz gebildet wurden. Die Bewertung von Marias Überzeugung als gerechtfertigt konstituiert hier

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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dementsprechend sowohl einen widerlegenden, als auch einen unterminierenden Anfechtungsgrund.107 In Fällen, in denen man erstens guten Grund hat, davon auszugehen, dass die konfligierende Überzeugung einer anderen Person aufgrund derselben Evidenz gebildet wurde wie die eigene Überzeugung, und zweitens guten Grund hat, davon auszugehen, dass angesichts der verfügbaren Evidenz maximal eine Überzeugung rational sein kann, konstituiert also eine Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt sowohl einen widerlegenden, als auch einen unterminierenden Anfechtungsgrund. Ergibt sich hieraus, dass auch in solchen Fällen eine tolerante Haltung notwendigerweise irrational ist? Nicht direkt: Denn tatsächlich ist für eine tolerante Haltung ja nicht nur die Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt charakteristisch, sondern vielmehr die Bewertung der eigenen und der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass sowohl die eigene als auch die fremde Überzeugung aufgrund derselben Evidenz gebildet wurden, und dass angesichts der verfügbaren Evidenz maximal eine Überzeugung gerechtfertigt sein kann, heben sich jedoch die jeweiligen Bewertungen der eigenen und der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt gegenseitig auf: Genauso, wie die Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt in einem solchen Fall dagegen spricht, dass die eigene Überzeugung gerechtfertigt ist, spricht die Bewertung der eigenen Überzeugung als gerechtfertigt dagegen, dass die fremde Überzeugung gerechtfertigt ist. Gegeben, dass man für die Bewertung der eigenen Überzeugung und für die Bewertung der fremden Überzeugung jeweils gleich gute Gründe hat, sollte man sich hier also des Urteils darüber enthalten, welche Überzeugung angesichts der verfügbaren Evidenz gerechtfertigt ist.108 Im Rahmen einer toleranten Haltung wird also der hybride Anfechtungsgrund, den vor dem Hintergrund der Annahme, dass es sich um einen nicht-permissiven Fall geteilter Evidenz handelt, die Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt konstituiert, durch die Bewertung der eigenen Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt seinerseits angefochten. Das bedeutet jedoch nicht, dass in einer solchen Konstellation eine tolerante Haltung rational ist: Denn die resultierende Urteilsenthaltung bezüglich der Frage, welche Überzeugung angesichts der verfügbaren Evidenz gerechtfertigt ist, ist nicht nur inkompatibel mit der für eine tolerante Haltung charakteristischen Bewertung der eigenen und der fremden Überzeugung 107

Anfechtungsgründe, die sowohl widerlegende als auch unterminierende Effekte haben, werden auch als hybride Anfechtungsgründe bezeichnet. Siehe etwa Kotzen 2010. 108 Dass man gleich gute Gründe für die Bewertung der abweichenden Überzeugung als gerechtfertigt und der eigenen Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt hat, ist natürlich eine idealisierende Annahme. In Fällen geteilter Evidenz, in denen man davon ausgeht, dass es sich um einen nicht-permissiven Fall handelt, und in denen es bessere Gründe für eine der beiden Bewertungen gibt, ist eine tolerante Haltung jedoch von Vornherein irrational: Denn in einem solchen Fall sollte man die jeweils schlechter gestützte Bewertung zugunsten der besser gestützten Bewertung aufgeben. Das bedeutet, dass in einem solchen Fall die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung der eigenen und der abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt irrational ist.

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als gleichermaßen gerechtfertigt, sondern darüber hinaus mit der ebenfalls für eine tolerante Haltung charakteristischen Beibehaltung der eigenen Überzeugung. Um diesen Punkt besser zu verstehen, betrachten wir etwa folgenden Fall:109 Peter besucht ein Museum. Dort betritt er einen Raum, in dem eine Wand rot aussieht. Aufgrund seines Roteindrucks bildet er die Überzeugung, dass die Wand rot ist. Daraufhin liest er in einem Museumsführer, dass der Raum, in dem er sich befindet, Teil eines Kunstprojekts ist, und dass die Wand des Raumes in unregelmäßigen Zeitabständen abwechselnd mit rotem und mit weißem Licht angestrahlt wird. Wann die Wand mit welchem Licht angestrahlt wird, wird dabei durch einen Zufallsgenerator bestimmt. Angesichts dieser Information sollte sich Peter des Urteils darüber enthalten, ob sein Roteindruck dafür spricht, dass die Wand rot ist. Darüber hinaus sollte er auch klarerweise die Überzeugung aufgeben, dass die Wand rot ist. Dementsprechend scheint eine Urteilsenthaltung darüber, ob eine Überzeugung durch die verfügbare Evidenz gestützt wird, einen unterminierenden Anfechtungsgrund für diese Überzeugung zu konstituieren: Wenn die Wand regelmäßig farbig angestrahlt wird, dann ist es angesichts von Peters Roteindruck nicht sonderlich wahrscheinlich, dass die Wand rot ist. Denn es könnte zwar sein, dass Peter einen Roteindruck hat, weil die Wand rot ist – es könnte jedoch ebenso gut sein, dass die Wand nur rot angestrahlt wird und Peter deswegen einen Roteindruck hat. Wenn jedoch eine Urteilsenthaltung darüber, ob eine Überzeugung durch die verfügbare Evidenz gestützt wird, einen unterminierenden Anfechtungsgrund für diese Überzeugung konstituiert, dann wird klar, warum die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gerechtfertigt auch in Fällen, in denen man guten Grund zur Annahme hat, dass die konfligierende Überzeugung aufgrund derselben Evidenz wie die eigene Überzeugung gebildet wurde, und dass es sich darüber hinaus um einen nicht-permissiven Fall handelt, inkompatibel mit einer Beibehaltung der eigenen Überzeugung ist. Denn eine solche Bewertung rationalisiert zusammen mit der ebenfalls für eine tolerante Haltung charakteristischen Bewertung der eigenen Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt eine solche Urteilsenthaltung. Soweit das dritte Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung. Zusammengefasst ist die Überlegung folgende: Wenn es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, dann spricht die Tatsache, dass eine konfligierende Überzeugung gerechtfertigt ist, direkt für die Wahrheit dieser Überzeugung. Dementsprechend konstituiert die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einen widerlegenden Anfechtungsgrund, angesichts dessen eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung irrational ist. In Fällen, in denen man guten Grund zur Annahme hat, dass beide Überzeugungen aufgrund derselben, nicht-permissiven Evidenzmenge gebildet wurden, kann der durch die Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt konstituierte, hybride Anfechtungsgrund zwar durch die Bewertung der 109

Das folgende Gedankenexperiment ist angelehnt an den sogenannten Kaleidoskop-Fall von Ernest Sosa. Vgl. hierzu Sosa 2009, 31-69.

4.2 Ist eine tolerante Haltung epistemisch rational?

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eigenen Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt neutralisiert werden – das Ergebnis ist jedoch eine Urteilsenthaltung darüber, welche Überzeugung durch die verfügbare Evidenz gestützt wird, die sowohl inkompatibel mit der Bewertung beider Überzeugungen als gleichermaßen gerechtfertigt ist, als auch einen unterminierenden Anfechtungsgrund für die eigene Überzeugung konstituiert. Die Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt ist somit in jedem Fall irrational. Was ist von diesem Argument zu halten? Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass auch das dritte Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung scheitert, weil es auf einem unplausiblen Verständnis der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung beruht. Nehmen wir etwa an, es gäbe keinerlei Zusammenhang zwischen dem Rechtfertigungsstatus und der Wahrheit von Überzeugungen. In diesem Fall spräche die Information, dass eine abweichende Überzeugung gerechtfertigt ist, auch in keiner Weise für die Wahrheit dieser Überzeugung. Nun wurde jedoch schon darauf hingewiesen, dass es sich bei der Annahme der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung um eine breit akzeptierte Standardauffassung in der Erkenntnistheorie handelt. Jeglichen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit zu leugnen, wäre dementsprechend ein einigermaßen ambitioniertes Unterfangen. Im Folgenden möchte ich aber dafür argumentieren, dass man glücklicherweise überhaupt nicht jeglichen Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit leugnen muss, um die Möglichkeit von Fällen zu akzeptieren, in denen die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt keine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht – sondern dass vielmehr jede plausible Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung vollkommen kompatibel mit der Möglichkeit solcher Fälle ist. Beginnen möchte ich mit einer grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten, die Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung zu interpretieren. So bestehen manche Autoren darauf, dass epistemisch gute Gründe insofern die Wahrheit der durch sie gestützten Überzeugung wahrscheinlich machen, als dass die fragliche Überzeugung angesichts dieser Gründe tatsächlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wahr ist, etwa aufgrund einer objektiv bestehenden Korrelation zwischen dem Auftreten der Gründe und der Wahrheit der Überzeugung. Eine prominente Ausformulierung dieser Auffassung wäre beispielsweise der Reliabilismus, demgemäß eine gegebene Überzeugung nur dann epistemisch gerechtfertigt ist, wenn sie durch einen zuverlässigen kognitiven Prozess gebildet wurde, also durch einen Prozess, der tatsächlich dazu tendiert, mehr wahre als falsche Überzeugungen hervorzubringen. Demgegenüber gehen manche Autoren davon aus, dass epistemische Rechtfertigung nur in einem subjektiven Sinne wahrheitszuträglich sein muss, sodass Gründe für eine Überzeugung nur dann epistemisch gute Gründe sind, wenn angesichts dieser Gründe die fragliche Überzeugung aus der Perspektive der überzeugungsbildenden Person mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Während Objektivisten also

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4. Sollten wir tolerant sein?

der Meinung sind, dass gute Gründe tatsächlich die objektive Wahrheitswahrscheinlichkeit der fraglichen Überzeugung erhöhen müssen, vertreten Subjektivisten die Ansicht, dass gute Gründe die subjektive Wahrheitswahrscheinlichkeit der fraglichen Überzeugung erhöhen müssen.110 Der hier relevante Unterschied wird besonders im Rahmen skeptischer Szenarien deutlich. Nehmen wir etwa das Gehirn im Tank: Objektiv gesehen liegt das Gehirn im Tank mit einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit richtig – schließlich wird es konstant getäuscht. Aus der subjektiven Perspektive des Gehirns im Tank sind die meisten seiner Überzeugungen jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr – schließlich weiß es nichts von der konstanten Täuschung. Wenn beispielsweise das Gehirn im Tank den Eindruck hätte, eine dunkle Wolkenfront zu sehen, dann wäre es aus der Perspektive des Gehirns im Tank auch sehr wahrscheinlich, dass es bald regnet. Objektiv gesehen muss es deswegen natürlich überhaupt nicht sehr wahrscheinlich sein, dass es bald regnet. Nehmen wir also an, unser Gehirn im Tank hat einen entsprechenden Eindruck. Angesichts dieses Eindrucks ist es aus der Perspektive des Gehirns im Tank subjektiv wahrscheinlich, dass es bald regnet. Nehmen wir darüber hinaus an, dass es objektiv unwahrscheinlich ist, dass es bald regnet. Würde das Gehirn im Tank nun die Überzeugung bilden, dass es bald regnet, könnte der Subjektivist diese Überzeugung problemlos als gerechtfertigt bewerten, wohingegen der Objektivist vermutlich eher geneigt wäre, sie als ungerechtfertigt zu bewerten. Die Unterscheidung zwischen objektivistischen und subjektivistischen Interpretationen der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung spiegelt in gewisser Weise den klassischen Streit zwischen Externalisten und Internalisten bezüglich epistemischer Rechtfertigung. So ist eine subjektivistische Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung inkompatibel mit sämtlichen externalistischen Theorien epistemischer Rechtfertigung, da alle Formen des Externalismus tatsächliche Zuverlässigkeit, also objektive Wahrheitszuträglichkeit, als

110

Wie genau in diesem Zusammenhang der Begriff der Wahrscheinlichkeit interpretiert werden sollte, und wie genau die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Wahrheitswahrscheinlichkeit zu verstehen ist, ist Gegenstand einer kontroversen philosophischen Debatte – für eine kurze Übersicht siehe etwa Hájek 2012. Für den vorliegenden Zusammenhang sind die Details dieser Debatte jedoch nicht weiter relevant. Mit der Behauptung, der Unterschied zwischen Subjektivisten und Objektivisten ließe sich im Rahmen einer Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Wahrheitswahrscheinlichkeit ausbuchstabieren, ist hier lediglich Folgendes gemeint: Gründe erhöhen genau dann die objektive Wahrheitswahrscheinlichkeit einer Überzeugung, wenn es eine tatsächlich existierende Korrelation zwischen dem Auftreten der Gründe und der Wahrheit der Überzeugung gibt, sodass in den meisten Fällen, in denen ein Subjekt aufgrund dieser Gründe diese Überzeugung bildet, diese Überzeugung auch tatsächlich wahr ist. Demgegenüber erhöhen Gründe genau dann die subjektive Wahrheitswahrscheinlichkeit einer Überzeugung, wenn aus der Perspektive des überzeugungsbildenden Subjekts die Wahrheit der Überzeugung angesichts dieser Gründe wahrscheinlicher ist. Objektivisten gehen nun davon aus, dass Gründe für eine Überzeugung gute Gründe sind, insofern sie die objektive Wahrheitswahrscheinlichkeit dieser Überzeugung erhöhen. Demgegenüber gehen Subjektivisten davon aus, dass Gründe für eine Überzeugung gute Gründe sind, insofern sie die subjektive Wahrheitswahrscheinlichkeit dieser Überzeugung erhöhen.

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notwendig für epistemische Rechtfertigung betrachten.111 Während somit sämtlichen externalistischen Theorien eine objektivistische Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung zugrunde liegt, vertreten viele Internalisten eine subjektivistische Interpretation.112 Dementsprechend haben auch einige Autoren den Konflikt zwischen externalistischen und internalistischen Theorien epistemischer Rechtfertigung explizit auf den Konflikt zwischen objektivistischen und subjektivistischen Interpretationen der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung zurückgeführt.113 Zumindest vor dem Hintergrund des Subjektivismus sieht man nun schnell, warum die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt keinen Anfechtungsgrund für die eigene Überzeugung generieren muss.114 Nehmen wir etwa folgenden Fall: Die beiden Vogelforscher Anselm und Gertrude sollen die Art eines Vogels bestimmen. Anselm ist schon seit Jahrzehnten als Vogelforscher tätig und schwört auf die althergebrachte Methode, Vögel anhand ihres Gesangs einer Art zuzuordnen. Gertrude kommt hingegen frisch von der Uni und hält nicht viel von solch konservativen Vorgehensweisen – in ihren Augen stellt eine DNA-Analyse die mit Abstand zuverlässigste Methode dar, die Art eines Vogels zu bestimmen. Anselm ist seinerseits skeptisch gegenüber diesen ganzen neumodischen Verfahren. Tatsächlich ist er der festen Überzeugung, dass er mit seiner konservativen Methode genauso zuverlässig in der Bestimmung von Vogelarten ist wie seine jungen Kollegen mit ihren DNA-Analysen. Angenommen, die Bestimmung der Art eines Vogels mit Hilfe einer DNA-Analyse ist objektiv zuverlässiger ist als mit Hilfe einer Analyse des Gesangs. Vor dem Hintergrund des Subjektivismus muss diese Tatsache keine Auswirkungen auf den Rechtfertigungsstatus der Überzeugungen von Anselm und Gertrude haben: Nehmen wir etwa an, Gertrude kommt zu dem Ergebnis, dass der Vogel ein Rabe ist, wohingegen Anselm zu dem Ergebnis kommt, es handele sich um eine Krähe. Dass Gertrudes Gründe objektiv stärker für Wahrheit ihrer Überzeugung sprechen, als Anselms Gründe für die Wahrheit seiner Überzeugung, muss nicht bedeuten, dass Gertrude besser gerechtfertigt ist als Anselm. Denn die Gründe von Gertrude und Anselm sind insofern symmetrisch, als dass sie aus der jeweiligen Innenperspektive gleich stark für die Wahrheit der gebildeten Überzeugung sprechen. So ist die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Vogel um einen Raben handelt, angesichts der Analyse seines Gesangs für Anselm genauso hoch wie für Gertrude angesichts der Analyse seiner DNA, dass es sich um eine Krähe handelt.

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Majors und Sawyer 2007. Ebd. Ein Beispiel für einen Vertreter des Internalismus, der dennoch objektive Wahrheitszuträglichkeit als charakteristisch für epistemische Rechtfertigung akzeptiert, wäre etwa Laurence Bonjour (BonJour 1985). 113 Siehe etwa Littlejohn 2012, 26 f. 114 Eine dem folgenden Argument ähnliche Überlegung findet sich – jedoch hinsichtlich Ebenbürtigkeits- anstatt Rechtfertigungszuschreibungen – bereits bei Grundmann 2013. 112

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Unter Voraussetzung einer subjektivistischen Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung wären also Gertrudes und Anselms Überzeugung gleichermaßen gerechtfertigt. Dementsprechend wäre es unter dieser Voraussetzung auch vollkommen unproblematisch, wenn Gertrude die Überzeugung von Anselm als gleichermaßen gerechtfertigt bewerten würde. Gleichzeitig ist überhaupt nicht klar, warum eine solche Bewertung einen Anfechtungsgrund für Gertrudes eigene Überzeugung generieren sollte. Denn Anselms Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, würde lediglich bedeuten, zu akzeptieren, dass Anselm Gründe hat, angesichts derer es für ihn bzw. aus seiner Perspektive sehr wahrscheinlich ist, dass der fragliche Vogel eine Krähe ist. Warum sollte dies aber für Gertrudes eigene Überzeugung relevant sein? Denn auch wenn sie akzeptiert, dass es für Anselm angesichts der Gründe, die er hat, sehr wahrscheinlich ist, dass der Vogel eine Krähe ist, bedeutet das nicht, dass es angesichts dieser Gründe auch für Gertrude wahrscheinlich ist, dass der Vogel eine Krähe ist, da die subjektive Wahrheitswahrscheinlichkeit einer Proposition eben personenrelativ ist. Tatsächlich geht ja Gertrude im Gegensatz zu Anselm gerade davon aus, dass eine Analyse des Gesangs keine sonderlich gute Methode ist, um die Art eines Vogels zu bestimmen. Das bedeutet, dass für sie die Wahrheitswahrscheinlichkeit der Überzeugung, dass der Vogel eine Krähe ist, angesichts der Gründe, die Anselm für diese Überzeugung hat, nicht steigt. Somit stellt die Information, dass Anselm in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist, keinen widerlegenden Anfechtungsgrund für Gertrudes Überzeugung dar, da sie überhaupt nicht für die Falschheit ihrer Überzeugung spricht. Denn dass Anselm in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist, bedeutet lediglich, dass diese Überzeugung aus Anselms Perspektive mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist – und nicht, dass seine Überzeugung objektiv mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Um den Fall noch deutlicher zu machen, können wir etwa annehmen, dass Gertrude kurz vor dem Treffen mit Anselm eine aktuelle Studie gelesen hat, aus der eindeutig hervorgeht, dass die Bestimmung von Vogelarten mit Hilfe einer Gesangsanalyse gänzlich unzuverlässig ist. Obwohl es sich um ein für lange Zeit als Standardmethode in der Vogelforschung etabliertes Verfahren handelt, ist die Artbestimmung anhand einer Gesangsanalyse kaum zuverlässiger, als die Art eines Vogels lediglich zu raten. Gertrude hat nun diese Studie nicht nur gelesen, sondern sie weiß auch, dass Anselm nichts von ihr weiß – etwa weil es sich um eine englischsprachige Studie handelt und Anselm kein Englisch kann. Warum sollte dann die Tatsache, dass Anselm aufgrund einer Gesangsanalyse zu der Überzeugung gekommen ist, dass der Vogel eine Krähe ist, irgendeine epistemische Relevanz für Gertrudes Überzeugung haben, dass es sich um einen Raben handelt? Vor dem Hintergrund einer subjektivistischen Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung ist es also durchaus möglich, eine abweichende Überzeugung als gerechtfertigt zu bewerten, ohne gleichzeitig zu akzeptieren, dass es tatsächlich Gründe gibt, angesichts derer diese Überzeugung objektiv mit einer höheren Wahrscheinlichkeit wahr ist. Wenn eine abweichende Überzeu-

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gung als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten lediglich bedeutet, zu akzeptieren, dass diese Überzeugung auf Gründen beruht, angesichts derer sie aus der Perspektive der Person, die diese Überzeugung hat, mit derselben Wahrscheinlichkeit wahr ist, mit der aus meiner Perspektive meine eigene Überzeugung wahr ist, dann generiert eine solche Bewertung keinen Anfechtungsgrund für meine eigene Überzeugung. Tatsächlich ist der obige Fall von Anselm und Gertrude sogar idealisierter, als er vor dem Hintergrund des Subjektivismus sein müsste: So bilden die beiden ihre jeweilige Überzeugung aufgrund unterschiedlicher Evidenz, und darüber hinaus hat Gertrude Informationen darüber, dass die Evidenz, aufgrund derer Anselm seine Überzeugung gebildet hat, keine gute Evidenz ist. Dementsprechend weiß Gertrude, dass – obwohl Anselms Überzeugung aus seiner Perspektive zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist – es sich bei Anselms Perspektive um eine schlechte Perspektive handelt. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass es in diesem Fall vollkommen unproblematisch ist, wenn Gertrude bei ihrer Überzeugung bleibt. Vor dem Hintergrund des Subjektivismus ist es jedoch überhaupt nicht notwendig, von der epistemischen Unterlegenheit der Perspektive seines Gegenübers zu wissen, um angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt rationalerweise an seiner Überzeugung festhalten zu können. Denn vor dem Hintergrund des Subjektivismus impliziert die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt lediglich, dass diese Überzeugung aus der Perspektive der Person, die diese Überzeugung hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Diese Information spricht jedoch für sich genommen noch überhaupt nicht dafür, dass diese Überzeugung tatsächlich mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Um vor dem Hintergrund des Subjektivismus angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt bei seiner Überzeugung bleiben zu können, benötigt man dementsprechend keine spezifischen Informationen, die für die Unzuverlässigkeit der Perspektive der Gegenseite sprechen – vielmehr benötigt man spezifische Informationen, die für die Zuverlässigkeit dieser Perspektive sprechen, damit eine Modifikation der eigenen Überzeugung geboten sein könnte. Anders sieht es vor dem Hintergrund des Objektivismus aus: Denn im Rahmen des Objektivismus impliziert die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gerechtfertigt nicht lediglich, dass diese Überzeugung aus der Perspektive der Person, die diese Überzeugung hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist, sondern vielmehr, dass diese Überzeugung tatsächlich mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Dementsprechend spricht die Information, dass die konfligierende Überzeugung einer anderen Person gleichermaßen gerechtfertigt ist, vor dem Hintergrund des Objektivismus schon für sich genommen für die Wahrheit dieser Überzeugung und somit für die Falschheit der eigenen Überzeugung. Das bedeutet jedoch nicht, dass es notwendigerweise irrational ist, angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt seine eigene Überzeugung beizubehalten: Denn selbst wenn die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt prima facie einen Anfechtungsgrund für die eigene

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Überzeugung konstituiert, gibt es immer noch Fälle in denen dieser Anfechtungsgrund seinerseits angefochten wird und somit keine Überzeugungsmodifikation rational erforderlich ist. Betrachten wir etwa folgenden Fall: Peter und Maria besuchen gemeinsam ein Museum. Dort betreten sie einen Raum, in dem die Wände rot aussehen. Maria bildet daraufhin die Überzeugung, dass die Wände rot sind. Peter, der im Gegensatz zu Maria den Museumsführer gelesen hat, weiß jedoch, dass der Raum Teil eines Kunstprojekts ist: Tatsächlich sind die Wände weiß und werden lediglich mit rotem Licht beleuchtet. In diesem Fall ist Peter erstens in der Überzeugung gerechtfertigt, dass die Wände weiß sind. Darüber hinaus sollte Peter Marias Überzeugung, dass die Wände rot sind, als gerechtfertigt bewerten. Trotzdem scheint es in diesem Fall vollkommen unproblematisch, wenn Peter angesichts der Bewertung von Marias konfligierender Überzeugung als gerechtfertigt einfach bei seiner Meinung bleibt. Wie lässt sich dieses Ergebnis vor dem Hintergrund des Objektivismus erklären? Tatsächlich kann auch ein Objektivist akzeptieren, dass Peter angesichts der Bewertung von Marias konfligierender Überzeugung als gerechtfertigt einfach bei seiner Meinung bleiben kann. Zwar müsste er zugestehen, dass die Bewertung von Marias Überzeugung als gerechtfertigt prima facie für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht und somit einen widerlegenden Anfechtungsgrund für Peters Überzeugung konstituiert – schließlich ist Marias Überzeugung vor dem Hintergrund des Objektivismus nur insofern gerechtfertigt, als dass Maria eine normal funktionierende Sinneswahrnehmung hat, mithilfe derer sie zumindest unter normalen Umständen zuverlässig die Farbe von Wänden identifizieren kann. Entscheidend ist jedoch, dass dieser Anfechtungsgrund durch die Information, dass die Wände rot angestrahlt werden, seinerseits angefochten wird. Denn wenn die Wände mit farbigem Licht angestrahlt werden, dann liegen spezifische Bedingungen vor, unter denen Marias Sinneswahrnehmung keine zuverlässige Grundlage zur Identifizierung der Wandfarbe bietet. Das bedeutet jedoch nicht, dass Marias Überzeugung nicht gerechtfertigt ist: Auch vor dem Hintergrund des Objektivismus ist es durchaus möglich, dass eine Überzeugung gerechtfertigt ist, obwohl sie nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. So könnte ein Objektivist nach wie vor daran festhalten, dass eine Überzeugung nur dann auf guten Gründen beruht, wenn diese Gründe zumindest im Allgemeinen die Wahrheit der auf ihnen basierenden Überzeugungen objektiv wahrscheinlich machen. Diese Behauptung ist vollkommen vereinbar mit der Möglichkeit von Fällen, in denen eine Überzeugung gerechtfertigt ist und auf guten Gründen basiert, obwohl diese Überzeugung aufgrund besonderer Umstände angesichts der ihr zugrundeliegenden Gründe nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Tatsächlich wäre es auch einigermaßen erstaunlich, wenn der Objektivist nicht die theoretischen Ressourcen hätte, die Möglichkeit solcher Fälle zu akzeptieren. Schließlich ist es angesichts von Beispielen wie dem von Peter und Maria auf einer vortheoretischen

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Ebene sehr plausibel, dass auch Überzeugungen, die angesichts der ihnen zugrundeliegenden Gründe aufgrund spezifischer Umstände nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr sind, trotzdem gerechtfertigt sein können.115 Viele Objektivisten akzeptieren die Möglichkeit solcher Fälle und haben aus diesem Grund versucht, ihre Theorien entsprechend zu modifizieren. Ein Beispiel hierfür wären etwa die verschiedenen Spielarten des Reliabilismus, die von Alvin Goldman vorgeschlagen wurden: Als externalistische Theorie epistemischer Rechtfertigung ist der Reliabilismus eindeutig dem Objektivismus verpflichtet – eine Überzeugung ist gemäß des Reliabilismus nur dann gerechtfertigt, wenn sie durch einen zuverlässigen kognitiven Prozess gebildet wurde – also einen Prozess, der dazu tendiert, de facto mehr wahre als falsche Überzeugungen hervorzubringen. Auf den ersten Blick scheint diese Theorie in Fällen wie dem von Peter und Maria problematische Ergebnisse zu implizieren. Denn Maria befindet sich in einer Situation, in der es nicht sonderlich zuverlässig ist, Überzeugungen über die Wandfarbe aufgrund ihrer Sinneseindrücke zu bilden. Dementsprechend könnte man zunächst meinen, dass eine reliabilistische Theorie epistemischer Rechtfertigung hier zu dem Ergebnis kommt, dass Maria keine gerechtfertigte Überzeugung hat. Alvin Goldman hat nun verschiedene Vorschläge gemacht, um dieses Problem zu lösen. In seinem Buch „Epistemology and Cognition“ präsentiert er mit dem sogenannten normale-Welten-Reliabilismus eine Variante des Reliabilismus, dergemäß eine Überzeugung genau dann gerechtfertigt ist, wenn sie durch einen kognitiven Prozess gebildet wurde, der in normalen Welten zuverlässig ist. Normale Welten sollen dabei solche Welten sein, die unseren grundlegenden Überzeugungen über die Art von Objekten, Ereignissen und Veränderungen in der aktualen Welt entsprechen.116 In seinem Aufsatz „Strong and Weak Justification“ schlägt er demgegenüber eine Unterscheidung zwischen zwei Arten epistemischer Rechtfertigung vor, nämlich starker und schwacher Rechtfertigung. Gemäß dieser Unterscheidung ist eine Überzeugung stark gerechtfertigt, sofern sie durch einen kognitiven Prozess gebildet wurde, der tatsächlich zuverlässig ist, und schwach gerechtfertigt, sofern sie durch einen unzuverlässigen kognitiven Prozess gebildet wurde, wobei die überzeugungsbildende Person jedoch keinen Zugang zu der Unzuverlässigkeit des Prozesses hat, sodass ihr aus epistemischer Perspektive kein Vorwurf gemacht werden kann.117 Bei starker und schwacher Rechtfertigung handelt es sich um zwei vollkommen voneinander unabhängige Formen epistemischer Rechtfertigung: Eine 115

Dass Anfechtungsgründe angefochten werden können und somit ihre anfechtende Kraft verlieren, gleichzeitig aber weiterhin gerechtfertigterweise geglaubt werden können, ist ein allgemein akzeptiertes Phänomen epistemischer Anfechtung (vgl. etwa Sudduth 2017, Abschnitt 4 c). Der Objektivist könnte also problemlos behaupten, dass die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einen widerlegenden Anfechtungsgrund für die eigene Überzeugung konstituiert, der seinerseits durch die Information angefochten wird, dass die konfligierende Überzeugung angesichts der ihr zugrundeliegenden Gründe aufgrund spezifischer Umstände nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist, ohne dass es dadurch nicht nach wie vor gerechtfertigt wäre, die konfligierende Überzeugung als gerechtfertigt zu bewerten. 116 Goldman 1986, 107. 117 Goldman 1988.

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Überzeugung kann schwach, aber nicht stark gerechtfertigt sein, aber auch stark und nicht schwach gerechtfertigt sein. Eine weiterer Vorschlag findet sich in dem Aufsatz „Epistemic Folkways and Scientific Epistemology“, in dem Goldman eine Theorie der Rechtfertigungszuschreibung entwickelt. Gemäß dieser Theorie verläuft die Zuschreibung von epistemischer Rechtfertigung im Wesentlichen in zwei Schritten: In einem ersten Schritt erstellt jeder Bewerter eine mentale Liste von kognitiven Prozessen, die von der Gesellschaft als zuverlässig angesehen werden. In einem zweiten Schritt wird einer Überzeugung nur dann ein positiver Rechtfertigungsstatus zugeschrieben, wenn sie durch einen kognitiven Prozess hervorgebracht wurde, der auf der mentalen Liste des Bewerters steht.118 Auch dem Reliabilisten stehen also verschiedene Möglichkeiten offen, die Überzeugung von Maria als gerechtfertigt zu bewerten. Maria hat ihre Überzeugung aufgrund normal funktionierender Perzeption gebildet – sie steht direkt vor der Wand, ist nicht farbenblind und leidet auch sonst unter keinerlei kognitiver Beeinträchtigung. Dementsprechend bildet sie ihre Überzeugung auf der Grundlage kognitiver Prozesse, die in Situationen, die unseren grundlegenden Überzeugungen über die aktuale Welt entsprechen, zuverlässig sind, die im Allgemeinen als zuverlässig gelten und auch von der Gesellschaft als zuverlässig angesehen werden. Darüber hinaus ist sich Maria in keiner Weise bewusst, dass die ihrer Überzeugung zugrundeliegenden Prozesse in der spezifischen Situation unzuverlässig sind, sodass ihr aus epistemischer Perspektive kein Vorwurf zu machen ist. Somit kann auch im Rahmen des Reliabilismus Marias Überzeugung ein positiver Rechtfertigungsstatus zugeschrieben werden. Es gibt sogar Möglichkeiten, Peters und Marias Überzeugung als in gewisser Weise gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten: So wurden etwa beide Überzeugungen durch kognitive Prozesse hervorgebracht, die im Allgemeinen als gleichermaßen zuverlässig angesehen werden und dementsprechend auf der mentalen Liste potentieller epistemischer Bewerter als gleichwertig gelten dürften. Der Objektivist hat also durchaus die theoretischen Ressourcen, die Möglichkeit von Fällen zu akzeptieren, in denen eine Überzeugung aufgrund spezifischer Umstände angesichts der ihr zugrundeliegenden Gründe zwar nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr, aber trotzdem in einem substantiellen Sinne gerechtfertigt ist. Dementsprechend kann auch der Objektivist zugestehen, dass es nicht notwendigerweise irrational ist, eine konfligierende Überzeugung als gerechtfertigt zu bewerten und gleichzeitig an seiner eigenen Überzeugung festzuhalten. Denn auch wenn vor dem Hintergrund des Objektivismus die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gerechtfertigt einen Anfechtungsgrund für die eigene Überzeugung konstituiert, kann dieser Anfechtungsgrund angefochten werden, ohne dass dadurch die fortwährende Beurteilung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt irrational ist. Ein Beispiel für eine solche Konstellation wäre eben der Fall von Peter und Maria: Die Information, dass die Wände rot beleuchtet werden, spricht zwar dagegen, dass

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Goldman 1993.

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Marias Überzeugung angesichts der ihr zugrundeliegenden Gründe mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist – sie spricht jedoch auch vor dem Hintergrund des Objektivismus nicht unbedingt dagegen, dass diese Überzeugung gerechtfertigt ist. Somit scheitert auch das dritte Argument für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung: Aus der weit verbreiteten Ansicht, dass es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen epistemischer Rechtfertigung und Wahrheit gibt, ergibt sich nicht, dass eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt notwendigerweise irrational ist. So spricht vor dem Hintergrund einer subjektivistischen Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gerechtfertigt lediglich dafür, dass diese Überzeugung aus der Perspektive der Person, die diese Überzeugung hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Vor dem Hintergrund einer objektivistischen Interpretation spricht die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gerechtfertigt prima facie zwar tatsächlich für die Wahrheit dieser Überzeugung – jedoch sind auch dann noch Fälle denkbar, in denen spezifische Informationen vorliegen, die dafür sprechen, dass die konfligierende Überzeugung zwar gerechtfertigt, aufgrund spezifischer Umstände aber trotzdem angesichts der ihr zugrundeliegenden Gründe nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. In solchen Fällen ist auch vor dem Hintergrund eines Objektivismus eine Modifikation der eigenen Überzeugung trotz der fortwährenden Bewertung der fremden Überzeugung als gerechtfertigt nicht erforderlich.119 4.2.5 Fazit Insgesamt habe ich drei Argumente für die Annahme diskutiert, dass Toleranz als Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit notwendigerweise epistemisch irrational ist, weil die für eine tolerante Haltung charakteristische Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt eine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht.

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Bei der Diskussion des dritten Arguments habe ich mich auf die Fälle konzentriert, in denen die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt einen widerlegenden Anfechtungsgrund konstituieren sollte. Es ist jedoch leicht zu sehen, dass sich die obigen Überlegungen einfach auch auf die Fälle übertragen lassen, in denen diese Bewertung einen unterminierenden Anfechtungsgrund konstituieren sollte: Die Überlegung zu diesen Fällen war ja, dass die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt hier deswegen dagegen spricht, dass die eigene Überzeugung durch die verfügbare Evidenz gestützt wird, weil die verfügbare Evidenzmenge nicht gleichzeitig für die Wahrheit und für die Falschheit einer Proposition sprechen kann. Dass eine konfligierende Überzeugung aus der subjektiven Perspektive einer anderen Person bzw. zwar im Allgemeinen, aufgrund spezifischer Umstände aber nicht in der vorliegenden Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist, ist jedoch vollkommen kompatibel damit, dass die verfügbare Evidenz tatsächlich nur für die Wahrheit der eigenen Überzeugung spricht. Dementsprechend ist auch überhaupt nicht klar, warum man sich in diesen Fällen angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt des Urteils darüber enthalten muss, welche Überzeugung durch die verfügbare Evidenz gestützt wird.

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Die Idee hinter dem ersten Argument war, dass man im Zuge der Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gerechtfertigt Gründe erster Ordnung für die Wahrheit dieser Überzeugung gewinnt, weil man, um den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung evaluieren zu können, Zugang zu den dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründen haben muss, sodass diese einem dann unmittelbar zur eigenen Überzeugungsbildung und -modifikation zur Verfügung stehen. Ein näherer Blick hat jedoch gezeigt, dass die diesem Argument zugrundeliegenden Annahmen viel zu stark sind: Um den Rechtfertigungsstatus einer Überzeugung evaluieren zu können, benötigt man keinen direkten Zugang zu den dieser Überzeugung zugrundeliegenden Gründen. Darüber hinaus scheint dem Argument eine nicht-permissive Konzeption evidentieller Stützungsrelationen zugrunde zu liegen, die – wie wir gesehen haben – durchaus problematisch ist. Die Idee hinter dem zweiten und dritten Argument war, dass man im Zuge der Bewertung einer fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt Gründe zweiter Ordnung gewinnt, angesichts derer eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung epistemisch irrational ist. Das zweite Argument baute auf dem von Richard Feldman formulierten EEE-Prinzip auf: Die Überlegung war hier, dass Evidenz dafür, dass es Evidenz für eine Überzeugung gibt, selbst schon Evidenz für diese Überzeugung ist, und dass man dementsprechend eine Überzeugung nur dann gerechtfertigterweise als gerechtfertigt bewerten kann, wenn man Evidenz für diese Überzeugung hat. Das Problem an diesem Argument ist jedoch erstens, dass es sich beim EEE-Prinzip um ein höchst umstrittenes Prinzip handelt, das mit prima facie durchaus plausiblen Gegenbeispielen zu kämpfen hat. Darüber hinaus habe ich versucht, zu zeigen, dass es auch vor dem Hintergrund des EEE-Prinzips Fälle gibt, in denen man aufgrund von Evidenz, die für die Wahrheit einer abweichenden Überzeugung und für eine Bewertung dieser Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt spricht, zwar guten Grund hat, diese Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, jedoch keinen guten Grund hat, sich dieser Überzeugung anzunähern. Das dritte Argument stellte den Versuch dar, auf der Grundlage der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung für die epistemische Irrationalität einer toleranten Haltung zu argumentieren. Die Überlegung in diesem Zusammenhang war, dass die Bewertung einer fremden, abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht und dementsprechend schon für sich genommen eine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht. Eine nähere Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass dieses Argument von einer unplausiblen Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung abhängt. Alle drei Argumente sind also in dem Sinne gescheitert, als dass sie nicht zeigen können, dass eine tolerante Haltung angesichts einer Meinungsverschiedenheit notwendig epistemisch irrational sein muss. Gleichzeitig hat die Diskussion dieser Argumente aber gezeigt, dass es sich bei Toleranz aus der Perspektive epistemischer Rationalität um eine durchaus problematische Haltung handelt. Angesichts einer Meinungsverschiedenheit tolerant zu reagieren, bedeutet, die fremde Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten und trotzdem bei seiner Meinung zu

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bleiben. Wie wir gesehen haben, kann eine solche Haltung epistemisch irrational sein, insofern die Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt oder aber die dieser Bewertung zugrunde liegenden Gründe in der relevanten Hinsicht für die Wahrheit der fremden Überzeugung sprechen. Hierbei ist es auch irrelevant, ob die Gründe, die man der fremden Überzeugung zuschreibt, einem direkt zugänglich sind oder nicht. Kennt man die Gründe, aufgrund derer die fragliche Überzeugung gebildet wurde, und hält sie in dem relevanten objektiven Sinne für gut, dann gewinnt man Gründe erster Ordnung, angesichts derer eine Überzeugungsmodifikation rational erforderlich ist. Hat man lediglich indirekten Zugang zu den Gründen, aufgrund derer die fragliche Überzeugung gebildet wurde, und hält sie in dem relevanten Sinne für gut, dann gewinnt man Gründe zweiter Ordnung, angesichts derer eine Überzeugungsmodifikation rational erforderlich ist. Toleranz als Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit ist also nur dann rational, wenn die für eine tolerante Haltung charakteristische positive normative Evaluation sowie die dieser Evaluation zugrunde liegenden Gründe nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung sprechen. Die obige Diskussion hat nun gezeigt, dass es durchaus Fälle gibt, in denen entweder die Bewertung einer abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt oder die dieser Bewertung zugrunde liegenden Gründe für die Wahrheit dieser Überzeugung sprechen. Sollten sich das EEE-Prinzip oder eine objektivistische Interpretation der Wahrheitszuträglichkeit epistemischer Rechtfertigung als plausibel herausstellen, wären dies alle Fälle, in denen man nicht zusätzliche, unabhängige Gründe zur Annahme hat, dass die der fremden Überzeugung zugrundeliegenden Gründe irreführend sind. Eine tolerante Haltung wäre in diesem Fall vermutlich öfter irrational als rational. Aus der Perspektive epistemischer Rationalität ist eine intellektuell tolerante Haltung also durchaus problematisch. Wie sieht es demgegenüber aus der Perspektive instrumenteller Rationalität aus?

4.3 Ist eine tolerante Haltung instrumentell rational? Wie die obigen Überlegungen gezeigt haben, ist eine tolerante Haltung nicht notwendigerweise epistemisch irrational. Sofern angesichts einer Meinungsverschiedenheit die Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht, kann die für eine tolerante Haltung charakteristische Beibehaltung der eigenen Überzeugung vollkommen unproblematisch sein.120 Bedeutet das, dass unter solchen Umständen Toleranz die epistemisch adäquate Reaktion darstellt? Wie wir zu Beginn des Kapitels gesehen haben, 120

Wenn im Folgenden davon die Rede ist, dass eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nur dann rational ist, wenn diese Bewertung nicht für die Wahrheit der konfligierenden Überzeugung spricht, dann ist dies vor dem Hintergrund der Diskussion des vorangegangenen Abschnitts zu verstehen. Dass die Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht, soll dementsprechend heißen, dass sie nur

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4. Sollten wir tolerant sein?

ist dem nicht unbedingt so. Denn um entscheiden zu können, ob und unter welchen Umständen eine spezifische Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit epistemisch adäquat ist, müssen nicht nur Überlegungen bezüglich epistemischer Rationalität, sondern auch Überlegungen bezüglich der instrumentellen Rationalität dieser Reaktion relativ zu unseren epistemischen Zielen berücksichtigt werden. Um zu entscheiden, ob Toleranz unter den Bedingungen, unter denen sie epistemisch rational ist, aus erkenntnistheoretischer Perspektive eine empfehlenswerte Haltung darstellt, muss also zunächst untersucht werden, ob eine tolerante Haltung unter diesen Umständen auch instrumentell rational hinsichtlich unserer epistemischen Ziele ist.121 Was sind unsere epistemischen Ziele? Auch wenn bezüglich der genauen Beantwortung dieser Frage Uneinigkeit besteht, sind so gut wie alle Erkenntnistheoretiker der Meinung, dass das Erlangen von Wahrheit und die Vermeidung von Falschheit wenn nicht die einzigen, so doch zumindest zwei der grundlegendsten epistemischen Ziele darstellen.122 Manche Autoren gehen sogar so weit, den Bereich des Erkenntnistheoretischen vor dem Hintergrund dieser beiden Ziele zu definieren. Beispielsweise schreibt William Alston: “[There is] a specifically epistemic dimension of evaluation. Beliefs can be evaluated in different ways. One may be more or less prudent, fortunate, or faithful in holding a certain belief. […] [But] epistemic evaluation is undertaken from what we might call "the epistemic point of view." That point of view is defined by the aim at maximizing truth and minimizing falsity in a large body of beliefs.”123

Angenommen, das Streben nach Wahrheit und das Vermeiden von Falschheit sind unsere zentralen epistemischen Ziele – kann uns eine tolerante Haltung dabei helfen, diese Ziele zu erreichen? Ist es hinsichtlich dieser Ziele rational, für falsch gehaltene Überzeugungen zu dulden, insofern diese gerechtfertigt sind? Um für die instrumentelle Rationalität einer toleranten Haltung zu argumentieren, müsste zweierlei geleistet werden: Erstens müsste gezeigt werden, dass es grundsätzlich rational ist, die Überzeugungen anderer Personen, die man für falsch hält, zu modifizieren. Zweitens müsste gezeigt werden, dass es demgegenüber rational ist, die für falsch gehaltenen Überzeugungen anderer Personen zu dulden, sofern diese Überzeugungen gleichermaßen gerechtfertigt sind. Im Folgenden möchte ich nacheinander beide Annahmen diskutieren.

aus der Perspektive einer anderen Person bzw. zwar im Allgemeinen, aufgrund spezifischer Umstände aber nicht in der vorliegenden Situation für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. 121 In diesem Abschnitt ist mit „rational“ und „Rationalität“ stets „instrumentell rational relativ zu unseren epistemischen Zielen“ und „instrumentelle Rationalität bezüglich unserer epistemischen Ziele“ gemeint. An den Stellen, in denen es um epistemische Rationalität geht, ist im Folgenden auch immer explizit von „epistemischer Rationalität“ bzw. „epistemisch rational“ die Rede. 122 Siehe etwa Leplin 2009, Kap. 2; Vahid 2009, Kap. 1. David 2001 nennt als weitere Beispiele Laurence BonJour, Roderick Chisholm, Rene Descartes, Richard Foley, Alvin Goldman, Keith Lehrer, Paul Moser, Alvin Plantinga und Ernest Sosa. 123 Alston 1985, 59.

4.3 Ist eine tolerante Haltung instrumentell rational?

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4.3.1 Die Modifikation falscher Überzeugungen Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, davon auszugehen, dass eine tolerante Haltung nur dann instrumentell rational ist, wenn es grundsätzlich rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren. Denn für eine tolerante Haltung ist es ja gerade charakteristisch, von der Modifikation einer falschen, aber gleichermaßen gerechtfertigten Überzeugung abzusehen – warum sollte es aber nur dann rational sein, eine falsche und gerechtfertigte Überzeugung nicht zu modifizieren, wenn es grundsätzlich rational ist, eine falsche Überzeugung zu modifizieren? Zunächst könnte man doch denken, dass eine erfolgreiche Argumentation gegen die grundsätzliche Rationalität der Modifikation falscher Überzeugungen anderer geradezu die offensichtlichste Möglichkeit wäre, für die Rationalität einer toleranten Haltung zu argumentieren: Wenn es hinsichtlich unserer epistemischen Ziele nie rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren, dann kann es dementsprechend auch nicht irrational sein, davon abzusehen, die falsche, aber gerechtfertigte Überzeugung einer anderen Person zu modifizieren. Tatsächlich würde es aber direkt gegen eine tolerante Haltung sprechen, wenn sich herausstellen sollte, dass es nie rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren. Um diesen Punkt zu verstehen, muss man sich nur die Überlegungen zur internen Struktur epistemischer Toleranz aus dem zweiten Kapitel vergegenwärtigen: Tolerant auf eine fremde, abweichende Überzeugung zu reagieren, bedeutet ja nicht nur, von einer Modifikation dieser Überzeugung abzusehen, sondern vielmehr, von einer Modifikation dieser Überzeugung abzusehen, obwohl man sie für falsch hält, weil man sie als gleichermaßen gerechtfertigt akzeptiert. Der Gedanke der Toleranz scheint also gerade vorauszusetzen, dass man unter normalen Umständen das, was toleriert wird, eigentlich modifizieren sollte, und dass nur aufgrund der spezifischen positiven Evaluation, die der negativen Evaluation entgegengesetzt wird, eine Duldung rational ist. Eine Überzeugung zu tolerieren, bedeutet somit nicht nur, eine abweichende Überzeugung zu dulden und als gleichermaßen gerechtfertigt zu bewerten, sondern vielmehr, eine falsche Überzeugung zu dulden, weil man sie als gleichermaßen gerechtfertigt bewertet – und dementsprechend, diese Überzeugung auch zu modifizieren, wenn sie nicht gleichermaßen gerechtfertigt wäre. Nehmen wir etwa an, es wäre nicht grundsätzlich rational, die Überzeugungen anderer zu modifizieren. Dies könnte verschiedene Gründe haben: Einerseits könnte es grundsätzlich irrational sein, die Überzeugungen anderer zu modifizieren. In diesem Fall wäre auch eine tolerante Haltung irrational, da tolerante Personen ja nur dann von der Modifikation einer fremden Überzeugung absehen würden, wenn dieser eine positive epistemische Evaluation zukommen würde – in vielen Fällen würden tolerante Personen also die Überzeugungen anderer modifizieren und sich dementsprechend irrational verhalten. Andererseits könnte es aber auch arational sein, die Überzeugungen anderer zu modifizieren. Aus einer epistemischen Perspektive spräche somit weder etwas für, noch etwas gegen die Modifikation fremder Überzeugungen – Modifikationen fremder Überzeugungen wären epistemisch insignifikant. In diesem Fall würde es streng genommen überhaupt keinen Sinn machen, zu

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4. Sollten wir tolerant sein?

behaupten, eine tolerante Haltung sei instrumentell rational. Genau das muss jedoch ein Verfechter epistemischer Toleranz tun, da er ja die Duldung fremder, gleichermaßen gerechtfertigter Überzeugungen explizit als epistemisch adäquat empfiehlt. Der Zusammenhang zwischen der Rationalität einer toleranten Haltung und der grundsätzlichen Rationalität des Eingreifens lässt sich auch am Beispiel ethischer Toleranz veranschaulichen: Nehmen wir etwa an, es sei vernünftig, die Handlungen eines tollpatschigen Bösewichts zu tolerieren, der zwar die teuflischsten Absichten hat, aufgrund seiner Tollpatschigkeit aber aus Versehen stets Gutes tut. Auch hier würden wir sagen, dass eine tolerante Haltung – sofern sie angemessen ist – gerade deshalb angemessen ist, weil es zwar unter normalen Umständen geboten ist, Menschen mit bösen Absichten von ihren Taten abzuhalten, dass es aber angesichts des spezifischen Umstands, dass die Handlungen des tollpatschigen Bösewichts unbeabsichtigt gute Folgen haben, vernünftiger ist, seine Taten zu tolerieren. Dass eine Intervention aus ethischer Sicht rational wäre, wenn die fraglichen Handlungen nicht die guten Folgen hätten, die sie tatsächlich haben, ist hier also geradezu eine Voraussetzung für die Rationalität ethisch motivierter Toleranz – wäre es nie rational, die Handlungen anderer Personen aufgrund ihrer Böswilligkeit zu unterbinden, dann wäre es auch nicht rational, von dem Unterbinden einer böswilligen Handlung abzusehen, insofern diese gute Konsequenzen hat. Ebenso wäre es auch aus epistemischer Sicht nicht rational, von der Modifikation einer falschen Überzeugung abzusehen, insofern diese gleichermaßen gerechtfertigt ist, wenn es nicht grundsätzlich rational wäre, eine falsche Überzeugung zu modifizieren. Eine Argumentation für die instrumentelle Rationalität einer toleranten Haltung ist dementsprechend eine Argumentation für die These, dass es zwar grundsätzlich rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren, dass es aber im Falle falscher Überzeugungen, die gleichermaßen gerechtfertigt sind, rational ist, von einer solchen Modifikation abzusehen. Ist es im Allgemeinen rational, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren? In gewisser Weise mag es geradezu offensichtlich scheinen, dass diese Frage positiv beantwortet werden muss. Der Gedanke ist dabei in etwa der folgende: Sofern unsere vornehmlichen epistemischen Ziele das Erreichen von Wahrheit und das Vermeiden von Falschheit sind, ist es hinsichtlich dieser Ziele rational, falsche Überzeugungen zu eliminieren. Und da andere Personen genauso wie wir selbst mögliche Träger falscher Überzeugungen sind, sollten wir nicht nur in unserem eigenen, sondern auch in fremden Überzeugungssystemen nach falschen Überzeugungen suchen und versuchen, diese zu eliminieren. Zwar mag es in manchen Situationen schwierig oder sogar unmöglich sein, die Überzeugungen anderer zu modifizieren – prinzipiell handelt es sich dabei aber um keine Besonderheit fremder Überzeugungen, da sich die Modifikation eigener falscher Überzeugungen oft als ebenso schwierig und manchmal sogar als unmöglich erweist. Nehmen wir etwa das Beispiel einer Person, die Flugangst hat: Auch wenn diese Person weiß, dass ihre Überzeugung, auf einer Flugreise mit hoher Wahrscheinlichkeit zu sterben, irrational ist, kann es trotzdem äußerst schwer oder sogar unmöglich für diese Person sein, ihre Überzeugung einfach aufzugeben. Das ändert aber nichts

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daran, dass sie aus erkenntnistheoretischer Perspektive versuchen sollte, ihre Überzeugung aufzugeben, wenn sie weiß, dass es sich dabei um eine falsche Überzeugung handelt: Nur weil sich die Modifikation falscher Überzeugungen als schwierig erweisen kann, bedeutet das nicht, dass eine solche Modifikation nicht rational ist.124 Tatsächlich dürften viele Erkenntnistheoretiker einer solchen Argumentation jedoch skeptisch gegenüberstehen. Denn so, wie das erkenntnistheoretische Doppelziel, Wahrheit zu erreichen und Falschheit zu vermeiden, normalerweise verstanden wird, handelt es sich dabei um ein individuelles Ziel: Dass wir Wahrheit erreichen und Falschheit vermeiden sollten, bedeutet lediglich, dass wir als Individuen versuchen sollten, wahre Überzeugungen zu bilden und falsche Überzeugungen zu vermeiden.125 Der Unterschied zwischen einer individualistischen und einer sozialen Interpretation unserer epistemischen Ziele lässt sich anhand eines Beispiels veranschaulichen: Stellen wir uns etwa vor, Amrei und Steffen sitzen nebeneinander auf einer Parkbank. Beide haben jeweils kurz zuvor eine falsche Überzeugung gebildet: Während Amrei aufgrund eines Gesprächs mit ihrer Mutter glaubt, dass ihr Vater sich einen Mercedes gekauft hat, glaubt Steffen aufgrund eines Zeitungsartikels, dass der 1. FC Köln sein letztes Heimspiel gewonnen hat. Tatsächlich irren aber beide: Amreis Mutter hält den neuen BMW ihres Mannes fälschlicherweise für einen Mercedes, und der Zeitungsredaktion ist ein Zahlendreher untergekommen – der 1. FC Köln hat sein letztes Heimspiel tatsächlich verloren. Nun scheint es aus epistemischer Perspektive besser, wenn Amrei und Steffen jeweils eine wahre Überzeugung hätten: Steffen sollte glauben, dass der 1. FC Köln sein letztes Heimspiel verloren hat, und Amrei sollte glauben, dass ihr Vater sich einen BMW gekauft hat. 124

Zum Phänomen sogenannter widerspenstiger Überzeugungen (engl. recalcitrant belief) siehe etwa Moran 2003. In seinem kurzen, aber sehr einflussreichen Text „A Letter Concerning Toleration“ äußert John Locke die Sorge, dass es grundsätzlich unmöglich ist, einer anderen Person spezifische Überzeugungen aufzuerlegen. Er schreibt: “Speculative opinions […] which require only belief, cannot be imposed […]. For it is absurd that things should be enjoined by laws which are not in men's power to perform; and to believe this or that to be true does not depend upon our will.” (Locke 2013, 75). Linda Zagzebski diskutiert diese Überlegung in ihrem Buch „Epistemic Authority“, wo sie vollkommen richtig darauf hinweist, dass schon ganz alltägliche Aussagen erfolgreiche Versuche darstellen können, gezielt die Überzeugungen anderer zu modifizieren. Es ist nichts Merkwürdiges oder Außergewöhnliches an einer Situation, in der mir eine Person, die ich für vertrauenswürdig und kompetent halte, etwa „p ist wahr. Glaub mir.“ sagt und ich aufgrund dieser Aussage p glaube (Zagzebski 2012, 5). In dieser Situation will die Person nicht nur, dass ich p glaube, sondern ich weiß auch, dass sie dies will. Wenn ich die Person für hinsichtlich der Frage nach p für zuverlässig halte, oder wenn sie mir gute Gründe für p präsentiert, ist es jedoch vollkommen unproblematisch, wenn ich gemäß ihrer Forderung p glaube. 125 Eine bemerkenswerte Ausnahme in diesem Zusammenhang ist Stephen Grimm, der in seinem Aufsatz „Epistemic Normativity“ explizit für ein soziales Verständnis epistemischer Normativität argumentiert und den epistemischen Wert der Wahrheit als Gemeingut bezeichnet (Grimm 2009). Grimms Argumentation bleibt jedoch insofern individualistisch, als dass er eine soziale Interpretation epistemischer Normativität lediglich bemüht, um erklären zu können, warum wir als Einzelpersonen hinsichtlich unserer individuellen Überzeugungssysteme Falschheit vermeiden und Wahrheit anstreben sollten. Eine epistemisch motivierte Modifikation der Überzeugungen anderer spielt bei Grimm zunächst keine Rolle.

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Und in genau diesem Sinne werden epistemische Ziele auch normalerweise interpretiert: Wir sollten als Individuen versuchen, wahre Überzeugungen zu bilden und falsche Überzeugungen zu vermeiden. Es scheint einfach merkwürdig, zu sagen, Steffen solle nicht nur glauben, dass der 1. FC Köln sein letztes Heimspiel verloren hat, sondern auch Amrei davon überzeugen, dass ihr Vater sich einen BMW gekauft hat. Genau das müsste man jedoch behaupten, wenn man davon ausgeht, dass unsere epistemischen Ziele sozial sind und wir nicht nur unsere eigenen Irrtümer, sondern auch die Irrtümer anderer Personen beseitigen sollten. Sofern also ausgehend von einer Stipulation sozialer epistemischer Ziele dafür argumentiert werden soll, dass es im Allgemeinen rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren, müssen äußerst kontroverse Annahmen in Kauf genommen werden. Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele zwar kontrovers, jedoch durchaus plausibel ist. Tatsächlich ist es einigermaßen erstaunlich, dass die individualistische Interpretation als unangefochtener Standard angesehen und von den meisten Erkenntnistheoretikern unhinterfragt akzeptiert wird. Ist es wirklich so verrückt, davon auszugehen, dass unsere epistemischen Ziele soziale Ziele sind? In gewisser Weise wäre es doch einigermaßen erstaunlich, wenn unsere epistemischen Ziele individualistisch interpretiert werden sollten. Um sich zu vergegenwärtigen, wie wenig offensichtlich die individualistische Interpretation ist, ist es hilfreich, eine Analogie zum Bereich der Moral zu ziehen: Dass unsere ethischen Ziele genuin sozial sind, ist so gut wie unbestreitbar. Sofern Dinge wie Glück, Freiheit, Abwesenheit von Leid oder Gerechtigkeit aus einer ethischen Perspektive wertvoll sind und moralische Güter darstellen, ist es klarerweise nicht nur moralisch geboten, diese Güter für sich selbst anzustreben, sondern ebenso für andere. Wenn beispielsweise – so wie einige Konsequentialisten behaupten – die Vermeidung von Leid eines unserer zentralen moralischen Ziele darstellt, dann wäre es absurd, dieses Ziel individualistisch zu interpretieren und nur eigenes Leid zu vermeiden. Denn aus ethischer Perspektive macht es schlichtweg keinen Unterschied, ob wir selbst oder andere Personen Leid empfinden. Insofern Leid etwas ist, das vermieden werden sollte, sollten wir versuchen, jegliches Leid – und eben nicht nur unser eigenes – zu vermeiden. Ganz analog ließe sich nun auch im Bereich der Erkenntnistheorie argumentieren: Sofern Wahrheit aus einer epistemischen Perspektive wertvoll ist und ein epistemisches Gut darstellt, sollten wir versuchen, Wahrheit zu erreichen und Falschheit zu vermeiden. Wenn aber andere Personen ebenso wie wir selbst in der Lage sind, wahre und falsche Überzeugungen zu bilden und somit potentielle Träger von Wahrheit und Falschheit sind – warum sollten wir uns dann nur um unser eigenes Überzeugungssystem kümmern? In gewisser Weise scheint eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele zumindest auf den ersten Blick um einiges natürlicher als eine individualistische Interpretation. Wenn Falschheit etwas epistemisch Schlechtes ist, sollten wir versuchen, Falschheit zu vermeiden. Die Unterscheidung zwischen Falschheit im eigenen Überzeugungssystem und Falschheit in fremden

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Überzeugungssystemen, die im Rahmen der individualistischen Interpretationen gezogen wird, wirkt zunächst einigermaßen arbiträr und ist somit erklärungsbedürftig: Warum sollten wir annehmen, dass wir uns aus epistemischer Perspektive bei der Vermeidung von Falschheit nur auf unser eigenes Überzeugungssystem konzentrieren sollten? Nun könnte man natürlich erwidern, dass es aus einer theoretischen Perspektive vielleicht überraschend, angesichts unserer epistemischen Intuitionen aber geradezu offensichtlich ist, dass unsere intellektuellen Ziele individualistisch interpretiert werden sollten. In dem obigen Fall von Amrei und Steffen wäre es eben einigermaßen verrückt, zu behaupten, dass Steffen nicht nur seine eigene, sondern auch Amreis Überzeugung korrigieren sollte. Wenn eine soziale Interpretation unserer intellektuellen Ziele tatsächlich eindeutig im Konflikt mit zentralen epistemischen Intuitionen stehen sollte, würde dies in der Tat für einen Individualismus sprechen. Es ist jedoch fraglich, ob unsere Intuitionen tatsächlich in die entsprechende Richtung zeigen – so genügt schon eine leichte Modifikation des Beispiels, um die Rationalität eines epistemischen Altruismus gar nicht mehr unplausibel wirken zu lassen: Nehmen wir etwa an, Steffen wüsste, dass sich Amreis Vater einen BMW gekauft hat, und würde nun erfahren, dass Amrei fälschlicherweise davon ausgeht, dass ihr Vater sich einen Mercedes gekauft hat. In gewisser Weise scheint es, als hätte Steffen hier durchaus einen Grund, Amreis Überzeugung zu modifizieren. Und dieser Grund scheint in keiner Weise praktischer Natur zu sein – dass Steffen Amrei darüber aufklären sollte, dass sich ihr Vater einen BMW gekauft hat, liegt vermutlich nicht daran, dass es in diesem Fall unmoralisch wäre, Amrei unwissend zu lassen. Dass eine soziale Interpretation unserer intellektuellen Ziele sehr wohl unseren epistemischen Intuitionen entspricht, lässt sich anhand eines weiteren Gedankenexperiments plausibilisieren. Betrachten wir etwa eine Variante des berühmten Falls der Experience Machine: In diesem von Robert Nozick entworfenen Szenario haben Wissenschaftler ein Gerät entwickelt, das einer daran angeschlossenen Person alle möglichen Erfahrungen induzieren kann, wobei die induzierten Erfahrungen von realen Erfahrungen ununterscheidbar sind.126 Nehmen wir nun an, ein Wissenschaftler würde eine Person ohne ihr Wissen an dieses Gerät anschließen. Dieser Person, die für den Rest ihres Lebens an dem Gerät angeschlossen bleibt, würden exakt die gleichen Erfahrungen induziert, die sie tatsächlich gemacht hätte, wenn sie nicht an das Gerät angeschlossen worden wäre. Das Verhalten des Wissenschaftlers scheint in diesem Fall eindeutig problematisch zu sein: Vermutlich würden viele Leute zustimmen, dass er die Person nicht an das Gerät hätte anschließen sollen. Es ist jedoch zunächst überhaupt nicht klar, inwieweit dem Wissenschaftler hier ein moralischer Vorwurf gemacht werden kann: Durch das Anschließen an das Gerät geschieht der Person keinerlei Leid – wir können sogar stipulieren, dass der Wissenschaftler das Gerät so programmiert hat, dass ihr einige besonders schlimme Erfahrungen, die sie ansonsten gehabt hätte, erspart bleiben. Darüber hinaus können wir stipulieren, dass durch den Eingriff des 126

Für das ursprüngliche Gedankenexperiment siehe Nozick 1974, 42 ff.

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Wissenschaftlers auch andere Personen kein Leid erfahren – etwa weil ein Schauspieler damit beauftragt wurde, in die Rolle der angeschlossenen Person zu schlüpfen, sodass Angehörige und Freunde ihr plötzliches Verschwinden gar nicht erst bemerken. Dennoch bleibt die Intuition, dass das Verhalten des Wissenschaftlers kritikwürdig ist. Eine mögliche Erklärung wäre nun, dass sich der Wissenschaftler aus einer epistemischen Perspektive falsch verhält und ihm somit ein epistemischer Vorwurf gemacht werden kann: Indem er die Person an sein Gerät anschließt, beraubt er sie einer Menge wahrer Überzeugungen. Tatsächlich dürften die meisten Überzeugungen, die die Person bildet, nachdem sie an das Gerät angeschlossen wurde, falsch sein. Der Wissenschaftler würde dementsprechend zwar kein moralisches, aber ein epistemisches Übel verantworten. Hierbei handelt es sich selbstverständlich nur um eine mögliche Erklärung des Falls. So würde beispielsweise ein Präferenzutilitarist daran festhalten, dass dem Wissenschaftler kein epistemischer, sondern ein moralischer Vorwurf gemacht werden sollte, weil durch sein Handeln viele Präferenzen der angeschlossenen Person – etwa nach tatsächlichen Erfahrungen oder authentischen zwischenmenschlichen Beziehungen – systematisch frustriert werden. Genauso würden auch manche Deontologen einen moralischen Vorwurf formulieren und darauf hinweisen, dass der angeschlossenen Person die Möglichkeit zum selbstbestimmten Handeln vorenthalten wird. Die bisherigen Überlegungen reichen also in keiner Weise aus, um zu zeigen, dass eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele tatsächlich adäquat ist. Was die bisherigen Überlegungen meiner Meinung nach jedoch sehr wohl zeigen, ist, dass die Beweislast nicht ohne Weiteres dem Vertreter einer sozialen Interpretation unserer epistemischen Ziele zugeschoben werden kann. Es scheint zwar so zu sein, dass eine individualistische Interpretation die Standardposition innerhalb der gegenwärtigen Erkenntnistheorie darstellt. Gleichzeitig ist aber überhaupt nicht klar, warum eine individualistische Interpretation überhaupt die Standardposition sein sollte. Die Analogie zum Bereich der Moral und ein erster Blick auf unsere vortheoretischen Intuitionen scheinen vielmehr nahezulegen, dass eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele durchaus natürlich ist. Tatsächlich wäre es auch deshalb ziemlich überraschend, wenn sich eine individualistische Interpretation als korrekt herausstellen sollte, weil wir uns de facto ganz oft so verhalten, als wären unsere epistemischen Ziele sozialer Natur. So kommt es etwa regelmäßig vor, dass Einzelpersonen ihr eigenes intellektuelles und praktisches Wohlergehen opfern, um zum epistemischen Gemeinwohl beizutragen. Es gibt unzählige Beispiele von Menschen, die ihr Leben riskierten, um wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Doch auch abgesehen von solch radikalen Einzelbeispielen sind epistemisch altruistische Strukturen zentraler Bestandteil unserer intellektuellen Praxis: Wesentliche Funktion von Schulen, Universitäten, Museen und anderen Bildungsinstitutionen ist es, Wissen und somit wahre Überzeugungen zu vermitteln – und zwar ganz explizit nicht nur dann, wenn es der Erfüllung praktischer Interessen dient. Eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele wirkt angesichts dessen alles andere als verrückt.

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Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass die obigen Argumente, selbst wenn man sie plausibel findet, in keiner Weise zeigen, dass die Überzeugungen anderer im Allgemeinen epistemisch relevant sind und dass dementsprechend auch eine Modifikation falscher Überzeugungen anderer im Allgemeinen rational ist. Die präsentierten Argumente legen lediglich nahe, dass die Überzeugungen anderer Personen epistemisch relevant sind, insofern diese Personen entsprechende intellektuelle Präferenzen haben. So ist es etwa nur dann rational, ein Museum für ostasiatische Kunst zu eröffnen, wenn es hinreichend viele Personen gibt, die die Präferenz haben, etwas über ostasiatische Kunst zu lernen. Genauso ist es auch nur dann rational, das eigene Leben für die Erforschung des Weltraums zu opfern, wenn es eine wissenschaftliche Gemeinschaft gibt, in deren Interesse eine solche Erforschung liegt. Und es ist auch nur dann falsch, eine Person an die Experience Machine anzuschließen, wenn diese Person die Präferenz hat, nicht konstant getäuscht zu werden. Diese Überlegung lässt sich am modifizierten Beispiel von Steffen und Amrei verdeutlichen: In diesem Fall ist es nur deshalb rational für Steffen, die Überzeugung Amreis zu modifizieren, weil Amrei eine entsprechende intellektuelle Präferenz hat – sie möchte wissen, was für ein Auto ihr Vater gekauft hat. Hätte Amrei keine entsprechende Präferenz, wäre es für Steffen auch nicht rational, Amreis Überzeugungssystem zu modifizieren. Beispielsweise scheint Steffen keinerlei Grund dafür zu haben, Amrei davon zu überzeugen, dass er morgens Müsli zum Frühstück hatte – und das, obwohl er davon ausgehen kann, dass Amrei nicht weiß, dass er Müsli zum Frühstück hatte. Die Überzeugungen anderer sind also nicht im Allgemeinen epistemisch relevant, und dementsprechend ist es auch nicht im Allgemeinen rational, fremde Überzeugungssysteme zu modifizieren. Vielmehr sind die Überzeugungen anderer nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen epistemisch relevant, und somit sind Modifikationen fremder Überzeugungssysteme auch nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen rational. Die Frage ist jedoch, was genau mit diesem Einwand gezeigt werden soll. Schließlich könnte man auf den ersten Blick meinen, dass ein Verfechter epistemischer Toleranz problemlos zustimmen könnte: Denn in den allermeisten Fällen, in denen Toleranzforderungen sinnvoll erscheinen, liegen die fraglichen intellektuellen Präferenzen ja plausiblerweise vor. Im Falle politischer, religiöser oder philosophischer Meinungsverschiedenheiten kann man wohl normalerweise davon ausgehen, dass beide Seiten die intellektuelle Präferenz haben, wahre Überzeugungen bezüglich des strittigen Themas zu bilden. Und in diesen Fällen wäre es dementsprechend unter normalen Umständen auch rational, die falschen Überzeugungen der jeweiligen Gegenseite zu modifizieren. Sofern also durch den Einwand lediglich etabliert werden soll, dass die Modifikation fremder Überzeugungssysteme nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen unseren epistemischen Zielen zuträglich ist, ist überhaupt nicht klar, warum sich hieraus ein Problem für die Rationalität einer epistemisch toleranten Haltung ergeben sollte.

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Problematischer wäre es demgegenüber, wenn der Einwand zeigen würde, dass die Modifikation fremder Überzeugungen nie aus einer rein epistemischen, sondern lediglich aus einer praktischen Perspektive rational sein kann. Denn wenn die Modifikation fremder Überzeugungen nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen rational ist, so die Überlegung, dann ist sie auch nur aus einer rein praktischen Perspektive rational, da ja die Erfüllung von Präferenzen kein epistemisches, sondern ein ethisches Ziel ist. Das Ziel, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren, wäre somit auch ein rein ethisches und kein epistemisches Ziel. Das Problem an dieser Argumentation ist jedoch, dass sie sich ebenso auf Modifikationen des eigenen Überzeugungssystems anwenden lässt. Denn auch Modifikationen des eigenen Überzeugungssystems scheinen aus der Perspektive instrumenteller Rationalität hinsichtlich unserer epistemischen Ziele nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen rational zu sein. Nehmen wir noch einmal das Beispiel von Amrei und Steffen: Zwar wäre es aus epistemischer Perspektive besser, wenn Steffen glauben würde, dass der 1. FC Köln sein letztes Heimspiel verloren hat. Gleichzeitig scheint es aber aus epistemischer Sicht vollkommen unproblematisch zu sein, dass Steffen nicht glaubt, dass die Anzahl der Grashalme auf der Wiese vor ihm ungerade ist – und zwar auch dann, wenn diese Überzeugung wahr wäre. Auch Modifikationen des eigenen Überzeugungssystems scheinen als nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen rational zu sein.127 Natürlich könnte man angesichts dessen nun ganz analog dafür argumentieren, dass

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Stephen Grimm hat sogar dafür argumentiert, dass die Annahme, dass der epistemische Wert von Überzeugungsmodifikationen immer von dem Vorliegen entsprechender intellektueller Präferenzen abhängt, direkt für eine soziale Interpretation epistemischer Normativität spricht (Grimm 2009). Grob zusammengefasst ist seine Argumentation in etwa folgende: Es ist plausibel, davon auszugehen, dass das Erreichen von Wahrheit und die Vermeidung von Falschheit nicht im Allgemeinen, sondern nur vor dem Hintergrund entsprechender intellektueller Präferenzen epistemisch wertvoll sind. Wäre dem nicht so, wäre überhaupt nicht klar, warum es aus rein epistemischer Sicht beispielsweise wertvoll zu sein scheint, Wahrheiten über das Aussterben der Dinosaurier zu entdecken, es jedoch gleichzeitig aus epistemischer Sicht überhaupt nicht wertvoll ist, Wahrheiten über die Anzahl der Staubflusen auf meinem Schreibtisch herauszufinden. Wenn dem jedoch so ist, dann ist es auf den ersten Blick vollkommen mysteriös, warum auch Überzeugungen über die Anzahl der Staubflusen auf meinem Schreibtisch genauso wie alle anderen Überzeugungen aus einer rein epistemischen Perspektive evaluiert werden können. Wenn ich beispielsweise erfahre, dass ich eine ungerechtfertigte Überzeugung über die Anzahl der Staubflusen auf meinem Schreibtisch habe, dann sollte ich diese Überzeugung fallenlassen – und das, obwohl es für mich in keiner Weise epistemisch wertvoll ist, die Wahrheit über die Anzahl der Staubflusen auf meinem Schreibtisch herauszufinden. Diese Intuition lässt sich nun am besten dadurch erklären, dass auch die intellektuellen Präferenzen anderer Personen für mich epistemisch relevant sind. So könnte es etwa sein, dass andere Personen sehr wohl die intellektuelle Präferenz haben, die Wahrheit über die Anzahl der Staubflusen auf meinem Schreibtisch herauszufinden. Dementsprechend wäre es für diese Personen auch epistemisch wertvoll, wahre Überzeugungen über die Anzahl der Staubflusen auf meinem Schreibtisch zu bilden, und aus genau diesem Grund sind auch meine eigenen Überzeugungen über die Anzahl der Staubflusen einer gewöhnlichen epistemischen Evaluation zugänglich: Denn da andere Personen in ihrer Überzeugungsbildung von meinen Überzeugungen

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auch Modifikationen des eigenen Überzeugungssystems nur aufgrund praktischer, aber nie aufgrund rein epistemischer Überlegungen rational sind. Dieses Ergebnis wäre jedoch äußerst kontrovers: Die meisten Erkenntnistheoretiker gehen davon aus, dass es genuin epistemische Ziele gibt, die sich nicht auf praktische Ziele reduzieren lassen, und dass dementsprechend Überzeugungsmodifikationen aus einer rein epistemischen Perspektive instrumentell rational bzw. instrumentell irrational sein können. Das Problem an dem obigen Einwand ist also das folgende: Entweder ist er für die Frage nach der instrumentellen Rationalität einer toleranten Haltung irrelevant, oder er führt zu dem äußerst kontroversen Ergebnis, dass es überhaupt keine genuin epistemischen Ziele gibt, relativ zu denen Überzeugungsmodifikationen mehr oder weniger rational sein können. Somit reicht er in keinem Fall aus, um zu zeigen, dass eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele in dem durch die obige Argumentation nahegelegten Sinne ungeeignet wäre, um für die im Zusammenhang mit epistemischer Toleranz relevante, grundlegende Rationalität der Modifikation fremder Überzeugungen zu argumentieren.128 Dennoch bleibt eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele als Basis einer Argumentation für die Rationalität einer toleranten Haltung problematisch – und sei es nur, weil viele Erkenntnistheoretiker sie für falsch halten. Deshalb möchte ich im Folgenden dafür argumentieren, dass selbst vor dem Hintergrund einer individualistischen Interpretation unserer epistemischen Ziele die Modifikation fremder Überzeugungen in vielen Fällen aus einer rein epistemischen Perspektive rational und eine Argumentation für die instrumentelle Rationalität epistemischer Toleranz somit überhaupt nicht auf eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele angewiesen ist. Nehmen wir etwa an, eine individualistische Interpretation ist korrekt und unser vornehmliches epistemisches Ziel besteht darin, als Einzelpersonen so viele wahre und so wenige falsche Überzeugungen wie möglich zu bilden: Warum sollte es relativ zu diesem epistemischen Ziel instrumentell rational sein, falsche Überzeugungen anderer zu modifizieren? An dieser Stelle mag es auf den ersten Blick verlockend wirken, spezifische philosophische Theorien zu bemühen, die auch schon von anderen Autoren zur Legitimierung kollektivistischer bzw. sozialer Perspektiven auf klassische erkenntnisthe-

abhängig sind, verringert der mangelhafte Rechtfertigungsstatus meiner Überzeugungen die Wahrscheinlichkeit, dass andere Personen epistemisch wertvolle Überzeugungen bilden. Andererseits zieht Grimm aus seinen Überlegungen tatsächlich den Schluss, dass sich epistemische Normativität angesichts ihres sozialen Charakters auf ethische Normativität reduzieren lässt. 128 Das bedeutet natürlich nicht, dass praktische und epistemische Gründe vollkommen unabhängig voneinander sind. Tatsächlich ist es sehr plausibel, dass es hier ganz fundamentale Zusammenhänge gibt. So sollte es beispielsweise unstrittig sein, dass eine gute epistemische Situation, in der man mit genügend relevanten Informationen vertraut ist und Wissen über seine Handlungsoptionen hat, oftmals unverzichtbar für das Erreichen praktischer Ziele ist. Gleichzeitig ist auch denkbar, dass die jeweilige praktische Situation Einfluss auf das Erreichen epistemischer Ziele hat – man denke hier nur an Theorien wie den Subjekt-Sensitiven Invariantismus, demgemäß der Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen von den praktischen Interessen des jeweiligen Subjekts abhängt. Diese gegenseitige Bedingtheit des Praktischen und des Epistemischen spricht jedoch für sich genommen noch in keiner Weise für eine Reduktion des Epistemischen auf das Praktische.

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oretische Probleme genutzt wurden. So argumentiert beispielsweise Sandy Goldberg in seinem Buch „Relying on Others“ für eine soziale Interpretation des Reliabilismus, dergemäß kognitive Prozesse anderer Personen unter spezifischen Umständen konstitutiv für den Rechtfertigungsstatus eigener Überzeugungen sind.129 Ein anderes Beispiel wäre Duncan Pritchard, der in verschiedenen Publikationen für die Möglichkeit von sogenanntem erweiterten Wissen (engl. extended knowledge) argumentiert hat.130 Die Idee ist hierbei, dass es vor dem Hintergrund spezifischer theoretischer Annahmen plausibel ist, davon auszugehen, dass Artefakte konstitutiver Bestandteil unserer kognitiven Prozesse sind, und dass es dementsprechend unter spezifischen Umständen von der Beschaffenheit und Funktionsweise dieser Artefakte abhängt, ob einzelne unserer Überzeugungen Wissen konstituieren oder gerechtfertigt sind. In diesem Zusammenhang betont Pritchard explizit die Rolle anderer Personen, die ja durch ihre kognitive Arbeit erst die Nutzung entsprechender Artefakte ermöglichen und somit direkten Einfluss auf unsere eigene epistemische Situation haben.131 Unter der Voraussetzung solcher Ansätze ließe sich nun direkt dafür argumentieren, dass wir auch vor dem Hintergrund einer individualistischen Interpretation unserer epistemischen Ziele die falschen Überzeugungen anderer modifizieren sollten: Denn wenn andere Personen einen solch unmittelbaren Einfluss auf unsere eigene epistemische Situation haben, dann ist es klar, dass die epistemische Qualität der Überzeugungen anderer für uns selbst von direkter Relevanz sind. Tatsächlich kann man jedoch schnell sehen, dass die Voraussetzung solch kontroverser Theorien überhaupt nicht nötig ist, um für die unmittelbare epistemische Relevanz fremder Überzeugungen zu argumentieren. Hierfür muss man sich nur die kontingenten Bedingungen unserer Erkenntnisbemühungen vor Augen führen: In all unseren Erkenntnisbemühungen sind wir essentiell auf andere Personen angewiesen, unsere epistemische Situation ist genuin sozial. Wir leben in einer Welt des ständigen Informationsflusses, in der wir uns auf andere epistemische Subjekte als Wissensquelle verlassen müssen. Oder wie Sanford Goldberg es in seinem Buch „Relying on Others“ ausdrückt: „[…] [We] rely heavily on others for most of what we take ourselves to know about the world. Ours is the age of the twenty-four-hour news cycle, and of information that is disseminated with the click of a button, through social networks or across the world, by way of the Internet. We have seen a proliferation of sources that disseminate information in this way, and we have come to enjoy an increasing number of new technologies which make access to these sources a constant part of our daily lives. Nor should we forget the more traditional avenues through which others serve our informational needs: in our daily conversations, through the more traditional media (print, radio, TV), and in educational settings (where we learn from teachers and books). Insofar as we acquire our knowledge through any of these routes, we are relying on others […].”132

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Goldberg 2010. Siehe etwa Pritchard 2010, Palermos und Pritchard 2013. 131 Palermos und Pritchard 2013. 132 Goldberg 2010, vi. 130

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Gegeben, dass wir in unseren Erkenntnisbemühungen auf einer derart fundamentalen Ebene auf die epistemische Leistungsfähigkeit anderer angewiesen sind, wird leicht deutlich, inwiefern es auch für den eigenen epistemischen Erfolg relevant ist, ob andere Personen wahre oder falsche Überzeugungen haben. Angesichts des sozialen Charakters unserer intellektuellen Situation können wir die eigenen Chancen auf epistemischen Erfolg verbessern, indem wir unsere soziale Umgebung entsprechend manipulieren. Konkret sollten wir versuchen, uns mit verlässlichen Informationsquellen zu umgeben, um so die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Erkenntnisaustausch zu schaffen. Dieser Punkt wurde auch zumindest im Ansatz schon in der Forschungsliteratur gesehen und diskutiert. So vergleicht etwa Markus Werning in seinem Aufsatz „The Evolutionary and Social Preference for Knowledge“, in dem er für eine reliabilistische Lösung des Menon-Problems argumentiert, die sozialen Dynamiken unserer epistemischen Wirklichkeit mit evolutionsbiologischen Prozessen der Mutation und Selektion. Er schreibt: „It is useful to compare the social scenario to the evolutionary scenario. In the latter the factor responsible for the spread of a trait in a species is an increase in fitness. In the social case, the factor responsible for the spread of a practice in society is an increase in value. […] Since the success of our own truth-seeking activities strongly depends on testimonial beliefs of others being reliably produced, we have developed a culture of positive and negative sanctions regarding the production history of beliefs. The extra value of knowledge is manifest in a practice of providing positive and negative reinforcement which favors reliably produced beliefs over others. Valuing instances of knowledge more than instances of merely true belief is itself a means to make our own beliefs more likely to be true […].”133

Die in dieser Passage zum Ausdruck gebrachte Überlegung ist, dass wir durch eine Manipulation unserer epistemischen Umgebung die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, in Zukunft mehr wahre als falsche Überzeugungen zu bilden. Die spezifische Manipulation, die Werning im Rahmen seiner Beschäftigung mit dem MenonProblem im Sinn hat, besteht in einer Höherwertung von Wissen gegenüber bloß wahrer Überzeugung: Da – vor dem Hintergrund einer reliabilistischen Wissenskonzeption – wissende Subjekte im Gegensatz zu bloß richtig liegenden Subjekten ihre Überzeugungen aufgrund zuverlässiger überzeugunsgbildender Prozesse gebildet haben, besteht auch bei wissenden Subjekten eine höhere Wahrscheinlichkeit, sie in Zukunft als verlässliche Informationsquellen in Anspruch nehmen zu können. Dementsprechend ist es sinnvoll, durch die Höherwertung von Wissen gegenüber bloß wahrer Überzeugung einen Selektionsprozess zu ermöglichen, dessen Ergebnis ein verlässlicheres epistemisches Umfeld ist. Eine solche Argumentation lässt sich nun direkt auf das für uns relevante Problem übertragen: Wenn es aus einer epistemischen Perspektive sinnvoll ist, sich ein Umfeld aus verlässlichen Informationsquellen aufzubauen, um so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, in Zukunft mehr wahre als falsche Überzeugungen zu bilden,

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Werning 2009, 154 f.

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dann ergibt sich hieraus direkt, dass wir auch aus einer rein epistemischen Perspektive im Allgemeinen versuchen sollten, fremde Überzeugungen zu modifizieren, die wir für falsch halten. Denn eine Person, die eine falsche Überzeugung hat, wird erstens auf der Grundlage dieser falschen Überzeugung neue Überzeugungen bilden, die dann mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls falsch sind, und zweitens diese Überzeugung an andere Personen weitergeben, die dann ihrerseits auf der Grundlage dieser Überzeugung weitere Überzeugungen bilden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch sind. Darüber hinaus ist es für Außenstehende kaum möglich, solche inferentiellen und kommunikativen Prozesse, an deren Anfang die fremde, falsche Überzeugung steht, nachzuverfolgen. Betrachten wir etwa folgenden sehr einfachen Fall: Linus und Sibylle wollen ihren ehemaligen Mitbewohner Marvin besuchen, der mittlerweile in Hannover lebt. Marvin erklärt den beiden, dass sie am einfachsten nach Hannover gelangen, wenn sie von Köln aus mit dem Zug fahren und in Hamm umsteigen. Sibylle informiert sich über mögliche Verbindungen, findet heraus, dass der günstigste Zug von Hamm aus um 4 Uhr losfährt, und sagt Linus Bescheid, dass sie um 2 Uhr am Kölner Hauptbahnhof sein müssen. Ein paar Tage vor der geplanten Fahrt stellt sich in einem kurzen Gespräch zwischen Linus und Sibylle heraus, dass Linus selbst noch einmal die Verbindung nachgeguckt hat und davon ausgeht, dass der Anschlusszug in Hamm schon um 3:50 Uhr losfährt. Sibylle lässt sich dadurch jedoch nicht weiter verunsichern, da sie weiß, dass Linus kein Smartphone hat und sich beim Recherchieren von Zugverbindungen auf seine alten Faltfahrpläne verlässt, die oft nicht mehr aktuell sind. Gleichzeitig hält sie es aber auch nicht für nötig, Linus auf seinen Fehler aufmerksam zu machen – schließlich weiß sie ja, wann der Zug in Hamm tatsächlich losfährt, und das sollte schließlich reichen, um problemlos nach Hannover zu gelangen. Linus hat nun jedoch – unbemerkt von Sibylle – große Sorgen, dass die Umsteigezeit in Hamm nicht ausreicht. Er kontaktiert Marvin, der daraufhin versichert, sich über alternative Verbindungen zu informieren. Marvin, der aufgrund des Gesprächs mit Linus davon ausgeht, dass die Umsteigezeit in Hamm zu knapp ist, sucht eine Verbindung über Bielefeld heraus. Da er Linus nicht erreicht, kontaktiert er Sibylle und teilt ihr mit, dass es am einfachsten sei, über Bielefeld zu fahren. Sibylle, die davon ausgeht, dass Marvin besser über die relevanten Zugverbindungen informiert ist, glaubt ihm und geht nun auch davon aus, dass es am einfachsten ist, über Bielefeld zu fahren. Was passiert in diesem Fall? Linus bildet aufgrund einer falschen Überzeugung, die von Sibylle nicht korrigiert wurde, eine weitere falsche Überzeugung, die er an Marvin weitergibt. Marvin dient diese falsche Überzeugung ebenfalls als Grundlage weiterer Überzeugungsbildung. Die daraus resultierende falsche Überzeugung gibt er wiederum an Sibylle weiter, die nun auch eine falsche Überzeugung hat. Für Sibylles eigene epistemische Situation wäre es also besser gewesen, wenn sie die falsche Überzeugung von Linus direkt korrigiert hätte. Nun mag man natürlich berechtigterweise darauf hinweisen, dass es sich hierbei um einen äußerst konstruierten Fall handelt, der nicht sonderlich realistisch ist. Das beschriebene Problem ist das Ergebnis eines sehr unwahrscheinlichen Missverständnisses: Hätten die Beteiligten

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ein wenig besser miteinander kommuniziert, wäre es nie dazu gekommen – so hätte etwa Sibylle lediglich Marvin fragen müssen, warum er glaubt, dass nun doch eine andere Verbindung die bessere sei, und die ganze Verwirrung hätte sich aufgelöst. Doch auch wenn diese Diagnose richtig ist, ändert das nichts daran, dass es sich bei dem anhand des obigen, zugegebenermaßen konstruierten und sehr vereinfachten Beispiels veranschaulichten Phänomen grundsätzlich um ein realistisches und ernstzunehmendes Problem handelt. Denn viele realistische Situationen sind ungleich komplexer, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist: Erstens sind in realistischen Situationen mehr als drei Personen beteiligt – gerade im Zeitalter des Internets haben wir einen Grad kommunikativer Vernetzung erreicht, der es uns ermöglicht, in einem ständigen Informationsaustausch mit unzähligen anderen Personen zu stehen. Dazu kommt, dass gerade im Internet die Personen, von denen wir Informationen erhalten, oft anonym bleiben, sodass wir nicht immer nachvollziehen können, woher die erhaltenen Informationen überhaupt stammen. Phänomene wie Verschwörungstheorien, Gerüchte und Fake News sind eindrucksvolle Beispiele für schädliche epistemische Dynamiken, deren Entstehung und Verbreitung durch unübersichtliche und durch Anonymität geprägte Kommunikationsketten begünstigt werden können. Darüber hinaus sind die Fragen, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen, oftmals auch sehr viel komplexer als in dem obigen Beispiel – meistens reicht eben kein einfacher Blick auf den Fahrplan, um zu einem unstrittigen Ergebnis zu kommen, sondern die zu berücksichtigenden Überlegungen sind komplex und nur schwer gegeneinander abzuwägen. Das gilt insbesondere – und das sollte im Zusammenhang mit der hier verfolgten Argumentation von einiger Bedeutung sein – für solche Themen und Problemstellungen, bei denen Forderungen nach Toleranz besonders häufig anzutreffen sind, wie etwa Religion, Politik oder Moral. Damit die Bewertung einer fremden Überzeugung als falsch einem keinen Grund gibt, diese Überzeugung zu modifizieren, muss also sichergestellt sein, dass diese falsche Überzeugung keine negativen epistemischen Effekte auf das eigene Überzeugungssystem haben wird. Angesichts der dichten epistemischen Vernetzung unserer globalisierten Gesellschaft müssten hierfür jedoch einigermaßen artifizielle Bedingungen vorliegen – es kommt einfach nicht sonderlich oft vor, dass Individuen oder Gemeinschaften dermaßen isoliert sind, dass negative epistemische Rückkopplungseffekte hinreichend unwahrscheinlich sind, um keine Modifikation ihrer falschen Überzeugungen zu rationalisieren. Im Allgemeinen ist es also auch von einem rein egoistischen Standpunkt aus rational, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren: Selbst wenn eine einzelne fremde Überzeugung, die man berechtigterweise für falsch hält, für sich genommen keine unmittelbar schlechten Konsequenzen für das eigene Überzeugungssystem haben muss, so hat sie doch schnell epistemisch infektiöse Effekte, die nicht der eigenen Kontrolle unterliegen und nur schwer nachverfolgbar sind. Diese Effekte können unter Umständen zu einer signifikanten Verschlechterung der epistemischen Qualität des sozialen Umfelds führen, die dann unmittelbare Auswirkungen auf das eigene Überzeugungs-

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system haben würde. Sofern wir uns in Zukunft auf andere Personen als Informationsquellen verlassen müssen, sollten wir also dafür sorgen, dass diese Personen schon jetzt so wenige falsche Überzeugungen wie möglich haben. Bisher sieht es also ganz gut aus für die instrumentelle Rationalität epistemischer Toleranz: Im Allgemeinen haben wir aus einer epistemischen Perspektive gute Gründe, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren. Hierfür muss auch keine kontroverse soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele vorausgesetzt werden – auch wenn eine solche Interpretation vielleicht plausibler sein könnte, als man zunächst denken mag. Um die instrumentelle Rationalität einer toleranten Haltung zu etablieren, müsste nun also nur noch gezeigt werden, dass es trotz der grundsätzlichen Rationalität der Modifikation abweichender Überzeugungen in Fällen, in denen die für falsch gehaltene Überzeugung einer anderen Person gleichermaßen gerechtfertigt ist, aus einer epistemischen Sicht vernünftiger ist, von einer Modifikation abzusehen. Sollte dies gelingen, wäre eine tolerante Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit in allen Fällen, in denen die Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt keine Modifikation der eigenen Überzeugung erforderlich macht, prima facie epistemisch adäquat: Zwar könnte es dann immer noch spezielle Umstände geben, die gegen eine Beibehaltung der eigenen Überzeugung oder für eine Modifikation der fremden Überzeugung sprechen und angesichts derer eine tolerante Haltung irrational wäre – auf einer grundsätzlichen Ebene gäbe es aber nichts gegen eine tolerante Haltung einzuwenden, und die Adäquatheit epistemischer Toleranz müsste dann von Fall zu Fall diskutiert werden. Im folgenden Abschnitt möchte ich also untersuchen, ob in Fällen, in denen eine abweichende Überzeugung gleichermaßen gerechtfertigt ist, eine Duldung dieser Überzeugung vernünftig ist. 4.3.2 Die Duldung gleichermaßen gerechtfertigter Überzeugungen Wenn es grundsätzlich rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren – warum sollte es dann in Fällen, in denen man eine fremde Überzeugung aufgrund guter Gründe für falsch hält, besser sein, von einer Modifikation dieser Überzeugung abzusehen, insofern man auch gute Gründe für die Annahme hat, dass sie gleichermaßen gerechtfertigt ist? Welche epistemischen Vorteile sollte die Duldung fremder Überzeugungen mit sich bringen, die man für falsch, aber gleichermaßen gerechtfertigt hält? Um die Annahme zu plausibilisieren, dass es aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive rational ist, von der Modifikation abweichender, aber gleichermaßen gerechtfertigter Überzeugungen abzusehen, wird oft auf die grundsätzliche Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnisbemühungen hingewiesen. Die grundlegende Idee in diesem Zusammenhang ist ungefähr folgende: Auch wenn es im Allgemeinen rational ist, die falschen Überzeugungen anderer zu modifizieren, wäre es angesichts unserer kognitiven Limitationen intellektuell unverantwortlich, sich einfach uneingeschränkt auf die eigenen geistigen Fähigkeiten zu verlassen – der Versuch, die Überzeugungen anderer den eigenen Überzeugungen anzupassen, stellt zumindest unter bestimmten Umständen eine Form epistemischer Überheblichkeit dar, die

4.3 Ist eine tolerante Haltung instrumentell rational?

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fatale Konsequenzen haben könnte. Denn da sich für falsch gehaltene Überzeugungen im Nachhinein leicht als wahr herausstellen könnten, ist bei der Modifikation fremder Überzeugungen eine gewisse Vorsicht geboten – zumindest die für falsch gehaltenen Überzeugungen anderer, die gleichermaßen gerechtfertigt sind, sollten dementsprechend nicht modifiziert werden. Die Idee, für eine tolerante Haltung aufgrund der Einsicht in die menschliche Fehlbarkeit zu argumentieren, ist tatsächlich alles andere als neu:134 In der philosophischen Toleranzdebatte ist es eine weit verbreitete Überlegung, dass Toleranz aufgrund der grundlegend defizitären epistemischen Situation, in der wir uns befinden, die beste Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten darstellt. Beispielsweise schreibt Hans Jürgen Wendel in seinem Aufsatz „Toleranz und Wahrheit“: „Toleranz entspringt dem Wissen um unser Nichtwissen um die Wahrheit. […] Gefordert ist Duldung abweichender Meinungen oder Handlungen anderer, die man selbst als falsch oder unrichtig verwirft, gerade weil sie auch wahr sein könnten, oder, umgekehrt, die eigenen sich als falsch erweisen könnten.“135

Dieser Gedanke hat eine gewisse philosophische Tradition, ähnliche Argumente finden sich etwa schon bei John Stuart Mill: Im zweiten Kapitel seines Werks On Liberty entwickelt Mill ein einigermaßen simples Argument für Toleranz, das wesentlich auf der Einsicht in die menschliche Fehlbarkeit beruht. So geht Mill davon aus, dass es nur dann gerechtfertigt sein kann, eine fremde, abweichende Meinung zu unterdrücken, wenn man ausschließen kann, dass diese Meinung wahr ist. Aufgrund der grundsätzlichen Fehlbarkeit des Menschen kann man jedoch nie ausschließen, dass abweichende Meinungen wahr sind. Deshalb, so die Überlegung, ist es auch nie gerechtfertigt, eine fremde, abweichende Meinung zu unterdrücken. Mill schreibt: „[…] the opinion which […] is attempted to suppress by authority may possibly be true. Those who desire to suppress it, of course deny its truth; but they are not infallible. They have no authority to decide the question for all mankind, and exclude every other person from the means of judging.“136

Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wird auch klar, warum Toleranzforderungen gerade in solchen Kontexten besonders häufig anzutreffen sind, in denen erstens die Wahrscheinlichkeit epistemischer Fehler besonders hoch ist und es zweitens verschiedene konfligierende Positionen gibt, die nicht offensichtlicherweise falsch sind. Solche Kontexte wären beispielsweise religiöse, ethische, politische oder wissenschaftliche Diskurse. Der grundlegende Gedanke hinter Toleranzforderungen in diesen Kontexten scheint in etwa folgender zu sein: Wenn hier verschiedene Personen zu unterschiedlichen Auffassungen kommen, dann wäre es unvernünftig, seine 134

Siehe etwa Höffe 1979, 473; Mill 2015, Kap. 2; Popper 1984; Sieger 1965, 12 f.; Voltaire et al. 1954, 401, Wendel 2001. 135 Wendel 2001, 182. 136 Mill 2015, 19.

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eigene Position leichtfertig als die einzig richtige anzusehen und zu versuchen, andere von der Falschheit ihrer Position zu überzeugen. Denn da sich unter schwierigen epistemischen Bedingungen leicht jede Position als falsch herausstellen könnte, wäre es klüger, konfligierende Überzeugungen zu tolerieren und so eine fruchtbare Pluralität verschiedener Auffassungen zu kultivieren – ein unvorsichtiger Dogmatismus wäre hier fatal. Was ist von diesem Argument zu halten? Auf den ersten Blick scheint es durchaus plausibel: Angesichts unserer grundlegenden Fehlbarkeit wäre es insbesondere vor dem Hintergrund schwieriger epistemischer Bedingungen intellektuell unverantwortlich, die abweichenden Überzeugungen anderer leichtfertig zu modifizieren, da sich unsere Bewertung dieser Überzeugungen als falsch leicht als falsch herausstellen könnte. Andererseits ist es aber fraglich, inwiefern diese Beobachtung die Grundlage eines Arguments für die Rationalität einer toleranten Haltung bilden kann. Denn eine tolerante Haltung besteht ja nicht einfach in einer gewissen intellektuellen Vorsicht im Umgang mit abweichenden Überzeugungen. Vielmehr basiert eine tolerante Haltung auf einer spezifischen Unterscheidung zwischen ungerechtfertigten und gerechtfertigten Überzeugungen. Die Idee ist, dass die Modifikation abweichender, ungerechtfertigter Überzeugungen rational ist, während die Modifikation abweichender, gerechtfertigter Überzeugungen irrational ist. Darüber hinaus haben wir im Zuge der Diskussion der epistemischen Rationalität intellektueller Toleranz gesehen, dass eine tolerante Haltung nur dann epistemisch rational sein kann, wenn die Bewertung der abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Eine epistemisch tolerante Haltung verlangt also von uns, die abweichenden Überzeugungen anderer nur dann nicht zu modifizieren, wenn sie eine spezifische Eigenschaft aufweisen, die jedoch nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Inwiefern sollte eine solche Haltung nun einen verantwortungsvolleren Umgang mit konfligierenden Überzeugungen ermöglichen? Letztendlich scheint die einer toleranten Haltung zugrundeliegende Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Überzeugungen einigermaßen arbiträr: Warum sollte es im Zusammenhang der Frage, ob wir die konfligierende Überzeugung einer anderen Person modifizieren sollten, epistemisch signifikant sein, ob diese Überzeugung eine spezifische Eigenschaft aufweist, die überhaupt nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht? Tatsächlich gibt es jedoch einige Beispiele, die nahezulegen scheinen, dass die für eine tolerante Haltung charakteristische Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Überzeugungen relevant für die Frage ist, ob wir die konfligierenden Überzeugungen anderer modifizieren sollten oder nicht. Betrachten wir etwa folgendes Beispiel: Tim, Lisa und Amy gehen gemeinsam essen. Während des Essens erzählt Tim, dass er gestern im Zoo gewesen ist. Aufgrund von Tims Aussage bildet Amy nun die Überzeugung, dass Tim gestern im Zoo gewesen ist. Lisa weiß jedoch, dass Tim chronisch unzuverlässig ist, wenn es um seine Freizeitaktivitäten geht. Zwar erzählt er ab und zu auch die Wahrheit, es kommt jedoch öfter vor, dass er sich einfach irgendwelche Geschichten ausdenkt. Dementsprechend

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geht Lisa davon aus, dass Tim gestern nicht im Zoo war. Als sie nach Hause kommt, stellt sich in einem kurzen Gespräch heraus, dass Lisas Neffe Tom ungerechtfertigterweise – etwa aufgrund von Kaffeesatzlesen – davon ausgeht, dass Tim gestern im Theater war. In diesem Fall scheint es nun erstens so zu sein, dass Amy im Gegensatz zu Tom eine gerechtfertigte Überzeugung hat: Denn während Amy, die nichts von Tims themenspezifischer Unzuverlässigkeit weiß, ihre Überzeugung aufgrund von Tims Erzählung gebildet hat, geht Tom lediglich aufgrund der Deutung eines Kaffeesatzes davon aus, dass Tim gestern im Theater war. Darüber hinaus scheint es so zu sein, dass eine Modifikation von Toms Überzeugung weitaus unproblematischer ist als eine Modifikation von Amys Überzeugung. Zwar sind aus der Perspektive von Lisa sowohl Toms, als auch Amys Überzeugung mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch – andererseits gibt es aber auch einen entscheidenden Unterschied: Denn während sich Amys Überzeugung leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte, gilt dies nicht für Toms Überzeugung. Dieser Unterschied scheint nun darauf zurückführbar zu sein, dass Amy und Tom unterschiedliche Gründe für ihre jeweilige Überzeugung haben. So hat Amy ihre Überzeugung aufgrund von Tims Aussage gebildet. Lisa weiß zwar, dass Tim in den meisten Fällen lügt, und dass eine Aussage Tims in den meisten Fällen dementsprechend auch keine gute Basis zur Überzeugungsbildung ist. Andererseits ist es aber auch nicht so, als wäre Tim völlig unzuverlässig: Regelmäßig stellen sich seine Erzählungen überraschend als wahrheitsgemäß heraus. Analoges gilt nicht für Toms Gründe: Toms Überzeugung beruht auf schlechten Gründen, da er nur aufgrund der Deutung eines Kaffeesatzes glaubt, dass Tim gestern im Theater war. Darüber hinaus können sich Toms Gründe auch nicht leicht als gute Gründe entpuppen: Es ist ja nicht so, als hätte Tom die Fähigkeit, regelmäßig zuverlässig durch Kaffeesatzlesen die Freizeitaktivitäten von Personen herauszufinden. Aus Lisas Perspektive sind also sowohl Amys, als auch Toms Überzeugung mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch, allerdings hat Lisa hinsichtlich Amys Überzeugung Grund zur Annahme, dass sie sich leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte. Und aufgrund dessen – so die Überlegung – wäre es aus erkenntnistheoretischer Sicht problematisch, wenn Lisa Amys Überzeugung einfach modifizieren würde. Das Problem ist jedoch, dass der hier relevante Unterschied zwischen Amys und Toms Überzeugung nicht darauf zurückzuführen ist, dass Amys Überzeugung im Gegensatz zu Toms Überzeugung gerechtfertigt ist. Nehmen wir beispielsweise an, Tom wäre durch Kaffeesatzlesen zu dem Schluss gekommen, dass Tim gestern im Zoo war. In diesem Fall wäre Toms Überzeugung nach wie vor ungerechtfertigt, jedoch könnte sich nun aus Lisas Perspektive auch hinsichtlich Toms Überzeugung leicht herausstellen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist – etwa wenn sich herausstellt, dass Tim gar nicht gelogen hat, als er von seinem Zoobesuch erzählt hat. Selbst wenn es also stimmt, dass man abweichende Überzeugungen anderer nur dann modifizieren sollte, wenn man keinen Grund zur Annahme hat, dass sich diese Überzeugungen leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnten,

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dann ergäbe sich hieraus nicht, dass die einer toleranten Haltung zugrundeliegende Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Überzeugungen hinsichtlich der Frage relevant ist, welche abweichenden Überzeugungen wir modifizieren sollten. Denn ob sich eine Überzeugung leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte, hängt nicht davon ab, ob sie gerechtfertigt ist oder nicht. So gibt es einerseits Fälle, in denen sich eine ungerechtfertigte Überzeugung leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte – so etwa Toms Überzeugung in der modifizierten Version des Beispiels, in der er davon ausgeht, dass Tim gestern im Zoo war. Andererseits gibt es aber auch Fälle, in denen sich eine gerechtfertigte Überzeugung nicht leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte: Nehmen wir etwa an, Tim sei vollkommen unzuverlässig, wenn es um seine Freizeitaktivitäten geht, und es wäre geradezu ausgeschlossen, dass er diesbezüglich die Wahrheit sagt. In diesem Fall wäre Amys Überzeugung nach wie vor gerechtfertigt, könnte sich jedoch nicht leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen. Die hinter Forderungen nach epistemischer Toleranz stehende Idee, dass wir angesichts unserer grundsätzlichen Fehlbarkeit vor dem Hintergrund schwieriger epistemischer Bedingungen von der Modifikation abweichender Überzeugungen absehen sollten, insofern diese Überzeugungen gleichermaßen gerechtfertigt sind, ist also einigermaßen problematisch. Das zentrale Problem besteht darin, dass überhaupt nicht klar ist, warum ausgerechnet von der Modifikation gerechtfertigter Überzeugungen abgesehen werden sollte, da ja eine tolerante Haltung ohnehin nur in solchen Fällen in Frage kommt, in denen die Bewertung der abweichenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung spricht. Nun haben die obigen Überlegungen aber ein vom Rechtfertigungsstatus unabhängiges Kriterium nahegelegt, anhand dessen entschieden werden könnte, welche abweichenden Überzeugungen anderer wir modifizieren sollten und welche nicht. Konkret besteht die Idee darin, dass wir genau die abweichenden Überzeugungen anderer tolerieren sollten, von denen wir ausgehen, dass – obwohl sie aus unserer Perspektive wahrscheinlich falsch sind – sie sich leicht als wahrscheinlich wahr herausstellen könnten. Könnte man diesen Vorschlag nicht als Ausgangspunkt einer Argumentation für die epistemische Adäquatheit einer toleranten Haltung nehmen? Selbstverständlich wäre die in diesem Rahmen verteidigte Haltung eine etwas andere als die, um die es bisher ging. Die für Toleranz charakteristische, eine Duldung rationalisierende positive epistemische Evaluation wäre nun nicht mehr eine Bewertung der fremden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt, sondern eine Bewertung der fremden Überzeugung als unter Umständen wahrscheinlich wahr. Trotzdem würde es sich um eine genuine Form epistemischer Toleranz handeln, die zudem eine große Ähnlichkeit mit der bisher diskutierten Haltung aufweist. Dass epistemische Toleranz in dem so verstandenen Sinne epistemisch adäquat sein könnte, scheint auf den ersten Blick plausibel. Als erstes Beispiel hierfür mag der Fall von Amy, Tim und Lisa dienen, es gibt jedoch noch weitaus eindeutigere Fälle. Nehmen wir etwa an, Nick und Lara sind zwei Detektive, die versuchen, einen

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Mordfall aufzuklären. Nick ist nach einer gründlichen Auswertung der ihm verfügbaren Evidenz zu der Überzeugung gekommen, dass Karl der Mörder ist: Abdrücke seiner Schuhe wurden in der Wohnung des Opfers gefunden, Reifenspuren seines Autos vor dessen Haus, und zum Zeitpunkt der Tat war er nachweislich nicht zu Hause. Lara glaubt jedoch nicht, dass Karl der Mörder ist. Denn im Gegensatz zu Nick hat sie mit der Frau von Karls bestem Freund Paul gesprochen. Diese hat ihr versichert, dass Paul der Mörder ist, und dass er darüber hinaus versucht hat, die Spur auf Karl zu lenken, indem er sich dessen Schuhe und das Auto geliehen und Karl zum Zeitpunkt der Tat unter einem Vorwand aus seiner Wohnung gelockt hat. Lara glaubt Pauls Frau, und geht dementsprechend davon aus, dass Paul der Mörder ist. Gleichzeitig ist sie sich aber bewusst, dass gerade in Mordfällen Zeugenaussagen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind und sich glaubwürdig scheinende Zeugen regelmäßig überraschend als Lügner entlarven. Erstens scheint es in diesem Fall vollkommen unproblematisch zu sein, dass Nick und Lara konfligierende Überzeugungen haben. So weiß Nick nichts von Laras Gespräch mit Pauls Frau, und die ihm verfügbare Evidenz spricht eindeutig dafür, dass Karl der Mörder ist. Gleichzeitig ist Lara in ihrer Überzeugung gerechtfertigt, dass Paul der Mörder ist. Zwar hängt es hier schon von den Details des Beispiels ab, was Lara glauben sollte – insbesondere davon, was es genau bedeutet, dass sich Zeugenaussagen regelmäßig als falsch herausstellen. Würde Lara etwa davon ausgehen, dass ungefähr die Hälfte aller Zeugenaussagen falsch sind, sollte sie sich vermutlich des Urteils darüber enthalten, wer der Mörder ist. Sofern sie jedoch davon ausgeht, dass die meisten Zeugenaussagen richtig sind, obwohl sich regelmäßig einige als falsch herausstellen, könnte es durchaus gerechtfertigt sein, davon überzeugt zu sein, dass Paul der Mörder ist. Darüber hinaus könnte es in diesem Fall unter Umständen adäquat sein, wenn Lara Nicks Überzeugung tolerieren würde. Denn einerseits scheint es epistemisch rational, dass Lara angesichts des konfligierenden Urteils von Nick bei ihrer Überzeugung bleibt, dass Paul der Mörder ist – schließlich sprechen die Informationen, die Lara durch das Gespräch mit Pauls Frau erhalten hat, eindeutig dafür, dass die Evidenz, aufgrund derer Nick sein Urteil gebildet hat, irreführend ist. Andererseits könnte es bezüglich der epistemischen Ziele, die Lara verfolgt, rational sein, davon abzusehen, Nicks Überzeugung zu modifizieren. Laras zentrales epistemisches Ziel ist es in diesem Fall, herauszufinden, wer der Mörder ist. Und um dieses Ziel zu erreichen, könnte es sinnvoll sein, Nick zunächst seine Überzeugung zu lassen. Denn auch wenn Lara Pauls Frau zunächst für glaubwürdig hält, weiß sie, dass sich ihre Aussagen leicht als Lügen herausstellen könnten. Somit besteht die Gefahr, Nicks Überzeugung vorschnell zu modifizieren und ihn dadurch auf die falsche Fährte zu locken. Vielleicht wäre es in diesem Fall am klügsten, wenn Lara zunächst versucht, weitere Evidenz für die Unschuld von Karl zu sammeln, während Nick seine nach wie vor relevante Fährte verfolgt und so vielleicht ebenfalls zu überraschenden neuen Erkenntnissen kommt. Hierbei handelt es sich natürlich nur um eine mögliche Konstellation: Unter Umständen könnte es durchaus die bessere Lösung sein, wenn Lara einfach Nick von

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ihrem Gespräch mit Pauls Frau berichtet. In diesem Fall sollte dann auch Nick davon ausgehen, dass Paul der Mörder ist, und trotzdem könnten sich beide nach wie vor dazu entscheiden, sich nicht vorschnell festzulegen und weiterhin auch Karl als möglichen Täter berücksichtigen. Es könnten jedoch genauso gut spezifische Umstände vorliegen, unter denen eine tolerante Reaktion tatsächlich die bessere Lösung wäre. Nehmen wir etwa an, Lara wüsste, dass Nick dermaßen niedergeschlagen wäre, wenn er erfahren würde, dass er die ganze Zeit eine vermutlich falsche Fährte verfolgt hat, dass er für einige Zeit vollkommen unproduktiv wäre. Oder nehmen wir an, Lara wüsste, dass Nick Paul abgrundtief hasst, sodass er schon beim geringsten Verdacht gegen Paul alles tun würde, um ihn hinter Gitter zu bringen. Unter solchen Umständen wäre es vermutlich rational, wenn Lara Nick nicht von dem Gespräch mit Pauls Frau berichtet, weil es in dieser spezifischen Situation hinsichtlich des Ziels, den wahren Mörder zu überführen, am effektivsten wäre, wenn Nick einfach weiter davon ausgeht, dass Karl der Mörder ist. Dass es also zumindest unter spezifischen Bedingungen epistemisch adäquat sein kann, tolerant auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren, scheint einigermaßen plausibel. Wenn man gerechtfertigterweise davon ausgehen kann, dass die abweichende Überzeugung einer anderen Person vermutlich falsch ist, gleichzeitig aber gute Gründe hat, davon auszugehen, dass sich diese Überzeugung leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte, kann es sowohl epistemisch rational sein, bei seiner eigenen Überzeugung zu bleiben, als auch instrumentell rational sein, von einer Modifikation der fremden Überzeugung abzusehen. Typischerweise würden diese Bedingungen etwa in einer Situation erfüllt sein, in der erstens eine konfligierende Überzeugung auf Gründen basiert, angesichts derer unter normalen Umständen diese Überzeugung mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist, in der diese Information aber zweitens zwar einen prima facie Anfechtungsgrund für meine eigene Überzeugung konstituiert, jedoch trotzdem keine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich macht, weil gleichzeitig ein Anfechtungsgrund für diesen Anfechtungsgrund vorliegt, der dafür spricht, dass unter den spezifischen Umständen, die vorliegen, die der konfligierenden Überzeugung zugrundeliegenden Gründe irreführend sind, und in der es drittens eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich der Anfechtungsgrund für den Anfechtungsgrund leicht als irreführend herausstellen könnte. 4.3.3 Fazit In diesem letzten Teil des dritten Kapitels ging es um die Frage, ob bzw. unter welchen Umständen es relativ zu unseren epistemischen Zielen instrumentell rational ist, tolerant auf Meinungsverschiedenheiten zu reagieren. Auch wenn bereits die exakte Identifikation unserer epistemischen Ziele in gewisser Weise kontrovers ist, habe ich mich dabei zunächst auf das vergleichsweise unkontroverse Doppelziel beschränkt, Wahrheit zu erreichen und Falschheit zu vermeiden. Um zu zeigen, dass eine tolerante Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten relativ zu diesem Ziel instrumentell rational ist, müssen zwei verschiedene Annahmen plausibilisiert

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werden. Die erste Annahme ist, dass es im Allgemeinen rational ist, die falschen Überzeugungen anderer Personen zu modifizieren. Die zweite Annahme ist, dass es irrational ist, die für falsch gehaltenen Überzeugungen anderer Personen zu modifizieren, insofern diese Überzeugungen gleichermaßen gerechtfertigt sind. Wie wir gesehen haben, ist die erste Annahme einigermaßen unproblematisch. So könnte man einerseits eine soziale Interpretation unserer epistemischen Ziele bemühen, dergemäß wir diese Ziele nicht nur als Einzelpersonen hinsichtlich unserer individuellen Überzeugungssysteme, sondern im Allgemeinen anstreben sollten. Eine solche Interpretation ist prima facie durchaus plausibel, sodass ein Verfechter epistemischer Toleranz hier einfach die Beweislast verschieben könnte. Tatsächlich hängt von der Plausibilität einer sozialen Interpretation unserer epistemischen Ziele aber nicht allzu viel ab, da sich auch vor dem Hintergrund einer individualistischen Interpretation überzeugende Argumente für die Annahme finden lassen, dass es grundsätzlich rational ist, die falschen Überzeugungen anderer Personen zu modifizieren. Die zugrundeliegende Idee ist dabei, dass wir als Einzelpersonen in unseren Erkenntnisbemühungen fundamental von den Überzeugungen anderer Personen abhängig sind, und dass wir dementsprechend versuchen sollten, unser epistemisches Umfeld in einen möglichst guten Zustand zu bringen. Demgegenüber hat sich die zweite Annahme als wesentlich problematischer erwiesen: Die Überlegung, dass wir angesichts unserer grundsätzlichen Fehlbarkeit besonders vorsichtig sein müssen bei der Modifikation fremder Überzeugungen, die wir für falsch halten, ist zwar zunächst durchaus einleuchtend. Andererseits ist aber überhaupt nicht klar, warum die Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Überzeugungen für die Entscheidung relevant sein sollte, welche fremden Überzeugungen man guten Gewissens modifizieren kann. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass – wie wir im Zuge der Diskussion der epistemischen Rationalität einer toleranten Haltung gesehen haben – der Rechtfertigungsstatus der fremden Überzeugung nicht für die Wahrheit dieser Überzeugung sprechen darf, da eine tolerante Haltung ansonsten epistemisch irrational wäre. Als vielversprechender hat sich in diesem Zusammenhang eine andere Eigenschaft als Entscheidungskriterium erwiesen. So könnte es unter Umständen rational sein, von der Modifikation solcher Überzeugungen abzusehen, die angesichts der verfügbaren Evidenz zwar vermutlich falsch sind, sich aber leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnten. Legt man dieses Kriterium zugrunde, gibt es vermutlich tatsächlich Konstellationen, in denen eine tolerante Haltung sowohl epistemisch rational als auch instrumentell rational relativ zu unseren epistemischen Zielen und somit epistemisch adäquat ist. Gleichzeitig scheint es sich hierbei jedoch um sehr spezifische Konstellationen zu handeln. Lassen sich angesichts dessen überhaupt noch allgemeine Forderungen nach intellektueller Toleranz vernünftigerweise aufrechterhalten? Diese Frage möchte ich im nächsten Kapitel diskutieren.

5. Allgemeine Toleranzforderungen Vermutlich würde niemand behaupten, dass man einfach immer tolerant auf Meinungsverschiedenheiten reagieren sollte. In diesem Sinne dürfte es einigermaßen unproblematisch sein, dass eine tolerante Haltung nur unter spezifischen Umständen die epistemisch adäquate Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit darstellen kann. Trotzdem werden oft allgemeine Forderungen nach Toleranz vertreten, wobei mit allgemeiner Forderung nicht lediglich gemeint ist, dass die spezifischen Bedingungen, unter denen eine tolerante Haltung adäquat ist, auf einer allgemeinen Ebene beschrieben werden. Würde eine allgemeine Forderung nach Toleranz zu vertreten lediglich bedeuten, die allgemeinen Adäquatheitsbedingungen einer toleranten Haltung herauszuarbeiten, um dann unter diesen Bedingungen eine tolerante Haltung zu fordern, wären wir jetzt schon in der Lage, eine solche allgemeine Forderung zu formulieren: Wie wir gesehen haben, ist eine tolerante Haltung vermutlich unter spezifischen Umständen epistemisch adäquat, und dementsprechend sollte man aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive unter diesen Umständen auch tolerant reagieren. Die Idee hinter allgemeinen Forderungen nach Toleranz scheint jedoch vielmehr zu sein, dass zumindest in spezifischen Domänen eine tolerante Haltung grundsätzlich die angemessene Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten darstellt. Beispielsweise scheinen es viele Leute plausibel zu finden, dass hinsichtlich religiöser, politischer oder moralischer Fragen eine tolerante Haltung gegenüber abweichenden Überzeugungen allgemein wünschenswert ist. Doch selbst wenn man allgemeine Toleranzforderungen in diesem Sinne nicht für sonderlich plausibel hält, drängt sich angesichts der obigen Überlegungen die Frage auf, wie oft bzw. unter welchen Umständen die Bedingungen, unter denen eine tolerante Haltung die adäquate Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit darstellt, überhaupt erfüllt sind. Denn auf den ersten Blick scheinen diese Bedingungen außerordentlich spezifisch zu sein – und sofern sie zu spezifisch sind, handelt es sich bei epistemischer Toleranz um keine sonderlich signifikante Haltung. Im Folgenden möchte ich beispielhaft einen konkreten Versuch diskutieren, eine im obigen Sinne allgemeine Toleranzforderung zu verteidigen. Anhand dieser Diskussion wird sich zeigen, unter welchen Voraussetzungen allgemeine Toleranzforderungen sinnvoll sein können, und welche Schwierigkeiten sich bei der Verteidigung solcher Forderungen ergeben. Dabei werde ich mich auf Toleranzforderungen in wissenschaftlichen Kontexten konzentrieren: In der Wissenschaftstheorie gibt es viele Autoren, die explizit davon ausgehen, dass wissenschaftliche Gemeinschaften auf einer ganz grundlegenden Ebene von einem toleranten Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder profitieren würden.137

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Siehe bspw. Chang 2012, Kap. 5.2.2; Fischer 2013, Lacey 2012, Šešelja et al. 2015.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_5

5. Allgemeine Toleranzforderungen

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Um diese These zu verteidigen, müsste gezeigt werden, dass die im letzten Kapitel herausgearbeiteten, spezifischen Bedingungen, unter denen eine tolerante Haltung epistemisch adäquat ist, in wissenschaftlichen Kontexten grundsätzlich erfüllt sind. So müsste erstens gezeigt werden, dass es im Bereich der Wissenschaft grundsätzlich rational ist, abweichende Überzeugungen als in dem für eine tolerante Haltung charakteristischen Sinne epistemisch positiv zu bewerten. Konkret bedeutet das, dass es im Bereich der Wissenschaft grundsätzlich rational ist, davon auszugehen, dass sich abweichende Überzeugungen leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnten. Zweitens müsste gezeigt werden, dass es im Bereich der Wissenschaft epistemisch vorteilhaft wäre, abweichende Überzeugungen, die sich leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnten, zu dulden. Denn nur weil es in spezifischen Einzelsituationen epistemisch vorteilhaft ist, solche Überzeugungen zu dulden, bedeutet das noch nicht, dass es ebenfalls epistemisch vorteilhaft wäre, wenn in einer spezifischen Domäne einfach alle solche Überzeugungen geduldet werden. Und letztendlich müsste gezeigt werden, dass es im Falle wissenschaftlicher Meinungsverschiedenheiten grundsätzlich epistemisch rational ist, an seiner Überzeugung festzuhalten. Denn nur weil die für eine tolerante Haltung charakteristische positive epistemische Evaluation konfligierender Überzeugungen für sich genommen noch keine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich machen muss, bedeutet das nicht, das nicht in vielen Fällen aufgrund anderer Faktoren eine Überzeugungsmodifikation geboten ist. Im Folgenden möchte ich alle drei Annahmen nacheinander diskutieren. Warum sollte man im Bereich der Wissenschaft davon ausgehen, dass sich alle abweichenden Überzeugungen leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnten? Um diese Annahme zu plausibilisieren, verweisen Wissenschaftstheoretiker gerne auf die Wissenschaftsgeschichte: Ein Blick auf den Verlauf wissenschaftlichen Fortschritts, so die Überlegung, zeigt, dass sich in der Vergangenheit regelmäßig Theorien, die als falsch galten, überraschend als besonders leistungsstark herausgestellt haben, und sich gleichzeitig vermeintlich gut gestützte Theorien überraschend als falsch erwiesen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die historische Entwicklung der medizinischen Forschung zu Ursachen von Magengeschwüren:138 Bereits im Jahr 1875 wurde die Vermutung geäußert, dass Magengeschwüre durch bakterielle Infektionen entstehen. Ungefähr zeitgleich entstand eine alternative Hypothese, nach der eine Übersäuerung des Magens die Ursache für das Entstehen von Magengeschwüren darstellt. Zunächst entwickelten sich beide Theorien parallel: Auf der einen Seite gab es eine Reihe bakterieller Befunde in Leichen mit Magengeschwüren, andererseits sprach die erfolgreiche Behandlung von Magengeschwüren mit säurebindenden Medikamenten für die alternative Erklärung. Einen entscheidenden Impuls erhielt die Debatte durch eine Studie aus dem Jahr 1954 mit dem Ergebnis, dass eine Infektion des menschlichen Magens durch Bakterien nicht möglich sei. Nach Veröffentlichung dieser Studie war die wissenschaftliche Gemeinschaft fest davon überzeugt, dass eine Übersäuerung des Magens die 138

Eine ausführliche Diskussion dieses Beispiels findet sich bei Zollman 2010.

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5. Allgemeine Toleranzforderungen

Ursache für das Entstehen von Magengeschwüren sein muss. Zwar gab es in der Folgezeit noch einige wenige Wissenschaftler, die weiter an der Bakterien-Hypothese arbeiteten und tatsächlich auch immer mehr bestätigende Evidenz für diese Hypothese akkumulieren konnten. Diese Studien wurden jedoch entweder gar nicht erst veröffentlicht, oder fanden trotz Veröffentlichung kaum Beachtung. Eine breitere Öffentlichkeit erreichten die Vertreter der Bakterien-Hypothese erst, als sich die Therapie von Magengeschwüren mit Hilfe von säurebindenden Mitteln im Laufe der Zeit doch als wenig zufriedenstellend herausstellte. Ein endgültiger Wandel wurde erreicht, als eine bereits 1979 durchgeführte Studie, in deren Rahmen Heliobacter-Bakterien in den Mägen von Magengeschwürpatienten entdeckt wurden, 1984 veröffentlicht werden konnte. Ab diesem Zeitpunkt setzte sich die BakterienHypothese relativ schnell gegen die Säure-Hypothese durch, die Autoren der Studie erhielten für ihre Arbeit im Jahr 2005 sogar den Nobelpreis für Medizin. Hierbei handelt es sich nur um eines von vielen Beispielen, in denen sich eine vermeintlich schwach gestützte Theorie überraschend als bester verfügbarer Kandidat herausgestellt hat. Tatsächlich ist die Wissenschaftsgeschichte voll von solchen Beispielen. Thomas Kuhn hat sich in seinem Buch „The Structure of Scientific Revolutions“ sogar zu der Behauptung hinreißen lassen, dass Einsteins allgemeine Relativitätstheorie in gewisser Weise mehr Ähnlichkeit mit der aristotelischen Physik als mit der newtonschen Mechanik aufweist 139 – weniger kontroverse Beispiele für wissenschaftliche Theorien, die zunächst für unplausibel gehalten wurden, sich aber im Endeffekt ganz unvorhersehbar als sehr leistungsstark herausgestellt haben, wären etwa die heliozentrische Theorie von Kopernikus, die von Galilei bestätigt werden konnte, die Selektionstheorie von Darwin, die erst im Zuge der Entwicklung der synthetischen Evolutionstheorie breite Akzeptanz fand, oder die Lichtquantenhypothese von Planck, die von Einstein entscheidend weiterentwickelt wurde. Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte kam es also tatsächlich regelmäßig zu unerwarteten Bestätigungen von Theorien, die bis dahin von einem Großteil der wissenschaftlichen Gemeinschaft abgelehnt worden waren. Die Idee ist nun, dass all diese Beispiele zeigen, wie grundlegend unvorhersehbar wissenschaftlicher Fortschritt ist, und dass angesichts dessen grundsätzlich für alle wissenschaftlichen Theorien gilt, dass sie sich leicht als bester verfügbarer Kandidat herausstellen könnten. Ein offensichtliches Problem an dieser Überlegung ist jedoch, dass sie an entscheidender Stelle von strittigen empirischen Annahmen abhängt. Ist wissenschaftlicher Fortschritt wirklich grundsätzlich chaotisch und unvorhersehbar? Um diese Behauptung zu stützen, reicht es nicht, auf einige spektakuläre Einzelbeispiele zu verweisen. Vielmehr müssten systematische Untersuchungen durchgeführt werden, um herauszufinden, wie oft und unter welchen Umständen sich für falsch gehaltene Theorien überraschend als wahr herausgestellt haben. Wie das Ergebnis solcher Untersuchungen ausfällt, ist jedoch erst einmal völlig offen: Denn neben den ganzen Beispielen, in denen sich eine vorschnell aufgegebene

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Kuhn 1970, 206 f.

5. Allgemeine Toleranzforderungen

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oder erst gar nicht beachtete Theorie unerwartet als besonders leistungsstark herausgestellt hat, wird es auch sehr viele Beispiele geben, in denen eine relativ früh etablierte Theorie im Laufe der Zeit immer besser gestützt und letztendlich als tatsächlich beste Alternative bestätigt werden konnte. Ein Beispiel hierfür könnte etwa die Oxidationstheorie sein, die im 18. Jahrhundert von Antoine Laurent de Lavoisier entwickelt wurde, schnell die bis dahin vorherrschende Phlogistontheorie ablöste und bis heute immer weiter modifiziert und erweitert werden konnte. Um die Behauptung zu plausibilisieren, dass sich aufgrund der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit wissenschaftlichen Fortschritts alle wissenschaftlichen Theorien leicht als bester verfügbarer Kandidat herausstellen könnten, müsste also zunächst weitere empirische Arbeit geleistet werden. Nehmen wir jedoch an, wissenschaftlicher Fortschritt wäre tatsächlich auf einer grundsätzlichen Ebene dermaßen chaotisch und unvorhersehbar, dass man hinsichtlich aller Theorien davon ausgehen sollte, dass sie sich leicht als bester Kandidat herausstellen könnten. Bedeutet das, dass wissenschaftliche Gemeinschaften von einer toleranten Haltung ihrer Mitglieder profitieren würden? Wie wir gesehen haben, gibt es Einzelfälle, in denen es durchaus vorteilhaft ist, eine Überzeugung deshalb zu tolerieren, weil sie sich leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnte. Lässt sich dieses Ergebnis verallgemeinern? Sollten in wissenschaftlichen Gemeinschaften, in denen sich jede Theorie überraschend als bester verfügbarer Kandidat herausstellen könnte, auch alle Theorien toleriert werden? Viele Wissenschaftstheoretiker gehen davon aus, dass wissenschaftliche Gemeinschaften von einer toleranten Haltung profitieren würden, weil eine tolerante Haltung zu einem wünschenswerten Pluralismus verschiedener, miteinander konfligierender Auffassungen führt. Die Überlegung ist dabei, dass Theorien, die sich leicht als bester verfügbarer Kandidat herausstellen könnten, nicht einfach aufgegeben werden sollten, bloß weil sie angesichts der gegenwärtig verfügbaren Evidenz unplausibel erscheinen. So wurde in der Vergangenheit wissenschaftlicher Fortschritt oft dadurch verlangsamt, dass schwach gestützte Theorien vorschnell aufgegeben und nicht weiter verfolgt wurden, die sich im Nachhinein überraschend als beste verfügbare Kandidaten herausstellten. Das führte im besten Fall dazu, dass eine Zeit lang alle verfügbaren Ressourcen auf die Weiterentwicklung inadäquater Theorien verschwendet wurden, während bessere Alternativen bereits zur Verfügung gestanden hätten. Im schlimmsten Fall führte es dazu, dass vielversprechende Theorien vollständig in Vergessenheit gerieten und erst wieder mühsam von Grund auf neu entwickelt werden mussten. Eine pluralistisch strukturierte Gemeinschaft, in der eine Vielzahl verschiedener Ansätze gleichzeitig und nicht nur die gegenwärtig bestgestützte Theorie verfolgt wird, kann – so die Überlegung – dieses Problem nun effektiv vermeiden. Hasok Chang illustriert diesen Gedanken anhand folgender Analogie: “Once eliminated and forgotten, avenues of inquiry will be very difficult and costly to reinvent […]. If we are looking for someone lost in the wilderness and we don’t know which direction he/she has gone, would we round up all the available people into one search party

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5. Allgemeine Toleranzforderungen

and send them in the direction we conjecture to be most likely? Or would we spread people out a bit?”140

Was ist von dieser Argumentation zu halten? Meiner Meinung nach gibt es auch hier wieder einige Probleme. So ist zunächst fraglich, ob tolerante wissenschaftliche Gemeinschaften tatsächlich zwangsläufig pluralistischer sind als intolerante wissenschaftliche Gemeinschaften. Zwar scheint diese Annahme auf den ersten Blick durchaus plausibel: Da für eine tolerante Haltung angesichts einer Meinungsverschiedenheit sowohl das Beibehalten der eigenen Überzeugung, als auch die Unterlassung jedweden Versuchs der Modifikation der fremden Überzeugung charakteristisch ist, werden in einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich tolerant verhalten, Meinungsverschiedenheiten nicht aufgelöst. Tolerante Personen einigen sich darauf, sich nicht einig zu sein, sodass Dissense stabilisiert und eine Diversität verschiedener Auffassungen konserviert wird. Auf der anderen Seite ist der Zusammenhang zwischen Toleranz und Pluralität klarerweise begrenzt: So ist es zunächst wichtig, zu bemerken, dass eine Meinungspluralität durch Toleranz lediglich konserviert, nicht aber generiert werden kann. Als Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit setzt Toleranz vielmehr schon das Vorhandensein konfligierender Ansichten voraus. Sind innerhalb einer intellektuellen Gemeinschaft erst einmal verschiedene konfligierende Überzeugungen gebildet worden, kann die so entstandene Diversität durch ein tolerantes Verhalten der einzelnen Mitglieder effektiv stabilisiert werden – zur Entstehung von Diversität trägt eine tolerante Haltung jedoch selbst nichts bei. Die Annahme, dass tolerante Gemeinschaften pluralistischer sind als intolerante Gemeinschaften, ist also mit Vorsicht zu genießen: Zwar begünstigt Toleranz unter gewissen Umständen Pluralität, ein Garant für Pluralität ist Toleranz aber mit Sicherheit nicht. Nehmen wir jedoch an, tolerante Gemeinschaften sind tatsächlich pluralistischer als intolerante Gemeinschaften. Ist der durch eine tolerante Haltung gewährleistete Pluralismus verschiedener, miteinander konfligierender Auffassungen epistemisch vorteilhaft für wissenschaftliche Gemeinschaften? In gewisser Weise scheint ein solcher Pluralismus tatsächlich vorteilhaft. Denn in einer pluralistischen Gemeinschaft werden auch scheinbar schwach gestützte Theorien aufrechterhalten. Forscher, die an solchen Theorien arbeiten, stehen unter keinem Druck, sich dem wissenschaftlichen Mainstream anzupassen, sondern können genauso wie alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft ihre Ergebnisse publizieren und haben einen gleichberechtigten Anspruch auf Stellen, finanzielle Unterstützung und andere Mittel. So können längerfristig größere Ressourcen in die Erforschung und Weiterentwicklung ungewöhnlicher, spekulativer Projekte investiert werden. Da sich vermutlich einige dieser Projekte im Laufe der Zeit überraschenderweise als sehr leistungsstark herausstellen würden, könnte in vielen Bereichen wissenschaftlicher Fortschritt be-

140

Chang 2012, 271.

5. Allgemeine Toleranzforderungen

125

schleunigt werden. Denn in vielen Fällen, in denen sich eine lange Zeit als Standardtheorie etablierte Auffassung unerwartet als falsch herausstellt, stünden unmittelbar weit entwickelte Alternativen zur Verfügung.141 Doch auch wenn eine pluralistische Struktur diesen spezifischen Vorteil hätte, gibt es auf der anderen Seite ebenso eine ganze Reihe spezifischer Nachteile zu beachten. Ein offensichtlicher Nachteil besteht darin, dass pluralistische Gemeinschaften – selbst wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines gegebenen Zeitraums mehr wahren Output als nicht-pluralistische Gemeinschaften generieren – ebenso mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr falschen Output generieren als nichtpluralistische Gemeinschaften. Betrachten wir hierzu ein Beispiel: Nehmen wir an, in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft A werden zum Zeitpunkt t0 insgesamt drei Theorien – X, Y und Z – vertreten. Theorie X ist die mit Abstand am besten gestützte Theorie, aber da sich die Mitglieder von A tolerant verhalten, gibt es auch zum späteren Zeitpunkt t1 genügend Mitglieder, die an Y oder Z arbeiten. Anders verhält es sich in Gemeinschaft B: Auch hier wurden zum Zeitpunkt t0 die Theorien X, Y und Z vertreten. Aufgrund des intoleranten Verhaltens der Mitglieder von B standen jedoch alle Mitglieder unter Druck, die nicht an der bestgestützten und dementsprechend von der Mehrheit vertretenen Theorie X arbeiteten. Dementsprechend weist B zum Zeitpunkt t1 eine monistische Struktur auf – alle Mitglieder arbeiten mittlerweile nur noch an X. Zu einem späteren Zeitpunkt t2 taucht nun sowohl in A, als auch in B neue Evidenz auf, die eindeutig belegt, dass Theorie X falsch und Y korrekt ist. Hat A aufgrund der toleranten Haltung seiner Mitglieder in dieser Situation nun einen epistemischen Vorteil gegenüber B? In gewisser Weise ja: Schließlich wurde in A zwischen t1 und t2 wenigstens ein Teil der verfügbaren Ressourcen in die Entwicklung der tatsächlich korrekten Theorie investiert, während in B in diesem Zeitraum sämtliche Ressourcen in die Entwicklung einer falschen Theorie investiert wurden. Auf der anderen Seite hat Gemeinschaft A zwischen t1 und t2 aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mehr falschen Output generiert als Gemeinschaft B. Denn während in Gemeinschaft B in diesem Zeitraum nur eine falsche Theorie verfolgt wurde, wurden in Gemeinschaft A gleich zwei falsche Theorien verfolgt. An dieser Stelle könnte man natürlich einwenden, dass es nicht relevant ist, in wie viele verschiedene falsche Theorien verfügbare Ressourcen investiert wurden, sondern dass stattdessen lediglich relevant ist, welcher Anteil der verfügbaren Ressourcen in die Entwicklung falscher Theorien investiert wurde. Und in dieser Hinsicht steht Gemeinschaft B schlechter da als Gemeinschaft A: Denn während in B alle verfügbaren Ressourcen zwischen t1 und t2 in die Entwicklung falscher Theorien investiert wurden, wurde in A nur ein Teil der verfügbaren Ressourcen in die Entwicklung falscher Theorien investiert. Diese Überlegung ist jedoch vermutlich nicht ganz richtig: Tatsächlich dürfte nicht nur relevant sein, welchen Anteil der verfügbaren Ressourcen eine wissenschaftliche Gemeinschaft in die Entwicklung falscher Theorien investiert, sondern 141

Dieses Argument findet sich etwa bei Ebd., Kap. 5.2.2; Fischer 2013.

126

5. Allgemeine Toleranzforderungen

auch, wie diese Ressourcen verteilt werden. Der Grund hierfür ist, dass die Investition von Ressourcen in die Entwicklung von Theorien einen abnehmenden Grenznutzen haben wird: Eine Verdopplung der Ressourcen, die in die Entwicklung einer Theorie investiert werden, wird nicht automatisch zu einer Verdopplung des Outputs führen, der aus der Entwicklung dieser Theorie entsteht. Dementsprechend wird der durch die Investition einer bestimmten Menge an Ressourcen ermöglichte Output umso größer sein, je weniger Ressourcen bereits investiert wurden. Aus diesem Grund ist es plausibel, dass Gemeinschaft A im fraglichen Zeitraum zwar mehr wahren, aber ebenso mehr falschen Output generiert hat als Gemeinschaft B. Somit ist überhaupt nicht klar, ob pluralistische Gemeinschaften gegenüber nicht-pluralistischen Gemeinschaften einen epistemischen Vorteil im Sinne des obigen Arguments haben: Selbst unter Umständen, unter denen eine wissenschaftliche Gemeinschaft maximalen epistemischen Nutzen aus ihrer pluralistischen Struktur ziehen konnte, da sich eine gut gestützte Theorie als falsch und stattdessen eine nur dank des toleranten Verhaltens der einzelnen Mitglieder aufrechterhaltene, schwach gestützte Alternative als korrekt herausgestellt hat, ergeben sich durch pluralistische Strukturen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch spezifische epistemische Nachteile. Denn dass in einer pluralistischen Gemeinschaft neben der am besten gestützten Theorie noch genau eine Alternativtheorie aufrechterhalten wird, die sich dann im Endeffekt als korrekt herausstellt, ist extrem unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist es, dass eine ganze Vielzahl verschiedener Alternativen entwickelt und weiterverfolgt wird, von denen sich dann im besten Fall eine als leistungsstark herausstellt. Das bedeutet, dass in pluralistischen Gemeinschaften oft mehr falsche Theorien auf einmal verfolgt werden als in nicht-pluralistischen Gemeinschaften, was aufgrund des abnehmenden Grenznutzens der verfügbaren Ressourcen im Endeffekt vermutlich dazu führt, dass pluralistische Gemeinschaften im Vergleich zu nicht-pluralistischen Gemeinschaften mehr falschen Output generieren. Natürlich handelt es sich hierbei um eine vergleichsweise spekulative Überlegung, und ob die dadurch ausgedrückte Sorge berechtigt ist, hängt in erster Linie von empirisch zu beantwortenden Fragen ab – das gilt insbesondere für die Behauptung, dass in Forschungsprojekte investierte Ressourcen einen abnehmenden Grenznutzen haben. Letztendlich müsste an dieser Stelle auch mehr über die genaue Ausformulierung der epistemischen Ziele, um die es geht, gesagt werden. Bisher wurde die Adäquatheit einer epistemisch toleranten Haltung stets vor dem Hintergrund des sehr allgemeinen Ziels diskutiert, Wahrheit zu erreichen und Falschheit zu vermeiden. In der konkreten Anwendung auf wissenschaftliche Gemeinschaften ist jedoch zunächst überhaupt nicht klar, wie dieses Ziel genau interpretiert werden sollte: Geht es um zwei voneinander unabhängige Ziele, nämlich einerseits um die Vermeidung von Falschheit und andererseits um das Erreichen von Wahrheit? Oder geht es vielmehr darum, ein möglichst günstiges Verhältnis von Wahrheit zu Falschheit zu erreichen? Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist auch, ob alle wahren Überzeugungen denselben epistemischen Wert haben, oder ob stattdessen zwischen unterschiedlich relevanten Überzeugungen differenziert werden sollte.

5. Allgemeine Toleranzforderungen

127

Entscheidend ist jedoch, dass es neben all diesen Schwierigkeiten noch ganz andere Probleme gibt, die sich für wissenschaftliche Gemeinschaften aufgrund pluralistischer Strukturen ergeben könnten. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche spezifische Form von Pluralismus durch eine tolerante Haltung überhaupt begünstigt wird: Toleranz in dem hier relevanten Sinne ist immer Toleranz gegenüber abweichenden Überzeugungen. Dementsprechend ist der durch eine tolerante Haltung begünstigte Pluralismus auch ein Pluralismus konfligierender Überzeugungen. Tolerante wissenschaftliche Gemeinschaften wären also dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen verschiedene Forscher an verschiedenen Theorien arbeiten, wobei alle von der Wahrheit ihrer jeweiligen Theorie überzeugt sind. Eine solch starke Form der Diversität ist jedoch – bei allen möglichen Vorteilen – durchaus problematisch. Denn Überzeugungen begünstigen die Entstehung verschiedener kognitiver Verzerrungen und sozialer Dynamiken, die negative epistemische Konsequenzen haben. Ein Beispiel für eine mit Überzeugungen einhergehende kognitive Verzerrung ist der sogenannte Bestätigungsfehler (engl. confirmation bias):142 Menschen neigen dazu, nur solche Informationen auszuwählen und zu verarbeiten, die ihre bereits bestehenden Überzeugungen bestätigen. Informationen, die gegen die Wahrheit der eigenen Überzeugungen sprechen, werden entweder gar nicht erst registriert oder schneller wieder vergessen. Eine weitere in diesem Zusammenhang relevante kognitive Verzerrung ist der sogenannte Überzeugungsbias (engl. belief bias):143 Menschen neigen dazu, sich bei der Bewertung der Gültigkeit logischer Schlüsse von der Übereinstimmung der jeweiligen Konklusion mit ihren bereits bestehenden Überzeugungen beeinflussen zu lassen. Argumente, deren Konklusion mit entsprechenden Vorüberzeugungen übereinstimmen, werden dabei eher als gültig bewertet als solche, deren Konklusion im Konflikt mit bereits gebildeten Überzeugungen steht. Ähnliche Konsequenzen hat der sogenannte Backfire-Effekt:144 Angesichts konfligierender Meinungen neigen Menschen dazu, ihre eigenen Überzeugungen nicht abzuschwächen, sondern zu verstärken. Ein Beispiel für eine epistemisch unvorteilhafte soziale Dynamik, die durch Überzeugungen begünstigt wird, ist das Phänomen des sogenannten Gruppendenkens (engl. groupthink):145 Menschen in Gruppen neigen dazu, ihre persönlichen Überzeugungen den von ihnen antizipierten Gruppenüberzeugungen anzupassen, um Konflikte mit der Gruppe von Vornherein zu vermeiden. Dadurch werden einerseits irrationale Prozesse der Überzeugungsbildung begünstigt, andererseits werden intellektuelle Autonomie und Kreativität unterdrückt. Hinzu kommt, dass intellektuelle Gruppen meist zu radikaleren Ergebnissen als Einzelpersonen kommen – die-

142

Siehe etwa Frimer et al. 2017, Jones und Sugden 2001, Oswald und Grosjean 2004, Taber und Lodge 2006. 143 Siehe etwa Dawson et al. 2016, Kahan et al. 2017, Markovits und Nantel 1989. 144 Siehe etwa Nyhan und Reifler 2010. 145 Siehe etwa Park 1990.

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5. Allgemeine Toleranzforderungen

ser Effekt wird in der Psychologie als Gruppenpolarisation (engl.: attitude polarization) bezeichnet.146 Pluralistische Strukturen, durch die sich verschiedene Untergruppen mit jeweils konfligierenden Überzeugungen bilden, sind also aus einer epistemischen Perspektive höchst problematisch: Sie führen dazu, dass Individuen ihre Überzeugungen radikalisieren und verstärken, sich gegen Einwände immunisieren und neue Evidenz irrational verarbeiten. In ihrem Aufsatz „Disagreement and the Division of Epistemic Labor“ haben Bjørn G. Hallsson und Klemens Kappel demgegenüber dafür argumentiert, dass die verschiedenen kognitiven Verzerrungen, die mit einem Pluralismus konfligierender Überzeugungen einhergehen, nicht unbedingt problematisch sein müssen, sondern im Falle wissenschaftlicher Gemeinschaften sogar spezifische Vorteile mit sich bringen können.147 Dabei verweisen sie zunächst auf verschiedene empirische Studien, die nahelegen, dass intellektuelle Gemeinschaften, in denen die einzelnen Mitglieder miteinander konfligierende Überzeugungen bezüglich einer Frage haben, zuverlässiger und effektiver darin sind, diese Frage korrekt zu beantworten, als homogene Gruppen, in denen alle oder die meisten Mitglieder derselben Meinung sind. Diesen epistemischen Vorteil erklären Hallsson und Kappel nun vor dem Hintergrund der durch Überzeugungen hervorgerufenen kognitiven Verzerrungen: Diese kognitiven Verzerrungen führen nämlich dazu, dass Personen besonders gut darin sind, die Vorteile der eigenen Position herauszuarbeiten, und Schwächen konfligierender Positionen offenzulegen. Sofern nun alle Positionen durch in etwa gleich starke Gruppen repräsentiert werden, kann dies dazu führen, dass die Gesamtgruppe letztendlich epistemisch leistungsstärker ist. Doch selbst wenn diese Argumentation korrekt ist, ergibt sich hieraus noch nicht zwangsweise, dass ein Pluralismus konfligierender Überzeugungen epistemisch vorteilhaft für wissenschaftliche Gemeinschaften ist. So weisen Hallsson und Kappel selbst explizit darauf hin, dass die mit konfligierenden Überzeugungen einhergehenden kognitiven Verzerrungen trotz der spezifischen Vorteile auch im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen grundsätzlich problematisch sind – es müsste also zunächst gezeigt werden, ob und vor allem unter welchen spezifischen Umständen die epistemischen Vorteile dieser kognitiven Verzerrungen die entsprechenden Nachteile überwiegen. Tatsächlich sind die Bedingungen, unter denen in den von Hallson und Kappel zitierten Studien epistemische Vorteile kognitiver Verzerrungen nachgewiesen werden konnten, einigermaßen spezifisch und genau kontrolliert – inwiefern sich hieraus also ohne Weiteres Rückschlüsse auf real existierende wissenschaftliche Gemeinschaften ziehen lassen, ist zumindest fraglich. Darüber drängt sich auch die Frage auf, ob die spezifischen Vorteile eines Pluralismus konfligierender Überzeugungen nicht auch durch alternative Strategien erreicht werden können. Sofern der epistemische Vorteil darin besteht, dass Personen, die bereits eine Überzeugung gebildet haben, besonders gut darin sind, Stärken der eigenen Position und Schwächen abweichender Positionen zu erkennen, könnte 146 147

Burnstein und Sentis 1981. Vgl. zum Folgenden Hallsson und Kappel 2018.

5. Allgemeine Toleranzforderungen

129

man vielleicht versuchen, diese Effekte einfach künstlich herbeizuführen. So könnte man etwa einzelne Wissenschaftler explizit damit beauftragen, den Advocatus Diaboli zu spielen und so konsequent wie möglich nach Schwächen spezifischer Positionen zu suchen. Mithilfe solcher und ähnlicher Strategien wäre es unter Umständen möglich, die epistemischen Vorteile kognitiver Verzerrungen nutzen zu können, ohne die damit einhergehenden Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. 148 Letztendlich müssten neben den Konsequenzen eines Pluralismus konfligierender Überzeugungen für die jeweilige wissenschaftliche Gemeinschaft auch Konsequenzen für andere Gemeinschaften mit einbezogen werden. Da wissenschaftliche Gemeinschaften einen außergewöhnlichen epistemischen Einfluss auf andere Gemeinschaften haben, ist dieser Punkt nicht zu unterschätzen: So könnte es sich etwa herausstellen, dass wissenschaftliche Gemeinschaften, die durch einen Pluralismus konfligierender Überzeugungen geprägt sind, von der Öffentlichkeit als weniger leistungsfähig angesehen werden. Das Ausbleiben zügiger und eindeutiger Ergebnisse und das Fortbestehen stabiler Dissense könnte als Indikator für fehlende Kompetenz, mangelhafte Standards oder defizitäre Strukturen gewertet werden. Das Ergebnis wäre ein verminderter epistemischer Einfluss, was unter Umständen fatale epistemische Konsequenzen haben könnte. Ein Beispiel für dieses Phänomen wäre vielleicht die gegenwärtige Situation der akademischen Philosophie: Dass die philosophische Gemeinschaft selbst hinsichtlich grundlegendster Fragestellungen von stabilen Dissensen geprägt ist, könnte zumindest teilweise eine Erklärung für den auffällig geringen Einfluss der akademischen Philosophie auf die öffentliche Meinungsbildung sein. Auch wenn ein Pluralismus konfligierender Überzeugungen also tatsächlich aufgrund der dadurch begünstigten kognitiven Verzerrungen epistemische Vorteile für die jeweilige wissenschaftliche Gemeinschaft hat, bedeutet das noch nicht, dass die Gesamtheit der relevanten epistemischen Konsequenzen eines solchen Pluralismus vorteilhaft ist. Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass es aus erkenntnistheoretischer Perspektive insgesamt vorteilhaft wäre, wenn wissenschaftliche Gemeinschaft von epistemischer Toleranz geprägt wären, ergeben sich spätestens dann eindeutige Probleme, wenn man die epistemische Rationalität einer toleranten Haltung berücksichtigt. So besteht das Hauptproblem wohl darin, dass eine tolerante Haltung in vielen Situationen schon allein aufgrund der für sie charakteristischen Beibehaltung der eigenen Überzeugung epistemisch irrational und somit keine adäquate Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten sein wird. So gestehen auch Hallsson und Kappel explizit zu, dass ein Pluralismus konfligierender Überzeugungen in wissenschaftlichen Gemeinschaften vermutlich ein Ausdruck epistemischer Irrationalität ist. Beispielsweise ist es recht plausibel, davon auszugehen, dass es in wissenschaftlichen Gemeinschaften viele Meinungsverschiedenheiten gibt, in denen sich die Beteiligten gegenseitig als epistemisch ebenbürtig respektieren. Sofern jedoch Ebenbürtig-

148

Tatsächlich präsentieren Hallsson und Kappel Studien, die nahelegen, dass zumindest einige offensichtliche Alternativstrategien weniger effektiv sind als ein genuiner Pluralismus konfligierender Überzeugungen. Siehe Ebd.

130

5. Allgemeine Toleranzforderungen

keitszuschreibungen eine Modifikation der eigenen Überzeugung rational erforderlich machen, wäre eine tolerante Haltung in diesen Fällen keine adäquate Reaktion – und wie wir gesehen haben, ist es sehr plausibel, dass das Bemerken eines Ebenbürtigendissenses zumindest unter spezifischen Umständen tatsächlich eine Überzeugungsmodifikation rational erforderlich macht. Selbst wenn Ebenbürtigendissense in wissenschaftlichen Gemeinschaften besonders selten sind, wird es immer noch viele Fälle geben, in denen die Beteiligten zwar davon ausgehen, dass eine Seite der anderen epistemisch unterlegen ist, jedoch gleichzeitig nicht klar ist, welche Seite die unterlegene ist. Auch angesichts solcher Meinungsverschiedenheiten könnte es rational geboten sein, seine eigene Überzeugung zu modifizieren.149 Darüber hinaus haben manche Autoren dafür argumentiert, dass selbst im Falle von Unterlegenendissensen unter Umständen eine Überzeugungsmodifikation rational geboten sein könnte.150 Es ist also durchaus plausibel, davon auszugehen, dass im Falle wissenschaftlicher Meinungsverschiedenheiten die für eine tolerante Haltung charakteristische Beibehaltung der eigenen Überzeugung in vielen Situationen epistemisch irrational ist. Der Versuch, allgemeine Toleranzforderungen im Bereich der Wissenschaft zu verteidigen, hat sich also als durchaus problematisch erwiesen. Die Frage nach den epistemischen Konsequenzen einer toleranten Haltung im Rahmen wissenschaftlicher Gemeinschaften ist einigermaßen komplex und lässt sich letztendlich nur empirisch beantworten. Die hierzu nötige Evidenz scheint zum jetzigen Zeitpunkt zu lückenhaft, um zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele der hier relevanten Probleme nicht im Allgemeinen lösen lassen – welche epistemischen Effekte eine tolerante Haltung in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft hat, wird beispielsweise von der Größe der Gemeinschaft, der wissenschaftlichen Disziplin, den der Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Ressourcen und vielen anderen Einzelheiten abhängen. Abgesehen davon drohen allgemeine Toleranzforderungen schon alleine daran zu scheitern, dass eine tolerante Haltung unter vielen Umständen aufgrund der für diese Haltung charakteristischen Beibehaltung der eigenen Überzeugung epistemisch irrational sein wird. Um das Ausmaß dieses Problems besser einschätzen zu können, ist wiederum weitere philosophische Forschung nötig. Geklärt werden muss nicht nur, unter welchen Bedingungen eine Überzeugungsmodifikation rational geboten ist, sondern auch, unter welchen Umständen man davon ausgehen sollte, dass diese Bedingungen tatsächlich vorliegen. Hierbei handelt es sich um eine Frage, die in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie der Meinungsverschiedenheiten vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. So gibt es beispielsweise eine mittlerweile fast unüberschaubare Anzahl an Veröffentlichungen zum Problem der Ebenbürtigendissense – die Anzahl der Veröffentlichungen, die sich der Frage widmen, unter welchen Umständen man überhaupt davon ausgehen sollte,

149 150

King 2012. Siehe etwa Priest 2016.

5. Allgemeine Toleranzforderungen

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dass die Person, mit der man eine Meinungsverschiedenheit hat, einem epistemisch ebenbürtig ist, ist jedoch nach wie vor überschaubar. 151 Die Verteidigung allgemeiner Toleranzforderungen ist, wie wir am Beispiel wissenschaftlicher Gemeinschaften gesehen haben, also durchaus schwierig. Bei epistemischer Toleranz handelt es sich um eine sehr spezifische und komplexe Haltung, die unter vielen Umständen problematisch ist. Ausgehend von der Einsicht in die grundsätzliche Fehlbarkeit unserer Erkenntnisbemühungen einfach in Bereichen, in denen das Erlangen sicherer Erkenntnisse besonders schwierig ist, pauschal Toleranz zu fordern, ist dementsprechend offensichtlich zu vorschnell. Gleichzeitig sollte auch klar sein, dass vor allem unter epistemisch schwierigen Bedingungen ein verantwortungsvoller Umgang mit abweichenden Überzeugungen unverzichtbar ist. Die Sorge ist nun, dass eine Absage an allgemeine Forderungen nach epistemischer Toleranz dazu führt, dass überhaupt keine allgemeinen Aussagen mehr darüber möglich sind, wie ein solcher verantwortungsvoller Umgang mit konfligierenden Überzeugungen überhaupt aussehen könnte. Dadurch könnte wiederum die Verbreitung intellektuell unverantwortlicher Umgangsweisen mit fremden Überzeugungen begünstigt werden. Dementsprechend möchte ich im folgenden Kapitel beispielhaft zwei vielversprechende Alternativen zu einer toleranten Haltung diskutieren, um zu zeigen, wie auch ohne Toleranz ein epistemisch adäquater Umgang mit konfligierenden Überzeugungen möglich sein kann.

151

Gelfert 2011, King 2012.

6. Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit Welche Alternativen gibt es zu einer toleranten Haltung? Gibt es intellektuelle Haltungen, die einen epistemisch verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Überzeugungen ermöglichen und gleichzeitig problemlos auf einer allgemeinen Ebene eingefordert werden können? Im Folgenden möchte ich zwei spezifische Alternativen genauer betrachten, nämlich Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit – beides Haltungen, die in der gegenwärtigen Tugenderkenntnistheorie lebhaft diskutiert werden. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich in einem ersten Schritt Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit von Toleranz abgrenze, um dann in einem zweiten Schritt dafür zu argumentieren, dass eine aufgeschlossene bzw. bescheidene Haltung einerseits genauso wie eine tolerante Haltung einen epistemisch verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Überzeugung ermöglichen kann, andererseits aber im Gegensatz zu einer toleranten Haltung auch ohne Weiteres auf einer ganz allgemeinen Ebene eingefordert werden sollte. Beginnen wir mit einer aufgeschlossenen Haltung: In der aktuellen Debatte um intellektuelle Tugenden gehört Aufgeschlossenheit zu den am häufigsten genannten Kandidaten.152 Was bedeutet es, epistemisch aufgeschlossen zu sein? Ein Problem, dass sich bei der Beantwortung dieser Frage stellt, ist, dass die genaue Charakterisierung epistemischer Aufgeschlossenheit Gegenstand einer kontrovers geführten Diskussion innerhalb der tugenderkenntnistheoretischen Forschung ist. Im Folgenden werde ich nicht versuchen, innerhalb dieser Diskussion selbst Stellung zu beziehen – stattdessen werde ich vielmehr verschiedene Konzeptionen epistemischer Aufgeschlossenheit nacheinander vorstellen, um dann später zu untersuchen, inwieweit sich relativ zu jeder dieser Konzeptionen eine aufgeschlossene Haltung von einer toleranten Haltung abgrenzen lässt. Insgesamt werde ich drei verschiedene Konzeptionen epistemischer Aufgeschlossenheit berücksichtigen, die in der Tugenderkenntnistheorie jeweils eine gewisse Beachtung gefunden haben. Beginnen möchte ich mit der Konzeption von William Hare. In seinem Buch „Open-Mindedness and Education“ wird Aufgeschlossenheit folgendermaßen charakterisiert: „A person who is open-minded is disposed to revise or reject the position he holds if sound objections are brought against it, or, in the situation in which the person has no opinion on some issue, he is disposed to make up his mind in the light of available evidence and argument as objectively and as impartially as possible.“153

Diese Konzeption epistemischer Aufgeschlossenheit ist für sich genommen noch sehr allgemein und abstrakt formuliert. Tatsächlich ist zunächst überhaupt nicht 152 153

Riggs 2010. Hare 1979, 9.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_6

6. Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit

133

klar, inwiefern eine solche Charakterisierung epistemischer Aufgeschlossenheit eine spezifische intellektuelle Tugend herausgreift, die sich klar von ganz allgemeinen Haltungen wie Rationalität oder Objektivität abgrenzen lässt. Deutlich konkreter ist demgegenüber schon die Charakterisierung von Wayne Riggs, der auf Jonathan Adlers Überlegungen zu einem grundlegenden Problem epistemischer Aufgeschlossenheit aufbaut, nämlich dem Problem der Kompatibilität von Aufgeschlossenheit und starken Überzeugungen. Die Idee hinter der Sorge, dass es eine gewisse Spannung zwischen einer epistemisch aufgeschlossenen Haltung und der Möglichkeit starker Überzeugungen gibt, ist in etwa folgende: Eine Minimalbedingung epistemischer Aufgeschlossenheit sollte sein, Einwände und Gegenargumente zu der eigenen Position ernst zu nehmen. Einwände und Gegenargumente zu der eigenen Position ernst zu nehmen, ist aber nur dann vernünftig, wenn man gewisse Zweifel an der Wahrheit der eigenen Position hat. Wenn man sich absolut sicher ist, dass die eigene Position wahr ist – warum sollte man sich dann ausführlich mit Argumenten gegen diese Position auseinandersetzen? Wenn es aber nur dann vernünftig ist, epistemisch aufgeschlossen zu sein, wenn man gewisse Zweifel an der Wahrheit der eigenen Position hat, dann scheint epistemische Aufgeschlossenheit unvereinbar mit starken Überzeugungen zu sein. Denn eine starke Überzeugung zu haben, bedeutet ja gerade, keine Zweifel an der Wahrheit dieser Überzeugung zu haben. Adler argumentiert nun dafür, dass es nicht nur dann vernünftig ist, Einwände und Gegenargumente zu der eigenen Position ernst zu nehmen, wenn man Zweifel an der Wahrheit dieser Position hat, sondern dass es auch vernünftig sein kann, Einwände und Gegenargumente zu der eigenen Position ernst zu nehmen, wenn man sich der eigenen Fehlbarkeit bewusst ist. Die für epistemische Aufgeschlossenheit charakteristische, ernsthafte Auseinandersetzung mit abweichenden Urteilen wird im Rahmen von Adlers Konzeption also nicht durch Zweifel an der Wahrheit konkreter Überzeugungen, sondern vielmehr durch ein grundlegendes Urteil über die eigene epistemische Leistungsfähigkeit rationalisiert. Epistemische Aufgeschlossenheit im Sinne Adlers basiert demgemäß auf einer höherstufigen Einstellung gegenüber den eigenen Überzeugungen als Überzeugungen eines grundsätzlich fehlbaren Subjekts.154 Wayne Riggs baut explizit auf den Überlegungen Adlers auf, wenn er dafür argumentiert, dass sich epistemisch aufgeschlossene Personen insbesondere durch zwei spezifische Eigenschaften auszeichnen: Erstens besitzen diese Personen Selbstwissen darüber, unter welchen Umständen sie beispielsweise aufgrund von Vorurteilen oder Inkompetenz epistemisch besonders fehleranfällig sind, und zweitens sind sie sensitiv gegenüber diesen Umständen, das heißt, sie sind zuverlässig darin, es zu bemerken, wenn sie sich in Umständen befinden, in denen sie epistemisch besonders fehleranfällig sind.155 Epistemische Aufgeschlossenheit im Sinne

154 155

Vgl. hierzu Adler 2004. Vgl. hierzu Riggs 2010.

134

6. Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit

von Adler und Riggs hängt also fundamental mit der Einsicht in die menschliche Fehlbarkeit und dem epistemisch besten Umgang mit dieser Einsicht zusammen. Die letzte Konzeption epistemischer Aufgeschlossenheit, die ich hier berücksichtigen möchte, stammt von Jason Baehr. In seinem Buch „The Inquiring Mind“ entwickelt Baehr eine vergleichsweise detaillierte und strukturierte Analyse, indem er vier notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für eine epistemisch aufgeschlossene Haltung formuliert:156 Eine Person ist genau dann epistemisch aufgeschlossen, wenn sie (a) gewillt und (zumindest in einem gewissen Grade) in der Lage dazu ist, (b) eine kognitive Voreinstellung einzuklammern, um (c) die epistemischen Stärken und Vorzüge eines (d) distinkten kognitiven Standpunktes ernst zu nehmen. Auch gemäß dieser Analyse muss eine aufgeschlossene Haltung nicht unbedingt an das Auftreten von Meinungsverschiedenheiten geknüpft sein: Baehr betont explizit, dass man nicht nur dann aufgeschlossen sein kann, wenn man schon einen eigenen Standpunkt eingenommen hat, von dem aus man abweichende Ansichten in Erwägung zieht und kritisch bewertet. Noch nicht einmal das Vorhandensein unterschiedlicher Positionen, zwischen denen man sorgfältig abwägen kann, ist für epistemische Aufgeschlossenheit im Sinne Baehrs notwendig. Um diesen Punkt zu veranschaulichen, beschreibt Baehr den Fall eines Detektivs, der versucht, einen Mordfall zu lösen. Die Evidenz, die ihm zur Verfügung steht, lässt noch keine einfache Erklärung der Tat zu – abgesehen davon, dass der Detektiv selbst noch keine Überzeugung bezüglich des Täters hat, gibt es noch nicht einmal verschiedene Erklärungen, zwischen denen er abwägen könnte. Trotzdem scheint es für den Detektiv möglich zu sein, sich in dieser Situation epistemisch aufgeschlossen zu verhalten. Aufgeschlossenheit würde in diesem Fall bedeuten, sorgfältig nach neuer Evidenz zu suchen, und im Laufe der weiteren Ermittlungen voreilige Erklärungen und vorschnell gezogene Schlüsse zu vermeiden, um stattdessen solange wie möglich neutral zu bleiben und erst bei ausreichend starker Evidenz zu einem Urteil zu kommen. Unter einer „Einklammerung kognitiver Voreinstellungen“ versteht Baehr also nicht nur die Zurückstellung eigener Überzeugungen, sondern auch allgemeiner die Vermeidung vorschneller Ergebnisse. Soweit die Konzeptionen epistemischer Aufgeschlossenheit von Hare, Riggs und Baehr. Wie steht es um epistemische Bescheidenheit? Auch hier möchte ich keine eigene Konzeption entwickeln, sondern lediglich drei prominente Charakterisierungen epistemischer Bescheidenheit vorstellen, vor deren Hintergrund dann das Verhältnis zu einer toleranten Haltung diskutiert werden soll. Die erste Konzeption, die ich berücksichtigen möchte, stammt von Robert Roberts und Jay Wood.157 In ihrem Aufsatz „Humility and Epistemic Goods“ argumentieren sie dafür, dass eine epistemisch bescheidene Haltung wesentlich durch ein mangelndes Interesse am eigenen epistemischen Status gekennzeichnet ist. Eine bescheidene Person sorgt sich nicht darum, innerhalb ihrer intellektuellen Gemeinschaft als besonders begabt oder erfolgreich angesehen zu werden, sondern ist bei ihren kognitiven Bemühungen 156 157

Vgl. hierzu und zum Folgenden Baehr 2011, Kap. 8. Vgl. zum Folgenden Roberts und Wood 2003.

6. Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit

135

weitestgehend durch ein intrinsisch motiviertes Streben nach intellektuellen Gütern wie Wahrheit, Wissen oder Verstehen angetrieben. Darüber hinaus erwarten bescheidene Personen keine epistemische Bevorzugung und erheben keine unangemessenen Ansprüche in epistemischen Hierarchien. Als Beispiel für eine bescheidene Person nennen Roberts und Wood den Philosophen G.E. Moore, der als Universitätsprofessor Ideen von Studierenden stets ernst nahm, Einwände gegen seine eigenen Positionen so diskutierte, als wären es Einwände gegen fremde Positionen, und im Lichte gültiger Gegenargumente ohne Weiteres seine Überzeugungen aufgeben konnte. Diese Konzeption epistemischer Bescheidenheit wurde von Dennis Whitcomb, Heather Battaly, Jason Baehr und Daniel Howard-Snyder in einem gemeinsamen Aufsatz kritisiert.158 Whitcomb et al. präsentieren zwei Gegenbeispiele, um dafür zu argumentieren, dass ein mangelndes Interesse am eigenen epistemischen Status weder notwendig noch hinreichend für eine bescheidene Haltung ist. Das erste Beispiel dreht sich um eine junge Frau, die in einem von Männern dominierten Beruf arbeitet, in dem es sehr wichtig ist, von den Kollegen einen hohen epistemischen Status zugewiesen zu bekommen, um bei Personalentscheidungen berücksichtigt zu werden. Wenn sich diese Frau nun um einen hohen epistemischen Status bemüht, um ihre Chance auf beruflichen Erfolg zu wahren, so muss das nicht unbedingt ein Ausdruck fehlender Bescheidenheit sein. Dementsprechend gehen Whitcomb et al. davon aus, dass ein mangelndes Interesse am eigenen epistemischen Status nicht notwendig für eine bescheidene Haltung ist. Das zweite Beispiel beschreibt einen Professor, der sich zwar nicht um seinen epistemischen Status kümmert, aber trotzdem stets auf seine bisherigen akademischen Erfolge verweist, sich regelmäßig selbst zitiert, vor Kollegen mit seinen Publikationen prahlt und sich seiner kognitiven Limitationen nicht bewusst ist. Dieser Fall soll zeigen, dass mangelndes Interesse am eigenen epistemischen Status ebenfalls nicht hinreichend für eine bescheidene Haltung ist. Der eigene Vorschlag von Whitcomb et al. rückt nun die epistemische Selbsteinschätzung des Subjekts in den Vordergrund: Gemäß ihrer Konzeption epistemischer Bescheidenheit zeichnet sich eine bescheidene Person dadurch aus, dass sie sich ihrer eigenen kognitiven Schwächen und Begrenzungen bewusst ist, sie offen eingesteht und bei ihren intellektuellen Entscheidungen berücksichtigt. Durch die zentrale Komponente der epistemischen Selbsteinschätzung weist diese Konzeption eine gewisse Nähe zu Allan Hazletts Charakterisierung auf, dergemäß eine bescheidene Haltung wesentlich in der Bildung angemessener Überzeugungen höherer Ordnung über die eigenen Überzeugungen besteht.159 Die dritte Konzeption epistemischer Bescheidenheit stammt von Maura Priest:160 Priest stimmt einerseits mit Roberts und Wood darin überein, dass bescheidene Personen meist mangelndes Interesse am eigenen epistemischen Status haben. Ande-

158

Vgl. zum Folgenden Whitcomb et al. 2017. Hazlett 2012. 160 Vgl. zum Folgenden Priest 2017. 159

136

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rerseits stimmt sie mit Whitcomb et al. darin überein, dass sich bescheidene Personen in der Regel ihrer eigenen kognitiven Schwächen bewusst sind. Letztendlich geht sie aber davon aus, dass beide Eigenschaften nicht konstitutiv für eine bescheidene Haltung, sondern lediglich das Ergebnis einer solchen Haltung sind. Wesentlich für epistemische Bescheidenheit ist vielmehr eine spezifische Einstellung gegenüber anderen Personen: Eine bescheidene Person respektiert andere Personen als gleichwertige epistemische Subjekte, die ähnliche epistemische Ziele verfolgen wie sie selbst. Sie betrachtet ihre eigenen kognitiven Bemühungen als Teil eines gemeinschaftlichen Projekts, in dem sie nur ein Teil von vielen ist. Sie weiß, dass sie auf die epistemische Hilfe anderer angewiesen ist, und ist auch selbst bereit, anderen zu helfen. Diese Hilfsbereitschaft führt bis zu Formen eines epistemischen Altruismus, bei dem eigene epistemische Nachteile in Kauf genommen werden, um die epistemische Situation anderer zu verbessern. Soweit die Charakterisierungen epistemischer Aufgeschlossenheit und epistemischer Bescheidenheit. Wie sieht nun der genaue Zusammenhang zwischen einer toleranten, einer aufgeschlossenen und einer bescheidenen Haltung aus? 161 Auf den ersten Blick scheint es sich hier um drei sehr ähnliche Phänomene zu handeln: Alle drei Haltungen ermöglichen eine Form des Umgangs mit Dissens- und Konfliktsituationen, für die eine gewisse Wertschätzung von Pluralität sowie eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit abweichenden Überzeugungen charakteristisch ist. Darüber hinaus spielt die Einsicht in die eigene Fehlbarkeit sowie eine Sensitivität gegenüber epistemischen Schwächen und Irrtumsmöglichkeiten in Bezug auf alle drei Haltungen eine zentrale Rolle. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit nicht einfach dasselbe sind wie Toleranz. Ein offensichtlicher Unterschied besteht darin, dass Toleranz im Gegensatz zu Bescheidenheit und Aufgeschlossenheit eine sehr spezifische Haltung ist: Während Toleranz eine bestimmte Möglichkeit darstellt, auf eine Meinungsverschiedenheit zu reagieren, handelt es sich bei Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit um viel allgemeinere Einstellungen. Dementsprechend ist es möglich, bescheiden und aufgeschlossen zu sein, ohne gleichzeitig tolerant zu sein. Denn auch ohne in irgendeine Meinungsverschiedenheit verwickelt zu sein, und sogar ohne überhaupt bereits eine eigene Meinung gebildet zu haben, ist es ohne Weiteres möglich, wenig Interesse am eigenen intellektuellen Status zu haben, andere Personen als gleichwertige epistemische Subjekte zu respektieren, sich der eigenen kognitiven Begrenzungen 161

Im Folgenden werde ich eine tolerante Haltung mit einer aufgeschlossenen bzw. bescheidenen Haltung vergleichen. Die dazu angestellten Überlegungen sind neutral gegenüber der Frage nach dem genauen Verhältnis zwischen Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit. Ich werde lediglich dafür argumentieren, dass es sich sowohl bei Aufgeschlossenheit als auch bei Bescheidenheit um von Toleranz unabhängige Phänomene handelt – ob es sich aber bei Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit um voneinander unabhängige Phänomene handelt, bleibt dabei zunächst noch offen. Die bisherigen Darstellungen legen nahe, dass Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit distinkte Phänomene darstellen, und tatsächlich scheint diese Vermutung auf den ersten Blick plausibel. Alle im Folgenden angestellten Überlegungen sind aber ebenso kompatibel mit der Annahme, dass es sich bei Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit um dieselbe Haltung handelt. Für eine Diskussion des Verhältnisses dieser beiden Tugenden siehe etwa Ebd. oder Spiegel 2012.

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und Schwächen bewusst zu sein, die verfügbare Evidenz so sorgfältig und gewissenhaft wie möglich auszuwerten und dabei verschiedene Perspektiven unvoreingenommen in Betracht zu ziehen. Interessanter ist demgegenüber schon die Frage, ob es auch möglich ist, tolerant zu sein, ohne gleichzeitig bescheiden und aufgeschlossen zu sein. In gewisser Weise scheinen die drei Haltungen klarerweise auch in diese Richtung auseinanderzufallen: Selbstverständlich ist es prinzipiell möglich, eine fremde Überzeugung zu tolerieren, ohne sich seiner eigenen Schwächen bewusst zu sein, wenig Interesse am eigenen intellektuellen Status zu haben oder andere Personen als epistemisch gleichwertige Subjekte zu respektieren. Gleichzeitig haben wir aber gesehen, dass ein Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und eine Sensitivität gegenüber epistemisch schwierigen Bedingungen gerade die Hauptmotivation für eine tolerante Haltung darstellen – wir sollten eben deshalb tolerant auf konfligierende Meinungen reagieren, weil wir in unseren eigenen Urteilen fehlbar sind. Sofern man also entsprechend schwache Definitionen intellektueller Aufgeschlossenheit bzw. Bescheidenheit zugrunde legt, gibt es einen fundamentalen Zusammenhang zwischen Toleranz, Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit. Geht man etwa von Allan Hazletts Konzeption intellektueller Bescheidenheit aus oder von einer Konzeption intellektueller Aufgeschlossenheit, so wie sie von Wayne Riggs vertreten wird, dann kann eine tolerante Haltung, so wie sie normalerweise begründet wird, durchaus als Ausdruck von Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit interpretiert werden – denn in diesem Fall wären Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit ja nichts anderes als ein Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit.162 Legt man jedoch stärkere Konzeptionen zugrunde, ist Toleranz ohne Aufgeschlossenheit bzw. Bescheidenheit sehr wohl möglich: Wenn man etwa davon ausgeht, dass die Einklammerung eigener Voreinstellungen, die sorgfältige und gewissenhafte Auswertung neuer Evidenz oder ein niedriges Interesse am eigenen intellektuellen Status konstitutiv für Bescheidenheit und Aufgeschlossenheit sind, dann wird es zweifelsohne Instanzen epistemischer Toleranz geben, die kein Ausdruck von Bescheidenheit und Aufgeschlossenheit sind. Denn selbstverständlich ist es denkbar, dass jemand vor dem Hintergrund des Wissens um die eigene Fehlbarkeit die abweichenden Überzeugungen anderer toleriert, gleichzeitig aber ein enormes Interesse am eigenen intellektuellen Status hat und weder offen gegenüber neuer Evidenz noch an einem kritischen Austausch mit konfligierenden Positionen interessiert ist. Nehmen wir etwa das Beispiel eines rassistischen Polizisten, der an der Aufklärung eines Mordfalls beteiligt ist. Aufgrund seiner rassistischen Vorurteile ist er fälschlicherweise fest davon überzeugt, dass der asiatische Freund des Opfers der Täter ist. Seine Vorurteile führen außerdem dazu, dass er die verfügbare Evidenz nur oberflächlich auswertet und die Indizien, die gegen seine Vermutung sprechen, einfach ignoriert. Seine Kollegin, die davon ausgeht, dass eine andere Person der 162

Die Idee, dass Bescheidenheit die Grundlage für eine tolerante Haltung ist, findet sich explizit etwa bei Audi 2012.

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Täter ist, nimmt er gar nicht erst ernst, weil er davon ausgeht, dass sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit im Gegensatz zu ihm nicht in der Lage ist, die Sachlage korrekt einzuschätzen. Darüber hinaus prahlt er gegenüber seiner Vorgesetzten damit, den Täter bereits identifiziert zu haben. Trotzdem ist er sich bewusst, dass er sich seiner Sache nicht vollkommen sicher sein kann, und dass sich seine Vermutung prinzipiell noch überraschend als falsch herausstellen könnte. Dementsprechend duldet er zähneknirschend, dass seine Kollegin noch weitere Ermittlungen anstellen möchte und versucht nicht, sie von der Falschheit ihres Standpunktes zu überzeugen. In diesem Fall scheint sich der rassistische Polizist eindeutig tolerant zu verhalten – gleichzeitig verhält er sich jedoch nicht unbedingt bescheiden oder aufgeschlossen. Sofern man also unter Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit mehr versteht als das bloße Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit, sind diese beiden Haltungen gänzlich unabhängig von epistemischer Toleranz. Gleichzeitig wird vor dem Hintergrund solcher reichhaltiger Konzeptionen auch deutlich, inwiefern es attraktive Alternativen zu einer toleranten Haltung geben könnte: Nehmen wir etwa an, eine aufgeschlossene und bescheidene Person ist sich nicht nur ihrer eigenen Fehlbarkeit bewusst, sondern sucht stets nach neuer Evidenz, bemüht sich um einen konstruktiven Austausch mit abweichenden Positionen und ist offen gegenüber Einwänden und Bedenken, die an ihre eigenen Überzeugungen herangetragen werden. Inwiefern ermöglicht eine aufgeschlossene und bescheidene Haltung in diesem Sinne einen intellektuell verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Überzeugungen? Die zentrale Überlegung hinter der Idee, dass eine tolerante Haltung einen adäquaten Umgang mit konfligierenden Überzeugungen ermöglicht, war ja, dass eine Modifikation fremder, für falsch gehaltener Überzeugungen angesichts der eigenen Fehlbarkeit in vielen Fällen epistemisch unverantwortlich ist. Für falsch gehaltene Überzeugungen können sich leicht überraschend als wahr herausstellen, weswegen eine vorschnelle Modifikation fremder Überzeugungen oft Ausdruck einer problematischen intellektuellen Fahrlässigkeit ist. Dementsprechend haben viele Autoren in einer toleranten Haltung insofern einen vielversprechenden Kandidaten für eine verantwortungsvolle Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten gesehen, als dass es ja für die Tolerierung einer Überzeugung gerade charakteristisch ist, von einer Modifikation dieser Überzeugung abzusehen. Nun sieht man aber leicht, dass auch Bescheidenheit und Aufgeschlossenheit einen verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Überzeugungen in diesem Sinne ermöglichen: Denn jemand, der andere Personen als gleichwertige epistemische Subjekte respektiert, sich der eigenen intellektuellen Schwächen bewusst ist und offen gegenüber Einwänden und alternativen Sichtweisen ist, wird fremde Überzeugungen nicht einfach vorschnell zu ändern versuchen, nur weil er sie für falsch hält. So schreibt etwa Maura Priest über eine intellektuell bescheidene Person: „The line between innocent attempts at convincing others of p and malicious attempts of manipulating others is often a fine one. In both convincing and manipulating, there is a sense in which you attempt to get another to believe specific things. The difference lies in the way in which the manipulator demonstrates a sense of entitlement and control. The

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“convincer”, unlike the manipulator, cares that an agent comes to her belief through acceptable epistemic means. […] Evangelical religious adherents might think that religious truth is so important that they are justified in telling half-truths as a means to get to whole ones. Professors, also, might think it is so important that students learn certain truths that they give up on their students acquiring appropriate reasoning habits. Those who are intellectually humble, however, are the types who feel extremely uncomfortable in overriding the intellect of fellow rational beings”163

Eine vorschelle und unverantwortliche Modifikation fremder Überzeugungen kann also auch vor dem Hintergrund einer aufgeschlossenen und bescheidenen Haltung effektiv verhindert werden. Entscheidend ist nun, dass sich allgemeine Forderungen nach Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit sehr viel einfacher rechtfertigen lassen als allgemeine Forderungen nach Toleranz. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, sind allgemeine Forderungen nach Toleranz aus verschiedenen Gründen problematisch. So besteht ein erstes Problem darin, dass es für eine tolerante Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit charakteristisch ist, seine ursprüngliche Überzeugung beizubehalten, obwohl es vermutlich unter vielen Umständen rational geboten ist, angesichts der konfligierenden Meinungen anderer Personen seine eigene Überzeugung zu modifizieren. Ein zweites Problem besteht darin, dass es für eine tolerante Haltung charakteristisch ist, angesichts einer Meinungsverschiedenheit von einer Modifikation der fremden Überzeugung abzusehen, wobei die Entscheidung, welche konfligierenden Überzeugungen geduldet werden, von einem einigermaßen starren Kriterium abhängt: Die grundlegende Idee ist, dass wir die konfligierenden Überzeugungen anderer Personen modifizieren sollten – es sei denn, sie weisen eine spezifische Eigenschaft auf. Diese Idee ist nun hinsichtlich allgemeiner Toleranzforderungen insofern problematisch, als dass es sich als sehr schwierig erwiesen hat, ein geeignetes Kriterium zu finden, anhand dessen grundsätzlich entschieden werden kann, welche abweichenden Überzeugungen modifiziert werden sollten. Und selbst wenn sich ein solches Kriterium identifizieren ließe, wäre es immer noch fraglich, ob zumindest in einigen Domänen hinreichend viele Überzeugungen dieses Kriterium erfüllen, um allgemeine Toleranzforderungen zu rechtfertigen. Der Vorteil einer aufgeschlossenen und bescheidenen Haltung besteht nun erstens darin, dass für sie keine spezifische (Nicht-)Modifikation der eigenen Überzeugung angesichts einer Meinungsverschiedenheit konstitutiv ist: Aufgeschlossen und bescheiden auf eine konfligierende Überzeugung zu reagieren, ist sowohl mit einer Beibehaltung, als auch mit einer Modifikation der eigenen Überzeugung kompatibel. Zweitens beruht im Rahmen einer aufgeschlossenen und bescheidenen Haltung die Entscheidung darüber, welche konfligierenden Überzeugungen modifiziert werden sollen, nicht auf einem starren Kriterium: Tatsächlich ist eine aufgeschlossene und bescheidene Haltung gegenüber einer konfligierenden Überzeugung sowohl mit einer Modifikation, als auch mit einer Duldung dieser Überzeugung kompatibel. Genau diese Flexibilität ist nun der Grund dafür, dass allgemeine Forderungen nach Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit sehr viel unproblematischer sind als 163

Priest 2017, 474 f.

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allgemeine Toleranzforderungen. Darüber hinaus sind allgemeine Forderungen nach Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit auch insofern unproblematisch, als dass im Rahmen solcher Forderungen nicht einmal notwendigerweise eine spezifische Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten verlangt wird: Denn auch wenn Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit durchaus einen intellektuell verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Überzeugungen ermöglichen können, handelt es sich bei diesen Haltungen nicht primär um Reaktionen auf Meinungsverschiedenheiten. Während Toleranz eine spezifische Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit darstellt, ist es ohne Weiteres möglich, aufgeschlossen und tolerant zu sein, ohne dass irgendeine Meinungsverschiedenheit vorliegt. Dementsprechend ermöglichen Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit im Allgemeinen einen epistemisch verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Fehlbarkeit, also auch und insbesondere hinsichtlich der eigenen Überzeugungsbildung und nicht nur angesichts konfligierender Überzeugungen. Ein näherer Blick hat gezeigt, dass es Alternativen zu einer toleranten Haltung gibt. Eine aufgeschlossene und bescheidene Haltung ermöglicht einen intellektuell verantwortungsvollen Umgang mit den abweichenden Überzeugungen anderer und ist dabei sehr viel flexibler als eine tolerante Haltung. Da eine aufgeschlossene und bescheidene Haltung sowohl mit der Beibehaltung, als auch mit der Modifikation der eigenen Überzeugung sowie sowohl mit der Duldung, als auch mit der Modifikation fremder Überzeugungen kompatibel ist, sind allgemeine Forderungen nach Aufgeschlossenheit und Bescheidenheit sehr viel unproblematischer als allgemeine Forderungen nach Toleranz. Auch wenn sich allgemeine Forderungen nach Toleranz also nur schwer rechtfertigen lassen, können dennoch auf einer allgemeinen Ebene substantielle Aussagen darüber gemacht werden, wie ein epistemisch verantwortungsvoller Umgang mit konfligierenden Überzeugungen aussehen könnte.

7. Abschließende Bewertung und Ausblick An welchem Punkt sind wir mit unserer Argumentation? Ganz grob zusammengefasst stehen wir vor folgendem Ergebnis: Es gibt spezifische Formen der Toleranz, die nicht politisch oder ethisch, sondern epistemisch motiviert sind. Eine weit verbreitete Variante epistemischer Toleranz besteht in einer spezifischen intellektuellen Haltung gegenüber Meinungsverschiedenheiten. Charakteristisch für diese Haltung ist es, als Reaktion auf eine Meinungsverschiedenheit zwar bei seiner Meinung zu bleiben, gleichzeitig aber die Position der Gegenseite als gleichermaßen gerechtfertigt zu respektieren und deshalb zu dulden. Obwohl viele Philosophen explizit die Angemessenheit einer solchen toleranten Haltung hervorgehoben haben, wurden auch verschiedene Sorgen geäußert. So wurden etwa problematische Zusammenhänge zwischen einer epistemisch toleranten Haltung und relativistischen Annahmen über Wahrheit oder Rechtfertigung vermutet. Eine andere Sorge war, dass es grundsätzlich irrational ist, angesichts der Bewertung einer konfligierenden Überzeugung als gleichermaßen gerechtfertigt an seiner ursprünglichen Überzeugung festzuhalten. Letztendlich haben sich beide Sorgen als unbegründet herausgestellt: Angesichts einer Meinungsverschiedenheit tolerant zu reagieren, setzt nicht irgendwelche problematischen Urteile über relativistische Annahmen voraus und ist auch nicht notwendigerweise irrational. Doch auch wenn eine tolerante Haltung nicht schon alleine aufgrund ihrer inhärenten Struktur epistemisch irrational ist, so ist die für eine tolerante Haltung konstitutive Beibehaltung der eigenen Überzeugung angesichts einer Meinungsverschiedenheit vermutlich doch in vielen Situationen aufgrund externer Faktoren, wie etwa der Einschätzung der epistemischen Leistungsfähigkeit der Gegenseite, irrational. Gleichzeitig ist nicht klar, welche epistemischen Vorteile eine tolerante Haltung überhaupt haben soll: Zwar erfordert unsere eigene Fehlbarkeit eine gewisse intellektuelle Vorsicht beim Umgang mit fremden Überzeugungen. Andererseits scheint die einer toleranten Haltung zugrundeliegende Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Überzeugungen kein geeignetes Kriterium für die Entscheidung darüber zu bieten, welche fremden Überzeugungen modifiziert werden sollten. Ob es ein alternatives Kriterium gibt, dass in relevant vielen Kontexten eine geeignete Grundlage für eine solche Entscheidung darstellen kann, ist unklar: Zwar gibt es beispielsweise spezifische Situationen, in denen es aus epistemischer Sicht am besten wäre, Überzeugungen zu dulden, die angesichts der verfügbaren Evidenz mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch sind, sofern sie sich leicht als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr herausstellen könnten. Inwieweit sich aus diesem Ergebnis allgemeine Toleranzforderungen ableiten lassen, ist jedoch fraglich und hängt unter anderem von komplexen, empirisch zu beantwortenden Fragen ab. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, welche Rolle intellektuelle Toleranz in unserem epistemischen Alltag spielen sollte. Wie wir gesehen haben, handelt es © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Balg, Leben und leben lassen, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61816-5_7

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sich um eine hochspezifische und in vielen Situationen sehr problematische Haltung, die nur unter sehr bestimmten Bedingungen eine adäquate Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten darstellen kann. Dementsprechend hat sich die weit verbreitete Auffassung, dass Toleranz die beste Reaktion auf politische, ethische, religiöse oder weltanschauliche Meinungsverschiedenheiten darstellt, in ihrer Allgemeinheit als unhaltbar herausgestellt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich auf einer allgemeinen Ebene nichts über einen intellektuell verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Überzeugungen sagen lässt: Wir haben mit epistemischer Aufgeschlossenheit und epistemischer Bescheidenheit zwei gehaltvolle Einstellungen kennengelernt, die unabhängig von spezifischen Umständen einen adäquaten Umgang mit Dissenssituationen ermöglichen können. Ist somit alles gesagt, was es über epistemische Toleranz zu sagen gibt? Weit gefehlt: Tatsächlich sollte die vorliegende Arbeit lediglich als erster Beitrag zu einer umfassenden erkenntnistheoretischen Beschäftigung mit dem Thema epistemischer Toleranz verstanden werden. Angesichts der bisherigen Überlegungen ergeben sich unmittelbar eine ganze Reihe von offenen Fragen und Anschlussmöglichkeiten: So habe ich mich bei meiner Argumentation auf eine vergleichsweise fokussierte Fragestellung konzentriert – nämlich auf die Frage, ob bzw. unter welchen Umständen eine epistemisch tolerante Haltung als Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten epistemisch adäquat ist. Dabei wurde ein einigermaßen anspruchsvoller Begriff epistemischer Adäquatheit vorausgesetzt, demgemäß eine Haltung genau dann epistemisch adäquat ist, wenn sie sowohl epistemisch rational als auch instrumentell rational hinsichtlich unserer epistemischen Ziele ist. Da es sich hierbei um zwei voneinander unabhängige Formen der Rationalität handelt, stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise in Konfliktfällen diese beiden Rationalitätsformen gegeneinander abgewogen werden können. Nehmen wir etwa an, es gäbe Konstellationen, in denen eine tolerante Haltung zwar epistemisch irrational, aber aus der Perspektive instrumenteller Rationalität ungemein nützlich wäre. Könnte es nicht sein, dass wir in solchen Fällen alles in allem tolerant reagieren sollten, obwohl eine solche Reaktion klarerweise epistemisch irrational wäre? Immer die epistemisch rationale Reaktion zu wählen und dementsprechend auf eine tolerante Haltung zu verzichten, könnte hier zu einer Situation führen, die Hallsson und Kappel als epistemische Reue bezeichnen:164 Wenn ich weiß, dass mir eine tolerante Haltung in Zukunft große epistemische Vorteile bringen wird, aber zugunsten der epistemisch rationalen Reaktion auf eine tolerante Haltung verzichte, dann könnte diese Entscheidung aufgrund der verpassten epistemischen Möglichkeiten bereuenswert sein. Die Frage ist also, wie sich Überlegungen epistemischer Rationalität und epistemische Klugheitsüberlegungen gegeneinander abwägen lassen. Das Ergebnis könnte sein, dass es Situationen gibt, in denen 164

Hallsson und Kappel 2018. Hier finden sich auch erste Überlegungen dazu, wie eine Abwägung zwischen epistemischer Rationalität und instrumenteller Rationalität konkret aussehen könnte. So argumentieren Hallson und Kappel vor dem Hintergrund einer teleologischen Auffassung epistemischer Normativität dafür, dass in spezifischen Situationen epistemische Klugheitsüberlegungen klassische Rationalitätsüberlegungen trumpfen können.

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eine tolerante Haltung zwar epistemisch irrational und dementsprechend streng genommen inadäquat ist, aber trotzdem eine Art epistemische Notlösung darstellt und nach Abwägung aller relevanten Überlegungen die beste Reaktion ist. Darüber hinaus müssten auch die Implikationen einer kritischen Bewertung epistemischer Toleranz viel sorgfältiger herausgearbeitet werden. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung sind schon für sich genommen insofern interessant, als dass – wie ich zu zeigen versucht habe – es sich bei epistemischer Toleranz in dem hier verstandenen Sinne um eine weit verbreitete Haltung handelt, die viele Leute zumindest hinsichtlich spezifischer Themen für angemessen halten. Davon abgesehen habe ich jedoch schon darauf hingewiesen, dass die kritische Bewertung einer toleranten Haltung vermutlich auch philosophisch signifikant ist: Insbesondere in der politischen Philosophie und in der Ethik scheint es viele Autoren zu geben, die spezifische Haltungen gegenüber Meinungsverschiedenheiten explizit als epistemisch adäquat und dementsprechend als Desiderat ihrer Theoriebildung akzeptiert haben, die eine auffällige Ähnlichkeit zu einer toleranten Haltung aufweisen. Angesichts der Tatsache, dass die kritische Bewertung epistemischer Toleranz tendenziell negativ ausgefallen ist, müsste nun genauer untersucht werden, inwieweit diese Vermutung korrekt ist. Diese Frage kann vermutlich von Erkenntnistheoretikern alleine nicht beantwortet werden – vielmehr wäre hier eine Zusammenarbeit mit praktischen Philosophen nötig, die die Implikationen einer kritischen Bewertung epistemischer Toleranz für ihren Forschungsbereich genau einschätzen können. Doch selbst angesichts einer vollständigen Bewertung epistemischer Toleranz und einer sorgfältigen Analyse ihrer philosophischen Implikationen gäbe es noch genug Arbeit für eine erkenntnistheoretische Toleranzforschung. So bezieht sich die vorliegende Arbeit klarerweise nicht auf intellektuelle Toleranz im Allgemeinen, sondern ganz speziell auf intellektuelle Toleranz als Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten. Wie wir jedoch schon direkt zu Beginn gesehen haben, gibt es vermutlich auch noch andere Formen intellektueller Toleranz, die von der hier behandelten Variante gänzlich unabhängig sind. Intellektuell tolerant zu sein, bedeutet ja zunächst lediglich, etwas aufgrund rein epistemischer Überlegungen zu tolerieren. Dementsprechend lassen sich verschiedene Formen intellektueller Toleranz, etwa anhand der dieser Haltung zugrundeliegenden epistemischen Evaluation, unterscheiden. Eine offensichtlich ebenfalls relevante Variante wäre etwa intellektuelle Toleranz gegenüber Überzeugungen, die man für ungerechtfertigt, aber wahr hält. Auch hier handelt es sich um eine Form intellektueller Toleranz, deren kritische Bewertung für unsere epistemische Praxis vermutlich von einiger Relevanz wäre. Wie sollte beispielsweise ein Klimaforscher, der sich aus Umweltschutzgründen gegen die Massentierhaltung einsetzt, mit den Überzeugungen religiöser Fundamentalisten umgehen, die aufgrund ihres Glaubens ebenfalls von der Verwerflichkeit der Massentierhaltung überzeugt sind? Dieses Beispiel deutet auch schon an, dass es vermutlich nicht nur praktische und intellektuelle Formen von Toleranz gibt, sondern darüber hinaus hybride Toleranzformen, für die praktische und epistemische Überlegungen gleichermaßen charakteristisch sind. Nehmen wir etwa den Fall eines Atheisten, dessen Großmutter

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im Sterben liegt. Obwohl er die religiösen Überzeugungen seiner Großmutter für ungerechtfertigt und falsch hält, ist er sich dennoch bewusst, wie wertvoll sie für seine Großmutter im Moment des Sterbens sind. Sofern er sich in dieser Situation dafür entscheidet, die Überzeugungen seiner Großmutter zu dulden, könnte es sich hierbei um eine genuine Form von Toleranz handeln, die weder rein praktisch noch rein epistemisch motiviert ist. Denn aus ethischer Perspektive gibt es nichts, was der Atheist an den Überzeugungen seiner Großmutter auszusetzen hat, und aus epistemischer Perspektive gibt es nichts, was er an ihnen gutheißt. Die für eine tolerante Haltung charakteristische, ambivalente normative Bewertung ergibt sich hier also erst, wenn man praktische und epistemische Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt. Tatsächlich dürften hybride Toleranzformen auch insofern besonders relevant sein, als dass es ganz grundlegende Zusammenhänge zwischen unseren Überzeugungen und unseren Handlungen gibt. Einerseits sind unsere Überzeugungen handlungsleitend: Wenn alles gut läuft, basiert unser Handeln auf informierten Entscheidungen und hängt somit direkt davon ab, was wir glauben. Dementsprechend können Überzeugungen nicht nur Gegenstand epistemischer, sondern auch ethischer Evaluation, insofern sie zu moralisch guten oder moralisch schlechten Handlungen führen. Andererseits beeinflusst aber auch unser Verhalten unsere Überzeugungen: So führt etwa die Registrierung von Diskrepanzen zwischen Handlungen und Überzeugungen zu kognitiven Dissonanzen, die unter spezifischen Umständen dadurch aufgelöst werden, dass die Überzeugungen einfach den entsprechenden Handlungen angepasst werden. 165 Beispielsweise führt Fleischkonsum dazu, dass Menschen weniger dazu bereit sind, Tieren mentale Zustände und moralischen Status zuzuschreiben.166 Angesichts dessen könnte man dafür argumentieren, dass nicht nur unsere Überzeugungen, sondern auch unsere Handlungen Gegenstand epistemischer Evaluation sein können – insofern Handlungen wahre oder falsche Überzeugungen begünstigen, haben sie nicht nur praktische, sondern auch epistemische Konsequenzen und können aufgrund dieser Konsequenzen auch epistemisch bewertet werden. Wenn es sich bei Toleranz jedoch nicht um eine einzelne, spezifische Haltung handelt, sondern es stattdessen eine Vielzahl praktischer, intellektueller und hybrider Toleranzformen gibt, dann wäre es letztendlich vermutlich hilfreich, eine Taxonomie verschiedener Toleranzformen zu entwickeln. Anhand einer solchen Taxonomie könnte man sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen, was es überhaupt für verschiedene Möglichkeiten gibt, eine Überzeugung oder eine Handlung zu tolerieren. In einem zweiten Schritt könnte man dann untersuchen, welche Toleranzformen für welche Kontexte von welcher Bedeutung sind, und welche Toleranzformen wie bewertet werden sollten. Darüber hinaus müssten vor dem Hintergrund einer geeigneten Taxonomie verschiedener Toleranzformen auch Überlegungen und Argumente der traditionellen

165

Für eine Einführung und einen Überblick über die Forschungsliteratur siehe etwa Maio und Haddock 2009, insbesondere Kap. 7. 166 Loughnan et al. 2010.

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Toleranzforschung neu aufbereitet und eingeordnet werden. Wie wir gesehen haben, hat die traditionelle Toleranzforschung so gut wie ausschließlich im Rahmen der praktischen Philosophie, also der politischen Philosophie und der Ethik, stattgefunden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ergebnisse dieser Forschung für die Beschäftigung mit nicht-praktischen Toleranzformen irrelevant sind. Denn bei praktischen, epistemischen und hybriden Toleranzformen handelt es sich ja nicht um gänzlich voneinander unabhängige Haltungen, sondern vielmehr um verschiedene Spielarten derselben abstrakten Haltung. Dementsprechend wird es grundsätzliche Gemeinsamkeiten geben, angesichts derer sich einige, ursprünglich auf praktische Toleranzformen bezogene Argumente direkt auf andere Toleranzformen übertragen lassen. So haben wir ja schon bei der Diskussion der instrumentellen Rationalität epistemischer Toleranz mit dem Fehlbarkeitsargument ein Argument kennengelernt, das zwar ursprünglich im Kontext praktischer Überlegungen entwickelt wurde, sich aber trotzdem ohne Weiteres direkt auf eine Diskussion epistemischer Toleranzformen übertragen lässt. Dass es eine solche systematische Toleranzforschung – zumindest meines Wissens nach – noch nicht gibt, ist vor dem Hintergrund der großen Bedeutung, den der Toleranzbegriff für verschiedene gesellschaftliche Diskurse hat, einigermaßen erstaunlich. Angesichts der großen ethischen Herausforderungen, mit denen wir uns aktuell konfrontiert sehen, und den jüngsten populistischen Tendenzen in politischen Diskursen ist eine fundierte Orientierung über den adäquaten Umgang mit konfligierenden Handlungen und Überzeugungen unverzichtbar. Um eine solche Orientierung bieten zu können, bedarf es insbesondere entsprechender philosophischer Forschung. Die philosophische Toleranzforschung kann und sollte in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag leisten.

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